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(Des)escribir la Modernidad - Die Moderne (z)erschreiben: Neue Blicke auf Juan Carlos Onetti

2019
978-3-8233-9101-2
Gunter Narr Verlag 
Johanna Vocht
David Klein
Gerhard Poppenberg

Vor mehr als einem halben Jahrhundert erfand der uruguay-ische Autor Juan Carlos Onetti die fiktive Stadt Santa María und legte damit den Grundstein für einen faszinierenden lite-rarischen Kosmos. Mit Romanen wie La vida breve (dt. Das kurze Leben), El astillero (dt. Die Werft) oder Juntacadáveres (dt. Leichensammler) wurde er zu einem der einflussreichsten Schriftsteller der lateinamerikanischen Moderne. Er schrieb über das Scheitern, Entfremdung und die Unmöglichkeit der Liebe ohne dabei seine Figuren zu verraten. 1980 erhielt er den Premio Cervantes, die höchste literarische Auszeichnung der spanischsprachigen Welt. Dieser Sammelband stellt die erste umfassende Würdigung des einflussreichen Romanautors vonseiten der deutsch-sprachigen Hispanistik dar. Er betrachtet das Werk Onettis vor der Folie aktueller literatur- und kulturwissenschaftlicher Ansätze und nimmt vor allem sein bisher von der Forschung wenig beachtetes Spätwerk in den Blick.

Anna Marcos Nickol (Des)escribir la Modernidad ‒ Die Moderne (z)erschreiben: Neue Blicke auf Juan Carlos Onetti Johanna Vocht/ David Klein/ Gerhard Poppenberg (edd.) (Des)escribir la Modernidad - Die Moderne (z)erschreiben: Neue Blicke auf Juan Carlos Onetti Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 7 · 2018 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum Johanna Vocht/ David Klein/ Gerhard Poppenberg (edd.) (Des)escribir la Modernidad - Die Moderne (z)erschreiben: Neue Blicke auf Juan Carlos Onetti © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de CPI Books GmbH, Leck ISSN 2365-3094 ISBN 978-3-8233-8101-3 Umschlagabbildung: Juan Carlos Onetti © Suhrkamp Verlag Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 7 15 29 59 71 87 105 119 145 161 185 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Victor Andrés Ferretti (Augsburg) Santa María und ein gewisser 'Fictiozentrismus' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agustín Corti (Salzburg) El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti. Nuevas perspectivas sobre lo urbano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Erdmann (München) Onettis Santa María. Von der Seeflotte zur Allerweltstadt. Zur universalhistorischen Lesbarkeit eines fiktiven Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Poppenberg (Heidelberg) Confesión de un asesinato futuro. Tiempo e intemporalidad en La muerte y la niña (1973) de Juan Carlos Onetti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johanna Vocht (Gießen) Frauen in Zimmern leben gefährlich. Zur Heterotopie im Werk Juan Carlos Onettis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christopher F. Laferl (Salzburg) Männer interessieren sich für Männer. Anmerkungen zu "Bienvenido, Bob", Los adioses und Jacob y el otro von Juan Carlos Onetti . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nataniel Christgau (Berlin) Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve Florian Baranyi (Wien) La 'profesión de la mentira'. Lüge und Fiktion bei Onetti . . . . . . . . . . . . . . . . Inke Gunia (Hamburg) Kunstwirklichkeit und affektives Wirkpotential in Onettis Para esta noche und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . David Klein (München) (D)escribir la Modernidad. Moderne Wirklichkeit, moderne descriptio in Juan Carlos Onettis "Un sueño realizado" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 219 229 232 Kurt Hahn (München) Transatlantische Fiktionen der Fiktion. Topo-Graphie und Medienreflexion in einer späten Erzählung Onettis - Ein Lektüreversuch zu "Matías el telegrafista" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Borris Mayer (Freiburg) Nachwort. Lasst Euch nichts erzählen - Das Werk von Juan Carlos Onetti als ein Kompendium der Desinformationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 1 Cf. Roberto Ferro: Onetti - La fundación imaginada - La parodía del autor en la saga de Santa María, Buenos Aires: Corregidor 2011. 2 www.romanistik.uni-muenchen.de/ forschung/ konferenzprojekte/ onetti/ onetti-progra mm.pdf. Vorwort Das Werk des uruguayischen Autors Juan Carlos Onetti wurde von der For‐ schung schon mit vielen simplifizierenden Etikettierungen versehen: Allen voran stehen die Zuschreibungen 'düster', 'hermetisch' oder 'existentialistisch'. Ohne den zugehörigen Analysen ihre Plausibilität absprechen zu wollen, möchten wir Onettis Erzählungen in diesem Sammelband jedoch gerade nicht semantisch auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner bringen, sondern vielmehr die hermeneutische Offenheit seiner Prosa fokussieren. Ein Großteil der hier versammelten Beiträge gründet auf Roberto Ferros monographischer Lesart 1 , die alle literarischen Arbeiten Onettis als einen großen Text, als offenes Kunst‐ werk versteht und damit auch eine Vielzahl an selbstreferentiellen Bezügen offen zu legen vermag. Die vorliegenden Aufsätze sind das Ergebnis eines dis‐ kussionsreichen Symposiums 2 , das im Herbst 2015 in München stattfand, um Onettis Werk vor der Folie aktueller medien-, gender- und raumtheoretischer Diskurse zu beleuchten. Implizit schwang dabei immer auch die Frage mit, was Onettis Texte bis heute aktuell erscheinen lässt und warum deren wissenschaft‐ liche Rezeption an deutschsprachigen Universitäten trotz unbestrittener ästhe‐ tischer Qualität so zurückhaltend ist. Denn bis dato existierten in der deutsch‐ sprachigen Hispanistik kaum Untersuchungen zu Onettis umfassendem Œuvre. Mit dem Symposium sollte sowohl die wissenschaftliche Vernetzung bezüglich der Onetti-Forschung gefördert als auch die ästhetische Bedeutung seiner Texte für die Moderne aufgezeigt werden. Ganz im Sinne von Mario Vargas Llosa, demgemäß Onetti als einer der ersten Vertreter der lateinamerikanischen Moderne zu betrachten sei, begreifen wir Onettis Prosa als kontinuierliche Anwendung, Abwandlung und Erprobung moderner Techniken der Fiktionsherstellung. Wenn Onetti schreibt, so die These, dann betreibt er mitunter das, was einst zu Beginn der 1960er Jahre den Gegenstand einer Diskussionsrunde zwischen Literaten, Intellektuellen und Künstlern bildete: Ausgangspunkt der Debatte waren die fragmentarischen Hinterlassenschaften eines nicht näher bekannten Schriftstellers - dem Klang seines Namens nach musste er Italiener gewesen sein. Aus den tagebuchähnli‐ chen Aufzeichnungen war das Anliegen herauszulesen, zu einem neuen Ver‐ ständnis literarischer und künstlerischer Produktion zu gelangen. Hintergrund und Anstoß gaben neueste naturwissenschaftliche Entdeckungen im Bereich der Chemie. So war es einem schwedischen Chemiker gelungen, psychische Vorgänge in direkter Relation auf physiologische Vorgänge zu reduzieren. Che‐ mische Prozesse, so die bahnbrechende Schlussfolgerung des Wissenschaftlers, waren nun endlich in gedankliche Prozesse übersetzbar geworden. DNS und die nach ihrem Code sich 'herausschälenden' Proteine zeigten sich als unendlich komplexer, aber doch lesbarer Text menschlicher Gedanken. Geist und Körper waren somit keine getrennten Bereiche mehr, sondern ihrerseits nur mehr zwei Seiten ein und derselben Sache 'Mensch'. Fortan sollten sich also dessen Ge‐ danken zu den Proteinen, die sie tragen, so verhalten, wie die Vorderseite einer Münze zu ihrer Rückseite: unterschiedlich anzusehen und doch untrennbar ver‐ bunden. Für den Schriftsteller, so wurde im weiteren Verlauf der besagten Dis‐ kussionsrunde deutlich, hatte dies weitreichende Konsequenzen. Denn wenn ein Mensch sich anschickt, gedanklich ein Bild von sich zu entwerfen, sich in die Zukunft oder die Vergangenheit zu projizieren, so entspringt dieser projek‐ tierte Gedanke nur aus dem, was zu dem Zeitpunkt, in dem er gedacht wird, bereits vorhanden ist: eine bestimmte Konfiguration von DNS und Proteinen, die den Gedanken davon, was sein soll oder was war, materiell tragen und er‐ möglichen. Jeder Versuch, die ersehnte oder erinnerte Vorstellung zu realisieren, musste folglich an ihren Ausgangspunkt, den gegenwärtigen Initialgedanken, zurückkommen. Was der Mensch sein wollte, das war er bereits. Und was er war, das wollte er sein. Während des weiteren Verlaufs der Diskussion kreiste das gemeinsame In‐ teresse der Teilnehmenden sodann um die Frage, wie mit einer solchen Prämisse umzugehen sei, und ob der besagte Schriftsteller hierzu einen Vorschlag ge‐ macht habe, denn es sei ja nun, so ein weiterer Einwurf, weder möglich, orga‐ nische Prozesse unabhängig von Gedanken zu vollziehen, noch Gedanken von organischen Prozessen zu emanzipieren. Leben und Menschsein heiße im Körper und in den Gedanken gleichermaßen zu sein. Auf eine bestimmte Weise zu denken, sei demnach stets gleichbedeutend mit einer bestimmten Art und Weise in die Welt gestellt zu sein, mit ihr in Beziehung zu treten, über Möglich‐ keiten und körperliche Werkzeuge zu verfügen, sich diese Welt anzueignen. Folglich bedeute Sprache, als Ausdruck (oder DNS) der Gedanken, stets das zu Hause sein in einer bestimmten Realität. Jeder Versuch, Gedanken sprachlich zu äußern oder gar schriftlich zu fixieren, impliziere letztlich - ganz im Sinne Wittgensteins - einen Verbleib im Horizont der durch diese Sprache vorgege‐ 8 Vorwort benen Möglichkeiten. Dies gelte für natürliche wie formale Sprachen, wie auch für Vorstellungen und Konzepte von Realität gleichermaßen. Da es aber ohne Sprache und deren schriftliche Fixierung kein literarisches Kunstwerk mehr geben kann, sei es Aufgabe 'guter' Literatur, eine gegebene Sprache in all ihren Facetten, Möglichkeiten und Spielarten so lange zu durchlaufen, zu durch‐ schreiten, sie zu verbrauchen, sie zu zerschreiben, bis sich letztlich das realisiert, was von Anfang an da war, bis die Worte und Dinge zu dem werden, was sie immer schon waren. Erst auf diese Weise werde nicht eine parzellierte und an die jeweilige Sprache gebundene Realität, sondern die Realität jenseits der Sprache in der Sprache erahnbar. Nach Ansicht des besagten Schriftstellers habe Literatur somit die Aufgabe, Sprache zu verbrauchen. Dies schließt ihren 'Gebrauch' logisch mit ein, bedeutet aber zugleich, dass sich im Ver- und Gebrauch, im Zuge jenes Zerschreibens die Grenzen des Machbaren abzeichnen, die gleichwohl die Grenzen der Sprache sind. Wenn die literarische Komposition ihre äußersten Grenzen ausgelotet habe, dann öffne sich der Bereich des Elementaren. Jedwede Behauptungen, jedwede Gegenbehauptungen, jede Reklamation von Wahrheit, jede Unterstel‐ lung von Lüge würden auf diesem Wege durchschaubar - durchschaubar hin‐ sichtlich ihrer Verwiesenheit in die jeweiligen sprachlichen Grenzen. War das Symposion, auf das dieser Sammelband zu Onetti zurückgeht real, so hat die Diskussionsrunde um den verstorbenen Schriftsteller - er hieß Morelli - nicht stattgefunden und stattgefunden. Sie ist fiktiv und dem 1963 erschie‐ nenen Roman Rayuela aus der Feder von Onettis Zeitgenossen Julio Cortázar entlehnt. Die darin angestellten Schlussfolgerungen sollen zu einem besseren Verständnis von Onettis literarischem Schaffen beitragen. Denn Onetti betreibt seinerseits eine ebenso pointierte Variante des Cortázar'schen desescribir, eines potenziell endlosen und konzeptionell unabschließbaren Fortschreibens, das erst dann zu einem Ende gelangt, wenn alle sprachlichen Möglichkeiten ausge‐ schöpft sind. Während jedoch Cortázar seiner Rayuela einen Kommentar und eine Gebrauchsanweisung beilegt, so findet sich bei Onetti ein vergleichbares Projekt des Zerschreibens zwar metafiktional reflektiert, bleibt dabei jedoch auf den reinen Selbstzweck des Erzählens ausgerichtet. So schreibt etwa Díaz Grey, der Chronist der traurigen Lebensgeschichte einer namenlosen Frau, nachdem er mehrere Versionen ihres Lebens gehört hat: Lo único que cuenta es que al terminar de escribirla me sentí en paz, seguro de haber logrado lo más importante que puede esperarse de esta clase de tarea: había aceptado un desafío, había convertido en victoria por lo menos una de las derrotas cotidianas. (TN 67) 9 Vorwort Selten finden sich bei Onetti die rettenden Beipackzettel und Lektüreschlüssel, die den Rückzug auf eine bequeme Abstraktionsebene erlauben. Möglicherweise ist die moralisch-ethische Dimension von Onettis literarischem Werk, neben dem radikalen Offenlegen der sprach- und konventionsbedingten Grenzen jed‐ weder Wahrheitsbehauptung, in eben jenem Verzicht auf Erklärungen zu sehen. Denn diese wären wiederum das, was es in erster Linie zu zerschreiben gilt. Anders formuliert: Die Moderne wird bei Onetti nicht erklärt, sie wird vollzogen. Dass die hermeneutische Offenheit, die Fülle an rhizomatisch verzweigten Selbstreferenzen und die zunehmende Fragmentierung seiner Texte nicht in der Beliebigkeit münden, sondern vielmehr immer wieder neue kritische Blicke auf sein Werk zulassen, möchte der vorliegende Band zeigen. So spürt etwa Victor A. Ferretti in der von der Forschung bislang wenig beachteten Kurzgeschichte "Historia del caballero de la rosa y de la virgen en‐ cinta que vino de Liliput" (1956) einem spezifischen 'Fictiozentrismus' im Werk Onettis nach. Exemplarisch analysiert der Beitrag die diskursiven Strategien, die Santa María zum zentralen setting und zur moralischen Richtschnur in Onettis Gesamtwerk werden lassen. Dabei fokussiert er die sozialen und gesell‐ schaftlichen Ausgrenzungsmechanismen, die im Diskursuniversum Santa María 'das Andere' an die Ränder bzw. aus Santa María verweisen und deren xenophobe Implikationen auch im 21. Jahrhundert mehr als aktuell erscheinen. Agustín Corti vermisst in seinem kulturwissenschaftlich ausgerichteten Beitrag den 'espacio cultural' (Beatriz Sarlo), der sich aus dem hypertextuellen Zusammenspiel der Primärtexte und der journalistischen Epitexte ergibt. Er bettet damit Onettis literarische Prosa in einen umfassenden kulturellen Diskurs ein, der nicht nur von der Stadt erzählt, sondern die realweltlichen und die fik‐ tiven Implikationen des Urbanen zusammen verhandelt. Anhand von Streich‐ ungen und Ergänzungen in den Originalmanuskripten zeichnet Corti die dis‐ kursive Genese der emblematischen Textstadt Santa María detailliert nach. Eva Erdmann diskutiert in ihrem Beitrag verschiedene historische und in‐ tertextuelle Referenzen, die Santa María impliziert. Im semantischen Vergleich mit der Flotte des Kolumbus und einem Gedicht Anna Seghers' fokussiert Erd‐ mann die 'Meeres-Referenzen' Santa Marías und die damit verbundene diskur‐ sive Fluidität. Santa María wird in dieser Lesart zum Transitraum. Die Orien‐ tierungslosigkeit des offenen Meeres geht demnach als topographische Ortlosigkeit und Unbestimmtheit in Onettis Texte ein und erklärt die Unmög‐ lichkeit, Onettis Santa María zu kartographieren. Auf die zeitliche Unbestimmtheit, im Sinne einer spezifischen Zeitlosigkeit, geht Gerhard Poppenberg in seinem Beitrag zu Onettis spätem Kurzroman La muerte y la niña (1973) ein. Der Zeitlosigkeit, die Michail Bachtin als Chro‐ 10 Vorwort notopos des Abenteuerromans definiert und die darin besteht, dass Vergangen‐ heit und Zukunft des Helden ausgespart werden, stellt Poppenberg in Onettis Santa-María-Erzählungen einen Chronotopos gegenüber, der die Entstehung von Literatur selbst als Abenteuer reflektiert. Am Beispiel des Pfarrers Antón Bergner und seines geistigen Ziehsohns Augusto Goerdel expliziert Poppenberg die spezifische Metapoetizität der Onetti'schen Erzähltexte: Dadurch dass die beiden Figuren Bergner und Goerdel von Beginn an wissen, dass sie den anderen täuschen, der jeweils andere sich der Täuschung jedoch ebenso bewusst ist, entsteht nach Poppenberg der 'Pakt der Fiktion' und damit Literatur. Die spezi‐ fische Zeitlosigkeit bei Onetti artikuliert sich demnach nicht in einer völligen Absenz von Zeit(räumen), sondern vielmehr in einer unendlichen Wiederho‐ lungsschleife. Im darauffolgenden Beitrag beleuchtet Johanna Vocht am Beispiel des Ap‐ partements der Prostituierten Queca in La vida breve (1950) das diskursive Zu‐ sammenspiel von Räumen und Figuren. Quecas Einzimmer-Wohnung ist als spiegelgleicher Gegenort zum Appartement des Protagonisten und fiktiven Er‐ finders Santa Marías, Juan María Brausen, konstruiert und wird für diesen zum Aushandlungsort eines letalen Männlichkeitsstrebens. Die Frau fungiert in dieser Lesart als "Katalysator[…] für die Prozesse männlicher Bewusstwerdung" (Laferl i. diesem Band). Christopher F. Laferl fokussiert den männlichen Objektstatus, der bis dato einhellig den Frauenfiguren bei Onetti zugeschrieben wurde. Vermittels der Kurzgeschichte "Bienvenido, Bob" (1944) sowie des Kurzromans Jacob y el otro (1961) zeichnet Laferl die Strategien männlicher Passivität nach. Er konstatiert, dass die Protagonisten beider Erzählungen unter Aspekten ihrer jugendlichen Attraktivität respektive ihrer im Alter nachlassenden Attraktivität wahrge‐ nommen und bewertet werden. Sowohl Bob als auch Jacob van Oppen werden demnach als Objekte eines spezifisch männlichen, auf körperliche Anziehungs‐ kraft ausgerichteten Begehrens dargestellt. Das männliche Subjekt wiederum, in seiner Darstellung als Verzweifeltes und um Rettung Ringendes, steht im Zentrum von Nataniel Christgaus Beitrag. Vor der Folie der Existenzphilosophie Sören Kierkegaards liest er einen der rät‐ selhaftesten Metatexte im Werk Onettis als "konzeptuelle[s] Zentrum des Ro‐ mans" (id. i. diesem Band), das die Zusammenhänge zwischen außerliterarischer und fiktiver Realität, sprich: die spezifische Verfasstheit von Fiktionserzeugung im Werk Onettis, unter Einbeziehung theologischer Prämissen, verhandelt. Das entsprechende Kapitel "Los desesperados"steht im zweiten Teil von La vida breve und diskutiert nichts weniger als die Fragen menschlicher Selbstbestimmung und Möglichkeiten göttlicher Errettung. Diese Erlösung kann es nach 11 Vorwort Christgaus Lesart jedoch nur geben, wenn der Mensch einen göttlichen Plan und gleichzeitig die eigene Profanität anerkennt. Mit Onettis Fiktionsstrategien befasst sich Florian Baranyi in seinem Bei‐ trag. Er zeichnet darin eine spezifische Poetologie der Lüge in La vida breve (1950), Dejemos hablar al viento (1979) und Cuando ya no importe (1993) nach. Die Lüge, die sich durch Selbstanzeige ihres Verschleierungsmechanimus be‐ raubt, fungiert in La vida breve als Strategie der Fiktionsherstellung. Mit den späten Romanen Dejemos hablar al viento und Cuando ya no importe verändert sich die poetologische Funktion der Lüge. Sie markiert die Selbstreferentialität der späten Texte und dient der poetologischen Selbstvergewisserung der meta‐ fiktionalen Figuren Medina und Díaz Grey. Nicht die vielfältigen und vielgestaltigen Bezüge innerhalb des Gesamt‐ werkes, sondern die Bezüge zwischen Roman und Verfilmung untersucht Inke Gunia in ihrer medientheoretischen Vergleichsstudie zwischen Onettis Para esta noche (1943) und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht (2008). In einer detaillierten Analyse fokussiert und vergleicht sie die affektiven Wirkpo‐ tentiale von literarischer und filmischer Darstellung. David Klein führt in seinem Beitrag die eingangs angerissene Sonderstel‐ lung Onettis innerhalb der lateinamerikanischen Moderne weiter aus. Vermit‐ tels der Lektüre der Kurzgeschichte "Un sueño realizado"(1941) lotet er die spe‐ zifischen Wirkweisen der descriptio vor dem Hintergrund eines modernen Wirklichkeitsbegriffs bei Onetti aus. Die moderne Beschreibung in "Un sueño realizado" liest er als "Gegenstand metafiktionaler Reflexion" (id. i. diesem Band). Die descriptio ist in diesem Fall nicht auf Erkenntnisgewinn, sondern vielmehr auf Sinnentleerung und den Rückverweis auf sich selbst, den Akt des Schreibens ausgelegt. So mag bisweilen auch der Eindruck entstehen, Onettis Texte verweigerten sich dem Zugriff des Lesers. Dieses, von der Literaturkritik verschiedentlich angeprangerte textuelle Miss- oder vielmehr Unverständnis des impliziten Lesers, thematisiert Kurt Hahn in seinem Beitrag auf Handlungsebene. Vermittels einer medienkriti‐ schen Analyse der Kurzgeschichte "Matías el telegrafista" (1970) untersucht er die missverständliche Kommunikation zwischen Santa María und der sie um‐ gebenden Außenwelt. Onettis Text lässt dabei offen, ob das Kommunikations‐ problem zwischen dem Funker Matías und seiner Angebeteten María Pupo auf zwischenmenschlichem Missverstehen oder auf technischen Defiziten der auf‐ kommenden Telekommunikation beruht. Die abschließenden Worte dieses Sammelbandes stammen von Borris Mayer. In seinem Nachwort erläutert er die Aktualität des Onetti'schen Text‐ korpus aus der Perspektive eines 'lector cómplice' ( Julio Cortázar). Seine Lektüre 12 Vorwort streicht die mahnende Aussagekraft universeller Themen wie Lüge, Manipula‐ tion und missverständlicher Kommunikation in Onettis Erzählungen heraus. Da Onettis Gesamtwerk eine durchaus heterogene Editionsgeschichte aufweist, haben wir uns für eine einheitliche Zitierweise entschieden. Diese folgt einer‐ seits der spanischen Gesamtausgabe, die in drei Bänden bei Galaxia Gutenberg erschienen ist und - insofern auf deutsch zitiert wurde - der deutschen, fünf‐ bändigen Gesamtausgabe, die von Jürgen Dormagen und Gerhard Poppenberg ediert und im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde. Die Vereinheitlichung der Zitierweise macht sich zum einen die editorische Kohärenz der Gesamtausgabe zu Nutzen. Zum anderen soll durch die zusätzliche Nennung einzelner Teile und Kapitel auch eine Nachvollziehbarkeit in älteren Editionen gewährleistet werden. Das Siglenverzeichnis ist am Ende dieses Bandes zu finden. Unser besonderer Dank gilt Michael Rössner als Mitveranstalter des Sympo‐ siums. Die HerausgeberIn Johanna Vocht David Klein Gerhard Poppenberg 13 Vorwort 1 Cf. zu dieser Szene bündig Kathryn J. Gutzwiller, op. cit., p. 48. 2 Bezeichnenderweise ordnet die sogenannte rota Virgilii (13. Jh.) Hirten dem humilis und Hektor dem gravis stilus zu, was jeweils einem genus humile (Eklogen etc.) bzw. sublime (Tragödie / Epos) entspräche (cf. hierzu Heinrich Lausberg, op. cit., pp. 154 sq. [§§. 465-469]). Santa María und ein gewisser 'Fictiozentrismus' Victor Andrés Ferretti (Augsburg) [E]t l'homme sera d'abord ce qu'il aura projeté d'être. Non pas ce qu'il voudra être. J-P. Sartre, "L'Existentialisme est un humanisme" I. In einer der prominentesten Ekphrasen der Literaturgeschichte, der homeri‐ schen Beschreibung des kunstvollen Achilles-Schildes (Il. 18, 468-608), flöten zwei unbedarfte Hirten ihre Herden mitten hinein in einen epischen Kontext - mit zu erwartendem Ausgang (vv. 520-529), denn was weiden Viehhüter auch auf einem Schlachtfeld? Später wird dann ein (Boten-)Hirte in der 'euripidei‐ schen' Rhesos-Tragödie (vv. 264-341) von Hektor darauf aufmerksam gemacht werden, gerade fehl am kriegerischen Platze zu sein - allein, dieses Mal ist es der überhebliche Heros, der den Zusammenhang eingangs verkennt. 1 Gleich‐ wohl, in beiden Fällen, Epos und Tragödie, mischt sich humiles Personal (Hirten) in eine sublime Textur (Epos / Tragödie) (hin)ein; 2 und in beiden Fällen wird diese generische 'Transgression' explizit gemacht - mal ekphrastisch, mal sze‐ nisch vermittelt. Wenn nun im 3. Jahrhundert vor Christus der Ahn der Hirten-Dichtung The‐ okrit in seinen Idyllen Hirten hexametrisch 'losflöten' lässt (eid. I etc.), wird ein traditionell episches Versmaß 'bukolisiert', was dann Vergil in seinen Bucolica nicht minder kunstgerecht weitertreiben wird, wie gerade die recusatio aus der sechsten Ekloge (vv. 1-12) bestätigt. Ohne hier auf diese bis in die Frühe Neuzeit bedeutsame Kontrastierung von epischer Gewalt und hirtlicher Stärke eingehen 3 Cf. dazu eingehend Victor A. Ferretti: Bucolica mente - Zu Diskursivität und Medialität romanischer Bukolik in früher Neuzeit. 4 Cf. Wolfgang Iser, op. cit., pp. 18-51, bes. pp. 35-41. 5 Die folgenden Ausführungen verdanken ihre 'Reifung' den wertvollen Diskussionen im Rahmen des Münchener Onetti-Symposiums im November 2015 als auch eines Kieler Hauptseminars zu Onetti im Sommersemester 2016. 6 Cf. Mario Vargas Llosa, op. cit., pp. 31 sq. zu können, 3 soll es hinreichen, mit den zwei 'klassischen' hirtlich-heroischen (Achilles-Schild / Hektor) Aufeinandertreffen auf ein poietisches Kontrastpo‐ tential hingewiesen zu haben, das man auch im Sinne metafiktionaler Diskre‐ panz begreifen könnte. Ebendiese, so wird hier am Beispiel einer Erzählung Juan Carlos Onettis zu zeigen sein, wahrt bis in unsere Zeit ihre reflexive dýnamis, was wiederum viel mit einer bereits aristotelisch (poet. 9, bes. 1451a36-1451b33) konzedierten poie‐ tischen Kontingenz (d. h. Auch-anders-Möglichkeit) zu tun haben könnte, wo‐ nach Dichter probables (eikós) bzw. optatives (génoito) Potential (dynatá) von Welt, Geschichtsschreiber hingegen Gewisses (mén) eröffneten. Und spätestens wenn literarische Fiktion, wie zum Beispiel Onettis La vida breve (1950) voll‐ führte, 'fictiologisch' agiert - sprich: ihren eigenen lógos narrativ behandelt, macht sie damit nicht nur ihre eigene Gewirktheit ausdrücklich, sondern auch das ihr eigene Möglichkeitsvermögen samt Potentialis. Zumal, wie Wolfgang Iser bereits eruiert hat, 4 es gerade Kennzeichen literarischer Fiktionen ist, dass sie in der Regel ihren Modus des Als-ob selbst anzeigen (im Unterschied etwa zu anderen Fiktionen). Doch was passiert, wenn literarische Figuren gleichsam ihr eigenes Als-ob ausklammern und beginnen, andere literarische Figuren aus ihrer Welt(-Fiktion) zu vertreiben? Dieser Frage soll nunmehr am konkreten Beispiel Onettis nachgegangen werden. 5 II. Wie sich mit Mario Vargas Llosa starkmachen ließe, 6 hat Onetti - wie nur wenig andere Autoren der hispanoamerikanischen Moderne - die weltkonstitutive Funktion von Fiktionen und die daran gekoppelte Leistung von Imaginärem zur Signatur seines Œuvre gemacht. Denn was Romane wie die bereits erwähnte La vida breve, aber auch El astillero (1961) gekonnt entfalten, das steht in der Traditionslinie von Miguel de Cervantes' uneingeholtem Don Quijote 16 Victor A. Ferretti 7 Juan José Saer, op. cit., Abs. 6: "Ni realista ni fantástica, la novela de Onetti [La vida breve] enarbola con virtuosismo y rigor una bandera que, desde Cervantes, desde Cal‐ derón de la Barca tal vez, había dejado de flamear en los campos del relato, por lo menos en idioma castellano: la de la realidad de la ficción" (eig. Hervorh.). 8 So ist Don Quijotes Aventiure-Rollenspiel dabei signifikant auf Improvisation ange‐ wiesen, insofern als die Ritterroman-Konventionen nicht allen Mit-Menschen bekannt sind bzw. nicht alle fiktionskonform mitspielen möchten (cf. z. B. DQ I, 2-5), worauf Don Quijote dann mal kreativ, mal impulsiv reagieren muss. 9 Cf. hierzu Victor A. Ferretti: "Urbanismo literario: France-Ville, Santa María y la ciudad imaginaria", pp. 31-50, bes. pp. 38-46. 10 Arce erweist sich hier geradezu als hybride Figur, da es sich sowohl um ein gelebtes als auch imaginiertes Alter Ego handeln kann. Gleichwohl, im Unterschied zu Don Quijote, der realiter auszieht, bleibt - in der hier veranschlagten Lesart - Brausens imaginäre (Aus-)Flucht in einem realen Buenos Aires verankert (Imaginationsort), wovon dann poietisch imaginiert wird (Díaz Grey etc.), mit Santa María als fiktionalem Kristallisa‐ tionspunkt (imaginierter Ort). 11 Cf. dazu ausführlich Iser, op. cit., pp. 76-157. (1605/ 15) - 7 einem Als-ob-Ritter, der hinauszieht, um seine Um-Welt mit seinem Imaginären zu konfrontieren. 8 Onettis Juan María Brausen wiederum, der Be‐ gründer der imaginären Stadt Santa María, er wird sich ein Alter Ego namens Arce für sein präpotentes Zuhälter-Rollenspiel zulegen und sich zudem als Díaz Grey in seine selbsterschaffene (Kleinstadt-)Fiktion hineinprojizieren, wobei sich am Ende des zweiteiligen Romans alle drei Ichs zu einem triadischen Brausen-Arce-Díaz Grey-Subjekt zusammenfügen, das in Santa María dann seine autopoietische "felicidad" (VB II, cap. XVII, 717) erlangt. 9 Onetti inszeniert so in La vida breve eine mustergültige accouplage von Realem, Fiktivem und Imaginärem im Modus des Als-ob - in einer Zeit, als es noch kein (Social Media-)Internet gibt und folglich Second Life und Virtual Reality offline realisiert werden müssen. 10 Gehört das reflektierte Modellieren von Welt(gestaltigem) seit jeher zum Standardrepertoire literarischer Fiktionen, wie nicht zuletzt U- und Dystopien bezeugen, potenziert Onettis La vida breve metafiktionale Reflexion insofern, als diese durch Santa María gleichsam selbstreferentiell verortet wird. Dabei waren wir Lesenden nicht nur dabei, als diese imaginäre Kleinstadt zum ersten Mal entworfen wurde (La vida breve), nein, wir werden auch in einer Vielzahl von weiteren Onetti-Erzählungen immer wieder damit konfrontiert. Auf diese Onetti'sche Weise tritt Santa María gewissermaßen die moderne Nachfolge des bukolischen Arkadien an - einer metafiktionalen Gegend, die von Vergil über Iacopo Sannazaros Arcadia (1504) dann zum hybriden Literaturraum par excel‐ lence werden konnte, in dem Reales und explizit Fiktionales signifikant ver‐ klammert werden. 11 Diese konstitutive Kopräsenz von Realem und - wohlge‐ 17 Santa María und ein gewisser 'Fictiozentrismus' 12 Saer, op. cit., Abs. 13 (eig. Hervorh.). 13 Cf. hierzu Iser, op. cit., pp. 18-23. 14 Cf. dazu Gernot Böhme, op. cit., pp. 183-191. merkt - Meta-Fiktionalem ist es auch, die Santa María kennzeichnet, wie Juan José Saer akzentuiert: [L]a Santa María de Onetti coexiste con la dimensión empírica propia al autor y a los personajes; es uno de los puntos del triángulo que la pequeña ciudad de provincia forma con Buenos Aires y Montevideo. Esa coexistencia de las dos instancias es pri‐ mordial para los objetivos del libro [La vida breve]. 12 So macht die Komplexität Santa Marías aus, dass es sich um eine dezidiert ima‐ ginäre Stadt handelt, die sowohl auf reale ('Río de la Plata' u. a.) wie fiktionale (Arce u. a.) Referenzen rekurriert, um schlussendlich lebendig, ja, 'lebbar' zu werden (triadisches Ich u. a.). Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine ima‐ ginäre Stadt im Zeichen des Imaginären, wie vor allem Onettis dort angesiedelte Meister-Erzählung Jacob y el otro (1961) bewiese, wo am Ende das - vom Pro‐ moter Orsini befeuerte und vom Erscheinungsbild des verbrauchten Ringers Jacob van Oppen beteuerte - Imaginäre obsiegt. Nur in Santa María, so ließe sich vermuten, kann ein 'traumatisierter Alkoholiker' ( JO, cap. 5) es mit einem scheinbar überlegenen 'Recken' (cap. 4) im Ring nicht nur aufnehmen, sondern den ungleichen Agon auch für sich entscheiden. Wobei die Art und Weise cha‐ rakteristisch ist (cap. 6): Mario, der junge Kraftprotz und damit quasi die Real-Evidenz in Person, er wird gleich in der ersten Runde aus dem Ring des - nach dem antiken Gott der Dichtung benannten Veranstaltungsortes - Apolo geschmissen und muss dann von dem Arzt in Santa María (Díaz Grey? ) wieder 'zusammengeflickt' werden. Drastischer könnte man die Dominanz des Imagi‐ nären ("El campeón […]." JO, cap. 6, 142) in Santa María wohl nicht anschaulich machen: auf der einen Seite die glorreichen Zeiten des gealterten van Oppen, auf der anderen die scheinbare Überlegenheit des bulligen Mario; doch am Ende gewinnt der reife Kämpfer eindrucksvoll kraft téchnē - eines kunstfertigen Griffes, der den jugendstarken Hünen in die Zuschauerränge katapultiert und damit beweist, dass das Imaginäre in Santa María weit mehr darstellt als bloßen Schein. Dass nun Onetti trotz der Gravitationskraft des Imaginären in seinem Werk keine entsprechende Metropole, sondern gerade eine imaginäre Kleinstadt evo‐ ziert, darf auch als Fingerzeig verstanden werden, wonach das Imaginäre, in der Regel zwischen Fiktion und Realität versprengt, 13 als tertius inter pares gelten mag, es jedoch nicht 'wirklich' ist. 14 Denn wie dann etwa der Astillero-Roman sinnig entfaltet, hilft Imaginäres Menschen manchmal, reale Misere kreativ zu 18 Victor A. Ferretti 15 Cf. für eine Lektüre Vargas Llosa, op. cit., pp. 147-167. 16 [Orsini: ] "¿Y cómo íbamos a saltearnos Santa María en esta gira que es el prólogo de un campeonato mundial? ¡Santa María! ¡Qué costa, qué playa, qué aire, qué cultura! " ( JO cap. 1, 113). Was wie ein PR-Anbiedern anmutet, stellt sich am Ende als taktisch kluge Entscheidung heraus, denn um Imaginäres ('Champion') zu reanimieren, ist Santa María der buchstäblich ideale Ort. 17 Zu dieser Berkeley'schen Formel hat Bertrand Russell durchaus Historia-Relevantes er‐ wogen: "Can we turn Berkeley's dictum round, and instead of saying that reality consists in being perceived, say that being perceived consists in being real? "(eig. Hervorh.) - Bertrand Russell, op. cit., p. 630. verwinden, indem man Identitätstiftendes (Werft) weiter aufrechterhält, wie‐ wohl es dafür schon kein Geld, kein Gehalt mehr gibt. 15 Inwieweit Imaginärem bei Onetti nun nicht nur Anthropologisches, also Mensch(sein)bezügliches, sondern gerade auch Soziales eigen ist, soll im Fol‐ genden anhand einer weiteren in Santa María angesiedelten Erzählung er‐ gründet werden: der "Historia del Caballero de la rosa y de la Virgen encinta que vino de Liliput" (1956). III. Wie auch in Jacob y el otro siedelt Onetti in dieser sechsteiligen Geschichte zwei Fremde in Santa María an. In Ersterer werden Orsini und van Oppen vom ein‐ heimischen Arzt analeptisch eingeführt ( JO, cap. 1, 112 sqq.), wobei es bezeich‐ nend ist, dass die beiden von außen kommenden Figuren erst einmal einen Blü‐ tenkranz "al pie del monumento a Brausen" (ibid., 112) niederlegen und sich durch diese Reverenz dem Stadtgründer gegenüber von Anbeginn metafiktional integrieren. 16 Beachtenswert ist ferner der identifikatorische Hinweis auf eine italienisch-ortlose Aussprache (ibid., 113) Orsinis sowie der Verweis auf ein den Fremden bezügliches, mittelbares Hörensagen ("dicen que […]", "juran haberlo visto […]", "presumen que […]" ibid., 113 sq.), bei dem plurales Meinen und Wahrnehmen eine - gerade nicht pluralistische - communis opinio begründen. Im Falle des titelgebenden Historia-Pärchens wiederum trägt der first contact mit den Santa-María-Bewohnern fast schon phänomenologische Züge, insoweit als ein voyeuristisch-idealistisches esse est percipi  17 am Werk zu sein scheint, wenn es lautet: Miren, pero no miren demasiado. […] Si miramos indiferentes, es posible que la cosa dure, que no se desvanezcan [la pareja], que en algún momento lleguen a sentarse, a pedir algo al mozo, a beber, a existir de veras. / Acaso sean tal como los vemos, acaso sea cierto que están en Santa María. / / La lluvia estuvo amenazando desde la madru‐ 19 Santa María und ein gewisser 'Fictiozentrismus' 18 Gemeint ist der rekurrente Verweis in der Erzählung auf ein ver: verlos-verá- [pre]veía[n]-verle(s)-vería-[pre]viendo-vio-visto(s)-vi-vimos-vieron). Lakonisch: "Lo que se vio en seguida fue la fiesta de cumpleaños de doña Mina. Por nosotros la vio Guiñazú." (HCa, cap. 6, 148, eig. Hervorh.) 19 Da Onetti in der Erzählung selbst von "sanmarianos" (HCa 147, 153) spricht, wird hier im Deutschen die Bewohnerschaft Santa Marías (inkl. Adjektivierung) ebenfalls apo‐ kopiert. 20 Zu den biblischen Sinnschichten (Gen 25,26 et al.) dieses Namens cf. Kathrin Gies: "Jakob", WiBiLex (2013), Abschn. 1.2. gada y va empezar justo ahora. Va a borrar, a disolver esto que estábamos viendo y que casi empezábamos a aceptar. Nadie querrá creernos. / / / ―Pero puede ser […] que los demás habitantes de Santa María los vean y sospechen, o por lo menos tengan miedo y odio, antes de que la lluvia termine por borrarlos. Puede ser que alguno pase y los sienta extraños, demasiado hermosos y felices y dé la voz de alarma. (HCa, cap. I, 134 sq., eig. Hervorh.) Dargeboten wird hier die auf ein - polyptotisches 18 - Sehen gestützte 'Stamm‐ tisch'-Wahrnehmung dreier Sanmarianer 19 , nämlich Guiñazús, Lanzas sowie der homodiegetischen Erzählinstanz, die auf ein Aufmerksamkeit erregendes Paar gerichtet ist, das sich an einen Café-Tisch begibt: er ein (Rosen-)Kavalier mit "[…] anómalo traje […]" (ibid., 135), sie eine kleinwüchsige Anmut, "[…] dema‐ siado próxima a la perfección […]" (ibid., 134). Die beiden Fremden fallen hier nicht nur bezüglich Schönheit und Glückseligkeit auf, sie ziehen die deutenden Blicke der Kleinstädter förmlich auf sich, und zwar im Zeichen 'universeller', wetternder Klischeehaftigkeit: La luz de la U de Universal refulgía en la humedad, el viejo Lanza dejó de toser y dijo una broma sobre el caballero de la rosa. Nos pusimos a reír, separados de la pareja por el estruendo de la lluvia, creyendo que la frase servía para definir al muchacho y que ya empezábamos a conocerlo. (Ibid., 136) Dabei ist dem jungen Mann - ähnlich wie dem weltläufigen Orsini aus der Jacob-Erzählung - eine gewisse "ubicuidad" (ibid.) eigen - mit dem entscheid‐ enden Unterschied, dass das Ehepaar, anders als der um Publicity ( JO, cap. 1, 112-114) bedachte "[…] príncipe Orsini […]" (ibid., cap. 3, 117) mit seinem 'Knö‐ chel-Halter' (ibid, cap. 5, 139) Jacob 20 ein gewisses Lokal-Interesse vermissen lässt. Das wird zu Beginn des vierten Teils deutlich, als sich der junge Mann hinsichtlich juristischen Beistands an Guiñazú richten muss, der äußert: "Enton‐ ces, por primera vez y como estaba predicho, tuvieron que acercarse a nosotros" (HCa, cap. 4, 142, eig. Hervorh.). Hierbei macht der Advokat keinen Hehl aus seiner unbegründeten "antipatía" (ibid.) dem Fremden gegenüber. Er gibt sogar 20 Victor A. Ferretti 21 "Los echó [Specht] porque se habían emborrachado; porque encontró al muchacho abra‐ zado a la señora Specht; porque le robaron un juego de cucharas de plata que tenían grabados los escudos de los cantones suizos; porque el vestido de la pequeña era in‐ decente en un pecho y en una rodilla; porque al fin de la fiesta bailaron juntos como marineros, como cómicos, como negros, como prostitutas." (HCa, cap. 3, 141) eine Art von "envidia" (ibid.) zu und nutzt sogleich die Gunst der Stunde, "[…] de estafarle" (ibid., 144), indem er ihm 50 Pesos für seinen mehr wortals hilf‐ reichen Rechtsbeistand abknöpft. Hatte das Paar bis dahin vornehmlich auf gesellschaftlichen Tanzveranstal‐ tungen von sich Reden gemacht, beginnen mit ihrem plötzlichen Hinauswurf 21 aus dem Hause Specht, "frente a la plaza vieja, circular, o plaza Brausen, o plaza del Fundador" (ibid., cap. 3, 139), die Schwierigkeiten. Denn sie, die eigentlich in die Stadt gekommen waren, um einen Latorre-Nachfahren aufzusuchen (ibid., 138 sqq.), müssen jetzt sehen, wo sie bleiben (dies auch der Grund für die Kon‐ sultation Guiñazús). Sie finden Obdach bei Doña Mina in Las Casuarinas, einer Art Wohnanlage mit umgebauter Kapelle, "[…] bastante alejada de la ciudad, hacia el Norte" (ibid., cap. 5, 145). Besagte Dame hat dabei selbst eine lebhafte Biographie vorzuweisen, sei sie doch drei Male als Jugendliche durchgebrannt: einmal mit einem Hilfs‐ arbeiter, das zweite Mal mit einem Zauberer und das letzte Mal mit einem bär‐ tigen Tiermedizin-Verkäufer, von dem sie jedoch aus freien Stücken wieder zu‐ rückgekehrt sei (cf. ibid., 144). Bei ihr und ihrem "[…] asqueroso perro […]" (ibid., 145) weilt nunmehr das Pärchen, dem man in Santa María - bestärkt durch die Specht-Affäre (ibid., 144 sq.) - sogleich unterstellt, es doch nur auf das Vermögen der alten Dame abgesehen zu haben. So droht die Historia sich als eine alte Geschichte (ibid., 147) herauszustellen - voll des Erbneids, der durch eine Tes‐ tamentsänderung der Doña weiter angeheizt wird. Die affektive 'Katharsis' der Sanmarianer ereignet sich dann im sechsten und letzten Teil der Erzählung, wo zunächst die freudlose Kleinbürgerlichkeit der "[…] pobladores antiguos" (ibid., cap. 6, 147) von Santa María zur Sprache ge‐ bracht wird: A pesar de los años, de las modas y de la demografía, los habitantes de la ciudad continuaban siendo los mismos. Tímidos y engreídos, obligados a juzgar para ayu‐ darse, juzgando siempre por envidia o miedo. (Lo importante a decir de esta gente es que está desprovista de espontaneidad y de alegría; que sólo puede producir amigos tibios, borrachos inamistosos, mujeres que persiguen la seguridad y son idénticas e intercambiables como mellizas, hombres estafados y solitarios. Hablo de los sanma‐ 21 Santa María und ein gewisser 'Fictiozentrismus' 22 Als Ort der Devianz (Doña Mina) und Quasi-Herberge (virgen encinta/ umgebaute Ka‐ pelle) wird Las Casuarinas schlechterdings zu Santa Marías 'Anderem-Ort', an dem He‐ terogenes fernab der Stadt ausgelagert wird. Zu Heterotopischem gemäß Foucault cf. Jörg Dünne / Stephan Günzel edd., op. cit., pp. 292-295 sowie pp. 317-329. 23 Mithin wird durch den zum Schluss Rosen ('Erbkapital') darbringenden Rosen-Kavalier auf dem Friedhof von Santa María die heterotope unio zur Doña aus Las Casuarinas gesteigert. 24 Im Sinne einer self-fulfilling prophecy ("el final que habíamos estado previendo y acaso deseando"; HCa, cap. 6, 150) steigert die räumliche (Auslagerungs-)Distanz der zwei Fremden dabei gleichsam das einheimische 'Interesse' an ihrem Treiben. rianos; tal vez los viajeros hayan comprobado que la fraternidad humana es, en las coincidencias miserables, una verdad asombrosa y decepcionante). (Ibid., 147 sq.) Um (Vorver-)Urteilen und Mutmaßen zu können, sind die Einheimischen also auf fremden Input angewiesen, "por la simple necesidad de que pasen cosas" (ibid., 150). Im Falle der zwei "desterrados de Santa María […]" (ibid., 147), die in der Heterotopie 22 Las Casuarinas unterkommen, löst sich die gestaute Miss‐ gunst dann in Hohngelächter auf, hat doch die alte Dame, die mit dem Paar eine Art zweiten Frühling erlebt hatte (ibid., cap. 5, 145-147), den beiden am Ende 'nur' ihren diarrhöischen Hund und 500 Pesos vermacht (ibid., cap. 6, 154-156). So stellt sich der Argwohn der Kleinstädter als letztlich unbegründet heraus. Zumal, wie der Rosen-Kavalier zum Schluss beweist, die Lebemenschen mehr als Einsamkeit und Gier verband: So wird das geerbte Geld gänzlich in Grab-Rosen für die verstorbene Doña re-investiert. 23 Als Fremde in Santa María nie wirklich angekommen (geschweige denn auf‐ genommen), muss das Kind vom Rosen-Kavalier und der "[…] enana preñada […]" (ibid., cap. 5, 147) dann in einem Außen-Raum schlechthin - dem Hafen von Santa María zur Welt kommen (ibid., cap. 6, 156). IV. Was Onettis Historia aus poietischer Sicht so relevant macht, ist ebendieses me‐ tafiktionale Vorführen von Stigmatisierung, durch die Fremde verfremdet werden. So wird das von Anbeginn als 'anders' wahrgenommene, von außen nach Santa María kommende Paar von den bereits zitierten Specht-Vorwürfen gleichsam an den Rand Santa Marías gedrängt, um damit umso stärker in ein 'Fadenkreuz' von Vermutungen respektive Mutmaßungen zu geraten. 24 Dass diese sich als grundlos herausstellen, tut dabei wenig zur Sache, da der restitutive Makel der beiden mehr darin bestanden zu haben scheint, sich schlicht zu wenig für die Sanmarianer interessiert zu haben. (Galant und liebenswert zu sein, reicht 22 Victor A. Ferretti 25 Lassen sich 'Liliput' und 'Rosenkavalier' auch als diskriminierende bzw. stereotype all‐ tagssprachliche Zuschreibungen deuten, verweist der (Marien-)Zusatz der 'graviden Jungfrau' auf eine beträchtliche spes, die dann in einem Außenraum (Lk 2,7) Santa Ma‐ rías (Hafen) ihre Geburtsstätte fände. 26 Die FW-Duden-Bestimmung, die terminologisch bereits gen 'Chauvinismus' tendierte, lautet: "besondere Form des Nationalismus, bei der das eigene Volk (die eigene Nation) als Mittelpunkt u. zugleich als gegenüber anderen Völkern überlegen angesehen wird" - DUDEN - Fremdwörterbuch, p. 283. Sumners definiert offener: "Ethnocentrism is the technical name for this view of things in which one's own group is the center of ever‐ ything, and all others are scaled and rated with reference to it" (William Graham Sumner, op. cit., p. 13). Für einen umfassenden Begriffsüberblick cf. Pierre-André Ta‐ guieff: "Ethnocentrisme", in: id. dir.: Dictionnaire historique et critique du racisme, pp. 604-636. nun mal nicht aus, um in einer Welt aufgenommen zu werden, die von Neid und Angst erfüllt ist.) Dabei wären der Rosen-Kavalier und die Liliput-Maid aufgrund ihrer Namens‐ herkunft eigentlich prädestiniert dafür, um in einem metafiktional-imaginären Ambiente Fuß zu fassen. Verweist er doch auf eine bekannte Richard- Strauss-Oper, sie auf eine Provenienz aus einem berühmten Swift-Roman, in‐ klusive einer marianischen Konnotation (Virgen encinta). 25 Und wie in der Jacob-Erzählung erleidet Scheinbarkeit (hier in Form von Mutmaßungen) auch in der Historia eine 'Niederlage'. Der Unterschied wäre jedoch, dass das junge glückselige Paar - im Gegensatz zum kriselnden Jacob - eben kein Brausen-Ima‐ ginäres teilt, sodass beide andersfiktionale, um nicht zu sagen: 'exomediale' (Opern/ Swift-Roman-)Figuren in den Heterotopien Santa Marías bleiben. Ihre Verbannung aus dem Hause Specht gegenüber des Brausen-Platzes ist dabei symptomatisch: Denn hier haben sich zwei Santa-María-Fiktionsfremde in einen selektiven Kontext begeben, der sich gegen ihre Aufnahme fictiologisch sperrt. Die Sanmarianer beweisen hierdurch Anflüge dessen, was man in Anlehnung an den ethno-soziologischen Begriff des 'Ethnozentrismus' 26 als 'Fictiozentris‐ mus' bezeichnen könnte, der hier entsprechend eine besondere Form der Meta‐ fiktion meint, bei der die eigene Fiktion (das eigene Als-ob) als Mittelpunkt und zugleich als gegenüber anderen Fiktionen überlegen angesehen wird. Hierfür ist es nun nicht zwingend notwendig, dass dies explizit proklamiert wird; es ge‐ nügte schon die (un)bewusste Annahme, bereits in der besten beziehungsweise einzig möglichen Fiktion daheim zu sein. Der Unterschied ist freilich ein feiner: Denn wer zufrieden ist mit seiner fiktionalen Welt, muss deswegen nicht gleich davon ausgehen, dass es keine bessere, geschweige denn andersmögliche geben kann und so weiter. Und doch kann generisches Selbstbewusstsein, wie schon der hehre Hektor zeigte, in fictiozentrische Überheblichkeit kippen. Dabei er‐ 23 Santa María und ein gewisser 'Fictiozentrismus' 27 Sumner, op. cit., p. 14. innert ein ethnozentrisches Beispiel William G. Sumners an Onettis Provinz‐ städter: "Amongst the most remarkable people in the world for ethnocentrism are the Seri of Lower California. They observe an attitude of suspicion and hos‐ tility to all outsiders […]". 27 Argwohn und Antipathie leiten auch die Einheimi‐ schen aus Santa María bei ihrer Beobachtung des fremden Paares, insbesondere dann, als dieses in den Außenraum der Doña Mina 'vertrieben' wurde. Und stellt sich doch die Frage: Kennen die Bewohner Santa Marías vielleicht nichts anderes als ihre Fiktion? Hierauf könnte wohl ein Díaz Grey am besten antworten, in dem ja ein Brausen 'heimisch' ist. In der Historia erfahren wir nur, dass der extradiegetisch-homodiegetische Erzähler ein Arzt sei (HCa, cap. 5, 144; cap. 6, 150-151), was die Annahme fördert, dass es sich hierbei um Díaz Grey handeln könnte. Wie sieht nun diese Erzählinstanz das aparte Paar? Die Antwort lautet: nicht viel anders als die anderen. Der Arzt ist einer von vielen und als solcher (bis auf die bereits zitierte selbstkritische Passage über die alteingeses‐ senen Sanmarianer) fiktionskonformistisch. So sind es eher Worte des Anwalts Guiñazú, die in diesem Zusammenhang Bedeutsamkeit erlangen, wenn dieser davon spricht, dass er dem Rosen-Kavalier liebend gerne seine 50 Pesos zurück‐ gegeben hätte, "[a] cambio de escucharlos, de saber quiénes son, de saber quiénes y cómo somos nosotros para ellos" (ibid., 153). Hier findet sich gleichsam eine 'Arznei' gegen fictiozentrisches Misstrauen: Nicht über-, sondern miteinander reden, um zu erfahren, mit wem man es eigentlich zu tun hat, woher man kommt und wo man ist. Und es ist dann auch der professionelle Fürsprecher, der für die beiden im Außenraum angesiedelten Fremden, nach dem Tod der Doña Mina, ein Santa María konformes 'Imaginarium' wähnt, das darin bestünde, aus dem Haus der verstorbenen Dame ein "museo" zu machen, "para perpetuar la me‐ moria de doña Mina." (ibid., 152) Darum bestehe auch keine Eile mit der Testa‐ mentseröffnung, gerade weil die beiden "[…] son de esa rara gente que queda bien en cualquier parte" (ibid.). Die zwei Ortsfremden sollten demzufolge die Heterotopie Las Casuarinas musealisieren, mithilfe der zu Requisiten gewor‐ denen Hinterlassenschaft der Doña (ibid., 152), damit Santa María so nicht mehr auf "[...] un solo héroe, Brausen el Fundador" (ibid.) beschränkt bleibe. Was sich hier ankündigt, ist in gewisser Hinsicht eine 'eudämonistische' Bereicherung Santa Marías, das mit dem Museum zu Ehren der Doña Mina nicht nur einen anderen, glückhaften Erinnerungsort erhielte, sondern damit zugleich auch seine eigene Heterotopie ausstellte. Immerhin scheint sich mit dem Tod der alten Dame die Einstellung der San‐ marianer dem Paar gegenüber grundlegend geändert zu haben: 24 Victor A. Ferretti 28 Zur existentialistischen Signatur bei Onetti cf. Vargas Llosa, op. cit., pp. 33-36, wo noch eine Céline'sche Schicht ausgemacht wird (cf. ibid., pp. 119-126). 29 Die im zweiten Abschnitt bereits zitierte, an die Ankunft in Santa María gekoppelte triadische felicidad aus La vida breve erhält durch das Ausweisen exogener Glücklichkeit aus besagter Stadt so nachträglich ein stärker eskapistisches télos. 30 Zu Selektion als (Parade-)Akt des Fingierens cf. Iser, op. cit., pp. 24-27. Desde entonces, después del duelo, los más discretos de nosotros, los chacareros y los comerciantes voluntariosos, y hasta las familias que descienden de la primera inmi‐ gración, empezaron a querer a la pareja sin trabas, con todas las ganas que tenían de quererla. Empezaron a ofrecerle sus casas y créditos ilimitados. Especulando con el testamento, claro, haciendo todo esto con amor. Y ellos, los bailarines, el caballero de la rosa y la virgen encinta que vino de Liliput, demuestran estar a la altura de las nuevas circunstancias, a la altura exacta de esta pleamar de cariño, indulgencia y adulaciones que alza la ciudad para atraerlos. (Ibid., 153) Ein neues affektives Kapitel zeichnet sich für das soziale Miteinander in Santa María ab, bei dem man das, was man insgeheim an den Fremden bewunderte (Glückseligkeit etc.), nun sin trabas zeigen könne - allerdings begünstigt von Rendite-Erwartungen, die sich sogleich auflösen, als der tatsächliche Erbteil des Ehepaares bekannt wird. Bezeichnenderweise ist es erst die Aussicht auf Teil‐ habe am Erbe der zeitlebens am Rande Santa Marías lebenden Doña, die die Integrationsbemühungen der Inwohner hinsichtlich der beiden Fremden für eine (Erwartungs-)Zeit motiviert. Die späte Geburt des Kindes ("[…] de once meses […]; " ibid., 156) im sanma‐ rianischen Hafen symbolisiert in dieser Hinsicht ein verpasstes spes-Potential der beiden Fremden für Santa María, das nun auch dessen "desierta" (ibid., 156) Heterotopie Las Casuarinas versinnbildlichte - jener Außenort, der eine le‐ bensfrohe Öffnung Santa Marías hätte bedeuten können, das nun weiter auf ein 'existentialistisch' grundiertes Brausen-Statut festgeschrieben bleibt. 28 Die von den Einheimischen verdrängte 'Entelechie' fremden Glücks in Santa María im Kontext von Auswärtigen, "que mejora[n] o da[n] sentido a los lugares" (ibid., 152), ist somit Ausweis einer durch Sarkasmus, Neid und Argwohn gefestigten, fictiozentrischen Begrenzung, bei der das ausgelagert wird, was man potentiell sein könnte: glücklich etwa. In Brausens Santa María, so ließe sich resümieren, ist das télos eben nicht kontingent. Sosehr in Jacob y el otro das Imaginäre Scheinbares aus dem apol‐ linisch(-poietisch)en Ring zu schleudern vermag, sosehr zentrifugiert in der Historia fictiologische Selbstbeschränkung etwaige 'eudämonistische' Potentia‐ lität aus der Stadt, um ihren autopoietischen Status zu konsolidieren. 29 Dass Fic‐ tiozentrismus hier der selektiven 30 Selbsterhaltung dient, sollte nicht darüber 25 Santa María und ein gewisser 'Fictiozentrismus' hinwegtäuschen, dass es sich weiter um eine Fiktion handelt, die auch anders möglich wäre. Der Fall Santa Marías mitsamt Las Casuarinas machte jedenfalls intelligibel, dass man eigene Fiktionalität gar nicht 'übersehen' muss, um ficti‐ ozentrisch zu agieren, es reicht, sie als die eine gültige Fiktion zu setzen, um darum herum dann eine entsprechende Um-Welt anzuordnen. Und auch wenn es in der Historia letztlich nicht zur Musealisierung heterotoper Andersheit kommt, bezeugt diese alerte Onetti-Erzählung, dass sich eine Als-ob-Kontingenz sehr wohl verdrängen, indes nicht ganz vergessen machen lässt. Literaturverzeichnis Primärliteratur Aristoteles: [Aristotle's] Ars Poetica [= poet.], ed. Rudolf Kassel, Oxford: Clarendon 1966. Cervantes Saavedra, Miguel de: Don Quijote de la Mancha [DQ], ed. Francisco Rico, Bar‐ celona: Crítica 2001. Die Bibel - Altes und Neues Testament [Einheitsübers.], Freiburg im Breisgau et al.: Herder 2015. Euripides: [Euripidis] Fabulae t. III, ed. Gilbert Murray, Oxford: Clarendon 1909. Homer: Ilias [Il] - Odyssee [gr.-dt.], transt. Johann Heinrich Voß, Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2008. Onetti, Juan Carlos: La vida breve (VB), in: Id.: Obras completas vol. 1 - Novelas I (1939-1954), ed. 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Vargas Llosa, Mario: El viaje a la ficción - El mundo de Juan Carlos Onetti, Madrid: Punto de Lectura 2011. 27 Santa María und ein gewisser 'Fictiozentrismus' 1 Quiero agradecer la fundamental ayuda de Virginia Friedman del Archivo Literario de la Biblioteca Nacional de Uruguay, donde se encuentra el archivo de Onetti; también a Hortensia Campanella por sus gestiones y, fundamentalmente, a Dorothea Muhr por su permiso para reproducir la imagen que acompaña este artículo. 2 Alberto Zum Felde, op. cit., pp. 467-8; Ángel Rama: Crítica literaria y utopía en América Latina; Emir Rodríguez Monegal: Onetti o el descubrimiento de la ciudad - Capítulo Oriental; Omar Prego / María Angélica Petit, op. cit., p. 33. 3 Gustavo San Román, op. cit.; Emir Rodríguez Monegal: "Prólogo". 4 J. A. George Irish, op. cit.; Enrique Cerdán Tato, op. cit.; Carlos Franz, op. cit. 5 Roberto Ferro: Onetti - La fundación imaginada - La parodia del autor en la saga de Santa María. El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti Nuevas perspectivas sobre lo urbano 1 Agustín Corti (Salzburg) I. Introducción: el discurso 'de' la ciudad La topología en la obra de Juan Carlos Onetti ha ocupado un lugar importante en la crítica especializada. Dos vertientes fundamentales se han dedicado, por un lado, a resaltar la novedad de la materia ciudadana en la obra del escritor uruguayo 2 y, por otro, a desvelar la contraparte referencial de los espacios des‐ plegados en la obra, sobre todo, de la imaginaria ciudad de Santa María 3 . El espacio se ha interpretado asimismo preferencialmente a través del carácter existencial de la literatura onettiana. La ausencia de descripciones prolijas de los escenarios donde habitan los personajes o los interiores nada espectaculares son vistos como la contrapartida de seres fracasados y situaciones sórdidas. 4 En las últimas décadas se ha recuperado el tema de la ciudad en Onetti desde una perspectiva que amplía el campo del texto literario, permitiendo lecturas que redibujan los límites de la obra y lo integran en una realidad discursiva más amplia. 5 La obra onettiana inserta las ciudades de Buenos Aires o Montevideo en una red de significado que si bien no pretende representar miméticamente 6 Roland Barthes, op. cit., p. 186. 7 Víctor Silva Echeto / Rodrigo Browne Sartori, op. cit.; Noé Jitrik: "Voces de ciudad"; Christina Komi, op. cit.; Beatriz Sarlo, op. cit. 8 Noé Jitrik: "Voces de ciudad", p. 50. 9 Ibid., p. 52. las ciudades realmente existentes, tampoco se limita a utilizarlas para lograr un mero efecto de realidad. 6 La designación de dichas ciudades construye discur‐ sivamente un comentario sobre el espacio que se superpone al de otras prácticas discursivas sobre los mismos. La ciudad como espacio privilegiado de la acción de la literatura del siglo XX no es un gesto ajeno a otros discursos; lo urbano aparece inscripto tanto en poéticas como en el discurso público. 7 En Onetti, el discurso sobre la ciudad está presente tanto en su literatura como en el intento de fundamentar una poética en el campo literario rioplatense y en un posterior diálogo con su propia labor literaria en alusión a la ciudad. La obra enriquece y delimita el discurso externo en torno a las ciudades porque este gira alrededor de la escritura, se instala en el campo abierto por la misma, como un modo de hacer visible lo urbano. Jitrik ha distinguido entre un discurso 'sobre' la ciudad y uno 'de' la ciudad. El autor considera que los discursos 'sobre' la ciudad pueden ser descriptivos o hermenéuticos: el valor referencial yace, en el primer caso, en la descripción o, en el segundo, en la evocación de elementos refractarios a la descripción, pero que pueden interpretarse o desvelarse de al‐ guna manera. El discurso 'de' la ciudad equivaldría por el contrario a desvincular la referencialidad de una ciudad previamente existente que la obra literaria re‐ presenta de forma mimética, el elemento descriptivo, y a su vez implicaría re‐ nunciar a la voluntad de encontrar un 'más allá' interpretativo, el elemento her‐ menéutico. 8 Se trataría de un discurso en el que "la ciudad por sí misma se dijera". 9 Que la ciudad "se exprese a sí misma", que el discurso sea 'de' la ciudad implica una reconsideración de la referencialidad en la obra y, en el discurso, del lugar que ocupa el autor. Las Buenos Aires y Montevideo de la obra de Onetti, Santa María, así como el comentario autorial epitextual sobre lo urbano pueden ser enmarcados en un terreno discursivo común, engendrado por prácticas de la ciudad que se expresan dentro de la obra literaria o como un discurso autorial externo a la obra sobre ese ámbito urbano. Esta reconsideración no implica borrar evidentemente las restricciones genéricas ni la diferencia de tipos textu‐ ales generados, sino reconsiderarlos desde una perspectiva que los resignifique. En el presente trabajo retomaré desde esta perspectiva el análisis del estatuto referencial de Santa María en su contraste con Buenos Aires y Montevideo en 30 Agustín Corti 10 Según mi conocimiento, el primero en referirse a la "saga de Santa María" es Emir Rodríguez Monegal en Onetti o el descubrimiento de la ciudad - Capítulo Oriental, que señala que los numerosos textos en los que aparece la ciudad "indican la creación de un mundo imaginario, una ciudad de provincias recostada a un gran río, que vincula El Astillero a lo que podría llamarse La Saga de Santa María." (Ibid., p. 447) 11 Ángel Rama: Crítica literaria y utopía en América Latina, p. 365. 12 Roberto Ferro: "La fundación de la ciudad por la escritura", p. 84. 13 Roberto Ferro, p. 82, considera asimismo que la fundación de Santa María como oposi‐ ción de Buenos Aires y Montevideo posee su contrapartida en la desaparición de la polémica poética que caracterizaba los artículos del semanario Marcha, instaurando por el contrario un elemento paródico sobre la conformación del espacio. La vida breve, así como en algunas obras de la saga de Santa María, 10 para adentrarme luego en el corpus de epitextos onettianos sobre dichas ciudades. Considero que los espacios manifiestan una estructura ejemplar que funciona como condición de posibilidad de otros despliegues tanto narrativos como dis‐ cursivos. Toman el papel de un límite que el discurso despliega de diferentes maneras. II. Las ciudades en torno a la referencialidad En un minucioso estudio publicado por primera vez en 1967, el crítico Ángel Rama manifestaba ya que el espacio ciudadano en la literatura de Onetti es una ambientación de las vivencias, pero no un intento de representar una topo‐ grafía. 11 La constatación, bastante generalizada en la crítica onettiana, es sólo en parte correcta, ya que si bien las descripciones detalladas de los espacios no son usuales -para no hablar de la inexistencia de las de color o estereotipadas-, esto no impide que exista una serie de jerarquías en la representación espacial que imprime un sello en las acciones de los personajes. Ferro insiste, por ejemplo, en que los espacios "lejos de ser un mero anclaje de verosimilitud exigida por la lógica de los relatos, aparecen como manifestación de un modo de figurar la ciudad en abierta pugna con las poéticas dominantes de la época, adscritas al realismo". 12 Santa María nace en La vida breve como un ente que contradice a Buenos Aires y Montevideo, es decir, se relaciona con dos significantes que re‐ fieren a ciudades reales. 13 Estas son necesarias para la comprensión del nuevo terreno en el que se desarrollará la saga, aunque su aparición sea cada vez más escasa o esté cada vez más indeterminada. Si el escenario principal en el que se desarrollará la acción en las obras posteriores a La vida breve es Santa María, la pregunta es cómo puede entenderse la referencialidad de la ficticia Santa María conjuntamente con las otras dos grandes urbes. 31 El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti 14 Cf. entre otros, Thomas G. Pavel, op. cit.; Jean-Marie Schaeffer, op. cit.; Dorrit Cohn, op. cit. 15 La categorización de Frank Zipfel, op. cit., p. 102 es una simplificación de Thomas G. Pavel, op. cit., pp. 29 sq., que distingue entre native objects (creados en la propia obra de ficción), surrogate objects (modificados en la obra de ficción) e immigrant objects (reales que se insertan en la ficción). 16 Paul Ricœur, op. cit., pp. 150 sqq. 17 Juan José Saer, op. cit., p. 210. 18 Hugo Achugar, op. cit.; Josefina Ludmer: Onetti - Los procesos de construcción del re‐ lato; Roberto Ferro: Onetti - La fundación imaginada - La parodia del autor en la saga de Santa María. El estatuto de los sitios geográficos existentes en el mundo real dentro de la obra literaria se ha estudiado a menudo en el marco de la delimitación entre realidad y ficción o discurso histórico y ficcional. 14 Zipfel categoriza los objetos -y también los entes humanos- en la narrativa de ficción como 'reales', 'pseudo-reales' e 'irreales'. Los objetos 'reales' constituyen el marco dentro del cual tiene lugar una obra ficcional y posibilitan un anclaje de la historia en el mundo real; los 'pseudo-reales', por su parte, implican una modificación de un objeto real de tal modo que este se puede identificar como ficcional, aunque se reconozca su origen real, mientras que los 'irreales' son inventados para cumplir una función dentro de la ficción. 15 En el caso de las ciudades 'reales', la referencia excede el marco del universo ficcional, creando una continuidad con lo real de límites indefinidos, en la cual no sólo la ficción bebe de lo real, sino que la ficción se pliega sobre lo real. 16 Santa María sería en esta nomenclatura un 'objeto irreal', mientras que Montevideo y Buenos Aires serían 'objetos reales' en el plano die‐ gético. Ahora bien, Santa María representa, como lo ha denominado Juan José Saer, un "espacio imaginario a la segunda potencia", 17 ya que en el célebre pasaje del capítulo II de La vida breve en el cual aparece el primer escorzo de Santa María, el protagonista Juan María Brausen expresa: No estoy seguro todavía, pero creo que lo tengo, una idea apenas, pero a Julio le va a gustar. Hay un viejo, un médico, que vende morfina. […] Veo una mujer que aparece de golpe en el consultorio del médico. El médico vive en Santa María, junto al río. Sólo una vez estuve allí, un día apenas, en verano. (VB I, cap. II, 429) La vida breve es una ficción que trata sobre el proceso de construcción de una ficción. 18 El nacimiento de Santa María promueve en su metanarratividad una dificultad, porque el narrador Juan María Brausen comienza a elaborar una his‐ toria que tiene lugar en un sitio que para él posee el carácter de una realidad empírica: una vez estuve allí. Es decir, la ciudad que surge en el terreno diegético tiene por su parte un estatus de 'objeto real' en tanto es creada para un guión a 32 Agustín Corti 19 Es decir, según la categorización de Zipfel utilizada, de una ciudad utilizada como es‐ cenario en el marco de una ficción y, por lo tanto, 'real'. No se trata de una ciudad que en el nivel diegético sea directamente real. Mario Vargas Llosa, op. cit., pp. 94 sq. sostiene que en dicha ambigüedad radica el mayor acierto de la obra. 20 Josefina Ludmer: Onetti - Los procesos de construcción del relato, p. 61. partir de una ciudad existente. Pero a su vez, esta 'ciudad real' en la ficción es el sitio al que el protagonista escapa junto a Ernesto en los capítulos finales: "En‐ cendían las luces de la plaza cuando llegamos a Santa María" (VB II, cap. XVI, 684). En esta Santa María se encuentran, sin embargo, los personajes que ha creado en su ficción. Es decir, el 'objeto real' del plano diegético se transforma en el punto al que el protagonista, que ha construido la ficción donde Santa María es una 'ciudad real', escapa. La paradoja, evidentemente, radica en que uno puede escapar a una ciudad real, pero no a una 'ciudad real'. Se puede viajar a una ciudad, pero no se puede viajar a un ente ficcional. El protagonista, creador de la ficción dentro de la ficción y sujeto de la enunciación, borra tenazmente los límites entre lo que sería a nivel diegético la ciudad real y la 'ciudad real'. Cuando al llegar a Santa María describe lo que tiene ante sus ojos, expresa: "El hotel estaba en la esquina de la plaza y la edificación de la manzana coincidía con mis recuerdos y con los cambios que yo había impuesto al imaginar la historia del médico" (ibid., 687). El recuerdo y la imaginación convergen en un plano con la consecuente ambigüedad representativa. ¿Han llegado los personajes a la ciudad real o a la 'ciudad real'? Se trata del recuerdo modificado por la intervención de la imaginación posterior; el narrador Brausen dice que el escenario coincide con ambos, con el recuerdo y su modificación. Es decir, se trata a nivel diegético de la 'ciudad real' y no de la ciudad real. 19 Otros personajes de La vida breve, María Bonita y Junta Larsen, expresan al final de la novela su intención de irse en tren a Buenos Aires. Unos escapan hacia la Santa María 'real', otros escapan de Santa María a Buenos Aires, que en ese nivel diegético es real, pero no 'real'. Esta metalepsis, la continuidad entre la geografía de la realidad y la de la ficción dentro de la ficción propugna una poética determinada, expone una teoría de la narración y de la lectura. Dicha poética se sirve de técnicas narrativas que crean un espacio continuo entre la Santa María que surge en la ficción misma y las Buenos Aires y Montevideo 'reales', problematizando a su vez la posibilidad de su representación, en cuanto las intoxica de ficción, y escenificando el traspaso de las fronteras de la repre‐ sentación que postulan realidad y ficción. Josefina Ludmer asevera que "las dos series invierten sus espacios y entran, cada una, en el 'otro lado': el relato 2 [la ficción sanmariana; paréntesis mío] se cierra en Buenos Aires y el relato 1 [la realidad diegética; paréntesis mío] en Santa María". 20 Lo intranquilizador de la 33 El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti 21 José Pedro Díaz, op. cit., p. 194, considera que la imaginación funciona como una fuga musical con variaciones de nivel y de tiempo. 22 La estructura que establece la obra respecto a las ciudades está en consonancia con la espacialidad como oposición jerarquizada que destaca Yuri Lotman, op. cit., pp. 270 sq. 23 Me centraré aquí en Buenos Aires, pero se podría ampliar el espectro a una cierta zona del Río de la Plata que integra fundamentalmente la zona de la provincia de Entre Ríos y la margen oeste del Uruguay con las menciones de El Rosario, Paraná, la Colonia suiza, Salto, y las variaciones y deformaciones de estos sitios como Lavanda o Monte a partir de Dejemos hablar al viento (1979). También hacen su aparición algo más escasa y como referencia países sudamericanos que se identifican como cercanos y al norte, por ejemplo, en Jacob y el otro: "Orsini y el gigante habían entrado al continente por Co‐ lombia y ahora bajaban por Perú, Ecuador y Bolivia" ( JO, cap. 2, 114). estrategia consiste en que estas dos series no deberían permanecer en el mismo nivel de representación, pero pueden integrarse en un discurso. Este discurso permanece por su parte abierto: puede surgir un nuevo nivel y un nuevo espacio. Así como La vida breve pone en duda diegéticamente la referencialidad en el proceso de creación ficcional, cuestiona por el contrario los límites del par fic‐ ción-realidad en el proceso mismo de representación literaria. 21 La creación de Santa María no manifiesta un quiebre sólo dentro de la ficción, sino en el plano de la representación misma. Y por lo tanto, de todo discurso. La obra posterior de la saga de Santa María ahonda en esta ruptura escenificando la independencia del mundo sanmariano, una independencia que se pondrá en cuestión ligándola al nombre Juan María Brausen. Con la misma estrategia que La vida breve pone en duda el estatuto del proceso de representación, fija asimismo la dependencia y las distancias entre las ciud‐ ades y sitios de la topografía representada. Las apariciones de Montevideo y Buenos Aires como escenarios de los primeros cuentos y novelas se descentran a partir de 1950; la saga de Santa María no prescinde, no obstante, de esta tensión y distancia creada con respecto a otros escenarios del Río de la Plata. 22 Así como mantiene la huella de su creador y, por lo tanto, de su carácter fictivo y discur‐ sivo, Santa María paga el precio de su existencia independiente también con su dependencia de la gran metrópoli. Los mecanismos narrativos que encuentra Onetti vuelven imposible un discurso descriptivo o hermenéutico y solo per‐ miten un comentario oblicuo que se mantiene en prácticamente toda la produc‐ ción onettiana. De las diversas interrelaciones que instaura la obra entre las tres ciudades, tal vez la más saliente sea la de la antítesis; y el espacio más relevante para esta antítesis, Buenos Aires. 23 En la novela Para una tumba sin nombre (1959) aparece aún esta oposición entre Santa María y Buenos Aires de manera explícita. El narrador atestigua al inicio que el personaje Jorge Malabia vestía un "cómico 34 Agustín Corti traje de última moda que había traído de Buenos Aires" (TN, cap. I, 12), que desencaja en el escenario sanmariano. La misma novela centra su peripecia sobre el hecho de que los dos personajes viven en una pensión en Buenos Aires, ciudad en la que estudian. Este hecho singulariza a Jorge Malabia y a Tito Perotti, nar‐ radores indirectos de la historia en la novela, de los quehaceres de Santa María: "[E]xigíamos que la gente de Santa María nos imaginara apartados, distintos, forasteros, y hacíamos todo lo posible para imponer esta imagen" (ibid., cap. II, 19). Ambos personajes ocupan en Santa María y Buenos Aires lugares dispares, opuestos. En Santa María forman parte de un grupo acomodado, mientras que en Buenos Aires viven en una pensión, lugar común para aquellos que tienen que ir a estudiar a una capital de provincia o del país. El sentido que poseen sus acciones queda ligado a este doble escenario que los determina de maneras di‐ ferentes. Buenos Aires establece una relación de dependencia con Santa María, deter‐ mina indirectamente el devenir temporal ("fue necesario volver a Buenos Aires, a la Facultad, a la pensión en un tercer piso sobre la plaza" ibid., 25), las activid‐ ades posibles de Santa María ("Voy a terminar Derecho porque en casa siempre quisieron -me dijo-. Pero no quiero dejar Santa María, al revés de todos que sólo piensan en Buenos Aires. Y aquí, usted sabe, no se puede ser abogado en serio, no se pasa de procurador" ibid., cap. V, 57), así como las filias y fobias ("pensaba en Buenos Aires, afuera y rodeándome, intentaba enumerar mis mo‐ tivos de asco por la ciudad y la idiosincrasia de la gente que la ocupa" ibid., cap. II, 27). Los dos espacios se singularizan en la unidad. El asco como elemento común no impide que los "motivos" sean diferentes: "Esto, claro, sin olvidar una enumeración semejante para Santa María" (ibid.). El plano representativo en el que se encuentran ambas ciudades en esta segunda novela del ciclo sanmariano, vale repetirlo, es el mismo. Para convertirse en la ciudad de provincia que es, Santa María necesita del contraste con Buenos Aires, que parece ser en esta novela la capital del terreno provincial o nacional del enclave Santa María. A nivel discursivo, el nuevo escenario continúa comentando referencialmente la capital argentina. Si El astillero (1961) todavía posee como centro de referencia a Buenos Aires ("recogió el diario aparecido la noche anterior en Buenos Aires"; "El viejo Petrus estaba en Buenos Aires, inventando escritos reivindicatorios con su abogado o buscando pruebas de su visión de pionero" AS cap. "El astillero I", 157/ 163), ya en Juntacadáveres (1964) la antítesis se modificará: la contrapartida de Santa María será "la Capital". Es allí adónde intentarán irse Junta Larsen y María Bo‐ nita, que en su aparición en La vida breve, como señalé antes, pretenden escapar a Buenos Aires, aparentemente con la compañía de un joven -que se sabrá es 35 El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti 24 Si bien El astillero fue publicado antes que Juntacadáveres, la redacción de esta última novela comenzó como es sabido antes que la primera. Onetti interrumpió Juntacadá‐ veres para escribir la historia del astillero abandonado. 25 Se trata del manuscrito catalogado como D.31-1, Biblioteca Nacional de Uruguay. Ar‐ chivo Literario. Colección: Juan Carlos Onetti. Donación Dorothea Muhr, 2007. 26 D.27-3y D.27-4. Jorge Malabia- : "Toda la noche miró al pibe sin abrir la boca. ¿Cree que yo lo convencí para que venga a Buenos Aires? " (VB II, cap. XVI, 695) La novela de 1964 calca la escena, pero modifica el significante: "Bueno, nos vamos. Algo tenemos. Podemos ir a El Rosario o a la Capital, o mejor probar en otro lado como éste, en una ciudad chica" ( JC, cap. XVII, 481). 24 Sobre el final de la obra, la posibilidad de dejar la ciudad tendrá lugar en forma de expulsión: "Estábamos agolpados en el reservado, comiendo los postres, aguardando la hora imprecisa en que llegaría el tren para recoger la peste que emporcaba a Santa María y devolverla a la Capital. Orden del Gobernador" (ibid., cap. XXXII). La obra man‐ tiene la topología -en el doble sentido de 'topos' y 'logos'- y las interrelaciones que determinan los espacios correspondientes, pero borra los rastros de una referencialidad directa. La referencia que instaura el discurso se vuelve más ob‐ licua. Esta estrategia se puede observar muy claramente en ciertos detalles pre‐ sentes en los manuscritos mecanografiados de Juntacadáveres que guarda la Biblioteca Nacional de Uruguay. Allí se pueden ver las correcciones posteriores a numerosas referencias topográficas que indican una neutralización o indefi‐ nición mayor. En la cita anterior, el texto mecanografiado de dicha obra decía originariamente: "Podemos ir al Rosario o a Buenos Aires"; Buenos Aires se encuentra tachado y sustituido por "la Capital". 25 Las reformulaciones señalan directamente a una modificación referencial que puede leerse en dos niveles: en primer lugar, la sustitución de los referentes espaciales más importantes con una contrapartida en el mundo real y, por otro, la sustitución por significantes que mantienen las relaciones funcionales ya establecidas desde La vida breve, incluso modificando sitios con ciertas connotaciones por otros. La invisibilización de Buenos Aires, por ejemplo, se lleva adelante también en la eliminación de nombres de calles. Si en Juntacadáveres dice que Junta "vivía en una pensión del centro" ( JC, cap. XIV, 460), en el manuscrito mecanografiado decía, antes de ser tachado, "vivía en una pensión de la calle Sarmiento, a la altura del Congreso"; más adelante, cambia la calle Corrientes por "la gran avenida". 26 En otro pasaje aparece la enumeración "la Capital, El Rosario o Salto" ( JC, cap. XX, 505) en relación con la existencia y funcionamiento de los prostíbulos, hecho que con‐ trasta con la prohibición que se quiere imponer en Santa María; antes decía 36 Agustín Corti 27 D.31-6. 28 Obras completas. Vol 3, México D.F.: Siglo XXI 1983, p. 20. "Buenos Aires, el Rosario o Paraná". 27 La sustitución de Paraná por Salto parece servir como intermedio entre la ciudad más grande, El Rosario, y la más pequeña, Santa María. La referencia a una ciudad uruguaya expande por su parte las con‐ notaciones regionales. Además de la antítesis, los espacios ciudadanos están ordenados bajo un principio genético degenerativo. Como en una derivación platónica, Santa María está regida por sus pares, muestra ecos de un centro del cual la ciudad es una periferia: "Todo trasplante a Santa María se marchita y degenera". ( JC, cap. XVI, 473) Santa María comenta de esta forma la vida ciudadana desde una modernidad periférica. Los actos de los personajes quedan marcados por esta espacialidad ordenada jerárquicamente, en la cual el carácter provinciano de Santa María es notorio. Sigue siendo un discurso sobre la ciudad, pero se trata de un discurso matizado y, lo urbano, una red de ciudades que gira en torno a un centro. No es de extrañar que esta estructura se encuentre explícitamente en otras obras lite‐ rarias. En Tierras de la memoria (1965, escrita sobre 1944) de Felisberto Her‐ nández, el protagonista, que viaja por primera vez en tren desde Montevideo al interior argentino, afirma sorprendido: "Por fin llegué a comprender bien estos conceptos: 'Buenos Aires es más importante que Montevideo; Buenos Aires viene a ser la capital de Montevideo'." 28 Estas determinaciones topológicas indirectas poseen un valor ejemplar. Ciu‐ dades de diferente tamaño y valor simbólico son nombradas de manera repetida, localizando espacialmente a las voces narradoras y a los personajes. Si la refe‐ rencialidad se va debilitando a partir de los mecanismos de la narración, la in‐ dependencia que obtiene el espacio de Santa María no deja de vivir del entra‐ mado de oposiciones que la hacen posible. Su independencia ahonda ciertos aspectos que surgieron de la antítesis primaria. Pero, como sugerí antes, se trata de una independencia escenificada, que tanto la voz como la perspectiva narra‐ tiva ponen en duda. Hasta el punto de que en Jacob y el otro, los personajes dejan una corona de flores sobre la estatua de su fundador ( JO, cap. 1, 112) o, en La muerte y la niña (1973), el narrador habla explícitamente de y con su creador: "Y es posible que noche a noche, llorando de rodillas, rece a Padre Brausen que estás en la nada para hacerlo cómplice obligado, para enredarlo en su trama, sin necesidad verdadera, por un oscuro deseo de remate artístico" (MN, "Capítulo 37 El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti 29 Roberto Ferro: Onetti - La fundación imaginada - La parodia del autor en la saga de Santa María considera que este es el elemento fundamentalmente innovador de la nar‐ rativa de Onetti, que lee como la "parodia del autor": "Leer la parodia en cualquier texto implica interpretar algunos procedimientos como gestos anafóricos, es decir, que re‐ miten a una anterioridad que trastornan e invierten. En otros términos, el texto como apropiación y réplica de otro texto" (ibid., p. 324). 30 La vida breve equilibra temporalmente la tensión entre el ahora del Buenos Aires die‐ gético con el pasado de Montevideo. Este pasado se ve de alguna forma actualizado en el momento en que la Queca invita a Arce a viajar a Montevideo. ("La invitación que me hizo la Queca para ir a Montevideo me había separado de Arce, […]." VB I, cap. XXII, 559) Esta amenaza de vuelta al pasado descentra los términos temporales sobre los que bascula la novela: si Buenos Aires representa el ahora y Montevideo el pasado, una vuelta al pasado puede terminar con Santa María, en tanto el intermediario de ambos planos es Arce. La independencia que adquiere Santa María no deja, incluso en su omi‐ sión, de apoyarse en esas otras dos ciudades que contrasta. 31 Ricardo Piglia, op. cit. primero", 585). 29 Santa María conforma así otro plano que el de las ciudades que aparecen en la ficción primaria de la cual surge; no está en el mismo plano que Buenos Aires, no está en el mismo plano que Montevideo; 30 pero una vez que la diferencia de los niveles ha sido abolida, la realidad de la ficción se extiende hacia las dos ciudades que van desapareciendo paulatinamente. Santa María mantiene el eco de aquellas y se vuelve más significativa porque traspasa el límite que la contenía. En el nivel discursivo Santa María mantiene una referencialidad indi‐ recta respecto a Buenos Aires y Montevideo porque en el discurso que hace posible a Santa María han quedado unificadas por características que se actua‐ lizan en el marco de dicha estructura. III. Un plano de Santa María La unidad de las ciudades se constata igualmente en la cartografía en la que se inserta lo urbano. Santa María surge de la imaginación de Juan María Brausen, naturaleza dividida entre dos ciudades, para independizarse parcialmente de su creador. La génesis radicalmente constructivista de la ciudad resuena en el caso que presenta el escritor Ricardo Piglia en su libro El último lector. 31 Cuenta allí de un hombre, Russell, que posee en su casa una réplica de la ciudad de Buenos Aires. Dice de esta: No es un mapa, ni una maqueta, es una máquina sinóptica; toda la ciudad está ahí, concentrada en sí misma, reducida a su esencia. La ciudad de Buenos Aires pero mo‐ dificada y alterada por la locura y la visión microscópica del constructor. […] El hombre ha imaginado una ciudad perdida en la memoria y la ha repetido tal como la recuerda. Lo real no es el objeto de la representación sino el espacio donde un mundo fantástico 38 Agustín Corti 32 Ibid., pp. 5 sq. 33 Cf. Juan Carlos Onetti: "Conversación con Emir Rodríguez Monegal (1970)", pp. 969 sq.: "Lo que él quiere es ser otro, simplemente. Como la Bovary. […] Y de pronto se encuentra con el milagro ese de que escribir es como ser Dios". 34 Ricardo Piglia, op. cit., p. 17. 35 Cf. Juan José Saer, op. cit.; Roberto Ferro: "La fundación de la ciudad por la escritura". tiene lugar. […] La ciudad trata entonces sobre réplicas y representaciones, sobre la lectura y la percepción solitaria, sobre la presencia de lo que se ha perdido. En defi‐ nitiva trata sobre el modo de hacer visible lo invisible y fijar las imágenes nítidas que ya no vemos pero que insisten todavía como fantasmas y viven entre nosotros. 32 Piglia afirma que esta Buenos Aires de Russell se vincula directamente con ciertas tradiciones de la literatura rioplatense, particularmente con Felisberto Hernández y Onetti, donde la tensión entre objeto imaginario y objeto real no existe, porque todo es real. Es decir, el objeto de la memoria y de la imaginación comparten un estatuto de realidad. No es casualidad que Piglia tematice en su libro el 'bovarismo' como la desviación de tener por real lo que se lee en un libro, ni tampoco sorprende que Onetti describiera en ocasiones que Juan María Brausen se asombra de tal manera frente a su creación que, dada la sensación de poder que le genera, termina transformando la realidad creada en su verda‐ dero mundo. 33 Piglia concluía respecto al ensamblaje de Russell: "Lo que po‐ demos imaginar siempre existe, en otra escala, en otro tiempo, nítido y lejano, igual que en un sueño". 34 Esta pérdida o debilitamiento absoluto del referente extraliterario frente a la representabilidad del fenómeno es central en la narra‐ tiva de Onetti, 35 tal como lo es la idea de réplica -plano o mapa- en tanto or‐ denamiento visible de algo representado. Si un plano funciona en cuanto const‐ ruye un lazo con lo real, no se trata de una copia con valor mimético; su iconicidad se justifica como un código que refiere al mundo real. En La vida breve el plano cumple una función metonímica que traspasa los límites de la ficción y la realidad, ya que representa la parte de un todo que se exteriorizará, pero que se apoya sobre una construcción imaginaria. Funciona como cifra de lo conocido, pero también como limitación ante lo desconocido; instaura un límite que en su propio acto instaurador traspasa e integra lo desconocido. Brausen describe la elaboración de un plano a través de la idea primigenia del médico Díaz Grey, localiza al personaje en un sitio todavía abstracto y nebuloso: [L]evanté el plano de la ciudad que había ido construyendo alrededor del médico, alimentado con su pequeño cuerpo inmóvil junto a la ventana del consultorio; como ideas, como deseos cuyo seguro cumplimiento despojara de vehemencia, tracé las manzanas, los contornos arbolados, las calles que declinaban para morir en el muelle 39 El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti 36 Josefina Ludmer: Onetti - Los procesos de construcción del relato, pp. 65 sq. 37 Jorge Luis Borges traza en "Del rigor en la ciencia", texto perteneciente a El hacedor (1960), una perspectiva similar. Si el mapa permite orientarse en la realidad, el mapa perfecto sería una copia exacta de lo real y, por lo tanto, superfluo: "En aquel Imperio, el Arte de la Cartografía logró tal Perfección que el mapa de una sola Provincia ocupaba toda una Ciudad, y el mapa del imperio, toda una Provincia. Con el tiempo, esos mapas Desmesurados no satisficieron y los Colegios de Cartógrafos levantaron un Mapa del Imperio, que tenía el tamaño del Imperio y coincidía puntualmente con él. Menos Adictas al Estudio de la Cartografía, las Generaciones Siguientes entendieron que ese dilatado Mapa era Inútil y no sin Impiedad lo entregaron a las Inclemencias del Sol y de los Inviernos" Jorge Luis Borges: Obras Completas II - 1952-1972, p. 225. viejo o se perdían detrás de Díaz Grey, en el aún ignorado paisaje campesino inter‐ puesto entre la ciudad y la colonia suiza. (VB II, cap. XIII, 662) El mapa no se nutre de una mímesis, sino que se postula como posible escenario de una posición, la del médico, con límites imprecisos como la colonia Suiza o la zona rural desconocida. Fijar la topología en el plano constituye a su vez la condición de posibilidad de la acción, y por lo tanto de la existencia del médico. Este traspaso del plano representativo al de la acción es característico del gesto fundador de la novela. Como señala Ludmer: Los lugares son a la vez 'zonas', 'espacios', 'lados', loci, tópoi, y grafías: la escritura de Onetti, sobre todo en La vida breve, es una topografía en sentido espacial y gráfico; el relato construye un dispositivo cuyos elementos, en posiciones diversas, son 'la espera' […], y 'al lado'/ 'al otro lado'. Esos elementos juegan metafóricamente como autorre‐ presentación del texto: como espacios, 'mundos' de la escritura y la ficción. De allí la presencia reiterada, hacia el final del relato, de los mapas (el plano de París, el mapa de Santa María): el mapa como diagrama y distribución, trazado, modelo reducido, posibilidad de guiar traslados […]. 36 Posteriormente, en el momento clave de la narración en el que Ernesto y Brausen/ Arce huyen a Santa María, la ciudad aparece también señalada en un mapa: "Tracé una cruz sobre el círculo que señalaba a Santa María, en el mapa; estuve cavilando la manera más conveniente de llegar a la ciudad, examiné las variantes posibles" (VB II, cap. XVI, 682). Si la construcción del plano parte de la voluntad del narrador de ubicar al personaje que ha creado, el mapa ya ubica a Brausen en el mismo nivel de lo creado. No hay, en estos dos niveles de la representación, ninguna fisura, ninguna escala. Una vez creado el plano, queda libre el acceso. 37 Si la representación se erige como el modo de acceso y presencia de lo real, no queda nada detrás por desvelar. El traslado de Brausen/ Arce y Ernesto hacia Santa María está no solo guiado por esta representación abstracta del esquema que constituyen el plano y el 40 Agustín Corti 38 Ángel Rama: La ciudad letrada, pp. 20 sq. mapa, sino también determinado por la tensión creada frente a la ciudad 'real' Buenos Aires: "[E]stablecí el tiempo y el rodeo necesarios para llegar a Santa María a través de lugares aislados, poblachos y caminos de tierra, donde sería imposible que nos cayera en las manos un diario de Buenos Aires" (ibid.). Aquí hay un doble movimiento: en primer lugar, la lejanía se establece como negación, lo real no debe entrometerse en el mundo imaginario de Santa María. El paso de un espacio a otro es posible si se desvirtúa la naturaleza de la dependencia. Los brazos de Buenos Aires no alcanzan a Santa María y allí radica la posibilidad del traspaso de niveles. En segundo lugar, si Buenos Aires no fuera el punto de fuga que conecta -y a su vez desaparece-, la continuidad entre los dos niveles no sería posible. Juntacadáveres retorna sobre la misma idea: "Es fácil dibujar un mapa del lugar y un plano de Santa María, además de darle nombre" ( JC, cap. XX, 503). La reflexión se inserta en un pasaje que busca situar geográfica, física y moral‐ mente a la ciudad y sus habitantes en el ámbito discursivo. Se trata de una construcción ("Yo inventé la plaza y su estatua, hice la iglesia, distribuí manzanas de edificación hacia la costa, puse el paseo junto al muelle, determiné el sitio que iba a ocupar la Colonia" ibid.). El gesto no es suficiente, ya que "hay que acarrear gente", y brindarles "cuerpo", "capacidad de olvido", "rostros inconfun‐ dibles". (Ibid., 504) De la imagen espacial delimitada surgen los personajes y sus caracteres, se conjuga la imagen del plano con el espacio, pero tanto el esquema como la conciencia de los personajes se encuentran lastrados por su carácter construido y maleable. El ordenamiento resultante no es el del plano como "un modelo cultural operativo", como constataba Ángel Rama en La ciudad le‐ trada; 38 ya que el modelo mismo y su capacidad de representación han sido re‐ situados y resignificados. 41 El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti Fig.1: Biblioteca Nacional de Uruguay. Archivo Literario. Colección: Juan Carlos Onetti. C.2. D. 12.-193. Donación Dorothea Muhr, 2007. 42 Agustín Corti 39 Pablo Dotta, op. cit., min. 01: 40. D.12-193. El plano habría sido dibujado en relación con la novela Juntacadáveres y el pasaje citado anteriormente. Nótese que la nomenclatura guarda a través de la calle "Rivadavia" un vínculo nacional con la Argentina. 40 Juan Carlos Onetti: "La literatura - ida y vuelta", pp. 914-924, aquí p. 918. 41 Roberto Ferro: Onetti - La fundación imaginada - La parodia del autor en la saga de Santa María, pp. 191 sq. 42 Ibid., p. 192. IV. Si Santa María existiera… Las secuencias iniciales del documental Jamás leí a Onetti muestran a Tomás de Mattos (1947-2006), escritor uruguayo y ex-director de la Biblioteca Nacional de Uruguay, con un plano dibujado a mano [Fig. 1] de la ciudad de Santa María. 39 De Mattos se refiere al mapa evocando una afirmación de Onetti: "Mas allá de mis libros no hay Santa María. Si Santa María existiera es seguro que haría allí lo mismo que hago hoy. Pero, naturalmente, inventaría una ciudad llamada Montevideo". 40 La cita superpone nuevamente el esquema y la realidad y resitúa la dependencia entre ciudades correspondientes a planos diferentes, esta vez de manera biográfica. Se trata de una dependencia de los espacios reales y ficcio‐ nales ligada al autor. Si, como decía al inicio, indagar sobre tal grado de paren‐ tesco es preguntarse por la representación a nivel discursivo, el discurso de autor cumplirá también un papel en el discurso 'de' la ciudad. No porque justifique o dé pistas sobre cómo leer la obra, sino más bien porque se instaura en un terreno que establece la continuidad entre diferentes discursos. La perspectiva excede lo narratológico, pero se alimenta de ello. Concuerdo con Ferro en que el primer esfuerzo de la crítica por reponer el referente ciudadano privilegia una forma particular de la representación y del estatus del signo en la obra literaria. 41 En su análisis de Para esta noche (1943), critica la búsqueda de un referente externo concreto para la ciudad innombrada que aparece en dicha novela. El autor con‐ sidera que las investigaciones sobre la situación geográfica de Santa María son análogas. Afirma que estas "incluyeron insistentes inquisiciones al propio Onetti, cuyas respuestas pueden ocupar una notable antología de la digre‐ sión". 42 A pesar de que retrotraer el sentido a un origen autorial o querer fijar la referencia a un espacio realmente existente, como si el discurso literario fuera descriptivo, no parece ser el gesto adecuado para una topología de la obra onet‐ tiana, Ferro descarta con su afirmación una de las posibilidades que su propio análisis abre, a saber, explorar una continuidad discursiva que no aísle al texto literario como un mundo autosuficiente y cerrado de antemano por las inten‐ ciones del propio autor. Esta "notable antología de la digresión" que conforman las afirmaciones de Onetti sobre Santa María, Buenos Aires o Montevideo, dia‐ 43 El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti 43 El concepto de 'epitexto' lo utilizo en el sentido establecido por Gérard Genette, op. cit., pp. 295 sq. Genette resalta dos elementos que son centrales en mi lectura y en los textos que utilizaré a continuación: la naturaleza de 'efecto' paratextual y la carencia de límites definidos respecto a la obra. (Id., op. cit., p. 297) 44 Catalina Gaspar, op. cit.; Josefina Ludmer: Onetti - Los procesos de construcción del relato. 45 Beatriz Sarlo, op. cit., p. 180. 46 Cf. Rocío Antúnez, op. cit. loga ciertamente con el texto literario y posibilita una continuidad, nunca uni‐ direccional o sin rupturas, que recontextualiza el texto de diferentes maneras. Reducirlas a una mera digresión es también encorsetar innecesariamente el texto literario y, en relación con lo urbano, limitar su visibilidad a una de sus mani‐ festaciones discursivas. Onetti publicó a lo largo de su vida numerosos artículos periodísticos que se refieren directamente a la literatura y a una posible poética de la ciudad, brindó entrevistas en las que habló sobre las ciudades rioplatenses y sobre Santa María, comentó sus propias obras, entablando así un diálogo variado con la obra. Este comentario constante generó un corpus, reunido desde 2009 en el tomo III de las Obras completas, que conforma una suerte de epitexto de la obra literaria de Onetti. 43 Dicha hipertextualidad abre una posibilidad de contraste entre la teoría del relato o poética implícita de la narrativa onettiana con los textos del otro margen, no literarios, pero ligados a ellos ya sea por versar sobre literatura o sobre la propia obra literaria de Onetti, ya sea por brindar interpretaciones del autor sobre la misma, o por integrar temas recurrentes de su obra, como la ciudad o el carácter de la gente. 44 Cuando se analiza este discurso 'de' la ciudad, los epitextos hacen emerger lo que Beatriz Sarlo ha denominado, respecto a la tematización de los márgenes sociales, un "espacio cultural". 45 Este incluye para la autora argentina una refe‐ rencia urbana existente en el mundo que la obra valora y construye como refe‐ rente literario. Pero además, como agrega Antúnez, la dirección de sentido no solo va de los espacios realmente existentes al texto literario, sino que este último también forma parte de una empresa colectiva más amplia que fija referencias culturales desde las que los textos mismos reclaman ser leídos. 46 Dejar de lado los epitextos, como parece sugerir Ferro, es reducir el texto a una posición que el texto mismo excede en el contexto del campo cultural al que pertenece. No se trata de otorgar a los epitextos onettianos una autoridad especial sobre la obra por provenir de su autor, sino por constituir un comentario preferencial 'de' la ciudad en el espacio abierto por la obra. La obra posibilita un "discurso cultural", aunque no se limite, por supuesto, a ello. 44 Agustín Corti 47 Josefina Ludmer: Aquí América Latina, p. 12. 48 Juan Carlos Onetti: "Quién es quién en la literatura uruguaya", p. 370. 49 Roberto Ferro: Onetti - La fundación imaginada - La parodia del autor en la saga de Santa María., p. 93 observa también un componente 'romántico' en la concepción del escritor defendida por Onetti en esta etapa temprana, que ve luego sustituida por una actitud de 'ironía' y 'parodia' en la obra posterior. 50 Juan Carlos Onetti: "La literatura - ida y vuelta", p. 915. El caso que instaura Santa María como espacio cultural es por un lado más complejo y por otro más sugerente que el de otros espacios. Si partimos de la base de que Santa María posee un estatus ontológico diferente a las otras dos capitales del Plata, como analicé antes, la relación que entable con ciudades como Montevideo o Buenos Aires será diferente a la que haya entre dichas ciudades entre sí. Una vez imaginada por Brausen en La vida breve, Santa María postula una continuidad ficcional con otras ciudades existentes en el mundo, creando un desnivel en el plano referencial que no solo es inherente a la ficción, sino que se desborda hacia el discurso sobre la topología urbana en el ámbito rioplatense. Esta complejidad se vuelve riqueza en cuanto las relaciones entre la creación ficcional y las ciudades existentes en el mundo se conectan en un mismo discurso sobre la ciudad que muestra continuidades que escapan a la oposición ficción realidad enriqueciendo ambas representaciones. Ludmer, por ejemplo, considera que existe un régimen público que no distingue ambos planos al que ha llamado "realidadficción". 47 Que lo literario se inmiscuya en la experiencia de la ciudad no resulta sorprendente una vez que el orden ha sido subvertido. A partir de mediados de los años 1930 Onetti practicó el periodismo encar‐ gándose posteriormente de escribir para la sección cultural del semanario mon‐ tevideano Marcha. Los primeros artículos expresan como es sabido la poética temprana del escritor. El conjunto de los mismos desarrolla dos aspectos: el papel del escritor en el campo cultural y la materia de la escritura. La actitud del esc‐ ritor que reclama Onetti se puede resumir mediante la palabra autenticidad, como el mismo lo escribe en 1939: Hay un solo camino. El que hubo siempre. Que el creador de verdad tenga la fuerza de vivir solitario y mire dentro suyo. Que comprenda que no tenemos huellas para seguir, que el camino habrá de hacérselo cada uno, tenaz y alegremente, cortando la sombra del monte y los arbustos enanos. 48 Esta posición entre romántica y nietzscheana frente a la escritura la repetirá Onetti a lo largo de su vida. 49 En otro momento nombra tres actos que le pro‐ ducen una suerte de impulso dionisíaco: "una dulce borrachera bien graduada, hacer el amor, ponerme a escribir". 50 Esta actitud individual frente a la escritura, 45 El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti 51 Ángel Rama: Crítica literaria y utopía en América Latina; Emir Rodríguez Monegal: Onetti o el descubrimiento de la ciudad - Capítulo Oriental. 52 Juan Carlos Onetti: "Literatura y política", p. 373. 53 Id.: "Explicación de Periquito al Aguador", p. 353. 54 Id.: "Una voz que no ha sonado", p. 358. 55 Roberto Ferro: Onetti - La fundación imaginada - La parodia del autor en la saga de Santa María y Noé Jitrik: "Exilios, desplazamientos, narraciones - Pasiva gesta de Onetti", p. 41 atestiguan el carácter marginal de los inicios de Onetti en el campo literario bonaerense. que obvia cualquier rol social, conforma un gesto público. Su carácter perfor‐ mativo es central, ya que se está reclamando un espacio para el escritor en la arena pública. Asociado a esto viene el tema de la obra que se puede elaborar desde dicha posición. La literatura onettiana, aunque no exclusivamente, con‐ stituye el hacerse mayor de la literatura urbana en el Río de la Plata al integrar nuevas técnicas literarias, sobre todo de raigambre estadounidense, a la temática elegida. 51 En un artículo para Marcha, Onetti defiende esta temática ante la ne‐ cesidad de escribir sobre lo que se tiene cerca y de no importar temas lejanos: "la vida es rica en todas partes". 52 Resalta que, en la literatura uruguaya, se trata de entrar en un terreno virgen. Se parte de la nada, todo está por hacer, hasta el punto de que hacer crítica sobre la literatura nacional es, como diría retrospec‐ tivamente en 1968, tirar una "piedra en la desolación del charco vacío". 53 En 1939 afirma que la literatura rioplatense requiere "[u]na voz que diga simplemente quiénes y qué somos, capaz de volver la espalda a un pasado artístico irremedi‐ ablemente inútil y aceptar despreocupadamente el título de bárbara". 54 El pro‐ grama literario no se basa tanto en la renovación como en la creación de una nueva literatura, un gesto que se hace eco de los movimientos de vanguardia. Se repite un gesto, ya tradicional en el Río de la Plata, que rescata una cierta marginalidad de los francotiradores antiburgueses de la generación del 1900 uruguaya, sobre todo de los poetas Julio Herrera y Reissig y Roberto de las Car‐ reras. 55 La crítica feroz del "Tratado de la imbecilidad del país, por el sistema de Herbert Spencer" de 1902, que no llegaron a publicar, resaltaba casi 40 años antes, el supuesto barbarismo del país: [L]a vida emocional compleja ni existe en nuestro país, en cuya atmósfera mortecina languidecen los afectos y se aplastan las originalidades. Una horizontal monótona de igualitarismo soso, de impavidez colectiva, se extiende hacia todos los frutos de la existencia, y parece como que se respira emanaciones de guisado y olores domésticos a canasto de ropa sucia. El espíritu continuador, imitativo o lo que podríamos llamar instinto de inmutabilidad manifiesta en los uruguayos, otra fase bárbara de su emo‐ 46 Agustín Corti 56 Julio Herrera y Reissig, op. cit., p. 154. 57 Juan Carlos Onetti: "Una voz que no ha sonado", p. 357. En este plano Onetti está em‐ parentado con el joven Jorge Luis Borges en la creación de una literatura nueva que tenga como centro la ciudad. En "El tamaño de mi esperanza" (1926), Borges sentencia: "Aquí no se ha engendrado ninguna idea que se parezca a mi Buenos Aires" Jorge Luis Borges: El tamaño de mi esperanza, p. 13. O, más adelante: "Ya Buenos Aires, más que una ciudad, es un país y hay que encontrarle la poesía y la música y la pintura y la religión y la metafísica que con su grandeza se avienen" ibid., p. 14. También mediante este gesto entra lo marginal a la literatura ciudadana. Cf. para el tema Beatriz Sarlo, op. cit., pp. 179 sq. La diferencia radica en que Onetti, si bien se refiere en algún artículo a la necesidad de un movimiento como el Martín Fierro bonaerense para Uruguay, no está preocupado por generar ninguna nueva tradición. (Cf. Juan Carlos Onetti: "Jóvenes se necesitan", p. 395) 58 Juan Carlos Onetti: "Reflexiones de un poeta", p. 599. 59 Para el proyecto literario de Herrera y Reissig, cf. el pormenorizado estudio de Aldo Mazzucchelli, op. cit. 60 Juan Carlos Onetti: "Literatura nuestra", p. 367. cionalismo ingenuo, que le coloca al mismo nivel de los pueblos más atrasados de la tierra. 56 La posición de Onetti en 1939 sigue compartiendo con la de Herrera y Reissig la percepción de tener que construir una literatura propia desde cero y de luchar asimismo por un campo de reconocimiento y, por ende, por un público lector. Comparten también la idea de que no se puede beber de la tradición nacional, ya que "no hay aún una literatura nuestra, no tenemos un libro donde podamos encontrarnos". 57 La performatividad del gesto modernizador de Herrera y Reissig a inicios del siglo XX posee su eco en el mismo acto performativo de Onetti. No es casual que Onetti repitiera, en 1979, que "Santa María sólo ha tenido, en un siglo, un gran poeta: Julio Herrrera y Reissig, que vivió permanentemente des‐ terrado en su tierra, ausente de su ciudad (de la que nunca salió), como si Santa María no hubiera existido jamás". 58 El reconocimiento de la posición marginal del escritor en el contexto ciudadano se alza como una de las variables funda‐ mentales para el desarrollo de la obra. Si el proyecto generacional de Herrera y Reissig yacía en una transmutación de lo real, 59 Onetti expresa en esta primera poética la necesidad de retratar la topografía ciudadana, es decir, montevideana. Para ello entra en una polémica con el Nativismo y sus temas rurales, que no tiene tanto que ver con una actitud de negación de dicha temática, sino de perspectiva y pertinencia. En un país macrocéfalo en pleno periodo de modernización que aglomera a la mitad de la población en la capital, Onetti recela de aquellos que escriben sobre "ranchos de totora, velorios de angelito y épicos rodeos" 60 . En la crítica belicosa están pre‐ sentes los dos aspectos antes mencionados: la posición del escritor, en su versión 47 El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti 61 Raymond Williams desarrolla en su libro The Country and the City la dependencia de estos dos grandes espacios y las diferentes formas que presenta en la literatura inglesa. En el caso de Onetti, lo rural no pierde su peso, sino que se inserta como una fuerza que contrasta con la ciudad y determina espacios urbanos. 62 Juan Carlos Onetti: "Literatura nuestra", p. 368. 63 Sus primeros tres cuentos - "Avenida de Mayo-Diagonal-Avenida de Mayo" (1933), "El obstáculo" (1935) y "El posible Baldi" (1936) - están ambientados en Buenos Aires, mientras que "El fin trágico de Alfredo Plumet" (1939), cuento policial escrito bajo el seudónimo de Pierre Boileau, está ambientado en Montevideo. En el siguiente cuento publicado por Onetti con su nombre, "Un sueño realizado" (1941), la ciudad de referencia del escenario de provincia es Buenos Aires. 64 Como es sabido, Onetti se exilia en España en el año 1975, donde permanecerá hasta su muerte en 1994. Para su biografía, cf. Carlos María Domínguez, op. cit. 65 Juan Carlos Onetti: "La literatura - ida y vuelta", p. 918. 66 Noé Jitrik : "Exilios, desplazamientos, narraciones - Pasiva gesta de Onetti", p. 42. Onetti se muda a Buenos Aires en 1930, vuelve a Montevideo en 1934 para retornar a Buenos Aires en 1941, donde se instalaría durante 14 años hasta 1955, cuando retorna definiti‐ vamente a Montevideo hasta su ida al exilio español. de crítica a aquellos que no son más que visitantes del campo y escriben de segunda mano, y el tema, ya que existe una falta por llenar: la ciudad. 61 Si los escritores llevan adelante esta tarea, expresa Onetti parafraseando a Oscar Wilde en 1939: "Montevideo y sus pobladores se parecerán de manera asombrosa a lo que ellos escriban". 62 La referencia a Wilde postula la continuidad discursiva entre obra literaria y ciudad. Onetti tematiza en estos textos principalmente el campo literario uruguayo y la literatura nacional, pero la impronta de Buenos Aires también está presente como referencia tanto literaria como en el tratamiento del campo cultural. 63 Las menciones a ambas ciudades continuarán hasta su muerte en Madrid. 64 La saga de Santa María no está fijada en un sitio determinado, sino que se conforma en un eje de ciudades que incluye Montevideo y Buenos Aires, así como los sitios adyacentes, creando una red de opuestos que se determinan mutuamente. Onetti retorna sobre este motivo de las dos orillas: Yo viví en Buenos Aires muchos años, la experiencia de Buenos Aires está presente en todas mis obras, de alguna manera; pero mucho más que Buenos Aires está presente Montevideo, la melancolía de Montevideo. Por eso fabriqué a Santa María, el pueble‐ cito que aparece en El astillero: fruto de la nostalgia de mi ciudad. 65 Jitrik insiste en que la posición del escritor frente a lo urbano está determinada en Onetti por su tránsito entre las ciudades de Montevideo y Buenos Aires. 66 Es justamente esta distinción entre ciudades y el ángulo que las presenta el que queda patente en los epitextos. La unidad y tensión que determina espacialmente la saga de Santa María se encuentra tematizada de manera exterior en los dife‐ 48 Agustín Corti 67 Juan Carlos Onetti: "La literatura - ida y vuelta", p. 918. 68 Ibid. 69 Ibid., p. 919. 70 Id.: "Reflexiones treintañales", p. 712. rentes textos. Onetti postula en la cita anterior un punto central en Buenos Aires, una línea de fuga hacia Montevideo y, como fruto de esta tensión, la creación de Santa María. La afirmación no es importante por la razón autorial de la génesis de Santa María, sino por el valor de significante que recibe la distancia de estos marcos espaciales que se interrelacionan entre sí. El contraste entre Uruguay y Argentina, en tanto naciones, abunda igual‐ mente en las noticias que deja Onetti sobre el pueblo occidental del margen del Plata, hasta el punto de que ante el Peronismo dice confortarse autocomplaciente con una frase como "Esto no podría pasar en Uruguay". 67 También comenta el carácter de los bonaerenses: Por supuesto, los porteños son más superficiales; quiero decir, siempre se están inter‐ pretando a sí mismos. Un doctor porteño se viste y actúa, siempre, como supone que debe actuar un doctor; lo mismo un mozo de café y un boletero de cine. 68 En contraste, los uruguayos estarían caracterizados por una mayor interioridad, algo común con los entrerrianos, que "son los uruguayos de la Argentina" 69 . Nótese cómo se intenta desentrañar el carácter de las personas a través de la pertenencia al espacio y cómo se unen espacios -interior argentino representado por Entre Ríos y Uruguay- que se diferencian de la capital argentina. Este contraste característico de los epitextos se despliega también en un su‐ puesto manuscrito encontrado que Onetti da a la luz en un artículo de 1984, titulado "Reflexiones treintañales", en el que un narrador, con ecos autobiográ‐ ficos, recrea un viaje de Buenos Aires a Montevideo a través de Asunción del Paraguay. El contexto histórico es el del Peronismo: Pero mis planes para trasladarme a la muy fiel y reconquistadora ciudad de Monte‐ video coincidieron con un ataque de malhumor del general Perón o de la Señora. Y de aquel pronto malhumorado surgió la prohibición de que se viajara entre Argentina y Uruguay. 70 El narrador protagonista, vestido de manera ostentosa como representante de una agencia de publicidad bonaerense que pretende instalarse en Montevideo, recorre Asunción junto a un taxista que se encuentra en el aeropuerto y lo acompaña durante su estadía en la capital paraguaya. El protagonista piensa que el taxista lo estafará, pero este le confiesa sobre el final del relato: 49 El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti 71 Ibid., p. 715. 72 Id.: "Onetti en el tiempo del cometa", pp. 909 sq. 73 Id.: "Por culpa de Fantomas", pp. 837 sq. Pero, quería decirle, […] decirle que cuando lo vi bajar del aeroplano que venía de Buenos Aires, del Directorio, pensé resuelto que a este porteño lo estafo a muerte y si puedo ni los anteojos le dejo. Y tanto lujo en el vestir. Y duré convencido hasta que en la agencia medio lo empujé para espiarle el pasaporte y ahí vi que usted era oriental, uruguayo, dicen ahora. Y le digo, orientales y paraguayos somos hermanos. 71 En esta nueva configuración, en la cual aparece Asunción del Paraguay como espacio novedoso, retorna la oposición entre los espacios rioplatenses a través del refinamiento ostentoso bonaerense y la diferenciación con las otras ciudades y nacionalidades. Los personajes del relato se orientan en base a los estereotipos que otorga la pertenencia a un lado u otro. El lugar identifica a la persona y no es el individuo el que insufla vida a la ciudad, hasta tal punto que la ciudad marca a la persona visualmente, aunque el pasaporte diga lo contrario. Entre los epitextos se encuentra también un grupo de afirmaciones que hablan de Santa María refiriéndose a las ciudades reales. Son textos con una nota bur‐ lesca, como se vio anteriormente en relación con Julio Herrera y Reissig, de quien Onetti decía que había sido el único poeta de Santa María. En una entrevista de 1969, responde a la pregunta de la vigencia de su literatura ante los cambios políticos y sociales de la región: Los hombres que un tipo hizo nacer en Santa María siguen -misteriosamente- muri‐ endo sin culpa y sin que nadie les explique los porqués de llegadas y salidas. Puedo agregar, en secreto, que la Santa María de hoy tiene sus varios estudiantes y obreros y guardiaciviles muertos. 72 En otro texto que se retrotrae a una conferencia titulada "Por culpa de Fantomas", el autor retoma la creación de Santa María y la explica como una posición de fuga y el deseo de estar en otro lugar del que estaba viviendo en el momento de su creación, es decir, en Buenos Aires: Yo era un demiurgo y podía construir una ciudad donde las cosas acontecieran como me diera la gana. Ahí se inició la saga de Santa María, donde los personajes van y vienen, mueren y resucitan. Creo que me voy a quedar allí porque soy feliz […]. 73 50 Agustín Corti 74 El pasaje suena premonitorio en la época en que redacta esta conferencia, ya que poco después deberá irse de Montevideo, donde vivía en ese momento, y exiliarse en Madrid. 75 Id.: "Montevideo", p. 815. 76 Ibid., p. 816. 77 Ibid. El demostrativo 'allí' marca este pasaje de un lugar a otro, así como la otredad del espacio mentado. El gesto onettiano es el de quedarse del otro lado, en Santa María. 74 El breve escrito titulado "Montevideo", aparecido sin datar por primera vez en el tercer tomo de las Obras Completas, seguramente escrito -y no terminado- en el exilio, dada su evocación retrospectiva de la ciudad, expresa con cierta distancia la actitud de extrañamiento de la voz narradora: Atravesar capas de años para obligar a la memoria a ver y oír formas que ignoro si aún existen y voces que tal vez sonaron es una tarea imposible de cumplir. Se intenta; pero está condenada a tantas mutilaciones que no podré quedar satisfecho. Tampoco el montevideano que me lea. No se trata de buscar tiempos perdidos. 75 Como el narrador, en abierta referencia a Proust, no accede a la materia de la memoria, postula otro mecanismo: si los arqueólogos perforaran en ese sitio, verían diferentes capas de la realidad. Se encontrarían con la capital de un país pequeño y uniforme, sin "Tirano Banderas", donde la única turbación de la nor‐ malidad son los gritos de los "soñolientos repartidores de leche"; del país se hace un zoom sobre la capital: "Una ciudad privilegiada, pero sin exceso", remata Onetti. 76 La descripción continúa con una curiosa postal dominguera de la ci‐ udad: Y no olvidemos los domingos. Cuando luego de la clásica raviolada o de las milanesas, según gustos o precios, desdeñando la siesta que buscaba imponerse, los indígenas hormigas caminaban, desde puntos cardinales aún no descubiertos, para reunirse en el estadio, declarado monumento histórico. Se estima que el noventa por ciento de los peripatéticos llevaban un termo de agua hirviente bajo el sobaco izquierdo y mate con bombilla cavada en la mano derecha. Las perspectivas del match de fútbol disipaban las frustraciones de la semana. Y muchas veces, luego, los resultados agregaban frust‐ ración. Pero esta sarna siempre era gustosa. 77 La descripción se aparta del estilo onettiano por el color local y el punto de vista omnisciente y generalizador, pero posee un pathos que resalta anhelos que no se satisfacen y la inevitabilidad de una experiencia frustrante. Es evidente el tono irónico en "los indígenas hormigas", "el estadio, declarado monumento histó‐ rico", el fútbol como escape a una frustración que crea más frustración. Las ac‐ 51 El discurso 'de' la ciudad en la saga de Santa María y en los epitextos de Onetti 78 Ibid., p. 817. 79 Ibid., pp. 816 sq. 80 Michel de Certeau, op. cit., pp. 106 sq. ciones y gestos de los personajes expresan la ciudad. Pero si en la obra lo hacen los Juan María Brausen, Larsen o Petrus, personajes fuertemente individuali‐ zados, aquí se trata de una masa no identificada que se agrupa en categorías abstractas como familias, espectadores de fútbol, trabajadores o habitués de bo‐ liche. La vida está regida además por ritos que se repiten, sin valor transcendente: "la palabra libertad tenía poco sentido para los habitantes porque había sido respirada casi durante un siglo. Era como lo que era la noviecita que recuerdan o inventan los tangos luego de treinta años de vida conyugal. La costumbre". 78 Lo inevitable de las acciones queda determinado por una topología que limita. El texto está determinado por la figura de la litotes, de la negación o atenuación de los contrarios. Montevideo es "la capital de un país tan pequeño que si hubo en el pasado algún intento separatista no pasó de absurdo": se caracteriza el espacio por carecer de lo malo ("sin Tirano Banderas", "No CIA, ni KGB, ni, mucho menos, Gestapo"), se atenúa en lo bueno ("de calle no muy limpias", "pri‐ vilegiada, pero sin exceso", "no balas traidoras ni prepotentes, no secuestra‐ dores"). 79 La impronta ciudadana se aparta de una megalópolis, registra un cierto provincianismo en todo aquello de lo que carece. Este contraste por la negativa es una forma de figurar la ciudad que no solo es característica de los epitextos, sino que, como veíamos antes, está inserta en la obra literaria onettiana. Se trata, evidentemente, de una periferia en la cual los personajes encarnan valores que obtienen su sentido del contraste. En este sentido, la obra de Onetti abre una brecha en el discurso totalizador de las ciudades, pero mantiene un orden que delimita en su interrelación los diferentes espacios urbanos. 80 V. A modo de conclusión Si los epitextos onettianos unen el espacio regional resaltando lugares como Buenos Aires y Montevideo y anclando Santa María en dicha relación, esta est‐ rategia no es ajena a los textos ficcionales. Las características topológicas de Santa María están fuertemente determinadas por el contraste con las ciudades que establecen el contexto diegético de su fundación en La vida breve. Buenos Aires y Montevideo son 'objetos reales' en la novela, Santa María es 'real' en el universo diegético, pero no fuera de él. La continuidad creada entre las ciudades, tanto a nivel del discurso epitextual como ficcional, constituye una conceptua‐ lización del espacio como un objeto cultural que no se ajusta únicamente a la 52 Agustín Corti 81 D.90. restricción narratológica. El texto está fuera de sí mismo como Buenos Aires y Montevideo están insertas en Santa María. Esta suerte de poética del relato que surge en torno al espacio en la propia obra literaria de Onetti posee una contrapartida exterior en textos de diversa índole que se conforman asimismo como un discurso sobre dichas ciudades, unido directa, aunque oblicuamente, con la obra. Escrito en dos facturas, hoy amarillentas, el archivo de Onetti guarda un diálogo en el que uno de los inter‐ locutores es Brausen y el tema, la ciudad: -Santa María está muy cambiada. A usted le costará reconocerla. -Sí, me han dicho tantas cosas extrañas, algunas contradictorias. Claro, el tiempo, el progreso. -El tiempo, el progreso -sopesó con cuidado Brausen. El error viene de que los hombres están acostumbrados a darle una sola dirección a esas palabras. Sin embargo, las di‐ recciones pueden ser infinitas. 81 Tanto en la obra de Onetti como sus constantes comentarios a ella lo urbano se erige como una posibilidad expresiva que exige nuevas formulaciones. Estas rompen con la referencialidad literaria y se insertan en el terreno de esta ruptura. Las ciudades se multiplican a través de mapas elaborados por la memoria y se fundan, de forma indirecta, en un acto iterativo de imaginación literaria. Bibliografía Onetti, Juan Carlos: "Literatura nuestra", in: Id.: Obras completas vol. 3 - Cuentos, artículos y miscelánea, ed. Hortensia Campanella, Prólogo de Pablo Rocca, Barcelona: Galaxia Gutenberg / Círculo de Lectores 2009 [1939], pp. 367-368. ---: "Una voz que no ha sonado", in: Id.: Obras completas vol. 3 - Cuentos, artículos y miscelánea, ed. 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Carpentier, Los Pasos Perdidos, Kap. XVI An der Art, wie er sein Haus baut, offenbart der Mensch seine Abstammung. A. Carpentier, Die verlorenen Spuren, Kap. XVI Das Werk von Juan Carlos Onetti will bis heute nicht in einer sukzessiven Lek‐ türe und es will auch nicht in einem einzigen Durchgang gelesen werden, und das, obwohl die inzwischen vorliegenden Gesamtausgaben dies posthum auf vorzügliche Weise ermöglichen. Seine Literatur sträubt sich gegen eine allzu fokussiert monographische Perspektive, wie sie sich wehrt gegen eine allzu ausschließliche, gar hagiographische Vereinnahmung durch den Leser. Über die Eitelkeiten des Literaturbetriebs hatte Juan Carlos Onetti lakonisch gespottet und sich in einer paratextuellen Auslegung des eigenen Werkes zurückgehalten. Die bevorzugte Form des Autors aus Montevideo ist, seit seinen frühen Pu‐ blikationen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, der cuento. Neben wenigen längeren Erzählungen bleibt La vida breve sein einziger ausführlicher Roman, nach dessen Experiment er - 1950 erschienen - zu der kurzen Form und Ver‐ dichtung in novelas cortas zurückkehrt und bei ihr bleiben wird. In der heute möglichen Betrachtung des Gesamtwerks ist es von Vorteil, diese Absage an eine konstant sich erweiternd ausufernde Werkgeschichte nicht außer Acht zu lassen, um nicht zu vernachlässigen, dass es monolithische Einzelstücke sind, die dem Leser vorgelegt wurden, und dass Juan Carlos Onetti die Spiel- und Gattungs-Räume der Literatur des 20. Jahrhunderts und der ästhetischen Mo‐ derne zwar kannte, sie jedoch auf eine nur implizit poetisierende Weise nutzte. Kaum ist es eine expandierende Entwicklung, die sich in seiner écriture über die Jahrzehnte seiner Autorschaft zeigen würde, als vielmehr eine ansteigende Ver‐ schachtelung von Komplexitäten, rhetorischen Mitteln, literarhistorischen In‐ 1 Dieses Verfahren, namentlich wieder erkennbare Protagonisten einzusetzen und den Leser dadurch an bereits erzählte Geschichten zu erinnern, ihn also auf die Lektüre eines ausgreifenden literarischen Kontexts zu verpflichten, entstammt dem Feuilleton‐ roman, aus dem unter anderem die Comédie Humaine (1829-1850) des französischen Realisten Honoré de Balzac entstanden war. Wenn Juan Carlos Onetti Techniken des Realismus benutzt, widerspricht das seiner genuin neo-barocken Kompositionsweise gleichwohl kaum, da diese auch darin besteht, sämtliche Gattungsrichtungen und Epo‐ chenbewegungen aufzunehmen - Brief, Witz, Roman, Aufführung oder Traum - und in eine gleichförmig monotone Serialität der Kurzform des cuento zu integrieren. Cf. Carlos Gamerro, op. cit. tertextualitäten oder symbolischen Semantiken in wohl proportionierten und übersichtlichen, hermetischen Prosa-Teilen, die den Leser zunehmend verwirrt zurücklassen mögen. Offen bleiben soll an dieser Stelle eine Spekulation über die zu erwägende Begründung der sichtbaren Bevorzugung der verdichteten literarischen Ver‐ kürzung, ob diese stilistisch oder biographisch motiviert war, oder ob sie sich den narrativen Stoffen, die erzählt werden wollten, zunehmend angemessen zeigte, und der Autor daher keinen Anlass sah, Alternativen zur kurzen Form zu wählen. Auch in ihren differenzierten Zusammenstellungen in nachträgli‐ chen, jeweils neu die Erzähltexte sortierenden und selektierenden Editionen bleiben die cuentos und Prosa-Stücke aus fünf Jahrzehnten, die Juan Carlos Onetti hinterlassen hat, narrativ isoliert lesbar und unverbunden. Eine Konti‐ nuität in der mutwilligen Unübersichtlichkeit durch die Zerstreuung und Ver‐ weigerung der Totalität eines Gesamtwerkes garantieren für den zeitgenössi‐ schen wie für den heutigen Leser wiederkehrende Figuren 1 wie Díaz Grey, Jorge Malabia oder Brausen. Mit jedem weiteren cuento werden die Protagonisten als bekannt vorausgesetzt und machen den Leser zum Vertrauten des Autors und zum Komplizen im Geiste, der die Verbindungen einer offenen fiktionalen Welt selbständig herstellen muss. Darüber hinaus stiftet, noch mehr als es die Figuren vermögen, die Gegend der Schauplätze eine Lese-Erinnerung und ein Wieder‐ erkennen, zumindest das eines Namens: Santa María. I. Das fiktive Santa María bildet einen eigenen Kosmos innerhalb von engen Grenzmauern im ɶuvre von Onetti, es ist als Schauplatz auf die frühen wie auf die späten cuentos, auf die Kurzromane und auf La vida breve verteilt und führt durch den Eigennamen unmittelbar zurück in die Gründungszeit des spani‐ schen, katholischen Ur-Kolonialreichs, die sich an die Entdeckungsfahrten des späten 15. Jahrhunderts anschloss. Sind in den ersten cuentos noch Orte und 60 Eva Erdmann 2 Die Figur der Moncha in "La novia robada" trägt ihrerseits einen minimal, von einem weiblichen zu einem männlichen Vokal verschobenen geographischen Namen, der sie zu einer Don Quijota aus La Mancha erklärt. Durch diese Namenskonstruktion stellt Moncha, Protagonistin einer missglückten Verlobung und ewige Braut, die spiegelbild‐ liche Verdoppelung des fiktiven Santa María dar, insofern die Figur der Heiligen Jung‐ frau als Namenspatronin für eine Vielzahl von Gründungen katholischer Siedlungen nach der kolonialen Land- und Besitznahme in Lateinamerika gewählt und zu einem gewöhnlichen Ortsnamen wurde. Selbst als Bezeichnung eines Ortes wurde Santa María beliebig extensiv gewählt und ist bald ein Vulkan, bald eine Insel, bald eine Kirche oder ein Gefängnis oder das Projekt eines Bordells (cf. Hans-Otto Dill, op. cit., p. 325). 3 In diesem cuento von 1973 wird der Schauplatz bereits als eine Ruinenstadt geschildert, Díaz Grey "se pasea por estos restos de Santa María" (MN, "Capítulo primero", p. 585). In der Sekundärliteratur wird La muerte y la niña gattungsformal unterschiedlich ein‐ geordnet und bald als cuento, dann als novela oder als novela corta klassifiziert. Städte wie Buenos Aires oder Montevideo explizit genannt und identifizierbar wie in "Avenida de Mayo-Diagonal-Avenida de Mayo", einem cuento aus dem Jahr 1933, so wird sich der Leser alsbald hauptsächlich in Santa María wieder finden, einem fiktiven Ort, an dem sich vorwiegend weibliche Geisterwesen 2 , zwielichtige Geschäftsmänner, geflüchtete Nationalsozialsozialisten, Künstler, Therapeuten verschiedener Glaubensrichtung und aus der Literaturgeschichte wieder auferstandene Gestalten treffen. Santa María wird in der Mehrzahl der Onetti'schen cuentos als ein Ort konstruiert, der bald den Hintergrund und Schauplatz der Handlung bildet - La muerte y la niña  3 -, bald einen entlegenen Sehnsuchtsort darstellt - "Matías el telegrafista" (1970) - und deren Schöp‐ fungsgeschichte in La vida breve beginnt. Diese unmerklich wankende Unbe‐ stimmtheit des Ortes ist verbunden mit einer Vielzahl auffällig archaischer und historischer Narrative der neuzeitlichen Besiedlung, des religiösen Gehorsams oder des vorkapitalistischen Tauschhandels in den Erzählungen und im Ge‐ samtwerk von Onetti, die der fiktiven Welt seiner Sanmarianer in der Art einer literarischen Memorisierung den Charakter des Abenteuers gibt und damit die neuzeitlichen Entdeckungs- und Eroberungsfahrten des späten 15. Jahrhunderts und des 16. Jahrhunderts in einem Pastiche mitführt. Das Onetti'sche Santa María ist auch der eine allen Schiffsflotten gemeinsame Bauch, in dem eine Be‐ völkerung von Seefahrern von Spanien in eine neue Welt gezogen war. Santa María erfährt in den cuentos von Onetti die Darstellung seiner Gründung, eine Blütezeit und einen Verfall, bis sie als Reste einer Ruinenstadt verschwindet und als Legende, als Mythos zurückbleibt und darin dasselbe Schicksal erfährt wie die Santa María des Kolumbus. Die zunehmend verwirrende, und wenig kohärente Beschreibung von Santa María kann als ein intendiertes Spiel auf der Ebene der Narration verstanden werden, das auf die Fiktionalisierung von Orten selbst zurückgeht. Zwischen den 61 Onettis Santa María. Von der Seeflotte zur Allerweltstadt 4 In der Kurzgeschichte "Justo el treintaiuno" (1964) handelt es sich zwar um einen namen‐ losen Ich-Erzähler, in Dejemos hablar al viento (1979) wird diese Kurzgeschichte jedoch fast wörtlich übernommen und von dem Ich-Erzähler Medina geschildert. wenigen Randbemerkungen und reinen Erwähnungen eines Ortsnamens ist Santa María ausführlicher in der Erzählung "La novia robada" (1968) beschrieben, in der es gleichzeitig den Stillstand ("En Santa María nada pasaba" NRo, 179), ein Land ("Nombre del país en que nació" ibid., 199) und den Todesort der Protagonistin ("Lugar de defunción" ibid.) markiert. Gegen das in "La novia robada" düstere Ortsklima, in das der Leser miteingeschlossen wird, ist Santa María in "Matías el telegrafista" der Heimathafen und Wohnsitz des Protagonisten und Funkers, den seine Arbeit über das Meer nach Hamburg führt und ihn in St. Pauli festhält. Santa María stellt sich an dieser Stelle im Werk von Onetti nun völlig verwandelt dar und repräsentiert in "Matías el telegrafista" den unerreichbaren anderen Ort, anstatt eines unüberwindbar eingegrenzten Dorfschicksals. In La vida breve wird die fik‐ tive Stadtgeschichte von Santa María von ihrer Gründung und ihrem Aufbau her erzählt und beginnt sich darzustellen als "ciudad de provincia sobre cuya plaza principal daban las dos ventanas del consultorio de Díaz Grey" (VB I, cap. II, 432). 1956, in "Historia del caballero de la rosa y de la virgen encinta que vino de Li‐ liput", wurde Santa María von den Protagonisten verlassen, sie leben als Vertrie‐ bene, "en Las Casuarinas, desterrados de Santa María y del mundo." (HCa, cap. VI, 147) In "Justo el treintaiuno", 1964 erschienen, imaginiert der Protagonist 4 , wie Frieda von "su infancia y su adolescencia en Santa María, la historia de su expul‐ sión, las caprichosas, variables evocaciones del paraíso perdido" erzählt (JTr, 174). Eine konsistente Perspektive auf die Onetti'sche Stadt ist nicht möglich und wird durch jedes weitere cuento verstellt. Dabei gehen der Autor und die Erzähler in ihren Verfahrensweisen mit der Stadt ebenso vor wie mit ihren Figuren und wenden eine Technik disseminier‐ ender Verundeutlichung und Dekomposition an, indem konkrete Merkmale bald ausgelassen, bald Details antagonistisch gegenübergestellt werden. Auch damit ist der Leser vertraut, dass nämlich ausführliche Beschreibungen von Figuren als Personen ausgelassen werden, dass keine inneren Entwicklungen von Cha‐ rakteren geschildert werden und, im Falle von Santa María, auch keine raum- oder stadtsoziologisch dingfeste Beschreibung einer Architektur, einer sozio‐ graphischen Statistik der Bevölkerung oder einer klimatischen Atmosphäre festzuhalten sind. So ist auch Santa María zunächst ein fiktiver und aufgrund dessen ein ungenau auserzählter Ort, dessen Beschaffenheit, wenn überhaupt, 62 Eva Erdmann 5 Einen solchen Vergleich hat Christopher Mathan (op. cit.) in seiner Lektüre der Werke von Gabriel García Márquez und Juan Carlos Onetti durchgeführt. Den Studierenden mehrerer Kurse zur obra von Juan Carlos Onetti habe ich für die geduldige Lektüre, für kritische Rückfragen und für exzellente Haussowie Abschlussarbeiten zu präzisen, diversen Themen zu danken. Insbesondere danke ich Susanne Kruza und den Hilfs‐ kräften der Universität Konstanz für die Zusammenstellung und Vorarbeit von Kurs-Materialien, die bis heute ihre Aktualität nicht verloren haben. 6 Das 2. Kapitel des Romans, ist mit "Díaz Grey, la ciudad y el rio" überschrieben. Cf. VB I, cap. 2, 428-436. 7 Auch die Unbestimmbarkeit eines authentischen Namens teilt Moncha mit Don Quijote, der mit bürgerlichem Namen bald Qixada oder Quesada zu heißen schien, wie der Leser im ersten Kapitel des ersten Teils erfährt. Cf. Miguel de Cervantes, op. cit., cap. I. 8 Ibid., cap. VII. im komparatistischen Vergleich fiktionalisierter Schauplätze zu anschaulichen Ergebnissen führt. 5 II. Der fiktive Onetti'sche Ort Santa María ist, monographisch gelesen, von einer widersprüchlichen, ungereimten geographischen, klimatischen und topogra‐ phischen Lage. Im Verlauf des Werkes wird er als Kleinstadt beschrieben und erkennbar, dann aber auch als Metropole, bald ist Santa María eine Stadt an einem Strand oder liegt schließlich wieder im Binnenland. In La vida breve ist Santa María am Fluss gelegen, "[e]l médico vive en Santa María, junto al río." (VB I, cap. II, 429, eig. Hervorh) 6 . In "La novia robada" ist Santa María die enge Heimat der Protagonistin Moncha, Dorf und Kirche in einem, in die sich "La Moncha Insurralde o Insaurralde" (NRo, 181) einsperrt. 7 Santa María stellt hier eine Rekonstruktion des Bücherzimmers von Don Quijote dar, in dem er eine kleine Bibliothek des Siglo de Oro sammelt. Nach seinem ersten Ausritt und gescheiterten Abenteuer wird das Zimmer von Dorfbewohnern vermauert. 8 In diesem, einem unzugänglichen literarischen Gedächtnis erinnernden Santa María wird Moncha geboren und stirbt auch dort. Auch sie machte eine Reise, nach Europa, um das Abenteuer des Heiratens zu erleben, das scheiterte und dazu führte, dass die Protagonistin im traditionellen, in der Institution der Ehe verlangten Übergang von einem Mädchen zu einer Frau, in der Verlobung hängen bleiben, und dort zu sterben, um in ihrem Leben alleine in der Phantasie einer Reise nach Europa eine Ausflucht erlebt zu haben. Santa María ist kaum ein topographisch fassbarer Ort, da er aus der Beziehung, aus der Nähe oder aus der Ferne zu anderen Orten beschrieben wird. Santa María ist von Buenos Aires mit dem Zug erreichbar, dagegen liegt er unerreichbar zu "Esbjerg, en la costa" (1946), dann ist die Strecke ein anderes Mal wieder auf einem Fußweg von der 63 Onettis Santa María. Von der Seeflotte zur Allerweltstadt 9 Gustavo San Román, op. cit., p. 108. 10 Eine thematische Zusammenstellung des Kosmos Santa María liegt seit 1974 vor und be‐ zieht das Spätwerk nicht mit ein. Cf. Jorge Ruffinelli, op. cit. Es wurden mehrere Versuche unternommen, Santa María topographisch zu bestimmen und es als polyphonen Ort zu definieren, dann wieder den Utopien respektive Dystopien zuzuordnen. In diesem Zusam‐ menhang cf. Diego Fernando Hernández Arias, op. cit.; Daniel Orizaga, op. cit.; Eduardo Becerra, op. cit. 11 Mit der Beschreibung von konkreten, transitorischen Plätzen, exemplarisch der Pariser Métro, wurde ethnographisch von Marc Augé begonnen, der die Ortlosigkeit ausdrück‐ lich terminologisch betont: Cf. id.: op. cit. Auch der Vorschlag von Michel Foucault, über die Funktionalitäten von Orten als espaces autres nachzudenken, ist begrifflich sensibel, insofern der lieu, der 'Ort' oder der 'Raum', als abgeschlossene, unbeweglich denotierte Konzepte, ersetzt werden durch espaces, die, im Plural und semantisch, sowohl eine Denotation der Vielfalt wie die Leere und Offenheit eines Zwischenraumes in Anspruch nehmen. Cf. id., op. cit. Der neologistische Terminus der 'Deterritorialisierung' geht auf Gilles Deleuze und Félix Guattari zurück, die ihn jedoch nicht Orten zugeschrieben, sondern eine solche als Möglichkeit des Agierens und der Bewegung von Subjekten festgehalten hatten. Cf. id., op. cit. "colonia suiza" (VB I, cap. II, 429) aus zu bewältigen: "[e]n los bordes de Santa María está La Colonia, probablemente de suizos" 9 . Santa María ist als Ort schließlich kaum zu fassen, auch nicht als Utopie markierbar 10 . Die Semantik der Namensgebung spielt dafür eine eminente Rolle, die sich einfügt in den symbolischen und intertextuellen Charakter vieler Eigennamen, die Onetti seinen Figuren und Schauplätzen gegeben hatte, ob Díaz Grey, Gertrudis und Julio Stein oder Moncha. Je mehr Bruchstücke, Nachrichten und Eigenschaften über Santa María der Leser in einer Collage seiner Lektüren zusammenzusetzen vermag, desto un‐ deutlicher wird die Gesamtgestalt eines Ortes. Vielmehr gerät Santa María zur Bezeichnung einer Ortlosigkeit und transición, die sich nicht in Terminologien des Raumes fassen lässt, da sie mehr auf solche der Bewegung, der Heterotopie und der Deterritorialisierung angewiesen ist. 11 III. Die Santa María als eines der drei Schiffe der Flotte der Seefahrer, die mit Cris‐ tóbal Colón, Vicente und Martín Alonso Pinzón zur Entdeckung einer Route nach Ostasien im Sommer 1492 aufgebrochen waren, ist kulturgeschichtlich in Vergessenheit geraten und überdeckt worden von der Beständigkeit der un‐ übersichtlichen Vielzahl lateinamerikanischer Ortschaften, die als Allerwelts‐ städte aus dem kolonialistischen Gründerwahn hervorgegangen waren. Juan Carlos Onetti erinnert mit seinem Santa María an diese historische Überfahrt 64 Eva Erdmann 12 Cf. Bartolomé de las Casas, op. cit. 13 Cf. Wolfram zu Mondfeld / Peter Holz / Johannes Soyener, op. cit. über das Meer und an das Schiff, auf dem die Diarios de a borde  12 geschrieben wurden, in welchen Kolumbus den reyes católicos Bericht erstattete über die täglich neue Ungewissheit seiner Reise, ganz ohne die notwendige Täuschung seiner Mannschaft über eine bald planlose Navigation und seine Ahnungslo‐ sigkeit, ein Ziel zu erreichen, zu verheimlichen. Ganz wie die Täuschung seiner Leser dem Autor und Erzähler Onetti und seinem in der Fiktion eingesetzten Akronym "J.C.O." (NRo, 181) ein Vergnügen scheint, entspricht die Zerstörung des fiktiven Santa María in der Feuersbrunst in Déjemos hablar al viento (1979) dem historischen Schicksal der Santa María, die als Karavelle zwar akribisch festgehalten, gleichwohl allein in graphischen Rekonstruktionen auf der Grund‐ lage von historischen Dokumenten überliefert ist. 13 Dass die cuentos Onettis sich auch aus einer ausschließlich nostalgischen Pers‐ pektive auf die Seefahrten dieser legendären Flotte erschließen lassen - aus der imaginierten Erinnerung an einen vermeintlich letzten präkolonialen Moment - kann durch eine Lektüre von La muerte y la niña (1973) unterstützt werden. Gibt der Leser der titelgebenden niña eine Majuskel, so wird auch dieses, bald vom Ehepaar Goerdel und Hauser ungewollte, bald an die vermeintliche Tochter von Díaz Grey erinnernde Mädchen, als Name und Teil der Flotte einer Seereise, an der keine Frauen beteiligt waren, ins Gedächtnis gerufen. In dem Versuch, Orte und Geographien zu entfestigen, diese mit Figuren zu verkoppeln - das niña-Mädchen in das Niña-Schiff zurück zu verwandeln und Santa María neu auf das Meer zu verlagern - und loci universal miteinander zu verbinden, um ihnen eine Dynamik zu verschaffen, beruht die singuläre Origi‐ nalität der Texte von Onetti, auch wenn es in der Literatur Werke gibt, die eine vergleichbare Motivik darstellen. Eine ähnliche Auflösung gewohnter, topogra‐ phisch bestimmbarer Festsetzungen von Orten - einhergehend mit der Be‐ schreibung von Exilen, Migrationen und der schwer erreichbaren Möglichkeit von Sesshaftigkeit zeigte der Roman von Anna Seghers, einer zeitgenössischen Autorin von Juan Carlos Onetti. Auch in ihrem in den 1940er Jahren verfassten Roman Transit wird der Schauplatz der Handlung, Marseille, an dem die not‐ wendige Flucht aus Deutschland und Frankreich zunächst stockt, um über das Meer nach Lateinamerika zu gelangen, bereits auf dem Landweg als unbefestigt flottierendes Territorium beschrieben. Die in Marseille täglich zahlreicher ein‐ treffenden Emigranten, die in Transit zusammenkommen und sich von diesem äußersten Randstück Europas ohne gültige Papiere erst einmal nicht weiterbe‐ wegen können, insbesondere die Ich-Erzählerin, erfahren die Stadt bereits als 65 Onettis Santa María. Von der Seeflotte zur Allerweltstadt 14 Anna Seghers, op. cit., pp. 50 sq. Bemerkenswert an diesem Roman ist sowohl seine Publikationswie Rezeptionsgeschichte. Das Werk von Anna Seghers, Mitglied der SED und der Akademie der Künste in der 1949 gegründeten DDR, ging nicht in den Kanon der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur ein und wurde neben den Werken von Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, der Gruppe 47 und Ingeborg Bachmann nicht re‐ zipiert. Verfasst wurde Transit auf der Flucht der Autorin und erschien zuerst im Exil, 1944 in Mexiko und in den USA. Es folgten Übersetzungen in weitere europäische Sprachen und schließlich die Erstpublikation in Deutschland 1948. 2018 wurde Transit von Christian Petzold verfilmt. 15 Cf. David Abulafia, op. cit., p. 21. 16 Ibid. 17 Es handelt sich bei "La barque ouverte" um das einleitende erste Kapitel des dritten Bandes der Poetik-Reihe des Dichters und Literaturtheoretikers, in dem er ein "savoir de la Relation", eine Poetik des 'Wissens des Verhältnisses', vorschlägt, dessen archety‐ pischer Gesang und Schrei an die Verschiffung der Sklaven von Afrika nach Amerika erinnert. Cf. Édouard Glissant, op. cit., p. 20. Nach dem Krieg der Griechen in Troja ist die Rückkehr des Odysseus in der Ilias im Wesentlichen als eine Abenteuer- und See‐ fahrergeschichte lesbar, cf. Homer, op. cit. das Meer, auf dem man sich bewegt und einer Orientierungslosigkeit ausgesetzt ist. Ihre Wahrnehmung und die Ortlosigkeit der Protagonisten geht auf die To‐ pographie über. Ich hatte selbst beim Einschlafen die Empfindung, auf einem Schiff zu sein, nicht, weil ich soviel von Schiffen gehört hatte oder eins benutzen wollte, sondern weil ich mich schwindlig und elend fühlte in einem Gewoge von Eindrücken und Empfindungen, die ich keine Kraft mehr hatte, mir zu erklären. Auch drang von allen Seiten ein Lärm auf mich ein, als schliefe ich auf einer glitschigen Planke inmitten einer betrunkenen Mannschaft. Ich hörte Gepäckstücke rollen und krachen, als lägen sie schlecht ver‐ wahrt im Lagerraum eines vom Meer geschüttelten Schiffes. 14 In reziproker Weise wird das Mittelmeer in jüngeren Studien als ein von Ländern verschiedener Kulturen begrenzter und abgeschlossener Raum erforscht und entsprechend wird, in einer expliziten Unterscheidung von der Thematik der "Mittelmeerkulturen" oder der "Welt des Mittelmeers", von einem "Mittelmeer‐ raum" gesprochen. 15 So definiert David Abulafia seine Studie zum Mittelmeer als eine "vertikale Geschichte des Mittelmeers" 16 und beginnt sie mit der aus‐ führlichen Erinnerung an die mannigfaltigen Namen, mit denen es in den ver‐ schiedenen Ländern und durch verschiedene Epochen bezeichnet wurde. Édouard Glissant schlug in einer Poétique de la Relation als poetisches Konzept eine barque ouverte vor, welche das Meer zum genuinen locus poeticus macht und damit an das Homerische Epos anschließt. 17 Die Beweglichkeit von Orten mitsamt den Phantasien der Einheimischen bestätigt zuletzt die Werkbiographie von Juan Carlos Onetti leibhaftig, der Santa María in einer Art von Reimport 66 Eva Erdmann 18 Cf. Friedrich Ani, op. cit., p. 4. der heiligen katholischen Conquista im 20. Jahrhundert nach Madrid zurück‐ führte, in das er 1975 vor der lateinamerikanischen Diktatur floh. So bemerkte Friedrich Ani in einer Rezension zu einer Hommage von Mario Vargas Llosa auf Onetti treffend, dass, als der Autor der Militärdiktatur in Uru‐ guay den Rücken gekehrt hatte und nach Madrid übersiedelte, seine fiktiven Protagonisten, die Sanmarianer, ihm gleichwohl bis zu seinem letzten Roman treu blieben. 18 Friedrich Ani nutzte seinerseits für seine Prosa in einer Erzählung in einem mimetisch den cuentos von Onetti nachahmenden Verfahren Santa María als Reiseziel der Unbehausten. Santa María ist kein absolut definierbarer Ort, er wird in den Onetti-Lektüren allein perspektivisch durch seine Zugehö‐ rigkeit bestimmbar. Die über das gesamte Onetti'sche Werk absichtlich willkürliche und mini‐ malisierte Dissemination eines zu imaginierenden Santa María gibt Anlass, über diesen fiktiven Ort als ein Konstrukt der Bewegung und - durch seine Bezüge zu anderen, bald von Europa aus eng benachbarten, bald lateinamerikanischen, bald transkontinentalen Orten - als beständig flottierendes Universum nach‐ zudenken, in dem sich monadisch barocke Gestalten aus verschiedenen Epochen und verschiedenen Zeiten treffen, von verschiedenem Geschlecht und von ver‐ schiedenem Alter, die sich jeweils in einem gemeinsamen Prozess, bald der Ver‐ änderung, bald der Dekomposition, des Verfalls oder des Verschwindens be‐ finden, deren Zeuge der Leser wird. Literaturverzeichnis Primärliteratur Bartolomé de las Casas: Diario del primer y tercer viaje de Cristóbal Colón - Obras com‐ pletas Bd. 14, ed. Consuelo Varela, Madrid: Alianza Editorial 1989. 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Confesión de un asesinato futuro Tiempo e intemporalidad en La muerte y la niña (1973) de Juan Carlos Onetti Gerhard Poppenberg (Heidelberg) Las imágenes de la literatura son imágenes temporales. M. M. Bajtín, Cronotopos En literatura Tiempo se escribe siempre con mayúscula. J. C. Onetti, La muerte y la niña I. El cronotopos, según Bajtín, es un momento determinante de la creación lite‐ raria. El cronotopos literario es una "apropiación" 1 del cronotopos real e histó‐ rico, un 'reflejo' del espacio y del tiempo de la realidad mundana y exterior. Por un lado, esta concepción forma parte de la larga tradición de una concepción mimético-realista de la literatura. Para Bajtín se trata de "ciertas formas del re‐ flejo artístico del cronotopos real" 2 . Por otro lado, las realizaciones literarias configuran una serie de distintos cronotopoi posibles y, así, forman parte de una memoria cultural que transmite elementos históricos de las formas espacio-tem‐ porales que las sociedades humanas vinieron realizando durante el transcurso de su desarrollo, lo que parece insinuar, más bien, una concepción constructi‐ vista y performativa del cronotopos literario. Según Bajtín, "las tradiciones culturales y literarias se guardan en las formas objetivas de la cultura misma - y entre ellos también en las formas del lenguaje -, y en ese sentido son intersubjetivos e interindividuales, o sea sociales" 3 . Estas formas objetivas de la cultura, por consiguiente, son configuraciones de la me‐ 4 Ibid., p. 90. moria cultural, que conservan y transmiten formas cronotópicas conseguidas. En esta perspectiva, las obras literarias son configuraciones de posibles crono‐ topoi que ofrecen figuraciones espacio-temporales posibles y las transmiten a la posterioridad. Estas formas objetivas de la cultura, por un lado, son los géneros literarios en general, por ejemplo la novela; luego, son las formaciones especí‐ ficas dentro de un género dado, por ejemplo la novela de aventuras; y, final‐ mente, son los acuñamientos particulares en forma de obras individuales, por ejemplo la novela de Theagenes y Cariclea de Heliodoro. Bajtín recuerda el hecho importante que la mayor parte de la literatura no se transmitió aucto‐ rialmente, o sea, no queda relacionada a la autoría de un personaje distinto. Aunque es cierto que los géneros y las especies se realizan por medio de una persona, ésta, sin embargo - por lo menos en el mundo antiguo y premoderno -, no actúa como autor. Los géneros y las especies parecen transmitirse por sí mismos como géneros y especies, más o menos independientey colectivamente. El poeta se pone "la máscara de la forma-género" 4 . Esta relación se hace más compleja si el autor actúa realmente como autor. Esto es el caso de la literatura esencialmente moderna, que Bajtín solamente menciona de vez en cuando sin estudiarla detenidamente. Pero, se puede decir, que también el autor moderno se sirve de la "máscara de la forma-género", pero de modo que el individuo 'detrás' de la máscara entra en una interferencia con la máscara. De esta manera, el género o la especie de un cronotopos establecido no sólamente se realiza por medio del poeta, sino la personalidad individual del mismo interviene en la realización del género. A partir del renacimiento, la au‐ toría forma un momento esencial de la forma novelesca. Por eso, la respectiva autoría particular, en la literatura moderna, es un momento importante en la formación y el análisis de los cronotopoi. La relación de Rabelais y Cervantes y, definitivamente, de Goethe o Flaubert, Proust o Kafka, para con sus obras es otra que la de Heliodoro o Apuleyo. Pero, tal vez, tenemos que considerar que en las tradiciones supuestamente anónimas la autoría simplemente en un momento dado ha pasado al olvidado. También ellos, en algún momento del pasado re‐ moto, nacieron individualmente, pero pasaron al inventario colectivo de las formas objetivas de la cultura. De todos modos, en la literatura moderna estas formas objetivas de la cultura están en una tensión esencial con la instancia realizadora particular. Eso es el problema de la autoría que ha engendrado la literatura moderna. El cronotopos fantástico de la literatura consiste en el planteamiento de un espacio de posibilidad; es el tiempo-espacio del futuro, plantea las posibilidades 72 Gerhard Poppenberg 5 Ibid., pp. 76 sq. 6 Ibid., p. 78. 7 Ibid., pp. 78 sq. 8 Ibid., p. 74. aun no formadas de un desarrollo de la cultura humana. Este desarrollo se rest‐ ringe si el cronotopos sólamente se refiere al pasado y al presente o si el futuro se concibe conforme al pasado y al presente o si se imagina un futuro escatoló‐ gico o paradisíaco, o sea un futuro terminado y no abierto. En todos esos casos se extrae al "futuro real" - que es "lo verdadero y lo que debe ser" - "la sustancia y la lozanía". 5 Contra esas realizaciones deficientes Bajtín ve prefigurado en la literatura folclórica y popular algo que llama "un fantástico realista" que no trasciende "los límites del mundo terreno, real y material", sino que utiliza "las amplitudes del espacio y del tiempo" por medio de "las posibilidades verdaderas del desarrollo humano […], de las posibilidades de la necesidad y del deseo de la naturaleza real del ser humano" 6 , para ampliar y desarrollar aun más esas mismas amplitudes del espacio y del tiempo que son "tan reales como es real la naturaleza del hombre". 7 De este modo se da el espacio-tiempo objetivo y real, pero no como categorías trascendentales a priori en el sentido kantiano, sino como categorías desarrol‐ lándose históricamente y a posteriori. Eso pasa por medio de la literatura y su historia como formación del fantástico realista. Las realizaciones de los distintos cronotopoi literarios forman la realidad del espacio y del tiempo y, de esta ma‐ nera, alcanzan su propia realidad. Eso conduce a una ontología no trascendental e ideal, sino histórica y fantástica. - En esta perspectiva el espacio euclídico con su tiempo cronológico y los espacios no euclídicos o el tiempo espacio de la teoría de la relatividad y de la física cuántica, también son planteamientos de cronotopoi. Así que la literatura y las ciencias llamadas exactas andarían de pareja y se complementarían inventando nuevos cronotopoi posibles de modo que también la metafísica se transforma, según la famosa frase de Borges, en una rama de la literatura fantástica, de lo fantástico real. "[L]as imágenes de la literatura son imágenes temporales" 8 . Así que el cro‐ notopos es la forma específica de la imagen novelesca; la imagen temporal es una configuración dinámica que hace de la novela algo más de lo que es la co‐ municación de una información. Para Bajtín, el cronotopos del mundo repre‐ sentado en el texto es reflejo mimético del cronotopos del mundo real. Pero si Bajtín compara la relación de los dos cronotopoi con el intercambio incesante del metabolismo que se produce entre un organismo y su entorno, esta imagen insinua otra interpretación. El organismo no es un reflejo de su entorno, ni mucho menos; más bien se puede decir que el organismo se organiza, se confi‐ 73 Confesión de un asesinato futuro 9 Cf. ibid., p. 192. gura por intercambio con su entorno pero según sus propias leyes. El mimetismo del organismo no es él del reflejo sino él de la interpretación y del trabajo. De la misma manera, "la vida particular de la obra" consiste en el intercambio entre la obra y el mundo. 9 Hay tiempo, el tiempo se realiza porque los hombres tienen una constitición cronotópica. El tiempo se realiza porque los hombres son ca‐ paces de transformar el mundo en obra. La obra es el suplemento del mundo. Así que, finalmente, el cronotopos significa realizar el tiempo. Y el medio de percibir y representar el tiempo es la imagen temporal por ejemplo de la novela. Bajtín distingue varios cronotopoi ya realizados: el camino, la calle, la región, el castillo, la casa; también son cronotopoi en este sentido el mediterraneo de la novela de aventuras de la antigüedad, la Arcadia de la literatura bucólica, la Mancha del Don Quijote o el Paris de la Comédie humaine o de la Recherche du temps perdu. Se puede avanzar esta fenomenología cronotópica estableciendo un nivel de la creación literaria que desde un principio toma en cuenta el mismo hecho de que esos cronotopoi son y siempre fueron creaciones ficticias que - aunque se vinieron creando a partir de la realidad mundana - desde el momento de la creación se fueron configurando según leyes propias, estableciendo su propia topología y cronología. Eso conduce a creaciones puramente ficticias como el Middle-earth de Tolkien o los mundos extraterrestres de la ciencia fic‐ ción etc. Pero también conduce a creaciones como la ciudad de Santa María de Onetti, que - como antes el Jefferson de Faulkner y después el Macondo de García Márquez o el Región de Benet - son creaciones puramente ficticias y fantásticas con una pinta de verosimilitud, pero sin una intención mimético-re‐ alista; no reflejan ninguna realidad precisa e histórica. Estas creaciones - Onetti las llama demiúrgicas - son al mismo tiempo re‐ flexiones sobre el hecho mismo de crear mundos fantásticos y demiúrgicos; sobre las condiciones de posibilidad de mundos ficticios. Son reflexiones meta‐ ficcionales. Y si, según Bajtín, el cronotopos es un, quizas él momento determi‐ nante de la literatura, también y sobre todo son reflexiones sobre el carácter cronotópico de la literatura. Por eso, las novelas de Faulkner y Onetti, de García Márquez y Benet, además de ser novelas narrando una historia, son tantas re‐ flexiones sobre la temporalidad del tiempo, sobre las estructuras del espacio y del tiempo. Con lo que sigue quiero presentar un esbozo del cronotopos san‐ mariano de Onetti a partir de una novela corta del último Onetti que se fue aventurando cada vez más en las leyes propias de los salvajes mundos fantás‐ ticos; leyes que a primera vista puedan parecer anárquicas y arbitrarias, care‐ 74 Gerhard Poppenberg ciendo de todo carácter de ley, pero que, miradas más detenidamente, se revelan obedeciendo a otros árbitros con otras leyes. II. La novela corta La muerte y la niña, publicada en 1973, forma parte del ciclo de Santa María de Onetti. La historia narrada se puede resumir de esta manera: Arturo Goerdel visita al doctor Díaz Grey y le confiesa que tendrá que matar a su mujer, Helga Hauser, porque esa, según el diagnóstico de varios médicos, no sobrevivirá el nacimiento de otro hijo. Y como, por razones religiosas, la pareja no puede tomar medidas contraceptivas y no quiere renunciar a las relaciones sexuales, la muerte de la mujer es inevitable. Arturo Goerdel nació en el mismo año que la colonia suiza fue fundada en el término municipal de Santa María, pero aparentemente no junto con ella; sin embargo, la fundación de la colonia suiza se asocia al principio de la América moderna, puesto que la nave con el que los europeos vinieron a Santa María lleva el nombre de Flor de Mayo / Mayflower. El padre Bergner, cuyos padres también pertenecen a la generación de los fundadores, habiá 'elegido' al joven Goerdel para darle una formación particular. En la escuela afiliada a la iglesia de Santa María se le prepara al seminario, pero Goerdel, en vez de hacerse sacerdote, estudia derecho y se hace abogado. El padre Bergner, también, ha iniciado el matrimonio de Arturo Goerdel y Helga Hauser. Después de la muerte de la mujer, Jorge Malabia, editor del periódico local El Liberal, visita al médico y le anuncia que él con algunos de sus amigos quieren matar al asesino de su mujer. Goerdel huye y desaparece de Santa María. Después de varios años regresa por primera vez porque tiene un sueño noc‐ turno incesantemente repetido en el que su difunta mujer le enseña una chica de Santa María. Para Goerdel, el sueño significa que debe contraer matrimonio con la chica lo que el padre Bergner vuelva a iniciar, pero esta vez, aparente‐ mente, sin éxito. Años más tarde, en la década de los sesenta, Goerdel vuelve otra vez a Santa María. Vive como sacerdote falso en le República Democrática de Alemania donde tiene otros hijos ya mayores con otra mujer. Les presenta a Jorge Malabia y al doctor Díaz Grey copias de cartas que comprueban que él no fue el padre del niño que provocó la muerte de su mujer, de modo que él no es culpable de la muerte de su mujer. Malabia y Díaz Grey ponen en duda la fuerza probatoria de las copias de las cartas. Díaz Grey, Jorge Malabia y el padre Bergner ya en novelas anteriores tienen papeles principales. Arturo Goerdel y Helga Hauser aparecen solamente en La muerte y la niña. Díaz Grey es la primera 'criatura' que Juan María Brausen - el 75 Confesión de un asesinato futuro protagonista de la novela La vida breve - hace aparecer en la novela en la ciudad de Santa María inventada, creada o fundada por él. Santa María, por consigui‐ ente, es una creación ficticia de la imaginación de un personaje que, a su vez, forma parte de una creación ficticia que es la novela La vida breve de Juan Carlos Onetti. Esa creación de la imaginación, al final de la novela La vida breve, ha cobrado tanta realidad que Brausen puede viajar de Buenos Aires a Santa María y que las siguientes novelas onettianas casi todos tienen lugar en esta realidad ficticia de potencia segunda. Este carácter de una ficción de orden segundo se ve también por el hecho de que, en un principio ya en La vida breve Díaz Grey y, más tarde, muchos de los ciudadanos de Santa María tienen una conciencia más o menos clara de su ser de criatura refiriéndose una y otra vez al fundador de Santa María al que han erigido en la plaza central una estatua ecuestre, y, lo que es más, al que invocan como a una instancia que trasciende y sustenta su propia realidad sanmariana. Díaz Grey, ya en La vida breve, tiene conciencia de su ser irreal. Y esta con‐ ciencia de ser un être de papier, un ser ficticio procedido de la fantasía de Brausen va creciendo cada vez más. Y en la novela corta La muerte y la niña esta con‐ ciencia, en cierta manera, se convierte en el contenido conceptual. Por eso, a Brausen se le llama expresamente demiurgo que, a su vez, es la criatura de otro Brausen "más alto, un poco más verdadero" (MN, "Capítulo segundo", 590). Con eso, se entra en un regreso que tiende a ser infinito: Díaz Grey es criatura de Brausen que, a su vez es criatura de otro Brausen que también es criatura etc. Esa estructura recuerda la película Welt am Draht de Rainer Werner Fassbinder del mismo año 1973 - basada en la novela Simulacron-3 de Daniel F. Galouye de 1964 - y el cuento de Borges "Las ruinas circulares". A partir de La vida breve, Onetti repetidas veces ha recurrido a esta figura de pensamiento de una simu‐ lación o ficción potenciada para investigar las leyes propias de la realidad ficticia. En La muerte y la niña el tema principal es la estructura temporal de la ficción. El problema de la constitución temporal de una creación ficticia se plantea a partir del - en este caso también ficticio - creador Juan María Brausen al que, por consiguiente, siendo mero ser de papel, se le concibe desde su propia nulidad y nadería. Pero, eso se hace invocándole por una réplica al Padre nuestro cris‐ tiano: "Brausen nuestro que estás en la nada" (MN, "Capítulo primero", 585). Así, se abre un campo en el que el problema de la ficción se correlaciona con él de la religión. Si el creador-demiúrgo de Santa María es un ser ubicado en la nada, entonces, su creación, también, debe ser una de la nada, ex nihilo. Con eso, se continúa la réplica paródica al mundo de ideas y a la ontología judeo-cristiana según la cual la creación del mundo, también, se realizó por la palabra y desde la nada. Y, 76 Gerhard Poppenberg 10 Omar Prego / María Angélica Petit, op. cit. precisamente, con este mundo real del dios-creador verdadero compite cada demiúrgo y se convierte, en el campo de la creación, en antidios. De esta manera el poeta está en la tradición de los demiúrgos gnósticos y su obra, también, es un mundo opuesto / un contramundo imperfecto y ruin, un espacio gnóstico en esta tradición. Por consiguiente, esta alusión no significa tanto una concepción gnóstica del mundo sino, más bien, de la literatura. La creación del arte es un simulacro demiúrgico. Repetidas veces se ha mencionado la trama religiosas en el texto de Onetti. En una entrevista Onetti dijo: "Creo que existe una profunda desolación a partir de la ausencia de Dios. El hombre debe crearse ficciones religiosas" 10 . El esc‐ ritor-demiúrgo no quiere y no puede suplantar al Dios creador sino que tiene que suplir su ausencia. Pero con eso, el problema ontológico de esta creación no se disminuye. La creación desde la nada se convierte en suplemento de la nada. Si el Dios creador judeo-cristiano habla, su palabra se hace real, mientras que la palabra del escritor-demiúrgo queda idioma y escritura. Dios habla y la cosa es un ser real; el escritor escribe y la cosa está escrita, un ser de papel. Y Brausen, él mismo ya un ser ficticio, es la instancia, el demiúrgo que hace de Santa María una creación artificiosa, un producto de su fantasía. Por eso, Santa María, desde un principio, es un cronotopos metapoético y, quizas, el cronotopos de la fantasía misma. Y como se trata de la fundación de una ciudad cuya historia y la de sus ciudadanos se narra, es al mismo tiempo una reflexión sobre el tiempo. "Que el tiempo no existe por sí mismo es demostrable; es hijo del movimiento y si éste dejará de moverse no tendríamos tiempo ni desgaste ni principios ni finales. En literatura Tiempo se escribe siempre con mayúscula" (MN, "Capítulo tercero", 592). Eso significa, en primer lugar, que el tiempo, en cierta manera, es protagonista, sujeto y contenido conceptual de la literatura; literatura es una forma de tratar sobre la esencia del tiempo. Si el tiempo es hijo del movimiento, en el cronotopos de la literatura tiene que pasar según el desarrollo de sus per‐ sonajes. Díaz Grey, acerca de eso, hace una observación importante. Reflexio‐ nando sobre sí mismo y sobre su edad empieza a tener dudas: "Brausen puede haberme hecho nacer en Santa María con treinta o cuarenta años de pasado inexplicable, ignorado para siempre" (MN, "Capítulo segundo", 590). Por eso, es, por un lado, un ser "intemporal, esclavo del sueño de un infeliz paranoico" (MN, "Capítulo séptimo", 610), como Goerdel, también, es "sin tiempo" (MN, "Capítulo undécimo", 625). Esta forma de intemporalidad parece ser esencial para las fi‐ guras en particular y el cronotopos de Santa María en general. Intemporalidad es la constitución del cronotopos literaririo, porque tiene lugar en otra región 77 Confesión de un asesinato futuro 11 Rainer Maria Rilke, op. cit. p. 392, mi traducción. del ser. Por eso, por ejemplo, en un poema de Rilke se dice del lector: "hundió su cara apartándola de un ser a otro segundo […]. Y nosotros que tuvimos horas, / ¿que sabemos cuánto se le consumió hasta que / a duras penas levantó la vista? " 11 Bajtín topa con la intemporalidad en la novela de aventuras; es la forma tem‐ poral de la aventura, que tiene lugar como un paréntesis en curso de la vida de los héroes. Así que la intemporalidad queda articulada con el pasar del tiempo de la vida antes y después de la aventura. Esta articulación del tiempo y la in‐ temporalidad Onetti la traslada a la constitución temporal de la misma Santa María, puesto que la intemporalidad esencial de la ficción, no obstante, permite y exige una sucesión temporal interna que, sin embargo, queda encajada en la intemporalidad esencial. De modo que se da una estructura opuesta a la de la novela de aventuras. O dicho de otra manera: como en Santa María el cronotopos de la literatura misma es el tema, la intemporalidad de la aventura se convierte en su constitución elementaria. El cronotopos literario de Santa María es la aventura. La sucesión temporal y la cronología interna es necesaria porque el proyecto demiúrgico de la ficción, "por respeto a las grandes tradiciones que desea imitar", o sea por la constitución mimética de la ficción tiene que dejar envejecer a los personajes y "también tiene que seguir el monótono ejemplo de los innumerables demiurgos anteriores y ordenar vida y reproducción". (MN, "Capítulo segundo", 590) Pero esta cronología interna no pasa según el calendario ni tiene carácter histórico y no obedece a las leyes de la realidad cotidiana. Es una articulación temporal dentro del reino de la intemporalidad. Pero también yo me sentía cambiado - dice Díaz Grey -. No sólo envejecido por los años que me había impuesto Brausen y que no pueden contarse por el paso de tres‐ cientos sesenta y cinco días. Comprendí desde hace tiempo que una de las formas de su condena incomprensible era haberme traído a su mundo con una edad invariable entre la ambición con tiempo limitado y la desesperanza. Exteriormente, siempre igual, con algunos retoques de canas, arrugas, achaques pasajeros para disimular su propó‐ sito. (MN, "Capítulo quinto", 602) Y en otro lado: No nos estaba permitido envejecer, deformarnos apenas, pero nadie impedía que los años pasaran, señalados con festejos, con el escándalo alegre y repugnante de la in‐ mensa mayoría ruidosa de los que ignoraban -a veces podía creerse en un olvido- que los burócratas de Brausen los habían hecho nacer con una condena a muerte unida a 78 Gerhard Poppenberg cada partida de nacimiento. De manera que arrancar hojas fechadas de las agendas que repartían generosos los laboratorios médicos no pasaba de una costumbre, más o menos simbólica que la de cortar fragmentos de los rollos de papel higiénico. (MN, "Capítulo noveno", 615) Este reino de la intemporalidad no es la eternidad sino el bucle infinito del eterno retorno. En literatura siempre es groundhog day. O, si se prefiere un ejemplo más serio, el cronotopos de la literatura - si nos desatamos de las ingenuidades del realismo mimético - es la isla de La invención de Morel con su reiteración infinita. Díaz Grey es el primer ciudadano de Santa María y por eso la figura prototípica de esa intemporalidad articulada temporalmente que nace de la escritura de la ficción. Para él es el "purgatorio cotidiano" y para su mujer imbécil, Angélica Inés, es el "limbo cotidiano". (MN, "Capítulo quinto", 603) La única forma de eternidad posible es el retorno a la nada de la aniquilación de la que, según una imagen que utiliza Díaz Grey, surge la belleza artística: "Belleza tan eterna y definitiva como aplastar entre las manos una mariposa, una polilla, y observar durante un momento breve el resplandor que sigue al golpe y a la muerte." (MN, ibid., 602) Es una figura emblemática, un concepto verdaderamente lautréa‐ montesco, que configura una constelación entre la belleza eterna y el resplandor de un momento que no es él de la muerte sino él después de la muerte de la mariposa - figura tradicional del alma -, una constelación de la intemporalidad de la eternidad y la temporalidad del momento en el horizonte de la muerte. Según Bajtín, la intemporalidad de la aventura tiene la constitución de lo instantáneo, de lo que pasa de golpe y de improviso. Es la deshora, el destiempo, el tiempo muerto del acontecimiento, del evento epifánico o iniciador, pero también supone un problema que solucionar. El monstruo aparece de improviso, pero el héroe tiene que comportarse y plantearse frente al peligro. Hay un des‐ arrollo temporal dentro del reino de la intemporalidad. En Santa María, la intemporalidad no tiene nada de la aventura epifánica o iniciadora, sino que tiene el carácter de la repetición que no detiene el pasar del tiempo - los personajes cambian, envejecen de alguna manera, pero no verda‐ dera y esencialmente -, que en cierta manera hace imperceptible e intrascend‐ ente, insignificante e irrelevante el pasar del tiempo. La repetición desgasta, descompone y desagrega el tiempo. Esta estructura de repetición se halla, por un lado, en el nivel de la trama. Santa María tanto en las historias narradas como en las actitudes particulares es un mundo de reiteraciones. Pero esta intempo‐ ralidad de la repetición no pertenece solamente a la historia narrada, sino, por otro lado, es un momento esencial de la constitución de la obra de arte. El mundo de Santa María - como todo mundo ficticio y virtual - es un mundo de poten‐ cialmente infinitas - a saber por cada lectura - repeticiones. 79 Confesión de un asesinato futuro A esta intemporalidad de la reiteración por la lectura corresponde en el nivel de la escritura la intemporalidad de la concepción de la trama que tiene una dimensión futura. La concepción en cuanto concepción está fuera del tiempo. Tiene previsto un futuro que, sin embargo, solamente se configura efectuando la trama. Por eso, La muerte y la niña, como investigación metaficcional del cronotopos literario es también y sobre todo una investigación del futuro y de la futuridad del futuro. Si el cronotopos literario tiene la constitución temporal de la aventura, debe tener dentro de su intemporalidad esencial al mismo tiempo - como ya indica el nombre de aventura - una dimensión de futura igualmente esencial; la aven‐ tura es advenimiento, el protagonista es advenidizo y los hechos son adventicios. En la novela de Onetti, esta aventura del futuro se trata en distintos niveles. En un nivel particular, la elección del joven Goerdel por el padre Bergner es el planteamiento de un futuro que ejecuta en forma de educación y formación. Goerdel es previsto ser la obra de Bergner que quiere hacer a un hombre a su idea preconcebida. Con eso tocamos el carácter demiúrgico de la educación en general, que, por consiguiente, también es una forma de la obra. La relación entre preceptor y alumno - que, al mismo tiempo, se concibe como la relación entre el padre y el hijo espirituales: "es mi hijo en Dios" (MN, "Capítulo noveno", 617), dice el padre Bergner de Goerdel - en la novela tiene un carácter que puede tener importancia para la relación al futuro en general. La relación entre los dos se caracteriza como mentirosa, astuta e hypócrita. Eligiendo al joven Goerdel, el padre Bergner "simuló estar fabricando un cura, sabiendo siempre que no era ése el destino ni la utilidad de Augusto Goerdel" (MN, "Capítulo tercero", 593). Así, el joven, desde un principio, es un "falso futuro sacerdote" (ibid.); y al final en Berlin oriental, probablemente, termina siendo un verdadero falso sacerdote. Bergner ha elegido al joven por causa de su inteligencia; quiere que algún día futuro le sirva de "su instrumento, su fanático servidor de la Iglesia" (ibid.). La inteligencia del joven, sin embargo, también es la causa de que la obra del padre Bergner se configura de otra manera de lo que había previsto el padre, si no es que fracasa completamente. El joven, por su parte, también ha hecho del padre un instrumento para escapar a la estrechez del mundo de la colonia. Así, desde un principio, existe una interrelación entre la obra y el autor de la obra. Ahora bien - y con eso entramos en la dimensión metapoética de la obra -, el momento decisivo de esta relación es que ambas partes tienen una conciencia clara del proceder estratégicae hipócritamente del otro, de modo que los dos aliados saben que la simulación, la hipocresía y el engaño constituyen la base de de su relación y con eso de la 'obra' que nace de tal pacto entre ellos: 80 Gerhard Poppenberg Tú y yo jugamos a lo mismo durante años. Tú y yo nos respetamos, supimos fingir; cada uno aceptó en la relación, como verdadera, la actitud tramposa y siempre egoísta del otro. En resumen, tú y yo aceptamos mentir, aceptamos la mentira que amparaba el silencio. (MN, "Capítulo cuarto", 598) Y, lo que hace más compleja la relación, esta actitud no solamente implica una conciencia clara de la hipocresía mutua, sino también la simulación de la fe en la sinceridad del otro: "¿Es que tú creíste alguna vez que yo creía tus farsas? ¿Que no supiste desde el principio que yo simulaba creer en ellas… y creer en mis palabras de estímulo y confortación? " (Ibid., 598 sq.) Parece que la hipócresis forma parte integral de la obra en cuanto obra, de modo que no se trata de una reflexión moralista, sino de la concepción de una hipócresis esencial, de la constitución hipocrítica - en el sentido etimológico de la palabra - del futuro, de la diferencia futurológica entre la previsión y lo im‐ previsible de la contingencia, entre la providencia y lo imprevisto de la libertad etc. Lo hipocrítico es la interferencia entre estos dos momentos como constitu‐ ción del futuro y, así, como constitución de la obra. En la medida que la novela establece una correspondencia entre Goerdel y la fundación y formación de la colonia que, a su vez, forma pareja con la misma Santa María, Goerdel se convierte en una figura de la obra en general que es Santa María. Por eso, la historia de Goerdel y de los peronajes relacionados con él se correlaciona incesantemente con el fundador y creador-demiúrgo de Santa María; el nombre de Brausen se menciona más de treinta veces en esta novela corta de poco más de cuarenta páginas. En esta perspectiva, Santa María en su conjunto es obra, la creación demiúrgica de Juan María Brausen, a su vez un ser ficticio. La constitución formal de la ficción dentro de la ficción es la última figuración de lo hipocrítico, la diferencia ficticio-ontológica que como mise en abyme funda - se puede decir, si se piensa en lo abismal de esta fundación - el mundo ficticio en su realidad propia. La obra - así lo insinúa la figura de la mise en abyme - no se configura tanto como interacción entre la fantasía y el mundo, como lo supone Bajtín, sino como interacción dentro de la ficción misma: como interferencia entre dos mentiras, como en la formación del joven Goerdel; como interferencia entre dos mundos ficticios o simulácricos, como en el caso de Brausen y Santa María en el origen de la fundación ficticia. La obra recibe su realidad ontológica si como criatura entra en interacción con su creador, si tiene una 'conciencia' de su ser criatura y de su ficcionalidad, o sea, si engendra y despliega una voluntad propia y, así, una realidad propia. Así, lo hipocrítico de 81 Confesión de un asesinato futuro 12 Cf. Werner Hamacher / Urs Engeler, op. cit. la mise en abyme pone de manifiesto la constitución semontológica - término forjado por Werner Hamacher - de la fantasía y de sus fantasmas. 12 Una muestra bella de esta constitución autoreflexiva de la realidad ficticia es la advertencia de Díaz Grey sobre las enfermedades del joven Goerdel; quien quiere saber algo al respecto puede buscarlo "en los libros de Barthé, boticario" (MN, "Capítulo tercero", 592). De la misma cualidad es la fuerza probatoria de las copias de las cartas, con las que Goerdel quiere probar que no es el padre del hijo en el parto del que murió su mujer. La prueba gira dentro de la supuesta realidad, es una petitio principii. Si Santa María es real, los libros de Barthé son pruebas; si Goerdel es veraz, las cartas son pruebas. Díaz Grey lo valida al parecer definitivamente y con resignación por la fórmula - a su vez autorreflexiva - del Nuevo Testamento, según la cual los muertos tienen que sepultar los muertos. Pero, esta palabra del Cristo es, precisamente, el requerimiento para seguir a Cristo, acto primitivo de la fundación del cristianismo: "Sequere me et dimitte mortuos sepelire mortuos suos." (Mt 8,22) A esta constitución hipocrítico-autorreflexeva de la realidad ficcional se debe el carácter particular de la verdad de esta realidad. Es insignificante, sin import‐ ancia y tiene que ver con el no-saber. La realidad ficcional no contiene nada que se podría calificar con sentido alguno como saber; no produce ningún saber con respecto al mundo. La verdad de la ficción es una forma del no-saber. La expre‐ sión más clara de esta constitución del no-saber se halla en la incesante refe‐ rencia al demiúrgo Brausen. Las cosas pasan "por voluntad de Brausen" (MN, "Capítulo tercero", 592), por la "voluntad insondable de Brausen" (MN, "Capítulo undécimo", 627), Brausen "cumplió su propósito inexplicable para siempre y para nosotros" (MN, "Capítulo quinto", 604), "los caminos de Brausen son insonda‐ bles" (ibid.) para "[l]os fantasmas que inventó e impuso Juan María Brausen" (MN, "Capítulo sexto", 608). El visto bueno de Brausen debió ser motivado por una causa secreta, por un plan que no pudimos comprender hasta que tuvimos nietos. Ni siquiera entender convencidos. Los caminos de Brausen siempre fueron misteriosos para nosotros. (MN, "Capítulo noveno", 615) Esta réplica a las figuras de pensamiento del cristianismo está en el contexto de la problemática mencionada antes del crearse ficciones religiosas. Con todo eso, Onetti, el narrador, Díaz Grey sabe o saben que tal pretensión tiene carácter de locura. Por eso, el mundo de Santa María es calificado como "el sueño de un infeliz paranoico" (MN, "Capítulo séptimo", 610). Lo insondable del no-saber 82 Gerhard Poppenberg tiene - ¿también? , ¿en parte? , ¿en general? - la constitución para-noética de la locura. De modo que, si tenemos que aprender, según la palabra de Borges, que la filosofía y la teología son ramas de la literatura fantástica, también tenemos que hacernos a la idea que la literatura es una rama de la locura/ demencia; o sea, que es una fantasía más o menos simbólicamente configurada y por eso comu‐ nicable intersubjetivamente. Una teoría suficiente de la literatura tendría que distinguir entre lo hipocrítico de la mentira, lo paranoético de la locura y lo metaficcional de la fantasía. La figuración extrema de esta constitución hipocrítica es la articulación de vida y muerte. La muerte es la verdad irreal y la verdadera irrealidad. Para Onetti - como para el joven Schiller - la muerte es el principal, el prinicipio del arte, como ya se vió en el momento del resplandor de la muerte como figura emble‐ mática de belleza. Otro pasaje lo demuestra; es una frase muy larga que, sin embargo, no se concluye como frase: […] Aquel momento verdadero en que uno de los amantes […]. Aquel pasajero, rápi‐ damente olvidado momento en que uno de los dos logra ver, sin propósito, […]. Y ve durante un segundo, adivina y mide la dureza y la audacia de los huesos […]. Cuando uno de los amantes sospecha - una chispa y el olvido - la calavera futura y ya puesta en el mundo, en su vida, del otro amante. […] (MN, "Capítulo segundo", 590) La interferencia de vida y muerte que se configura emblemáticamente en 'la calavera futura' es el sentido más profundo de la dimensión de futuro de la fic‐ ción. O dicho de otra manera: el sentido, la constitución del futuro, la futuridad del futuro está en la muerte, es de comprender a partir de la muerte, lo que cambia la significación del comprender y del sentido. Si la muerte como irre‐ alidad verdadera es la verdad irreal no queda sino el no-saber. Por eso, la frase antes citada no se concluye, queda anacoluto. La confesión por adelantado del asesinato futuro parece dar la estructura de esta figura del no-saber. Pero, la relación entre Arturo Goerdel y su esposa es análoga a la relación entre el demiúrgo Brausen y sus criaturas. También ellos tienen "la calavera futura ya puesta en su vida" porque "los burócratas de Brausen los habían hecho nacer con una condena a muerte unida a cada partida de na‐ cimiento" (MN, "Capítulo noveno", 615). Y la comprensión de este hecho es el momento verdadero. Eso es la estructura del futuro y con eso de la ficción, del cronotopos literario que por eso, no puede ser mimético en un sentido realista, sino, solamente, en un sentido conceptual. El hecho de que hay futuro y que éste es limitado, la novela lo concibe como asesinato. De este modo, se convierte en una novela policíaca, pero de carácter metafísico. Investigando la realidad on‐ tológica de los mundos demiúrgicos Onetti, también tiene que abordar el fin 83 Confesión de un asesinato futuro posible de ellos. Siendo la obra del demiúrgo, este se convierte en asesino. El Unamuno de Niebla le había precedido en esto. Si Goerdel hace la confesión del asesinato futuro, plantea la trama de una historia en la que, tal vez, incluye también a Brausen: Y es posible que noche a noche, llorando y de rodillas, rece a Padre Brausen que estás en la Nada para hacerlo cómplice obligado, para enredarlo en su trama, sin necesidad verdadera, por un oscuro deseo de remate artístico. (MN, "Capítulo primero", 585) Como el asesinato anunciado es una trama que exige un remate artístico, lo que hace de él un aspecto de la obra, Goerdel quiere hacer de Brausen un cómplice. De modo que la estructura temporal de este futuro anunciado, previsto pero imprevisible, debe dar a entender algo sobre la estructura temporal de la obra. La novela correlaciona la estructura temporal de la obra con la paternidad que se tematiza en distintas formas. Goerdel es el padre putativo de un hijo en cuyo nacimiento la madre se muere - y cuyo verdadero padre, posiblemente, es otro, el amante adúltero de la mujer, lo que hace más complejo el problema de la paternidad y de la obra. El padre Bergner es el padre espiritual de Goerdel y de los parroquianons de Santa María. El doctor Díaz Grey tiene una hija que abandonó a los tres años de su edad y que conoce solamente de fotografías. Jorge Malabia que en su juventud tuvo una relación problemática con su padre, ha entrado en la posición del padre siendo el jefe del periódico local fundado por su padre. Y encima de todo está flotando Brausen - "sigue en las nubes mane‐ jándonos desde el cielo" (MN, "Capítulo undécimo", 623) - el padre demiúrgico de Santa María al que se invoca por la réplica al Padre Nuestro cristiano como "Padre Brausen que estás en la nada" (MN, "Capítulo primero", 585). Así, la pa‐ ternidad y la autoría, el engendrar un hijo y una obra, entran en una constelación en el horizonte del futuro, lo que daría lugar a otras reflexiones bastante com‐ plejas. Por eso, termino con mi exposición dejando mi comentario en forma de anacoluto. Bibliografía Onetti, Juan Carlos: La muerte y la niña [MN], in: Id.: Obras completas vol. 2 - Novelas II (1959-1993), ed. Hortensia Campanella, Prólogo de José Manuel Caballero Bonald, Barcelona: Galaxia Gutenberg / Círculo de Lectores 2009 [1973], pp. 581-631. 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Das können sowohl öffentliche, wie schäbige Pensions- oder Hotelzimmer sein, als auch private, wie Appartements oder häusliche Enklaven. Allen diesen Zimmern ist jedoch gemein, dass ihre spezifische Räumlichkeit weit über eine rein ornamentale Funktion als Handlungs- oder Spielort hinausweist. Stattdessen, so werde ich in vorliegendem Beitrag zeigen, tritt der Raum als eigenständiger Akteur in Interaktion mit den Figuren. Diese Annahme beruht auf der Theorie des sozialen Raums nach Henri Lefebvre, gemäß derer Raum sich einerseits durch Figurenhandlungen konstituiert und gleichzeitig auch aktiv diese Handlungen prägt. 1 Besonders augenfällig wird die Interaktion zwi‐ schen Raum und Figuren in der Aushandlung männlicher Identitätsproblema‐ tiken, welche die Frau in ihrer Funktion als "Katalysator[…] für die Prozesse männlicher Bewusstwerdung" 2 oft nicht überlebt. Am Beispiel des Apparte‐ ments der Prostituierten Queca in La vida breve (1950) werde ich nun zunächst nachzeichnen, wie die Interaktion zwischen Raum und männlichem Subjekt im Text konstruiert wird. Daran anschließend stellt sich die Frage, inwiefern die Aushandlung männlicher Identitätsprozesse, insofern sie Gewalt gegen Frauen als konstitutives Moment beinhaltet, auch eine gesellschaftliche Dimension ent‐ 3 Wirkungsmächtigst insofern, da Brausen ausgehend von der Figur des Doktor Díaz Grey das metafiktive Santa María entwickelt, welches zum narrativen Zentrum (fast) aller nachfolgenden Erzählungen Onettis wird. 4 Cf. Florian Baranyi in diesem Band. 5 Cf. Andrea Mahlendorff, op. cit., Zitate pp. 247, 255, 251. 6 Auf den insgesamt, d. h. auf die Poetologie des Gesamtwerks bezogenen, paradigmati‐ schen Charakter dieses Romans verweisen u. a. María Angélica Petit / Omar Prego, op. cit., pp. 31-35; Rocío Antúnez: Juan Carlos Onetti - Caprichos con ciudades, p. 13; Josefina Ludmer, op. cit., p. 10; Elisabeth Rivero, op. cit., p. 212 oder Mark Millington: "[…] El pozo can be seen as a dramatized artistic manifesto." (Id.: Reading Onetti - Language, Narrative and the Subject, p. 11) faltet und das moderne Patriarchat, durch die Etablierung spezifischer Vorstel‐ lungen von Männlichkeit, deren letale Folgen für die Frauen banalisiert. Bei dem gewählten Textbeispiel handelt es sich um einen Teil der poeto‐ logisch wirkmächtigsten Verknüpfungen zwischen Raum und Figuren 3 in Onettis Gesamtwerk. Diese bestehen in der doppelten Aufspaltung Juan María Brausens in seine zwei Alter Egos Díaz Grey und Juan María Arce. Jeder dieser drei Figuren wird dabei eine spezifische Räumlichkeit zuge‐ ordnet. Juan María Brausens Appartement, das er zusammen mit seiner Ehe‐ frau Gertrudis in Buenos Aires bewohnt, wird darin zum zentralen Ort, ei‐ nerseits der Fiktionserzeugung und andererseits der Lüge, wie Florian Baranyi in seinem Beitrag in diesem Band analysiert. 4 Das heißt, in seinem Appartement, dem "Raum des Alltäglichen" im Bett liegend, erfindet Brausen zum einen mit Santa María einen "Raum der Imagination" und zum anderen konstruiert er sich in Gedanken aus Gesprächsfetzen, die er durch die dünne Wand wahrnimmt, den "Raum des Nebenan". 5 Bevor ich mich ganz meinem Beispiel, dem Raum des Nebenan, zuwende, seien jedoch noch einige grundsätzliche Vorbemerkungen zur Raumfigur des Zim‐ mers bei Onetti und anhand dessen zum Heterotopie-Begriff nach Focault ge‐ stattet. So verleiht die räumliche Reduktion auf ein einziges Zimmer vielen Er‐ zählungen Onettis einen spezifischen Kammerspielcharakter. Handlung wird darin nicht unmittelbar, sondern mittelbar, in Ana- oder Metalepsen geschildert. Als paradigmatisch für diese räumliche Enge kann Eladio Linaceros Pensions‐ zimmer in Onettis Erstlingsroman El pozo gelesen werden. In diesem kurzen Text aus dem Jahr 1939 formuliert Onetti die poetologischen Grundlagen seines gesamten nachfolgenden Werks. 6 Der 40-jährige Ich-Erzähler Eladio Linacero schildert darin, in kaum 24 Stunden Erzählzeit, nichts weniger als seine Me‐ moiren, eingeschlossen seiner immer wiederkehrenden Tag- und Albträume. Das Zimmer bildet seinen physischen Rückzugsort innerhalb eines entfrem‐ deten Großstadtszenarios, und die Flucht in die eigene Imagination wird zur 88 Johanna Vocht 7 Cf. Rosalba Campra, op. cit. Zu einem vergleichbaren Schluss bezüglich des Metropo‐ lenbildes bei Onetti gelangen außerdem Rocío Antúnez: "El pozo y Tierra de nadie - historias de dos ciudades", pp. 169-184; Ead: Juan Carlos Onetti - Caprichos con ciud‐ ades; Christina Komi, op. cit. und Andrea Mahlendorff, op. cit. 8 Cf. Christina Komi, op. cit., p. 249. 9 James Cliffords Konzept der 'Traveling Cultures' aufgreifend, liest Elisabeth Rivero El pozo als "novela de viaje" (Ead., op. cit., p. 212). An deren Ende stehe eine "idea de co‐ munidad maleable, moldeada por la fuga territorial y el ingreso de flujos comunicaci‐ onales transnacionales." (Ibid., p. 218) 10 Michel Foucault, op. cit., p. 320. 11 Ibid. 12 Cf. Elisabeth Rivero, op. cit., p. 216. Flucht vor dem rasant wachsenden, alles verschlingenden und das Individuum korrumpierenden Großstadtdschungel. 7 Ähnlich wie im Erzählwerk Roberto Arlts werden auch bei Onetti die Großstädte Montevideo und Buenos Aires als hypertrophe Gebilde dargestellt, vor deren Unübersichtlichkeit und Anonymität die Bewohner entweder die Flucht nach vorne, in Gewalt und Kriminalität (Arlt) oder den Rückzug in soziale Randbereiche, in die persönliche Resignation und die Fiktion (Onetti), antreten. 8 Innerhalb der spärlich eingerichteten, schäbigen Großstadtenklave überwindet Linacero also die Grenzen der urbanen Realität, indem er Reisen in die Wildnis Alaskas als Teil seiner Biographie imaginiert. 9 Die Einsamkeit Alaskas wird als Gegenentwurf zur Unübersichtlichkeit und Enge der Metropole konzipiert. Am Ende der Nacht, welche mit dem Ende des Romans korrespondiert, beschließt Linacero seine "extraordinarias confesiones" (PZ 31) - ohne währenddessen sein Zimmer auch nur ein einziges Mal verlassen zu haben. Die Erzählinstanz bleibt damit statisch an einen einzigen Ort ge‐ bunden, von dem aus die imaginäre Topographie des Kurzromans seinen Aus‐ gang nimmt. In der Terminologie Michel Foucaults markiert Linaceros Zimmer einen "ge‐ schlossene[n] Ruhepl[a]tz[…]" und Alaska in den Erzählungen Linaceros einen utopischen Ort, d. h. einen "Ort[…] ohne realen Ort" 10 . Linaceros imaginiertes Alaska steht damit "in einem […] entgegengesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft". 11 Linacero setzt der menschenüberfüllten Enge der lateinamerikanischen Metropole und der unerträglichen Schwüle seines Zimmers die menschenleere landschaftliche Weite und dünne Besiedelung der verschneiten nordamerikanischen Wildnis entgegen. Linaceros sozialer Außen‐ seiterposition in Montevideo steht dessen Zugehörigkeitsgefühl in Klondike gegenüber. 12 Sie evoziert Abgeschiedenheit und Ursprünglichkeit als Gegenent‐ wurf zum deformierten Großstadtszenario. Sein Zimmer schirmt den Protago‐ 89 Frauen in Zimmern leben gefährlich. Zur Heterotopie im Werk Juan Carlos Onettis 13 Allerdings bleibt anzumerken, dass diese "geschlossene[n] oder auch teilweise ge‐ schlossene[n] Ruheplätze" (Michel Foucault, op. cit., p. 320) bei Onetti die Figuren zwar von der urbanen Realität trennen, dabei jedoch nicht notwendigerweise schützend oder heimelig sein müssen. Auf Linaceros Absteige bezogen, schreibt Elisabeth Rivero: "[…] ese enclave que debería oficiar como hogar y, en ese sentido, como zona de refugio, protección y confort, se desliga del protagonista […]." (Ead., op. cit., p. 213) Die Ein‐ richtung ist völlig heruntergekommen: "[…] se caracteriza por la carencia y el vacío: las sillas no tienen asiento, las ventanas no tienen vidrios y están cubiertas en su lugar por periódicos antiguos, confirmando su futilidad. […] más que paraíso, es un infierno ho‐ gareño abrumado por un insoportable calor." (Ibid.) 14 Michel Foucault, op. cit., p. 320. 15 Ibid. 16 Ibid. 17 Cf. ibid., p. 321. nisten von der feindlichen Außenwelt ab und bildet damit den physischen, si‐ cheren Rahmen für die Imagination weiterer Räume. 13 Analog zum Begriff der Utopie verwendet Foucault den der Heterotopie. Wie die Utopie steht jene gleichsam "in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten". 14 Im Unterschied zu den Utopien sind Heterotopien jedoch nicht "zutiefst irreale Räume", sondern "reale, wirkliche, zum instituti‐ onellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte dar‐ stellen". 15 Diese Orte sind "völlig anders […] als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen". 16 Heterotopien sind demnach reale Gegenorte, die durch den Einschluss eines gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozesses ent‐ stehen und dadurch Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm einen spe‐ zifischen Raum zuordnen. Handelt es sich um einen dauerhaften Ausschluss aus der Gesellschaft, wie etwa durch die Einrichtung von Irrenhäusern, spricht Fou‐ cault von Abweichungsheterotopien, ist die Ausgrenzung zeitlich limitiert, be‐ zeichnet er die dafür geschaffenen Räume als Krisenheterotopien. 17 Bei Onetti ist die virulenteste Heterotopie das Bordell in Juntacadáveres (1964). In diesem Roman gerät "la casa de las persianas celestes" ( JC, cap. IX, 419) zum Stein des Anstoßes für eine beispiellose christliche Hetzkampagne, an deren Ende die vermeintliche "peste que emporcaba a Santa María" ( JC, cap. XXXII, 571) schlussendlich der Stadt verwiesen wird. Über die Funktion von Freudenhäusern in der lateinamerikanischen Literatur schreibt Rodrigo Cánovas: La literatura reinventa el burdel convirtiéndolo tanto en un espacio de sumisión, ha‐ bitado por seres grotescos que actúan una erótica letal; como en un lugar de rebeldía, dramático o farsesco, donde se juega a cambias el orden de las cosas. Así, el escritor hispanoamericano diseña un artefacto que nomina prostíbulo, el cual es confeccio‐ 90 Johanna Vocht 18 Rodrigo Cánovas, op. cit., pp. 5 sq. 19 Ibid., p. 69. 20 Dieses 'Außerhalb' wird durch die abgelegene topographische Lage des Bordells ver‐ stärkt. nando como una heterotopía; es decir - siguiendo a Michel Foucault -, como un lugar que tiene la virtud de incluir todos los demás espacios recreados por la cultura, de confrontarlos, deformarlos, invertirlos y finalmente, anularlos. 18 Das Onetti'sche Bordell liest er als Bindeglied disparater Entitäten. Einem Ka‐ leidoskop gleich, schafft es, am äußersten Stadtrand von Santa María gelegen, immer wieder neue räumliche und figurale Verbindungen. Der kleinste gemein‐ same Nenner dieser heterogenen Figuren-Liaisonen, deren Wege sich allesamt direkt oder indirekt im Bordell kreuzen, ist das erfolg- und aussichtslose Streben nach einem höheren Ideal, sei es in Form von "escribir, enloquecer, prostituir, evangelizar o educar" 19 . Das Bordell wird in Juntacadáveres somit zum Aus‐ handlungsort individueller Lebensträume und -entwürfe - außerhalb gesell‐ schaftlicher Konventionen, Regeln und Normen. 20 Quecas Appartement ist zwar kein Bordell, sondern eine Ein-Raum-Wohnung in einem größeren Mietshaus, gleichwohl bietet Queca darin ihre Dienstleis‐ tungen als Prostituierte an. Ihre Ein-Zimmer-Wohnung bildet damit einen ge‐ sellschaftlichen Gegenentwurf zu Brausens bürgerlicher Welt. Sex ist im Raum des Nebenan nicht exklusiver Bestandteil der Ehe, wie in der bürgerlichen Be‐ ziehung zwischen Gertrudis und Brausen, sondern eine kapitalistische Größe. Begehren wird dort nicht auf Basis gesellschaftlicher Konventionen wie der Ehe oder individueller Emotionen wie Liebe verhandelt, sondern folgt einer kapi‐ talistischen Logik. Für Brausen wird die Nachbarwohnung durch diese Gegen‐ sätze im Laufe des Romans zur Krisenheterotopie. II. Brausens Krise entsteht aus der Unfähigkeit, mit Gertrudis Krebserkrankung und der damit einhergehenden Amputation ihrer linken Brust umzugehen. Als die Ehe an der emotionalen Belastung durch die Krankheit einerseits und an‐ dererseits an Brausens existentiellen Sorgen, die eine bevorstehende Kündigung mit sich bringt, zerbricht, gerät er in eine Identitätskrise. In das Appartement, das er als treuer und fürsorglicher Ehemann "Juanicho" (VB II, cap. II, 589) mit seiner Frau Gertrudis bewohnte, scheint er plötzlich nicht mehr zu passen. Die Geräusche aus der Nachbarwohnung suggerieren dagegen eine ihm bis dahin völlig neue Welt. Denn der Raum des Nebenan bildet nicht nur eine baulich 91 Frauen in Zimmern leben gefährlich. Zur Heterotopie im Werk Juan Carlos Onettis 21 Demgegenüber bezeichnet Badinter den weiblichen Identifikationsprozess als "relati‐ onal" (Ead., op. cit., p. 72). 22 Ibid., p. 143. 23 Ibid., pp. 160 sq. 24 Robert Brannon, op. cit., p. 12. 25 Ibid. spiegelgleiche Entsprechung seines eigenen Appartements, sondern auch das Leben der dort neu eingezogenen Nachbarin erscheint ihm wie eine "mundo loco" (VB I, cap. I, 423), von welcher er sich mehr und mehr angezogen fühlt. Im Laufe des Romans erlügt er sich eine Zweitidentität, die es ihm erlaubt, das Nachbarappartement als Rückzugsort von seiner Umwelt zu nutzen, vor allem aber, um dort seine krisenbehaftete männliche Identität neu zu verhandeln. Die französische Philosophin und Soziologin Elisabeth Badinter beschreibt die Identitätsfindung des Mannes als "oppositionellen" 21 Prozess, insofern […] die Identifizierung des Mannes […] in weit höherem Maße von einer Abgrenzung abhängig [bleibt] als die der Frau. Traditionellerweise definiert Männlichkeit sich häufiger ‚durch das Vermeiden von etwas … als durch das Begehren von etwas.' Ein Mann zu sein bedeutet, keine Frau zu sein, kein Homosexueller zu sein; nicht fügsam, abhängig, unterwürfig zu sein; hinsichtlich seiner körperlichen Erscheinung und seinem Verhalten nicht feminin zu sein; keine sexuellen oder allzu intimen Bezie‐ hungen mit anderen Männern zu haben; bei Frauen nicht impotent zu sein. Negationen sind […] charakteristisch für Männlichkeit […]. 22 Brausen erlebt diesen oppositionellen Prozess der männlichen Identitäts‐ suche als existentielle Krise. Da sein angestammtes Umfeld, der Raum des Alltäglichen, untrennbar mit seiner Identität als Juanicho und "asceta" (wie ihn sein Freund Julio Stein nennt, VB I, cap. VI, 460) verbunden ist, flüchtet sich Brausen während seiner Krise in den Gegenentwurf zu seiner bürgerli‐ chen Welt: das Appartement der Prostituierten Queca. Die Welt jenseits der dünnen Wand ist, im Gegensatz zu seiner eigenen asketisch geprägten, eine sehr körperliche, männlich dominierte Welt. Die Männer, die sich in Quecas Appartement aufhalten, folgen dem westlichen Männlichkeitsideal der Mo‐ derne, das der amerikanische Psychologe Robert Brannon mit vier Grund‐ charakteristika zu fassen versuchte. Vier Imperative hat "[d]er harte Mann" oder so genannte "Marlboro-Man" 23 demnach zu erfüllen: er soll erstens nichts Weibisches an sich haben ("[…] No Sissy Stuff: The stigma of all ste‐ reotyped feminine characteristics and qualities, including openness and vul‐ nerability." 24 ), zweitens überlegen auftreten ("[…] The Big Wheel: Success, status, and the need to be looked up to." 25 ), drittens unabhängig, stark und 92 Johanna Vocht 26 Ibid. 27 Elisabeth Badinter, op. cit., p. 161. 28 Robert Brannon, op. cit., p. 12. 29 Ibid., p. 25. 30 Josefina Ludmer, op. cit., p. 27, Hervorh. i. Orig. 31 Cf. ibid., pp. 25-34. autark agieren ("[…] The Sturdy Oak: A manly air of toughness, confidence, and self-reliance." 26 ) und sich viertens "als stärker […] erweisen als die an‐ deren, notfalls mittels Gewalt" 27 ("[…] Give 'Em Hell! : The aura of aggres‐ sion, violence, and daring." 28 ). Besonderes Augenmerk verdient in diesem Kontext der vierte Punkt, die Anwendung von Gewalt, die letztlich im Tod der Prostituierten Queca gipfelt. Im Folgenden soll nun detailliert nachgezeichnet werden, wie sich Brausen vermittels seiner erlogenen Zweitidentität als Arce schrittweise das Nachbar‐ appartement aneignet und sich darin vom schüchternen Asketen zum selbstbe‐ wussten, gewaltbereiten Freier wandelt und vor allem welche Rolle der Raum als Akteur in diesem Prozess einnimmt. III. Wirtschaftlich bedrängt Brausen die drohende Kündigung seiner Anstellung in einer Werbeagentur, und emotional überfordern ihn Gertrudis' Brustamputation und die Entfremdung von seinem einzigen Freund und Kollegen Julio Stein. Der Jobverlust entzieht ihm die ökonomische Grundlage, und Gertrudis' körperliche Versehrtheit führt zum Verlust seiner männlichen Libido. Nach Josefina Ludmer bildet die Brust-OP auch das narratologische "incipit" 29 der gesamten Roman‐ handlung. Der Schnitt des Arztes korrespondiert demnach mit einem Einschnitt in Brausens Realität. Denn am selben Tag als Gertrudis die linke Brust abge‐ nommen wird, bemerkt Brausen zum ersten Mal die neue Nachbarin Queca. Deren, den Roman eröffnender Ausruf "mundo loco" (VB I, cap. I, 423) markiert nach Ludmer die Trennung von Realität und Phantasie: […] la locura implica el corte más radical con la realidad. La vida breve exhibe, de entrada y en su incipit mismo, una proliferación de cortes: en (con) el cuerpo femenino, con (en) la realidad, y entre lo visto y lo oído. 30 Wie Ludmer weiter expliziert, evoziert die Leerstelle im Körperraum der fik‐ tiven Figur Gertrudis einen Mangel, der zum narrativen movens der Meta‐ fiktion wird. Denn mit den unversehrten Brüsten der metafiktionalen Figur Elena Sala substituiert Brausen Gertrudis' amputierte Brust. 31 Das auf Elena 93 Frauen in Zimmern leben gefährlich. Zur Heterotopie im Werk Juan Carlos Onettis Sala gerichtete Begehren seines metafiktionalen Doppelgängers kompen‐ siert Brausens beschnittenes Begehren gegenüber Gertrudis. Doch diese Sub‐ stitution findet nicht nur auf metafiktionaler Ebene durch die Figur der Elena Sala statt, sondern auch auf der Ebene der Ursprungsfiktion, deren Protago‐ nisten Juan María Brausen bzw. dessen Alter Ego Juan María Arce sind. Denn mit der körperlich 'versehrten' Ehefrau tritt auch auf Ebene der Ursprungs‐ diegese eine körperlich 'unversehrte' Frauenfigur, die Prostituierte Queca, in Brausens Leben. Die beiden Frauenkörper nimmt Brausen mit unterschied‐ lichen Sinnen wahr: Gertrudis' frische Wunde erkundet er visuell (und taktil), den Einzug der neuen Nachbarin vernimmt er zunächst nur auditiv. Den Schritten und Gesprächsfetzen aus der Nachbarwohnung lauschend, zeichnet er daraus in seiner Vorstellung ein detailliertes Bild von dem an‐ grenzenden Raum und dessen neuer Bewohnerin: Yo la oía a través de la pared. Imaginé su boca en movimiento frente al hálito de hielo y fermentación de la heladera o la cortina de varillas tostadas que debía estar rígida entre la tarde y el dormitorio, ensombreciendo el desorden de los muebles recién lle‐ gados. […] Cuando su voz, sus pasos, la bata de entrecasa y los brazos gruesos que yo le suponía pasaban de la cocina al dormitorio, un hombre repetía monosílabos, asi‐ ntiendo, sin abandonarse por entero a la burla. (VB I, cap. I, 423) Debía de estar en la cocina, agachada frente a la heladera, rebuscando, refrescándose la cara y el pecho con el aire helado donde se endurecían olores vegetales, aceitosos. […] Tenían que estar en la cocina porque escuché golpear el hielo en la pileta. (Ibid., 424) Es wird also bereits an dieser Stelle klar, dass Brausen die Geräusche, welche die Bewegungen der Frau verursachen, zur Orientierung im Nebenraum nutzt. Dieser Prozess findet jedoch rein in der Phantasie des Protagonisten statt. Erst in einem nächsten Schritt werden das Gehörte und die daraus resultierende Vorstellung mit einem ersten visuellen Eindruck von der Belauschten abgegli‐ chen. Heimlich beobachtet Brausen die Nachbarin durch den Türspion und stellt dabei fest, dass die von ihm phantasierte Physiognomie der Nachbarin fast ihrem realen Bild entspricht: "Vi a la mujer; no tenía bata sino un vestido oscuro y ajustado, pero los brazos, desnudos, eran gruesos y blancos." (VB I, cap. I, 428) Obwohl er die Nachbarin anfänglich als "asquerosa bestia" (ibid.) bezeichnet und sie als moralische Zumutung für den Genesungsprozess seiner Frau empfindet, zieht ihn deren Wohnung auf unerklärliche Weise an. 94 Johanna Vocht 32 "Nos levantamos y estuve mirándole la cara, pálida en el anochecer, apenas más alta que la mía, oliéndole un débil perfume que no recordaba nada concreto." (VB I, cap. VIII, 536) Der Duft ihres Parfums löst keine Erinnerung oder Emotion in ihm aus. Recordé que había descubierto, casi palpado, el aire de milagro de la habitación, por primera vez, una noche en que la Queca no estaba; que el tiempo particular de la vida breve me había llegado desde un desorden de copas, frutas y ropas. (VB II, cap. III, 596) Die tatsächliche Verlockung geht also zunächst nicht von der Frau, sondern vielmehr vom Raum oder noch genauer, den raumkonstitutiven Dingen, deren Geruch und den darin angeordneten unbelebten Objekten aus: "No es ella, no lo hace ella -me convencía-; son los objetos." (Ibid.) Die aire de milagro de la ha‐ bitación ist es schließlich auch, die ihn veranlasst, heimlich und intuitiv, ohne vorherige Absicht ("No supe lo que hacía hasta que estuvo hecho." VB I, cap. VII, 468) Quecas offenstehende Wohnung zu betreten: Apoyado en la pared, entorné los ojos y estuve oliendo, a través de la abertura de la puerta, el aire de la habitación indefinible. Aspiré el aire hasta que sentí que se me cerraba la garganta y que mi cuerpo entero quería abandonarse a los sollozos que había estado postergando en las últimas semanas. Esperé hasta serenarme y entonces el aire del departamento vacío me dio una sensación de calma, me llenó con un particular, amistoso cansancio, me indujo a recostar un hombro en la puerta y a entrar, lento y en silencio. (Ibid.) Sein intensiver Sinneseindruck und die daraus resultierende kathartische Emo‐ tionalität, die das Raumklima in ihm hervorrufen, stehen in deutlichem Gegen‐ satz zur sinnlichen 32 und emotionalen Taubheit, die er der versehrten Gertrudis gegenüber empfindet. Sein sexuelles Begehren ist durch die Brustamputation zur Farce erstarrt ("el momento de mi mano derecha, la hora de la farsa de apretar en el aire, exactamente, una forma y una resistencia que no estaban y que no habían sido olvidadas aún por mis dedos" VB I, cap. I, 426) und die gemeinsame Wohnung erscheint ihm zunehmend zu eng für das tägliche Unglück, das mit der Diagnose über ihre Ehe hereingebrochen ist. Gertrudis volvería […] por la mañana. Y desde que abriera la puerta, […], desde el momento en que yo despertara para esperarla, la habitación, una vez más y peor que nunca, iba a resultar demasiado pequeña para contenernos a los dos y a la tristeza suspirante de Gertrudis […]. Demasiado chica para contener, además, las sacudidas sin esperanza […]. (VB I, cap. IV, 445) 95 Frauen in Zimmern leben gefährlich. Zur Heterotopie im Werk Juan Carlos Onettis Doch während Gertrudis die fehlende Brust allmählich akzeptiert, ihre ur‐ sprüngliche Lebensfreude zurückgewinnt ("Ahí estaba nuevamente la vida, dócil a sus manos y sus piernas jóvenes, estremeciéndola con el viejo zumbido po‐ deroso que había supuesto apagado para siempre." VB I, cap. XVIII, 538) und sogar einen neuen Job in Aussicht hat, wartet Brausen auf seine Kündigung und ist nicht fähig, seinen finanziellen Ruin durch das Schreiben eines Drehbuchs abzuwenden ("Yo había aceptado la muerte del argumento de cine" VB I, cap. XVIII, 533). Je mehr Gertrudis zu ihrer alten Unbeschwertheit zurückfindet, desto mehr entfernt sie sich von ihrem Ehemann: "[…] Gertrudis empezó a buscar la dicha aparte y antes de mí." (VB I, cap IX, 477) Als sie sich schließlich von ihm trennt und seine erneuten Annäherungsversuche wiederholt zurück‐ weist ("-No te muevas -dijo, […] no te deseo. […] No te deseo -repitió sepa‐ rándose." VB II, cap. II, 591), impliziert diese sexuelle Demütigung auch eine ökonomische. Denn im Gegensatz zu Brausen befindet sich Gertrudis nicht in finanziellen Schwierigkeiten. Um sich seiner krisenhaften männlichen Identität neu zu versichern, muss Brausen daher sowohl seine sexuelle als auch seine ökonomische Potenz neu beweisen. Brausens Selbstzweifel werden von Ger‐ trudis' Erwartungshaltung an sein Verhalten verstärkt: Sie versteht nicht, warum er seinen Status als Ehemann und die damit verbundene Monogamie der Ehefrau nicht auch durch Anwendung körperlicher Gewalt einfordert. Brausens Versuche einer verbalen Aushandlung erscheinen Gertrudis hingegen unerträg‐ lich: No hay nadie, no hay ningún hombre, no hay ni la sombra de una posibilidad. […] Si crees que estoy mintiendo, no comprendo que no me pegues. Estaría bien que te en‐ furecieras y me pegaras. Pero no que hables; no hables. (VB I, cap. XV, 516) Anstatt das Bild des Marlboro-Man, welches Gertrudis in eben genanntem Zitat adressiert, zu erfüllen, verkörpert Juan María Brausen das genaue Gegenteil dieses Stereotyps. Er bleibt der hombre pequeño y tímido, incambiable, […] incapaz, no ya de ser otro, sino de la misma voluntad de ser otro. […]. […] mera encarnación de la idea Juan María Brausen, símbolo bípedo de un puritanismo barato hecho de negativas -no al alcohol, no al tabaco, un no equivalente para las mujeres- nadie, en realidad […]. (VB I, cap. VI, 467) Angesichts seiner gescheiterten Ehe erklärt er sein Leben als verständnisvoller, sorgender Ehemann Juanicho schließlich nominell für beendet: "El hombre lla‐ mado Juanicho […] fue feliz […]. Pero está muerto. En cuanto al hombre llamado Brausen podemos afirmar que su vida está perdida; […]." (VB II, cap. II, 589). Er beginnt seine Parallelexistenz in der Nachbarwohnung, wofür er das Alter Ego 96 Johanna Vocht 33 Ludmer liest die Schaffung Arces als Vatermord, insofern dieser seinen Namen negiert, und als Beginn einer Initiation in ein Leben, das alle bisher für ihn gültigen Werte und Vorstellungen negiert: "[…] la internación en el espacio al lado divide al sujeto que escribe entre una vida ‚normal', integrada a las leyes de la familia y la reproducción biológica, social y económica, y otra vida ‚clandestina' hecha de impulsos y deseos: la vida improductiva, antifamiliar y antirreproductora desde el punto de vida de la ideología dominante." (Ead., op. cit., p. 116, Hervorh. i. Orig.) 34 Als Transformation, im Sinne eines abgeschlossenen Umwandlungsprozesses von Jua‐ nicho zu Arce, ist die Verschiebung (auch in der räumlichen Darstellung, von Brausens zu Quecas Appartement) rein diskursiver Natur. Auf der Ebene der histoire existieren beide Identitäten parallel. 35 Michel Foucault, op. cit., p. 325. Juan María Arce 33 ersinnt. Mit der Einführung der Figur des Arce (als Substitu‐ tion für den 'gestorbenen' Juanicho) diskursiviert der Text das titelgebende Leit‐ motiv der kurzen Leben. Die Transformation 34 in Arce beruht auf der Interaktion zwischen Brausen und dem ihn umgebenden Raum: […] respiraba el aire de la habitación, me era posible ver y tocar los objetos, uno a uno, sentirlos vivos, fuertes, aptos para construir el clima irresponsable en que yo podía ser transformado en Arce. (VB II, cap. III, 595) Um seine Zweitidentität als Arce geheim zu halten, folgt Brausen bei jedem Besuch einem umständlichen Ritual. Er geht durch das Treppenhaus nach unten, verlässt das Haus als Brausen und kehrt kurz darauf als Arce wieder zurück. Dafür benutzt er den Fahrstuhl, welcher in diesem Kontext als Transitraum zwischen zwei Idenitäten, zwischen zwei 'kurzen Leben' fungiert. Im Sinne Fou‐ caults ermöglicht erst das Treppenhaus-Fahrstuhl-Ritual den Zugang zu Quecas Appartement, denn: Heterotopien setzen stets ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht. Einen heterotopen Ort betritt man nicht wie eine Mühle. […] man muss Eingangs- und Reinigungsrituale absol‐ vieren. 35 Brausen achtet bei seinen Besuchen außerdem penibel darauf, dass Queca seine Stimme nicht durch die Wand vernehmen kann und seine doppelte Identität geheim bleibt. Die charakterliche Transformation von Juanicho Brausen zu Arce ist durch das Treppenhaus-Fahrstuhl-Ritual jedoch nicht abgeschlossen, sondern erfolgt in mehreren Schritten: Auch als Freier bleibt Brausens Verhalten anfangs das des unsicheren Juanicho, die Annäherung an das Model des Marlboro-Man ver‐ läuft stufenweise. Denn zunächst macht sich Queca vor allem über Brausen/ 97 Frauen in Zimmern leben gefährlich. Zur Heterotopie im Werk Juan Carlos Onettis 36 Cf. Elisabeth Badinter, op. cit., p. 72. Arce lustig: "¿Arce te llamas? Me gusta, pero Juan María es nombre de mujer." (VB I, cap. XIV, 509). Damit stellt sie seine männliche Identität in Frage und mit einem Nebensatz - sie spricht an ihn gewandt von den Männern - erklärt sie letztlich seine Männlichkeit für obsolet: Pero no me hable más de Ricardo. Son un asco los hombres. -Con una sonrisa breve y resplandeciente me apartó del resto de los hombres, logró aislarme sin mancha en el sillón-. (VB I, cap. XII, 495) Zusammen mit vorangegangenen Demütigungen wecken diese Sätze in Brausen/ Arce das Bedürfnis nach Rache: […] el deseo de vengar en ella y de una sola vez todos los agravios que me era posible recordar. Y los agravios que habían existido aunque yo no los recordara, los que habían formado a este hombre pequeño, ya no joven, desde los pies que llegaban justamente al suelo hasta la desproporcionada cabeza que ignoraba cómo perder el respeto a una prostituta. (VB I, cap. XII, 493) Badinter liest diese Aggressivität gegenüber Frauen tiefenpsychologisch als Auflehnung der Männer gegen unaufgelöste emotionale Bande mit der Mutter. 36 In La vida breve wird die mütterliche Weiblichkeit sowohl mit Ger‐ trudis ("Mi mujer, corpulenta, maternal, con las anchas caderas que dan ganas de hundirse entre ellas; de cerrar los puños y los ojos, de juntar las rodillas con el mentón y dormirse sonriendo." VB I, cap. II, 435) als auch mit Queca ("[…] me miraba, amistosa, maternal." VB I, cap. XX, 549) assoziiert. Gegenüber letzterer fühlt sich Brausen/ Arce besonders bei seinem ersten Besuch wie ein Kind ("re‐ almente intimidado como un niño" VB I, cap. XII, 493). Gertrudis' Mütterlichkeit wirkt schutzversprechend, Quecas Mütterlichkeit einschüchternd. Ernesto hin‐ gegen fungiert als exemplarischer Marlboro-Man, an dessen hypermännlichem Gebaren sich Brausen alias Arce orientiert. Nachdem dieser von Ernesto in einem Eifersuchtsanfall versprügelt wurde, besorgt er sich einen Revolver, dessen offensichtliche Phallus-Symbolik sich unmittelbar auf seinen gesamten Habitus auswirkt ("Fui a buscar el revólver; […]. Tal vez fuera Arce, este hombre seguro y lento […]." VB I, cap. XVII, 526): Mit dem Revolver in der Tasche beginnt Brausen/ Arce, sich selbstsicherer zu bewegen, außerdem zu trinken und Queca zu schlagen. Wusste er bei seinem ersten Besuch als Freier noch nicht, wie er sich möglichst männlich, im Sinne von respektlos und frauenverachtend ver‐ halten sollte ("[…] ignoraba cómo perder el respeto a una prostituta." VB I, cap. XII, 493), so verschafft ihm das regelmäßige und systematische Schlagen der 98 Johanna Vocht Prostituierten und die damit verbundene Macht über deren Körper zunehmend sadistische Befriedigung: 'Puedo matarla, voy a matarla.' Era la misma sensación de paz que había sentido al entrar en el cuerpo de Gertrudis cuando la amaba; la misma plenitud, la misma cor‐ riente embravecida que apaciguaba todas las preguntas. (VB I, cap. XXIV, 575) Die körperliche Interaktion mit den beiden Muttersubstituten Gertrudis und Queca, wird von einem Liebesakt in einen (möglichen) Tötungsakt umgedeutet. Durch die Einführung der Figur des Arce kippt Brausens Auseinandersetzung mit dem Mütterlichen in offene Brutalität. Brausen, der "hombre pequeño y tí‐ mido" (VB I, cap. VI, 467), "ya no joven" (VB I, cap. XII, 493) wandelt sich, sobald er Quecas Wohnung betritt, in einen jugendlichen Freier "con las manos en los bolsillos del pantalón, la cabeza exagerando una arrogancia juvenil, casi gro‐ tesca, inflada por la sonrisa de gozo" (VB I, cap. XIX, 546). Mit zunehmender Selbstsicherheit bewegt er sich durch Quecas Appartement. Aus den anfänglich mittelbaren Handlungen des Belauschens ("oía a través de la pared" VB I, cap. I, 423), Imaginierens (entweder direkt über das Verb imaginar oder über eine in‐ direkte kausale Herleitung durch die Verwendung des Konjunktivs "Tenían que estar en la cocina porque escuché golpear el hielo en la pileta." VB I, cap. I, 424) und Beobachtens ("[…] fui a levantar la mirilla de la puerta de entrada. […] Vi a la mujer; " VB I, cap. I, 428) wird ein aktives Überprüfen ("comprobar" VB I, cap. XIX, 546) des Raumes. Die Figur wird vom passiven, heimlichen Beobachter zum aktiven Teil des Raumes ("Ahora yo también estoy dentro del escándalo" VB I, cap. XII, 494). Brausen/ Arce lauscht nicht mehr heimlich durch die Wand und konstruiert sich daraus das Geschehen in der Nachbarwohnung, sondern ge‐ staltet den Raum aktiv mit. Denn so wie die Wohnung und ihre figurale Kons‐ tellation seine Brutalität und Kaltblütigkeit generieren, so prägt auch er den Raum durch seine Handlungen. Er verursacht Chaos ("ayudo a construir la fi‐ sonomía del desorden" VB I, cap. XII, 495), verstellt Möbel ("moviéndome con ardor entre los muebles y objetos que empujo, arrastro, cambio de lugar" VB I, cap. XII, 494 sq.) und gestaltet die Szenerie immer wieder neu ("borro mis huellas a cada paso, descubro que cada minuto salta, brilla y desaparece como una mo‐ neda recién acuñada" VB I, cap. XII, 495). Auch bezüglich der zeitlichen Wahr‐ nehmung lassen sich Unterschiede zwischen Brausen und Arce feststellen. Während Juan María Brausen entweder versucht die Vergangenheit und damit Gertrudis' Unversehrtheit heraufzubeschwören ("hacer temblar el medallón entre los dos pechos" VB I, cap. IV, 447) oder den bürgerlichen Traum von Familie mit Haus auf dem Land träumt ("Dejo la agencia, nos vamos a vivir afuera, donde quieras, tal vez se pueda tener un hijo." VB I, cap. II, 430), bewegt er sich als Arce 99 Frauen in Zimmern leben gefährlich. Zur Heterotopie im Werk Juan Carlos Onettis 37 Den Bruch mit der traditionellen Zeitlichkeit beschreibt Foucault als vierten Grundsatz der Heterotopie: "Heterotopien stehen meist in Verbindung mit zeitlichen Brüchen, das heißt, sie haben Bezug zu Heterochronien, wie man aus rein symmetrischen Gründen sagen könnte. Eine Heterotopie beginnt erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben." (Id., op. cit., p. 324). Als emblematische Beispiele für zeitlose Heterotopien, d. h. für Heterotopien in denen die Zeit stillzustehen scheint, nennt er das Museum oder die Bibliothek. (Cf. ibid. sq.) 38 Dieses Narrativ entwickelt Onetti bereits in El pozo. Darin sinniert Eladio Linacero: "Me gustaría escribir la historia de un alma […]." (PZ 4) 39 Zur poetologischen Bedeutung der multiplen Identitäten bei Onetti schreibt Teresa Porzecanski: "[…] Onetti […] utiliza el recurso de la multiplicidad identitaria como ele‐ mento clave en el argumento de un desarollo narrativo. Podría hablarse de identidades fluctuantes que habitan a un tiempo el mismo personaje. Se diría que coexisten como espectros de aquella otra, la identidad ‚social' manifiesta." (Ead., op. cit., p. 131) ausschließlich in der Gegenwart. Er stellt fest: "[E]s posible vivir sin memoria ni previsión" (VB I, cap. XII, 495). Dieses erlösende Gefühl von Zeitlosigkeit ( "sensación de una vida fuera del tiempo y rescatable." VB I, cap. XII, 492) 37 stellt sich jedes Mal wieder ein, wenn er die Wohnung betritt. Die zeitliche Wahr‐ nehmung ist damit, wie die Identität der Figur, an den jeweiligen Raum, mit dem sie in Verbindung tritt, gebunden: Resucitaba diariamente al penetrar en el departamento de la Queca, […] avanzaba hasta el centro justo de la habitación, para girar con lentitud y comprobar la perma‐ nencia de los muebles y los objetos, del aire en eterno tiempo presente […]. Yo renacía al respirar los olores cambiantes del cuarto, al echarme en la cama para beber ginebra […]. (VB I, cap. XIX, 546) Die Semantiken von Auferstehung ("resucitaba" VB I, cap. XIX, 546), Wieder‐ geburt ("renacía" ibid.) und Erlösung ("rescatable" VB I, cap. XII, 492) konno‐ tieren die Krisenheterotopie, die Quecas Appartement darstellt, zudem als sak‐ ralen Raum. Quecas Appartement wird damit zum Jenseits, in dem Brausens Seele 38 in der Gestalt Arces agiert ("Y sólo está condenada a un alma, a una manera de ser. Se puede vivir muchas veces, muchas vidas más o menos largas." VB II, cap. II, 589). Allerdings ist dieser Übertritt, anders als der Tod in der christlichen Vorstellung, weder einmalig noch endgültig. Vielmehr repräsen‐ tieren die multiplen Identitäten Brausens 39 verschiedene Versuche, das Defizi‐ täre der eigenen Männlichkeit in der Interaktion mit verschiedenen Frauenfi‐ guren und unterschiedlichen Räumen auszugleichen. Dieses Streben wird metaphorisch durch das Verb 'eindringen' "al penetrar en el departamento de la Queca" (VB I, cap. XIX, 546). Das Verb penetrar belegt Brausens/ Arces fetisch‐ gleiches Verhältnis zum Raum, indem er seine Penetrationsphantasie nicht nur 100 Johanna Vocht auf Quecas Körper, sondern auch auf deren Appartement projiziert. So versi‐ chert sich Arce durch den Geschlechtsverkehr mit Queca immer wieder neu seiner als defizitär wahrgenommenen Männlichkeit qua sexueller Potenz. Diese machtvolle Selbstversicherung wird auf den Raum übertragen. Der physische Containerraum (Appartement) wird dabei symbolisch mit dem Körperraum (Queca) gleichgesetzt. Mit jedem Eindringen, sowohl in Quecas Körper als auch in ihre Wohnung, werden die zeitlichen Parameter des Alterns und der Ver‐ gänglichkeit außer Kraft gesetzt. Denn als Arce ist der Protagonist nicht mehr dem demütigenden Prozess des Alterns ausgesetzt ("Empecé a moverme sobre el piso encerado, […], creyendo avanzar en el clima de una vida breve en la que el tiempo no podía bastar para comprometerme, arrepentirme o envejecer." VB I, cap. VII, 469). Arce existiert vielmehr in einem zeitlichen Vakuum und zugleich ist die Krisenheterotopie Quecas Appartement temporär limitiert. Denn die Figur des Arce korreliert mit der endlichen ökonomischen Potenz Brausens ("nutrir a Arce […] con el dinero, repartido en muchos billetes, que había es‐ condido en una cajita de acero, en el sótano de un banco" VB II, cap. III, 593). Brausens Zweitidentität als Arce lässt sich nur solange aufrecht erhalten, so‐ lange er als Freier auftreten, d. h. solange er für den Sex mit der Prostituierten bezahlen kann. Sein Aufenthalt im Nachbarappartement ist demnach nicht nur durch oben beschriebenes Zugangsritual reglementiert, sondern gleichsam an monetäre Liquidität gekoppelt. Pero yo sabía […] que la fuente indispensable a la vida de Arce era el dinero escondido en el banco, los billetes que yo debía conservar y gastar a tientas hasta que llegara el momento inevitable, y que no podía ser diferido no apresurado, en que Arce retroce‐ dería para examinar a la Queca inmóvil. (VB II, cap. III, 594) Das zeitliche Ende der Krisenheterotopie ist durch Quecas Tod markiert. Wer den Mord begeht, erscheint dabei von Beginn an irrelevant ("Pero no seré yo quien la mate; será otro, Arce, nadie." VB II, cap. VIII, 620) und tatsächlich kommt der Marlboro-Man Ernesto Brausen/ Arce zuvor: Als jener das Nachbarsappar‐ tement mit dem festen Vorsatz, Queca zu töten betritt, findet er dort nur noch eine Leiche und den Mörder vor. Brausen/ Arce verlässt daraufhin das Appar‐ tement mit der auf dem Bett liegenden toten Queca und kehrt als Brausen in seine Wohnung zurück. Entsprechende räumliche Zugangsrituale sind durch den Verlust des heterotopen Charakters, den das Nachbarappartement durch Quecas Tod erfährt, obsolet geworden. Denn die Figur, die durch ihre Hand‐ lungen den Raum als gesellschaftlichen Gegenentwurf zu Brausens bürgerlicher Lebenswirklichkeit konzipiert hat, ist tot. Seine Midlife- oder Männlichkeits‐ krise hat Brausen indes vermittels seiner Zweitidentität als Arce überwunden. 101 Frauen in Zimmern leben gefährlich. Zur Heterotopie im Werk Juan Carlos Onettis 40 Dieser Brausen wird in den nachfolgenden Romanen La muerte y la niña (1973) und Dejemos hablar al viento (1979) auch zum demiurgischen Schöpfergott, den die Be‐ wohner Santa Marías anrufen respektive lästern. Cf. Gerhard Poppenberg, op. cit., p. 604. 41 Ähnlich verhält es sich mit Jorge Malabia und Rita in Para una tumba sin nombre. Auch in dieser Erzählung verhandelt ein männlicher Protagonist seine konfliktive Männ‐ lichkeit (in diesem Fall den Übergang vom Heranwachsenden zum Erwachsenen) im Zimmer einer Frau, deren Lebensrealität seiner eigenen entgegen steht, und der seinen temporären Verbleib daher auch vor seinem angestammten Umfeld verheimlicht. Zwar hegt Malabia (anders als Brausen/ Arce gegenüber Queca) keine Tötungsphantasien ge‐ genüber Rita, indes lässt er ihren Tuberkulose-Tod auch einfach geschehen (obgleich er die finaziellen Mittel für eine ärztliche Behandlung besäße). Nach Ritas Tod kehrt er, erwachsen und selbstsicher geworden, in sein angestammtes Umfeld zurück. Von Rita bleibt das Grab einer Namenlosen. Weitere Beispiele für die Aushandlung männlicher Identitätsfindundsprozesse und Lebenskrisen 'auf den Rücken' toter Frauen cf. Judy Maloof, op. cit. Der ängstliche, scheue Mann, als den sich Brausen ehemals selbst sah und als der er von seinem sozialen Umfeld auch wahrgenommen wurde, ist einem neuen, selbstbewussten, aktiven Brausen gewichen. 40 Den Tod der Prostituierten emotionslos zur Kenntnis nehmend, organisiert er die Flucht mit dem eigentli‐ chen Mörder Ernesto: "-Vamos -dije; él se detuvo poco a poco, quedó dándome la espalda-. Después hablamos, fuera de aquí." (VB II, cap. X, 637) Abgeklärt und furchtlos plant er ihre gemeinsame Reise in das metafiktive Santa María. 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An so einen Autor, der die universale existenzielle menschliche Ein‐ samkeit, ein langweiliges und monotones Dasein, das auch in fiktionalen Ge‐ genwelten nicht besser wird, und der die Erinnerung an das kurze Leben in jugendlicher Fülle kontinuierlich zum Thema gemacht hat, literatursoziologi‐ sche Fragestellungen heranzutragen - egal ob sie nun soziale Klasse, Ethnizität oder Gender betreffen -, hat doch - zumindest auf den ersten Blick - etwas Schnödes. Andererseits kann gerade eine Analyse der Modellierung von Klasse, Ethnizität oder Gender die kontextuelle Gebundenheit so mancher Annahmen, denen ein Autor (oder auch eine Autorin) - bewusst oder unbewusst - univer‐ sale und oder existenzielle Gültigkeit zuspricht, sichtbar werden lassen. Für Onetti haben hinsichtlich seiner Darstellung von Frauen Mark Millington, Judy Maloof und Elena Martínez Entscheidendes geleistet. Sie alle haben seinen Fokus auf das Schicksal männlicher Figuren und die zweitrangige Behandlung von Frauen, die oft nur als Katalysatoren für die Prozesse männlicher Bewusst‐ werdung fungieren, bloßgelegt. Damit einher gingen die Vorwürfe, dass Onetti einerseits patriarchale Machtstrukturen durch die Reduktion von weiblichen Figuren auf subalterne und periphere Alterität festige, und andererseits durch seine Weigerung, seinen Texten eine explizite soziale und politische Dimension 1 Cf. Mark Millington: "No Woman's Land - The Representation of Woman in Onetti", pp. 376-377. Millingtons Ansätze wurden von Judy Maloof, op. cit., pp. 1-3, 9, 172-177 und Elena M. Martínez: "El género sexual en la narrativa de Juan Carlos Onetti - A propósito de La vida breve", pp. 107-108, 111 weiter entwickelt. 2 Cf. Walter Erhart / Britta Herrmann edd., op. cit.; Toni Tholen, op. cit.; Andreas Kraß ed., op. cit. 3 www.duden.de/ rechtschreibung/ attraktiv [1.1.2017]. zu verleihen, nicht eindeutig Stellung gegen die Unterwerfung von Frauen be‐ ziehe. 1 Auch wenn in Onettis Texten durchwegs Männer privilegierte Subjekte sind, und zwar sowohl hinsichtlich der Erzählerrolle als auch des Aktionsradius der Figuren, und Frauen nicht selten darauf reduziert werden, in Männern be‐ stimmte Prozesse der Bewusstwerdung auszulösen, so trifft dies nicht für alle seine Frauenfiguren zu. Hier soll aber nicht dieser Frage nachgegangen, sondern ein anderer Weg eingeschlagen werden, der die Diskussion erweitern soll, indem er zeigt, dass die Bewusstwerdung von Männern auch über andere Männer laufen kann und bei Onetti nicht selten auch männlichen Figuren eine Kataly‐ satorfunktion, die sie als Objekte erscheinen lässt, zukommt. In dieser Hinsicht vermögen es die Ansätze der Männlichkeitsforschung und der Queer Studies 2 neue Einsichten hervorzubringen. Paradoxerweise kann man gerade durch die Analyse von Männlichkeitskonzepten, die ja als eine im weitesten Sinne litera‐ tursoziologische Zugangsweise zu betrachten ist, den universalen Charakter von manchen Fragen, die Onettis Erzählungen aufwerfen, (erneut und anders) in Frage stellen und im Anschluss zu einer neuen Argumentation finden. Für Männer attraktive Männer Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht die Frage nach der Attraktivität von Männern für Männer. Der Duden bietet für das Adjektiv attraktiv, das im Deutschen aus dem Französischen übernommen wurde, zwei Definitionen: "1. Starken Anreiz bietend, verlockend, begehrenswert, erstrebenswert" und "2. [sehr] anziehend auf Grund eines ansprechenden Äußeren, hübsch, reiz‐ voll." 3 So wie im Duden der Akzent recht deutlich auf das Äußere gelegt wird, soll auch hier der Körper im Vordergrund stehen. Es soll also um Männer gehen, die wegen ihrer Physis interessieren und begehrt werden, wobei - wie bei Onetti nicht anders zu erwarten - die Art des Begehrens oft schwer zu fassen ist. Im Folgenden sollen drei Texte, die sich aus dieser Perspektive besonders anbieten, betrachtet werden, nämlich die kurze Erzählung "Bienvenido, Bob" aus dem Jahr 1944, der gattungsmäßig schwer klassifizierbare Text Los adioses, der 106 Christopher F. Laferl zehn Jahr später erschienen ist, und schließlich Jacob y el otro aus dem Jahr 1961. In allen drei Erzähltexten ziehen Männer Aufmerksamkeit auf sich. In "Bienve‐ nido, Bob" geht es um einen Mann, den die Leser doppelt kennen lernen dürfen: als jungen, schönen und zumindest vermeintlich idealistischen Bob und zehn Jahre später als mehr oder weniger gescheiterten und physisch dem Verfall preisgegebenen Robert. In Los adioses ist für unsere Fragestellung ein einst in‐ ternational sehr erfolgreicher rund vierzig Jahre alter Basketballspieler von In‐ teresse, der sich, da er an Tuberkulose erkrankt ist, in einem Kurort in den Bergen befindet und ebenfalls physisch verfällt. In Jacob y el otro schließlich steht ein in die Jahre gekommener luchador im Zentrum, der in Santa María zu einem Kampf antritt, den er zu verlieren droht. Diese drei Männer haben mehreres gemeinsam: Sie sind erstens die Prota‐ gonisten der genannten Erzähltexte, sie haben zweitens den Zenit ihrer physi‐ schen Kraft überschritten und damit die Phase der Fülle und ihrer vida breve bereits hinter sich, und drittens interessieren sie alle zumindest eine Person, nämlich den männlichen Erzähler, der uns über sie berichtet. Alle drei haben selbst keine privilegierte Stimme. Manchmal kommen sie zwar zu Wort, aber die Rolle eines Erzählers wird ihnen in keinem Fall zentral zugebilligt. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die drei Männer, um die die Gedanken der Erzähler kreisen, in keiner Weise von den vielen weiblichen Figuren Onettis, die auf eine Katalysatorfunktion reduziert werden. "Bienvenido, Bob" In "Bienvenido, Bob" heißt es gleich zu Beginn - im Tempus des pretérito im‐ perfecto, allerdings gerahmt von einem futuro - über den Protagonisten: Es seguro que cada día estará más viejo, más lejos del tiempo en que se llamaba Bob, del pelo rubio colgando en la sien, la sonrisa y los lustrosos ojos de cuando entraba silencioso en la sala, murmurando un saludo o moviendo un poco la mano cerca de la oreja, e iba a sentarse bajo la lámpara, cerca del piano, con un libro o simplemente quieto y aparte, abstraído, mirándonos durante una hora sin un gesto en la cara, mo‐ viendo de vez en cuando los dedos para manejar el cigarrillo y limpiar de cenizas la solapa de sus trajes claros. (BBo, 65) Wir erfahren auch, dass Bob große urbanistische Pläne hegt, dass er begeistert über Musik spricht, dass er blaue Augen hat und "rabiosamente joven" (ibid.) ist und dass er für den Ich-Erzähler nur Geringschätzung und Spott erübrigt. Der Grund für diese negative Haltung dem Erzähler gegenüber liegt an dessen Alter, das deutlich über seinem eigenen und jenem seiner Schwester Inés liegt, die der 107 Männer interessieren sich für Männer 4 Roberto Echavarren ed., op. cit., pp. 14, 17, bezeichnet das Begehren des Erzählers in "Bienvenido, Bob" als androgyn, da es sich ohne Gender-Präferenz zugleich Inés und Bob zuwende, und die Geschlechtergrenzen in den Figuren verschwimmen würden. Diese Einschätzung führt in gewisser Weise in die Irre, da mir Androgynität ja eher als eine Eigenschaft des begehrten Objekts und nicht des begehrenden Subjekts, auch wenn es diese im Objekt zu erkennen meint, zu sein scheint. Zu männlichen Zügen bei Inés oder zu weiblichen Zügen bei Bob wird übrigens zu wenig gesagt, als dass man in beiden Fällen von Androgynität sprechen könnte. Viel eher ließe sich das Begehren des Er‐ zählers als bisexuell einstufen. Zutreffender scheint es mir hingegen, wenn Echavarren von einem "eros ambidextro" (id, op. cit., p. 19) spricht, denn dieser zielt auf das Subjekt des Begehrens und nicht auf das Objekt ab. Maloof, op. cit., p. 9, argumentiert übrigens, dass die Geschlechtergrenzen bei Onetti, im Gegensatz zu sozialen Gegensätzen, un‐ hinterfragt akzeptiert und "impenetrable" wären. Elena M. Martínez: "Triángulos, pactos y transacciones - A propósito del género sexual en los cuentos de Onetti", pp. 19-20, spricht in Bezug auf den jungen Bob zwar auch von Androgynität, erkennt aber im Erzähler auch ein latentes homosexuelles Interesse. Cf. auch Carmen Ruiz Barrio‐ nuevo, op. cit., p. 62. Erzähler gerne heiraten möchte. Die beiden Geschwister ähneln einander sehr: "En aquel tiempo, Bob era muy parecido a Inés" (BBo, 66) heißt es, und vielleicht noch bedeutender: "[Y] acaso alguna noche lo haya mirado como la miraba a ella." (Ibid.) Nicht nur erkennt der Erzähler im Bruder der Geliebten diese wieder, und er sieht in ihm nicht nur sie, sondern er sieht ihn auch wie sie: Pero yo no le daba ya importancia y hasta llegué a pensar que en su cara inmóvil y fija estaba naciendo la comprensión por lo fundamental mío, por un viejo pasado de limpieza que la adorada necesidad de casarme con Inés extraía de debajo de años y sucesos para acercarme a él. (BBo, 68, eig. Hervorh.) Die Gefühle, die der Erzähler gegenüber dem Bruder seiner Verlobten hegt, sind von Anfang an als ambivalent gezeichnet: 4 Dieser ist sein Gegner, weil er sich der Heirat seiner Schwester widersetzt, und deswegen verspürt der Erzähler ihm gegenüber Hass. Zugleich aber muss er ihm einen beschämenden Respekt zollen: "Yo no tenía por él más que odio y un vergonzante respeto" (BBo 66). Bob wi‐ dersetzt sich der Heirat seiner Schwester mit dem Erzähler, weil dieser alt sei und sie jung, und er sagt ihm dies direkt ins Gesicht: Usted no se va a casar con ella porque usted es viejo y ella es joven. No sé si usted tiene treinta o cuarenta años, no importa. Pero usted es un hombre hecho, es decir deshecho, como todos los hombres a su edad cuando no son extraordinarios. (BBo 68) Bob wird es schließlich gelingen, seine Schwester und den Erzähler auseinander zu bringen. Aber der Erzähler, der unter der Trennung und der gescheiterten Verbindung leidet, kann sich rächen, oder besser: Die Zeit rächt sich für ihn, 108 Christopher F. Laferl 5 "Cuando volví a verlo, cuando iniciamos esta segunda amistad que espero no terminará ya nunca, dejé de pensar en toda forma de ataque." (BBo 71) 6 "Nadie amó a mujer alguna con la fuerza con que yo amo su ruindad, su definitiva manera de estar hundido en la sucia vida de los hombres. […] Puedo asegurar que en‐ tonces mi corazón desborda de amor y se hace sensible y cariñoso como el de una madre." (BBo 72) 7 Cf. Sonia Mattalia: La figura en el tapiz - Teoría y práctica narrativa en Juan Carlos Onetti, pp. 179-185. denn auch Bob wird älter. Und da er, nun als Robert, ebenfalls nicht extraordi‐ nario ist, bedeutet das Alter auch für ihn, deshecho zu sein. Als der Erzähler nach zehn Jahren Robert wiedersieht, weicht von ihm jede Lust, ihn anzugreifen, weil er nun eine ewige Freundschaft mit ihm erhofft 5 , die ihm eine Genugtuung ver‐ schafft, die seine einstige Zuneigung für Inés übersteigt und von der er sich eine konstante Liebe im rachegestillten Hass verspricht. 6 Los adioses Im Gegensatz zu dieser ambivalenten Beziehung scheinen die Empfindungen des Erzählers in Los adioses gegenüber der Person seines Interesses weniger intensiv zu sein. In diesem Text erfahren wir alles durch einen Erzähler, der Besitzer eines almacén ist, einer kleinen Gemischtwarenhandlung, in der auch Getränke ausgeschenkt werden. Da der almacén in der Nähe der Bushaltestelle liegt, und ihn die Kurgäste bzw. Patienten oft betreten, wenn sie auf einen Bus warten, weiß sein Besitzer gut über die Vorgänge in den Hotels und Sanatorien des Kurorts Bescheid. Zusätzlich erhält er Informationen von einem Pfleger und einem Zimmermädchen, und manchmal geht er selbst außer Haus und erfährt so mehr, als ihm das in seinem Geschäftslokal möglich ist. Wie verlässlich und objektiv die Informationen sind, die er von dem Pfleger und dem Zimmermäd‐ chen bekommt, und wie verlässlich er sie wiedergibt, bleibt - wie so oft bei Onetti - ein Rätsel. 7 Sicher ist hingegen, dass sich der Erzähler für einen Pati‐ enten besonders interessiert, und zwar für einen ehemaligen Basketballspieler, der allerdings - im Unterschied zu Bob bzw. Robert - namenlos bleibt, wie üb‐ rigens auch alle anderen wichtigen Figuren dieses mittellangen Texts. Gleich zu Beginn richtet sich das Hauptaugenmerk des almacenero auf die Hände des Basketballspielers. In der prätentiösen Annahme, dass er an den Händen des Sportlers schon dessen mangelnden Willen zur Genesung ablesen könne, schenkt er ihnen eindringliche Aufmerksamkeit. In der Folge wird mehr‐ fach festgestellt, dass der Basketballspieler hochgewachsen sei und breite Schul‐ tern habe, diese aber hängen ließe. Das Interesse des almacenero am Basket‐ ballspieler, das er selbst konkret zugibt, ohne aber zu wissen, ob er ihn jemals 109 Männer interessieren sich für Männer auf einer emotionalen Ebene schätzen würde ("Nunca supe si llegué a tenerle cariño; […]." LA 729), wird v. a. in dem Moment, in dem er Fotografien des Sport‐ lers betrachten kann, manifest werden: Comencé a verlo en alargadas fotos de 'El Gráfico', con pantalones cortos y una ca‐ miseta blanca inicialada, rodeado por otros hombres vestidos como él, sonriente o desviando los ojos con, a la vez, el hastío y modestia que conviene a los divos y a los héroes. Joven entre jóvenes, la cabeza brillante y recién peinada, mostrando, aun en la grosera retícula de las sextas ediciones, el brillo saludable de la piel, el resplandor suavemente grasoso de la energía, varonil, inagotable. […] Podía verlo correr, saltar y agacharse, sudoroso, crédulo y feliz, en canchas blanqueadas por focos violentos, se‐ guro de ser aquel cuerpo largo y semidesnudo […]. (LA 734 sq., eig. Hervorh.) Der almacenero lässt hier deutlich erkennen, dass es der Körper des Sportlers ist, der ihn interessiert, und er gelangt zu der Erkenntnis, dass der Körper des Sportlers diesen ausmache: "Había vivido apoyado en su cuerpo, había sido, en cierta manera, su cuerpo." (LA 734) Wie bei Bob/ Robert in "Bienvenido, Bob" haben wir es mit einem Mann zu tun, der in seiner Jugend, in der Zeit seiner vida breve, gut aussehend, stark und muskulös war und nun verfällt, und zwar zum Tode hin. Wie sehr er darunter leidet, das wird durch den Bericht deutlich, den eine alte Frau liefert, die beob‐ achtet hatte, wie sich der von der Krankheit bereits schwer gezeichnete Sportler vor dem Spiegel nackt ausgezogen und betrachtet hatte: Se había desnudado lentamente frente al armario para reconocerse, esquelético, con manchas de pelo que eran agregados convencionales y no intencionadamente sarcás‐ ticas, con la memoria insistente de lo que había sido su cuerpo, desconfiado de que los fémures pudieran sostenerlo y del sexo que colgaba entre los huesos. No solamente flaco en el espejo, sino enflaqueciendo, a poco que se animara a mirar y medir. (LA 773) Auch hier drängt sich wieder die Frage auf, wieso der Körper des Sportlers den almacenero so sehr interessiert. Denn so unzuverlässig sein Bericht auch sein mag, so deutlich wird doch sein Interesse an dem Basketballspieler. Im Unter‐ schied zum Wahrhaftigkeitsgrad des Inhalts seiner Erzählung kann nämlich kein Zweifel daran sein, dass ihn der Sportler interessiert, und zwar vor allem der Körper des Sportlers, der ja für ihn der Sportler ist, wie wir gesehen haben. Beides, das Interesse wie auch der Fokus dieses Interesses, der auf dem Körper liegt, sind durch den Text belegt. 110 Christopher F. Laferl 8 Zur Abhängigkeit zwischen Jacob und Orsini cf. Mark Millington: "Masculinity and the Fight for Onetti's 'Jacob y el otro'". Jacob y el otro Auch im dritten Text lässt sich ein ähnliches Interesse durch den Erzähler er‐ kennen. Diesmal ist die Situation aber komplexer, denn in Jacob y el otro gibt es nicht nur einen Erzähler, sondern drei: den Arzt (Kapitel 1 "Cuenta el médico", 107-114), den Erzähler (Kapitel 2-5 "Cuenta el narrador", 114-141) und den Fürsten (Kapitel 6 "Cuenta el príncipe", 141-146 ). Hier interessieren vor allem der narrador, der uns mehrmals eine Innensicht des Fürsten gibt, und das letzte Kapitel des Texts, in dem dieser selbst zum Erzähler wird. Wie in Los adioses haben wir es auch in Jacob y el otro mit einem alternden Sportler zu tun, diesmal mit einem Freistilringer. Dieser Sportler wird allerdings nicht als groß und breitschultrig, sondern vor allem als kräftig beschrieben, was ja bei der Sportart, die er ausübt, nicht verwundert. Im Unterschied zum namenlosen Basketball‐ spieler von Los adioses verliert Jacob van Oppen jedoch nicht seine Muskelkraft, sondern setzt im Laufe der Jahre Fettpolster an, die - neben einem Alkoholpro‐ blem - deutlich machen, dass auch dieser Mann den Zenit seiner körperlichen Kraft bereits überschritten hat. Die Figur, die sich in diesem Text für den Sportler und dessen Körper interessiert, ist sein Manager, Fürst Orsini. Im Unterschied zu Los adioses muss in Jacob y el otro gar nicht gesagt werden, dass sich der schwächere und ältere Mann, nämlich Orsini, für den Körper des anderen interessiert, denn dieses Interesse bildet die Basis für ihre Zusammen‐ arbeit und auch für ihr Zusammenleben. Mit wenig Geld touren sie, nachdem es mit der Karriere in Europa zu Ende gegangen ist, durch Lateinamerika, und wohl aus Geldnot müssen sie in den Hotels, in denen sie absteigen, gemeinsam ein Zimmer nehmen, woran niemand Anstoß nimmt. Nach außen hin zeigt sich der Manager Orsini freigiebig und großzügig, in Wirklichkeit steckt er aber schon seit Längerem in finanziellen Nöten. Die beiden scheinen gerade über die Runden zu kommen, mehr nicht. Der dumpf anmutende Ringer hat allerdings - und das ist eine der Überraschungen der Erzählung - Geld gespart, und er ist weder arm noch seinem Manager wirtschaftlich ausgeliefert, wie man bis zur Preisgabe dieser Information in der Erzählung annehmen musste. 8 Auf andere Weise als bei dem Basketballspieler von Los adioses hat man aber - zumindest bis zu diesem Moment - auch bei Jacob van Oppen den Eindruck, dass er nur sein Körper wäre. Der für Orsini und die Leser nicht mehr als unbezwingbar geltende Champion wird durch eine ehrgeizige Frau namens Adriana herausgefordert, die sich sicher 111 Männer interessieren sich für Männer 9 Cf. in diesem Zusammenhang Eduardo López Truco, op. cit., p. 5. ist, dass ihr Verlobter Mario einen Sieg über Jacob van Oppen erringen könne. Sie kann den geforderten Einsatz von 500 Pesos erlegen, während Orsini, der ja für die Organisation des Wettkampfes und die Konditionen verantwortlich ist, dieses Geld gegen alle Beteuerungen nicht aufbringen kann. Nachdem Orsini den Herausforderer Mario gesehen hat, glaubt er auch zu wissen, dass sein Partner aus dem Kampf nicht siegreich hervorgehen könne. 9 Aus diesem Grund möchte er am Vorabend Jacob überreden zu fliehen. Eigentlich hat er sogar vor, ihn zur Flucht zwingen, und hält deshalb seinen Revolver bereit. In jener Szene, in dem sich das Gespräch zwischen den beiden - in der Intimität des Hotelzim‐ mers - abspielt, wird ihr Verhältnis vom Erzähler genau beleuchtet. Orsini trägt einen Morgenmantel, während sich der Ringer auszieht und nur einen Slip anbehält. Orsini betrachtet ihn genau und wird - wie schon des Öf‐ teren davor - den physischen Verfall Jacobs feststellen: 'Toda esta carne', pensaba Orsini, con el dedo en el gatillo del revólver; 'los mismos músculos, o más, de los veinte años; un poco de grasa en el vientre, en el lomo, en la cintura. Blanco, enemigo temeroso del sol, gringo y mujer. Pero esos brazos y esas piernas tienen la misma fuerza de antes, o más. Los años no pasaron por allí; pero siempre pasan, siempre buscan y encuentran un sitio para entrar y quedarse. A todos nos prometieron, de golpe o tartamudeando, la vejez y la muerte. […].' ( JO, cap. 5, 132 sq.) Am schwersten ist in diesem Zusammenhang wohl die Bezeichnung y mujer zu verstehen. Jacob wird von seinem Manager als Frau bezeichnet, was ein eigen‐ artiges Licht auf die Beziehung der beiden wirft. Im Anschluss wird der Ringer aber zum Kind, dem Orsini als Vater das Lied Lili Marleen vorsingen muss. Dann sieht Orsini Jacob wiederum als Tier. Und immer wieder bewundert er dessen Physis, wie in der folgenden 'Nahaufnahme' aus der Warte des auf dem Bett sitzenden Orsini zum Ausdruck kommt: "Frente a él se abrían los enormes muslos de Jacob, los músculos contraídos. 'No hubo piernas mejores que éstas', pensó Orsini con miedo y tristeza." (Ibid., 133) Die beschriebene Angst sollte nicht unbegründet bleiben, denn kurz danach wird ihn der Ringer schlagen und auf das Bett hinstrecken. Hier endet dann auch jener Teil des Texts, der dem so genannten Erzähler zugeschrieben wird. Orsini wird am nächsten Morgen auf‐ wachen und das Ende der Geschichte in erster Person vortragen: Me desperté, sin dolores, en la mañana del cuarto del hotel, llena de claridad y calor. Jacob me masajeaba el estómago y reía para ayudar la salida de los insultos que ter‐ minaron en uno solo, repetido hasta que no pude fingir el sueño y me enderecé: 112 Christopher F. Laferl 10 Cf. James E. Irby, op. cit., p. 457. -Viejo puerco -en alemán purísimo, casi en prusiano. ( JO cap. 6, 141). Im Unterschied zu den anderen beiden Texten kommt es zwischen Orsini und Jacob des Öfteren zu physischem Kontakt, wie z. B. durch die eben geschilderte eigenartige Bauchmassage, aber dennoch scheint das Verhältnis zwischen beiden noch weniger klar als zwischen dem Erzähler und Bob in "Bienvenido, Bob" und zwischen dem almacenero und dem Basketballspieler in Los adioses. Das Verhältnis zwischen dem Fürsten-Manager und dem Ringer erfährt auch durch die Tatsache, dass bei beiden keine Rede davon ist, dass sie sich für Frauen interessieren würden, eine eigenartige Färbung. Ob es sich um eine homoaffek‐ tive Beziehung handelt, bleibt dennoch offen. Klarheit muss hingegen darüber herrschen, dass sowohl der namenlose Erzähler als auch Orsini Jacob fast aus‐ schließlich in seiner Körperlichkeit wahrnehmen. Sic transit gloria mundi, nicht zuletzt männliche Attraktivität Außer Zweifel steht, dass Onetti durch die Männer, die in seinen Erzählungen vorkommen, hegemoniale Vorstellungen von Männlichkeit dezentriert und dass sich eine Untersuchung von Männlichkeitskonzeptionen in seinen Texten lohnt. Bei Onetti haben wir es oft mit stark gebrochenen männlichen Figuren zu tun, mit scheiternden, sensiblen, eigenwilligen, mittelmäßigen, aber auch mit in All‐ machtsfantasien schwelgenden und sich dann doch wieder schnell ohnmächtig fühlenden Männern. Es mag bei Onetti rekurrente Ausprägungen männlicher Subjektivität geben, aber diese entsprechen kaum hegemonialen Vorstellungen von Männlichkeit im 20. Jahrhundert, zeigen sie doch viel eher den zweifelnden und auch den leidenden Mann, der seinem kraft- und bedeutungslosen Leben vergeblich Sinn verleihen möchte. Es mag auch stimmen, dass in seinen Erzähltexten Frauen in der Regel eine ausgesprochen traditionelle Rolle zugewiesen wird, was als Stützung eines pat‐ riarchalen Systems gelesen werden kann, wie es Mark Millington, Judy Maloof oder Elena M. Martínez getan haben. 10 Keineswegs ist es aber so, dass Onetti das Patriarchat nur stützen würde, sondern - ganz im Gegenteil - bringt er es durch die Modellierung seiner männlichen Protagonisten auch zum Wanken, und zwar nicht durch die Stärkung von Frauenfiguren, sondern durch die Erosion von Männlichkeit. Diese Erosion lässt sich unter anderem dadurch erreichen, dass Männer zum Objekt der Begierde werden, ihr Äußeres thematisiert wird und das Ver‐ schwinden ihrer physischen Attraktivität und das Nachlassen ihrer Kraft ins 113 Männer interessieren sich für Männer 11 Für gewöhnlich wird das wohl berühmteste Gedicht Góngoras so interpretiert, dass ein männliches Ich eine junge Frau mahnt, die Blüte der Jugend zu genießen, denn das Alter und mit ihm der Tod komme unausweichlich. Diese Lesart ist aber ausschließlich einer sexistischen und heteronormativen Tradition geschuldet, denn der Text selbst sagt weder etwas über das Geschlecht des angesprochenen Dus noch über jenes des sich artikulierenden Ichs aus. Die Körperteile des Dus, die im Gedicht genannt werden (das goldene Haar, die weiße Stirn, die roten Lippen, der kristallene Hals) haben nichts grundsätzlich Weibliches an sich und könnten auch an einem Mann gelobt werden. 12 Cf. dazu auch David Butler, op. cit., pp. 95-100. Zentrum gestellt und als Verlust und als Grund von tiefer Verunsicherung und sogar Leiden porträtiert werden. Genau diese physischen Prozesse des Verfalls und des damit verbundenen psychischen Leidensdrucks finden wir bei Onetti zahlreich, und in den genannten Beispielen werden sie explizit und auf beson‐ ders anschauliche Weise Thema. Fast möchte man sagen: Sic transit gloria mundi, nicht zuletzt die Physis des Mannes, oder alles ist eitel, nicht zuletzt maskuline Attraktivität. Das Thema der Vergänglichkeit wird in der westlichen Literatur seit dem Mittelalter oft abstrakt abgehandelt, privilegiert wird es an Frauen sichtbar ge‐ macht, nämlich über das Verwelken ihrer Schönheit und Jugend. In diesem Zu‐ sammenhang sei nur an die vielen spanischen frühneuzeitlichen Gedichte, wie Garcilasos "En tanto que de rosa y azucena" oder Góngoras "Mientras por com‐ petir por tu cabello" (das man allerdings auch 'männlich' lesen könnte 11 ), erin‐ nert. Onetti geht die universale Frage des Alterns anders an, 12 und zwar so, dass sie eigentlich erst wirklich als universal aufgefasst werden muss. Wenn Altern bevorzugt, in manchen sozialen Sphären vielleicht sogar ausschließlich, als Pro‐ blem von Frauen gesehen wird, dann ist es kein universales Problem mehr, son‐ dern ein Problem des Objekts der Betrachtung und der Begierde und damit im Raum der kulturellen Repräsentation vielfach der Frau. Wenn aber diesem Dis‐ kursstrang das Altern des Mannes und damit des privilegierten Subjekts hin‐ zugefügt wird, dann wird es in der Tat universal. Genau diese Universalisierung des Prozesses des Alterns wie des Verlusts an Attraktivität - und zwar bei Män‐ nern - findet sich bei Onetti, und zwar nicht beiläufig, sondern als rekurrentes und gewichtiges Thema. Damit ist aber noch kaum etwas zur Frage des Interesses von Männern an Männern gesagt. Es könnten ja auch Frauen sein, die sich für Männer interes‐ sieren und diese begehren. Das Interesse von Männern an Männern bei Onetti doppelt allerdings die Universalität der schmerzhaften Einsicht in die Unaus‐ weichlichkeit des Alterns, weil das männliche Subjekt durch sein Interesse am männlichen Objekt einem direkten Vergleich, der nicht erst durch einen Ana‐ 114 Christopher F. Laferl logieschluss hergestellt werden muss, ausgesetzt ist und in seiner Rolle als aus‐ tauschbares Subjekt bzw. Objekt sichtbar gemacht wird. Das Interesse von Män‐ nern an Männern ermöglicht noch einen weiteren Schluss, dass nämlich das Erkennen von Attraktivität eine Frage der Semiotik ist und nicht des tatsächli‐ chen Begehrens. Onetti gehört nicht zu den Männern und auch nicht zu den männlichen Autoren, die aus Furcht vor einer Homosexualitätsannahme in Ab‐ rede stellen, männliche Attraktivität zu erkennen. Dadurch wurde er meines Erachtens - lange vor der Etablierung der Queer Studies - zu einem queer au‐ thor, der seine männlichen Erzähler und so manche männliche Figur die At‐ traktivität von anderen Männern erkennen lässt. Welche Implikationen mit dieser Sensibilität und mit dem Annehmen der damit verbundenen Erkenntnis verbunden sind, lässt sich in der Regel bei Onetti nicht eindeutig beantworten, weil seine Erzählungen zu ambivalent und leer‐ stellenreich sind. Eine klare Antwort wird auch dadurch erschwert, dass nicht klar ist, warum sich bei ihm Männer für andere Männer interessieren. Ob sie dies tun, weil sie den Körper eines anderen Mannes als Objekt begehren, oder weil sie sich mit diesem vergleichen oder sogar an seine Stelle treten wollen, das lässt sich mit letzter Eindeutigkeit nicht sagen. In den drei hier vorgestellten Fällen ist keineswegs ausgemacht, ob die Erzähler, die sich für Männer interes‐ sieren, dies tun, weil sie diese attraktiv finden und unter Umständen auch ero‐ tisch begehren oder ob sie einfach sie oder zumindest wie sie sein wollen. Es könnte ja auch sein, dass sie sich für die genannten Männer interessieren, weil diese ein Leben in Fülle hatten, was wir von ihnen selbst nicht wissen: War der Erzähler von "Bienvenido, Bob" einmal selbst ein gut aussehender Idealist? Es wird nicht gesagt! Was tat der Besitzer des almacén im Kurort, bevor er Tuber‐ kulose bekam? Dass er ein großer Sportler war, davon liest man nichts! Und wie sieht es mit Orsini aus? Ist er überhaupt ein Fürst, kann er auf eine glorreiche Jugend und sportliche oder andere nennenswerte Erfolge zurückblicken? Auch dazu gibt der Text keinerlei Aufschluss! Sind sie nicht alle verschiedene Va‐ rianten eines Juan María Brausen aus La vida breve, der am Älterwerden nicht zuletzt deshalb so sehr leidet, weil er eben keine große Jugend hatte und auch in der Zeit seiner plenitudo wenig zu Wege brachte? Literaturverzeichnis Primärliteratur Onetti, Juan Carlos: "Bienvenido, Bob" [BBo], in: Id.: Obras completas vol. 3 - Cuentos, artículos y miscelánea, ed. Hortensia Campanella, Prólogo de Pablo Rocca, Barcelona: Galaxia Gutenberg / Círculo de Lectores 2009 [1944], pp. 65-72. 115 Männer interessieren sich für Männer ---: Los adioses [LA], in: Id.: Obras completas vol. 1 - Novelas I (1939-1954), ed. 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Zu Juan Carlos Onettis La vida breve Nataniel Christgau (Berlin) Le tort de toute doctrine de la délivrance est de supprimer la poésie, climat de l'ina‐ chevé. Le poète se trahirait sʼil aspirait à se sauver: le salut est la mort du chant, la négation de l'art et de l'esprit. Comment se sentir solidaire d'un aboutissement? E. Cioran, Précis de décomposition I. Juan Carlos Onetti hat mit seinem Roman La vida breve eine Welt geschaffen und darüber hinaus deren Schöpfungsprozess nachvollzogen und dargestellt. Das Zentrum dieser Welt ist die Stadt Santa María, die der Drehbuchautor und Werbetexter Juan María Brausen - ein Mann, dessen Ehe kurz vor dem Ende steht und im Verlauf des Romans zerbricht - in einem Drehbuch entwirft, das von der Relation zwischen dem Arzt Díaz Grey und Elena Sala handelt. Ein weiterer Handlungsstrang ist das Verhältnis zwischen Brausen und seiner Nach‐ barin Queca, einer Prostituierten, das Brausen unter fremdem Namen, Arce, eingeht. An diesen Namen ist eine Identität gebunden, die er im Verlauf des Romans annehmen will; er will diese Verwandlung vollzogen haben, wenn er Queca getötet hat. 1 Dem entspricht auf der Ebene seiner Schöpfung, dass diese von ihm geschaffene Welt real geworden ist, so real, dass Brausen nach Santa 2 "Erst die Gestaltung der Welt von Santa María als ganzer ist die Form des Anderswer‐ dens für Brausen; die unabhängig und wirklich gewordene Fiktion ist die Gestalt seiner vollzogenen Verwandlung, die sich immer wieder neu mit jeder neuen Version von Santa María vollziehen wird." (Gerhard Poppenberg: "Nachwort", in: Juan Carlos Onetti: Gesammelte Werke Bd II, p. 597) 3 Eduardo Thomás Dublé hat ebenfalls auf diesen Zusammenhang verwiesen: "Este dis‐ curso versa sobre la desesperación en cuanto elemento inherente a la condición humana. El obispo hace distinción entre los diferentes tipos de desesperados, de manera que recuerda de modo muy evidente los postulados de Kierkegaard al respecto, si bien el sentido de su discurso varía respecto de ese modelo." Eduardo Thomás Dublé, op. cit., p. 9. Er hat diesen Zusammenhang aber leider nicht auf die Reflexionen der literarischen Schöpfung hin ausgelegt. María reisen kann, wie es am fulminanten Ende des Romans beschrieben wird. Dieser Roman handelt demzufolge von dem eigentümlichen Verhältnis zwi‐ schen dem Schöpfer und seiner Welt, seiner Verwandlung und deren Schöpfung, in die auch die nicht weniger eigentümliche Handlung des Romans selbst ein‐ gebunden ist. 2 Sie dient der Darstellung der Schöpfung eines komplexen Zu‐ sammenspiels zwischen 'zwei Welten', bei der sich Ereignisse einer Welt auf die andere Welt auswirken. Der Roman handelt also zuletzt von der Realisierung und der Realität von imaginären und fiktiven Welten. Im Folgenden soll dieser Zusammenhang anhand des siebten Kapitels des zweiten Teils von La vida breve mit dem Titel "Los desesperados" untersucht werden. Da Onetti in diesem Kapitel - so die These - Sören Kierkegaards Re‐ flexionen über die Verzweiflung aus dem Werk Die Krankheit zum Tode aufge‐ nommen und in den Zusammenhang seines eigenen literarischen Werks gestellt hat, wird dabei auch das Verhältnis zwischen Onettis Literatur und der Philo‐ sophie Kierkegaards eine Rolle spielen. 3 Der Verweis auf Kierkegaard steht in Zusammenhang mit dem Verhältnis der Literatur Onettis zur Religion, die bei ihm mit einer in ihrer Radikalität seltenen Reflexion auf Literatur und deren fiktionalen Gehalt einhergeht: Auf den religiösen Einschlag im Text Onettis ist immer wieder hingewiesen worden. Er selbst hat das in Gesprächen ebenfalls angesprochen und die Verbindung von Kunst und Religion als ein Phänomen der nachreligiösen Moderne benannt. Die 'tiefe Trost‐ losigkeit, seit Gott abwesend ist', macht es erforderlich, dass die Menschen 'sich reli‐ giöse Fiktionen schaffen' (Obras III, S. 915; deutsch in Schreibheft 70, S. 148). Der de‐ miurgische Schriftsteller kann und will nicht den Schöpfergott verdrängen und ersetzen, er muss vielmehr ein Verhältnis zu seiner Abwesenheit schaffen und ihr Gestalt geben. Damit wird das ontologische Problem der künstlerischen Schöpfung offenbar, die als Schöpfung aus dem Nichts selbst nichtig bleibt. Das Wort des jü‐ disch-christlichen Schöpfergottes wird im Sprechen wirklich. Er spricht, und es ist da. 120 Nataniel Christgau 4 Gerhard Poppenberg: "Nachwort", in: Juan Carlos Onetti: Gesammelte Werke Bd. IV, p. 612. 5 In diesem Kapitel findet sich dementsprechend auch eine Reflexion Brausens über die Notwendigkeit irgendeiner Form von Gott für die 'Menschen mit gutem Willen': "[S]upe que no es el resto, sino todo, lo que se da por añadidura; que lo que lograra obtener por mi esfuerzo nacería muerto y hediendo; que una forma cualquiera de Dios es indispen‐ sable a los hombres de buena voluntad, que basta ser despiadadamente leal con uno mismo para que la vida vaya encajando, en momento oportuno, los hechos oportunos." (VB II, cap. V, 602) Das Wort des demiurgischen Autors bleibt nichts als Wort. Er schreibt, und es steht geschrieben. Die Schöpfung von Santa María durch Brausen, der selbst bereits ein fiktives und geschriebenes Wesen ist, wird dann als metapoetische Figuration er‐ kennbar. Santa María ist der Ort der Fiktion überhaupt. 4 In diesem Zusammenhang nimmt das Kapitel "Los desesperados" eine merk‐ würdige und ausgezeichnete Stellung ein, denn in ihm vollzieht Brausen, wie noch zu sehen sein wird, einerseits die angestrebte Schöpfung, andererseits ist es eine Reflexion auf diese Schöpfung selbst, und zwar vor dem Hintergrund der christlichen Theologie. II. Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung, das im Kapitel über die Ver‐ zweifelten kulminiert, wird im fünften Kapitel des zweiten Teils mit dem Titel "Primera parte de la espera" vorbereitet. 5 In ihm wird auch die mit der Schöpfung einhergehende Verwandlung thematisiert und dadurch hervorgehoben, dass es aus der Perspektive eines ˈIchsˈ geschildert wird, von dem nicht klar ist, wer dieses Ich ist: Yo, el puente entre Brausen y Arce, necesitaba estar solo, comprendía que el aisla‐ miento me era imprescindible para volver a nacer, que únicamente a solas, sin voluntad ni impaciencia, podría llegar a ser y a reconocerme. (VB II, cap. V, 601) Durch die Hervorhebung des Ichs bzw. die Verwendung des Personalpronomens Yo, mit dem der Satz beginnt, und der darauffolgenden Bestimmung dieses Ichs als einer Brücke zwischen Brausen und Arce (puente entre Brausen y Arce), scheint dieses Ich eine Art leeres Ich zu sein, das noch keinen Inhalt hat bzw. auf ein noch nicht festgelegtes Subjekt zu verweisen, insofern es weder Brausen, noch Arce ist, sondern ein Ich zwischen den beiden. Dennoch ist dieses Ich die einzige Möglichkeit, ohne Willen und mit Geduld, wie hervorgehoben wird, zu einem eigenen Sein zu gelangen und so etwas wie Selbsterkenntnis zu befördern. 121 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve Diese Selbsterkenntnis betrifft demzufolge nicht das Selbst Brausens, sondern ein anderes, neues Selbst, zu dem diese Selbsterkenntnis das alte Selbst werden lässt. Teil dieser Selbsterkenntnis ist dann auch dieses Yo, das sich an dieser Stelle zu Wort meldet und in einer Tat - dem Mord an Queca - kulminieren soll, von dem er sich die endgültige Verwandlung erhofft, die einer Auflösung Brausens gleichkäme, die zugleich seine Rettung wäre: Libre de la ansiedad, renunciando a toda búsqueda, abandonado a mí mismo y al azar, iba preservando de un indefinido envilecimiento al Brausen de toda la vida, lo dejaba concluir para salvarlo, me disolvía para permitir el nacimiento de Arce. (Ibid., 603) Was auf dieses Kapitel folgt, betrifft aber nicht Brausen, sondern Díaz Grey, der im sechsten Kapitel sein eigenes Leben zu entwickeln beginnt. Das ist deswegen bemerkenswert, da Brausen diese Verwandlung nicht vollziehen wird, denn der Mord, der aus Brausen das neue Selbst werden lassen soll, wird von Quecas ehemaligen Zuhälter begangen, mit dem Brausen aus Solidarität nach Santa María flieht. Das Verhältnis zwischen dem Leben von Brausen und dem Leben von Díaz Grey als dem Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf wird sich von diesem Moment an ändern und die Rettungsmöglichkeit auf seine imaginäre Welt verlagern. Die Autonomie von Díaz Grey besteht darin, dass er, wie es heißt, an einem Sonntagnachmittag ein Jahr seiner Zeit überspringt, Santa María verlässt, und Elena Sala in eine Vergangenheit versetzt, die nie eintreten würde: Hasta que en la tarde de un domingo Díaz Grey vino a librarme de la obsesión, hizo por mí y por él lo que yo no podía hacer, saltó un año de su tiempo, abandonó Santa María como si se cortara un brazo, como si le fuera posible alejarse de la ciudad pro‐ vinciana y de su río, colocó a Elena Sala en un pasado que no iba a suceder nunca: […]. (VB II, cap. VI, 606) Die Befreiung dieser Obsession Brausens, sich die Figuren und die Szenen ohne Unterlass vorzustellen, besteht in einer imaginären Vergangenheit, die sich un‐ abhängig von den Ereignissen, die der Autor der Geschichte für ihn vorgesehen hat, zu ereignen scheint. Die paradoxe Formulierung einer Vergangenheit, die nie eintreten würde (un pasado que iba a suceder nunca), wird verständlich, wenn man bedenkt, dass an dieser Stelle zwei Perspektiven, ja, zwei Welten kontras‐ tiert werden. Aus der Perspektive Brausens wird sich diese Vergangenheit nie‐ mals ereignen, da sie nicht seiner eigenen Idee entspricht und diese sogar un‐ möglich machen würde, während Díaz Grey diese Situation, wie man als Leser 122 Nataniel Christgau 6 Die Darstellung eines solchen autonomen Verhaltens betrifft den Unterschied zwischen dem Leben einer imaginären Figur, die von einem anderen geschaffen wird, und dem Leben dieser imaginären Figur, die sich auf einmal von ihrem Schöpfer abzulösen be‐ ginnt. Das impliziert die Frage, ob ein qualitativer Unterschied zwischen diesen beiden Seinsweisen eines imaginären Geschöpfes besteht bzw. die Frage, ob es ein Kriterium gibt, um einen solchen Unterschied auszumachen. 7 In diesem Kapitel kommt es zu einer fast schon beängstigenden Nähe zwischen Brausen und Díaz Grey: Dargestellt wird dies durch einen Perspektivenwechsel, der sprachlich durch die anfängliche Verwendung der dritten Person Singular und dem Sprung zur ersten Person Singular in Szene gesetzt wird. Während Brausen zunächst Díaz Grey vor sich sah, wie es heißt, wird im Folgenden die Geschichte aus der Perspektive Greys geschildert, bis zum Ende des Kapitels, an dem es zu einer Vermischung von beiden Perspektiven kommt, und Brausen den Blick von Díaz Grey einnimmt. In diesem Ver‐ hältnis kommt ein wesentliches Moment des Romans zum Ausdruck: Das vorletzte Ka‐ pitel wird aus der Perspektive von Díaz Grey geschildert, so wie z. B. auch Onettis Erzählung Una tumba sin nombre, die dann auch auf der Ebene der Erzählperspektive erst durch La vida breve möglich wird. des Romans erfährt, 'tatsächlich' erlebt hat. 6 Dass dieser Sprung in die Vergan‐ genheit an einem Sonntag geschieht, an dem Tag, an dem Gott dem Alten Tes‐ tament zufolge nach der Schöpfung ruhte, legt es nahe, dass auch die Schöpfung von Brausen mit diesem Akt von Díaz Grey gewissermaßen abgeschlossen ist. Die Episode wäre also das Zeugnis dieser Schöpfung, die erst dann eine wirk‐ liche Schöpfung wäre, wenn sie Leben erzeugte, das sich selbstständig erhalten kann. Dieser Akt, den Díaz Grey von sich aus vollzieht, besteht darin, sich eine imaginäre Vergangenheit zu konstruieren, die zudem noch durch die Phantasie des Betrugs an der Ehefrau, gekennzeichnet ist: "Pienso en Elena Sala, mi mujer; cuento las horas que hace que me espera, examino la sordidez de la mentira que voy a decirle." (Ibid., 608) Diese Vergangenheit scheint auch ein Aufbegehren gegen den eigenen Schöpfer zu sein, der nicht imstande ist, ihm eine adäquate narrative Existenz zu ermöglichen. Die Lüge, die Teil dieser Vergangenheit ist, steht in Zusammenhang zu seiner autonomen Existenz, die unabhängig davon, ob das was er denkt, richtig oder falsch ist, auf seine Existenz und seinen eigenen Charakter verweist, der sich von der Vorstellung seines Schöpfers unterscheidet. Das bedeutet wohl, dass auch er nicht er selbst sein möchte, zumindest nicht dieses Selbst, das ein anderer geschaffen, und in einen Kontext gestellt hat, auf den er keinen Einfluss hat 7 , wie z. B. die Beziehung zu Elena Sala. So gesehen würde sich die Problematik Brausens - auch er will ja ein anderer sein - in seiner Figur wiederholen. Dass er, wie es heißt, Elena Sala in diese Vergangenheit ver‐ setzt (colocó a Elena Sala en un pasado), lässt zudem die Frage aufkommen, ob diese Vergangenheit, in der sie seine Ehefrau ist, auch ihre Vergangenheit ist. Wäre dem so, dann wäre seine Vergangenheit auch keine private Phantasie, 123 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve sondern eine, die die Kraft hätte, auch das 'Leben' anderer Figuren im imaginären Kosmos von Brausen zu verändern. Dass diese Möglichkeit keine reine Speku‐ lation ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass dieser Strang der Geschichte, die, auch wenn sie nur eine Phantasmagorie von Brausen zu sein scheint, im elften Kapitel des zweiten Teils mit dem Titel "Paris Plaisir" wieder aufge‐ nommen wird. Auf einer anderen Ebene, und zwar zeitlich genau nach den Be‐ gebenheiten von denen das Kapitel "Los desesperados" handelt, findet Díaz Grey Elena Sala, so konzipiert es Brausen, tot vor und wird verdächtigt, sie umge‐ bracht zu haben. Auf diese Weise ergeben sich zwei alternative Geschichten von Díaz Grey, dessen Ich ebenso wenig wie das Ich zwischen Brausen und Arce, festgelegt zu sein scheint. III. Auch das Kapitel "Los desesperados", in dem die Relation zwischen Schöpfer und Schöpfung noch einmal in stark verdichteter Weise verhandelt wird, ist die Darstellung einer solchen Autonomie. Schon der erste Satz dieses Kapitels ver‐ weist auf ein grundlegendes Problem, das dieses Verhältnis kennzeichnet; dieser Teil der Geschichte von Díaz Grey soll nämlich nie geschrieben worden sein: Nunca fue escrita aquella parte de la historia de Díaz Grey en la cual, acompañado de la mujer o siguiendo sus pasos, llegó a La Sierra, fue recibido en el palacio del obispo, vio y escuchó cosas que tal vez no haya comprendido hasta hoy. (VB II, cap. VII, 609) Obwohl diese Geschichte nicht aufgeschrieben wurde, ist sie dennoch ge‐ schehen; zudem wird sie im Folgenden schriftlich geschildert. Auch dieser ver‐ meintliche Widerspruch löst sich auf, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieser Passus, in dem auf die ungeschriebenen Ereignisse aufmerksam gemacht wird, auf einer anderen Ebene 'spielt' als auf der Ebene der 'erzählten Welt', in der dieser Teil zumindest nicht schriftlich existiert. Diese Ebene betrifft den Leser des Werks von La vida breve, der einerseits die Information erhält, dass dieser Passus nicht geschrieben wurde, andererseits etwas lesen darf, was in Brausens Welt nie geschrieben wurde. Dieser Anfang ist über solche Spitzfin‐ digkeiten hinaus auf der Ebene der Handlung von La vida breve folgerichtig. Er basiert auf der Tatsache, dass Brausen, wie schon angedeutet, an seinem Dreh‐ buch gescheitert ist. Das Scheitern betrifft jedoch nicht die Figuren, an denen er dennoch festhält: Yo ya había aceptado la muerte del argumento de cine, me burlaba de la posibilidad de conseguir dinero escribiéndolo; estaba seguro de que las vicisitudes que había proyectado con precisión y frialdad para Elena Sala, Díaz Grey y el marido no se 124 Nataniel Christgau 8 Das zeigt sich deutlich an späterer Stelle, wo es heißt, dass die Existenz von Díaz Grey endgültig von der Handlung des Drehbuchs von Santa María getrennt sei: "Como de‐ finitivamente fuera del argumento y de Santa María, Díaz Grey estaba padeciendo a la muchacha […]." (VB II, cap. XI, 649) cumplirían nunca. Nunca llegaríamos ya los cuatro a aquel final del proyecto de mi escritorio, a veces junto al revólver, otras a un lado de la caja de balas, entre vidrios verdosos y tornillos inútiles. Pero, a pesar del fracaso, no me era posible desinteres‐ arme de Elena Sala y el médico; […]. (VB I, cap. XVIII, 533) Das bedeutet aber auch, dass diese Szene, die nun geschildert wird, nicht die einzige ist, die nicht aufgeschrieben wurde, da sich diese Szenen gewissermaßen im Kopf von Brausen als Imaginationen abspielen und als solche erst für den Leser des Romans in schriftlicher Form dargeboten werden, wie alle anderen Begebenheiten des Romans auch. Auch das betrifft die Existenz der Figuren, die keine, so könnte man sagen, Papierwesen sind, sondern rein imaginäre Wesen, denen die für sie vorhergesehene Handlung fehlt. 8 Dass Díaz Grey in diesem Kapitel Sachen gesehen und gehört haben soll, die er vielleicht bis heute nicht verstanden hat (que tal vez no haya comprendido hasta hoy), ist auch ein Hinweis auf seine Existenz, da er dieses Erlebnis zu seiner Vergangenheit rechnen darf und in einem unbestimmten 'heute' noch existiert. Die Geschichte ist also Teil seiner Vergangenheit. Weiter heißt es, und das entspricht dieser Beschreibung der Geschichte als einer 'ungeschriebenen', dass von dieser Geschichte mehrere Varianten existieren: La visita tenía muchas variantes; pero, en todo caso, tuvieron que caminar, con simu‐ lada decisión, entre una doble fila de alabarderos de baja estatura, apenas marciales, conscientes del mal estado de sus uniformes de los desvaídos colores del paño. Fueron, siempre, recibidos en el primer salón por un gigante con medias blancas, sonriente y lacónico, que los guiaba hasta entregarlos a un familiar ensotanado, de nariz ganchuda, con una cara en la que la astucia trepaba hasta devorar el cabello. (VB II, cap. VII, 610) Das an dieser Stelle Geschilderte, ist dann das allen Versionen Gemeinsame. Auch das ergibt sich aus der Tatsache, dass diese Geschichte nicht aufge‐ schrieben worden ist, und somit eine einheitliche und ein für alle Mal festgelegte Version dieser Geschichte fehlt. Die in diesem Roman dargebotene Version be‐ schreibt also die Grundstruktur, auf der jede mögliche Version dieser Geschichte aufbaut: die Begegnung Elena Salas und Díaz Greys mit dem Bischof, mit dem Elena Sala über ihren 'verzweifelten' Liebhaber Oscar Owen sprechen möchte, woraufhin dieser mit einer Erörterung des 'reinen Verzweifelten' reagiert: 125 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve -Desesperado -silabeaba el obispo- . Existe el desesperado puro, lo sé. Pero no lo he encontrado nunca. Porque no existe motivo para que el camino del desesperado puro se cruce con el mío. Y si lo hubiera, es probable que nos rozáramos los hombros sin reconocernos. Y no creo que yo merezca, siquiera, conocer alguna vez… -aquí reía con puntualidad, sin malicia, se mostraba más joven- conocer la razón de nuestro aparentemente estéril encuentro. (Ibid., 611) Die unmittelbare Erwiderung des Bischofs in Gestalt des direkten Verweises auf den reinen Verzweifelten (el desesperado puro) hebt die Bedeutung der reinen Verzweiflung hervor, die durch die Abwesenheit des reinen Verzweifelten noch gesteigert wird. Er existiert zwar, das weiß der Bischof, aber er ist ihm noch nie begegnet; wenn er ihm jedoch begegnete, so könne es sein, dass sie sich nicht einmal erkennten, da es keinen Grund dafür gebe, dass sich ihre Wege kreuzten. Die Erwiderung des Bischofs, die nicht unmittelbar an das Anliegen von Elena Sala anknüpft, demonstriert, dass er sein eigenes Anliegen mit demjenigen von Elena Sala verbindet, um seine eigenen Gedanken darlegen zu können. Das un‐ terstreicht den eigentümlichen Charakter dieses Kapitels, das sich nicht der Logik der anderen Kapitel zu fügen scheint bzw. mit diesen, ebenso wenig wie die Reaktion des Bischofs und das Anliegen von Elena Sala, verbunden zu sein scheint; ein Eindruck, der auch dadurch gestützt wird, dass dieses Kapitel nicht in Santa María, sondern in La Sierra spielt. Wenn der Bischof behauptet, dass er es nicht einmal verdiene, den Grund für die augenscheinlich unfruchtbare Be‐ gegnung mit Elena Sala und Diaz Grey (la razón de nuestro aparentemente estéril encuentro) zu kennen, womit die gewünschte Begegnung mit dem reinen Ver‐ zweifelten in Zusammenhang zu der 'realen' Begegnung mit Elena Sala und Díaz Grey gebracht wird, wird durch die Verwendung des Wortes estéril wieder die Schöpfung evoziert. Da der Grund dieser Begegnung in nichts anderem besteht, als dass Brausen sich diese Begegnung vorstellt, scheint die Unfruchtbarkeit sich auf die Einbildungskraft von Brausen zu beziehen, d. h. auf sein Unvermögen, diese Begegnung lebendiger gestaltet zu haben. Dazu passt, dass der Bischof weiter von dem reinen Verzweifelten spricht, der sich als seine eigene Sehn‐ suchtsvorstellung erweist, und mit dem Anliegen Elena Salas in keinem wirk‐ lichen Zusammenhang steht: Dios ha querido que yo deba eliminar al desesperado puro. En el pasado he pedido con frecuencia la gracia de este encuentro; tuve la soberbia de creer que estaban en mí todas las fuerzas necesarias para su consuelo y su salvación. No lo conozco y aun ahora suele tentarme; lo imagino desposeído de todo, abrumado por lo que él llama desgracia, incapaz de erguirse hasta la altura de su prueba. Sin la inteligencia bastante para besar la teja con que se rasca costras y llagas. Otras veces lo imagino colmado de lo que los 126 Nataniel Christgau hombres llaman dones y de los dones verdaderos; e igualmente incapaz de gozarlos y agradecerlos. No voy más allá. Un tipo u otro de desesperado puro. Solamente, a veces, tiendo mis brazos para llamarlo, para recibirlo, para dar forma al impulso de soberbia que me hace creer que yo sería el puerto adecuado para él. No debo hacerlo, tal vez; o acaso yo esté aún en el mundo sólo para ese encuentro. Pero no crean en lo que oyen o leen, desconfíen de la propia experiencia. (Ibid.) Die Behauptung des Bischofs, dass Gott wolle, dass er den reinen Verzweifelten eliminiere, steht in Zusammenhang mit dem damit einhergehenden Hochmut (soberbia). Diesen reinen Verzweifelten trösten und retten zu wollen, ist des‐ wegen Hochmut - und damit eine Sünde -, weil eine solche Tat nur Gott zu‐ kommt. Dass er das als Versuchung beschreibt, deren Gefahr gegenwärtig ist (y aún ahora suele tentarme), evoziert die Figur des Teufels, der in Gestalt der Vor‐ stellung des reinen Verzweifelten den Bischof heimsucht und ihn dergestalt zur Sünde verleitet. Die Bestimmung des reinen Verzweifelten ist, wie dieses Kapitel selbst, ambivalent: die Vorstellung des Bischofs von diesem Typus des Verzwei‐ felten changiert zwischen ihm als einem vollständig Enteigneten, einem, der vom Unglück (desgracia) heimgesucht wird, und der unfähig ist, sich auf die Höhe seiner Prüfung zu erheben, und einem, der von Gaben (dones), den wahren Gaben, überschüttet worden ist, aber unfähig ist, diese zu genießen und für diese dankbar zu sein. In beiden Fällen sind diese Verzweifelten gekennzeichnet durch eine fehlende Übereinstimmung mit sich selbst, wobei dieses Selbst in Zusam‐ menhang mit externen Faktoren besteht, die es selbst nicht beeinflussen kann. Unglück und Gabe scheinen die Gegensätze zu sein, in denen sich dieses Chan‐ gieren in der Vorstellung des Bischofs manifestiert, wobei diese lediglich einen inhaltlichen Unterschied betreffen; formal stimmen beide überein, weswegen beide Typen des rein Verzweifelten sind: Un tipo u otro de desesperado puro. Denkbar, dass die Reinheit dieser Verzweifelten in der Abstraktion vom Inhalt besteht. Dass dieser Typus des Verzweifelten dem Bischof unbekannt ist, und er sich ihn vorstellen muss, d. h. seiner Einbildungskraft entspringt - lo imagino, sagt er - bringt diesen Verzweifelten auf dieselbe 'Seinsstufe' wie die der anderen Figuren, die in diesem Roman durch die Einbildungen von Brausen geschaffen werden (u. a. auch dieser Bischof selbst). Dass er diesen reinen Verzweifelten manchmal ruft und ihn mit offenen Armen empfangen will, bedeutet, dass er sich mit dieser Einbildung dem Willen Gottes widersetzt. Wenn er behauptet, vielleicht von dieser Vorstellung lassen zu müssen, dann aber wiederum manchmal glaubt, nur für diese Begegnung auf der Welt zu sein (esté aún en el mundo sólo para ese encuentro), dann deutet das auf eine Unentschlossenheit hinsichtlich der Befolgung des Verbots und der Verlockung, diesem Verbot nicht Folge zu leisten. Der Hinweis auf diesen möglichen Grund seiner Existenz ist 127 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve auch deswegen bemerkenswert, da er der vorhergehenden Beschreibung von Díaz Grey bzw. der Darstellung seines Akts, in der er sich in eine alternative Vergangenheit flüchtet und sich damit von Brausen ablöst, ähnelt. In beiden Fällen geht es um das Verhältnis zwischen Kreatur und Schöpfer, das im Fall des Bischofs durch die Versuchung des Widerstands, und bei Díaz Grey durch die Befreiung von Brausen gekennzeichnet ist. Das würde dann auch das Verhältnis zwischen göttlicher und menschlicher Schöpfung betreffen. Es gebe weiterhin, so der Bischof, nur zwei Arten von Verzweifelten: den 'schwachen Verzweifelten und den starken Verzweifelten', von denen er Díaz Grey und Elena Sala im Folgenden berichtet: Porque aparte de éste no hay más que el desesperado débil y el fuerte: el que está por debajo de su desesperación y el que, sin saberlo, está por encima. Es fácil confundirlos, equivocarse, porque el segundo, el desesperado impuro, de paso por la desesperación, pero fuerte y superior a ella, es el que sufre más de los dos. El desesperado débil muestra su falta de esperanza con cada acto, con cada palabra. (Ibid., 612) Der Unterschied zwischen dem schwachen Verzweifelten (desesperado débil) und dem starken Verzweifelten (desesperado fuerte) liegt darin, dass sich der schwache unter seiner Verzweiflung (por debajo) und der starke über ihr (supe‐ rior a ella) befindet. Die Verzweiflung wäre demzufolge die Grenze, die diese beiden Typen der Verzweifelten voneinander trennt. Das impliziert auch, dass beide eigentlich nicht verzweifelt sind, insofern sich beide jenseits der Ver‐ zweiflung befinden; wenn man die vorhergehende Bestimmung des reinen Ver‐ zweifelten, bei dem die reine Verzweiflung als eine Nichtentsprechung gekenn‐ zeichnet wird, berücksichtigt, wäre das Problem dieser unreinen Verzweiflung, dass sie dieser Verzweiflung, die eine fehlende Entsprechung ist, nicht entspre‐ chen, d. h. auch, nicht wirklich verzweifelt sind. Wirklich verzweifelt ist wohl nur der desesperado puro. Während für den starken Verzweifelten die Verzweif‐ lung nur ein Durchgang ist, und er in der Lage sein soll, sich dieser Verzweiflung zu stellen, um sie damit zu überwinden, drückt sich die fehlende Hoffnung des schwachen Verzweifelten in jedem Akt und jedem Wort aus. Für ihn gibt es, wie es in der folgenden Charakterisierung des schwachen Verzweifelten heißt, keine Rettung: El desesperado impuro y débil, en cambio, proclamará su desesperación con sistema y paciencia; se arrastrará, ansioso y falsamente humilde, hasta encontrar cualquier cosa que acepte sostenerlo y le sirva para convencerse de que la mutilación que él representa, su cobardía, su negativa a ser plenamente el alma inmortal que le fue impuesta no son obstáculo a una verdadera existencia humana. Terminará por en‐ contrar su oportunidad; será siempre capaz de crear el pequeño mundo que necesita, 128 Nataniel Christgau plegarse, amodorrarse. Lo encontrará siempre, antes o después, porque es fatal que se pierda. No hay salvación, diría, para el desesperado débil. (Ibid., 612 sq.) Es liegt nahe, diese unreine und schwache Verzweiflung mit Brausen in Ver‐ bindung zu bringen, d. h. ihn selbst als einen solchen Verzweifelten anzusehen, der sich weigert, die unsterbliche Seele zu sein, die ihm auferlegt wurde (su negativa a ser plenamente el alma inmortal que le fue impuesta) - eine Haltung, die kein Hindernis für eine wahre menschliche Existenz (verdadera existencia humana) darstellt, wobei diese wohl nichts anderes als die alltägliche Existenz ist, die durch ein externes Moment gestört wird. Zwingend wird diese Interpre‐ tation, wenn es heißt, dass dieser schwache Verzweifelte eine kleine Welt (pe‐ queño mundo), die er braucht, zu schaffen imstande ist, da Santa María genau eine solche Welt ist. Dass diese Schöpfung zudem einen Selbstverlust darstellt (porque es fatal que se pierde), scheint ein weiterer Hinweis auf Brausen zu sein, dessen Schöpfung auf den Wunsch, ein anderer zu sein, zurückzuführen ist, und der sich in Santa María verliert. Das deutet darauf hin - das könnte der Grund für die merkwürdige Stellung dieses Kapitels im Roman sein -, dass dieses Ka‐ pitel seinen Sinn nicht nur auf der Ebene der imaginären Figuren, sondern vor allem auf der Ebene von Brausen selbst entfaltet. Überhaupt stehen dessen Phantasien von Santa María in permanenter Relation zu ihm selbst - es geht ja um seine Verwandlung und seine Selbsterkenntnis -, was sein ungeschriebenes Werk als ein narzisstisches Unterfangen erscheinen lässt. Dem entspricht auch, dass die Rettung, die in diesem Diskurs Thema ist und das eigentliche Zentrum dieses Kapitels bildet, da es dem Bischof um die Rettung des reinen Verzweifelten geht, auch das eigentliche Thema von Brausen selbst ist. Das wird zunächst im vierten Kapitel des erstens Teils mit dem Titel "La salvación" angedeutet, in welchem die (finanzielle) Rettung durch das Drehbuch erfolgen soll, und dann in der Hoffnung Brausens, sich durch die Verwandlung in Arce zu retten - eine Rettung, die in der Befreiung von seinem Selbst und dessen Umständen besteht. In diesem Kapitel erscheint nun abermals die Thematik der Rettung, diesmal die religiöse Rettung, die aber dem reinen Verzweifelten vorbehalten zu sein scheint, wie es im Kontext der Erörterung über den starken Verzweifelten - der Bischof behauptet, dass Oscar Owen ein solcher starker Verzweifelter sein soll - er‐ sichtlich wird: Desgraciadamente, no hay una sarna que lo coma desde la planta de los pies hasta la mollera; no está sentado sobre ceniza, no se le ha dado la oportunidad de besar la teja con que se rasca… No hay a su lado una mujer que le diga: 'Bendice Dios y muérete'. No alcanzará la emocionante verbosidad del desesperado puro ante un predestinado Elifaz el Temanita. Cualquier inimaginable circunstancia, cualquier persona pueden 129 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve 9 Der Verweis auf Hiob, - der Satz Bendice Dios y muérete ist die Umkehrung des Satzes, den Hiobs Frau zu ihm spricht ("Ja, sage Gott ab und stirb", Hiob 2,9) und Elifas von Teman ist einer der Freunde von Hiob, die ihm Trost spenden - ist ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung der Theologie in Onettis Werk. Dass Elifas von Teman als ein 'vor‐ herbestimmter' (predestinado Elifaz el Temanita) beschrieben wird, womit die Prädes‐ tinationslehre auf die Hiobsgeschichte bezogen wird, soll wohl bedeuten, dass es fest‐ gelegt war, dass Hiob gerettet werden würde. Zudem steht es wohl auch in Relation zu Brausen und seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen, die ja in diesem Kapitel gewis‐ sermaßen aufgehoben wird, da die Geschichte sich ohne den Willen von Brausen ver‐ zweigt. Auch die zuvor geschilderte Selbstwerdung von Díaz Grey ist vor diesem Hin‐ tergrund zu interpretieren. llegar a encarnar la desesperación para él. Habrá entonces una crisis, podrá salvarse matando, perderse matándose. Tal vez estamos capacitados, ustedes o yo, para enf‐ rentar al desesperado puro, luchar con él y contra él, salvarlo. Pero el impuro débil no tiene salvación, porque es pequeño y sensual; y el fuerte se salvará o sucumbirá solo. (Ibid., 613) 9 Der Unterschied zwischen den drei Versionen der Verzweifelten besteht dann darin, dass sich der starke Verzweifelte im Gegensatz zum schwachen Verzwei‐ felten, der nicht zu retten ist, selbst retten kann, während der reine Verzweifelte - und das betrifft die Rettung, die dem Bischof vorschwebt - gerettet werden muss, d. h. von jemand anderen von seinem Leiden erlöst wird. Die Charakte‐ risierung des starken Verzweifelten als eine Person, die sich in Krisenmomenten dadurch retten kann, jemand anderen zu töten oder sich selbst umzubringen, verweist vielmehr als auf den Geliebten von Elena Sala, wie der Bischof be‐ hauptet - wie auch schon die Beschreibung des schwachen Verzweifelten - auf Brausen, der seine Geliebte Queca töten will, um zu Arce zu werden, was seine Rettung sein soll, die aber, wie erwähnt, scheitert. Damit aber wäre Brausen - je nachdem, wofür sich Brausen entscheidet - ein schwacher oder starker Ver‐ zweifelter, ein Problem, das der Bischof selbst anspricht: -Aunque hay matices, subgrupos, causas de confusión […]. ¿Puede el desesperado impuro y fuerte convertirse en un desesperado débil? O, si lo hace, ¿no lo habrá sido siempre en el fondo? … Me he desvelado pensando en esto. (Ibid., 613) Diese Uneindeutigkeit, die das gesamte Kapitel kennzeichnet, betrifft also auch die Verzweiflung selbst. IV. Nun bezieht sich Onetti mit diesem Diskurs des Bischofs, wie schon erwähnt, auf Kierkegaards Reflexionen über die Verzweiflung aus Die Krankheit zum 130 Nataniel Christgau 10 Sören Kierkegaard: "Die Krankheit zum Tode", p. 32. 11 Ibid., p. 66. 12 "Im Trotz erblickt er [scil. Kierkegaard] einen Aufstand gegen Gott. Die Tatsache einer solchen Revolte aber indiziert nach seiner Auffassung, dass das menschliche Selbst nicht nur überhaupt gesetzt, sondern aus der Hand eines Gottes hervorgegangen ist." Michael Theunissen, op. cit., p. 37. Tode. Kierkegaard hat darin drei Formen der Verzweiflung - die Verzweiflung ist diese Krankheit - unterschieden. Zu Beginn, in einer Mischung aus Über‐ schrift und Einleitung, fasst er zusammen, wovon er im Folgenden handeln wird: Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann so ein Dreifaches sein; dass der menschliche Geist in der Verzweiflung sich nicht bewusst ist, ein Selbst zu haben [uneigentliche Verzweiflung]; dass er verzweifelt nicht er selbst sein will, dass er verzweifelt er selbst sein will. 10 Diese drei Formen sind stufenartig konzipiert. Sie reichen von der uneigentli‐ chen Verzweiflung, in der es kein Bewusstsein der Verzweiflung, und dann auch kein Selbst, aber dennoch Verzweiflung gibt, über das verzweifelte nicht 'selbst sein wollen', bis hin zum verzweifelten 'selbst-sein-Wollen'. Diese Verzweiflung steht mit dem Selbst auf elementare Weise in Beziehung, dergestalt, dass beide einander bedingen; die Krankheit zum Tode ist somit letztlich auch eine Krank‐ heit des Selbstbewusstseins: je bewusster sich ein Mensch über sich selbst ist, so lässt sich Kierkegaards These zusammenfassen, desto verzweifelter ist er: Der Grad des Bewusstseins ist in seinem Steigen oder im Verhältnis, zu dem es steigt, die beständig steigende Potenzierung in der Verzweiflung; je mehr Bewusstsein, desto mehr Verzweiflung. Das zeigt sich überall, am deutlichsten im Maximum und Mi‐ nimum der Verzweiflung. Die Verzweiflung des Teufels ist die intensivste Verzweif‐ lung, denn der Teufel ist reiner Geist und somit absolutes Bewusstsein und Durch‐ sichtigkeit; im Teufel gibt es keine Dunkelheit, die als mildernde Entschuldigung dienen könnte, seine Verzweiflung ist daher der absolute Trotz. 11 Diese Potenzierung des Selbst kulminiert in einem 'reinen Geist' und 'absoluten Bewusstsein', das Kierkegaard mit dem Teufel gleichsetzt. Dieses Bewusstsein ist Trotz. 12 Und aus der Perspektive dieses Bewusstseins ist die Tatsache, dass das Selbst durch jemand anderen gesetzt ist, das eigentliche Skandalon; der Trotz ist eine Reaktion auf diesen vermeintlich unerträglichen Zusammenhang, dass nämlich das eigentliche Selbst, eine Art nichtverzweifeltes Selbst, dieses Selbst nur von jemand anderem verliehen bekommt. Ein solches Selbst besteht aus Abhängigkeit. Derjenige, von dem dieses abhängt - Kierkegaard ist Theologe - ist Gott. Dieser, so Kierkegaard, ist die Instanz, die das Selbst gesetzt hat. Darin 131 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve 13 Kierkegaard: "Die Krankheit zum Tode", p. 76. 14 Ibid., p. 81. 15 Ibid., p. 100. 16 Ibid., p. 101. 17 Ibid. drückt sich auch die Spannung zwischen Rettung und Trotz aus, die ihr theo‐ logisches Fundament in dem Konflikt zwischen Gott und Teufel hat. In diesem Sinne sind der Wille, nicht man selbst zu sein, wie auch der verzweifelte Wille, man selbst zu sein - die uneigentliche Verzweiflung hat an dieser Stelle des Gedankengangs eigentlich schon keine Bedeutung mehr - zwei Arten, sich zu diesem Gesetzt-Sein zu verhalten. Kierkegaard unterscheidet diese beiden Formen und damit wird der Diskurs des Bischofs in La vida breve als expliziter Verweis erkennbar, als Verzweiflung der Schwäche und Verzweiflung der Stärke: "Verzweifelt nicht man selbst sein wollen, die Verzweiflung der Schwachheit." 13 Und: Diese Form von Verzweiflung ist: dass der Mensch verzweifelt nicht er selbst sein will, oder noch niedriger: verzweifelt nicht ein Selbst sein will, oder am allerniedrigsten: verzweifelt ein anderer als er selbst sein will, sich ein neues Selbst wünscht. 14 Die Verzweiflung der Stärke hingegen ist gewissermaßen das Gegenteil. Sie ist, wie gesagt, Trotz: In dieser Form der Verzweiflung liegt nun die Steigerung im Bewusstsein vom Selbst, also größeres Bewusstsein von dem, was Verzweiflung ist, und davon dass der eigene Zustand Verzweiflung ist; hier ist der Verzweifelte sich seiner eigenen Tat bewusst, sie kommt nicht von außen her, wie ein Leiden unter dem Druck von Äußerlichkeiten, sie kommt direkt vom Selbst. Und somit ist doch Trotz, im Verhältnis zur Verzweiflung über seine Schwachheit, eine neue Qualifikation. Um verzweifelt er selbst sein zu wollen, muss das Bewusstsein eines unendlichen Selbst gegeben sein. Dieses unend‐ liche Selbst ist indessen eigentlich nur die abstrakteste Form, die abstrakteste Mög‐ lichkeit des Selbst. Und gerade dies will das Selbst verzweifelt sein, das Selbst von jedem Verhältnis zu der Macht losreissend, die es gesetzt hat, oder von der Vorstellung losreissend, dass es eine solche Macht gibt. Mit Hilfe dieser unendlichen Form will das Selbst verzweifelt über sich selbst verfügen oder sich selbst schaffen […]. 15 Was dieser Mensch will, ist der Schöpfer seiner selbst zu sein, wie Kierkegaard sagt, und zwar "im Anfang" 16 : "er will sich nicht sein Selbst aneignen, nicht in dem ihm verliehenen Selbst seine Aufgabe sehen, er will es mit Hilfe der un‐ endlichen Form selbst konstruieren." 17 Kierkegaard hat nun, und das ist für das Verhältnis zwischen Kierkegaard und Onetti bedeutsam, die Verzweiflung auch 132 Nataniel Christgau 18 Ibid., p. 106. 19 Ibid. 20 Ibid., pp. 106 sq. 21 Ibid., p. 107. Kierkegaard behauptet, dass eine Dichterexistenz als solche Sünde sei. Sie be‐ stehe darin, "dass man dichtet statt zu sein, dass sich jemand zum Guten und Wahren durch Phantasie verhält, anstatt das zu sein, was er ist, existenziell danach zu streben, es zu sein." Ibid., p. 109. in Auseinandersetzung mit der Dichtung untersucht: die extreme Form der Ver‐ zweiflung sieht Kierkegaard nämlich bei den Dichtern bzw. bei den Gestalten, die von den Dichtern geschaffen werden: Diese Art Verzweiflung wird selten in der Welt gesehen, solche Gestalten kommen eigentlich nur bei den Dichtern vor, bei den echten sozusagen, die immer ihren Ge‐ schöpfen die 'dämonische Idealität' verleihen, dies Wort im rein griechischen Sinne gebraucht. 18 Das würde auch bedeuten, dass es sie in der Welt eigentlich nicht gibt, sondern nur in den Schöpfungen von Dichtern, d. h. in den literarischen Welten, die ihnen entspringen. Es kommt aber, so Kierkegaard, "eine solche Verzweiflung doch auch in der Wirklichkeit vor. Wie ist dann das ihr entsprechende Äußere? " 19 Die Antwort ist, dass es für sie keine Entsprechung im Äußeren gibt, da sie reine Innerlichkeit sein soll: Die niedrigsten Formen der Verzweiflung, bei denen es eigentlich keine Innerlichkeit gibt, und wo es in jedem Falle nichts darüber zu sagen gäbe, die niedrigsten Formen der Verzweiflung müsste man so darstellen, dass man das Äußere eines solchen Verzwei‐ felten beschreibt oder etwas davon berichtet. Aber je geistiger die Verzweiflung wird, umso mehr wird die Innerlichkeit eine eigene Welt für sich in Verschlossenheit, desto gleichgültiger ist es mit dem Äußeren, unter dem sich die Verzweiflung verbirgt. 20 Das ist der Inbegriff der starken Verzweiflung, die der Dichtung zugrunde liegt. Als solche soll sie auch eine dämonische Verzweiflung sein, die am Ende der ver‐ schiedenen Stufen der Verzweiflung steht: Wir begannen mit der niedrigsten Form von Verzweiflung, in der der Mensch verzwei‐ felt nicht er selbst sein will. Die dämonische Verzweiflung ist die potenzierteste Form von Verzweiflung, in der er verzweifelt er selbst sein will. 21 Kierkegaard stellt diese Formen der Verzweiflung also in den Zusammenhang einer Relation des Menschen zu einer ihm unzugänglichen Macht, an die er zu‐ letzt nur glauben kann, und bestimmt von dieser Perspektive aus die Dichtung. Wenn Onetti in seinem Roman auf diesen Zusammenhang verweist, dann bezieht 133 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve er sich, auch wenn er Kierkegaards Reflexionen verändert, genau auf dieses von Kierkegaard untersuchte verzweifelte Selbst, sowie auf das Verhältnis zwischen Religion und Literatur, d. h. auf das Verhältnis des Dichters zu seinem Selbst und zu Gott. Durch diesen Verweis entsteht zudem die eigentümliche Situation, dass dieses Verhältnis zwischen Literatur und Religion in den Imaginationen von Brausen erscheint, d. h. in den Imaginationen eines Mannes, der, um mit Kierke‐ gaard zu reden, als Schöpfer einer Welt an einer dämonischen Verzweiflung leidet. Zugleich aber will er nicht er selbst sein, was die schwache Verzweiflung ist, und dennoch, sein Selbst von jedem Verhältnis zu der Macht losreißend, ebenso ein Vertreter der starken Verzweiflung ist, womit natürlich, und das zeigt sich auch schon in der Ambivalenz der Kategorisierung, die Untersuchung Kierkegaards ad absurdum geführt wird. Onettis Untersuchung der Verzweiflung unterscheidet sich auch dahingehend von den Reflexionen Kierkegaards, dass der Bischof in La vida breve nicht von der Verzweiflung als solcher spricht, sondern von den Verzwei‐ felten, d. h. von den Menschen, die verzweifelt sind. Das ist ein Unterschied, der die Frage nach der Existenz der verzweifelten Menschen in dieser Welt (existe el des‐ esperado puro) betrifft, die in La vida breve im Vordergrund steht, und auch später, wie noch zu sehen sein wird, in diesem Kapitel reflektiert wird. V. Die Darstellung dieser Szene und der Rede vom Bischof über die Verzweiflung ist von Kommentaren und Überlegungen durchzogen - schon der erste Satz war ein solcher Kommentar -, die diese Szene zum Thema haben. Ein solcher Kommentar findet sich auch nach dieser Rede des Bischofs. Es heißt, dass sich diese Szene, wenn auch mit kleinen Variationen, immer auf diese Weise abgespielt hat: Y esto sucedía siempre, con pequeñas variantes que no cuentan; una vez y otra, fingi‐ endo trabajar en mi mitad de oficina, vigilando las espaldas de Onetti, yo colocaba a Elena Sala y el médico en la luz blanca de un mediodía serrano, los llevaba de un criado a otro, del familiar al obispo, del discurso sobre los desesperados a la digestión y la pausa en la biblioteca; […]. (VB II, cap. VII, 614) Einerseits hat diese Episode, wenn auch in modifizierter Weise, schon häufiger stattgefunden, andererseits ist das Geschilderte ein konstantes Element innerhalb der verschiedenen Versionen der ungeschriebenen Geschichte. Dass sich das Ganze hinter dem Rücken eines gewissen Onetti abspielt, verweist auf einen Zu‐ sammenhang, den man als postmoderne Spielerei abtun kann, oder aber als eine Angelegenheit, die für das Verständnis des Romans von grundlegender Bedeutung ist. Der Hinweis auf den Autor von La vida breve bzw. auf den, dem dieser Roman 134 Nataniel Christgau zugeschrieben wird - Onetti - deutet auf eine weitere Ebene, die aber dadurch, dass Onetti selbst nur eine literarische Figur in der Welt von Brausen ist, in die fiktiven Geschehnisse integriert wird. Dem Leser wird dadurch einerseits in Erin‐ nerung gerufen, dass die Geschehnisse, von denen der Roman handelt, wiederum nur innerhalb eines Romans ihren Sinn entfalten, bei dem der Schöpfer Santa Ma‐ rías die literarische Gestalt eines anderen Schöpfers ist, der in dieser Welt wie ein Besucher aus einer anderen Welt erscheint, wie am Ende des Romans Brausen in Santa Maria. Ein weiterer Kommentar Brausens betrifft das Verhältnis zwischen seinem Status als Schöpfer der Figuren und ihrem Leben: Yo había descubierto una rara felicidad en demorar a los tres en la vacía modorra de la biblioteca, en hacerles creer que la entrevista se reducidiría a lo que ya había sucedido. 'Ella y él tienen tiempo para estarse y bostezar, todo el tiempo de mi vida; un minuto antes de mi muerte puedo volver a pensarlos, los encontraré tan jóvenes como ahora, igual‐ mente aburridos, y la misma serena malicia vibrará en la voz, chispeará en los ojos del obispo sin que ellos la hayan notado.' Pero terminaba por apiadarme, por reconocer deudas, por imaginar que al sacarlos de la pausa acortaba mi propia espera; recompen‐ saba entonces a la mujer y al médico con la presencia del ángel pensativo, con la recita‐ ción que remozaba al obispo, con un perfil pavoroso, con un resplandor celeste y lila. (Ibid.) Die Abhängigkeit der Geschehnisse vom Schöpfer, von der dieser Passus zeugt, verweist wiederum auf die Charakterisierung der Geschehnisse als 'ungeschrie‐ bene'. Da dieser Passus, wie man sieht, nur in der Vorstellung von Brausen exis‐ tiert, kann er mit den Figuren, die ebenfalls nur in seiner Vorstellung existieren, experimentieren. Die einfache Tatsache, dass der Autor, der aus irgendeinem Grund nicht in der Lage ist, diese Szene und die Figuren in dieser Szene zu be‐ enden, lässt diese - wobei das ebenso eine Phantasie Brausens ist, deren Entde‐ ckung für ihn ein Glück darstellt - zu Gefangenen werden. Das betrifft auch den Umstand, die Figuren glauben zu lassen (hacerles creer), dass sich das Gespräch zwischen ihnen auf das beschränke, was bisher geschehen sei. Das Glück von Brausen besteht also darin, eine Art Illusion erschaffen zu haben, die seine Figuren selbst betrifft. Diese Situation würde an ihr Ende gelangen bzw. sich nicht entwi‐ ckeln, wenn der Urheber dieser Szene nicht mehr an sie denken würde; sie würde sich also außerhalb der Momente, in denen sich Brausen dieser Welt widmet, in einer Art Stillstand befinden, insofern der Verlauf der Zeit in dieser Welt von Santa María von den Ideen und Phantasien ihres Schöpfers abhängig ist. Das aber ist eine unvollkommene Schöpfung, da Brausen nicht imstande ist, ein eigenständiges, unabhängiges Leben zu kreieren. 135 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve 22 Dass die Namen Jonas Weingorther sowie Sören Kierkegaard (dän. Søren Kierkegaard) je‐ weils aus sechzehn Buchstaben bestehen (beim Vornamen sind es jeweils fünf Buchstaben und beim Nachnamen elf Buchstaben) scheint ein weiterer Verweis auf Kierkegaard zu sein. Wenn dem so wäre, dann könnte die Andeutung des Gesamtwerks auch ein Hinweis da‐ rauf sein, dass es sich bei diesem Passus nicht nur um einen Verweis auf Kierkegaards "Die Krankheit zum Tode", sondern auf die gesamte Philosophie Kierkegaards handelt. Das scheint auch deswegen sinnvoll, da Kierkegaard in vielen seiner Werke dieses Verhältnis reflektiert. Auch sein umfangreichstes Werk Entweder-Oder handelt von dem Verhältnis zwischen Kunst und Religion in Gestalt des Verhältnisses zwischen Ästhetik und Ethik. Nun ereignet sich in genau diesem Moment etwas: die Geschichte verzweigt sich, und zwar ohne dass der Wille Brausens daran beteiligt wäre: Y aquí, sin que contara mi voluntad, el episodio nunca escrito debía bifurcarse. Porque si lo que recitaba el obispo bajo la estatura sin sombra del ángel era nada más que una admirable bufonada, Díaz Grey y la mujer debían ir a sentarse en el fondo de la biblio‐ teca, rozando las espaldas con libros de viaje, diccionarios, las obras completas de Jonás Weingorther. (Ibid., eig. Hervorh.) Damit löst sich diese ungeschriebene Geschichte von der Abhängigkeit Brausens. Aus dieser Perspektive wird auch die letzte Zeile des Mottos von La vida breve, "Something escaped from the anchorage and driving free" (VB 419) - sie ist dem Gedicht A song of joy von Walt Whitman entnommen -, verständlich. Dieser Satz scheint die Geschichte Brausens vorwegzunehmen, auf die der Urheber dieser Ge‐ schichte keinen Einfluss mehr hat. Da sich diese ohne den Willen des Schöpfers selbst fortschreibt, ist sie nicht mehr determiniert, bzw. von ihrem Schöpfer ab‐ hängig. Dass diese Verzweigung ohne den Willen Brausens geschieht und sich der‐ gestalt gewissermaßen selbständig vollzieht, steht in Zusammenhang zu dem be‐ reits zitierten Wunsch von Brausen nach Selbsterkenntnis und Sein, in dem die Willenlosigkeit als eine Bedingung für Sein und Selbsterkenntnis beschrieben wird (que únicamente a solas, sin voluntad ni impaciencia, podría llegar a ser y a recono‐ cerme). Das würde bedeuten, dass diese Verzweigung der Geschichte mit der Selbst‐ erkenntnis und dem Sein Brausens Hand in Hand geht, d. h. dass die Realisierung seiner Geschichte als die Realisierung seiner selbst zu verstehen ist, die aber als solche einen Selbstverlust darstellt und damit die angestrebte Verwandlung Brau‐ sens in ein neues Ich, das zu dieser Selbsterkenntnis führen soll, einleitet. Zunächst betrifft diese Verzweigung aber die potentielle Entwicklung dieser Geschichte. Ent‐ weder ist die Szene eine Posse (bufonada), und damit einhergehend, verändert sich die Szenerie, zu der auch das Gesamtwerk eines gewissen Jonás Weingorther ge‐ hört, 22 oder aber in ihr offenbart sich, für Díaz Grey und Elena Sala, wie es heißt, Wahrheit: 136 Nataniel Christgau 23 Bezeichnenderweise spricht Brausen gegen Ende des Romans von einer solchen Vor‐ stellung in Hinsicht auf sein eigenes Leben: "Ahora sí se acabó, tan definitivamente como si fuera un sueño soñado de otro." (VB II, cap. XII, p. 658) Pero si lo que decía Su Ilustrísima -espiando el asentimiento o el disgusto en el perfil único del ángel- constituía (aunque sólo fuera para ellos) la verdad y la revelación, era forzoso que el médico y Elena Sala sorprendieran la escena por casualidad. (VB II, cap. VII, pp. 614 sq.) Der darauffolgende Verweis auf den Traum macht deutlich, worin eine solche Wahrheit besteht: "Se resolvían a escuchar, poseídos por esa curiosidad que, en los sueños, se muestra más fuerte que los temores nacidos de cualquier peripecia y nos arrastra hasta los finales siempre ambiguos, y el despertar ." (Ibid., 615) Die Formulierung dieses Satzes ist interessant, insofern diese Szene nicht einfach mit einem Traum verglichen wird; behauptet wird, dass Díaz Grey und Elena Sala von derselben Neugierde getrieben werden, die in Träumen dazu führt, dass man sie, so könnte man sagen, zu Ende träumt und aus diesem Traum erwacht. Übertragen auf die Situation, in der sie sich befinden, würde das be‐ deuten, dass ihnen diese Neugierde dazu verhilft, sich aus diesem imaginären Zusammenhang, in den sie ein anderer gestellt hat, zu befreien, d. h. aus dem Traum zu erwachen. 23 Dieses Erwachen müsste ein Erwachen aus der Illusion sein, die Brausen schafft. Die Ambiguität des Endes des Traums hat ihre Ent‐ sprechung in der Ambiguität dieser Szene selbst, die entweder eine Posse oder aber eine Offenbarung von Wahrheit ist. Wenn es keine Posse gewesen ist, dann werden sie zufällig Zeugen einer Begebenheit, die nicht vorhersehbar gewesen ist; dann hat sich, so könnte man sagen, eine Erfahrung religiöser Natur ereignet, die das Selbst der Figuren betrifft, und die dann auch eine Erfahrung sein müsste, die diese in den Stand versetzt, ihr eigenes Selbst zu erkennen. Nun endet der Diskurs des Bischofs - und auch dieses Ende ist Teil dieser zweiten Möglichkeit mit einer Reflexion über das Selbst und das Verhältnis zwi‐ schen Mensch und Gott, den es in seiner vollen Länge zu zitieren lohnt: -No fueron antes, no serán después -decía el obispo con énfasis prematuro-. Pa‐ sados o aún no venidos, es como si no hubieran sido nunca, como si nunca lle‐ garan a ser. Y, sin embargo, cada uno es culpable ante Dios porque, ayudándose mutuamente desde la sangre del parto hasta el sudor de la agonía, mantienen y cultivan su sensación de eternidad. Sólo el Señor es eterno. Cada uno es, apenas, un momento eventual; y la envilecida conciencia que les permite tenerse en pie sobre la caprichosa, desmembrada y complaciente sensación que llaman pasado, que les permite tirar líneas para la esperanza, y la enmienda sobre lo que llaman tiempo y futuro, sólo es, aun admitiéndola, una conciencia personal. Una con‐ 137 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve ciencia personal -repetía Su Ilustrísima, un brazo recto hacia el techo, tranquili‐ zándose con un vistazo al perfil sonriente del ángel-. Es decir, justamente aquel sendero que se aleja de la meta que ellos han fingido anhelar desde el principio. Cuando hablo de la eternidad, aludo a la eternidad divina; cuando menciono el reino de los cielos, me limito a aseverar su existencia. No lo ofrezco a los hombres. Blasfemia y absurdo: un Dios con memoria e imaginación, un Dios que puede ser conquistado y comprendido. Y este mismo Dios, esta horrible carica‐ tura de la divinidad, retrocedería dos pasos por cada uno que avanzara el hombre. Dios existe y no es una posibilidad humana; sólo comprendiendo esto podremos ser totalmente hombres y conservar en nosotros la grandeza del Señor. Aparte de esto, ¿hacia dónde y por qué? -En la cara encendida y húmeda los ojos acusaron el pantallazo del párpado del ángel; se corrigió-: ¿Hacia dónde? Y si alguien en‐ cuentra una dirección que parezca plausible, ¿por qué hemos de seguirla? Yo be‐ saré los pies de aquel que comprenda que la eternidad es ahora, que él mismo es el único fin; que acepte y se empeñe en ser él mismo, solamente porque sí, en todo momento y contra todo lo que se oponga, arrastrado por la intensidad, engañado por la memoria y la fantasía. Beso sus pies, aplaudo el coraje de aquel que aceptó todas y cada una de las leyes de un juego que no fue inventado por él, que no le preguntaron si quería jugar. (VB II, cap. VII, 615 sq.) Dieser Diskurs handelt vom Sein bzw. Nichtsein der Menschen, von der un‐ umgänglichen Schuld des Menschen, die sie auf sich geladen haben, da sie das Gefühl der Ewigkeit von der Geburt bis zum Tod aufrechterhalten. Die Ewigkeit aber kommt nur Gott zu. Der Mensch sei nur ein möglicher Au‐ genblick (un momento eventual), und die Vorstellung einer diesen Augen‐ blick übersteigenden Zeit, Vergangenheit und Zukunft, eine Illusion, die wohl Grundlage für dieses Gefühl der Ewigkeit sein soll, nur ein persönli‐ ches Bewusstsein (conciencia personal). Die Ewigkeit, von der der Bischof spricht, ist die göttliche Ewigkeit, die dem Menschen unzugänglich ist. Aus seiner Perspektive ist dieses vom Menschen gebildete Konzept von Ewig‐ keit eine unzulässige Vermischung von zwei getrennten Ebenen. Diese Kritik wiederholt sich in der anschließenden Behauptung, dass die Vorstel‐ lung eines Gottes mit Gedächtnis und Einbildungskraft, eines Gottes, der erobert und verstanden werden kann, blasphemisch und absurd sei (blas‐ femia y absurdo: un Dios con memoria e imaginación, un Dios que puede ser conquistado y comprendido). Die Vorstellung eines solchen Gottes wäre le‐ diglich eine Projektion von menschlichen Verhältnissen auf eine andere Sphäre, ein Anthropomorphismus, der aus der Ableitung der Ewigkeit, d. h. 138 Nataniel Christgau 24 Auch Kierkegaard richtet sich gegen eine solche anthropomorphe Vorstellung von Gott. So z. B. in seiner Kritik an Schelling: "Bei Schelling ist oft genug die Rede von Angst, Zorn, Qual, Leiden und so weiter. Doch muss man sich immer ein wenig misstrauisch derartigem gegenüber verhalten, damit man nicht die Nachwirkung der Sünde in der Schöpfung verwechselt mit Zuständen und Stimmungen bei Gott - was es beides bei Schelling bezeichnet." Id.: "Der Begriff der Angst", pp. 509 sq. 25 Genau darüber reflektiert Brausen an späterer Stelle: "[Y]o podía desgarrarlos y mirar hacia Santa María, volver a pensar que todos los hombres que la habitaban habían nacido de mí y que era capaz de hacerles concebir el amor como un abso‐ luto, reconocerse a sí mismos en el acto de amor y aceptar para siempre esta imagen, transformarla en un cauce por el que habría de correr el tiempo y su carga, desde la definitiva revelación hasta la muerte; que, en ultimo caso, era capaz de proporcionar a cada uno de ellos una agonía lúcida y sin dolor para que com‐ prendieran el sentido de lo que habían vivido." (VB II, cap. XVI, 683) Natürlich ist diese Erkenntnis auch eine Selbsterkenntnis. 26 Dass auch diese Bestimmung des Selbst von Kierkegaard inspiriert ist, kann ein Zitat aus "Die Krankheit zum Tode" belegen: "[U]nd wahrlich kommt es vielleicht selten genug vor, dass einer ganz er selbst zu sein wagt, ein einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch, allein vor Gott, allein in dieser ungeheuren Anstrengung und dieser ungeheuren Verantwortung […]." (Ibid., p. 25) aus einem illusionären Verhältnis zur Zeit resultieren würde. 24 Das lässt sich auch auf Brausen selbst beziehen, der ein mit Erinnerungen und Einbil‐ dungskraft ausgestattetes Ich ist, in der Welt seiner Figuren aber eine Art Gott zu sein scheint. 25 Die Ewigkeit, von der der Bischof spricht, scheint eine Bezugnahme auf die 'unsterbliche Seele' zu sein, von der er im ersten Dis‐ kurs behauptet, dass der schwache Verzweifelte diese ihm auferlegte Seele (el alma inmortal que le fue impuesta) verweigert. Die Verweigerung be‐ stünde darin, anzuerkennen, dass das Sein des Menschen erst in dem Mo‐ ment vollständig wird, an dem er erkennt, dass die Existenz Gottes keine menschliche Möglichkeit darstellt (Dios existe y no es una posibilidad hu‐ mana), und dass er erst, wenn er das verstanden hat, ein wirklicher Mensch zu sein vermag (sólo comprendiendo esto podremos ser totalmente hombres). Das bedeutet, dass das Sein des Menschen an die Existenz Gottes gebunden ist, die der Mensch anerkennen, d. h. an sie glauben muss, was auch schon Kierkegaards Überzeugung gewesen ist. 26 Die Rede des Bischofs endet mit einem Lob auf das Selbst, das wiederum in Relation zur Ewigkeit steht, wenn es heißt, dass die Ewigkeit heute ist (la etern‐ idad es ahora), und man in jedem Augenblick man selbst sein bzw. hinnehmen soll, dass man 'man selbst' ist, und zwar gegen alle Hindernisse wie Intensität (intensidad), Täuschungen von Erinnerung und Phantasie (engañado por la me‐ 139 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve 27 Das ist der Augenblick, der wiederum von Kierkegaard als eine Art Berührungspunkt zwischen Zeit und Ewigkeit bestimmt wurde: "Der Augenblick ist jenes Zweideutige, in dem Zeit und Ewigkeit einander berühren, und hiermit ist der Begriff der Zeitlichkeit gesetzt, in der die Zeit beständig die Ewigkeit abreißt und die Ewigkeit beständig die Zeit durchdringt." (Id.: "Der Begriff der Angst", p. 547) 28 Dementsprechend bedeutet für Elena Sala diese Szene, wie sie schon nach dem Gespräch mit dem Bischof verstanden hat, ihr Ende: "Terminó todo […]", sagt sie. Und weiter: "No sé cuánto hace, acabo de comprenderlo." (VB II, cap. VII, 617) moria y la fantasía). 27 Dass man, um ein solches Selbst zu werden, jedes einzelne Gesetz des Spiels annehmen muss, dass man selbst nicht geschaffen hat (todas y cada una de las leyes de un juego que no fue inventado por él), fasst noch einmal die Haltung des Menschen gegenüber dem Schöpfer und das Verhältnis zwi‐ schen Mensch und Welt zusammen. Man würde wohl die Pointe verfehlen, wenn man diesen Diskurs lediglich als eine religiöse Belehrung verstehen würde. Denn dieser Diskurs über das Selbst im Verhältnis zu Gott erscheint in einem Kapitel, das in auffälliger Weise mit dem Problem der Schöpfung von Brausen verbunden ist, so dass anzunehmen ist, dass diese beiden Themenkomplexe in einem Zusammenhang stehen. Ver‐ gegenwärtigt man sich, dass in diesem Kapitel die Existenz Gottes und das Ver‐ hältnis des Menschen zu ihm von jemandem gepredigt wird, dessen Existenz erst durch jemand anderen ermöglicht wird, der, das ist fast schon trivial fest‐ zustellen, nicht Gott ist - das Spiel von dem der Bischof spricht, hat in der Welt, in der der Bischof vorkommt, Brausen geschaffen - wird deutlich, dass dieser Diskurs des Bischofs nichts anderes als eine weitere Imagination von Brausen ist. Diese betrifft seine Schöpfung auch in dem Sinne, dass sie zur Selbststän‐ digkeit der Szene und der Welt, in der diese Szene spielt, ab dem Moment der Verzweigung der Geschichte führt. Das Ende dieser Rede ist nun, wie schon erwähnt, Resultat der zweiten Mög‐ lichkeit dieses ungeschriebenen Teils der Geschichte von Díaz Grey, d. h. dieses gibt es der Logik dieses Kapitels zufolge nur dann, wenn die vorherige Schilde‐ rung keine Posse gewesen ist. Es scheint aber, dass die Wahrheit, auch wenn diese vielleicht am Ende kaum von einer Posse zu unterscheiden ist, die trei‐ bende Kraft der Ereignisse ist. Dies insofern als Brausen im achten Kapitel des zweiten Teils mit dem sprechenden Titel "El fin del mundo", nachdem er Díaz Grey hat sterben lassen und sich dann entschließt, ihn von dem Ende Santa Marías auszuschließen, unmittelbar an das Ende des siebten Kapitels an‐ schließt, 28 in dem er sich vorstellt, wie Díaz Grey die tote Elena Sala findet: Entonces -no será necesario que yo mueva un dedo ni la cara- Díaz Grey se despertará en la habitación del hotel de La Sierra, descubrirá que la mujer a su lado está muerta, 140 Nataniel Christgau 29 Dass das nicht nur eine Spekulation ist, kann ein Blick in ein anderes Werk Onettis belegen. In dem Roman La muerte y la niña, in dem Díaz Grey der Protagonist ist, heißt es: "Dudaba, desinteresado, de sus años. Brausen puede haberme hecho nacer en Santa María con treinta o cuarenta años de pasado inexplicable, ignorado para siempre. Está obligado, por respeto a las grandes tradiciones que desea imitar, a irme matando, […]." (MN, "Capítulo segundo", 590) se lastimará un talón aplastando las ampollas vacías, la jeringa en el suelo; compren‐ derá con humillación y un admirado sentido de la justicia por qué Elena Sala dijo que sí la noche anterior; se someterá al imperio de una sensación melodramática, imagi‐ nará al amigo futuro destinado a escuchar su confesión: 'Ya estaba muerta, ¿entiende? , cuando yo la abrazaba. Y ella lo sabía'. (VB II, cap. VIII, 623) Dieser Passus ist ein Hinweis auf Elena Salas Zustand nach dem Gespräch mit dem Bischof. Ihr Wissen um ihren eigenen Tod, der sich schon vor ihrem Selbst‐ mord, der - wie alles - eine Phantasie Brausens ist, ereignet, steht in Zusam‐ menhang zu der Wahrheit, die ihr in der Rede mit dem Bischof offenbar wurde. Die Wahrheit der Szene betrifft dann ihr Selbst und ihre Selbsterkenntnis, wobei die Selbsterkenntnis dieser imaginären Figuren darin zu bestehen scheint, dass sie nicht existieren und niemals wirklich existiert haben, also auch kein Selbst haben. 29 Die Unabhängigkeit der Figuren, die ihr eigenes Leben betrifft, wäre dann zugleich ihr Tod bzw. ihr Wissen um ihre 'Nicht-Lebendigkeit'. Dennoch wäre die Wahrheit dieser Szene und wohl auch dieser religiösen Rede der Beweis für die Autonomie dieser imaginären Welt und der Figuren dieser Welt, deren Leben sich in diesem Moment jenseits des Willens ihres Schöpfers ereignet. Dass die religiöse Rede des Bischofs diesen Punkt markiert, ist deswegen bedeutsam, da sich die imaginäre Schöpfung Brausens mit einem Hinweis auf eine andere Möglichkeit vollendet, die dieser Welt Brausens, und das wird vor allem durch den Hinweis auf Kierkegaard deutlich, diametral entgegengesetzt ist. Damit wird das Religiöse, ja die Idee Gottes selbst, in den Roman integriert und der‐ gestalt das Religiöse in die Literatur miteinbezogen und zwar in den Moment der Wahrheit der Imagination Brausens selbst. Die Wahrheit dieser Rede, die Brausens Schöpfung in Frage stellt, stellt dann zugleich die Wahrheit seiner imaginären Welt dar; sie ist das Moment, an dem er seine Figuren schafft, die eine Art Selbstbewusstsein haben - und sei es nur das Bewusstsein, reine Fan‐ tasiewesen zu sein. Es scheint beinahe unnötig zu erwähnen, dass Onetti damit das Verhältnis zwischen Religion und Literatur, wie es Kierkegaard bestimmt, auf den Kopf stellt. Die Wahrheit für Díaz Grey und Elena Sala besteht in einer Selbsterkenntnis, in der sie erkennen, dass sie nicht sind. Das ist die Wahrheit von Figuren eines Schöpfers, der daran scheitert, zu einer Selbsterkenntnis zu gelangen und stattdessen seine Figuren eine solche Erfahrung machen lässt - 141 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve 30 Auf eine ähnliche Problematik hat Jorge Luis Borges in seiner Erzählung "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" hingewiesen, in der es heißt, dass einer der Erfinder von Tlön, Ezra Buckley, obwohl er nicht an Gott glaubt, diesem nichtexistierenden Gott beweisen möchte, dass die sterblichen Menschen in der Lage sind, eine Welt zu entwerfen: "Buckley descree de Dios, pero quiere demostrar al Dios no existente que los hombres mortales son capaces de concebir un mundo." (Ibid., p. 839) die Erfahrung, so könnte man mit dem Bischof sagen, aus dem Spiel Brausens auszusteigen, dessen Regeln sie nicht geschaffen haben. Damit erweist sich dieses Kapitel als das konzeptuelle Zentrum des Romans, in dem die grundle‐ gende Problematik des Romans selbst verhandelt wird: die Imaginationen, in die sich der Mensch flüchtet, da es für diesen keine Rettung gibt. Vielleicht müsste für eine solche Rettung die Idee der Rettung und die Einbildung selbst ver‐ schwinden, und am Ende auch die Idee des Schöpfers, wobei es fraglich ist, ob Literatur und Kunst im Allgemeinen auf diesen verzichten können. 30 Literaturverzeichnis Primärliteratur Borges, Jorge Luis: "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius", in: Id.: Obras Completas I, edd. Rolando Costa Picazo / Irma Zangara, Buenos Aires: Emecé 2009, pp. 831-841. Cioran, Emil: Précis de décomposition, Paris: Gallimard 2014. Kierkegaard, Sören: "Die Krankheit zum Tode" (1849 dän.), in: Id.: Die Krankheit zum Tode, Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Der Begriff der Angst, edd. Hermann Diem / Walter Rest, transtt. Günther Jungbluth / Rosemarie Lögstrup / Walter Rest, München: dtv 2010, pp. 23-177. ---: "Der Begriff der Angst" (1844 dän.), in: Id.: Die Krankheit zum Tode, Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Der Begriff der Angst, edd. Hermann Diem / Walter Rest, transtt. Günther Jungbluth / Rosemarie Lögstrup / Walter Rest, München: DTV 2010, pp. 441-640. Onetti, Juan Carlos: La vida breve [VB], in: Id.: Obras completas vol. 1 - Novelas I (1939-1954), ed. Hortensia Campanella, Prólogo de Pablo Rocca, Barcelona: Galaxia Gutenberg / Círculo de Lectores 2009 [1950], pp. 415-717. ---: La muerte y la niña [MN], in: Id.: Obras completas vol. 2 - Novelas II (1959-1993), ed. Hortensia Campanella, Prólogo de José Manuel Caballero Bonald, Barcelona: Galaxia Gutenberg / Círculo de Lectores 2009 [1973], pp. 581-631. Sekundärliteratur Dublé, Eduardo Thomás: "Desesperación y creación en Juan Carlos Onetti", Revista Chi‐ lena de Literatura, 46 (1995), 7-20. 142 Nataniel Christgau Poppenberg, Gerhard: "Nachwort", in: Juan Carlos Onetti: Gesammelte Werke Bd II, edd. Jürgen Dormagen / Gerhard Poppenberg, transtt. Curt Meyer-Clason / Wilhelm Muster, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, pp. 584-633. ---: "Nachwort", in: Juan Carlos Onetti: Gesammelte Werke Bd. IV, edd. Jürgen Dor‐ magen / Gerhard Poppenberg, transtt. Anneliese Botond / Jürgen Dormagen / Rudolf Wittkopf, Berlin: Suhrkamp 2015, pp. 603-663. Theunissen, Michael: Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung - Kierkegaards negati‐ vistische Methode, Frankfurt am Main: Hain 1991. 143 Die Autonomie und die Verzweiflung. Zu Juan Carlos Onettis La vida breve 1 Mario Vargas Llosa, op. cit., p. 26. 2 Roland Barthes hat den Begriff Doxa für unhinterfragte Annahmen, geläufige Mei‐ nungen oder totes Wissen geprägt. Cf. id., op. cit., pp. 77 sq. La 'profesión de la mentira' Lüge und Fiktion bei Onetti Florian Baranyi (Wien) I. Einleitung Rechtzeitig zum hundertsten Geburtstag von Juan Carlos Onetti im Jahr 2009 erschienen - wie üblich - Huldigungen, Studien und Editionen, die den Wert des uruguayischen Autors für das kulturelle Gedächtnis und seinen Stellenwert in der republica literaria bekräftigten. Eine der frühesten dieser Studien kam aus der allerersten Reihe jener, die mit dem symbolischen Kapital des literarischen Ruhms beschlagen sind: Mario Vargas Llosas Monographie El viaje a la ficción. Vargas Llosa verfolgt darin "la ficción, esa otra realidad inventada por el ser humano a partir de su experiencia de lo vivido " 1 durch die bekanntesten Texte Onettis. Auf den ersten Blick verwundert die Allgemeinheit der Zuschreibung, ist doch vorauszusetzen, dass die Erzeugung alternativer - von der 'eigentlichen' Realität zu unterscheidenden - Realitäten unter Verwendung von Fiktion das alltägliche Geschäft jeder Literatur sei, die sich aus historischen und kulturellen Gründen auf das allgemeine Doxa 2 der Dichotomie von Realität und Fiktion stützen kann. Auf den zweiten Blick, und hierum ist es Vargas Llosa wohl zu tun, ist jedenfalls eine besondere Qualität des Fiktiven in den Texten Juan Carlos Onettis zu konstatieren. Das äußert sich zweifellos in der Komplexität seines Erzählkosmos. In ihm herrschen mehrere Ebenen der literarischen Fiktion vor, die sich von Juan Maria Brausen, dem Protagonisten von La vida breve (1950) ausgehend entfalten, einander metaleptisch schließen, überkreuzen und oft mehrere divergierende Erzählungen und Perspektiven auf einzelne Handlungs‐ 3 Gerhard Poppenberg schreibt, dass "möglicherweise alle Geschichten in Santa María verschiedene Schichten desselben Komplexes sind: die Aufblätterung und Entfaltung dieser Schichten in einem sonderbaren Raum, in dem, wie in einem Schreibblock, dessen Blätter ohne Dicke sind, verschiedene Schichten übereinanderliegen und so Interfe‐ renzen bilden." Id., op. cit., p. 521. 4 Cf. Mario Vargas Llosa, op. cit., pp. 14-32. 5 Platon, op. cit., Buch 10, p. 436, 602 b. 6 Cf. Jochen Mecke, op. cit., p. 18. 7 Jochen Mecke führt aus, dass Platon selbst im Staat die eigentliche Lüge für Politiker aus Gründen der Staatsraison billigt. Cf. ibid. elemente vornehmen. 3 Mario Vargas Llosa sieht Onetti in einer Tradition von mit magischen Attributen ausgestattenden Geschichtenerzählern: Schamanen des Fiktiven, Boten der Kultur. 4 Während diese poetologische Feststellung sich als beredte Beschreibung des literarischen Projekts Vargas Llosas lesen lässt, spart sie doch etwas für das Schreiben Onettis Zentrales aus. Aufälligerweise vernachlässigt Vargas Llosas Deutung fast gänzlich einen Begriff, der aus Onettis Texten nicht wegzudenken ist: la mentira. Dieser Beitrag nimmt folgende Erkundungen vor: Erstens versucht er sich in einer kurzen historischen Situierung der Verbindung von Lüge und Fiktion. Die zweite Erkundung stößt mit dieser Konturierung in die poetologische Schicht von einigen Texten Onettis vor, um Onettis spezifischen und äußerst selbstbe‐ wussten Umgang mit der 'Lüge' als poetologisches Modell zu erläutern, das seine literarische Schöpfung kommentiert. Dies mündet in eine Diskussion der Po‐ tenzialität in Onettis Fiktionsverständnis. II. Historische Konturierung: Zwischen Lüge und Fiktion Am Anfang des verwickelten Verhältnisses zwischen Fiktion und Lüge stehen die Dichter, die Platon in seinem Staat auf abseitigen Posten verweist. Sie werden bekanntlich aus dem idealen Staat ausgeschlossen, da "der Nachahmer von dem, was er nachbildet, nichts weiß, was der Rede wert wäre, sondern […] die Nach‐ ahmung bloßes Spiel und kein Ernst ist. Und […] die Leute, die sich mit der tragischen Dichtung befassen […] alle ganz ausgesprochene Nachahmer sind." 5 Laut Platon bilden die Dichter also erst die Dinge, die ein Werkmeister nach dem ideellen Urbild des Schöpfergottes (Demiurgen) erschaffen hatte, nach: In der Rezeption ist dieses Urteil Platons meist als eine Lügenkritik an den Dichtern gelesen worden. 6 Freilich könnte hier eingewendet werden, dass diese Mimesis zweiten Grades - die dichterische Fiktion - zwar aus epistemologischen Gründen defizient sein mag, aber noch keinen eigentlichen Lügenvorwurf be‐ gründet. 7 Platon schreibt, die Dichter befänden sich in "Abstand von der Wahr‐ 146 Florian Baranyi 8 Platon, op. cit., Buch 10, p. 436, 602 b. 9 Ibid. p. 437, 602 c. 10 Augustinus: Confessiones - Bekenntnisse, p. 41. 11 Ibid. 12 Augustinus: Die Lügenschriften, p. 63. 13 Ibid. p. 62. 14 Zur schrittweisen Rehabilitierung der Fiktion in der Literatur des Mittelalters cf. Karl‐ heinz Stierle, op. cit., pp. 393-400. 15 Cf. "fiction, n." OED Online, Oxford: University Press 2016. www.oed.com/ view/ Entry/ 6 9828? rskey=mSVYgi&result=1&isAdvanced=false [20.12.2016]. heit" 8 , sie vermittelten also von vornherein "Blendwerk" 9 . Das Lügen aus stra‐ tegisch-politischen Gründen hat für Platon keinen negativen Beigeschmack. Das Problem mit dem dichterischen 'Blendwerk' liegt allein darin begründet, dass die Dichter kein Wissen von ideellen Dingen vermitteln können. Eine folgenreiche Abwertung sowohl der Fiktion als auch der Lüge findet sich bei Augustinus. Der Kirchenvater beschreibt in den Bekenntnissen, wie ihm als Kind die "eitlen Phantasiegebilde wie das hölzerne Pferd voller Krieger, der Brand Trojas und Kreusas Schatten" in Verglis Aeneis "köstlich" 10 schienen, in‐ zwischen habe er aber erkannt, dass sie Sünde seien. Auch auf Homer, der sich "auf solche Fabelgespinste" verstehe und "gar anmutig zu schwindeln weiß" 11 trifft dies zu. In seiner ethischen Kurzschrift De mendacio (Von der Lüge) eta‐ bliert Augustinus eine Definition der Lüge, die im Wesentlichen auch noch heute Gültigkeit besitzt: Jemand lügt, "der etwas anderes im Sinn hat, als er durch Worte oder sonstige Äußerungen zum Ausdruck bringt." 12 ("ille mentitur, qui aliud habet in animo et aliud verbis vel quibuslibet significationibus enun‐ tiat.") 13 Nimmt man die Abwertung der dichterischen Fiktion als eitle Phanta‐ siegebilde und die Definition der Lüge zusammen, ist es nicht weit bis zum Stehsatz, wonach alle Dichter Lügner sind. Augustinus verteufelt in seinen Be‐ kenntnissen einen gesamten Komplex, der aus Spiel, Neugierde, Phantasie und Lust am Erzählen besteht. Fiktion ist schlecht, weil sie vom Wesentlichen ab‐ lenkt, Lüge ist schlecht, weil sie von einem doppelten Herzen, einem doppelten Denken des Lügners zeugt. Der dichterischen Fiktion haftet also spätestens ab der Scholastik ein dubioser Bedeutungsanteil an, der sich sowohl in dem Bezug zum Wissen (Platon) als auch moraltheologisch (Augustinus) ableiten lässt. 14 Dieser dubiose Anteil lässt sich noch lange nachweisen. So findet sich für das englische fiction laut dem Oxford English Dictionary bis ins 17. Jahrhundert die Nebenbedeutung "[f]eig‐ ning, counterfeiting; deceit, dissimulation, pretence." 15 Bei Philip Sidney lässt sich eine der vielen strategischen Interventionen zur Aufwertung der dichter‐ ischen Fiktion aus dieser Zeit nachvollziehen. In seiner programmatischen 147 La 'profesión de la mentira' 16 Gelegentlich findet sich Sidneys Text auch unter dem Titel Apology of Poetry. 17 Philip Sidney, op. cit., p. 33. 18 Cf. Jochen Mecke, op. cit., p. 20. 19 Ibid. Schrift Defence of Poesie (1595) 16 nimmt er es auf sich, sie gegen die herrschenden Vorwürfe zu verteidigen. In seiner Apologie kann er somit natürlich nicht umhin, die Literatur gegen den nach wie vor virulenten Lügenvorwurf zu ver‐ teidigen: I think truly, that of all writers under the sun the poet is the least liar, and though he would, as a poet can scarcely be a liar. The astronomer, with his cousin the geomet‐ rician, can hardly escape, when they take upon them to measure the height of the stars. How often, think you, do the physicians lie […]? And no less of the rest, which take upon them to affirm. Now for the poet, he nothing affirms, and therefore never lieth. For, as I take it, to lie is to affirm that to be true which is false; so as the other artists, and especially the historian, affirming many things, can, in the cloudy knowledge of mankind, hardly escape from many lies. But the poet […] never affirmeth […]; in truth, not laboring to tell you what is, or is not, but what should or should not be. (eig. Hervorh.) 17 Sidney entgegnet Augustinus' Lügendefinition und Abwertung der Fiktion über den Hallraum der Schrift, der sich zwischen den Jahrhunderten öffnet: Wer nichts behauptet, kann nicht lügen. Die Argumentation gibt es nach wie vor. Die Literatur ist unfähig zu lügen, weil sie keinen Wahrheitsanspruch hat. So will es der Fiktionspakt. 18 Natürlich gilt das nur so lange, bis uns ein Text Signale gibt, dass er doch einen Wirklichkeitsanspruch einnehmen möchte. Jochen Mecke hat diverse kursierende Lügendefinitionen auf drei Merkmale konden‐ siert: 1. Jede Lüge basiert auf einer Diskrepanz zwischen Meinung / Gefühl und Äußerung. Wenn jemand lügt, sagt er etwas Anderes als das, was er wirk‐ lich denkt oder empfindet. 2. Diese Diskrepanz wird verdeckt. 3. Sie dient zu weiterführenden Zwecken, die gleichfalls verborgen bleiben. 19 Mecke meint ebenso wie Sidney, dass Literatur der Lüge nicht fähig sei. Wäh‐ rend Sidney schon bei Punkt eins ansetzt und meint, die Literatur tätige gar keine Aussage, die eine Diskrepanz aufweisen könne, setzt Mecke bei Punkt zwei an: Literatur verdecke die Diskrepanz zwischen Meinung und Äußerung nicht. Sobald man zugebe, dass man nicht die Wahrheit sage, könne man nie‐ 148 Florian Baranyi 20 Ibid. 21 Oscar Wilde, op. cit., pp. 75 sq. 22 Ibid. p. 76. 23 Ibid. p. 88. manden mehr damit täuschen. 20 Während ein fiktiver literarischer Text nicht als Lüge bezeichnet werden kann, kann die Lüge sehr wohl zum poetologischen movens des fiktionalen Texts erklärt werden. In Oscar Wildes The decay of lying findet sich eine solche Position. Der in Form eines Dialogs verfasste Essay dis‐ kutiert die Gründe für "the decay of lying as an art, a science and a social plea‐ sure. The ancient historians gave us delightful fiction in the form of fact; the modern novelist presents us with dull facts under the guise of fiction." 21 Nach Wildes Figur Cyril, die in dem fiktiven sokratischen Dialog aus dem der Text besteht, die ästhetischen Argumente liefert, wäre der ideale Künstler zugleich ein reiner Lügner. Noch bei Wilde findet sich ein Echo der Platon zugeschrie‐ benen Lügenkritik, die allerdings den Zusammenhang von Lüge und Fiktion nicht nur affirmiert, sondern sogar zum Programm erhebt. "Lying and poetry are arts - arts, as Plato saw, not unconnected with each other - and they require the most careful study, the most disinterested devotion." 22 Der Lügner gerät bei Wilde zum Modell für den ludischen und kreativen Menschen: "For the aim of the liar is simply to charm, to delight, to give pleasure. He is the very basis of civilized society […]." 23 Einige dieser Aspekte sind auf den Erzählkosmos Juan Carlos Onettis übertragbar. III. Lüge als poetologisches Konzept bei Onetti Man möchte meinen, dass sich Juan Carlos Onetti an Wilde orientiert hat. Die Gesamtheit der Texte, die in der fiktiven Provinzstadt Santa María spielen, liest sich wie jene unvoreingenommene Hingabe - disinterested devotion - zur Lüge, die Wilde forderte. Besondere Beachtung verdient der Gründungstext von Santa María. In La vida breve präsentiert sich Juan Maria Brausen zunächst als homo‐ diegetischer Erzähler seines eigenen trostlosen Lebens. Er ist ein mäßig erfol‐ greicher Werbetexter, der in einer bonarenser Agentur arbeitet und seit der Rückkehr seiner Frau Gertrudis, die sich einer Brustamputation unterziehen musste, ihrer beider Beziehung mit Beklemmung begegnet. Die Dinge, die ihn hauptsächlich beschäftigen, sind ein Drehbuch, an dem er arbeitet und die Le‐ benszeichen, die er durch die Wand des Appartments von seiner Nachbarin ver‐ nimmt. Das Drehbuch, das sein Freund und Vorgesetzter Julio Stein ihn zu schreiben bittet, solle nicht "dedicadamente malo" werden, "[p]ero sí un argu‐ mento no demasiado bueno." (VB I, cap. II, 432) Die erste Idee dafür bekommt 149 La 'profesión de la mentira' er, als er eine Morphiumampulle seiner Frau in der Hand hält: Es wird um einen Arzt gehen, Díaz Grey, der Probleme wegen des Ausstellens von Morphiumre‐ zepten bekommen hatte und sich nun in der Provinzstadt Santa María nieder‐ gelassen hat. Dieser erhält Besuch von einer gewissen Elena Sala, die Krank‐ heitssymptome simuliert und sich von ihm untersuchen lässt, damit er ihr Morphium verschreibt. Die Untersuchungsszene, ein Teil von Brausens gedan‐ klichem Skript, bildet das fünfte Kapitel von La vida breve. Schon kurz nach dem Eintreten Elena Salas ist sich der Arzt sicher, von ihr angelogen zu werden. Brausen erzählt uns zuerst aus der Außenperspektive von Díaz Greys Verdacht: "Díaz Grey casi se interesó por el prólogo; miró las pupilas dilatadas de la mujer, supuso que estaba mintiendo, que había venido exclusivamente para mentir." (VB I, cap. V, 451) Nur wenige Zeilen darunter sieht sich der Arzt bestätigt. Als Elena Sala von ihren panischen Zuständen erzählt, fragt er nach weiteren Symp‐ tomen: "-¿Ahogos? - 'Si hubiera sentido ahogos, lo habría dicho, lo contaría como el síntoma favorito. Miente; pero es muy hermosa, no pueden faltarle hombres; no comprendo para qué me va a mentir.'" (Ibid.) Die Erzählstimme ist jene Brausens, der uns auktorial die Innenperspektive Díaz Greys präsentiert. Elena Sala tritt nach der Aufforderung des Arztes hinter die spanische Wand, um ihren Oberkörper zu entblößen und sich untersuchen zu lassen. Erst am Ende der Szene bzw. des Kapitels in La vida breve wird Díaz Grey und damit den Lesern klar, dass Elena Sala von Díaz Grey ein Rezept kaufen will, um ihre Morphiumsucht zu befriedigen. Auf der Ebene einer sekundären Fiktionalisierung entwirft Onetti hier ein Modell der kreativen Arbeit der Fiktion. Brausen wählt die Elemente aus seiner Umwelt aus: Das Morphium, das Motiv der Wand, hinter der eine Frau seine Phantasie stimuliert, die entfernte Brust von Gertrudis, die Lügen, welche die wahren Gedanken der beiden Gesprächsteilnehmer verdecken sollen. Er kom‐ biniert die Elemente in einer zugespitzten Handlung in Form von zwei fiktiven Figuren, deren Grundzüge er wiederum von sich selbst und seiner Frau über‐ nimmt. Im Fortgang von La vida breve wird die Handlung zwischen Díaz Grey und Elena Sala weitergesponnen. Brausen empfindet aber durch die Erfindung von Díaz Grey und dessen Abenteuer keine Erleichterung. Neben der Fiktion entwickelt er eine weitere Strategie, um sich selbst zu entkommen. Er erfindet, oder besser gesagt, erlügt sich eine zweite Identität als Juan María Arce. Als Arce führt er eine Beziehung mit Queca, der Prostituierten, die in seiner Nach‐ barswohnung arbeitet. Während Onetti mit Brausens Imagination von Diaz Grey die Funktionsweise von Fiktion aufzeigt, eröffnet er mit Brausens erlo‐ gener zweiten Existenz ein Spiel, das eine Poetologie der Lüge vorführt. Die Lüge kennzeichnet nach Augustinus ja gerade, dass zwei Herzen in der Brust 150 Florian Baranyi 24 Stuart Hall, op. cit., p. 269. Ich danke Barbara Mahlknecht (Wien) für die anregende Diskussion zu La vida breve und den Hinweis auf den Text Stuart Halls. des Lügners schlagen, er nicht meint, was er durch Worte oder Gesten äußert. Brausens Zurückhaltung, sein Verzicht, seine Unfähigkeit Gertrudis sein schwindendes Begehren einzugestehen, sind Zeichen, die nicht zu seinem In‐ neren passen wollen. Brausen-Arce empfindet sich gewissermaßen als Objekt und Subjekt gleichzeitig. Oder, um es in die Worte von Stuart Hall zu kleiden: [T]his experience of, as it were, experiencing oneself as both subject and object, of encountering oneself from the outside, as another - an other - sort of person next door, is uncanny. It is like being exposed to a serialized set of embarrassments . 24 In Arce dissimuliert er Brausen, sein eigentliches Ich. Arce entsteht in dem Mo‐ ment, in dem Brausen sich dazu überwindet, Queca in ihrer Wohnung zu besu‐ chen. Als er sie sieht, kollidieren in ihm Phantasie und Wirklichkeit - und finden einen gewaltsamen Ausdruck: Y de la imposibilidad de confundir a la mujer de carne y hueso con la imagen formada por las voces y los ruidos, de la imposibilidad de conseguir la exitación que necesitaba extraer de ella, surgía hasta invadirme un creciente rencor, el deseo de vengar en ella y de una sola vez todos los agravios que me era posible recordar. (VB I, cap. XII, 493) Von da an, in dem Moment, in dem er Arce durch eine Lüge erschafft, fasst Brausen den Vorsatz, Queca umzubringen. Am Ende ist sie tot, ein anderer Freier hat sie umgebracht. Brausen beschließt, Ernesto, den Mörder, zu beschützen und flieht mit ihm aus Buenos Aires. Die letzte Station dieser Flucht ist die fiktive Stadt Santa Maria, die Wirkungsstätte von Díaz Grey. Hier befindet sich der erlogene Arce in seiner eigenen Fiktion. Er beginnt sich wieder in Brausen zu verwandeln: "[P]ensaba en Juan María Brausen, iba uniendo imágenes resbala‐ dizas para reconstruirlo, lo sentía próximo, amable e incomprensible, recordé que lo mismo había sentido de mi padre." (VB II, cap. XVI, 686) In der von ihm geschaffenen Welt denkt Arce bzw. Brausen über die kreative Schöpfung nach. Neben der Lüge, die ihn zu Arce machte, wurde er durch das Fingieren von Díaz Grey und seinem Umfeld gleichermaßen zum Vater aller Einwohner Santa Marías: "Todos eran míos, nacidos de mí, y les tuve lástima y amor" (ibid., 687). Der Unterschied zwischen seiner erlogenen Existenz als Arce und seiner Fiktion Santa María ist, dass die Fiktion ein Eigenleben führt, seit er das Drehbuch abgebrochen hat und in sie eingetreten ist. In jedem Moment behält Brausen aber die Möglichkeit, sich persönlich als Arce auszugeben oder sich als Brausen zu offenbaren. Letztendlich triumphiert die Fiktion über die 151 La 'profesión de la mentira' 25 Joaquín Soler Serrano, op. cit., Min. 09: 35. 26 Francisco Umbral, op. cit. Lüge. Ernesto und Arce werden in Santa Maria verhaftet. Mit den Worten "[u]sted es el otro […]. Entonces, usted es Brausen" (ibid., 697) denunziert Kom‐ missar Medina den falschen Arce vor Ernesto als Lügner. Der doppelte Befreiungsschlag des blassen Brausen - seine fiktive Existenz als Díaz Grey und seine erlogene als Juan María Arce - aus La vida breve ist für Onettis persönliche Poetik gar nicht wichtig genug einzuschätzen. In den fol‐ genden sanmarianischen Texten wird jede der unzähligen Alltagslügen, die den Normalfall der Kommunikation auszumachen scheinen, an die Fiktionalität (auf zweiter Stufe) der erzählten Welt erinnern. Für Onetti ist die Fiktion gleichsam die Fortführung der Lüge auf einer anderen Stufe, er verwischt die beiden Kon‐ zepte. Und gerade weil Onetti die Konzepte von Fiktion immer wieder verwischt, ergibt sich in seinem Erzählkosmos Santa María eine eigentümlich dichte Selbst‐ referenz. Bevor auf einige Passagen aus Dejemos hablar al viento (1979) und Cuando ya no importe (1993) einzugehen ist, die an die Thematisierung der Lüge in La vida breve anschließen, soll auf eine häufig verschmähte, aber doch ergiebige Quelle für Onettis poetologisches Selbstverständnis verwiesen werden: die Interviews, die er über Jahrzehnte gegeben hat. Bemerkenswert sind die Hinweise, die Onetti in dem Gespräch gibt, das Joaquín Soler Serrano im September 1976 mit ihm für das Fernsehprogramm Grandes Personajes a Fondo geführt hat. Hier er‐ klärt Onetti: "mentí todos estos libros" 25 . Die Phrase ist ausbaufähig. In einem Interview 1984 in El País, tätigt Onetti seinen berühmten Ausspruch: "Literatura es eso: mentir bien la verdad." 26 Das Reflektieren über die Lüge wird in Onettis Erzählkosmos zum privile‐ gierten Ort für poetologische Selbstvergewisserung. In Dejemos hablar al viento finden wir den sanmariner Kommissar Medina in der Stadt Lavanda vor. Er ist der homodiegetische Erzähler des ersten Teils des Romans. In diesem ersten Teil von Dejemos hablar al viento sind Lügen ständig präsent. Meist, wie auch schon in La vida breve, im Gespräch zwischen den Figuren, häufig als Inquitformel mintio oder mentí. Die Lüge wird in Dejemos hablar al viento aber auch auffällig oft im Zusammenhang mit Erinnerung gebraucht. Schon der sterbende alte Mann, den Medina zu Beginn des Romans betreut, schafft eine Verbindung von recuerdos und mentiras: "[…] murmurando palabras que aludían, minuciosa‐ mente equivocados, a recuerdos que nunca fueron la verdad total, a sucesos o mentiras no conocidos por él […]." (DV I, cap. I, 643) 152 Florian Baranyi Während der Betreuung des alten Mannes gibt sich Medina als Arzt aus. Frieda, eine einflussreiche Frau von der er abhängig ist, hat ihm eine Vergan‐ genheit als Mediziner erlogen: La desgracia inventada por Frieda para humillarme durante semanas junto a la cama del viejo, me sirvió alguna vez para retocar un pasado. Era más real que mis hechos, que yo mismo. […] Un recuerdo, una mentira del recuerdo. (Ibid., 648) Die falsche Vergangenheit erscheint Kommissar Medina realer als seine Taten, als er selbst. Den Leser wundert das freilich nicht, er weiß ja von vornherein, dass Medina - wie ganz Santa María - ein fiktionales Produkt des vom Autor Onetti fingierten Juan Maria Brausen ist. Medina versucht über den gesamten ersten Teil von Dejemos hablar al viento mit der Unterscheidung von Lüge und Erinnerung zurande zu kommen: Puedo mentir, pero no quiero hacerlo aquí; porque se trata de un recuerdo y cualquier imbécil puede retorcer los alambres de un recuerdo, darle formas bonitas, colores adecuados, plantarlos encima de un mueble o una charla. (DV I, cap. XX, 735) Die Drähte der Erinnerung und der Erfahrung verbiegen - das ist genau das, was Brausen tat, als er Santa María erschuf. Medina, die Figur auf der zweiten Ebene der Fiktion, wehrt sich gegen die Lügen der Erinnerung aus denen er erschaffen ist. Im letzten Kapitel des ersten Teiles von Dejemos hablar al viento landet Medina, immer noch in Lavanda, schließlich in einem Bordell. Der Be‐ treiber ist ein alter Bekannter Medinas: Junta Larsen, der scheiternde Held in Onettis Juntacadaveres und Antiheld in El astillero. Im Gespräch zeigt sich, dass sich beide bewusst sind, von Brausen geschaffen worden zu sein. Medina scheint in Brausen aber noch eine Art Schöpfergott zu sehen, eine Möglichkeit, die in Onettis Erzählkosmos von den Sanmarianern häufig erwogen wird. Allein, Larsen weiß mehr als Medina und präsentiert dem von Heimweh nach Santa María geplagten Kommissar einen Zettel mit der Passage aus La vida breve in der Brausen Santa María erfindet: Además del médico, Díaz Grey, y de la mujer, tenía ya la ciudad donde ambos vivían. Tenía ahora la ciudad de provincia sobre cuya plaza principal daban las dos ventanas del consultorio de Díaz Grey. Estuve sonriendo, asombrado y agradecido por que fuera tan fácil distinguir una nueva Santa María en la noche de primavera. La ciudad con su declive y su río, el hotel flamante y, en las calles, los hombres de cara tostada que cambian, sin espontaneidad, bromas y sonrisas. (DV I, cap. XXIII, 766 sq.) Die Passage ist fast wortgleich aus La vida breve übernommen. Mit einem ge‐ wichtigen Unterschied: Die Sätze, die auf Brausens unmittelbare Umgebung an‐ 153 La 'profesión de la mentira' spielen, erscheinen in der intertextuellen Übernahme, die Medina liest, ausge‐ spart: … Además del médico, Díaz Grey, y de la mujer que desaparecía detrás del biombo para salir con el busto desnudo, volvía a esconderse sin impaciencia y regresaba vestida, tenía ya la ciudad donde ambos vivían. 'No quiero algo decididamente malo -me había dicho Julio-; no una historia para revista de mujeres. Pero sí un argumento no demasiado bueno. Lo suficiente para darles la oportunidad de estropearlo.' Tenía ahora la ciudad de pro‐ vincia sobre cuya plaza principal daban las dos ventanas del consultorio de Díaz Grey. Sigilosamente, lento, salí de la cama y apagué la luz. Fui caminando a tientas hasta llegar al balcón y palpar las maderas de la celosía, corrida hasta la mitad. Estuve sonriendo, asombrado y agradecido por que fuera tan fácil distinguir una nueva Santa María en la noche de primavera. La ciudad con su declive y su río, el hotel flamante y, en las calles, los hombres de cara tostada que cambian, sin espontaneidad, bromas y sonrisas. (VB I, cap. II, 432, eig. Hervorh.) Das Aussparen der Sätze, die auf Brausens Alltagsleben hindeuten ( Julio Stein, Gertrudis hinter der spanischen Wand, Handlungen im Appartment in Buenos Aires) begünstigen die ambivalente Deutung Brausens als Schöpfergott bzw. unzufriedenen Großstädter. Nachdem Medina in Dejemos hablar al viento die Passage gelesen hat, erklärt ihm Larsen, dass Brausen "[s]e estiró como para dormir la siesta y estuvo inventando Santa María y todas las historias. Está claro." (DV I, cap. XXIII, 767) Auch Medina könne, so Larsen, sich wie Brausen ein eigenes Santa María erschaffen: "[H]aga lo mismo. Tírese en la cama, invente usted también. Fabríquese la Santa María que más le guste, mienta, sueñe per‐ sonas y cosas, sucedidos." (Ibid.) Der zweite Teil von Dejemos hablar al viento wird auktorial und heterodie‐ getisch erzählt. Medina wird uns aus der Außenperspektive geschildert. Auf welcher Fiktionsebene das Geschehen liegt, ist schwierig zu deuten. Allerdings gibt ein Teil der eröffnenden Passage des 24. Kapitels einen Hinweis: Medina entró en la sombra de los arcos del Mercado Viejo de Santa María y se detuvo para quitarse el sombrero de paja y pasarse el pañuelo por la frente. Mustio, pálido, el gran letrero en tela rezaba: ESCRITO POR BRAUSEN." (DV II, cap. XXIV, 771) Da der Erzähler darauf hinweist, was Medina gerade erfahren hat, nämlich dass Brausen nicht der gottgleiche Schöpfer von Santa María, sondern deren Träumer, Dichter, Lügner, Autor ist, liegt es nahe anzunehmen, der zweite Teil von Dejemos hablar al viento sei eine Schöpfung Medinas. Trifft das zu, befindet sie sich auf der dritten Fiktionsebene. Das Eigentümliche an Onettis fiktionalen Ebenen ist jedenfalls, dass sie einander nicht nur in Metalepsen kurzschließen 154 Florian Baranyi 27 Dies bildet gerade den Unterschied zu Borges' verschachtelten, aber stets kausal aufei‐ nander bezogenen Fiktionsebenen. In "Las ruinas circulares" (1944) erkennt der Prota‐ gonist gerade in dem Moment, in dem er verbrennen sollte, dass er fiktiv ist, da die Flammen ihn nicht verbrennen: "Caminó contra los jirones de fuego. Éstos no mord‐ ieron su carne, éstos lo acariciaron y lo inundaron sin calor y sin combustión. Con alivio, con humillación, con terror, comprendió que él también era una apariencia, que otro estaba soñándolo." Id., op. cit., p. 455. (Brausen flüchtet als Arce nach Santa María, Medina liest in Lavanda den onet‐ tischen Text, in dem Brausen Santa María erfindet), sondern dass die Ebenen nicht hierarchisch zu sein scheinen. Die Logik von Zeit und Raum greift in Santa María nur bedingt. Medina stiftet am Schluss von Dejemos hablar al viento den Roten an, ein Feuer zu legen, das Santa María zerstören soll. Befände sich dieses erzählte Feuer als Fiktion von Medina, der eine Fiktion von Brausen ist, der eine Fiktion von Onetti ist, auf einer hierarchisierten dritten Ebene, dürfte das Santa María auf der zweiten Ebene, in dem Medina und Larsen einst lebten, nicht zu brennen beginnen. 27 In Onettis letztem Roman Cuando ya no importe sprechen Díaz Grey und der Schmuggler, der nur der Türke Abu genannt wird, im Beisein des Protagonisten Carr über diesen, von Medina angestifteten Brand: La conversación estuvo dando unas vueltas aburridas hasta que alguno de ellos re‐ cordó un incendio del que nunca había oído hablar.-Es el estilo sanmariano- dijo el médico. Es triste pero la verdad fue que hasta en esto fracasaron. (CI, "15 de octubre", 996) Die Erzählung Carrs, die in Form eines Tagebuchs den letzten Text zu Santa María bildet, gibt zumindest Gewissheit darüber, dass der Brand in dem von Medina erträumten Santa María auch in Brausens Santa María stattgefunden hat. Allerdings hat Medina sein Ziel, die Stadt zu zerstören, nicht erreicht. Auch im Reflektieren der Lüge setzt Cuando ya no importe den früheren Roman De‐ jemos hablar al viento fort. Auch hier finden sich Passagen, wie die folgende über den Türken Abu, die das Verhältnis von Erzählen, Erinnerung und Lügen the‐ matisieren: Una vez el turco estuvo contando un recuerdo que le hacía mucha gracia y que, sin embargo, traducido tenía bastante belleza. Sobre todo si se lo pensaba agregando al‐ gunos detalles, algunas mentiras que acaso no lo fueran del todo. (Ibid., 997) Lügen machen die Geschichte detailreicher und schöner und am Ende ist nicht einmal klar, ob sie nicht doch wahr sind. Onetti bezieht sich hier auf das bereits erwähnte Paradox der Lüge: Sobald sie eingestandenermaßen erzählt wird, un‐ 155 La 'profesión de la mentira' 28 Das äußert sich alleine schon in den Schreibweisen der Stadt als Santa María bzw. Santamaría. Detaillierte Beobachtungen zu Veränderungen und Fragmentierungen Santamarías in Cuando ya no importe finden sich bei: Mathilde Silvera, op. cit., pp. 119 sq. tergräbt sie ihre eigene konstitutive Bedingung der Dissimulation - eine Lüge die angekündigt erzählt wird, fügt Details zu einer Geschichte hinzu, aber täuscht niemanden. Sie gerinnt zur Fiktion. Eine letzte Passage zu Onettis Poe‐ tologie der Lüge, die in diesem Rahmen diskutiert werden kann, verhandelt schließlich den Stehsatz, wonach die Dichter Lügner sind, bringt ihn aber ge‐ hörig zum Schillern. Carr schreibt einen Tagebucheintrag, in dem er "las con‐ fesiones de Díaz Grey, médico de Santamaría" (CI, "12 de junio", 1012) niederlegt. [M]i memoria no ha registrado nada anterior a mi aparición en Santamaría a los treinta años de edad y con un título de médico bajo el brazo. Puede ser, lo pienso a veces, un caso muy extraño de amnesia. Imagino que yo tambíen tuve, como usted, infancia, adolescencia, amigos y padres, lo inevitable. Hace años jugué a imaginar sustituirlos para llenar esos vacíos. […] Hasta que llegué a olvidar todos los pasados que nunca tuve y conformarme con mi arribo a Santamaría, médico y treintañero. Un pasado creíble sólo puede ponerlo por escrito un novelista, un mentiroso que hizo profesíon de la mentira. Pasados, presentes y futuros verosímiles para personajes. (Ibid., 1013) Die Schriftsteller haben als professionelle Lügner eine Gabe, die Díaz Grey fehlt. Sie sind im Stande, wahrscheinliche Leben zu fiktionalisieren. Ihm selbst man‐ gelt es an einer Vergangenheit. Die Stelle zeigt, wie prozessual der Erzählkosmos Santa Marías ist. 28 Als er mit dreißig Jahren von Brausen erschaffen wurde, konnte sich Diaz Grey noch an die Zeit vor der Provinzstadt erinnern, an die Zeit in der er fast wegen Morphiumrezepten verhaftet worden wäre. Zwischen La vida breve und Cuando ya no importe liegen in der realen Welt 43 Jahre. Díaz Grey ist auf den Hunderten von Seiten, die den Mythos von Santa María in dieser Zeit fortschrieben, aber nur um 20 Jahre gealtert. Das können wir aus einem Kommentar Carrs ablesen, in dem er meint, Grey "no podía pasar mucho de los cincuenta años." (CI, "10 de diciembre", 1028) Onetti verhandelt in den Passagen, in denen er über die Lüge reflektiert, die Regeln und Probleme seines Erzählkosmos. Ab La vida breve findet sich das Modell der Lüge als Komplementärkonzept zur Fiktion, wobei Onetti die Un‐ terscheidbarkeit der beiden ständig verwischt und unterläuft. 156 Florian Baranyi 29 Für Anregungen zu diesem Punkt während des Symposiums, das diesem Sammelband zugrunde liegt, danke ich insbesondere Gerhard Poppenberg (Heidelberg), Victor Ferretti (Augsburg) und Nataniel Christgau (Berlin). 30 Juan Carlos Onetti: "Conversación con Emir Rodríguez Monegal (1970)", p. 968. IV. Potentialität und Lüge 29 Die knappe Geschichte des Spannungsverhältnisses zwischen Lüge und Fiktion, die in diesem Beitrag skizziert wurde, ist im Hinblick auf die Makrostruktur von Onettis prozessualem Erzählkosmos Santa María unvollständig. Die Reflexion über das Wesen der literarischen Kreativität bringt dieselbe mit der Idee der Schöpfung in Verbindung. So erscheint Brausen den Einwohnern Santa Marías als Schöpfergott, gleichzeitig haben privilegierte Figuren ein recht genaues Be‐ wusstsein ihres Status als Fiktionen des Drehbuchschreibers Brausen. Wie‐ derum ist die Keimzelle dieser Aufspaltung in La vida breve zu finden. Im Kapitel "La salvación" erklärt Brausen, wie er sich als Díaz Grey und seine nicht mehr begehrte Frau Gertrudis als Elena Sala neu erschaffen, sich in ihnen retten will: Entraría sonriente en el consultorio de Díaz Grey-Brausen esta Gertrudis-Elena Sala, la que conocí aquella noche y que me habia estado examinando mientras yo bebía y discutía con Stein, hundida en un sillón, acariciándose la cabeza, encogida y absorta y siempre sonriendo. Para hacer vivir a Díaz Grey, esta muchacha despidío a Stein y cuando estuvo sola conmigo se acercó hasta tocarme, cerrando los ojos. (VB I, cap. IV, 447) Hier tut sich die schöpferische Dimension des Brausen'schen Rettungsversuches auf. Er wird zum Gott, der sich in Díaz Grey neu zu erschaffen versucht. Die eigentümliche räumliche und zeitliche Logik, die dem fiktionalen Mikrokosmos von Santa María eignen, zeigen die Möglichkeiten dieser Schöpfung. In der Fik‐ tion, so hat es Onetti in einem Interview formuliert, "están Tata Dios y Onetti, y nada más." 30 Hier wird das Thema der Potentialität berührt, die endlose Kon‐ tingenz der Möglichkeiten, die durch den fiktionalen Schriftraum geschaffen werden kann. Tatsächlich sind die Begriffe der Potentialität und der Fiktion in Onettis Schreiben eng verbunden. Die Schwierigkeit der Potentialität liegt nach Giorgio Agambens Interpretation in ihrem Bezug zum Akt: [W]enn die Potenz immer nur die Potenz etwas zu tun oder zu sein wäre, dann könnten wir sie niemals als solche erproben, gemäß der megarischen These würde sie nur in dem Akt existieren, der sie verwirklicht. Eine Erfahrung der Potenz als solcher ist nur möglich, wenn die Potenz immer auch eine Potenz des Nicht ist (etwas nicht zu ma‐ 157 La 'profesión de la mentira' 31 Giorgio Agamben, op. cit., p. 23. 32 Ibid. p. 51. 33 Cf. Bernardo Peréz Álvarez, op. cit. 34 Genau hierin könnte der Schlüssel zur frappierenden Misogynität in Onettis Texten liegen. Fernando Aínsa hat bereits 1970 in seiner Pionierstudie zu Onetti darauf hin‐ gewiesen, dass die weiblichen Figuren grundsätzlich nur als verheißungsvolle und pure muchachas, als bedrückend reife und heimtückische mujeres oder als Prostituierte ge‐ zeichnet werden. Cf. Fernando Aínsa, op. cit. Die weitere im lateinamerikanischen Ma‐ chismo vakante Rollenzuschreibung, die Mutter, erscheint bei Onetti marginalisiert. Für erste Beobachtungen zu Juntacadáveres (1964) und El astillero (1961) cf. Jimena Ugaz, op. cit. Dabei wäre die Geburt, die Schöpfung eines eigenständigen Wesens aus der geschlechtlichen Fortpflanzung, ein valides positives Gegenmodell zu der durch Lügen markierten ontologischen Verunsicherung in Onettis Texten. chen oder nicht zu denken), wenn es sein kann, daß die Schreibtafel nicht beschrieben wird. (Hervorh. i. Orig.) 31 Die Fiktionen, die von Brausen ausgehen und sich auf die zweite und dritte Ebene erstrecken, sind Erkundungen der Potenz. Sie sind in einer gewissen Weise absolut und setzen das Kontingenz einschränkende "Prinzip der Unwi‐ derrufbarkeit der Vergangenheit" 32 außer Kraft. Daher gibt es in Santa María antikausale Widersprüche und nicht-hierarchische Fiktionsebenen. 33 Diese Po‐ tenz der von Brausen erschaffenen Fiktionen wird aber durch die "mentiras del recuerdo" relativiert. Brausen ist einerseits ein Schöpfergott, aber seine creatio ex nihilo ist zugleich eine creatio ad nihilio: Sie führt kein eigenständiges Leben außerhalb von Brausens Vorstellung. 34 Außerdem ist sie genauso defizient wie er selbst; geboren aus einem Moment der Daseinsflucht, existiert Santa María nur solange Brausen sie imaginiert. Darum wird er für die Bewohner von Santa María zum "[p]adre Brausen que estás en la Nada" (MN, "Capítulo primero", 585). Die Lüge wird somit zum poetologischen Gegendiskurs, mit dem die Geschöpfe Brausens die Potentialität ihrer fingierten Existenz reflektieren - dass sie eben auch genauso gut nicht sein könnten. Oder nur solange sind, wie Brausen ist: Ein fiktiver Protagonist im Roman La vida breve des Autors Juan Carlos Onetti. Literaturverzeichnis Primärliteratur Augustinus: Confessiones - Bekenntnisse, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2004. ---: Die Lügenschriften op. I - Weitere antihäretische Schriften und Adversus Iudaeos Bd. 50, Paderborn: F. 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Darüber hinaus taucht im Vorspann des Films von Schroeter der Verweis auf: "D'après le roman de Juan Carlos Onetti, Para esta noche […]". Schroeter markiert hier also die enge Anlehnung an den Roman. Der italienische Filmregisseur Carlo di Carlo (1918-2016) drehte seinen ersten long-métrage auf der Grundlage von Onettis Roman. Per questa notte (1977) wurde auf den Filmfestivals in Berlin, Hyères, Pesaro und Cannes (in der 17e Selection de la Semaine de la Critique 1978) vorgestellt. Für weitere Informationen hierzu cf. die itali‐ enische Filmdatenbank MyMovies.it, www.mymovies.it/ cast/ ? id=18049 sowie das Ar‐ chiv "Fondo Carlo di Carlo" der Datenbank Cineteca Bologna, www.cinetecadibologna .it/ biblioteca/ patrimonioarchivistico/ fondo_di_carlo. Kunstwirklichkeit und affektives Wirkpotential in Onettis Para esta noche und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht Inke Gunia (Hamburg) Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht aus dem Jahr 2008 liegt eine deut‐ lich markierte Beziehung zu dem Roman Para esta noche von Juan Carlos Onetti zugrunde, und zwar in der nach der Erstausgabe 1943 (Poseidón in Buenos Aires) im Jahr 1966 (Arca in Montevideo) von Onetti noch einmal überarbeiteten Ver‐ sion des Romans. 1 Schroeters Film greift einerseits inhaltliche Schlüsselszenen bzw. Ereignissequenzen des Romans heraus und behält dessen Figurenkonstel‐ 2 Der Versuch des ehemaligen Parteimitglieds und Kämpfers Ossorio aus der belagerten Stadt herauszukommen; Morasán, Polizeichef und sein Gegenspieler, der über die Aus‐ gabe vermeintlicher Schiffspassagen nach den Gegnern des Regimes zu fahnden ver‐ sucht; das First and Last als letzter Ort des Vergnügens und der Übergabe von den so gesuchten Tickets für das einzige am Hafen für die Flucht noch zur Verfügung stehende Schiff Bouver; die Huren, die Morasán zum Teil zuarbeiten, die Parteizentrale, in der Martins den Oberbefehl über ein paar Militärs hält; der Unterschlupf Barcalas, den Os‐ sorio aufspürt, verrät und damit Barcalas Tod besiegelt; die Folter von Irene, der Ge‐ liebten Barcalas, um den Ort des Aufenthaltes von letzterem herauszufinden; die kurz‐ zeitige Aufnahme Ossorios in einer Pension, wo ihm Victoria, die 13-jährige Tochter Barcalas, zur Obhut übergeben wird, weil man glaubt, er sei Santana; der Tod Morasáns; der Tod Victorias und Ossorios auf deren Flucht. 3 Der Film nimmt an einer einzigen Stelle Bezug zur aktuellen Gegenwart, ohne diesen jedoch zu konkretisieren. Es handelt sich um den Verweis auf Probleme mit dem Internet und faschistischen Demonstrationen, der über eine kurze Detailaufnahme der Zeitung L'Independent. Diário de Santa María erfolgt (in dieser ungewöhnlichen Schreibweise). Es handelt sich dabei um den Leitartikel der Zeitung nebst Foto einer Demonstration, auf der auch der Protagonist Ossorio zu sehen ist. Der Leitartikel wird von Morasán in die Kamera gehalten (01: 01: 04). Damit beweist er, dass er Ossorio wiedererkannt hat. Eine Veränderung der Handlungsstruktur aus Gründen dieses Bezugs auf eine aktuelle, wo auch immer in der faktischen Welt verortete Gegenwart findet nicht statt. lation bei. 2 Andererseits setzt er sich aber auch interpretierend mit dem Hypo‐ text auseinander. Der Film vermeidet eine Referenz an die aktuelle faktische Wirklichkeit. 3 Schroeter war bei dem Dreh des Films schon vom Tod gezeichnet, möglicherweise war auch das ein Grund, weswegen er den Roman von Onetti wählte und den Tod und die Furcht davor ins Zentrum seines Films stellte. Eine das Grauen auslösende Tötungsszene spielt schon in der Titelsequenz eine Rolle, wenn das Kameraauge über einzelne Elemente des Tizian-Gemäldes Die Schin‐ dung des Marsyas wandert. Die Kamerafahrt wird begleitet von dem 2. Satz aus dem Violinkonzert in D-Dur, OP 61 von Ludwig van Beethoven. Die Musik ist von einem Vinylrauschen begleitet und vermittelt zusammen mit der Kamera‐ bewegung den Eindruck eines subjektiven Blicks in einer privaten Atmosphäre. Die Kamera zeigt zunächst das Gesicht eines bärtigen Mannes mit üppigem Haar (es ist ein Satyr, möglicherweise Pan), fährt dann an dessen Körper herunter und lässt einen weiteren Mann (König Midas mit Diadem) rechts von ihm in melan‐ cholischer Pose sitzend erkennen. Ein Eimer, den der Satyr in der Hand trägt, kommt ins Bild und das Gesicht eines Kindes, welches den Arm um den Hals eines Jagdhundes mit offener Schnauze hält. Der 'Blick' fährt weiter nach links unten und zeigt den nach unten hängenden Kopf des halbgöttlichen Marsyas, dem bei lebendigem Leib die Haut abgezogen wird. Ganz links sind eine Hand und ein Skalpell zu sehen und unter dem Kopf des Marsyas ein weiterer kleiner Hund, der aus einer Blutlache leckt. Die Kamera fährt wieder nach oben und 162 Inke Gunia 4 Cf. Christiane Voss, op. cit., p. 12. gibt den Blick auf einen knienden Mann mit Lorbeerkranz frei, dessen ganze Konzentration dem Häutungsprozess gilt (es könnte sich um Apollon handeln). Oberhalb des Knieenden sieht der Zuschauer dann einen Violinisten und rechts von ihm einen weiteren Mann, der mit einem Skalpell mit dem Häuten beschäf‐ tigt ist. An dieser Stelle hat die Violine ihren letzten und höchsten Ton erreicht. Es ist nur noch das Rauschen des Grammophoneffekts zu hören, als eine Stimme aus dem Off aus Shakespeares Julius Caesar zu zitieren beginnt, während die Kamera zurück zum Gesicht des bärtigen Satyrs fährt und dort kurz verharrt. Es handelt sich dabei um die Stimme Schroeters, die Caesars Worte kurz vor dessen Tod spricht (2. Aufzug, 2. Szene): Von allen Wundern, die ich je gehört, scheint mir das größte, dass sich Menschen fürchten, da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller, kommt, wann er kommen soll. Film und Literatur stehen unterschiedliche mediale Möglichkeiten der Sinn‐ konstitution zur Verfügung. Abgesehen von den oben erwähnten inhaltsseitigen Gemeinsamkeiten, weisen beide Medien funktionale Äquivalenzen auf. Im Fol‐ genden möchte ich das affektive Wirkpotenzial des Films im Vergleich mit dem Roman, auf den er sich bezieht, versuchen zu beschreiben. Dabei werde ich mich im literarischen Text auf den Bereich der Sprache in den ersten fünf Kapiteln und im Film auf die Bildkomposition, die Licht- und Farbdramaturgie haupt‐ sächlich in Sequenzen aus dem Trailer konzentrieren. Wie sich schon durch die Titelsequenz ankündigt, spielen auch der Ton und die Musik eine sehr große Rolle. Diesen Aspekt werde ich jedoch nur streifen. Er verdient eine eigene um‐ fängliche Untersuchung. I. Überlegungen zu den Begriffen Affekt und Emotion In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit affektiven Phänomenen diver‐ gieren die Meinungen hinsichtlich der intensionalen und extensionalen Bedeu‐ tungen der Begriffe Gefühl, Emotion, Laune, Stimmung, Empfindung, affektive Einstellung, Lust-,Unlustgefühl. Die Weimarer Philosophin audiovisueller Me‐ dien Christiane Voss schlägt eine semantische Abgrenzung der Begriffe vor: das Gefühl umfasse alle affektiven Phänomene, alle "subjektiven Wahrnehmungen innerer und äußerer Zustände". 4 Demnach sei Gefühl ein Hyperonym, welches als Hyponyme alle übrigen genannten Begriffe umfasse. Traditionelle Syno‐ 163 Onettis Para esta noche und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht 5 Cf. ibid., Zitat p. 11. 6 Cf. ibid., Zitate p. 12. 7 Ibid., p. 13. 8 Ibid. Interessant ist der Vergleich mit dem spanischen Gebrauch von Affekt und Emo‐ tion. Der Diccionario de la lengua española der Real Academia Española zeigt gegen‐ sätzliche Ergebnisse, denn afecto ist der neutralere Begriff und emoción hat die Bedeu‐ tung der deutschen Begriffe Affekt und Leidenschaft: "afecto. (Del lat. affectus). 1. m. Cada una de las pasiones del ánimo, como la ira, el amor, el odio, etc., y especialmente el amor o el cariño. […] emoción. (Del lat. emotĭo, -ōnis). 1. f. Alteración del ánimo intensa y pasajera, agradable o penosa, que va acompañada de cierta conmoción so‐ mática." Mit anderen Worten: Im Spanischen ist die intensionale Bedeutung von emoción eingeschränkter als die von afecto. Cf. Diccionario de la lengua española, s.v. 9 Hans Jürgen Wulff, op. cit., p. 1. 10 Cf. ibid. nyme zu dem Begriff Emotion seien Affekt und Leidenschaft, sie reserviert die letztgenannten Begriffe Affekt und Leidenschaft "für die besonders überwälti‐ genden Formen emotionaler Erregung". Der Begriff der Emotion habe den Vor‐ teil, neutraler konnotiert zu sein. 5 Sowohl Emotion als auch Affekt haben das Sem [Passivität] gemeinsam, wegen ihrer lateinischen Etymologie (movēre, af‐ fectus und afficere). Sie bedeuten eine bestimmte Wirkung, die durch etwas in einem Subjekt verursacht wurde. Launen und Stimmungen haben für Voss einen "undifferenzierten Effekt auf die Befindlichkeit" (nicht-intentional oder inten‐ tional diffus); Launen seien aber "sprunghafter in ihrem Auftreten und Ver‐ schwinden". Zu den affektiven Einstellungen zählt Voss "Sympathie, Antipathie, Vertrauen und Misstrauen sowie lokalisierbare und diffuse Empfindungen und sogar Intuitionen". 6 Empfindungen beziehen sich auf "körperliche […] Wahr‐ nehmungen im engeren Sinn". 7 Lust- und Unlustgefühle seien "organisch nicht lokalisierbare", aber "wahrnehmbare[…] Zustandsveränderungen". 8 Deutlicher noch als Voss grenzt der Kieler Medienwissenschaftler Hans Jürgen Wulff Affekte von Emotionen, Gefühlen, Stimmungen usw. ab. Affekte seien in der "grundsätzlichen Gerichtetheit menschlichen Bewusstseins be‐ gründe[t]" und kämen nur zustande, wenn das Subjekt auf das Objekt ausge‐ richtet sei. 9 Wulff bezeichnet Affekte daher als "relationale Tatsachen". Emoti‐ onen (und synonym dazu Gefühle) sind für Wulff "psychische […] Erregungen", die "subjektiv und zugleich 'als subjektiv' wahrgenommen werden. […] Emoti‐ onen sind in dieser Hinsicht reflexiv, selbstbespiegelnd, selbst-gewiss. "Letzteres unterscheide sie zudem von dem Affekt. Mit anderen Worten, distinktiv für den Affekt sei, dass er nicht das bewusste Wahrnehmen und Erleben impliziere. 10 Dadurch, dass Wulff den Aspekt der Ausrichtung des Subjekts auf ein Objekt, die "Beziehung[…] des Subjekts zum Objekt der Aneignung", als Bedingung für die affektive Wahrnehmung des Subjekts sieht, macht er den Begriff des Affekts 164 Inke Gunia 11 Ich betrachte den Text als ein Zeichensystem und bezeichne daher auch Filme als Texte. 12 Cf. Hans Jürgen Wulff, op. cit., Zitate p. 4. 13 Ibid., p. 2. 14 "First, the implied reader can function as a presumed addressee to whom the work is directed and whose linguistic codes, ideological norms, and aesthetic ideas must be taken into account if the work is to be understood. In this function, the implied reader is the bearer of the codes and norms presumed in the readership." (Wolf Schmid: "Implied Reader") 15 Cf. Roman Ingarden, op. cit. 16 Cf. Wolfgang Iser, op. cit. sowohl für die Steuerungsmechanismen der Produktionsseite als auch für die Rezeptionsseite literarischer und filmischer Texte 11 relevant. Emotionen oder Gefühle würden auch "durch die Rezeption angeregt", seien aber "diffus". Affekte lassen sich damit als Bestandteil von Kommunikationsprozessen, als Effekte der Kommunikation beschreiben: "Ein Affekt […] steht nicht allein in der Kontrolle des Subjekts, sondern wird auch vom Objekt zumindest teilweise gesteuert." 12 II. Vorschlag für ein methodisches Vorgehen Die so definierten Affekte sind in literarischen und filmischen Texten zwar im Rezipienten lokalisiert, aber ihre Auslöser finden sich vornehmlich unter den literarischen und filmischen Konstitutionsmechanismen, von denen viele, aber natürlich nicht alle, Teil der vom literarischen oder filmischen Text transpor‐ tierten Absicht sind. Bei Wulff sind das die "affektive[n] Steuerungsstrate‐ gien". 13 Bringt man die Modelle literarischer bzw. filmischer Kommunikation zur Anwendung, dann bedeutet dies, dass ich von jenen im Text eingeschriebenen oder im Film angelegten Mechanismen ausgehen kann, die bestimmte Affekte im impliziten Leser oder Zuschauer provozieren sollen. Ziel meiner Untersu‐ chung ist es, genau diese Interaktion zwischen literarischem Text bzw. Film und seinen Rezeptionen zu beschreiben oder, genauer: eine Art affektives Porträt des impliziten Lesers bzw. Zuschauers zu erstellen, den ich mit Wolf Schmid als pretended addressee bezeichnen möchte 14 . Von diesem pretended addressee wird also eine bestimmte affektive Reaktion 'erwartet'. Mit Ingarden 15 und später Iser und seiner Rezeptionsästhetik 16 , ließen sich diesbezüglich die Begriffe der Ak‐ tualisierung und Konkretisation übernehmen und hier von einem Spektrum der möglichen Aktualisierungen und Konkretisationen reden, das der literarische bzw. filmische Text in Bezug auf den zur Entstehungszeit zeitgenössischen Re‐ 165 Onettis Para esta noche und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht 17 Zum Begriff der Konkretisation bei Ingarden: "Das literarische Kunstwerk (wie auch jedes literarische Werk überhaupt) ist seinen Konkretisationen gegenüberzustellen, welche bei den einzelnen Lesungen des Werkes (eventuell bei der Aufführung des Werkes im Theater und deren Erfassen durch den Betrachter) entstehen. […] Im Un‐ terschied zu seinen Konkretisationen ist das literarische Werk selbst ein schematisches Gebilde. Das heißt: manche seiner Schichten, insbesondere die Schicht der Ansichten, enthält 'Unbestimmtheitsstellen' in sich. Diese werden in den Konkretisationen zum Teil beseitigt. […] Die Unbestimmtheitsstellen werden in den einzelnen Konkretisati‐ onen auf die Weise beseitigt, daß an ihre Stelle eine nähere oder weitere Bestimmung des betreffenden Gegenstandes tritt und sie sozusagen 'ausfüllt'. Diese 'Ausfüllung' ist aber nicht durch die bestimmten Momente dieses Gegenstandes hinreichend bestimmt, kann also im Prinzip in verschiedenen Konkretisationen noch verschieden sein." (Id., op. cit., p. 12) Unter dem Begriff Aktualisierung versteht Ingarden die Tätigkeit, bei der "der Leser im lebendigen Vorstellungsmaterial anschauliche Ansichten produktiv erlebt und dadurch die dargestellten Gegenstände zur Anschauung, zur vorstellungsmäßigen Erscheinung bringt". Der Leser sei "bemüht […] für die Suggestionen, welche ihm das Werk liefert, empfänglich zu sein und gerade die Ansichten zu erleben, welche durch das Werk 'parat gehalten' werden." (Cf. ibid., pp. 56 sq.) 18 Cf. Hans Robert Jauß, op. cit. 19 Cf. Hans Jürgen Wulff, op. cit., p. 4, Hervorh. i. Orig. Mir ist nicht klar, warum Wulff, nach Abgrenzung der Begriffe Emotion und Affekt, für die drei Kategorien Synonyme auf der Grundlage des Begriffs der Emotion einführt: Prärezeptive Emotionen oder Emo‐ tionserwartungen, rezeptive Emotionen und postrezeptive Emotionen oder Emotionserin‐ nerungen. 20 Cf. Gérard Genette: Palimpsestes. zipienten aktiviert. 17 Dieses Spektrum an Aktualisierungen und Konkretisati‐ onen ließe sich zusammen mit dem Jauß'schen Erwartungshorizont noch weiter eingrenzen, wobei wir in Anlehnung an die hier im Fokus stehenden Gegen‐ stände spezifischer von einem affektiven Erwartungshorizont sprechen sollten. 18 Wulff scheint ähnliche Überlegungen zugrunde zu legen, wenn er von "Af‐ fekt-Erwartungen" als Erwartungen spricht, die "vor der Besichtigung" ent‐ stehen. Die "Affekt-Erwartungen" grenzt er von den "Aktual-Affekten", die wäh‐ rend der Rezeption des Texts bzw. Films entstehen und den "Affekt-Erinnerungen" ab. 19 Hier ließe sich das Konzept des Genett'schen Paratexts 20 verwenden, um im Hinblick auf den affektiven Erwartungshorizont jene Mechanismen im litera‐ rischen oder im filmischen Text aufzuspüren, die 'Affekt-Erwartungen' auf‐ bauen, die dann vom konkreten Rezipienten an der Diegese und deren (narra‐ tiver) literarischer bzw. filmischer Präsentation überprüft werden. Demnach können Informationen über die Gattung auf dem Deckblatt eines literarischen Texts, in der Ankündigung zu einem Film (über Plakat oder Trailer), die Erwäh‐ nung des Autors, des Regisseurs, bestimmter Schauspieler sowie Interviews mit dem Autor oder Regisseur, Widmungstexte, Vorworte etc. als Aktivatoren/ 166 Inke Gunia 21 Cf. Hans Jürgen Wulff, op. cit., p. 4. 22 Cf. Christiane Voss, op. cit., p. 12. Das spanischsprachige Äquivalent zu mood wäre für mich estado de ánimo. 23 Diese Definition schlägt auch Michael Neumann vor, der mood im Hinblick auf ihre zeitliche Ausdehnung zwischen einer Emotion (sie ist für Neumann nur von kurzer Dauer) und Leidenschaft (von längerer Dauer) betrachtet: "[S]ie kann Stunden, viel‐ leicht sogar Tage anhalten. Im Unterschied zu den Emotionen richtet sie sich weder auf einen bestimmten Gegenstand, noch bereitet sie bestimmte Handlungsmöglichkeiten vor. Die Stimmung färbt das gesamte Wahrnehmen und Erleben ein." (Cf. id., op. cit., p. 161) 24 Sie können in der nachfolgenden Behandlung von Film und Roman jedoch nicht alle angesprochen werden. 25 Cf. Inke Gunia, op. cit., pp. 78 sq. Auslöser für 'Affekt-Erwartungen' fungieren. Andererseits beeinflussen den Re‐ zeptionsprozess auch die literarischen bzw. filmischen affektiven Rezeptionser‐ fahrungen. Wulff verwendet noch einen Begriff im Rahmen seiner filmischen Affekt‐ analyse, der aus der Psychologie stammt, und den ich übernehmen möchte, wenngleich in abgewandelter Form. 21 Ich beziehe mich auf mood als das, was Voss als Stimmung bezeichnet. 22 Für Wulff braucht mood keinen Gegenstand und bildet eine Art von Rahmung, eine Ausgangssituation des Rezipienten, bevor dieser in eine literarische oder filmische Kommunikationssituation eintritt. 23 Wenn man mood nicht als individuelles und damit aus der Retrospektive schwer zu rekonstruierendes Phänomen betrachtet, sondern als kollektives Phänomen, dann kann mood im Hinblick auf die hier vorgenommene Untersuchung der Affektstrategien und deren Spektrum der Aktualisierung und Konkretisation auch eine wichtige Rolle spielen; denn mich interessiert hier nur der zur Veröf‐ fentlichung bzw. Erstaufführung eines Werkes zeitgenössische Rezipient. Ein Beispiel: Ein Film mit dem Appell, in schweren Zeiten das Leben zu bejahen, Hoffnung zu geben, wird in einem zeitlichen Kontext, der durch Krieg, mensch‐ liche Verluste, Leid und Hunger geprägt ist, stärker seine Wirkung entfalten können, als in satten und zufriedenen Friedenszeiten. Abgesehen von den Paratexten sind in der Analyse des affektiven Wirkpo‐ tenzials von literarischen und filmischen Texten auch alle übrigen Ebenen der filmischen oder literarischen Sinnkonstitution angesprochen. 24 Was für mich die durch fiktionale Werke erzeugten Affekte so interessant macht, ist der Umstand, dass sie psychisch und physisch - je nach emotionaler Disposition des Lesers - erfahren werden können, d. h. der Rezipient durchlebt einen Zustand, den ich an anderer Stelle mit dem verglichen habe, was die Phänomenologen apodikti‐ sche Evidenz nennen, 25 und der in der Authentizitätstheorie als "[…] unmittel‐ bare[r] und unvermittelte[r] Ausdruck eines wie auch immer gearteten, unver‐ 167 Onettis Para esta noche und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht 26 Cf. Wolfgang Funk / Lucia Krämer, op. cit., p. 8. 27 Cf. Tomás Albaladejo, op. cit. 28 Cf. id.: Para esta noche, Buenos Aires: Poseidón 1943. 29 Es handelt sich um "El obstáculo" und später kam "El posible Baldi" hinzu. äußerlichen (im strikt wörtlichen Sinn) Wesensgehalts (einer Sache bzw. eines Menschen) […], ein Kerninneres […]" bezeichnet wird; 26 kurzum, dieser Zustand ist der Erfahrung der faktischen Wirklichkeit äquivalent. Ein fiktionales Werk, welches auf seinen sinnkonstituierenden Ebenen ein großes affektives Wirk‐ potenzial entfaltet, intendiert einen Authentizitätseffekt. Meine These lautet, dass sowohl der Roman von Onetti als auch der Film Schroeters die Absicht artikulieren, die von ihnen erzählten Welten in diesem Sinne über die Affekt‐ wirkung im Rezipienten zu authentifizieren. Dies geschieht ungeachtet der Fik‐ tionalität der von ihnen künstlerisch gestalteten Wirklichkeiten. In besonders markierter Form transportiert Schroeters Film also die Absicht, eine Korres‐ pondenzbeziehung zwischen fiktiver Welt und faktischer Wirklichkeit zu ver‐ meiden, es bleibt also eine Ähnlichkeitsbeziehung, die aber stellenweise die Grenze zu einer anti-mimetischen Beziehung auslotet. 27 Darüber hinaus sucht er durch den Einsatz verschiedener Mittel ein großes affektives Wirkpotenzial zu erschaffen, das im Rezipienten einen Authentizitätseffekt hervorrufen soll. III. Untersuchung ausgewählter Kapitel aus Onettis Para esta noche im Vergleich zu Ausschnitten aus Schroeters Film Nuit de chien / Diese Nacht III.1. Para esta noche (1943) von Juan Carlos Onetti Para esta noche ist der dritte Roman Onettis. Ihm gehen El pozo (1939) und Tierra de nadie (1941) voraus. Von allen drei Werken sind erst 50, 66 und 74 Jahre später deutsche Übersetzungen veröffentlicht worden. Onettis Leser wussten 1943, dass die beiden vorangehenden Romane die Abgründe der menschlichen Seele in anachronischen Erzählungen ausloten, und dass die Werke im Prozess der Sinnkonstituierung ihre Partizipation fordern. Auf der Buchrückseite der Erst‐ ausgabe wird auf diese beiden Romane Bezug genommen: El pozo "un pequeño libro, casi desconocido" und Tierra de nadie, der den 2. Platz um den Premio Guiraldes belegte. 28 Para esta noche ist dem argentinischen Schriftsteller Eduardo Mallea ge‐ widmet. Als Chefredakteur der Kulturbeilage von La Nación brachte dieser 1935 die erste Erzählung Onettis dort unter. 29 Diese Erwähnung kann man folglich als Geste der Dankbarkeit lesen. Der erfahrene Leser der frühen 1940er Jahre 168 Inke Gunia 30 Cf. Roberto Ferro, op. cit. 31 Cf. ibid. 32 Juan Carlos Onetti: Para esta noche, Buenos Aires: Poseidón 1943. 33 Onetti schrieb das Werk 1942, so informiert er den Leser der Erstausgabe in dessen Prolog. 34 Juan Carlos Onetti: Für diese Nacht, p. 297. Im Original heißt es: "Este libro se escribió por la necesidad […] de participar en dolores, angustias y heroísmos ajenos. Es, pues, un cínico intento de liberación." (PN, cap. I, 235) kann die Widmung aber auch als Literarizitätsanspruch des Autors auffassen, schließlich hat die Literaturkritik eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen dem Werk Onettis und dem Malleas festgestellt. 30 Im Hinblick auf das bis dato ver‐ öffentlichte Werk des Argentiniers erwähnt z. B. Ferro das Thema der Einsam‐ keit, der Kommunikationslosigkeit, die existenzielle Angst, die Infragestellung der moralischen Ordnung, Spuren einer Faulkner-Lektüre sowie, auf außerlite‐ rarischer Ebene, Ähnlichkeiten bezüglich des Selbstverständnisses der Schrift‐ steller. 31 Der Text unter dem Romantitel auf dem Cover von Para esta noche verweist auf die Psychologie einer Extremsituation, den Kampf gegen den Tod in einem Raum, der keinen Ausweg zulässt, und die Situation impliziert die Möglichkeit von Verzweiflungstaten: "Esta es la historia nocturna de un hombre que busca escapar a la muerte, suelto y prisionero dentro de una ciudad sitiada." 32 Das potenzielle Leserpublikum, insbesondere das im Argentinien der frühen 1940er Jahre 33 , war an Kriegsnachrichten gewöhnt, es durchlebte im eigenen Land eine immer stärker werdende politische Repression gegen linksgerichtete Parteien, Gewerkschaften, andere Institutionen, gegen Intellektuelle und Künstler: Am 4. Juni 1943 kam es zum Militärputsch, Juan Domingo Perón wurde Kriegsminister und gründete am 27. November 1943 die Secretaría de Trabajo y Previsión, von der aus er den Kommunisten den Kampf ansagte. Es liegt also besonders nahe, dass das Leserpublikum der Zeit, aufgrund seiner Welterfahrung und aktuellen Stimmung (mood) die politische Situation betreffend, die auf dem Cover ans‐ kizzierte Situation mit dem Affekt der Angst in Verbindung bringt. Das Vorwort offenbart einen weiteren, für meine Analyse interessanten Aspekt, denn dort ist von dem "Drang" die Rede, "an fremden Schmerzen, Ängsten und Heldentaten teilzuhaben". Dieses, die Teilhabe an fremden "Schmerzen, Ängsten und Hel‐ dentaten", sei, so die selbstkritische Aussage des Autors, ein "zynischer Versuch der Befreiung". 34 Diese Aussage ließe sich wie eine intendierte Empathie lesen, vermittels derer, wie in der aristotelischen Poetik beschrieben, die Katharsis, die Reinigung der Seele angestrebt werde. Die Selbstkritik steckt in der vom Autor eingenommenen Position. Es ist die des Überlegenen, der über das fremde Leid 169 Onettis Para esta noche und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht 35 In einer Studie von 1974 behauptet Joseph A. Chrzanowski, dass das, was er externe und interne Struktur des Romans nennt, dazu beitrage, eine emotive Wirkung ("efecto emotivo") herzustellen. Chrzanowski legt in seiner Untersuchung den Fokus auf einen Handlungsaufbau, der, in Bezug zur Erzählgeschwindigkeit, von zwei Leitmotiven durchzogen wird: dem der "trampa" und dem der "soledad". Cf. id., op. cit., Zitate pp. 396 sq., p. 403. 36 Im Roman lautet der Name der Stadt schlicht "ciudad" (PN, cap. III, 251) 37 Cf. Nelson Goodman, op. cit., pp. 51-57. 38 Cf. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 39 Nach Genette handelt es sich um eine multiple interne Fokalisierung. Cf. id.: Die Er‐ zählung, pp. 121 sqq. der Anderen, der Unterlegenen schreibt, an ihrem Leid teilhat, es also billigend hinnimmt, in der Hoffnung, sich dadurch selbst von demselben zu befreien. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass der literarische Erzähltext mit inhalts- und ausdrucksseitigen Merkmalen aufwartet, die zusammengenommen affekts‐ teuernd wirken 35 . Onetti lässt seine Erzählung ohne Rücksicht auf den Kennt‐ nisstand des Lesers in medias res beginnen. Dieser muss sich die Handlung aus den Informationssplittern des Erzählers konstruieren. Auch versperrt sich der Text gegenüber der konkreten Bezugnahme auf Zeiten, Orte und Personen der außerliterarischen, faktischen Wirklichkeit. 36 Die Figuren tragen z. B. spanische, französische, deutsche und angelsächsische Namen (Triay, Torry, Weiss, Irene, Clara Gilles Lebet, Delout, Morasán, Ossorio, Barcala etc.), aber sie haben keine Vorgeschichten, aus denen sich konkretere Hinweise diesbezüglich ableiten ließen. Dies hat zur Folge, dass der literarische Raum keine konkreten Bilder im Leser evoziert, er denotiert eben nicht im Sinne einer extensionalen Bezug‐ nahme, sondern Raum und Zeit existieren als Exemplifikation für den Rezi‐ pienten. 37 Die Geschichte präsentiert ein Erzähler, der heterodiegetischen Typs ist, an‐ onym bleibt und häufig seine Vermittlungsfunktion stark zurücknimmt. Der Leser hat keine Erzählinstanz, die ihn durch die fiktive Welt führt. Es herrscht mit Schmid eine figurale Perspektivierung vor (im Hinblick auf die Perzeption, die Ideologie, die räumliche Position, die Beziehung zur Zeit und die Sprache). 38 Neben Ossorio ist Morasán fokale Figur. Dazu tragen Redeformen wie die erlebte Rede, die direkte autonome Rede und auch lange Passagen der Introspektion bei, die kaum merklich von einer Erzählerstimme eingeleitet werden (also direkte zitierte Rede). All das fordert die bereits erwähnte aktive Teilnahme des Rezi‐ pienten an der Sinnkonstitution. Ein Beispiel hierfür zeigt sich in den Kapiteln III und IV, dort, wo der Moment erzählt wird, in dem die Wiedererkennung Ossorios durch Morasán bedrohlich im Raum steht. 39 Es ist ein Moment höchster Anspannung. Einmal wird dem Leser diese Situation aus dem Wahrnehmungs‐ 170 Inke Gunia horizont des Opfers Ossorios geschildert, ein anderes Mal ist die fokale Figur sein Gegenspieler Morasán, der sich in dieser Machtrolle gefällt. Da mit der Dominanz der figuralen Perspektive gerade auch im Hinblick auf den Zeitaspekt Geschehen stark detailliert wird, sorgt die gesamte Erzählung für ein fast aus‐ geglichenes Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Der Umfang der erzählten Zeit umfasst eine Nacht, deren Erzählung sich in der hier zugrunde gelegten Ausgabe über 214 Seiten erstreckt. Dem Leser wird dadurch der Ein‐ druck vermittelt, das Erzählte selbst (physisch) mitzuerleben. Stilistisch ist die Erzählung durch Elemente gekennzeichnet, die im Allge‐ meinen typisch für lyrische Texte sind. Ich beziehe mich hiermit einmal auf den häufigen Gebrauch von synästhetischen Beschreibungen wie beispielsweise den folgenden: Había una mujer en un aire amarillento […]. […] Ossorio creyó un momento que miraba el perfume del busto casi sin ropas. (PN, cap. I, 239, eig. Hervorh.) […] incli‐ nando su oído como un reflector de intensa luz […]. (PN, cap. II, 240) Die Synästhesien intensivieren das Sinnliche in der Erzählung. Sie begehren förmlich gegen die normale Sinneswahrnehmung auf, indem sie sprachlich eine Sinneserfahrung mit einer anderen kombinieren und so eine sinnliche Deauto‐ matisierung im Rezipienten hervorrufen. Sie artikulieren auch den Gedanken einer totalen, allumfassenden Wahrnehmung. Onetti nutzt für die affektive Aufladung von Situationen auch die Metapher. Einmal sind es Metaphernkonstruktionen, deren Sememe sich durch gemein‐ same Seme auszeichnen, wie im folgenden Beispiel, in dem das gemeinsame Sem der Tod ist: "las sábanas que amortajaron los sueños" (PN, cap. III, 253). Sehr häufig kombiniert er auch Sememe, in denen das eine Element als Bildspender, das andere als Bildempfänger fungiert. Dabei geht es meist um eine Materiali‐ sierung von Abstraktem. In dem nachfolgenden Beispiel lässt sich als Bild‐ spender das objeto desconocido ausmachen, welches das Sem [Materie] auf das abstrakte Konzept recuerdo überträgt. Die Erinnerungen materialisieren sich also: […] lo único que podía llevarse como un objeto desconocido entre las manos era el recuerdo […]. (Ibid., 254) […] lugar sucio rodeado de miedo […] (Ibid., 257) Und natürlich entstehen dadurch viele Personifikationen: La mujer está temblando contra mi brazo y su miedo me trepa, me salta al hombro y me duele en el cuello […]. (Ibid.) […] los altos edificios, […] muertos. (PN, cap. V, 279) 171 Onettis Para esta noche und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht 40 Cf. Tomás Albaladejo, op. cit. 41 Siehe die folgenden Sememe: "esta noche", "bajo las sombras" (239), "otra noche", "ruidos de la noche", "la noche de la calle", "traje oscuro de noche", "noche muerta" (240), "esa noche" (241), "en el ala de la sombra" (242), "el otro redondeado en la sombra" (248), "al anochecer", "el crecimiento de la noche" (253), "de traje oscuro" (256), "en las tinieblas" (262), "en la sombra" (263), "en la oscuridad" (355), "frescura nocturna", "el olor de la noche" (263), 2x "a las diez de la noche", "aquella noche", "vio la sombra de la mujer" (268), "mirando en la penumbra" (270), "la mano del borracho salía de la sombra", "mi‐ rando la noche en la calle", "el coche lo separara de la noche" (276), "esa necesidad de meterse siempre en la sombra", "noche siguiente", "la siguiente noche" (277), "hombres envueltos en sobretodos oscuros" (279), "la noche atravesada de luces rojas" (278 sq.), "automóviles […] oscuro el primero", "la sombra del portal", "en la noche vacía", "zonas negras", 3x "noche" (279), "atravesar la sombra del costado del patio" (280), "puertas iguales, sombrías", "la sombra ancha del hombre" (282), "esta noche", "alguna noche", "cualquier noche de aquellas" (285), "en la penumbra" (287), "en la sombra" "la rozara sin verla en la oscuridad" (294), "aire sombrío" (295). 42 Folgende Sememe fallen ins Gewicht: "no veía más que las estrellas", "estrellas", "colgaba el farol", "una niebla fugitiva contra el farol" (239), "brazos blancos", "un reflector de luz" (240), "lleno de una luz intensa", "la cabeza en el suelo era blanca" (245), "la luz, el otro redondeado en la sombra" (248), "encenderlo […] fósforo" (257), "luz a través de ella", "la luna" (259), "un solo ojo como un faro en la noche" (261), "aletearon restos de luz" (262), "cara blanca del hombre" (264), "noche atravesada de luces rojas" (278 sq.), "la puerta iluminada de la Central", "en la noche vacía, con la forma blanca celeste", "con luz de luna" (279), "dejando salir un poco de luz amarilla", "la luz del zaguán" (280), "salía la luz y la sombra ancha del hombre", "en la primera pieza con luz" (282). Der häufige Rückgriff auf Metaphern trägt zur Erschaffung einer fiktionalen Welt bei, die sich, durch die Erwähnung von Krieg, autoritärer Regierung, menschlicher Ausbeutung und Gewalt (Folter und Tod), zwar nicht von der fak‐ tischen Wirklichkeit entfernt, aber doch, wie oben bereits angekündigt, einer Korrespondenzbeziehung zu ihr verweigert. 40 Fiktive und faktische Wirklichkeit gehen eher eine Ähnlichkeitsbeziehung ein. Eine weitere stilistische Eigenart des Romantexts von Onetti liegt in seiner Verwendung von Isotopien. Diese werden zwar auch in ihrer kohärenzbildenden und damit verständnissichernden Funktion verwendet, aber darüber hinaus monosemiert Onetti seine Erzählung, hebt eine bestimmte Bedeutung stark hervor. Eine beispielhafte Untersuchung der Kapitel I-V ergibt ein rekurrentes Auftreten bestimmter, mit dem optischen und dem auditiven Sinn verbundener Seme. Es fällt weiter auf, dass sich dadurch teilweise Paradoxien ergeben; so z. B. wenn in einen durch Umrisslosigkeit gekennzeichneten Raum scharfe Kon‐ traste hineinmontiert sind. Das geschieht z. B. durch die Verbindung der Isotopie [oscuridad] 41 mit jener der [luces puntuales] 42 . Ähnlich verfährt er bei der Stadt, 172 Inke Gunia 43 "Pero no suenan las sirenas ni hay ruido de aviones ni llega de la calle griterío ni pasos de caballos ni marcha de soldados. Nada. Sólo aquí el silencio en este lugar sucio rodeado de miedo" (257), "detrás suyo el silencio" (269), "el anormal silencio" (287), "escuchaba el silencio" (290), "las corrientes, ahora más fluidas, del silencio" (291). 44 Die folgenden Sememe unterstützen diesen Eindruck: "Todos callaron […] Estaban so‐ nando las sirenas; otras sirenas comenzaban a gritar" (262), "[c]aminó por el corredor oscuro sintiendo los largos pasos de la mujer detrás suyo y el silencio que había entre paso y paso marcaba la distancia que recorrían las piernas de la mujer al caminar" (269), "junto a la máquina de hacer café que silbaba como una bocina lejana, junto al silencio de las mesas" (274), "sonó una bocina muy corta" (276), "[e]n algún lugar de la casa lloraba un niño", "[h]ubo un silencio y llegó nuevamente el llanto de la criatura y una confusa voz de hombres desde arriba", "[s]onó el teléfono" (281), "[o]yó el timbrazo del teléfono al cortar y los tacos del hombre que regresaba" (283), "la escalera […] que crujía" (282), "[e]ntonces volvió a llorar el niño" (283), "[e]l niño se calló, encogió el cuerpo suspirando y volvió a llorar tranquilo, sin apurarse, con una alargada nota aguda, de perro herido, metida y entrando en su lloro, fría, como una aguja de inyección" (284), "[s]uspiró en silencio" (287). die in Stille [silencio] 43 getaucht ist, aber gleichzeitig einzelne punktuelle Lärm‐ quellen aufweist [ruidos puntuales] 44 . Ein Beispiel für diese Art von Paradoxie findet sich auch in einer Passage, in der Dunkelheit und Licht in Beziehung treten. Sie weist darüber hinaus ein weiteres stilistisches Merkmal des Texts auf: die Tendenz zu sehr langen, hypotaktischen Sätzen, und zeigt nebenbei, welchen Einfluss die starke Detaillierung auf das Erzähltempo hat (hier also das zeit‐ deckende Erzählen fördert): En el patio, sentados en un largo banco bajo la luz escasa que se desvanecía antes de llegar a la pared, enfrente, estaban tres hombres con máuseres entre las piernas, fu‐ mando y conversando en voz baja, con pocos movimientos, y no se alarmaron al verlo entrar, levantaron callando la cabeza y lo miraron mientras de la oficina, un poco escondida a la izquierda, salía otro hombre con traje de mecánico y pistola al cinto, un cigarrillo en la boca y bigotes largos, espesos, inmóviles, que se acercó a Ossorio con pasos lentos, taconeando, haciendo venir entrecortadamente, al vaivén de la marcha, la cara pálida desde la luz de su oficina, atravesar la sombra del costado del patio y surgir nuevamente en la luz del zaguán junto a Ossorio, muy cerca, con su gesto sonriente y distraído, hasta que la luz del zaguán y las paredes - con frescos ocres donde trepaban chimeneas humeantes y hombres entre gavillas y enormes tu‐ ercas y ruedas dentadas se estrechaban las manos - reunieron, aislaron frente a frente la cara de Ossorio y la del hombre de la pistola. (Ibid., 280) Der Rezipient steigt mit dem Lesen der ersten Seiten des Romans in eine apo‐ kalyptische Welt ein, deren Bewohner Opfer einer unausweichlichen Bedro‐ hung durch den Tod sind, der sich Stunde um Stunde der Stadt nähert. Die er‐ 173 Onettis Para esta noche und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht 45 Nach Keen, die drei Typen von Empathie unterscheidet (begrenzte, diplomatische stra‐ tegische und weit gestreute Empathie), ließe sich hier von diplomatischer strategischer Empathie sprechen: "Diplomatische strategische Empathie spricht ausgewählte Andere an, um ihre Empathie für die in-group zu kultivieren, oft in einer bestimmten Absicht." (Ead., op. cit. p. 261, Hervorh. i. Orig.) wähnten Techniken tragen zur Konstitution einer Wirklichkeit bei, die zwischen Bekanntem, Vertrautem und Unbekanntem, Fremdheit oszilliert, und den Ein‐ druck hinterlässt, prekär und ungewiss zu sein, weil es keine verlässliche Ord‐ nung mehr gibt. Onetti tendiert dazu, auf bestimmte Affekte der Figuren in insistierender Form hinzuweisen. So in der Szene, die Ossorio hinter einer Fensterscheibe er‐ blickt und bei der sich ein anfängliches Freudengefühl angesichts eines bevor‐ stehenden Rendezvous' in Trauer verwandelt, als sich die Gewissheit verfestigt, dass sie auch diese Nacht wieder allein bleiben würde: "se sonrió" (240), "tris‐ teza", "angustia en su cuerpo", "mojaba la cara" (241). Eine andere Situation spielt im Séparée des First and Last, wo eine der Frauen nach dem unerwarteten Tod eines Klienten zuerst mit Verzweiflung und dann mit einer fingierten, masken‐ haften Fröhlichkeit reagiert: "una mujer lloraba", "otra […] también lloraba", "se levantó, siempre llorando", "con furia" (245), "rió despacio", "la mujer de celeste […] sonriendo", "[r]ió simplemente" (247), "volvió a reír", "sonreía con la mirada perdida", "las caras de las dos mujeres […] por donde pasaban sonrisas y dis‐ tracciones", "Ossorio encontraba repugnante los brillos de las lágrimas" (248), "y desnudó para la otra una sonrisa inmutable, blanca", "siempre sonriendo", "[l]a mujer reía de pie", "miraba la risa de la mujer" (249 sq.), "mecía por encima del muerto los pechos y la risa" (250). Mantraartig lässt Onetti Martins wiederholen, dass er müde und erschöpft sei: "[e]stoy muy cansado", "[c]ansado", "[m]uy cansado", "[e]stoy muy cansado" (252). Angst dominiert hingegen die Szene, in der Morasán Irene im First and Last auswählt, um aus ihr, unter Folter, den Auf‐ enthaltsort von Barcala herauszupressen: "[l]a mujer está temblando contra mi brazo y su miedo me trepa", "me duele [su miedo] en el cuello", "lugar sucio rodeado de miedo", "la mujer temblaba ahora con más fuerza", "con la boca abierta, colgando y agitada por el terror." (257) Die Kombination der erwähnten Techniken macht deutlich, dass die exis‐ tenzielle Angst den impliziten Leser empathisch erreichen soll. 45 III.2. Nuit de chien de Werner Schroeter Die Filmplakate, die in den einzelnen Ländern den Film ankündigten, greifen allesamt Szenen aus dem Trailer heraus. Schroeter entschied sich bei seinem Film zu einer wohldurchdachten Orchestrierung von Farben, Licht und Musik 174 Inke Gunia 46 Cf. Eva Heller, op. cit., p. 90. 47 Ibid., pp. 26 sq. 48 Für Heller konnotiert die Farbe Gelb aber auch Negatives. Hierzu heißt es: "Gelb ist die zwiespältigste Farbe. Die von der Erfahrung abgeleitete Symbolik ist positiv, es ist die Symbolik der Sonne, des Lichts und des Goldes. Die historisch geprägte Symbolik ist negativ. Gelb war die Farbe der Geächteten, es blieb die Symbolfarbe der egoistischen Eigenschaften." (Ibid., p. 129) 49 Cf. Susanne Marschall, op. cit., p. 68. bzw. Geräuschen. Es herrschen, abgesehen von Schwarz und Weiß, die für un‐ sere Wahrnehmung reinen Farben vor. Es sind dies drei der vier psychologischen Grundfarben: Blau, Rot, Grün und Gelb. Schon die im Trailer aneinanderge‐ reihten Szenen, das in ihnen licht- und farbdramaturgisch präsentierte Ge‐ schehen unterstreichen die Unwirklichkeit der dargestellten Welt, das ihr an‐ haftende Mysterium, die über allen Bewohnern schwebende Todesgefahr und die dadurch ausgelösten affektiven Extreme in zwischenmenschlichen Bezie‐ hungen. Die auf diegetischer Ebene durch die handelnden Figuren dargestellten Affekte wie der sich in roher körperlicher Gewalt entladende Hass, die ohn‐ mächtige Angst, die Fürsorge, Liebe sowie sexuelles Verlangen und Leidenschaft sollen durch auffallend dominante Einstellungen wie Groß-, Nah-, amerikani‐ sche und Halbnahaufnahme, bei denen der Fokus auf der Mimik bzw. den Be‐ ziehungen zwischen den Figuren liegt, und einer Lichtgestaltung, bei der sehr häufig der Low-Key-Stil mit seinem schwachen Grundlicht, punktuellen Licht‐ quellen und dadurch entstehende Hell-Dunkel-Kontraste eingesetzt wird, im impliziten Zuschauer empathisch oder sympathisch erfahrbar werden und so einen Authentizitätseffekt provozieren. Die nachfolgende Analyse stützt sich auf die Einstellungen, die Schroeter für seinen Trailer auswählte. Film und Trailer beginnen mit einem Bild von einem Gebäude, das einer Kirche ähnelt; mit einer Rotunde und einer Kuppel. Unter‐ halb der Rotunde, an ihrer Basis, sieht man ein quadratisches Gebäude mit drei horizontalen Reihen von Rundbögen, die an Schießscharten erinnern. Über dem Ensemble fliegen ein Propellerflugzeug und einige Vögel. Die Farbgebung dieser ersten Einstellung ist auf Blau, Gelb, Grün und Schwarz reduziert. Vorherr‐ schend ist das Schwarz, eine Farbe, die anzeigt, dass es Nacht ist und die darüber hinaus Mysterium, Trauer, Tod konnotiert und deren psychologische Wirkung in der Trauer gesehen wird. 46 Blau konnotiert Sehnsucht. Diese Farbe kann auch synästhetisch wirken, denn Blau wird die psychologische Wirkung von Kälte (Wasser, Eis) zugeschrieben. 47 Das Gelb wiederum bewirkt Freude. 48 Es ist auch die Farbe der "strahlenden Tonart D-Dur" und der Wärme. 49 Schon die erste Einstellung präsentiert sich im Low-Key-Stil. Damit steht die Farbe Gelb in einer Kontrastbeziehung zu Schwarz und Blau. Das Grün der Bäume entfaltet nicht 175 Onettis Para esta noche und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht 50 Cf. Christine Brinckmann, op. cit., p. 119. 51 Cf. Susanne Marschall, op. cit., p. 60. 52 Bei dem Kuppelgebäude handelt es sich um das Mosteiro da Nossa Senhora do Pilar. die für die Augen angenehme Wirkung, die es sonst wegen seiner Wellenlänge im Spektralband hat, weil es von Blau überstrahlt wird. Lediglich ein schwacher Rest verweist konnotativ auf Leben, Wachsen, Gedeihen im Gegensatz zum Tod. Die hier eingesetzte Lichtführung ließe sich mit Christine N. Brinckmann als zwischen diegetischem und prodiegetischem Licht changierend beschreiben. 50 Diegetisch ist demnach das Licht, welches die Kuppel des runden Gebäudes er‐ hellt, weil man die Lichtquellen auf dem Dach, am Flugzeug sowie jene, die den Turm links im Bild erleuchten, sehen kann. Das gilt auch für die Strahler un‐ terhalb der Fenster am Rundgebäude, die für das gelbfarbene Licht verantwort‐ lich sind. Prodiegetisch ist das Licht, weil es in der Diegese keine Erklärung gibt für die Grenze zwischen dem gelbfarbenen Licht und dem Blau links vom Turm. Dies ist auch bei den Lichtquellen der Fall, welche den Rumpf des Flugzeugs und die Vögel erhellen; auch lässt sich in der Diegese keine Begründung für die übrigen Lichtpunkte am ansonsten nachtdunklen Himmel finden. Diese die Filmhandlung begleitende Farb- und Lichtdramaturgie ist mitverantwortlich für die Entstehung einer zwischen unwirklich, mysteriös, bedrohlich und zugleich auf fragile Art fröhlich wirkenden Atmosphäre, die einen durch das kommer‐ zielle Kino sozialisierten Zuschauer verunsichern soll und dessen Sehgewohn‐ heiten herausfordert. Die Atmosphäre wird durch den über die Bilder gelegten Ton noch unterstützt. Wir hören zunächst Flugzeuggeräusche, entferntes Mö‐ wengeschrei, labile Streicher, welche die absteigende Tonfolge G, Fis, E, D, C spielen und den mit diesem E-Moll verbundenen 'klagend-traurigen und mys‐ tischen Charakter' produzieren. Schließlich Wal- oder Delphingesänge sowie der Ton eines Sonars unter Wasser. Das Möwengeschrei, die Walgesänge und das Sonar stützen die konnotativen Bedeutungen der Farbe Blau: Himmel, Meer, zu denen Marschall schreibt: "Der blaue Himmel schickt uns Glücksgefühle und zugleich das Erschrecken vor der Unendlichkeit". 51 Die Atmosphäre des Unwirklichen und Geheimnisvollen wird noch dadurch gestützt, dass auch der Film auf eine konkrete Referenzialisierung in der fakti‐ schen Wirklichkeit verzichtet. Schroeter wählte ein europäisches setting für seine Geschichte. Erfahrene Reisende werden erkannt haben, dass in Porto ge‐ filmt wurde 52 , aber eine namentliche Zuordnung findet nicht statt. Wie im Roman werden auch keine konkreten Namen politischer Parteien genannt. Das Leitmotiv der Nacht wird überdeutlich präsentiert und setzt sich in der anschließenden Einstellung des Trailers fort. Auch hier wählte Schroeter wieder den Low-Key-Stil zur Ausleuchtung von Menschen, die aus einem Zug aus‐ 176 Inke Gunia steigen, der von innen grün beleuchtet ist und von der Seite punktuell ange‐ strahlt wird. Darüber hinaus dominieren Schatten und Grautöne das atmosphä‐ risch-freudlose Bild. Im Anschluss wird ein schwarzgekleideter Mann (Ossorio) in der Amerikanischen gezeigt. Er verlässt inmitten von Menschen den Zug. Alle Gesichter sind frontal hell erleuchtet, nur seines ist scharf, darüber wird das Textinsert geblendet: "Una noche de esperanza" / "Eine Nacht der Hoffnung". Dieses und die übrigen Textinserts heben Begriffe wie Hoffnung, Verrat und Liebe hervor. In einem von Zigarettenqualm durchzogenen Tanzlokal sieht man vor einem roten Vorhang auf der Bühne eine Band, wieder davor Menschen an Tischen mit roten Tischdecken, wieder davor tanzende, ins Bild laufende Paare; die Männer ganz in Schwarz gekleidet, die Frauenkleider gelb, rot und weiß-, rot-, gelbgemustert. Der Boden ist gelb. Auch hier trägt der Low-Key-Stil des Lichts dazu bei, dass die Tanzsituation nicht mit Fröhlichkeit in Verbindung gebracht wird. In dem folgenden Bild der Kirche in der Nacht, die durch gelb‐ lodernde Flammen aus einem brennenden Autowrack angestrahlt wird, zeigt sich mit der Dominanz der Farbe Gelb deren synästhetische Wärmewirkung. Es folgt das frontal durch gelbes Licht aufgehellte Gesicht eines Mädchens (Vic‐ toria) in Nahaufnahme in der ansonsten dunklen Nacht; sie hält sich an einem schwarz lackierten Gestänge fest, hinter ihr ein rotblühender Busch. Die nächste Einstellung zeigt noch einmal gelblodernde Flammen aus Autowracks in der Nacht, vor denen ein schwarzgekleideter Mann (Ossorio) mit einer Waffe im Anschlag nach links aus dem Bild läuft. Darauf folgt das Textinsert "Una noche de traición" / "Eine Nacht des Verrats", welches als Überleitung zu der Nahauf‐ nahme zweier schwarzgekleideter Männer (Morasán und Villar) dient. Sie gehen an einer Bar und einer gelbgetäfelten Wand vorbei, hinter ihnen steht eine schwarzgekleidete Frau mit schwarzer Baskenmütze (Mme Rissot) und einer Flasche in der Hand; wiederum dahinter ist eine Hand erkennbar, die eine schwarze Pistole im Anschlag hält, das Ganze vor einem roten Vorhang, der einen blaufarbigen Spalt freigibt. Als Voice-Over ist ein Dialog zu hören, in dem es um Schuld geht, und der sich auf die Vorbemerkung Onettis zu der Erstaus‐ gabe des Romans beziehen lässt: "Hast du dir etwas vorzuwerfen? - Müssen wir uns nicht alle etwas vorwerfen? ". Es folgt die Großaufnahme einer in Rot ge‐ kleideten Frau (Irene), mit rotlackierten Fingernägeln, die sich mit angster‐ fülltem Gesicht hinter demselben schwarzgekleideten Mann (Ossorio) versteckt, der zu Beginn aus dem Zug ausstieg. Im Hintergrund präsentieren sich unscharf Männer und Frauen. Die Frau rechts trägt ein gelbes Kleid. Die gleiche Frau, nun in Nahaufnahme und durch Seitenlicht angeleuchtet, steht auf, ihr angsterfüllter Blick ist nach rechts gerichtet. Im Trailer folgt dann ein schwarzgekleideter Mann (Barcala) in Großaufnahme, das Unterlicht lässt das Gesicht des Mannes 177 Onettis Para esta noche und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht einem Totenschädel ähneln. Er sitzt in einem rotgoldenen, barocken Sessel in einer Wolke aus weißen Federn. Die Großaufnahme eines nackten Jungen und eines spärlich bekleideten Mädchens (Victoria) unter laufender Dusche lösen die den Tod konnotierende vorangegangene Einstellung ab. Der Junge schaut das Mädchen an und diese blickt, scheinbar zitternd, in die Kamera. Über die Szene wird ein weiteres Textinsert geblendet: "Una noche de amor" / "Eine Nacht der Liebe". Das Liebesthema wird in der darauffolgenden Einstellung übernommen: in der verzweifelten Suche des Mannes aus der einsamen Straße (Ossorio) nach einer Frau namens Clara. Die Kamera zeigt in Nahaufnahme, wie dieser Mann mit einem Strauß weißer Blumen ein Wohnzimmer betritt, dessen eine Wand rot ist und ein rotes Stück Stoff über der Lehne eines Stuhls hängt. Die gelblo‐ dernden Flammen im schwarzen weißumrahmten Kamin, davor ein Hündchen mit weißem Fell. Der gleiche Mann steht mit dem Rücken zur Kamera vor dem schwarzgekleideten Mann (Barcala) aus der Federszene, er sitzt auf dem gleichen Thron, nun mit einer auf ihn gerichteten MG und einem Gürtel aus Handgra‐ naten vor ihm. Das Dreiviertel-Licht und die Nahaufnahme heben die rot un‐ terränderten Augen und den roten Mund hervor. Auf die Frage Ossorios (die anfänglich aus dem Off kommt), wo Clara sei, antwortet Barcala, dass er mit Clara nichts zu schaffen habe, er solle Morasán fragen. Der Bezug auf Morasán wird in der nachfolgenden Einstellung wieder auf‐ genommen, durch einen schwarzgekleideten Mann ( Julio) in Großaufnahme, der seitlich beleuchtet mit hasserfülltem Blick von Morasán behauptet, er sei der letzte Dreck. Es schließt sich die Großaufnahme der Frau im roten Kleid (Irène) an. Ihr wird ins Gesicht geschlagen, sie schreit, ihre hellhäutigen Hände mit den roten Fingernägeln hält sie vor das Gesicht. Die kurze nachfolgende Einstellung zeigt etwas mehr von dem Raum, der einer Kirche ähnelt und in dem sich das Hauptquartier Morasáns befindet. Die drei Personen aus der vorangegangenen Einstellung stehen vor einem Schreibtisch und dieser vor einem Altaraufsatz. Ein Mann im schwarzen Kurzmantel (Morasán) schlägt die Frau im roten Kleid noch einmal ins Gesicht. Diese Bilder der sichtbar physischen Gewalt lösen die Nahaufnahme des Mannes aus der Zugszene ab (Ossorio), der einen weinenden, den Blick starr nach rechts oben von ihm abgewandten Matrosen nach dem Befehlsgeber fragt. Die Farbzusammenstellung dieses Bildes zeigt Schwarz, die leuchtend weiße Mütze und den weißen Kragen des Matrosen, einen bläulichen Hintergrund und gelbe Lichtpunkte in der Ferne. Es folgt die Nahaufnahme des Mannes, der zuvor die Frau schlug (Morasán). Er fragt eine für den Zuschauer unsichtbare Person (Max) nach Vignale. Er zeigt eine Zeitung, die in der nach‐ folgenden Detailaufnahme das Foto des Mannes aus der Zugszene (Ossorio) in‐ mitten von Demonstranten zeigt. Einer der Demonstranten trägt eine Schärpe 178 Inke Gunia 53 Susanne Marshall, op. cit., p. 68. mit einem Hakenkreuz. Es ist eine französischsprachige Tageszeitung. Eine Reihe von für den Zuschauer gerade noch wahrnehmbaren Details, wie der Eu‐ ropreis und die Worte Internet und Yahoo, verorten die Geschichte in der Jetzt‐ zeit. Die nächste Großaufnahme zeigt einen dunkel gekleideten jungen Mann (Max), dessen Gesicht von der Seite ausgeleuchtet wird. Er schaut nach unten und schluckt. Die Geste drückt Fassungslosigkeit aus. In Großaufnahme ein weiterer Mann im Strickpullover (Martins), im Hintergrund die schwarzgeklei‐ dete Frau mit der Baskenmütze (Mm. Rissot, ihr Gesicht ist hell erleuchtet, ein weißes Hemd sticht hervor). Martins fragt den Mann aus der Zugszene (Ossorio), ob er immer noch verliebt sei. In der folgenden Einstellung filmt die Kamera in einen Spiegel und lässt eine Badszene erkennen. Eine Frau (María) in einem gelben, zu Boden fallenden Kleid, steht nackt vor demselben schwarzgekleideten Mann aus der Zugszene (Ossorio), der dem Zuschauer den Rücken kehrt. Eine weiße Badewanne trennt die beiden. Von links wirft eine gelbe Lampe am Boden einen Goldschimmer in den Raum und schafft dabei, zusammen mit den gold‐ farbenen, brennenden Kerzen eine intime Stimmung der Geborgenheit, Ruhe und eine synästhetische Wärmewirkung. 53 Von rechts gibt es ein prodiegetisches Licht, welches Teile des Körpers der Frau etwas erhellt. Durch die Halbnahe wird der Fokus auf die Beziehung der beiden gerichtet. Es folgt die Großaufnahme eines schwarzgekleideten Mannes der süffisant lächelnd in die Kamera schaut (Villar). Er wird in der ansonsten dunklen Szenerie von links angeleuchtet. Als Voice-Over sind verschiedene Stimmen zu hören. Einmal wird behauptet, dass man aus der umstellten Stadt nicht herauskommen kann. Dabei dreht sich der Mann aus der Zugszene (Ossorio) langsam zum Zuschauer um. Dann verkündet jemand schreiend, dass alle die Cholera hätten. Ein anderer (Ossorio) antwortet, dass die Cholera eine Erfindung des Regimes sei. (00: 17: 16) Dabei wird derselbe Mann aus der vorhergehenden Szene (Ossorio) in Großaufnahme in einem fahr‐ enden Auto gezeigt, neben ihm das kleine Mädchen (Victoria) aus den voran‐ gegangenen Einstellungen. Die Fahrt führt durch leere Straßen, vorbei an einem von links auf das Auto sprühenden weißen Funkenregen vor einem bläulichen Hintergrund. Rauch, auf der Straße liegender Schutt und einzelne am Straßen‐ rand lodernde Feuer erinnern an eine Kriegsszenerie. Derselbe Mann (Ossorio) dreht sich dann in einer Halbtotalen mit einer MG schießend vor dem hockenden Mädchen im Kreis. Hinter ihm Soldaten in Tarnkleidung, die eine hinter einem Zaun stehende Menge mit Waffen in Schach halten, dazwischen brennende Autos. 179 Onettis Para esta noche und Werner Schroeters Nuit de chien / Diese Nacht 54 Cf. ibid., p. 45. 55 "Die Hölle ist rot, auch im Diesseits. Im redlight district, im Schummerlicht der roten Laternen, herrscht die Unmoral. Das Rot der Erotik, der Sexualität verbindet sich mit dem Schwarz der Sünde und dem lasterhaften Violett." (Eva Heller, op. cit., p. 63) 56 Cf. ibid., pp. 51, 146, 148. Die nachfolgende Einstellung wählte Schroeter für das Filmplakat aus, womit er nicht nur bestimmte Bilder, Vorstellungen, sondern auch entsprechende 'Af‐ fekt-Erwartungen' im Rezipienten zu evozieren sucht (Antipathie, Hass, Ekel, Wut, Angst, Grauen, Mitleid, Trauer, Sympathie, Sehnsucht, sexuelles Ver‐ langen). Es zeigt in der Halbtotalen die Frau mit dem roten Kleid (Irène) in der Bildmitte auf dem steinernen Boden eines kirchenähnlichen Innenraums lie‐ gend. Sie versucht sich unter Mühen vor dem gewaltig wirkenden Altarbild eines gekreuzigten Jesus aufzurichten. Unter ihr breitet sich eine Lache aus. Ihre Strümpfe sind zerrissen, das rote Kleid auf einer Seite hochgerutscht. Das Licht dieser Szene ließe sich als supradiegetisch beschreiben, weil es die Diegese zu kommentieren scheint, indem es eine symbolische Bedeutung darüberlegt. Die rote Farbe sticht erneut hervor. Rot lenkt wahrnehmungspsychologisch den Blick des Betrachters. Mit der Farbe Rot eröffnet sich ein ganzes Konnotations‐ feld: Blut - Leben, Feuer - Zerstörung, Wärme, Hitze. Rot "verlockt und gebietet Einhalt", so erklärt Marschall, "ob in der Natur, in der Rotes entweder süß oder giftig, vielleicht auch beides ist, oder im von Menschenhand gemachten Farb‐ system des Straßenverkehrs". 54 In dieser Einstellung kann Rot als Symbol des Lebens gedeutet werden, welches aus dem Körper der auf dem Boden liegenden Frau entweicht. Mit der Kenntnis der Filmfigur, dass die auf dem Boden liegende Frau eine Hure ist, erhält das Rot auch die Konnotation des "moralisch Verbo‐ tene[n]". 55 Es kontrastiert mit dem Frömmigkeit und Reinheit konnotierenden Weiß des gekreuzigten Christus. 56 Das Thema der Misshandlung, der Folter (im Trailer durch den Schlag ins Gesicht der Frau bereits erwähnt) eint wiederum die Frau und die Christusfigur. Die bis hierhin dominante Farborchestrierung taucht erneut am Schluss des Trailers auf. Die letzten Bilder zeigen einen nackten Mann (Ossorio) in Groß‐ aufnahme. Sein Gesicht bedeckt eine schwarze Wolfsmaske mit weiß leuch‐ tenden Reißzähnen, die angsteinflößend wirkt. An der Stelle der Augen leuchten rote Lichter. Eine weiße Lichtquelle fällt frontal auf den Mann, sodass sich auf der Nase der Maske Reflexe zeigen. Der Hintergrund ist unscharf in Schwarz und dunklem Braungrün gehalten. Auch dieses Licht würde ich als supradiege‐ tisch bezeichnen, denn es hebt die Wolfsmaske auf dem Kopf des Mannes hervor und evoziert nach der Szenenauswahl des Trailers die lateinische Redewendung homo homini lupus. 180 Inke Gunia 57 Cf. Homepage der Filmgalerie 451: www.filmgalerie451.de/ 451. 58 Cf. Tomás Albaladejo, op. cit. Nach der Nennung des Filmtitels und dem Verweis auf Onettis Roman folgt im Trailer ein Zitat aus der linksliberalen französischen Tageszeitung Libéra‐ tion, in dem Schroeter mit dem Regisseur, Maler und Schriftsteller der künst‐ lerischen historischen Avantgarde Jean Cocteau (1889-1963) verglichen wird. Neben der Suche nach ästhetischer Erneuerung eint beide Künstler (Schroeter und Cocteau) die Vorliebe für eine rätselhafte, symbolträchtige und die Rezep‐ tionsgewohnheiten der Zuschauer provozierende Ausdrucksform. Merkmale, die sich auch in der Schreibweise Onettis wiederfinden lassen. Das am Anfang und am Ende des Trailers eingeblendete Logo der Filmgalerie 451 liefert dem Rezipienten den Hinweis darauf, dass er es nicht mit einem kommerziellen Spielfilm zu tun hat, sondern mit einem Autorenfilm: "Die Filmgalerie 451 pro‐ duziert, verleiht und veröffentlicht Filme, die inhaltlich und formal etwas wagen" 57 , so lautet die Selbstbeschreibung auf der Homepage. Onetti und Schroeter gehen in ihren Werken dicht an die Grenze heran, die der Typus der Ähnlichkeitsbeziehung 58 zwischen fiktionaler Welt und faktischer Wirklichkeit mit dem Typus einer anti-mimetischen Relation hat. Überschritten wird diese Grenze weder vom Roman noch vom Film. Dem Ausloten dieser Grenze ist aber das in beiden Medien vorhandene affektive Wirkpotenzial zu‐ träglich. Literaturverzeichnis Primärliteratur Onetti, Juan Carlos: El pozo [PZ], in: Id.: Obras completas vol. 1 - Novelas I (1939-1954), ed. 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Dies mag der konsequenten Verwei‐ gerung von Ereignishaftigkeit, der allgegenwärtigen Semantik des Verfalls sowie dem komplexen und schwer durchschaubaren Spiel mit fiktionalen Ebenen geschuldet sein. 1 Gleichwohl aber gelten derartige narrative Techniken nicht nur als paradigmatische Merkmale moderner Erzähltexte, sondern sie finden sich auch bei Onettis modernen Zeitgenossen geradezu exemplarisch verwirklicht. Was jedoch die Schroffheit und Sperrigkeit von Onettis Prosa be‐ trifft, so darf man behaupten, dass er neben seinen Zeitgenossen hier durchaus eine Sonderstellung einnimmt. Denn wie kaum ein anderer Vertreter der la‐ teinamerikanischen Moderne scheint es gerade Onetti zu beherrschen und kon‐ sequent danach zu streben, seine Leserinnen und Leser zunächst auf Distanz zu bringen und sie erst nach und nach, dafür aber umso stärker, an die Lektüre zu fesseln. Vor dem Hintergrund dieser zunächst thesenhaften Beobachtung stellt sich somit die Frage, ob und inwieweit diese besondere Schroffheit poetologi‐ schen Charakter haben könnte, ja sogar das spezifisch Moderne bei Onetti aus‐ machen könnte. 2 "Juan Carlos Onetti", in: Encyclopaedia Britannica, www.britannica.com/ biography/ Jua n-Carlos-Onetti. Die folgenden Überlegungen stellen daher den Versuch dar, den Stellenwert des Modernen bei Onetti vor dem Hintergrund dieser Sperrigkeit und Schroff‐ heit zu bestimmen. Es interessiert somit zum einen ganz grundlegend der Begriff der Moderne. Wie jedoch der Titel dieses Artikels erkennen lässt, soll es zum anderen um Onettis Gebrauch der descriptio gehen, die sich aufgrund ihrer nar‐ rativen Funktion, so die Überlegung, besonders dazu eignet, Distanz zu er‐ zeugen. Es geht somit - im Kleinen - um die ein oder andere deskriptive Passage, und andererseits - im Großen und Ganzen - um eine besondere Geste der Be‐ schreibung, die, aller vordergründigen Sperrigkeit zum Trotz, die Texte Onettis durchwandert, sie im Griff hat und vielleicht auch beherrscht. Diese Geste ist, zunächst ganz oberflächlich und metaphorisch gesagt, ambivalent, indifferent, partikular, diskontinuierlich, fragmentarisch. Eine solche spezifische deskrip‐ tive Technik, so lautet nun die These, ist bei Onetti aufs Engste mit dem ver‐ bunden, was man Moderne nennen könnte. Anders gesagt: Die Onetti'sche descriptio ist nicht bloß Beschreibung einer wie auch immer gearteten modernen Welt, sondern sie führt die Moderne quasi im Gepäck mit sich, gibt ihr Raum und bringt sie hervor. Im Folgenden interessieren somit zwei Problemfelder deren wechselseitige Bezogenheit zunächst konzeptionell dargelegt und sodann durch eine Lektüre von "Un sueño realizado" plausibilisiert werden soll. Zum einen geht es um die Moderne, die um 1900 Einzug hält, - ist sie Epoche, ist sie Stil, ist sie Denkrich‐ tung? - und zum anderen geht es um die Beschreibung und zwar als narrative Technik im Allgemeinen und sodann bei Onetti im Besonderen. Auf diese Weise soll deutlich werden, worin das spezifisch Moderne bei Onetti liegt. Das Ziel ist es zu zeigen, dass ein solches Modernes nicht allein in den Welten, den Figuren oder den Räumen zu verorten ist, die Onetti entwirft, geschweige denn, dass sich ein solches Modernes, wie es in der Encyclopedia Britannica heißt, bei Onetti allein einer "complex fusion of reality with fantasy and inner experience" 2 ver‐ dankt, sondern, dass ein solches Modernes bei Onetti gewissermaßen schon an der Wurzel der Sprache selbst sitzt, die Sprechsituation charakterisiert und so immer schon in die Rede mit einfließt, ungeachtet dessen, was eine solche Rede in den Blick nimmt. Das Moderne ist bei Onetti also nicht allein Vision, Utopie oder theoretisches Konzept, sondern eine sprachliche Geste. Und diese Geste zeigt sich, oder wird literaturwissenschaftlich fassbar - so meine These -, in einem besonderen Modus der descriptio. 186 David Klein 3 Peter Zima, op. cit., p. 27. Zum Antwortcharakter der jüngeren Moderne auf die Frühe Neuzeit cf. Brian McHale, op. cit. 4 Cf. Andreas Mahler, op. cit., p. 171, Anm. 39. 5 Peter Zima, op. cit., p. 41. (Hervorh. stets i. Orig.) II. Zunächst zur Moderne: Wenn im Folgenden von der Moderne die Rede ist, so ist selbstverständlich die Moderne gemeint, die zeitlich in etwa ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Konturen gewinnt. Auch ist bewusst nicht von einer Epoche, einem Stil oder einer Denkrichtung die Rede, sondern, in Anlehnung an den Literaturwissenschaftler Peter Zima, von einer Problematik, die es im Spannungsfeld konkurrierender Begriffe zu bestimmen gilt, wie beispielsweise dem Modernismus, der Postmoderne oder gar der Frühen Neuzeit. Letztere führt ja, zumindest im Englischen mit modern times oder modernity oder in den ro‐ manischen Sprachen mit temps modernes, modernité, età moderna oder Edad Moderna das Moderne noch im Namen. Dies mag auf der einen Seite bisweilen zu Verwechslungen führen, es verweist auf der anderen Seite aber schon auf einen zentralen Punkt der Problematik der jüngeren Moderne, nämlich darauf, dass sie auf eine gewisse Weise mit jener älteren Moderne, die wir im Deutschen Frühe Neuzeit nennen, in enger Beziehung steht: "Zu Beginn der Spätmoderne oder des Modernismus", so fasst es Peter Zima zusammen, "wird die neuzeitliche Moderne im Rückblick erkennbar, definierbar und kritisierbar" 3 . Lässt sich die Frühe Neuzeit sehr grob als Säkularisierungs- und Pluralisierungsschub be‐ schreiben, so erscheint die Moderne um 1900 zum einen als deren Radikalisie‐ rung und zum anderen als deren Problematisierung. 4 Die Probleme und Lö‐ sungen, die die Frühe Neuzeit hervorbringt, liefern also einen Bezugspunkt, der der jüngeren Moderne entscheidende Impulse verleiht. Ich werde im Zuge meiner Überlegungen zur Beschreibung bei Onetti auf diesen Punkt zurück‐ kommen. Zunächst jedoch bleibe ich bei der jüngeren Moderne. Neben ihrem engen Bezug zur Frühen Neuzeit lässt sie sich zudem, wie Zima ausführt, als Prozess sich steigernder Entdifferenzierung beschreiben: Auf der Ebene der kulturellen Werte, die zugleich sprachliche Werte oder 'Wortwerte' sind, erscheinen Moderne, Modernismus und Postmoderne als Konstellationen, die von drei zentralen Problemen strukturiert werden, auf die sich ihre politischen, psy‐ chologischen, philosophischen und ästhetisch-literarischen Fragen und Antworten beziehen: die Ambiguität, die Ambivalenz und die Indifferenz. 5 187 (D)escribir la Modernidad 6 Ibid. 7 Ibid., p. 42. 8 Ibid. 9 Hans Blumenberg, op. cit., p. 12. 10 Ibid., pp. 13 sq. Doppelsinnigkeit, Doppelwertigkeit und schließlich so etwas wie Beliebigkeit, Unterschiedslosigkeit oder auch Gleichwertigkeit kennzeichnen also die Mo‐ derne. Zunächst macht das Zitat deutlich, dass Zima, indem er von 'Wortwerten' spricht, auch der Literatur einen zentralen Stellenwert im Hinblick auf die in Frage stehenden Entwicklungen zuweist. Zudem ist ersichtlich, dass die drei zentralen Probleme, wie Zima sie nennt, Steigerungsstufen darstellen und sich in dieser Form auch historisieren lassen. Denn ist "für die Philosophie und die Literatur des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts […] eine Ambiguität charak‐ teristisch, die […] [im] Erzählerkommentar aufgelöst werden kann, so dass der Gegensatz zwischen Sein und Schein, Wahr und Falsch, Gut und Böse usw. wie‐ derhergestellt wird" 6 , sprich, dass Ambiguität zugunsten einer der beiden Seiten eines Gegensatzpaares reduziert wird, also gut statt böse, Sein statt Schein, wahr statt falsch, so erscheint ein solches Vorhaben "im Modernismus der Spätmo‐ derne […] illusorisch" 7 . Denn nun beginnt, so Zima weiter, eine "Ära der Ambi‐ valenz, die als Einheit der Gegensätze in keiner Synthese aufgeht […]. Gut und böse, wahr und falsch, Sein und Schein sind unentwirrbar miteinander ver‐ woben, ohne dass es möglich wäre, den Schein im Sein aufzulösen und die Am‐ bivalenz aufzuheben" 8 . Die Moderne lässt somit keine Wahl mehr, und man könnte hier sogar noch einen Schritt weitergehen, zumal diese radikale Form der Ambivalenz weitreichende Implikationen für ein sich wandelndes Ver‐ ständnis von Welt und Wirklichkeit hat. Erschien die vormoderne Wirklichkeit, wie Hans Blumenberg gezeigt hat, aller gesteigerten Komplexität zum Trotz grundsätzlich ermessbar und erkennbar und konnte diese Wirklichkeit im früh‐ neuzeitlichen Denkschema noch als "Resultat einer Realisierung" 9 von einem denkenden und arbeitendem Subjekt erschlossen, erobert, aufgeschrieben und katalogisiert werden, so erweist sie sich im Zeichen einer Wende zur jüngeren Moderne (oder zur unauflöslichen Ambivalenz) als "Erfahrung von Widerstand" oder, in anderer Formulierung, "als das dem Subjekt nicht Gefügige, ihm Wi‐ derstand Leistende." 10 Hans Blumenberg verbindet mit diesem Wirklichkeitsbe‐ griff sodann auch die logische Form der Paradoxie, die gleichwohl als zentrales Paradigma dessen gelten kann, was hier Moderne genannt wird: Um also die Formel Zimas zur Moderne auf die Spitze zu treiben und ihr das Paradoxale (auch sprachlich) anzuheften, das Blumenberg im Sinn hat, müsste man sagen: Nicht gut und böse, sondern 'sowohl gut als auch böse und weder gut noch böse': 188 David Klein 11 Peter Zima, op. cit., p. 42. 12 Ibid., p. 43. Peter Zima zitiert an dieser Stelle Friedrich Nietzsche, op. cit., p. 568. 13 Cf. Volker Roloff, op. cit. 14 Michel Foucault, op. cit., p. 7. Paradoxe Gleichwertigkeit des Ungleichwertigen als Signatur der Moderne. Neben dem engen Bezug zur Frühen Neuzeit ist dies ein weiterer Aspekt, auf den es im Zusammenhang mit Onetti zurückzukommen gilt. Zuvor jedoch noch ein dritter Gedanke zur Moderne. Peter Zima zeigt in seinen weiterführenden Überlegungen, dass die hier beschriebene moderne Ambivalenz (oder Paradoxalität) im Zeichen postmodernen Denkens in die In‐ differenz überführt wird. Warum die Postmoderne hier überhaupt eine Rolle spielt, wird hoffentlich gleich deutlich werden, zuvor jedoch noch einmal Zima, der sich in diesem Zusammenhang auf Friedrich Nietzsche als Vorboten einer postmodernen Denkfigur beruft: Die postmoderne Problematik nimmt Nietzsche insofern vorweg, als er die Möglichkeit ins Auge fasst, dass die Ambivalenz als Einheit der Gegensätze […] wie Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, in die Indifferenz als Austauschbarkeit der Werte ausmündet. 11 Es wäre also möglich, so Nietzsche, den Zima an dieser Stelle zitiert, dass was den Wert jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. 12 In Anlehnung an die eben vorgebrachte paradoxe Formel zur Moderne gilt in postmodernen Zeiten der Indifferenz also schlichtweg: Gut gleich Böse, Sein gleich Schein, Wahrheit gleich Lüge. Anders als in der Moderne ist die Gleich‐ wertigkeit des Ungleichwertigen nun aber kein Skandalon mehr. Sie steht viel‐ mehr im Zeichen spielerischer Lust und Zitierfreude 13 und ist in der Lage jenes Lachen hervorzurufen, das Foucault einst bei der Lektüre einer fiktiven Enzy‐ klopädie von Borges befallen haben muss, ein Lachen, wie Foucault sagt, "qui secoue à sa lecture toutes les familiarités de la pensée […] faisant vaciller et inquiétant pour longtemps notre pratique millénaire du Même et de l'Autre" 14 . Ich möchte nun behaupten, dass dieses Schwanken, dieses vaciller, das uns angesichts der Gleichwertigkeit des Ungleichwertigen ereilt, sowohl für die Moderne als auch für die Postmoderne charakteristisch ist. Der wesentliche Unterschied besteht nun darin, dass dieses Schwanken in postmodernen Zeiten seinen Schrecken verliert und in der Lage ist, Lust freizusetzen, in der Moderne 189 (D)escribir la Modernidad 15 Cf. Wolfgang Welsch, op. cit., pp. 4 sq. 16 Heinrich Lausberg, op. cit., pp. 399 sq. hingegen noch als existentielles Hindernis und bisweilen als Bedrohung emp‐ funden wird. 15 Den ersten Teil meiner Überlegungen zusammenfassend lässt sich also sagen: Die Moderne ist, erstens, ein Reflexivwerden von Problemen und Problemlö‐ sungen, die die Frühe Neuzeit kennzeichnen. Sie ist, zweitens, durch bedrohliche Ambivalenz gekennzeichnet, durch jene hochproblematische Gedankenfigur des 'sowohl als auch und weder noch', die noch nichts von dem spielerischen Gestus postmoderner Indifferenz hat. Drittens aber impliziert diese hochprob‐ lematische Figur ihre eigene Überwindung, die darin besteht, anzuerkennen und auszuhalten, dass jene guten Dinge, wie Nietzsche sagt, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verhäkelt, viel‐ leicht gar wesensgleich sind. Trotz eindeutiger Dominanz der modernen, para‐ doxalen und existentiell bedrohlichen Denkfigur wird bei Onetti erkennbar, dass eben diese Denkfigur ihre eigene Überwindung, den Schritt zur fröhlich-ver‐ söhnlichen Indifferenz nämlich, immer schon in sich trägt. Das Besondere ist dann, dass Indifferenz bei Onetti keineswegs mit Beliebigkeit gleichzusetzen ist, sondern mit einer zarten Andeutung der Möglichkeit wechselseitiger Anerken‐ nung des Gegensätzlichen oder des 'sich jeweils Anderen'. Ich möchte im Zuge meiner Überlegungen auch auf diesen Punkt zurückkommen. III. Wie aber zu Beginn angekündigt, gruppieren sich die hier genannten Aspekte bei Onetti um eine besondere Geste der Beschreibung. Was aber genau versteht man unter Beschreibung? Die Rhetorik kennt die Beschreibung oder descriptio unter anderem als Teil der evidentia, dem sprachlichen Vor-Augen-Führen. Die evidentia ist, nach Heinrich Lausberg, "die lebhaft-detaillierte Schilderung eines rahmenmäßigen Gesamtgegenstandes […] durch Aufzählung (wirklicher oder in der Phantasie erfundener) sinnfälliger Einzelheiten" 16 . Die Beschreibung oder vielleicht sollte man sagen: die Beschreibungen, deskriptiven Passagen oder descriptiones sind so gesehen Einzelteile eines größeren narrativen Ganzen oder eines Rahmens, den die descriptiones mit den ihnen eigenen Mitteln abstecken. Die Teile dieses Rahmens, die einzelnen descriptiones, können ihrerseits zahl‐ reiche Dingen in den Blick nehmen. Es sind dies üblicherweise Personen (desc‐ riptio personae), Gegenstände (descriptio rerum), Orte (descriptio loci) und Vor‐ gänge (descriptio temporum). Allesamt dienen die descriptiones, und in der 190 David Klein 17 Ibid, p. 401. 18 Roland Barthes: "Der Wirklichkeitseffekt" (1968 franz.), p. 165. 19 Id.: "L'effet de réel", p. 85. 20 Ibid., p. 84. 21 Ibid. 22 Gewiss lässt sich einwenden, dass ein Barometer in einem französischen Haushalt des 19. Jahrhunderts wie dem der Madame Aubain ein durchaus üblicher Einrichtungsge‐ genstand war. Es kommt mir jedoch in erster Linie auf den Gedankengang Roland Bar‐ thes' an, für den die Erwähnung des Barometers semiotische, und in der Folge, ontolo‐ gische Implikationen trägt. 23 Roland Barthes: "L'effet de réel", p. 85. 24 Ibid. 25 Roland Barthes: "Der Wirklichkeitseffekt", p. 166. Summe die evidentia, der Intensivierung von Klarheit (narrationis perspicuitas) und Wahrscheinlichkeit (narratio probabilis). Die evidentia hat ihren Platz somit im ornatus, da sie, wie Lausberg sagt, "über das Notwendige hinausgeht" 17 . Mit diesem letzteren Aspekt hat sich Roland Barthes in seinem epochemach‐ enden Essay zum effet de réel beschäftigt, in dem es ihm auch um die Beschrei‐ bung geht. Barthes stellt zunächst fest, dass jede abendländische Erzählung un‐ vermeidbare dennoch aber vermeintlich "'unnütze' Details" 18 kennt und benennt. Solche "détails inutiles" 19 sind strukturell weder dem Fortgang der Handlung dienlich, noch tragen sie irgendetwas zur Charakterzeichnung oder zum sym‐ bolischen Inventar der Geschichte bei. Barthes bemüht in diesem Zusammen‐ hang das Barometer auf dem Klavier im Hause der Madame Aubain in einer Erzählung Flauberts, auf dem sich, wie es dort heißt, ein pyramidenförmiger Haufen Schachteln und Kartons stapelt. Als Detail einer Raumbeschreibung, so führt Barthes aus, verweist das Klavier noch auf das "standing bourgeois de sa propriétaire" 20 und die Kartons lassen sich lesen als "un signe de désordre et comme de déshérence, propres à connoter l'atmosphère de la maison Aubain." 21 Die Erwähnung des Barometers hingegen lasse sich, so zumindest Barthes, durch keinen erkennbaren Zweck begründen. 22 Derart bedeutungslose Eintra‐ gungen oder "notation[s] insignifiante[s]" 23 , wie Barthes sie nennt, führen nun den "caractère énigmatique" 24 jeder Beschreibung deutlich zu Tage, der darin besteht, dass die Beschreibung "durch keine Finalität des Handelns oder Kom‐ munizierens begründet ist", sprich: dass sie in Bezug auf die Handlung, in Bezug also auf schicksalsbestimmende oder handlungsleitende "Wahlmöglichkeiten und Alternativen" 25 keinen informativen Zweck erfüllt. Die Beschreibung ist somit nicht strukturell, sondern rein summatorisch, eine Liste. Worin aber liegt dann die Bedeutung einer für die Handlung unerheblichen descriptio? Um es kurz zu machen: Für Barthes denotieren solche Eintragungen 191 (D)escribir la Modernidad 26 Ibid., p. 169. 27 Roland Barthes: "L'effet de réel", p. 87. 28 Ein Zeichen ist schließlich das, was in Bezug auf etwas existiert, das nicht anwesend ist. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass das, was anwesend ist, eben nicht zeichenhaft und somit real, zugleich aber auf Repräsentation durch ein Zeichen angewiesen ist: "[L]a structure classiquement déterminée du signe […] présuppose que le signe, diffé‐ rant la présence, n'est pensable qu'à partir de la présence qu'il diffère et en vue de la présence différée qu'on vise à se réapproprier." ( Jacques Derrida, op. cit., p. 47, Hervorh. i. Orig.) Ist das Zeichen also nur da, wenn das, was es bezeichnet, nicht da ist, so bedeutet die Anwesenheit eines Zeichens immer zugleich die Abwesenheit des Bezeichneten, das bei Barthes den Stellenwert des Wirklichen erhält. 29 Mit anderen Worten: Das Verhältnis von Signifikant und Referent taucht nach Barthes' Konzeption im Text wieder auf und zwar in Form des Verhältnisses von Denotation ( ≙ Referent) und Konnotation ( ≙ Signifikat). Führt nun der Text vor, dass die Suche nach Konnotationen vergeblich ist, so bleibt letztlich nur die denotative Ebene übrig, die im ständigen Subvertieren erwartbarer Zeichentätigkeit funktional dem Referenten zufällt. 30 Ähnlich argumentiert Thomas Klinkert, der den Barthe'schen éffet de réel explizit als Dimension konzipiert, die sich in unterschiedlichen narrativen Verfahren als Effekt zeigen kann, wie zum Beispiel im Durchbrechen von Erwartungshorizonten. Cf. id., op. cit., p. 101, Anm. 155. schlichtweg die "konkrete Wirklichkeit" 26 , "le réel concret" 27 . Und sie tun dies dadurch, dass sie sich gerade nicht mehr ins funktionale Gefüge der Erzählung einreihen, sprich: dass sie in Bezug auf die erzählte Welt nichts bedeuten, dass sie, etwas konkreter gefasst, keine Konnotationen besitzen, sich sinnhaften Zu‐ satzkodierungen also widersetzen. Derartige Eintragungen genügen sich selbst und bedeuten gerade dadurch, durch Selbstgenügsamkeit also, das unhinter‐ gehbare Wirkliche. Dies bedeutet aber, dass das Wirkliche in dieser Konstella‐ tion als etwas behandelt wird, was erstens keiner Rechtfertigung bedarf und was sich zweitens, noch wichtiger, einer sinnhaften Bezugnahme oder dem üblichen Zeichengebrauch entzieht. Das Wirkliche ist für Barthes so gesehen das, was (einfach nur) da ist und nicht das, was in Bezug auf etwas da ist. Wirklich ist somit das, was nicht zeichenhaft ist. 28 Semiotisch gewendet bedeutet das Wirk‐ liche somit nichts weiter als das 'Ineinsfallen' eines Signifikanten mit seinem Referenten unter Ausschluss und Verweigerung eines Signifikats. Auf einen Text bezogen, der ja ganz ohne Zeichen kein Text wäre, bedeutet dieser Sachverhalt den Verzicht auf oder die Verweigerung von stabilen (sprich: rekurrenten) Kon‐ notationen, und somit die Reduktion auf Denotationen. 29 Zeichenträger und Referent, (auf Textebene: Denotation und Konnotation) erscheinen einander somit als dieselbe Sache, sie sind, was sie sind, und nicht mehr. Sie bedeuten keinen Inhalt, keine erzählte Welt, sondern in der Summe nichts weiter als eine Kategorie oder eine Dimension, nämlich die der Wirklichkeit. 30 192 David Klein 31 Immer wieder hat Onetti die Untauglichkeit der Sprache gegenüber der Welt ins Zen‐ trum seiner Texte gestellt und zum unvermeidlichen Schicksal seiner Figuren gemacht. Cf. Hugo Verani, op. cit., pp. 31 sq. 32 Roland Barthes: "L'effet de réel", p. 89. Entscheidend ist, dass es dabei bleibt und man auf diesem Weg nicht über das bloße Heranziehen der Dimension Wirklichkeit hinausgelangt. Es soll auf diese Weise gerade nicht gelingen, die Dimension Wirklichkeit mit Inhalten zu füllen, da sie von Anfang an als etwas behandelt wird, das kein Zeichen an sich bindet. Geschichten, Gegenstände, Sinn, aber auch Buchstaben, Worte all dies prallt gewissermaßen an der so behandelten Wirklichkeit ab, und die einzige Form, in der sich die Wirklichkeit noch zeigt, ist möglicherweise jene Erfahrung von Widerstand, von der auch Hans Blumenberg spricht, eine Erfahrung wohlge‐ merkt, die sich einstellt, wenn sich ein denkendes Subjekt mit einer Paradoxie konfrontiert sieht, wie beispielsweise unserem 'sowohl als auch und weder noch'. 31 Bedeutet eine Paradoxie wie diese nun eine Erfahrung von Widerstand gegen das Subjekt, so bedeutet sie in der semiotischen Blickrichtung, die Roland Barthes vorschlägt, nichts weiter als den Widerstand eines Signifikanten gegen ein Signifikat und, bezogen auf einen Text, den Widerstand der Denotation gegen die Konnotation. Denn egal welche Signifikanten sich in eine solche Formel eintragen ließen - Sein und Schein, wahr und falsch, gut und böse - sie müssten ihre Signifikate in dieser Konstellation sogleich von sich abstreifen und negieren, weswegen Barthes diesbezüglich auch von einer "désintegration du signe" 32 spricht. Ein solcher Zerfall des Zeichens bedeutet also auch für den Se‐ miotiker die Signatur der jüngeren Moderne. Um modern zu sein, müsste eine Erzählung voll von beschreibenden, sum‐ matorischen Elementen sein, die keinen informativen oder konnotativen Zweck erfüllen, voll jener Flaubert'schen Barometer, voll Inhaltsleere oder entleerter, sprich: rein denotativer Zeichen. Vielleicht stellt sich bei der Lektüre einer sol‐ chen Erzählung jene Erfahrung von Widerstand ein, die letzten Endes eine Er‐ fahrung von Widerstand gegen den Sinn ist, gegen das Signifikat, gegen eine Geschichte, gegen ein denkendes Subjekt oder auch gegen die Fülle. Ein solches Programm ließe sich als das diskursive Pendant zur modernen Architektur eines Mies van der Rohe oder eines Le Corbusier denken, wo es ja auch darum geht, die architektonischen Formen von ornamentalen Anhängseln zu befreien, sie zu leeren oder auf ihren Gebrauchswert, ihre Wirklichkeit als Wohnmaterie zu re‐ 193 (D)escribir la Modernidad 33 Abgesehen natürlich von den Möglichkeiten, die leere Seite gegenüber den graphischen Elementen in Szene zu setzen. Cf. Lars Schneider, op. cit. Zur Inszenierung der weißen Seite als "Ermöglichungsbedingung lyrischer Textualität" cf. Kurt Hahn, op. cit., p. 455. 34 Rainer Warning: "Erzähen im Paradigma - Kontingenzbewältigung und Kontingen‐ zexplosion". 35 Cf. Hugo Verani, op. cit., p. 28. Eine gendertheoretische Lektüre das Hamlet-Vergleichs liefert Sonia Mattalia, op. cit. duzieren. Der Weg narrativer Literatur zu dieser Leere ist gewiss ein anderer, da sie ja stets, auch wenn sie Leere anzeigen möchte, Formen anhäufen muss. 33 IV. Dass dies funktionieren kann, hat Onetti in zahlreichen, hermetischen Texten vorgeführt, die jede konsistente Realisierung einer letztgültigen Welt oder, in Blumenberg'scher Formulierung, eines in sich stimmigen Kontexts zum Schei‐ tern bringen. Darüber hinaus hat Onetti dazu auch ein Programm oder so etwas wie eine Anleitung geschrieben. Sie trägt den Titel: "Un sueño realizado". In dieser Kurzerzählung schlagen sich nicht nur die zentralen Aspekte der Mo‐ derne nieder, wie sie sich zu Anfang unserer Überlegungen gezeigt haben, son‐ dern neben einer dominanten Paradigmatisierung 34 der Beschreibung, wird die descriptio in ihrer spezifisch modernen Ausprägung selbst zum Gegenstand me‐ tafiktionaler Reflexion. IV.1 Bei der nun folgenden Lektüre der Kurzerzählung soll zunächst auf den erstge‐ nannten Punkt eingegangen werden, nämlich auf die zentralen Aspekte der Moderne, wobei die Überlegungen zur Beschreibung hier mit einfließen. So verweist der Witz, den der verhasste und dauerhaft betrunkene Schauspieler Blanes immer wieder auf Kosten des Erzählers reißt, natürlich auf Hamlet und damit auf ein, wenn nicht das zentrale Werk Frühneuzeitlicher Literatur. Dar‐ über, welche Rolle Hamlet in "Un sueño realizado" spielt, ist viel diskutiert worden, und man hat den Vergleich des Erzählers mit dem dänischen Prinzen oft mit beider Isoliertheit und mit beider Scheitern und letztlich auch mit der Außenseiterposition von Onetti selbst in Verbindung gebracht. 35 Onetti als Hamlet. Bezieht man den Hamlet-Verweis aber ganz allgemein auf die Frühe Neuzeit als Orientierungspunkt einer neuen Moderne, dann lässt sich in der strukturellen Einbettung dieses Verweises im Gesamtgefüge der Erzählung möglicherweise erkennen, inwieweit sich die jüngere Moderne eines Onetti zu jener älteren Moderne eines Shakespeare verhält. Eine solche These ist, zuge‐ 194 David Klein gebenermaßen, etwas hochgegriffen und kann hier, sollte sie sich denn als plau‐ sibel erweisen, keineswegs ausgeschöpft werden. Sie soll hier jedoch trotzdem zumindest kurz versucht werden. Denn interessant an der ganzen Hamlet-The‐ matik in "Un sueño realizado" scheint tatsächlich kein inhaltliches oder sym‐ bolisches, sondern ein strukturelles Problem zu sein. Der Erzähler nämlich, der immerhin Theaterproduzent ist, hat Hamlet nie gelesen. Und nicht nur dies: Er will ihn auch gar nicht lesen, wenngleich er sich sicher ist, wie er sagt, "que el Hamlet era el arte, el arte puro, el gran arte" (SRe 45). Um sich aber vor weiteren Witzen seitens des verhassten Kollegen zu schützen, unterlässt es der Erzähler, sich über den Sinn des Witzes, die Pointe oder, semiotisch gewendet, das Sig‐ nifikat bzw. die Konnotationen zu informieren. Und so bleibt es bis zuletzt offen, was Blanes überhaupt meint, wenn er dem Erzähler Dinge sagt wie: "Y pensar… Un tipo como usted que se arruinó por el Hamlet." (Ibid.) Der unverstandene Hamlet-Witz wird als etwas Unverstandenes festgezurrt, als offene Frage oder, semiotisch formuliert, als ein leerer oder entleerter Signifikant, als reines De‐ notat, als Barometer, wenn man so will. In dieser Blickrichtung ließe sich arte puro in einem durchaus starken Sinn lesen, nämlich nicht bloß als 'reine Kunst', sondern als Kunst der Reinheit, als Kunst, die nichts mehr bedeutet, die, meta‐ phorisch gesprochen, einfach nur ist oder, in Barthe'scher Formulierung, auf dem Zusammentreffen eines Signifikanten mit seinem Referenten beruht, unter Umgehung eines Signifikats, kurzum: Moderne Kunst. So gesehen ist es nicht nur verständlich, wenn Langman von der rätselhaften Frau denselben verächt‐ lichen Blick erntet, den er auch an Blanes beobachtet, wenn dieser den Hamlet Witz macht, sondern es ist auch verständlich, wenn ihn dieser Blick in dem Moment trifft, wo Langman versucht, der inhaltsleeren Theaterszene der Frau einen weiterführenden, konnotativen Sinn anzuheften, ihren Signifikanten zu füllen. Natürlich kann man jetzt einwenden, dass das hamlettypische Motiv des Me‐ tadramas auch in "Un sueño realizado" ganz im Zentrum steht, zumal ja die sonderbare Theaterszene, die der Erzähler inszenieren soll, denselben Titel trägt wie die Erzählung selbst. Und tatsächlich fördert die metafiktionale Inszenie‐ rung von "Un sueño realizado", ganz wie im Hamlet, eine starke Gewissheit, eine Wahrheit, ja eine Wirklichkeit zu Tage. Diese unterliegt nun aber nicht mehr bloß, wie im Hamlet, dem Zweifel, sondern sie liegt weit jenseits des Sagbaren. Denn das Ende der Inszenierung von "Un sueño realizado" fällt mit dem Ende der gleichnamigen Erzählung zusammen, welche ihrerseits mit einer Aposio‐ pese schließt: "[L]o comprendí todo claramente como si fuera una de esas cosas que se aprenden para siempre desde niño y no sirven después las palabras para explicar." (SRe 59) Worte, Signifikanten, so könnte man diesen letzten Satz der 195 (D)escribir la Modernidad Erzählung lesen, sind hier nicht bloß überflüssig, sondern schlichtweg nicht in der Lage, jene starke Gewissheit, jenen festen Sinn auszudrücken, der hier mög‐ licherweise mit der Kategorie Wirklichkeit zu verrechnen wäre. Erzähltechnisch, und dies scheint besonders wichtig, ergeht der eben zitierte letzte Satz der Erzählung auf zwei Ebenen, nämlich einmal auf semantischer Ebene und ein weiteres Mal auf syntaktischer Ebene. Der Text hört also da auf, wo er sagt, nichts mehr sagen zu können. Wortmaterial und Wortsinn, Signifi‐ kant und Signifikat kommen auf diese Weise performativ (im Nichts) zur De‐ ckung. Dies entspricht in etwa dem, was Roland Barthes illusion référentielle nennt, und als das Zusammentreffen eines Signifikanten mit seinem Referenten definiert, oder genauer gesagt: als die Illusion einer solchen Begegnung, die sich durch Tilgung eines Signifikats bzw. der Konnotationen einstellt. Gewiss soll dieser letzte Satz der Erzählung nicht überreizt werden. Seine semiotische Dop‐ pelstruktur ist jedoch besonders auffällig. Denn diese Struktur, also syntaktische Ebene gleich semantischer Ebene, oder Signifikant gleich Signifikat, verhält sich gegenüber der angekündigten, letztgültigen Gewissheit, dem sehr starken lo comprendí todo, wie die Wirklichkeit der Moderne gegenüber dem frühneuzeit‐ lichen, denkenden und arbeitenden Subjekt, das Wirklichkeit (noch) als Akt einer Realisierung begreift. Lässt sich eine Gewissheit im Hamlet mit Hilfe des Stück im Stück zumindest noch herstellen - ganz im Sinne des Blumenberg'‐ schen Realisierungsschemas: also Wirklichkeit als Resultat einer Realisierung durch ein Subjekt - so ist die Wirklichkeit oder die starke Gewissheit bei Onetti - lo comprendí todo - nicht mehr fassbar oder durch einen Signifikanten reprä‐ sentierbar. Sie leistet ihm Widerstand. Folgt man dieser These, so wäre der ewig unverstandene Hamlet-Witz mithin denkbar als Chiffre einer modernen Prob‐ lematisierung des Frühneuzeitlichen Repräsentations- und Realisierungs‐ schemas. Eng verbunden damit ist der zweite wichtige Aspekt der Moderne, ihr Hang zur Paradoxie. Der Verdacht, dass es bei "Un sueño realizado" immer auch um eine paradoxe Gleichwertigkeit von Oppositionspaaren geht, lässt sich erhärten, wenn man die Figurenzeichnung genauer betrachtet. Der Erzähler ist, wie ge‐ sagt, Theaterproduzent und agiert, bezogen auf das Theater, hinter den Kulissen. Zugleich aber spielt er der Welt etwas vor. Der einzige Hinweis auf sein Äußeres lautet wie folgt: "[C]on una peluca rubia peinada al medio que no prefiero sac‐ arme para dormir, una dentadura que nunca logró venirme bien del todo y que me hace silbar y hablar con mimo […]. " (SRe 45) Langman versteckt sich hinter eine Maske. Dies zeigt sich auch im ersten Gespräch mit der sonderbaren Frau, in dem er ihr vorgaukelt, ein überaus wichtiger Theaterproduzent zu sein, an dem gewissermaßen keiner vorbeikommt: 196 David Klein Siempre he tenido interés, digamos personal, desinteresado en otro sentido, en ayudar a los que empiezan. Dar nuevos valores al teatro nacional. Aunque es innecesario decirle que no son agradecimientos los que se cosechan, señora. Hay muchos que me deben a mí el primer paso, señora, muchos que hoy cobran derechos increíbles en la calle Corrientes y se llevan los premios annuales. Ya no se acuerdan de cuando venían casi a spulicarme… (SRe 47 sq.) Auch sein finanzielles Exil in der Provinz stellt Langman anders dar, als es ist: "Usted debe saber que la temporada ha sido un fracaso. Hemos tenido que in‐ terrumpirla y me he quedado solo por algunos asuntos personales." (SRe 48). Und die allein finanziell begründete Motivation, das rätselhafte Stück aufzuführen, verkauft er als vermeintliche Könnerschaft, erzählt, um sein Unverständnis zu vertuschen, weltmännisch vom "teatro intimista" (SRe 49) und gibt sogar vor, zu verstehen, worauf das Stück hinauslaufen soll, womit er sich übrigens denselben sauren Gesichtsausdruck seitens der Frau abholt, den er von seinem verhassten Kollegen kennt, wenn dieser den Hamlet-Witz macht. Langman ist also nicht nur ein schlechter Theaterproduzent, sondern auch ein schlechter Schauspieler. Dasselbe gilt nun umgekehrt für seinen verhassten und doch unverzichtbaren Kollegen. Auf den ersten Blick wirkt dieser wie der ebenfalls gescheiterte, dennoch aber leidenschaftliche Bühnenmensch. Auf den zweiten Blick aber wird deutlich, dass Blanes in Bezug auf das rätselhafte The‐ aterstück eher die Rolle des Produzenten oder Regisseurs einnimmt. So berichtet der Erzähler: Aunque yo no tenía que molestarme por nada ya que estaba allí Blanes […] conver‐ sando con ella como si se hubieran encontrado ya dos o tres veces […]. De modo que lo que tenía que contarme a mí se lo fue diciendo a él […]. Lo que la mujer quería que representáramos para ella era esto (a Blanes se lo dijo con otra voz, y aunque no lo mirara, aunque al hablar de eso bajaba los ojos, yo sentía que lo contaba ahora de un modo personal […]). (SRe 52) Blanes wird somit in das Geheimnis und den tieferen Sinn der Inszenierung eingeweiht, während sie der eigentliche Produzent am Ende nur als außenste‐ hender Beobachter goutieren kann. Nachdem dann die Frau ihr Vorhaben ge‐ schildert hat, fährt der Erzähler fort: La cosa era fácil de hacer pero le dije que el inconveniente estaba […] en aquella mujer que salía de su casa a paseo con el vaso de cerveza. - Jarro -me dijo ella. - Es un jarro de barro con asa y tapa. Entonces Blanes asintió con la cabeza y le dijo: -Claro, con algún dibujo, además, pintado. Ella dijo que sí y parecía que aquella cosa dicha por Blanes la había dejado muy contenta […]. (SRe 53) 197 (D)escribir la Modernidad Die Szene zeigt, wie Blanes in die Rolle des Produzenten schlüpft. Dieses Kippspiel der beiden Figuren findet sich ebenfalls in der sonderbaren Frau, zumindest aus Sicht des Erzählers, der sie als jung und zugleich alt be‐ schreibt: La mujer tendría alrededor de cincuenta años, y lo que podía olvidarse en ella, lo que siento ahora cuando la recuerdo caminar hasta mí en el comedor del hotel, era aquel aire de jovencita de otro siglo que hubiera quedado dormida y despertara ahora un poco despeinada, apenas envejecida pero a punto de alcanzar su edad en cualquier momento, de golpe, y quebrarse allí en silencio, desmoronarse roída por el trabajo sigiloso de los días. (SRe 46) Zugleich kann man sich nicht sicher sein, ob die Frau verrückt ist, wie der Er‐ zähler sagt, und deshalb bemitleidenswert, oder ob sie genial ist, wie Blanes behauptet, und daher bewundernswert. Die drei zentralen Figuren besetzen somit je für sich Zwischenräume und keine eindeutigen Positionen. Hinzu kommt die existentielle Leere von Blanes und Langman sowie die Gewissheit beider, nichts erreicht und Zeit verschwendet zu haben. Vielleicht besteht in diesem letzten Punkt so etwas wie eine zarte Anerkennung des jeweils anderen, schließlich sind die beiden gleichermaßen voneinander abhängig und 'auf selt‐ same Weise verhäkelt' ungeachtet jedweder Künstlerfeindschaft. In dieser Ver‐ häkelung wird neben der oberflächlichen Opposition der beiden männlichen Figuren zumindest andeutungsweise eine dritte, versöhnliche und spielerische Position erkennbar, die auf die oben beschriebene postmoderne Geste verweist. IV.2 Zuletzt soll noch einmal auf die Beschreibung eingegangen werden, näherhin auf jene skandalösen Eintragungen, die nichts bedeuten und von denen ein mo‐ derner Text voll sein müsste, will er, mit Roland Barthes gesprochen, seine Sig‐ nifikanten von ihren Signifikaten befreien. Dass eine solche entleerende Geste den Text im Griff hat, sollte sich bereits abgezeichnet haben, konkret anhand des Hamlet-Verweises, sowie am Ende, anhand des Scheiterns der Sprache vor einer letztgültigen Gewissheit und darüber hinaus anhand der paradoxen Ver‐ schränktheit und Verhäkelung der beiden Künstlerrivalen sowie dem ständigen Schwanken der Frau zwischen Wahnsinn und Genie, Leben und Tod, Jugend und Alter. Sucht man in "Un sueño realizado" aber nach weiteren Flaubert'schen Baro‐ metern, dann zeigt sich, dass schon die gleichnamige, hypodiegetische Insze‐ nierung für sich genommen ein solches Barometer ist. Denn erstens ist die Szene nicht narrativ, sondern rein deskriptiv und zweitens hat sie keine konnotative 198 David Klein 36 Cf. Roland Barthes: "Der Wirklichkeitseffekt", p. 166. 37 Zum Begriff des foregrounding cf. Jan Mukařovský, op. cit., sowie weiterführend Roman Jakobson, op. cit. Bedeutung im Sinne einer Handlung: "Es un momento", so erklärt es die Frau, "[…] y allí no pasa nada […]. [N]o es cuestion de argumento" (SRe 49). Den thematischen Kern der Kurzerzählung bildet also bereits eine solche skandalöse Notierung, die, wie Barthes sagt, durch keine Finalität des Handelns oder Kom‐ munizieren begründet ist. 36 Parallel dazu, und dies ist der letzte Punkt, der hier diskutiert werden soll, kommt es auf der Vermittlungsebene zu einer Paradigmatisierung der desc‐ riptio. So bereits im ersten Absatz, wo es um Blanes und den Hamlet Witz geht: La broma la había inventado Blanes; venía a mi despacho -en los tiempos en que yo tenía despacho, y al café, cuando las cosas iban mal y había dejado de tenerlo- y, parado sobre la alfombra, con un puño apoyado en el escritorio, la corbata de lindos colores sujeta a la camisa con un broche de oro y aquella cabeza -cuadrada, afeitada, con ojos oscuros que no podían sostener la atención más de un minuto y se aflojaban en seguida como si Blanes estuviera a punto de dormirse o recordara algún momento limpio y sentimental de su vida que, desde luego, nunca había podido tener-, aquella cabeza sin una sola partícula superflua, alzada contra la pared cubierta de retratos y carteles, me dejaba hablar y comentaba redondeando la boca […]. (SRe 44) Die ständigen Parenthesen und Relativsätze sollen zum einen den starken vi‐ suellen Eindruck der descriptio personae verdichten, zugleich aber verdichtet sich der Eindruck, dass hier eine Person beschrieben wird, anders formuliert: dass hier Sprache am Werk ist. Ein weiteres Beispiel in dieser Richtung ist gewiss die Beschreibung der Frau, die sich immerhin über zwei Seiten zieht und auf gleiche Weise konstruiert ist. Auch hier, so zumindest die Überlegung, geht es um mehr als nur den beschriebenen Gegenstand, sondern um ein foregrounding  37 der Technik der Beschreibung. Dass sich diese von ihren Signifikaten löst, um als Beschreibung im Raum stehen zu bleiben, sich also nicht mehr auf eine wie auch immer geartete Wirklichkeit bezieht, wird auch anhand der folgenden Passage deutlich, in der Langman den betrunkenen Blanes besucht: [S]e negó [Blanes] a escucharme antes y, todavía entonces, cuando arrimé aquellos restos de sillón de tocador en que estaba sentado y me incliné con aire grave para hacerle la propuesta, me detuvo diciendo: -¡Pero mire un poco ese techo! Era un techo de tejas, con dos o tres vigas verdosas y unas hojas de caña de la India que venían de no sé dónde, largas y resecas. Miré el techo un poco y no hizo más que reírse y mover la cabeza. -Bueno. Déle -dijo desqués. (SRe 50 sq.) 199 (D)escribir la Modernidad 38 Cf. Rainer Warning: "Poetische Konterdiskursivität - Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault", p. 344. Gewiss: Eine solche narrative Pause ist der Charakterzeichnung dienlich. Sie dient darüber hinaus der Intensivierung von Klarheit und Wahrscheinlichkeit. Blanes ist arm und ein Spinner. Zugleich aber führt sie auf sehr pointierte Weise ein bedeutungsloses Element in die Erzählung ein, das zur Handlung nichts bei‐ trägt, sondern stattdessen (womöglich) die Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass hier Sprache am Werk ist, und diese Sprache semantisch immer auch leer ist. Dies umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Bezeichnung 'caña de la India' zwar angibt, woher das Nomen caña stammt, der Relativsatz die Kenntnis über diese Provenienz aber sogleich annulliert. Die auffällige paronomastische Struktur der Passage soll hier ebenfalls erwähnt sein: techo de tejas, tres vigas verdosas, caña de la India. Mit einem Diktum von Rainer Warning könnte man sagen: Der Text will gehört werden. 38 Und man könnte hinzufügen, dass ein solcher Text zeigt, dass er ein Text ist und dass er sich durchaus modern gibt, indem er ist und nicht ist, wovon er spricht. 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Zima, Peter: Moderne - Postmoderne - Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen / Basel: Francke 2001. 201 (D)escribir la Modernidad 1 Josefina Ludmer zufolge sind es Onetti und Rulfo, die mit ihren Phantomstädten Comala und Santa María die 'territoriale Imagination' des Kontinents geprägt haben: "En la historia de la imaginación territorial del siglo XX en América Latina Onetti está hoy con Rulfo y cada uno en su territorio; el de Rulfo es Comala, rural y oral, con un relato moderno roto y hecho sólo de voces y de fragmentos en el tiempo del infierno. El te‐ rritorio de Onetti es Santa María, urbano, escrito y manifiestamente inventado, con alguna marca policial." (Ead., op. cit., p. 11) Ludmers zitierter Prolog zur Neuausgabe ihrer Onetti-Studien kommentiert luzide den Prozess der Kanonisierung, den das Werk des uruguayischen Erzählers inzwischen passiert hat. (Cf. ibid., pp. 9-14) Transatlantische Fiktionen der Fiktion Topo-Graphie und Medienreflexion in einer späten Erzählung Onettis - Ein Lektüreversuch zu "Matías el telegrafista" Kurt Hahn (München) I. Gälte es einen ersten Lektüreeindruck festzuhalten, so ließe sich über Juan Carlos Onettis Werk schlichtweg sagen: Seine narrativen Fiktionen erweisen sich als sperrig, als äußerst sperrig; sie laden weder zu identifikatorischer Teil‐ habe noch zu sozial-, kultur- oder literaturgeschichtlicher Verschlagwortung ein, weil sie vordergründig brisanter Sujets ebenso entsagen wie thematisch dichter Ereignishaftigkeit oder anderer externer Referenzanreize. Und dennoch ziehen sie auf ihre Weise in den Bann, faszinieren oder irritieren gerade in ihrer Sprödheit und entfalten eine Sogwirkung, der sich sowohl begeisterte Lese‐ rinnen und Leser als auch professionelle Interpreten nicht entziehen können. Man möchte meinen, dass derlei durchschlagendes Wirkungspotential allein in der - man verzeihe das Oxymoron - fragmentarischen Konsistenz des erdachten und sukzessive erweiterten Universums von Santa María gründen könne, zumal die auf Virtualitäten gebaute Stadt mittlerweile meist synonymisch für das Œuvre des uruguayischen Autors steht. 1 Nichtsdestoweniger sucht dieser Bei‐ trag die Aufmerksamkeit umzulenken, sie zu komprimieren und auf einen punktuellen Fokus auszurichten, um dort jener Lust am Unbekannten nachzu‐ 2 Juan Carlos Onetti: "La literatura - ida y vuelta ", p. 915. 3 Die prekäre Unterscheidung zwischen cuento und novela corta fällt freilich von Mal zu Mal verschieden aus; siehe hierzu die (Text- und Kommentar-)Anthologie Juan Carlos Onetti: Novelas cortas, ed. Daniel Balderston; Gerhard Poppenbergs Nachwort in Juan Carlos Onetti: Gesammelte Werke Bd. IV, pp. 603-663 (u. a. zu La muerte y la niña) sowie Sonia Mattalia, op. cit., pp. 36 sqq. (zu El pozo). 4 Nicht umsonst sind es abermals "Un sueño realizado", "El infierno tan temido" und "La novia robada", die neben "El álbum" (1953) als Textbasis für die unlängst in Madrid (Teatro Real, 20. Februar 2017) uraufgeführte Onetti-Opern-Performance La ciudad de las mentiras von Elena Mendoza (Musik) und Matthias Rebstock (musikalische Unter‐ stützung, Libretto) dienen; cf. www.teatro-real.com/ es/ temporada-16-17/ opera/ / laciudad-de-las-mentiras [21.2.2017]. 5 Cf. Juan Carlos Onetti: "Matías el telegrafista", Macedonio 8 (1970), pp. 37-52. spüren, die Onetti kreativ kokettierend für sich in Anspruch nimmt: "Yo no tendría interés de escribir si supiera de antemano lo que va a pasar en mis obras". 2 Die Rede soll von der suggestiven Kurzprosa sein, die Onetti ebenfalls verfasst hat und die aufs Ganze betrachtet weiterhin im Schatten der großen enigmati‐ schen Romane steht. Gewiss, die wegweisende Faktur einzelner, in der Werk‐ chronologie größtenteils früher anzusiedelnder cuentos ist allseits anerkannt. Sieht man von den gattungstypologisch zwischen Novelle und Kurzroman changierenden Meisterwerken El pozo (1939) und La muerte y la niña (1973) ab, 3 so werden insbesondere "El posible Baldi" (1936), "Un sueño realizado" (1941), "Bienvenido, Bob" (1944) oder "El infierno tan temido" (1957) als modell‐ bildend gewürdigt, während einige durchkomponierte Erzählungen der mitt‐ leren Schaffensperiode, darunter Jacob y el otro (1961), "Tan triste como ella" (1963) oder "La novia robada" (1968), ebenfalls konstant Erwähnung finden. 4 Vergleichsweise selten kommt die Sprache hingegen auf Onettis zwischen 1970 und seinem Tod 1994 verfasste Kurzprosa, die zu reflexiver Kondensation und zu einer Art narrativer minimal art tendiert. Überdies zeichnet die späten cuentos ein Unterstrom des Ironischen aus, der den gängigen Sujet- und Figurenkon‐ stellationen im Zeichen existentieller Frustration keine gänzlich neue, wiewohl eine zusätzlich schillernde Färbung verleiht. So auch in jenem Text, dem sich diese Skizzenstriche einer Exegese nähern wollen: "Matías el telegrafista" lautet der Titel der erstmals 1970 in der argenti‐ nischen Zeitschrift Macedonio  5 erschienenen Erzählung, die gewiss nicht unter den berühmtesten ihresgleichen rangiert. Dessen ungeachtet eignet ihr in meh‐ rerlei Hinsicht ein programmatischer, mithin poetologischer Charakter, wie die folgenden Überlegungen zeigen möchten. Ins Zentrum rückt dabei zuallererst das Binom von Fiktionalität und Räumlichkeit oder, wie umgehend zu präzi‐ sieren ist, eine Fiktionalität höheren Grades sowie eine Räumlichkeit des Da‐ 204 Kurt Hahn 6 Diverse Aspekte von "Esbjerg, en la costa" beleuchten die Lektüren von Mark I. Mil‐ lington, op. cit., pp. 30-36; Fernando Rodríguez-Mansilla, op. cit., pp. 165-174 sowie Peter Turton, op. cit., pp. 75-87. 7 Als fictions of desire (op. cit.) rückt Mark I. Millington schon im Titel seiner Studie Onettis Kurzgeschichten in einen semantischen Gesamtzusammenhang ein. Zur "lógica del deseo" in Onettis Erzählen siehe auch Mattalia, op. cit., pp. 54 sqq. zwischen und des Intervalls. Konsequenterweise muss es auch darum gehen, woraus sich beides speist und worin sich beides entfaltet, um die Medialität also, die sich subtil und zuweilen perfide Onettis Erzählen einbeschreibt. Denn dieses - so könnte eine vorläufige Deutungshypothese für "Matías el telegrafista" lauten - verschiebt die Versuche (inter-)subjektiver Verständigung fortlaufend aus der Sphäre menschlicher Präsenz und zwischenmenschlicher Interaktion in ein Reich erster und sodann zweiter Fiktion, in dem nicht einmal mehr techni‐ sche Vorrichtungen das Gelingen von Vermittlung gewährleisten. Solcherart entsteht eine supplementäre Kaskade, die nicht selten verstörend die Ermög‐ lichungsbedingungen literarischer und allgemein sprachlicher Kommunikation zur Diskussion stellt. II. Dementsprechend setzt die Inszenierung medialer Transfers, der hiesige Auf‐ merksamkeit gilt, in "Matías el telegrafista" nicht erst mit der Materialität des fertigen Texts ein. Onettis Tele-Graphie greift darin bereits auf der rahmenprag‐ matischen Ebene der literarischen Produktion, gibt diese sich doch als Resultat eines Austauschs, eines Dialogs mit dem eigenen Schreiben zu erkennen. In werkimmanenter Interoder, je nach Terminologie, Intratextualität antwortet "Matías el telegrafista" nämlich auf die ca. 25 Jahre zuvor (1946) veröffentlichte und weitaus bekanntere Kurzgeschichte "Esbjerg, en la costa" 6 . Der Schwellenort der Küste, den Letztere schon im Titel führt, verweist sogleich auf den grund‐ legenden Parallelismus beider cuentos, in denen jeweils ein ganzes Meer des Begehrens 7 zwischen Hier und Dort, zwischen gegenwärtiger Tristesse und vermeintlichem Ideal klafft. Die geographische Ausrichtung des Begehrens ist allerdings jeweils eine andere. Denn während in "Esbjerg, en la costa" die Dänin Kirsten in einer Hafenstadt am Río de la Plata wehmütig den nach Europa ab‐ legenden Schiffen nachsieht, ohne sich eine Überfahrt in die jütländische Heimat Esbjerg leisten zu können - woran auch der dilettantische Betrugsversuch ihres Mannes Montes nichts ändert -, verkehrt sich in "Matías el telegrafista" der transatlantische Sehnsuchtsstrom. 205 Transatlantische Fiktionen der Fiktion 8 El viaje a la ficción - El mundo de Juan Carlos Onetti lautet der Titel der literarischen Onetti-Biographie, die Mario Vargas Llosa 2008 vorlegt und auf das anthropologische Bedürfnis der Imagination ausrichtet: "Pero acaso en ningún otro autor moderno [el tema de la ficción] aparezca con tanta fuerza y originalidad como en las novelas y los cuentos de Juan Carlos Onetti, una obra que, sin exagerar demasiado, podríamos decir está casi íntegramente concebida para mostrar la sutil y frondosa manera como, junto a la vida verdadera, los seres humanos hemos venido construyendo una vida paralela, de palabras e imágenes tan mentirosas como persuasivas, donde ir a refugiarnos para escapar de los desastres y limitaciones que a nuestra libertad y a nuestros sueños opone la vida tal como es." (Ibid., p. 32) In einer veritablen réécriture à l'inverse verläuft die Reise des unerfüllbaren Verlangens, die freilich eine 'Reise der oder zur Fiktion' 8 ist, jetzt hauptsächlich in südwestlicher Richtung, d. h. von Europa zurück zum Cono Sur. Wie in Onettis Parallelwelten üblich, findet sich der Süden des amerikanischen Kontinents aber in ein karges Imaginäres entrückt, wozu die mehrfache Evokation von "Santa María" (MTe 200/ 203/ 204/ 206/ 208/ 209/ 210/ 211) das Ihre beiträgt. In der Haupt‐ sache erzählt "Matías el telegrafista" von der Atlantiküberquerung eines Fracht‐ schiffes, das zunächst nordöstlich gerichtet in See sticht. Mit an Bord befindet sich der Funker Atilio Matías, der keineswegs freiwillig seinen nautischen Dienst verrichtet, nachdem er vom bequemen Posten als "telegrafista en la es‐ tación de ferrocarril de Pujato" (MTe 203) abkommandiert wurde. Der Ort Pujato, den Onettis Text ins norduruguayische "departamento de Salto" (MTe 200) ver‐ legt und der realgeographisch wohl das Städtchen gleichen Namens in der ar‐ gentinischen Provinz Santa Fé nahe Rosario aufruft, erweist sich ebenfalls als intertextuell aufgeladenes Toponym, da aus Pujato niemand anderer als Honorio Bustos Domecq, Jorge Luis Borgesʼ fiktives Alter Ego als Verfasser der detek‐ tivischen Seis problemas para don Isidro Parodi stammt. In "Matías el telegrafista" hingegen lernen wir einen notorischen Unglücksraben kennen, der in Pujato nicht nur seine sichere Anstellung, sondern nach eigener Auskunft auch sein - oder doch nur irgendein? - Mädchen namens María Pupo zurücklassen muss, um fortan auf dem "paquebote Anchorena" (MTe 200) zu kabeln. Als Kajütenge‐ nosse begegnet ihm dort der als Kohlentrimmer tätige Ich-Erzähler der Intra‐ diegese Jorge Michel. Widerwillig mit dem in seiner 'unreinen Verzweiflung' ("desesperación impura", MTe 205) schwelgenden Matías zusammengespannt, lässt Michel sich auf Station in Hamburg von den Versuchungen Sankt Paulis abbringen, um dem Funker bei der Versendung von Glückwünschen zu María Pupos Geburtstag beizustehen. Mehr noch: Nachdem beide im behördlichen Umgang mit dem Telegramm eine Machenschaft vermuten, erbringt ihre Be‐ schwerde, dass der erste transatlantische Anruf überhaupt durchgeführt wird. Die in Pujato eilig herbeigeholte María weiß indes weder das kommunikations‐ 206 Kurt Hahn 9 Jürgen Dormagen übersetzt María Pupos Schmähung treffend drastisch mit 'Fick dich ins Knie, du Scheißkerl'; cf. Juan Carlos Onetti: Willkommen Bob - Gesammelte Erzäh‐ lungen, p. 295. 10 Mark I. Millington, op. cit., p. 197. 11 Zur gängigen Typologie der mises en abyme cf. Lucien Dällenbach, op. cit., pp. 60 sqq./ 100. technische Wunderwerk noch irgendwelche fremden Stimmen aus dem fernen Deutschland zu schätzen. Die Gratulation ihres Matías, die Jorge Michel mehr oder minder liebenswürdig übermittelt, nimmt sie gänzlich ungerührt entgegen und erwidert unmissverständlich, indem sie den Hörer auf die Gabel knallt (MTe 212): "Por qué no te vas a joder a tu madrina, guacho de mierda." Mit der impulsiven Artikulation des Desinteresses 9 ist die Verbindung ge‐ kappt, Matías auf immer zum Spleen verurteilt und die Erzählung beendet, wenngleich sie sich in der abstrusen Schlussvolte auf eine vielfältige Deutbarkeit öffnet. Streng genommen begleitet die hermeneutische Offenheit "Matías el te‐ legrafista" von vornherein, mag man sie und den damit gesponnenen Seemanns‐ garn in der schlichten Fabel zwischenzeitlich auch vergessen. Denn genauso wie María Pupos barsche Reaktion am Telefon zahlreiche Lesarten erlaubt, die von einer bloß eingebildeten Liebe des Funkers über eine medienunerfahrene Fehl‐ annahme seitens Marías bis zur Alkoholhalluzination des Kohlenschauflers rei‐ chen, steht schon der Auftakt des cuento unter dem Vorbehalt einer brüchigen Weltmodellierung. Konkreter ausgedrückt: "Matías el telegrafista" repliziert auch insofern auf "Esbjerg, en la costa", als beide Erzählungen neben der ver‐ wandten Raumsemantik zugleich eine "heavy mediation" eint, wie Mark I. Mil‐ lington prägnant kommentiert. 10 Während so "Esbjerg, en la costa" das Schicksal der Dänin Kirsten und ihres Mannes Montes - der Wettgewinne für die von ihr erhoffte Heimkehr unterschlägt - aus der zynischen Retrospektive von Montes’ gelinktem Vorgesetzten wiedergibt, gestaltet sich die narrative Mediation in "Matías el telegrafista" nochmals heikler, nochmals unzuverlässiger. Sogleich im ersten, hypotaktisch gewundenen Satz des Texts bemächtigt sich Onettis unverwechselbare Abgründigkeit der Figuren und ihrer Handlungen, der räumlichen und zeitlichen Koordinaten, der Realität(en) sowie ihrer Ab-, Nach- oder Zerrbilder. Gleich einer elementaren mise en abyme de l'énoncia‐ tion  11 vervielfacht das Incipit die diegetischen Dimensionen, indem hier eine Stimme aus dem Nichts, die sich gleichwohl Ich nennt, ein anderes Äußerungs‐ subjekt einführt, das seinerseits in perfekter Manier "la historia" (MTe 200) einem zufällig in den Zeugenstand gerufenen Publikum kundtut. Dass diese Konstruktion allerdings auf den tönernen Füßen des Hypothetischen steht, sig‐ nalisieren zum einen entsprechend modalisierende Lexeme und Verbalformen. 207 Transatlantische Fiktionen der Fiktion 12 Ein eher approximatives Namensgedächtnis verwischt in "Matías el telegrafista" gene‐ rell feste Wirklichkeitsreferenzen, so dass kleine (orthografische) Abweichungen be‐ sagtes ironisches Augenzwinkern andeuten: Während derart der "paquebote Ancho‐ rena" (MTe 200), auf dem sich der Funker und der Binnenerzähler kennenlernen, den Namen einer am Río de la Plata einflussreichen Familie trägt, verfremdet der "gobierno de Iriarte Borda" (ibid.), unter dem sich das Geschehen zutragen soll, um nur einen Buchstaben den Namen des uruguayischen Präsidenten Juan Idiarte Borda y Soumastre, der zwischen 1894 und 1897 regiert, bis er einem Attentat zum Opfer fällt. Zum anderen wird bis zuletzt ungeklärt bleiben, wer eigentlich als äußerste extradiegetische Instanz der Narration zeichnet. Immerhin stellt sich uns der hochgelobte Erzähler zweiter Ordnung vor, und dies sogar mit einem Personal‐ ausweis, der eine Reihe weiterer Eigennamen heraufbeschwört, wie im Kontext der ersten Syntagmen zu lesen ist: Cuando en casa de María Rosa, Jorge Michel contó una vez más, ante varios testigos, la historia o sucedido a Atilio Matías y María Pupo, sospeché que el narrador había llegado a un punto de perfección admirable, amenazado sin dudas por la declinación y la podre en previsibles, futuras reiteraciones. Por eso, sin propósito mayor, intento transcribir ahora mismo la versión referida para preservarla del tiempo; de sobremesas futuras. Lo sucedido, que no es relato ni roza la literatura, es, más o menos, esto: Para mí, ya lo saben, los hechos desnudos no significan nada. Lo que importa es lo que contienen o lo que cargan; y después averiguar qué hay detrás de esto y detrás, hasta el fondo definitivo que no tocaremos nunca. Si algún historiador atendiera el viaje del telegrafista quedaría satisfecho consignando que durante el Gobierno de Iriarte Borda, el paquebote Anchorena partió del puerto de Santa María con un cargamento de trigo y lana destinado a países del este de Europa. No mentiría; pero la mejor verdad está en lo que cuento, aunque, tantas veces, mi relato haya sido desdeñado por anacronismos supuestos. (MTe 200, Hervorh. i. Orig.) Es kommt wenig darauf an, ob mit Jorge Michel ein Double von Onettis gleich‐ namigem Bildhauerfreund die Szene betritt oder ob die Gastgeberin María Rosa an die argentinische Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Mitbegründerin der legendären Zeitschrift Sur María Rosa Oliver gemahnt, der Onetti seinen Kurz‐ roman La muerte y la niña (1973) widmet. 12 Die biographi(sti)schen Spekulati‐ onen, so nahe sie liegen, führen nicht weit und verstellen eher den Blick auf die narrative Urszene, die sich zu Beginn des Texts entfaltet und unverzüglich eine Dynamik der Mutmaßungen, Relativierungen und Zurücknahmen in Gang setzt. Angenommen und sodann in Zweifel gezogen oder mit negativen Vorzeichen versehen wird demnach erstens der Umstand, dass Jorge Michels Erzählkunst im Haus einer gewissen María Rosa ihren Höhepunkt erreicht; zweitens die 208 Kurt Hahn 13 Cf. Julio Cortázar, op. cit. Das Forschungsrubrum der 'Medienphantastik' theoretisiert eingehend David Klein, op. cit., pp. 144 sqq. 14 Wolfgang Isers breit rezipierter Terminus impliziert, dass der "Akt des Fingierens […] die Wiederkehr lebensweltlicher Realität im Text bewirkt und gerade in solcher Wie‐ derholung das Imaginäre in eine Gestalt zieht, wodurch sich die wiederkehrende Rea‐ lität zum Zeichen und das Imaginäre zur Vorstellbarkeit des dadurch Bezeichneten auf‐ heben." (Id., op. cit., p. 20) 15 Hugo J. Verani, op. cit., pp. 43 sq. Halbwertszeit der noch unbekannten Geschichte über Atilio Matías, die künf‐ tiger Aufwärmung ("futuras reiteraciones", MTe 200) eventuell nicht standhält; drittens der Verdacht, dass der verschriftenswerte "relato" (ibid.) irgendetwas mit "literatura" (ibid.) gemein hätte; viertens aber auch, dass solche Nicht-Lite‐ ratur als simple historiographische Chronik das Interesse von Rezipienten we‐ cken könnte, weshalb fünftens der Binnenerzähler Jorge Michel emphatisch von einem letzten Sinnhorizont schwärmt, den die tatsachengetreue Rekapitulation einer Schiffspassage unter Iriarte Bordas Regierung niemals erreichen könne. Die Serie konjunktivischer Wendungen oder Lexeme, die das Spektrum vom Potentialis bis zum Dubitativ abdecken, mündet in den Befund, dass die novel‐ leske Ereignishaftigkeit a priori hinter den aufgefächerten Darstellungsprozess ("lo que cuento", MTe 200) zurücktritt. Noch ehe irgendetwas passiert ist, steht - ähnlich wie etwa in Julio Cortázars prominentem "medienphantastischem" cuento "Las babas del diablo" 13 - auch in "Matías el telegrafista" die strukturelle Matrix erzählender Literatur in Rede. Ob ausdrücklich intendiert oder nicht, wird sie durchsichtig auf die "Akte des Fingierens" 14 , die darin statthaben, und avanciert somit zur sich selbst und die Fiktion überhaupt befragenden Metafik‐ tion. Denn obgleich Jorge Michel lauthals tönt, dass "los hechos desnudos" (MTe 200) allein wenig zu bedeuten hätten, zeiht die ihm übergeordnete Aussage‐ instanz genau die Zutat zu den 'nackten Tatsachen'‚ die wohl nichts anderes als literarische Auskleidung wäre, ebenfalls als nichtig. Was nun? - ist man geneigt zu fragen; weder einfache Faktenhuberei noch literarisch verfasste Vorstellung? Und weiterhin: Wer hat hier das Sagen und wem können wir Glauben schenken, um die Vorgänge und Gesetzmäßigkeiten, die in der intrawie metadiegetischen Welt vonstattengehen und gelten, schlüssig nachzuvollziehen? III. All das verdunkelt Onettis virtuoser "arte de elipsis", den Hugo J. Verani nicht umsonst auch als "poética de ocultación" 15 bezeichnet und der das Geschehen in "Matías el telegrafista" durchweg in ein Licht, nein besser: Zwielicht des Ver‐ schwommenen taucht. In erster Linie bedingt derlei Vagheit die Inkohärenz der 209 Transatlantische Fiktionen der Fiktion 16 Mario Vargas Llosa, op. cit., p. 59. Narration, die in fragmentarische Situationen und Episoden, in für sich stehende Deskriptionen und Reflexionen zerfällt, statt kausale und temporale Zusam‐ menhänge herzustellen. Den Eindruck nahezu onirischer Assoziation, den Onettis Texte kreieren, bringt Marío Vargas Llosa für den Kosmos von Santa María auf folgenden Nenner: [C]omo ocurre en el sueño, los episodios no están encadenados, no se suceden dentro de cierta lógica en un tiempo progresivo. En Santa María sólo hay estampas, episodios, ocurrencias que se yuxtaponen pero no se implican unas en otras como periodos de un transcurrir. La incoherencia que los caracteriza obedece a su sustancia irreal, a su naturaleza onírica, semejante a la sucesión de imágenes que desfilan por nuestra men‐ te cuando divagamos o nos abandonamos al ensueño. 16 Kaum anders verhält es sich in "Matías, el telegrafista", wo Jorge Michel noch so sehr die 'Wahrheit' ("verdad") seines 'Berichts' ("relato", MTe 200) akzentu‐ ieren mag. Umgehend muss er auch die "anacronismos" (ibid.) seiner Schilde‐ rung einbekennen, was sie zwangsläufig in ein unwahrscheinliches Schillern hüllt. Obschon er dabei war, kann Michel daher die Dauer der Schiffsreise le‐ diglich vermuten ("[e]l viaje habrá durado unos noventa días", ibid.) und hat aus nachwirkendem Groll ("por un odio supersticioso", ibid.) zunächst gar den Namen seines Kajütengefährten vergessen. Im Übrigen will er aber die gesamte Mannschaft der "Anchorena" (ibid.) namentlich erinnern und besonders lebhaft noch die nie gesehene María Pupo vergegenwärtigen. "Lo bautizo Aguilera en esta página para contar cómodo" (ibid.), heißt es unter dem Vorwand reibungs‐ loser Textprogression entsprechend rätselhaft über den Protagonisten. Wie je‐ doch von 'dieser Seite' und dem beliebigen Aguilera bereits wenige Sätze darauf - neuerlich, denn wir kennen ihn seit der anfänglichen Erläuterung des Rah‐ menerzählers ("la historia o sucedido a Atilio Matías y María Pupo", MTe 201) - der titelgebende, nunmehr scheinbar unstrittige "Matías, el telegrafista" (ibid.) wird, bleibt ungewiss. Der Name kehrt ebenso übergangslos wieder, wie sich im Verlauf des cuento die Begebenheiten auf See und in Hamburg, das stete Lamento des Funkers sowie die eingeschobenen Kommentare Jorge Michels ohne klar erkennbare Korrelationen aneinanderreihen. In derselben Kabine untergebracht, sind beide Männer jedenfalls auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden, was Matías noch vor der ersten Schicht nutzt, um dem Kameraden bei einer Flasche Rum seine Leidensgeschichte auf‐ zutischen. Angefangen vom verheißungsvollen Posten am Bahnhof in Pujato über die Absicht - oder nur den Wunschtraum? - einer Eheschließung mit María 210 Kurt Hahn Pupo bis zum alsbald erfolgten Befehl, "[con que] me mandan a radiotelegrafiar un barco" (MTe 203), beharrt Matías auf der Unausweichlichkeit seines Fatums und verstrickt seinen Zuhörer ohne dessen Zutun in die "fantástica desdicha empeñada en su ruina" (MTe 202). Auch wenn er ihn auf der Überfahrt kaum zu Gesicht bekommt, findet sich Jorge Michel in einer Schicksalsgemeinschaft mit dem Pechvogel wieder, worüber er retrospektiv als rhetorisch versierter Er‐ zähler selbst reichlich deterministisch urteilt: Porque yo, sin otra culpa que la de vivir en el camarote que me habían impuesto, era para ellos [sc. los otros miembros de la tripulación] el amigo de Matías el telegrafista, el socio del fracaso, la sombra de la mala suerte. Y de nada me servía burlarme de Matías frente a ellos y el mismo Matías. La enfer‐ medad, el destino enemigo del hombre de Pujato se me habían contagiado -ellos lo creían o sospechaban- y era prudente imponerme el cordón sanitario, la cuarentena. De modo que injustamente tuve que sentirme emparentado con Atilio Matías y na‐ vegar a su lado en un mar de hostilidad y persecuciones. Él, Matías el telegrafista, desde su principio hasta su fin; yo, durante un viaje de tres meses. (MTe 204) Je weiter sich das Schiff von der lateinamerikanischen Küste entfernt, desto offenkundiger wird, dass der Atlantik neben der geographischen zugleich eine emotionale Kluft schafft und ein ganzes "mar de hostilidad y persecuciones" (MTe 204) ausbreitet. Als Erzählung im Raum kennzeichnet "Matías el telegra‐ fista" durchgehend eine Topo-Graphie der Distanz, die allerorten separiert und isoliert, die unablässig Entzweiung und Vereinzelung stiftet. Das trennende Mo‐ ment dominiert mithin zunächst die Relation der Figuren, so dass der Funker und sein Kompagnon von der übrigen Besatzung wörtlich in "cuarentena" (MTe 204) genommen und abgesondert werden, ohne sich deshalb untereinander nä‐ herzukommen. Unerwünschte Distanz und Fremdheit produziert weiterhin die globale Mobilität, die gemeinhin das Seemannsdasein ausmacht. Anders bei Matías, der einsilbig über die 'so fernen' und 'eiskalten' ("Nos mandan al frío, un frío de muerte", MTe 205) Destinationen klagt, die ihn aus der Heimat weg‐ führen: "Alemania, Finlandia, Rusia, tantos nombres que tuve que aprender creyendo siempre que nada tenían que ver conmigo, ni en la escuela ni después." (MTe 203) Ein stetig wachsender Abstand schiebt sich überdies zwischen die diegetischen Ebenen und die Narration, die diese erst hervorbringt und die sich in der widerstreitenden Regie zweier Äußerungsinstanzen und dem willkürlich anmutenden Reigen der Szenen, Beschreibungen, Dialoge und Gedankenfetzen zu verselbstständigen droht. Dafür verantwortlich zeichnet nicht zuletzt das undurchsichtige Verhältnis ebenjener zwei Erzählstimmen, die keinerlei expli‐ zite Hierarchisierung, keinerlei onto-, chrono- oder kausallogische Vor- oder 211 Transatlantische Fiktionen der Fiktion 17 Siehe zum emblematischen Terminus der postcolonial studies die bekannten Ausfüh‐ rungen bei Homi Bhabha, op. cit., pp. 175 sqq. Nachrangigkeit in Beziehung setzt. Und dennoch geht es - wie noch eingeh‐ ender zu problematisieren ist - an Bord und auf der Fahrt des "paquebote An‐ chorena" (MTe 200) unentwegt um Vermittlung, um ein permanentes inbetween  17 zwischen Hier und Dort, zwischen Lateinamerika und Europa, zwi‐ schen der seit je erfolgten Abfahrt und der nie definitiven Ankunft, zwischen Präsenz und Absenz. Im transatlantischen Niemandsland nivelliert "Matías el telegrafista" schließlich sogar die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion sowie zwischen der Fiktion und den Fiktionen der Fiktion, die Onetti einmal mehr als Differenzaxiom ad absurdum führt. IV. Doch das gleichermaßen illusionsstiftende wie illusionsdurchbrechende Vexier‐ spiel des Als-Ob, welches das kundige Onetti-Publikum ohnehin erwartet, geht in diesem Fall mit der bangen Frage einher, wie angesichts einer beliebig mani‐ pulierbaren Realität überhaupt noch intersubjektiver Kontakt auf Basis semio‐ tischer Systeme und/ oder technischer Apparaturen gelingen kann. "Matías el telegrafista" wird dadurch geradezu als Parabel über die prekären Bedingungen von Kommunikation lesbar; als groteske Parabel freilich, weil die dubiose Ge‐ stalt des Protagonisten mit seiner "nariz larga, los ojos sin sosiego, una boca fina y torcida de ladrón" (MTe 202), mit bleichem Teint (cf. ibid.) und der alles um‐ florenden Aura aus "la tristeza, la desgracia, la mala suerte" (ibid.) nicht nur einen onettianischen Misanthropen par excellence inkarniert. Wie viele seiner Artgenossen entpuppt sich der finstere Sonderling obendrein als pathologischer Betrüger, als "adicto a la mentira" (ibid.), wie es zu Beginn des cuento proleptisch anspielungsreich heißt und wie dessen bizarrer Ausgang zumindest insofern erhellt, als er den Plot als potentielles Hirngespinst eines einsamen Kauzes ent‐ larvt. Nicht zu übersehen ist im Gegenzug, welch symbolträchtiger und dem ersten Anschein nach vielversprechender Beschäftigung der apathische Anti-Held nachgeht. Als Funker, der den Morsecode internalisiert hat - "yo oía en morse y movía los dedos en morse" (MTe 203), behauptet er von sich selbst -, besäße Matías doch beste Voraussetzungen, um mit jedermann und jederfrau sowie an erster Stelle mit seiner Liebsten in Verbindung zu treten. Indes, existiert diese Liebste bzw. diese Liebe überhaupt? Im Wissen um María Pupos finale Abfuhr sind diesbezügliche Zweifel überaus berechtigt. Und was vermag die vollendetste Beherrschung des Morsecodes oder, weiter gefasst, eine noch so 212 Kurt Hahn 18 Cf. Erdmann Thiele, op. cit. ausgereifte Medienkompetenz, wenn Sender und Empfänger der Mittelung per se in anderen Sphären, nicht allein dies- und jenseits des Atlantiks, dies- und jenseits territorialer oder kultureller Grenzen, sondern in verschiedenen Wirk‐ lichkeiten - erfundenen Wirklichkeiten selbstverständlich - leben? Als beruflich ausgewiesener Kommunikationsprofi verkörpert ausgerechnet der chronisch resignierte Funker die Insuffizienz, ja die fortwährende Defizienz von technisch gestützter Kommunikation. Ob gezielt angelegt oder nicht, "Ma‐ tías el telegrafista" semantisiert auf diese Weise eine Art Medienskeptizismus, der im heutigen Dauerrauschen der Kanäle erstaunlich aktuell wirkt. Oder han‐ delt es sich um eine allzu forcierte Lesart, die Onettis widerspiegelungsresis‐ tentem Erzählen Gewalt antut? Dass es in "Matías el telegrafista" tatsächlich um die Aporien des Medialen geht, belegt nachhaltig die zweite Handlungssequenz samt dem korrespondierenden Schauplatz. Denn mit dem Landgang in Hamburg wird die ironische Schlagseite des Texts merklich beißender, wobei sie es vor‐ wiegend auf die Akteure und Institutionen des hochgepriesenen Informations‐ wesens abgesehen hat. Just im Augenblick, als Jorge Michel dem Vergessen im Alkohol- und Geschlechtsrausch auf der Reeperbahn zustrebt, interveniert wie‐ derum Matías und bittet ihn um den erwähnten Gefallen: "[P]uedo jurar o pro‐ meter que Sanpauli me llamaba. Pero no; su desdicha, la de Matías el telegrafista, fue más poderosa que mi hambre de humo […]." (MTe 206) Trotz des Lockrufs der Vergnügungsmeile fügt sich der stereotyp zügellose Matrose dem Ansinnen des schwermütigen Kameraden und begibt sich mit ihm "hacia Correos y Telé‐ grafos, a cada paso más lejos de Sanpauli" (ibid.). Bei der Versendung des Ge‐ burtstagstelegramms soll der leidlich Englisch sprechende Jorge Michel als Dol‐ metscher fungieren, wofür Atilio Matías und er den Repräsentationsbau der hanseatischen - faktengeschichtlich 1903 gegründeten 18 - "T.T. Telefunken" (MTe 210) aufsuchen. Die Kontaktaufnahme der beiden Lateinamerikaner mit der personifizierten deutschen Nachrichtenbehörde lohnt in jeder Hinsicht zi‐ tiert zu werden, zumal die vordergründig germanophobe Tirade eindrücklich Onettis zynische Groteske exemplifiziert: Consideremos, entonces, que la fraulein del mostrador de Telégrafos había nacido allí, cuarenta o cincuenta años atrás, y que los anteojos, las arrugas, la boca en media luna blanca y amarga, la mismísima voz de macho pederasta eran, como su alma, un pro‐ ducto de suelo miserable, de amor absurdo por el trabajo y la eficiencia, de una fe indestructible acrecida por el misterio que prometían y vedaban las letras T.T. (MTe 206, Hervorh. i. Orig.) 213 Transatlantische Fiktionen der Fiktion Es ist wahrlich kein Fräuleinwunder, das in dieser Amtsstube Dienst tut, son‐ dern ein Ausbund bürokratischer déformation professionnelle. Physisch ent‐ weiblicht und psychisch abgestumpft, scheint die angetroffene Schalterbe‐ amtin einer absurden Arbeitsethik hörig, von der die freiheitsliebenden Seeleute natürlich nichts halten können. Entsprechend missmutig nimmt das puritanische Mannsweib für eine saftige Gebühr die zu übermittelnde Bot‐ schaft entgegen, die nach zweifacher Übersetzung, "desde el dialecto puja‐ tense, atravesando mi inglés de marinero, hasta el alemán perfecto de la fraulein" (MTe 206), arg entstellt sein dürfte. So harmlos jedoch die Glück‐ wünsche ("María Pupo. Pujato. Santa María. Felicidades te desea Matías", ibid.) klingen, so wahnwitzig muten die Spekulationen an, die sie hervor‐ rufen und die vom trübsinnigen Matías in quijotesker Infektiosität allmäh‐ lich auf seinen Begleiter überspringen. Anhand graphologischer Parapsy‐ chologie, welche die Bösartigkeit ihres Gegenübers beweisen soll, und nach umfassendem Konsum von Hochprozentigem sowie "delicatessen" (MTe 207) aus dem Meer wittern beide im Telegramm - warum auch immer - einen hinterhältigen Schwindel. Jorge Michel weiß sich dabei Matíasʼ "locura des‐ lumbrante" (MTe 208), die er zunehmend whiskeytrunken auch als "inteli‐ gencia sutil" (MTe 207) auslegt, nicht mehr anders zu erwehren als mit der Aufforderung, gleichsam aus Rache zum 'T.T.'-Institut zurückzukehren und das vermeintlich Unmögliche, sprich eine Telefonverbindung mit Pujato und María Pupo zu verlangen. Zwischen Hoffnung und Ungläubigkeit schwankend, heißt der Funker den Vorschlag gerade noch gut, ehe seine Aktionsbereitschaft jäh schwindet und er trotz emotionaler und beruflicher Involviertheit in völlige Lethargie ver‐ fällt. Umso nachdrücklicher und überzeugender engagiert sich nun das erle‐ bende Ich, vorausgesetzt wir können seinen wortreichen Erinnerungen trauen. Salopp formuliert, schwatzt sich Jorge Michel die Belegschaftsleiter der Telefunken-Zentrale empor, um ein regelrechtes Medienspektakel zu veranlassen. Schließlich erscheint ein dickleibiger Kader, der als ehemaliger Fußballgott der Universität Greifswald (cf. MTe 209) ridikülisiert wird, und zelebriert mit großem Brimborium die Inbetriebnahme der "nueva línea de comunicaciones entre Europa y Sudamérica" (MTe 210). Die Einweihung der jüngst implementierten "ligazón telefónica con América del Sur" (ibid.) be‐ schreibt der sonst konzise Text als fulminantes Schauspiel, das sich am Ende 214 Kurt Hahn 19 Mediengeschichtlich datiert, könnte diese Innovation allenfalls Anfang des 20. Jahr‐ hunderts statthaben, da zwar seit den 1870er Jahren ein submarines Telegraphen‐ kabel Südamerika und Europa verbindet, Telefonie zwischen den Kontinenten aber erst deutlich später möglich wird. Sucht man die historische Mimesis krampfhaft aufrechtzuerhalten, spräche dagegen allerdings die besagte Regierungszeit des uru‐ guayischen Präsidenten Idiarte Borda (1894-97), dessen Namen Onettis Erzählung - wie gesehen - ebenfalls verfremdet ("durante el Gobierno de Iriarte Borda", MTe 200). 20 Cf. Ludmer, op. cit., p. 184: "Los relatos concluyen con la muerte o la desaparición, huida o partida del elemento transgresivo que arribó, abriendo la narración. La in‐ vestigación fracasa o logra con un resultado ambiguo; no se asimila con la investi‐ gación policial, el no saber final difiere, sin embargo, de la ignorancia que inauguró el relato. Se trata de otra cosa, de saber otra cosa, de otro saber […]." In "Matías el telegrafista" verlagert sich die "llegada de lo insólito", die Ludmer als übliche Er‐ öffnung in Onettis Narrativen veranschlagt, jedoch gänzlich auf die schillernde Schlusspointe (Cf. ibid., pp. 178 sqq.). 21 Cf. Marshall McLuhan: Understanding Media - The Extensions of Man, pp. 7 sqq., sowie die nuancierte Aufnahme der bekannten Wendung in den Titel von Marshall McLuhan / Quentin Fiore: The Medium is the Massage - An Inventory of Effects. allerdings selbst als ergebnislose Posse dekuvriert. 19 Wie Josefina Ludmers Strukturschema vorsieht, mündet Onettis relato auch hier in einen fracaso, in ein reichlich ambivalentes Scheitern, das in "Matías el telegrafista" zudem komische Nuancen freisetzt. 20 Davor bewahrt nicht einmal der hochflie‐ gende Fortschrittsglaube, mit dem der innovative Ur-Anruf von Hamburg nach Pujato flankiert wird: Y entonces hasta el mismo Matías tuvo que alzar los ojos y apreciar el milagro que se iba extendiendo en la pared que era un planisferio. Vimos encenderse, allí mismo, en Hamburgo, la diminuta lámpara enrojecida; vimos otra que iluminaba Colonia; vimos sucesivamente, a veces con parpadeos, otras nuevas con una segura velocidad inve‐ rosímil; París, Burdeos, Alicante, Argel, Canarias, Dakar, Pernambuco, Bahía, Río, Bu‐ enos Aires, Santa María. Un tropiezo, un vaivén, la voz de otra señorita: "No se retire, llamando a Pujato, tres uno cuatro". Y por fin: Villanueva Hermanos, Pujato. (MTe 211) Die hell erleuchtete Sternkarte, die vom Siegeszug des weltweiten Datenaus‐ tauschs künden soll, entlockt selbst Matías noch einen kurzen Augenschlag, bevor er als eigentlicher Sender der ausgesandten Nachricht mit teilnahmsloser "expresión de ausencia" (MTe 210) dem Debakel seiner Enttarnung als Schar‐ latan beiwohnt. Die bahnbrechende Konnexion der Kontinente zeitigt mit‐ nichten eine bahn- oder bannbrechende Wirkung, die der verinnerlichten (Selbst-)Verdammung des Funkers beikommen könnte. "The medium is the message" 21 - ließe sich dazu augenzwinkernd und dennoch treffend mit Marshall 215 Transatlantische Fiktionen der Fiktion McLuhans berühmter Losung anmerken. Das medientechnische Dispositiv glo‐ baler Telefonie bleibt in der Tat als einzige Botschaft eines Verständigungsver‐ suchs übrig, der informativ und affektiv komplett fehlschlägt und zur Hohlform verkommt. Die derbe Beschimpfung ("-Por qué no te vas a joder a tu madrina, guacho de mierda", MTe 212) der angeblichen Geliebten am anderen Ende der transat‐ lantischen Leitung ist als Pointe nicht auf eine alleingültige Bedeutungsdimen‐ sion zu reduzieren. Solange man die Interaktion oder, richtiger wohl, die Isola‐ tion der Figuren fokussiert, verzichtet "Matías el telegrafista" auf jedwede hermeneutische Kanalisierung. Position bezieht die Erzählung hingegen als Me‐ dienreflexion, deren kritische oder immerhin argwöhnische Tendenz zuletzt umso augenfälliger wird. So gehen buchstäblich alle Lichter aus, als María Pupo empört eine Kommunikation im vollen Wortsinn verweigert: Colgó el teléfono rabiosa y las lamparitas rojas se fueron apagando velozmente, en orden inverso al anterior, hasta que la pared planisferio volvió a incrustarse en las sombras y tres continentes confirmaron en silencio que Atilio Matías tenía razón. (MTe 212) Während das Feuerwerk der Informationsübertragung genauso schnell ver‐ lischt, wie es entzündet ward - kaum spielt eine Akteurin nicht mit -, erhält ein anderer volle Genugtuung. Bestätigt in seinem Untergangsbewusstsein und er‐ haben über die Flüchtigkeit transkontinentaler Ferngespräche, 'behält Matías Recht' ("[…] Atilio Matías tenía razón", ibid.). Der stoische Defätismus, der das Wesen des sibyllinischen Protagonisten charakterisiert, obsiegt, selbst nachdem seine lebensbestimmende Illusion entzaubert scheint. Im heroischen Scheitern dieses Lügenbarons ("adicto a la mentira", MTe 202) triumphiert jedoch auch die Lüge als solche, die Lüge als Erfindung, die das Imaginäre bearbeitet und zur Fiktion verdichtet, wie es Onettis Prosa ein ums andere Mal vorführt, ausstellt und mitunter wieder verwirft. Vergessen wir nämlich nicht den Auftakt, wo die Erzählung sich als Resultat einer rheto‐ risch-narrativen Meisterleistung präsentiert, die nicht etwa 'Literatur', sondern 'Wahrheit' sein will. "[L]a mejor verdad está en lo que cuento" (MTe 200), rühmt sich Jorge Michel und eifert damit jener Kunst des Fingierens und Simulierens nach, die wohl auch der Funker praktiziert. Obschon diese Kunst nicht dem Rückfall in Mangel, Absenz und Sprachlosigkeit, aus welcher sie entstand, vor‐ beugen kann, entfacht sie jeweils aufs Neue den Wunsch nach Abhilfe und er‐ zeugt so zumindest vorübergehend einen Abglanz von Fülle, Präsenz und Kom‐ munikation. Wie "Matías el telegrafista" mit feinsinnigem Spott demonstriert, vermag sie derart eventuell mehr und Vielschichtigeres als so manche technisch 216 Kurt Hahn 22 Antonio Muñoz Molina, op. cit., p. 23. basierte Spielart der Vermittlung. Antonio Muñoz Molina geht sogar noch weiter und erkennt in solcher Kunst des Fabulierens einen, ja vielleicht den einzigen Weg, der Onettis Figuren auf ihrer Suche nach Wahrheit, Identität und einer gewiss bitteren Absolution offensteht: [P]ero en ocasiones el propósito de la narración es otro, exactamente el inverso: con‐ tando puede alcanzarse una verdad que de otro modo sería inaccesible, una identidad más cierta o más honda que la establecida por las apariencias, incluso una forma amarga de absolución. 22 Literaturverzeichnis Primärliteratur Cortázar, Julio: "Las babas del diablo", in: Id.: Las armas secretas, ed. Susana Jakfalvi, Madrid: Cátedra 1997 [1959], pp. 123-139. 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Nachwort Lasst Euch nichts erzählen - Das Werk von Juan Carlos Onetti als ein Kompendium der Desinformationsgesellschaft Borris Mayer (Freiburg) Lasst Euch nichts erzählen, liebe Leserinnen und Leser, aber bedenkt bitte: Der fol‐ gende Aufsatz entsprang der immer noch unglaublichen Einladung zu einem Vor‐ trag, der sich mit Onettis Spät-Werk vor der Folie aktueller Literatur- und kultur‐ wissenschaftlicher Diskurse zu befassen hatte. 1 Auf Santa Maria übertragen entsprach dies der nie verfassten Episode, in der Larsen im Sittlichkeitsbzw. Her‐ renverein von Santa María vorspricht, vor der "allmählich in der Stadt sich heraus‐ bildenden Intelligentzija […]" 2 - selbst für eingefleischte Onetti-Leserinnen und -Leser so gut wie unvorstellbar. Streng inhaltlich betrachtet war dieser Einladung meinerseits nicht nachzu‐ kommen - ganz einfach weil jene Diskurse mir, zwar Philologe, aber nicht Li‐ teraturwissenschaftler, nicht (mehr) geläufig waren bzw. sind. Ich schreibe also ganz ausdrücklich als einfacher Leser - wenn auch als langjähriger Immer-wieder-Onetti-Leser, ziemlich genau seit Sommer 1990, als ich die gerade erschienene Taschenbuchausgabe von Lassen wir den Wind sprechen entdeckte und kaufte und las, einerseits weil ich damals alles las, was irgendwie spanisch klang, und andererseits weil ich mir, zum Glück, vom Klappentext nichts habe erzählen lassen. Ähnlich wie Onetti den Quijote, habe ich diesen Roman seitdem mindestens einmal pro Jahr gelesen, mit alljährlich neuem Erstaunen, Entzücken, Kopf‐ schütteln, Freude, Entdeckungen, Bewunderung, Ergriffenheit. Was für ein Roman! Was für ein Schriftsteller! Ich schreibe also hier, Sie merken es schon, auch als Trommler, als Werber, als Verteidiger, und was folgt ist (m)ein Plädoyer. 3 www.romanistik.uni-muenchen.de/ forschung/ konferenzprojekte/ onetti/ onetti-progra mm.pdf. Ebenso wie mir die gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Diskurse nicht bekannt sind, verhält es sich im Grunde genommen auch mit der allerneuesten Onetti-Forschung. Ich bekomme zwar - scheint mir - wirklich alles zugeschickt, was irgendwo gedruckt wird und zumindest die Archivierung klappt, aber leider fehlt mir meist die Zeit und Muße, alles zu lesen. Und so kam es, dass die An‐ kündigung dieses Onetti-Symposiums seit Langem das erste war, was ich aus wissenschaftlicher Feder oder universitärer Quelle stammend über Onetti las. Diese rund 10 oder 20 Zeilen jedoch - ich meine das in vollem Ernst und ohne jegliche Ironie - haben es in sich: Sie geben mit maximaler inhaltlicher Präzision und sprachlicher Kürze das wieder, was sich als Konsens über das Werk von Onetti etabliert hat - jedoch angereichert, ohne jegliche Vorankündigung, ohne den Hauch einer Vorwarnung, im allerletzten Satz, mit einer kühnen, ja geradezu revolutionären These: Onetti sei "gerade im aktuellen europäischen Kontext von dramatischer gesellschafts- und sozialpolitischer Brisanz" 3 . Jetzt mal ganz ehrlich: Wer von Ihnen hat das jemals zuvor so gehört, gelesen, erkannt oder gar selbst vorgetragen oder aufgeschrieben? Ich wiederhole: Onetti sei gerade im aktuellen europäischen Kontext von dramatischer gesellschafts- und sozialpolitischer Brisanz. Natürlich ist mir bewusst, dass diese Formulierung auch den Chancen auf Förderung des Symposiums geschuldet war. Dennoch ist meine Frage weder rhetorisch noch polemisch, denn, soweit mir bekannt, war von Brisanz im Zu‐ sammenhang mit Onetti bislang noch wirklich nirgendwo auch nur ansatzweise die Rede. Ganz im Gegenteil: Steht nicht gerade das allgemeine Onetti-Bild - ich werde darauf zurückkommen - in diametralem, größtmöglichem Gegensatz zu dieser tatsächlichen oder vermuteten, auf jeden Fall hier in den Raum ge‐ stellten Brisanz? Welche Brisanz, oder selbst ein wenig abgeschwächt, welche Relevanz hat Onetti, Schriftsteller aus einem unbedeutenden Land, seit über 20 Jahren tot, gemeinhin etikettiert mit - ich gebe jetzt den lexikalischen Informationslevel wieder - fiktives Setting, hermetische Prosa, pessimistisches Weltbild, okay, poe‐ tologisch richtungsweisend, okay, Premio Cervantes - aber den haben ja auch schon andere bekommen, über die heute kaum noch jemand spricht… . Ich wie‐ derhole mich also: Wer von Ihnen hat jemals zuvor gehört oder gelesen, Onetti sei brisant? Die Ankündigung dieses Onetti-Symposiums hat diese Behauptung gewissermaßen in den Ring geworfen, und vielleicht hoffte niemand so sehr wie 220 Borris Mayer 4 www.duden.de/ rechtschreibung/ Brisanz. ich, dass es zum Abschluss handfeste Belege geben würde. Dieser Vortrag war und ist mein Versuch, genau dazu etwas beizutragen. Bevor man antritt, einem Schriftsteller Brisanz zu attestieren, müsste oder sollte man eigentlich noch klären oder definieren, was denn schriftstellerische Brisanz überhaupt ist oder sein soll. Natürlich eine Frage oder Diskussion, die den Rahmen eines kleinen Essays sprengen würde. Dennoch eine Kurzversion, ich bediene mich ganz einfach des Dudens. Der Duden definiert Brisanz als "brennende, erregende [Zündstoff für Konflikte oder Diskussionen liefernde] Aktualität." 4 Ein brisanter Schriftsteller ist folglich ein Autor, dessen Texte brennende, erregende Aktualität besitzen beziehungsweise Zündstoff für Diskussionen lie‐ fern. Und wenn es sich um gesellschaftsund/ oder sozialpolitische Brisanz han‐ delt, müssen es Texte sein, die mit Zündstoff für aktuelle gesellschafts- und so‐ zialpolitische Diskussion aufwarten. Wir haben es hier natürlich mit einer Definition zu tun, die, übertragen auf die Literatur, den Fokus der Literaturbetrachtung vorrangig auf Inhalte legt. Man kann davon halten was man will, aber in Sachen Onetti bringt sie uns hier aus‐ nahmsweise weiter - vorausgesetzt wir lassen uns nicht dauernd erzählen, die Thematik, der Inhalt bei Onetti beschränke sich auf das vielzitierte Spiel mit Realität und Fiktion einerseits, auf die immer wieder bemühten Begriffe Pessi‐ mismus, Dekadenz und Niedergang andererseits. Wenn wir stattdessen, die Pri‐ märliteratur lesend, uns das schier unerschöpfliche Onetti'sche Themenspek‐ trum vergegenwärtigen: Bei Onetti geht es, in niemals repetitivem Variantenreichtum, wenn auch meist sehr subtil und deswegen nicht immer für alle sofort erkennbar, um Macht und Ohnmacht; um Moral und Profit; um Lüge und Wahrheit; um Spaß und Ernst; um neu und alt; um alt und jung; um Schwäche und Kraft; um Obrigkeit und Unterwürfigkeit; um Recht und Unrecht; um Gesetzgebung und Gesetzesauslegung; um Einwanderer und Auswanderer; um Dagewesene und Dazugekommene; um Standhaftigkeit und Charakterlo‐ sigkeit; um gut und schlecht; um das Verhältnis von Vater und Sohn, Sohn und Mutter, Mutter und Tochter; um Hoffnung und Verzweiflung; um Privilegierte und Benachteiligte; um Glück und Pech; um Dank und Neid; um Glaube und Wissen; um Herrschaft und Knechtschaft; um Vernunft und Wahn; um Rausch und Ernüchterung; um Jagd und Flucht; um Liebe und Hass; um Gewinn und Verlust; um Anführer und Mitläufer; um arm und reich; um Vertrauen und Misstrauen; um Ehrlichkeit und Betrug; um Angst und Mut; um Transparenz und Korruption; um Freund und Feind; um Sieg und Niederlage; um Vergan‐ 221 Nachwort genheit und Zukunft; um den Fortschritt und den Status quo; um Verlust und Erhalt; um Aufklärung und Verschleierung - … die Liste dieser Dualismen ließe sich nicht beliebig, aber doch erheblich fortsetzten. Ich werde sie hier kappen mit dem Hinweis darauf, dass es bei Onetti nie einfach nur schwarz und weiß gibt und dass es immer auch - und immer ganz fundamental - darum geht: um Leben und Tod. Ein, scheint mir, mehr denn je sehr gutes und sehr starkes Argument für Brisanz. Ich möchte diesen kleinen Rundflug über die Inhaltsebene nicht beenden, ohne einen weiteren Gemeinplatz über Onetti, eine weitere betonierte Klassifi‐ kation in Frage zu stellen, oder zumindest zu erweitern. Nämlich das vermeint‐ liche Onetti'sche Weltbild. Mangels Vorbereitungs- und Vortragszeit muss ich darauf verzichten, Quellen zu zitieren, aber auch ohne die entsprechenden Zitate werden Sie mir alle zu‐ stimmen, dass das Onetti'sche Weltbild mehr oder weniger einstimmig als, bei‐ spielsweise, zutiefst düster oder heillos pessimistisch tituliert wird. Nicht einmal die Verlage, die seine Bücher doch verkaufen wollen, kommen ohne derartige Beschreibungen aus. Man könnte fragen: Was heißt das überhaupt - pessimistisches Weltbild? Man könnte weiter fragen: Welche Relevanz für den literarischen Wert eines Texts hat denn überhaupt die Eigenschaft oder Haltung pessimistisch, genauso wie übrigens das Gegenteil? Sind das literarische Kategorien oder Werte? Gilt in der Literatur banal und quasi analog zur puren Begrifflichkeit: pessimistisch = schlecht, optimistisch = gut? Und man könnte noch weiter fragen: Wer hat ein Interesse daran, ein Werk so oder so einzuordnen? Voraussetzend, der gemeine Leser - sofern es ihn denn gibt - liest grundsätzlich lieber etwas Positives, könnte man folgern, dass die‐ jenigen, die das Lesen von Onetti verhindern wollen, auf die Karte Pessimistisch setzen. Und das könnte ein erster zarter Hinweis auf Brisanz sein. Ich komme später darauf zurück. Natürlich, lässt sich nun einwenden, wenn alle sagen, schreiben, behaupten - bestärkt von Zitaten von Zitaten von Zitaten etc. -, dass dem so ist - pessi‐ mistisch - dann wird ja verdammt nochmal auch was dran sein! Aber man könnte es ja auch so empfinden, verstehen und formulieren: Onetti beschreibt Menschen, ihre Charaktere, ihre Handlungen, ihre Obses‐ sionen, ihre Gefühle, ihre Psyche in - zugegebenermaßen - ich möchte sagen widrigen Umständen: in widrigen sozialen Umständen, in widrigen ökonomi‐ schen Umständen, in widrigen politischen Umständen, in widrigen emotionalen, 222 Borris Mayer 5 Juan Carlos Onetti: "Die Geschichte vom Rosenkavalier und der schwangeren Jungfrau, die aus Liliput kam", p. 174. gesundheitlichen, finanziellen Umständen. Auch diese Liste ließe sich deutlich verlängern. Jedoch: Es sind immer, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, Figuren, Menschen, Personen, die sich dieser widrigen Umstände erwehren: Egal wer, angefangen bei Eladio Linacero, gefolgt von Brausen und den Figuren seiner Gnaden: Larsen an erster Stelle, Jorge, Julia, Julián, Lanza, Bergner, Barthé, Diaz Grey, Jacob, Bob, Carve Blanco, Frieda, Der Rote, Gurisa, Petrus, Gálvez, die schwangere Jungfrau aus Liliput und natürlich der Caballero de la Rosa, letzterer "ein Mann, der von Natur aus überzeugt ist, dass einzig wichtig ist, am Leben zu sein, und der folglich überzeugt ist, dass alles, was zu erleben ihm anfällt, wichtig ist und gut und würdig, empfunden zu werden." 5 Selbst Medina, der Maler unter den Polizisten, der auch von der Literaturkritik so viel gescholtene: Inbegriff des Kämpfers gegen die Widrigkeiten des Daseins, gegen die Widrig‐ keiten der Schöpfung, gegen die Willkür, gegen die Ohnmacht, gegen die Un‐ gerechtigkeit. Er, wie sie alle, kämpfen, leiden, rappeln sich auf, erwehren sich, empören sich, machen weiter, erspüren Freude, versprühen Hoffnung, hegen Illusionen, suchen Erfüllung, glauben an das Glück. Ist das pessimistisch? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin kein Verfechter von Erbauungs- oder Erbaulichkeitsliteratur, brauchte ich bislang nicht, Glück gehabt, ich möchte nur sagen: Lasst euch nichts erzählen - mein Stichwort - lasst Euch nicht erzählen, Onetti sei pessimistisch. Nein, Onetti selbst mag es ja gewesen sein. Aber Onettis Literatur ist eine Literatur des Willens, des Wollens, der Le‐ bensfreude, der Suche nach der Verheißung, des Kampfs um das gute Leben, um das schöne Leben, um das angstfreie Leben. Ist das 'brisant'? Zumindest sehr, sehr aktuell, und auf jeden Fall voller Zünd‐ stoff. Wenn wir jetzt gerade bei den Onetti'schen Inhalten sind, oder waren, müssen wir uns auch kurz der Form oder dem Stil zuwenden: Das literaturkritische Pendant zum Inhalt und dem pessimistischen Weltbild ist bei Onetti der stets als hermetisch beschriebene Stil, die stets als schwierig bezeichnete Prosa. Was heißt eigentlich hermetische Prosa? Diese vermeintliche Stilbeschrei‐ bung taugt allenfalls als Lektürebeschreibung im Sinne einer absolut individu‐ ellen, höchst persönlichen, ultimativ subjektiven Leseerfahrung. Ich will damit sagen: Das Adjektiv hermetisch taugt nicht zur Verallgemeinerung, weil jede Leserin, jeder Leser einen stets anderen Textzugang hat. 223 Nachwort Nur ein Beispiel: Für manche Leserin sind widersprüchliche Adjektive (wie von Onetti gepflegt und perfektioniert) einfach nur Widersprüche, Inkohä‐ renzen - für manch andere/ n ergeben sie einen neuen, tieferen oder höheren Sinn. Für Leser A sind sinngleiche oder sinnähnliche Aneinanderreihungen von Adjektiven öde, für Leser B aufschlussreich. Welcher Adjektiv-Gebrauch ist denn nun der hermetische? Um eine rhetorische Frage meiner ehemaligen Grundschullehrerin zu zitieren, die HochschullehrerInnen mögen es mir nach‐ sehen: "Wenn ein Buch und ein Kopf aneinander prallen, muss es dann immer am Buch liegen? " Besser lässt sich die Absurdität der Stilbeschreibung herme‐ tisch nicht auf den Punkt bringen. Die kluge Frau hieß sinnigerweise Frau Denk. Um diesen kleinen Exkurs über den Stil zu beenden, sei auch hier und heute ein kleiner Gegenentwurf zum gängigen Onetti-Klischee erlaubt: Ich finde, ebenfalls ganz persönlich, ganz individuell, ganz subjektiv, dass es kaum eine zugänglichere Prosa, kaum einen eingängigeren, fesselnderen Stil gibt als den von Onetti. Bei Onetti genügt meist ein einziger Satz, um einen Sog zu entfachen, der mich der Umwelt entzieht und in der Textwelt verankert. Ich kenne keinen Schriftsteller, der mit so wenigen Worten dermaßen dichte At‐ mosphären erschafft; der so messerscharf beobachtet und mit einfachen Worten so präzise beschreibt. Aber das nur am Rande. Hat nichts mit Brisanz zu tun. Nach diesen Aspekten, die nach meinem Verständnis nur die Oberfläche der Texte berühren - Stil sowie Inhalt im Sinne von Thematik oder Handlung -, möchte ich nun darauf zu sprechen kommen, welche Beschaffenheiten, welche Eigenschaften einen Text zu einem literarischen Text machen, zu einem Text mit künstlerischem Wert, zu einem Kunstwerk. Ich weiß nicht, welche Rolle diese Fragen in den aktuellen Diskursen spielt, ich befürchte keine große, aber wenn es um Onetti geht, kommen wir nicht um sie herum. Soweit ich verstanden habe, ist Kunst ein historischer Begriff, sprich der Wert und die Bewertung 'künstlerisch' unterliegen historischen Schwankungen, Mei‐ nungen, Gewohnheiten, Strömungen, Machtverhältnissen im weitesten Sinne. In der philosophischen oder ästhetischen Diskussion, was denn nun Kunst ist und/ oder war und dies jeweils warum und weshalb - in dieser Diskussion bin ich nicht sattelfest. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass ein Text ein Kunst‐ werk ist, wenn er eine Aussage generiert, die über den historisch-lexikalischen Inhalt der ihn konstituierenden Begriffe bzw. Wortbedeutungen hinausgeht; wenn die Gesamtheit des Texts mehr Inhalt, mehr Aussage darstellt als die syn‐ taktisch korrekte und inhaltlich sinnvolle, aussagekräftige, kluge, unterhalt‐ same, geistreiche o. ä. Aneinanderreihung einzelner Worte. Nochmal anders formuliert: Ein literarischer, künstlerisch wertvoller Text ist nach meinem Verständnis ein Text, der einen Mehrwert hat - einen Mehrwert, 224 Borris Mayer der sich aus seiner Komposition ergibt, eine Mehrbedeutung, eine Mehraussage, die über Handlung, Stil, Thema etc. hinausreicht. Jetzt die große Frage: Was ist denn die Mehraussage bei Onetti? Leider, wen wundert's, kann ich auch das nicht erschöpfend beantworten - denn bei Onetti gibt es, meiner Meinung nach, sehr viele davon. Was ich aber kann, ist eine partielle Antwort vorschlagen. Soll heißen, ich werde eine dieser Mehraussagen herauspicken, eine Lesart, eine - ganz altbacken ausgedrückt - Interpretation, die es rechtfertigt, Onetti als gesellschafts- und sozialpolitisch dramatisch brisant zu bezeichnen. Diese meine Interpretation besteht in der These, dass sich jeder fiktionale Text von Onetti, jeder Roman, jede Erzählung - ich spreche nicht von den Essays - lesen lässt als Vorführung davon, wie Gerüchte gestreut werden, wie sie ihren Lauf nehmen, wie sie sich verselbständigen, wie man sie beschleunigt oder wie man sie kaschiert. Jeder Text von Onetti exemplifiziert, wie man Verunglimpfungen initiieren kann, ohne dass sie auffallen, wie man Verleumdungen startet, ohne dass sie durchschaut werden, wie sich Meinungen manipulieren lassen, ohne dass je‐ mand etwas davon mitbekommt. Jeder Text von Onetti exerziert, wie Tatsachen verdreht und Lügen verbreitet werden können, wie sich Machenschaften vertuschen und Mauscheleien be‐ schönigen lassen. Jeder Text von Onetti macht vor, wie man insinuiert, ohne dass es auffällt, ohne dass man dem Erzähler auf die Schliche kommt. Jeder Text von Onetti ist eine Spielart subtilster Suggestion; eine Anleitung, wie man einlullt ohne zu ermüden, wie man ablenkt und damit doch Orientie‐ rung gibt. Jeder Text von Onetti ist eine Variation davon, wie man schweigt, obwohl man spricht, wie man redet, ohne zu sprechen, und wie man handelt, indem man schweigt. Jeder Text von Onetti ist ein Lehrstück, wie ein Wunsch, eine Idee, eine Fik‐ tion, ein Glaube, peu à peu, Schritt für Schritt, in Wahrheit, in Gewissheit, in Tatsache gebzw. verdreht werden können. Jeder Text von Onetti ist eine Vorführung dessen, wie man mit dem gezielten, bewussten, berechnendem Einsatz oder Nicht-Einsatz von Worten Fakten schafft. Jeder Text von Onetti leitet an, wie Realität produziert wird, stellt dar, wie Wahrheit definiert wird, führt vor, wie Wahrnehmung gelenkt und Konsens gesteuert wird bzw. werden kann: Fake-News. 225 Nachwort In einer Zeit der Informationsflut, in der die Informationen vor sich hinge‐ trieben werden und in sich selbst versinken oder versanden; einer Zeit des In‐ formationswaldes, in dem vor lauter Informationen die Orientierung verloren zu gehen droht oder ihr Verlorengehen beabsichtigt wird; in einer Zeit der mas‐ senhaften Avatare, der inflationären Pseudonyme, der staatlich organisierten Überwachung hier und der staatlich beauftragten Trolle da; in einer Zeit der medialen Massenschlägerei, mit so vielen öffentlichen Meinungsmachern und Meinungshabern, Meinungskommentatoren und Meinungskorrektoren, Mei‐ nungsrichtern und Meinungsüberwachern, in der der fight um die Deutungs‐ hoheit in dermaßen vielen hochbrisanten Angelegenheiten über so viele Kanäle, in so vielen Medien, mit ebenso vielen fragwürdigen Quellen wie öffentlichen Stimmen ausgefochten wird; in der immer öfter die erfolgreichste Strategie nicht in der Aufklärung, sondern in der Verschleierung, nicht in der Berichtigung sondern in der Verfälschung besteht; auf diesem Weg in die Desinformations‐ gesellschaft, den wir Gefahr laufen einzuschlagen, wenn unsere Wachsamkeit, und ganz besonders unsere Text- und Wort-Wachsamkeit verloren geht, ab‐ handen kommt; diese Desinformationsgesellschaft, die uns blüht, wenn wir die Kompetenz verlieren, die Demagogen zu identifizieren und ihnen Paroli zu bieten; schon ziemlich nah am Rande dieser Situation, in der Hetzer und Lügner erfolgreich faschistisches Vokabular reaktivieren, mehr noch: in Parlamente einziehen, Wahlen gewinnen; in dieser Situation, in dieser Zeit, auf diesem Weg ist Onetti, oder besser gesagt die Lektüre von Onetti, eine Grundschule der Wachsamkeit, ein Intensivkurs über Text-Strategie, ein Power-Seminar über das Potential der Sprache und damit eine Hochschule der Medienkompetenz - indem sie, diese Literatur, ohne Schulmeisterei, ohne erhobenen Zeigefinger, ohne vordergründigen Pamphletismus eine Einladung darstellt, eine Aufforde‐ rung, genau hinzuhören, die Augen offen zu halten, genau hinzuschauen; indem sie immer - unaufdringlich, aber nachdrücklich - daran appelliert, die Quellen zu prüfen oder ihnen wenigstens zu misstrauen; indem sie eine Unterrichtung darin darstellt, wie sich die Macht der Worte instrumentalisieren lässt; indem sie uns auffordert und zugleich darin schult, stets sehr intensiv vom eigenen Verstand Gebrauch zu machen; indem sie eine ebenso feine wie nachdrückliche Mahnung ist, die versteckten Absichten der Erzähler, der Texter, der Ghost‐ writer, der Redenschreiber im weitesten Sinne zu hinterfragen, und auch ihre Adjutanten, ihre Lakaien, ihre Claqueure, deren Ziele und die Ziele ihrer Mul‐ tiplikatoren in die Analyse, in die Bewertung, in die eigene Meinungsbildung mit einzubeziehen. 226 Borris Mayer 6 So zu lesen in einem Interview in "El popular", Montevideo 26.1.1962: "¿Cómo debe a su juicio expresarse el llamado 'compromiso de los escritors'? Onetti: Se trata de res‐ ponder una encuesta organizada por un diario comunista. Me divierte pensar que tal vez no hayan encontrado mejor ejemplo que el suscrito para presentar las lacras mor‐ bosas de un escritor pequeño burgues y decadente. Alguién inventó el término y el destino del escritor comprometido. Soy inocente. El único compromiso que acepto es la persistencia en tratar de escribir bien y mejor y encontrar con sinceridad cómo es la vida que me tocó conocer y cómo es la gente condenada a convertirse en personajes de mis libros." 7 Juan Carlos Onetti: "La literatura - ida y vuelta", pp. 920 sq. 8 Harald Martenstein, op. cit.; auch in id.: Nettsein ist auch keine Lösung. Zurück zu Onetti: Salopp formuliert ist die Literatur dieses großartigen Er‐ zählers eine smarte, süffisante, freundliche, subtile, über alle Maßen intelligente und zugleich höchst subversive Aufforderung, Euch nichts erzählen zu lassen. Ein Punkt noch, zum Abschluss: Sie alle kennen, hoffe ich, Onettis Haltung zur sogenannten 'engagierten Literatur'. Ein Beispiel: "Jemand erfand den Begriff und die Aufgabe des engagierten Schriftstellers. Ich bin unschuldig. Das einzige Engagement, das ich kenne, ist die Beharrlichkeit, gut und besser zu schreiben […] (meine. Übers.)." 6 Und noch eins: "Ein Schriftsteller erfüllt keinerlei Aufgabe von gesellschaftlicher Bedeutung. […] Literatur darf nie 'engagiert' sein. Sie muss ganz einfach gute Literatur sein. Meine Literatur ist nur mit mir selbst engagiert. Dass mir die Existenz von Armut missfällt, hat mit Literatur nichts zu tun." 7 Es gibt noch mehr davon. Und tatsächlich kam auch noch niemand auf die Idee, Onettis Werk als engagierte Literatur zu bezeichnen. Die dominante Lehre, nur ein engagierter Schriftsteller sei ein guter oder lesenswerter Schriftsteller, spiegelt sich im allgemeinen Maß der Wertschätzung von Onetti wider. Über engagierte Literatur hat einer der meiner Meinung nach klügsten Köpfe im gegenwärtigen Kultur-Kosmos, der Romanist und Historiker, der Journalist und Autor Harald Martenstein eine Kolumne geschrieben. Sie endet wie folgt: Für Literaturkritiker, die die Qualität eines Buches vor allem daran messen, ob es mit ihrer Meinung übereinstimmt, habe ich nur Verachtung übrig. […] Was Literatur im besten Fall erreichen kann, wenn sie denn unbedingt etwas erreichen soll: Sie kann das Denkvermögen stärken. Und je länger du nachdenkst, desto weniger Gewissheiten hast du, desto misstrauischer wirst du in Bezug auf dich selbst. Und eine Welt, in der alle an ihren Gewissheiten zweifeln, wäre tatsächlich eine bessere Welt. 8 Mir scheint, diese Definition von engagierter Literatur hätte auch Onetti unter‐ schrieben. Und ich bin überzeugt: in diesem Sinne ist Onetti ein engagierter Schriftsteller par excellence. 227 Nachwort Ich meine also, dass Onetti, obwohl Schriftsteller aus einem kleinen Land an der südlichen Peripherie der westlichen Welt, seit über 20 Jahren tot, folglich ohne jeglichen unmittelbaren Bezug zur konkreten europäischen Aktualität, ich persönlich, ganz subjektiv, bin der Meinung, dass die Organisatoren dieses Sym‐ posiums Recht hatten und Recht tun, wenn sie schreiben, diese Literatur sei, ich zitiere es sehr gerne noch einmal, etwas abgewandelt, nicht nur im aktuellen europäischen Kontext von dramatischer gesellschafts- und sozialpolitischer Bri‐ sanz. Literaturverzeichnis Primärliteratur Onetti, Juan Carlos: Leichensammler (1964 span.), transt. Anneliese Botond, in: Juan Carlos Onetti: Gesammelte Werke Bd. III, edd. Jürgen Dormagen / Gerhard Poppenberg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, pp. 5-280. ---: "La literatura - ida y vuelta", in: Id.: Obras completas vol. 3 - Cuentos, artículos y miscelánea, ed. Hortensia Campanella, Prólogo de Pablo Rocca, Barcelona: Galaxia Gutenberg / Círculo de Lectores 2009, pp. 914-924. ---: „Die Geschichte vom Rosenkavalier und der schwangeren Jungfrau, die aus Liliput kam“ (1956 span.), transt. Gerhard Poppenberg, in: Juan Carlos Onetti: Sämtliche Er‐ zählungen, transtt. Svenja Becker / Jürgen Dormagen / Gerhard Poppenberg et al., edd. Svenja Becker / Jürgen Dormagen, Berlin: Suhrkamp 2015, pp. 164-193. Sekundärliteratur "Brisanz", in: Duden, www.duden.de/ rechtschreibung/ Brisanz [15.10.2018]. Martenstein, Harald: "Über engagierte Literatur", ZEIT Magazin 42 (2015), auch in: Id.: Nettsein ist auch keine Lösung, München: Bertelsmann 2016. 228 Borris Mayer Über die AutorInnen Florian Baranyi, MMag. phil. Studium der Germanistik, Vergleichenden Lite‐ raturwissenschaften und Romanistik an der Universität Wien. 2012-2016 DOC-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2012-2013 Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) Wien und 2014 IFK Fellow Abroad an der Universidad Rey Juan Carlos, Madrid. Verfasser eines Sachbuches und zahlreicher literaturkritischer Arbeiten für Printmedien und Radio. Nataniel Christgau, Studium (2005-2012) der Romanistik und Philosophie an der Universität Heidelberg und Ciudad Real. 2017: Abschluss der Promotion bei Gerhard Poppenberg. Titel der Dissertation: Die Schönheit und die Endlichkeit. Zu Baltasar Graciáns Konzeptismus (im Erscheinen). Ausgewählte Publika‐ tionen: Tod und Text. Zu Roberto Bolaños 2666, Berlin 2016; "Poïétique der Po‐ tentialität. Paul Valérys Monsieur Teste", in: Andrea Allerkamp, Pablo Valdivia Orozco edd.: Paul Valéry - Für eine Epistemologie der Potentialität. Germa‐ nisch-Romanische Monatsschrift, Beihefte 74 (2016), 89-107; "Lo uno y lo otro: la relación entre la primera y la segunda parte del Quijote", in: Robert Folger, José Elías Gutiérrez Meza edd.: La mirada del otro en la literatura hispánica, Berlin, LIT Verlag 2017, pp. 17-28. Agustín Corti ist Assistenzprofessor für spanische und hispanoamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Fachdidaktik am Fachbereich Roma‐ nistik der Universität Salzburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der inter- und transkulturellen Fremdsprachendidaktik, in der Erzähltheorie visu‐ eller Medien (Comic, Fotoroman) sowie in der Biographie- und Autobiogra‐ phieforschung der spanischen und hispanoamerikanischen Literatur. Eva Erdmann ist Literaturwissenschaftlerin, sie lebt in München und unter‐ richtet französische und spanische Literatur am Romanischen Seminar der Uni‐ versität Freiburg. Sie studierte Romanistik, Erziehungswissenschaften und Phi‐ losophie in Paris, Heidelberg und Genf, war Doktorandin des Graduiertenkollegs Kommunikationsformen als Lebensformen und unterrichtete im Fach Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Literaturen an ver‐ schiedenen Universitäten und in verschiedenen Fachbereichen. Victor A. Ferretti ist Professor für Iberoromanistik an der Universität Augs‐ burg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die iberisch-lateiname‐ rikanische Moderne, die frühneuzeitliche Bukolik wie auch die Fiktionstheorie und kulturelle Raumstudien. Inke Gunia ist Universitätsprofessorin für Romanische Philologie / Hispanis‐ tische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Zu ihren Forschungs‐ themen gehören: die Beziehung zwischen Fiktionalität und Faktualität, das autobiographische und autofiktionale Schreiben, die historischen Avantgarde‐ bewegungen in Hispanoamerika (insbesondere Argentinien), die Counterculture der 1960er und 1970er Jahre in Mexiko sowie das künstlerische / literarische Feld im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Spanien. Kurt Hahn ist Professor für Fachdidaktik und Literaturwissenschaft der ibe‐ roromanischen Sprachen (Schwerpunkt Lateinamerika) an der Universität Mün‐ chen. Nach dem Studium der Romanischen Philologie und Neueren Deutschen Literatur in München und Lyon wurde er 2007 in München mit der Dissertation Ethopoetik des Elementaren - Zum Schreiben als Lebensform in der Lyrik von René Char, Paul Celan und Octavio Paz promoviert und 2013 in Eichstätt mit der Studie 'Mentaler Gallizismus' und transkulturelles Erzählen - Fallstudien zu einer fran‐ zösischen Genealogie der hispanoamerikanischen Narrativik im 19. Jahrhundert habilitiert. Weitere Publikationen befassen sich mit Identitätsnarrativen in His‐ panoamerika, Modellierungen des Utopischen, Kulturgeschichten des Erzählens sowie dem Verhältnis von Ökonomie und Literatur. David Klein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanische Phi‐ lologie der LMU München in den Bereichen spanische und französische Litera‐ turwissenschaft. Er wurde 2014 mit einer Arbeit zur Medienphantastik - Phan‐ tastische Literatur im Zeichen medialer Selbstreflexion bei Jorge Luis Borges und Julio Cortázar (Narr Francke Attempto 2015) promoviert und arbeitet derzeit an einer Habilitationsschrift zur Dialektik der Beschleunigung und Entschleuni‐ gung in der Frühen Neuzeit Spaniens sowie der französischen Aufklärung. Christopher F. Laferl, Professor für spanische, portugiesische und lateiname‐ rikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Salzburg. Stu‐ dium der Romanistik und Geschichte an der Universität Wien. Verschiedene Gastprofessuren in den USA und in Brasilien. Forschungsschwerpunkte: Lite‐ ratur und Kultur der Frühen Neuzeit und des 20. Jahrhunderts in Spanien und Lateinamerika (v. a. Brasilien und Karibik), Beziehungen zwischen Spanien und Österreich in der Frühen Neuzeit, Theorie der Biographie und Autobiographie. 230 Über die AutorInnen Borris Mayer, geboren und aufgewachsen in München. Studium Romanistik, Anglistik und Medienkommunikation in Trier und Murcia. M.A. 1995. Per PAD in Santa Cruz de Tenerife, qua SFB in Freiburg, dank DAAD in Buenos Aires und Montevideo. Anschließend Werbetexter und Konzeptioner in einer Agentur für Wirtschaftskommunikation. 2003 Gründung und seitdem Entwicklung von DRWA zu einer international erfolgreichen, vielfach ausgezeichneten Werbe‐ agentur (www.drwa.de). 2001 bis 2016 Betreiber von www.onetti.net (spanisch und deutsch, über 5 Mio. Page Impressions). Gerhard Poppenberg ist Professor für romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg. Er hat zur spanischen, lateinamerikanischen und französischen Literatur und Literaturtheorie publiziert. Darunter finden sich Arbeiten zu Blanchot, zum spanischen auto-sacramental, zu Calderon de la Barca, Jean-Jacques Rousseau sowie Miguel de Cervantes. Johanna Vocht, Studium der Hispanistik, Politikwissenschaften und BWL in Eichstätt und Vigo. Dissertantin an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Organisatorin des Symposiums „Juan Carlos Onetti: Wegbereiter der latein‐ amerikanischen Moderne zwischen Río de la Plata und Europa“ (München, Nov. 2015). Aktuell Dissertation zu Juan Carlos Onetti an der Justus-Liebig-Univer‐ sität Gießen. Seit 2012 zudem in der Kulturvermittlung und PR-Beratung tätig. 231 Über die AutorInnen Siglenverzeichnis Romane PZ El pozo [PZ], in: Id.: Obras completas vol. 1 - Novelas I (1939-1954), ed. Hor‐ tensia Campanella, Prólogo de Pablo Rocca, Barcelona: Galaxia Gutenberg / Círculo de Lectores 2009 [1939], pp. 1-31. PN Para esta noche [1943], in: Ibid., pp. 231-412. VB La vida breve [1950], in: Ibid., pp. 415-717. LA Los adioses [1954], in: Ibid., pp. 719-780. TN Para una tumba sin nombre [1959], in: Obras completas vol. 2 - Novelas II (1959-1993), ed. Hortensia Campanella, Prólogo de José Manuel Caballero Bo‐ nald, Barcelona: Galaxia Gutenberg / Círculo de Lectores 2009, pp. 1-67. JO Jacob y el otro [1959], in: Ibid., pp. 105-146. AS El astillero [1961], in: Ibid., pp. 149-322. JC Juntacadáveres [1964], in: Ibid., pp. 361-578. Leichensammler MN La muerte y la niña [1973], in: Ibid.: , pp. 581-631. DV Dejemos hablar al viento [1979], in: Ibid., pp. 633-878. CI Cuando ya no importe [1993], in: Ibid., pp. 939-1069. Kurzgeschichten AMa "Avenida de Mayo-Diagonal-Avenida de Mayo" [1933], in: Obras completas vol. 3 - Cuentos, artículos y miscelánea, ed. Hortensia Campanella, Prólogo de Pablo Rocca, Barcelona: Galaxia Gutenberg / Círculo de Lectores 2009, pp. 3-9. SRe "Un sueño realizado" [1941], in: Ibid., pp. 44-59. BBo "Bienvenido, Bob" [1944], in: Ibid., pp. 65-72. ECo "Esbjerg, en la costa" [1946], in: Ibid., pp. 99-106. HCa "Historia del caballero de la rosa y de la virgen encinta que vino de Liliput" [1956], in: Ibid., pp. 134-157. JTr "Justo el treintaiuno" [1964], in: Ibid., pp. 173-178. NRo "La novia robada" [1968], in: Ibid., pp. 179-199. MTe "Matías el telegrafista" [1970], in: Ibid., pp. 200-212. 233 Siglenverzeichnis Vor mehr als einem halben Jahrhundert erfand der uruguayische Autor Juan Carlos Onetti die fiktive Stadt Santa María und legte damit den Grundstein für einen faszinierenden literarischen Kosmos. Mit Romanen wie La vida breve (dt. Das kurze Leben), El astillero (dt. Die Werft) oder Juntacadáveres (dt. Leichensammler) wurde er zu einem der einflussreichsten Schriftsteller der lateinamerikanischen Moderne. Er schrieb über das Scheitern, Entfremdung und die Unmöglichkeit der Liebe ohne dabei seine Figuren zu verraten. 1980 erhielt er den Premio Cervantes, die höchste literarische Auszeichnung der spanischsprachigen Welt. Dieser Sammelband stellt die erste umfassende Würdigung des einflussreichen Romanautors vonseiten der deutschsprachigen Hispanistik dar. Er betrachtet das Werk Onettis vor der Folie aktueller literatur- und kulturwissenschaftlicher Ansätze und nimmt vor allem sein bisher von der Forschung wenig beachtetes Spätwerk in den Blick. ISBN 978-3-8233-8101-3