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Große Werke der Literatur XIII

2015
978-3-7720-5544-7
A. Francke Verlag 
Prof. Dr. Günter Butzer
Prof. Dr. Hubert Zapf

Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Die Interpretation der Texte verbindet sich dabei mit der Frage ihres Status im literarischen Kanon, der immer wieder neu zu verhandeln und zu begründen ist. Gerade in einer Zeit intensivierter Kanondebatten und des Aufstiegs neuer Medien stellt sich die Frage nach der ästhetischen, historischen und gesellschaft - lichen Relevanz von Texten, die ganz offensichtlich kulturprägende Wirkungen entfalten und der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen. Der Band versammelt Beiträge von Kaspar H. Spinner (Äsop, "Fabeln"), Hanno Ehrlicher (Miguel de Cervantes, "Rinconete y Cortadillo"), Rotraud von Kulessa (Marie Leprince de Beaumont, "Le Magasin des adolescentes"), Helmut Koopmann (Johann Wolfgang von Goethe, "Faust"), Thomas Schmidt (George Gordon Byron, "Written After Swimming from Sestos to Abydos"), Dennis F. Mahoney (Joseph von Eichendorff, "Ahnung und Gegenwart"), Martin Middeke (Emily Brontë, "Wuthering Heights"), Hubert Zapf (Herman Melville, "Bartleby, the Scrivener"), Matthias Mayer (Hugo von Hofmannsthal, "Elektra"), Christoph Henke (James Joyce, "Finnegans Wake") Hans Vilmar Geppert (Bert Brecht, "Buckower Elegien"), Stephanie Waldow (Ingeborg Bachmann, "Malina") und Katja Sarkowsky (Chinua Achebe, "Things Fall Apart").

GROS SE WERKE DER LITERATUR XIII Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Die Interpretation der Texte verbindet sich dabei mit der Frage ihres Status im literarischen Kanon, der immer wieder neu zu verhandeln und zu begründen ist. Gerade in einer Zeit intensivierter Kanondebatten und des Aufstiegs neuer Medien stellt sich die Frage nach der ästhetischen, historischen und gesellschaftlichen Relevanz von Texten, die ganz offensichtlich kulturprägende Wirkungen entfalten und der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen. Der Band versammelt Beiträge von Kaspar H. Spinner (Äsop, „Fabeln“), Hanno Ehrlicher (Miguel de Cervantes, „Rinconete y Cortadillo“), Rotraud von Kulessa (Marie Leprince de Beaumont, „Le Magasin des adolescentes“), Helmut Koopmann (Johann Wolfgang von Goethe, „Faust“), Thomas Schmidt (George Gordon Byron, „Written After Swimming from Sestos to Abydos“), Dennis F. Mahoney (Joseph von Eichendorff, „Ahnung und Gegenwart“), Martin Middeke (Emily Brontë, „Wuthering Heights“), Hubert Zapf (Herman Melville, „Bartleby, the Scrivener“), Matthias Mayer (Hugo von Hofmannsthal, „Elektra“), Christoph Henke (James Joyce, „Finnegans Wake“) Hans Vilmar Geppert (Bert Brecht, „Buckower Elegien“), Stephanie Waldow (Ingeborg Bachmann, „Malina“) und Katja Sarkowsky (Chinua Achebe, „Things Fall Apart“). GROSSE WERKE DER LITERATUR BAND XIII 020015 Große Werke der Literatur XIII.qxp_020015 Große Werke der Literatur XIII Umschlag 06.03.15 10: 30 Seite 1 Große Werke der Literatur XIII Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Große Werke der Literatur BAND XIII Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2012/ 2013 herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Titel: Schmuckbuchstabe aus Hans Sachs: (Das vierdt poetisch Buch) mancherley neue Stücke schöner gebundener Reimen. Nürnberg: Heußler, 1576; Oettingen-Wallersteinsche Sammlung der Universität Augsburg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8544-4 Inhaltsverzeichnis Vorwort 7 Kaspar H. Spinner Äsop „Fabeln“ 9 Hanno Ehrlicher Miguel de Cervantes „Rinconete y Cortadillo“ (1613) und die Übertragung durch Niclas Ulenhart als „Historia von Isaac Winckelfelder und Jobst von der Schneidt“ (1617) 27 Rotraud von Kulessa Marie Leprince de Beaumont „Le Magasin des adolescentes“: Ein Klassiker der französischen Erziehungsliteratur des 18. Jahrhunderts 49 Helmut Koopmann Johann Wolfgang Goethe „Faust - Der Tragödie erster Teil“ 67 Thomas Schmidt George Gordon Byron „Written After Swimming from Sestos to Abydos“ 91 Dennis F. Mahoney Joseph von Eichendorff „Ahnung und Gegenwart“ (1815) 115 Martin Middeke Emily Brontë „Wuthering Heights“ 129 Hubert Zapf Herman Melville „Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall-Street“ 143 Inhaltsverzeichnis 6 Matthias Mayer Hugo von Hofmannsthal „Elektra“ 161 Christoph Henke James Joyce „Finnegans Wake“: Im Zeichen des Zeichens 179 Hans Vilmar Geppert Bert Brecht „Buckower Elegien“: „Nach dem Aufstand des 17. Juni […] dies oder jenes Angenehme zeigen“? 201 Stephanie Waldow Ingeborg Bachmann „Malina“: Schreiben im Widerspiel des Möglichen mit dem Unmöglichen 223 Katja Sarkowsky Chinua Achebe „Things Fall Apart“: Eine Gesellschaft im Umbruch und die Notwendigkeit des Geschichtenerzählens 243 Beiträgerinnen und Beiträger 261 Vorwort Der vorliegende Band ist der dreizehnte in der Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur, der aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg hervorgegangen ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der altgriechischen, spanischen, deutschen, französischen, englischen, amerikanischen und afrikanischen Literatur und umspannt einen Zeitraum von der Antike über das 17., 18. und 19. bis hin zum 20. Jahrhundert. Die Diversität, man könnte auch sagen, die Heterogenität der Autoren und Werke ist durchaus gewollt, ermöglicht sie doch den Dialog und den vergleichenden, oft Überraschendes zu Tage fördernden Blick der literarisch Interessierten über die gewohnten Grenzen von Epochen, Nationalliteraturen, Gattungen und Literaturformen hinweg. Der Begriff „Große Werke der Literatur“ mag in einer Zeit der Kanondebatten, der Ausweitung des Textbegriffs, der Einbeziehung anderer Medien, der Erweiterung der Literaturauf Kulturwissenschaften fragwürdig erscheinen. Dazu sei hier zweierlei gesagt. Zum einen werden sowohl der Begriff der Literatur wie auch der Begriff des Werks in dieser Publikationsreihe recht weit gefasst - so tauchten etwa Euklid, Kants Kritik der reinen Vernunft oder Heideggers Sein und Zeit, aber auch Texte der Populärliteratur in der bisherigen Reihe der „großen Werke“ auf. Ebenso wird auffallen, dass immer wieder auch neueste Texte vertreten sind, für die ein kanonisierter Status derzeit nicht beansprucht werden kann oder soll, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um Grundfragen des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur beitragen können, um die es in der Literatur geht. Zum andern führt auch in einer Zeit radikaler Kanonrevisionen kein Weg daran vorbei, dass an irgendeinem Punkt dann doch wieder eine Wertung ins Spiel kommt, die Frage nach der ästhetischen, historischen oder gesellschaftlichen Bedeutung eines Werkes, d.h. die Frage danach, inwiefern es das in Sprache und kultureller Textualität vorhandene Erkenntnis- und Kreativitätspotential überzeugend nutzt und in eine aussagekräftige, kulturell relevante, ästhetisch überzeugende und kompositorisch gelungene Form bringt. Es gibt eben Texte, die über lange Zeiträume hinweg gültig und wirksam bleiben, und auch wenn dies keinen ontologischen Eigenstatus großer Werke der Literatur begründet, so stellen sie doch ganz offensichtlich kulturprägende und kulturstiftende Instanzen dar, die der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen. Literarische Texte sind stets erneuerbare Quellen der Kreativität, die in je neuen historischen Phasen und individuellen Akten der Rezeption in immer wieder neuer Weise aktivierbar sind. Sie stellen damit gewissermaßen eine Form nachhaltiger Textualität dar, die ihr Potential kultureller Repräsentation nicht allein aus den Bedingungen ihrer historisch-kulturellen Genese, sondern aus dem Umstand gewinnt, dass sie offenbar in besonderer Weise bestimmten Grunddispositionen und Funktions- 8 weisen des menschlichen Geistes im Sinn einer ecology of mind, eines komplex vernetzten und vielfältig mit Lebensprozessen rückgekoppelten Denkens entspricht. Um sowohl dieses transhistorische Funktions- und Wirkungspotential wie auch die Vielfalt der möglichen Rezeptionsweisen literarischer Werke zum Ausdruck zu bringen, ist die Reihe der Großen Werke so konzipiert, dass die behandelten Texte allein aus der subjektiven Präferenz der Beiträger ausgewählt werden. Damit wird einerseits die Notwendigkeit einer Verständigung über ästhetische Modelle, Wertungskriterien und Kanonisierungsprozesse vorausgesetzt, andererseits aber auch die Unmöglichkeit anerkannt, eine autoritative Letztinstanz für die Begründung dieser Auswahl zu finden. In allen behandelten Werken wird die literarische Imagination in ganz unterschiedlicher, aber doch emphatischer Weise für die Erkundung kultureller Probleme, Konflikte und Grenzerfahrungen eingesetzt, die in der ästhetisch-symbolischen Transformation der Literatur in besonderer Eindringlichkeit dem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich werden. Und gerade darin mag eine wesentliche Funktion literarischer Texte für die Kraft zu beständiger kultureller Selbstkritik, Selbstreflexion und Selbsterneuerung liegen, die für die Vitalität und langfristige Überlebensfähigkeit einer Kultur notwendig sind. Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie dem Francke Verlag für die gewohnt zuverlässige Zusammenarbeit. Ihr besonderer Dank gilt Tanja Konrad, Benedikt Kindler und Julia-Nicole Rössler für die Einsatzbereitschaft und Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben. Augsburg, im Februar 2015 Günter Butzer und Hubert Zapf Vorwort Äsop Fabeln Kaspar H. Spinner Die Fabeln Äsops gehören zu den einflussreichsten Werken der Weltliteratur. Schon griechische Schriftsteller erwähnen Äsop, seit vielen Jahrhunderten gibt es Sammlungen äsopischer Fabeln, von der Antike bis heute sind sie Schulstoff. Und doch ist es fraglich, ob man überhaupt von den Fabeln des Äsop sprechen kann - es ist historisch nicht einmal sicher, ob es den Fabeldichter Äsop gegeben hat, geschweige denn, welche unter seinem Namen tradierten Fabeln wirklich von ihm stammen könnten. Wenn heute Fabeln des Äsop herausgegeben werden, z.B. in der zweisprachigen Ausgabe von Niklas Holzberg (Äsop 2005), dann stützen sich die Herausgeber auf die Collectio Augustana. Der Name dieser Sammlung bezieht sich auf eine Handschrift in griechischer Sprache aus dem 14. Jahrhundert, die lange Zeit in Augsburg aufbewahrt war (deshalb Augustana) und nun in München liegt und deshalb jetzt als Codex Monacensis 564 (manchmal auch als Codex graecus) bezeichnet wird. Entstanden ist die Collectio Augustana in der römischen Kaiserzeit; aber damit sind wir noch lange nicht bei dem vermuteten Autor Äsop, denn dieser hat (wenn es ihn überhaupt gegeben hat) noch einmal etwa 800 Jahre früher, im 6. Jahrhundert v. Chr., gelebt. Bei solcher Quellenlage ist es kein Wunder, dass sich, wenn es um die Fabeln des Äsop geht, vieles im legendenhaften Dunkel verliert. „Wer sich auf das Gebiet ‚antike Fabel’ wagt, betritt ein Trümmerfeld“ (Holzberg 2012: 1), so beginnt Niklas Holzberg seine Einführung in die antike Fabel. Ein paar Schritte in dieses Trümmerfeld seien im Folgenden gewagt. Ich beginne mit einem kurzen Überblick über die Quellen und die sog. Vita des Äsop und gehe dann auf vier Fragestellungen vertieft ein, nämlich auf die Entwicklung der Fabel zu einer literarischen Gattung, auf den Stil der Augustana-Fabeln, auf den lehrhaften Charakter von Fabeln und abschließend auf die Frage, was man denn überhaupt als Fabeln des Äsop bezeichnen kann. Kaspar H. Spinner 10 I Kurzer quellengeschichtlicher Überblick 1 Fabeln sind seit etwa 1800 v. Chr. in Babylonien (Mesopotamien) bezeugt; Babylonien gilt in der Forschung entsprechend als Ursprungsland der Fabeln. Überliefert sind Fabeltexte allerdings erst aus etwas späterer Zeit. Seit dem Ende des 8. Jahrhundert v. Chr. findet man bei griechischen Autoren, z.B. bei Hesiod und Archilochos, einzelne Fabeln. Im 5. Jahrhundert v. Chr. berichtet der Geschichtsschreiber Herodot vom Fabeldichter Äsop, der als Sklave auf Samos gelebt habe. Im 4. Jahrhundert v. Chr. erwähnt Aristoteles Äsop in seiner Rhetorik. Um 300 v. Chr. soll nach der Überlieferung Demetrios von Phaleron eine Buchrolle mit Äsop-Fabeln publiziert haben; wir wissen leider nicht, welche Texte darin enthalten waren. 2 Zuverlässiger fassbar wird die Fabeltradition im 1. Jahrhundert n. Chr. Der in Griechenland geborene Phaedrus, der ein Sklave von Augustus war und dann freigelassen wurde, veröffentlichte fünf Bücher mit dem Titel Fabulae Aesopiae in lateinischer Sprache. Dieses Werk ist (allerdings nicht vollständig) erhalten und hat die weitere Fabeltradition maßgeblich bestimmt. Phaedrus formulierte die Fabeln in Versen (Jamben); es sind, so die Forschung, im ersten Buch Fabeln der Äsop-Tradition, im Weiteren zunehmend Eigenerfindungen von Phaedrus. Eine weitere erhaltene Fabelsammlung, ebenfalls in Versen, stammt von Babrios, der - so nimmt die Forschung an - Hofdichter in Syrien war und seine Äsopischen Mythiamben für den Sohn des Königs auf Griechisch verfasst hat, um mit ihnen Rechte und Pflichten eines Königs zu veranschaulichen ( μῦθοι ist ein griechisches Wort für Fabeln). Babrios hat, wie man annimmt, im 2. Jh. n. Chr. gelebt. Wohl im 2./ 3. Jh. n. Chr. ist dann die schon erwähnte Collectio Augustana entstanden, verfasst von einem unbekannten Autor in griechischer Sprache. Sie ist die älteste und umfangreichste Sammlung von Prosafabeln, die erhalten ist. In den Handschriften taucht sie zum Teil zusammen mit einer Vita, einer romanhaften Lebensbeschreibung des Äsop, auf; ob die Vita vom gleichen Autor verfasst ist wie die Fabeln, ist ungewiss. Es ist anzunehmen, dass die Collectio Augustana eine Bearbeitung von nicht überlieferten früheren Sammlungen ist, aus denen auch Phaedrus und Babrios geschöpft haben. Etwa die Hälfte der in der Sammlung enthaltenen Fabeln ist schon früher bezeugt; ob die übrigen vom Autor der Sammlung neu erfunden worden sind, wissen wir nicht. Man geht davon aus, dass die Collectio Augustana jedenfalls am deutlichsten die nicht erhaltenen Vorgängersammlungen spiegelt. Vieles ist dabei allerdings ungeklärt und umstritten. Die Hypothesen zur Datierung reichen vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. Heute werden etwa 250 Fabeln der Collectio Augustana zugeschrieben; der Name der Sammlung bezieht sich nicht mehr nur auf die Texte der Handschrift, von der die Sammlung ihren Namen 1 Vgl. zum Folgenden Holzberg, Niklas: Die antike Fabel. Eine Einführung. Darmstadt, 3. Aufl. 2012. 2 Eine Rekonstruktion versucht z.B. Adrados in Adrados, Francisco Rodríguez: History of the Graeco Latin fable. Vol. 1. Introduction and from the origins to the Hellenistic age. Leiden, Boston, Köln 1999, S. 410ff. Äsop Fabeln 11 hat; aufgrund anderer Handschriften, vor allem einer erst 1928 entdeckten aus dem 10. Jahrhundert, die Codex Cryptoferratensis genannt wird und in New York aufbewahrt wird, zählt man einige wenige Fabeln, die im Codex Monacensis (also der ehemals in Augsburg aufbewahrten Handschrift) nicht enthalten sind, ebenfalls zur Collectio Augustana; die Sammlung, so wie sie heute gedruckt wird, ist also eine Rekonstruktion aus mehreren überlieferten Handschriften. Das erklärt, warum die Zahl der Fabeln, die man ihr zuschreibt, in wissenschaftlichen Editionen nicht immer die gleiche ist. 3 Für die Entwicklung der äsopischen Fabel im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ist nicht die griechische Collectio Augustana, sondern eine etwa um 350 n. Chr. entstandene lateinische Sammlung eines unbekannten Autors, der sich als Äsop ausgab (vgl. Holzberg 2008: 100f.), bestimmend. Es handelt sich bei dieser Sammlung um Prosabearbeitungen der Phaedrus-Fabeln; dabei wählte der Anonymus nur Fabeln aus, in denen mindestens ein Tier vorkommt; auf ihn geht unsere Vorstellung zurück, dass Fabeln grundsätzlich Tiere als Figuren enthalten. Im 5. Jahrhundert hat ein anderer unbekannter Autor diesen Aesopus latinus überarbeitet; im Vorwort nennt er sich Romulus, weshalb man in der Forschung die Sammlung in der Regel einfach als Romulus bezeichnet; sie ist im Verlauf des Mittelalters vielfach bearbeitet worden, auch in Versen, wobei die Fabelsammlung des Anonymus Neveleti, vermutlich aus dem 12. Jahrhundert (Grubmüller 1977: 77ff.), besondere Verbreitung erfuhr. Großer Beliebtheit erfreute sich im Mittelalter auch eine um 400 n. Chr. entstandene, in vielen Handschriften überlieferte Sammlung von Avian; seine Fabulae, die vor allem auf Babrios zurückgehen, sind in Versen geschrieben. Die neuzeitliche Entwicklung beginnt, so könnte man sagen, mit einem Paukenschlag. Der Humanist Heinrich Steinhöwel gibt 1476/ 77 seinen Esopus in Ulm heraus. Es ist die älteste gedruckte Fabelsammlung, die älteste zweisprachige Ausgabe lateinisch/ deutsch und zugleich eines der schönsten deutschen Bücher, dessen Illustrationen bis heute immer wieder abgebildet werden. Steinhöwels Esopus enthält die Vita und die Fabeln. Letztere sind lateinisch teils in Prosa, teils in Versen, deutsch in Prosa abgedruckt. Als Quellen hat Steinhöwel vor allem Handschriften der Romulus-Sammlung verwendet. Die Bedeutung von Steinhöwels Esopus lässt sich allein schon daran erkennen, dass er im 15./ 16. Jh. über 200mal nachgedruckt und in viele Sprachen übersetzt wurde - z.B. 1593 ins Japanische. Grundlage für die Übersetzungen war in der Regel der lateinische Text in Steinhöwels Esopus. 3 Eine Übersicht, welche Fabeln in welcher Handschrift enthalten sind, gibt Perry, Ben Edwin: Aesopica. Volume one: Greek and Latin Texts. New York 1980, S. 312ff. (diese Publikation enthält auch die maßgebliche kritische Edition der Collectio Augustana) und Perry, Ben Edwin: Studies in the Text History of the Life and Fables of Aesop. Ann Arbor 1981 (Reprint von 1936), S. 82ff. Kaspar H. Spinner 12 II Zur Vita Die Vita des Äsop - Annahmen zur Entstehungszeit schwanken vom ersten Jahrhundert vor Christus bis zum 5. Jahrhundert nach Christus - ist keine zuverlässige Biographie, sondern wird in der Forschung meist als Schelmenroman oder auch als Volksbuch bezeichnet. Dass sie nicht als biographische Quelle betrachtet werden kann, ergibt sich schon daraus, dass Teile der Vita einem im 5. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Roman über einen assyrischen Hofbeamten mit dem Namen Achikar entnommen sind. Auch Übernahmen aus anderen Texten, die sich auf Persönlichkeiten beziehen, sind in den Äsoproman eingegangen. Er hat trotz - oder vielleicht auch wegen - seines fiktionalen, romanhaften Charakters das Bild, das man sich vom Autor und vermeintlichen Begründer der Fabeln macht, über die Jahrhunderte geprägt. Äsop, so wird im Roman erzählt, erhält von der Göttin Isis die Sprechfähigkeit und von den Musen besondere Wortgewandtheit. Er dient auf der Insel Samos dem Philosophen Xanthos und wird dann freigelassen. Äsop geht nach Babylon zum König, dann zum König von Ägypten, dann wieder nach Griechenland, wo er als Wanderredner und Fabelerzähler tätig ist. In Delphi beleidigt er die dortigen Bewohner, die ihn verurteilen und ihn von einem Felsen hinunterstürzen. In der Vita finden sich auch einige Fabeln, die Äsop erzählt haben soll, z.B. den Männern von Delphi, um ihnen ihr frevelhaftes Tun deutlich zu machen: Ein Bauer, der auf dem Lande alt geworden war und noch nie die Stadt gesehen hatte, bat seine Söhne, ihm zu ermöglichen, bei Lebzeiten einmal die Stadt zu sehen. Die Seinen spannten junge Esel vor einen Wagen und sagten: „Fahr nur los, sie werden dich schon in die Stadt bringen.“ Unterwegs aber erhob sich ein Sturm, Finsternis brach herein, die Esel kamen vom Wege ab und gerieten in abschüssiges Gelände. In dieser Gefahr klagte der alte Bauer: „Zeus, welches Unrecht habe ich dir zugefügt, daß ich so zugrunde gehen muß, und nicht einmal durch Pferde, sondern durch diese elenden Esel? ! “ Ich erlebe jetzt dasselbe Unglück. Nicht von angesehenen Männern, sondern von nichtswürdigen Sklaven werde ich getötet! (Müller 1974: 130f.) III Gattungsgeschichte: Vom rhetorischen Mittel zur Literatur Die Geschichte der äsopischen Fabeln ist gattungsgeschichtlich besonders interessant, denn aus einem rhetorischen Mittel ist im Verlauf von Jahrhunderten eine literarische Gattung geworden. Diese Entwicklung soll im Folgenden in einem erneuten, problemorientierten Durchgang durch die Geschichte der Fabel nachgezeichnet werden. Die Fabel hat ursprünglich eine rhetorische Funktion erfüllt; sie wurde in Reden und auch innerhalb längerer literarischer Texte verwendet. Die rhetorische Funktion wird von Aristoteles (4. Jahrhundert v. Chr.) erläutert. Es gebe, so führt er aus, zwei Arten von Beweismitteln, nämlich das Beispiel und das rhetorische Schlussverfahren. Beim Beispiel ließen sich wiederum zwei Arten unterscheiden: Man könne von früher geschehenen Taten berichten oder man könne etwas Ähnliches erdichten, und zwar ein Gleichnis oder eine Fabel „wie die von Äsop“ (zit. nach Leibfried 1984: 9). Äsop Fabeln 13 Zur Veranschaulichung führt Aristoteles dann aus, wie Äsop zur Verteidigung eines angeklagten Volksführers eine Fabel vom Fuchs und dem Igel erzählt habe. Im Sinne von Aristoteles könnte heute ein Redner, der eine kritische Rede zur Finanzkrise hält, z.B. die folgende Fabel aus der Collectio Augustana erzählen: Die Frau und die Henne Eine Witwe hatte eine Henne, die jeden Tag ein Ei legte. Die Frau dachte nun, dass diese, wenn sie ihr mehr Futter gäbe, sogar zweimal am Tag legen würde. Aber es kam so, dass die Henne fett wurde und überhaupt kein Ei mehr legte. Die Fabel zeigt, dass die meisten Menschen aus Gier nach mehr sogar das, was sie haben, verlieren. (Äsop: 2005: 63) 4 Das abschließende Epimythion (auch als Lehre bezeichnet) stellt den Bezug zu einer möglichen Anwendungssituation her. In einer konkreten Situation ist ein Epimythion oft gar nicht nötig, weil sich der Sinn aus dem Kontext ergibt. Das Epimythion kann so als Folge davon betrachtet werden, dass Fabeln auch losgelöst von einem Kontext tradiert wurden. In älteren Sammlungen findet man oft auch statt eines Epimythions ein Promythion, das vor der erzählten Geschichte steht; dann ist von vornherein klar, worauf eine Fabel zielt. 5 Das erleichtert einem Redner, der eine passende Fabel braucht, die Suche. Die Dekontextualisierung und die damit verbundene Anfügung eines Epimythions ist ein erster Schritt zur Literarisierung der Fabel als einer eigenständigen Gattung. Zwar sind die ersten Fabelsammlungen wohl noch zum Gebrauch für Redner und Schriftsteller gemacht worden. Aber am Epimythion zeigt sich die Tendenz zu einer verallgemeinernden Abstraktion, die über eine bestimmte Gebrauchssituation hinausreicht. Das ist in der zitierten Fabel sehr deutlich daran erkennbar, dass sie etwas über „die meisten Menschen“ aussagt und nicht nur über einen bestimmten habgierigen Menschen, mit dem ein Redner, der die Fabel verwendet, im Streit liegt. Die Verallgemeinerung, die zunächst wohl vor allem dem flexiblen Einsatz von Fabeln in verschiedenen Gebrauchssituationen diente, führte zu der Auffassung, dass die Fabeln jeweils eine allgemeine Wahrheit zum Ausdruck brächten - eine Auffassung, die uns heute geläufig ist. Die Dekontextualisierung und die damit verbundene Literarisierung wurden auch dadurch unterstützt, dass die ursprünglich wohl vor allem mündlich verbreiteten Fabeln immer mehr auch schriftlich festgehalten wurden. Schon in der Antike wurden die Fabeln im Schulunterricht verwendet, als Übung zum Nacherzählen und Umformulieren, als Diktat oder beim Fremdsprachenlernen als Übersetzungsübung (Latein bzw. Griechisch). 6 Diese Verwendungsweise hat ih- 4 Übersetzungen der Augustana-Fabeln zitiere ich nach Äsop: Fabeln. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Niklas Holzberg. München 2008, sofern sie in dieser Auswahl enthalten sind. Es ist m.E. die beste Übersetzung. Fabeln, die in dieser Ausgabe nicht enthalten sind, zitiere ich nach Äsop: Fabeln. Griechisch/ Deutsch. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Voskuhl. Nachwort von Niklas Holzberg. Stuttgart 2005. 5 Zur Tradition von Pro- und Epimythion vgl. Adrados: History, S. 443ff. 6 Vgl. Holzberg: Fabel, S. 33ff. Kaspar H. Spinner 14 rerseits die Literarisierung befördert, weil die Fabeln dabei von ihrer ursprünglichen Funktion befreit wurden. Ein entscheidender weiterer Schritt zur Konstituierung der Fabel als einer eigenen literarischen Gattung war die Publikation von Fabelsammlungen in Versen. Die Fabulae Aesopiae von Phaedrus sind das älteste überlieferte Beispiel und es kann gut sein, dass er auch der erste war, der eine versifizierte Sammlung verfasste. Den Prolog seines ersten Fabelbuches beginnt er mit den Worten: „Aesopus fand als erster diesen Stoff: Den habe ich nun ausgeformt zum Versmaß des Senars [polivi versibus senariis]. Mein Büchlein bringt ein zweifaches Geschenk: Es soll Gelächter wecken und dem klugen Leser Lebenslehren geben“ (Phaedrus 2002: 15f.). Durch die Versform hat sich die Fabel endgültig von der nur dienenden rhetorischen Funktion gelöst. Es gibt allerdings Vorbilder versifizierter Fabeln in älteren Quellen, nämlich die Fabeln, die in längeren gereimten Dichtungen enthalten waren, z.B. bei Archilochos. 7 Interessant ist, dass Phaedrus in der Regel bei den Fabeln, bei denen er auf die Fabeltradition zurückgreift, ein Promythion, bei den selbst erfundenen ein Epimythion formuliert. Darin spiegelt sich der Übergang von der rhetorisch funktionalisierten zur literarischen Fabel, bei der der Erzählteil mehr Eigenwert bekommt: Der Blick des Lesers ist bei einer Fabel mit Epimythion nicht von vornherein durch den Anwendungsbezug gesteuert, wie das der Fall ist, wenn der Leser als erstes ein Promythion liest. Fabeln mit einem Epimythion enden zu lassen kommt vor allem auch dem Einsatz in Erziehung und Schule zugute. Wie die zitierten Sätze aus dem Prolog des Phädrus zeigen, geht es ihm darum, Lebenslehre zu vermitteln und Gelächter zu erzeugen. In der Vorrede zum zweiten Buch spricht er in ähnlicher Weise von der Doppelfunktion der Fabeln, „Irrtum bei den Menschen zu beseitigen“, aber auch „Spaß [iocus]“ (Phaedrus 2002: 54f.) zu machen. Das erinnert an die berühmte, auf Horaz zurückgehende Formel vom „prodesse“ und „delectare“ (nützen und erfreuen). In welcher Weise Phaedrus moralisiert, lässt sich gut an der bekannten Fabel vom Wolf und dem Lamm, der ersten Fabel in seiner Sammlung, zeigen (Phaedrus 2002: 16). 8 So nennt er den Wolf einen „Räuber“ („latro“), während in der Augustana-Fassung, die wohl der älteren Fabeltradition vor Phaedrus näher steht, 9 eine solche Kennzeichnung fehlt. Noch deutlicher wird die moralische Verurteilung bei Phaedrus, wenn er den Erzählteil seiner Fabel enden lässt mit den Worten „lacerat iniusta nece“ („zerfleischt es in ungerechtem Mord“, eigene Übersetzung 10 ), während in der Augustana-Fassung die Tötung gar nicht erzählt wird, sondern nur durch die Äußerung des Wolfes „Wenn du auch immer Entschuldigungen hast, soll ich dich deshalb nicht auffressen? “ (Äsop 2005: 7 Zur Tradition von Fabeln in Versen vgl. Adrados: History S. 242ff. 8 Vgl dazu Holzberg: Fabel, S. 52 und Nøjgaard, Morten: La fable antique. Tome Deux. Les grands fabulistes. København 1967. S. 12-14. 9 Vgl. Adrados, Francisco Rodríguez: History of the Graeco Latin fable. Vol. 1. Introduction and from the origins to the Hellenistic age. Leiden, Boston, Köln 1999, S. 161. 10 Oberg in Phaedrus: Fabeln. Lateinisch-deutsch. Hg. und übersetzt v. Eberhard Oberg. Düsseldorf, Zürich 2002, S. 17 übersetzt „zerreißt es mordend ungerecht“. Äsop Fabeln 15 151) angekündigt wird. Deutlich wird der Unterschied dann auch im Epimythion. Bei Phädrus lautet es: „Die Fabel ist für solche Menschen geschrieben, die mit erfundenen Gründen Unschuldige unterdrücken“ (eigene Übersetzung, „[…] qui fictis causis innocentes opprimunt“); in der Augustana-Fassung heißt es jedoch: „Die Fabel zeigt, dass bei denen, die den Vorsatz haben, Unrecht zu tun, auch eine triftige Rechtfertigung nichts ausrichten kann“ (Äsop 2008: 63). Das ist nicht, wie bei Phaedrus, eine Kritik der Willkür der Mächtigen, sondern ein Rat, dass man den Mächtigen besser ausweicht und nicht versucht, gegen sie zu argumentieren. Bei der bekannten Fabel vom Raben und dem Fuchs wird ebenfalls die moralisierende Intention von Phädrus deutlich, wenn er als Promythion formuliert: „Wer an hinterhältigen Lobsprüchen Gefallen findet, büßt in der Regel durch schmachvolle Reue“, während in der Augustana-Fassung das Epimythion einfach lautet: „Die Fabel passt gut zu einem Mann ohne Verstand“ (Äsop 2008: 53). Um auch den stilistisch-literarischen Anspruch zu verdeutlichen, sei die ganze Fabel von Phaedrus zitiert: Qui se laudari gaudet verbis subdolis, Fere dat poenas turpi paenitentia. Cum de fenestra corvus raptum caseum Comesse vellet, celsa residens arbore, Vulpes hunc vidit, deinde sic coepit loqui: „O qui tuarum, corve, pennarum est nitor! Quantum decoris corpore et vultu geris! Si vocem haberes, nulla prior ales foret“. At ille stultus, dum vult vocem ostendere, Emisit ore caseum, quem celeriter Dolosa vulpes avidis rapuit dentibus. Tunc demum ingemuit corvi deceptus stupor. (Phaedrus 2002: 30ff.) Wer an hinterhältigen Lobsprüchen Gefallen findet, büßt in der Regel durch schmachvolle Reue. Als der Rabe einen Käse, den er stahl von einem Fensterbrett, verzehren wollte, setzte er sich hoch auf einen Baum. Dort sah er Fuchs ihn und fing an mit ihm zu reden: „Hei, welchen Glanz hat dein Gefieder, Rabe! Wie schön dein Körper und dein Antlitz! Wenn du auch noch Stimme hättest, wäre dir kein Vogel überlegen.“ Nein, dieser Dummkopf! Wollte seine Stimme zeigen - Und ließ den Käse aus dem Schnabel fallen! Und der Fuchs, der listenreiche, fing ihn schnell mit seinen Zähnen gierig auf. Nun endlich stöhnte - nasgeführt - des Raben Blödigkeit. (Phaedrus 2002: 31ff.) Vulpus et corvus Rabe, Fuchs und Käse Kaspar H. Spinner 16 Die schmeichlerischen Worte des Fuchses werden von Phaedrus ausdrucksstark in direkter Rede wiedergegeben: „O qui tuarum, corve, pennarum est nitor! “, während es in der Augustana-Fassung heißt: „lobte ihn, wie groß und schön er sei, […]“ (Äsop 2008: 53). Die kunstvolle Gestaltung durch Phaedrus zeigt auch sehr schön der zweitletzte Vers: „Dolosa vulpes avidis rapuit dentibus.“ Zwei Kurzvokale in der Hebung bei „avidis“ und „rapuit“ verschaulichen die schnelle Raubaktion des Fuchses. 11 Trotz der Versform und der ausdrucksstarken stilistischen Gestaltung kommt es Phaedrus, wie er selbst sagt, auf „brevitas“ (Phaedrus 2002: 54), auf die Kürze der Fabel an. Dafür ist er schon in der Antike kritisiert worden. 12 Ob Kürze ein Widerspruch zur literarischen Qualität sei oder ob sie gerade zum besonderen Reiz der Gattung gehöre, ist über Jahrhunderte ein Streitpunkt in der Geschichte der Fabel gewesen. Ebenso ist die Frage, ob es angemessen sei, äsopische Fabeln in Versform zu formulieren, immer wieder kontrovers diskutiert worden. Noch La Fontaine rechtfertigt im Vorwort seiner Fabeln ausführlich sein Vorgehen, die Fabeln zu versifizieren. 13 Zur Literarisierung der Fabel durch Phaedrus gehört auch, dass er sich in seinen Fabelbüchern selbst als Autor sichtbar macht. Vor allem in Prologen und Epilogen zu seinen Fabelbüchern spricht er in Ich-Form über seine Intentionen und seinen literarischen Ehrgeiz. 14 Noch deutlicher als bei Phaedrus wird die literarische Intention in den Versfabeln von Babrios erkennbar. Das zeigt sich vor allem daran, dass die meisten seiner Fabeln keine explizite Lehre enthalten (in späteren Bearbeitungen wurde dann oft eine hinzugefügt) und dafür der erzählende Teil stärker ausbaut ist, so dass er manchmal „wie eine kunstvoll ausgearbeitete Kurzgeschichte“ (Holzberg 2012: 60) erscheint. Seinen literarischen Anspruch bei der Bearbeitung der Fabeln Äsops hebt er selbst hervor: „Jetzt aber biete ich sie in neuer poetischer Form [νέῃ μούσῃ] dar: ich schmücke den Mythiambos wie ein Streitroß mit goldenem Zaumzeug.“ (Grubmüller 1977: 56) Als Beispiel sei die Fabel vom Raben und dem Fuchs in der Fassung von Babrios in der Übersetzung zitiert; Babrios verwendet als Versmaß den Hinkiambus, bei dem die zweitletzte Silbe betont ist und so an die betonte drittletzte Silbe stößt: Ein Rabe hielt im Schnabel einst ein Stück Käse. Der schlaue Fuchs, der nach dem Käse sehr gierte, Betrog den Vogel, indem er so ihn anredet: „Schön ist dein Fittig und dein Auge scharf, Rabe, Dein Nacken prächtig; eine Adlersbrust zeigst du, Und jedes Thier muß deiner Fänge Kraft weichen. Und solch’ ein Vogel kann nicht schrein und muß stumm sein.“ Der Rabe, dessen eitles Herz das Lob aufbläht, Wirft aus dem Schnabel seinen Käse laut krächzend. 11 Vgl. Holzberg; Fabel, S. 48. 12 Vgl. Nøjgaard: Fable Tome Deux, S. 17. 13 Vgl. La Fontaine, Jean de: Fables. Choix de Fables integrales. Paris 1992, S. 13ff. 14 Vgl. Oberg, Eberhard: Phaedrus-Kommentar. Stuttgart 2000, S. 14ff. Äsop Fabeln 17 Der Schlaue nimmt ihn und mit Spöttermund ruft er: „So warst du doch bei Stimm’, und keineswegs sprachlos; Ja du hast Alles, Rabe; nur Verstand fehlt dir.“ (Babrius 1846: 37f.) Babrios psychologisiert stärker als Phaedrus. Formulierungen wie „schlaue“, „sehr gierte“, „betrog“, „eitles Herz das Lob aufbläht“ zeigen, wie er mehr Innensicht vermittelt. Auch arbeitet er Spott und Ironie in den Äußerungen des Fuchses heraus. Babrios wurde allerdings ebenso wie Phaedrus in der Antike und im Mittelalter als Dichter noch kaum geschätzt. Heute sieht das die Forschung anders; so sagt Holzberg in seiner Einführung in die antike Fabel, dass es Babrios um „eine von aktuellen Anspielungen freie und zugleich formschöne Poesie“ gegangen sei und dass seine Fabeln „zu den bedeutendsten Produkten der nachhellenistischen griechischen Dichtung“ (Holzberg 2012: 58) gehören. Wenn man die Geschichte der äsopischen Fabel chronologisch darstellen will, steht man vor der Entscheidung, ob man die Collectio Augustana vor oder nach Phaedrus und Babrios behandelt. In der Forschung ist sie lange Zeit als eine Sammlung überkommener Fabeln zu rhetorischen Zwecken betrachtet worden; so betrachtet, zeigt uns die Collectio, wie die Fabel vor ihrer Entwicklung zu einer literarischen Gattung ausgesehen hat, und entsprechend wäre sie vor Phaedrus und Babrios einzureihen. Inzwischen herrscht in der Forschung allerdings eine ganz andere Auffassung vor: Die Collectio Augustana wird als literarische Prosa eingeschätzt, die einem, freilich unbekannten, Autor zuzuschreiben sei. 15 Morten Nøjgaard, der die umfangreichste stilkritische Abhandlung zur Sammlung verfasst hat, sieht entsprechend in ihren Fabeln eine persönliche künstlerische Vorstellung, „une vision artistique personelle“ (Nøjgaard 1964: 134) verwirklicht und spricht vom „auteur“ (Autor) und einem „œuvre littéraire“ (literarischen Werk) (Nøjgaard 1964: 358). Ähnlich wie wir heute in den grimmschen Märchen die dichterische Leistung der Brüder sehen, erkennt Nøjgaard in den Fabeln der Collectio Augustana einen persönlichen Stilwillen. Deshalb ordne ich die Sammlung hier entsprechend ihrer Entstehungszeit nach Phaedrus und Babrios ein. Unserer heutigen Vorstellung, was eine typische Fabel sei, entsprechen nicht alle Texte der Collectio Augustana. So treten in ihr oft Menschen als Figuren auf. Ein amüsantes Beispiel ist die folgende Fabel: Der halb ergraute Mann und die zwei Hetären Ein halb ergrauter Mann hatte zwei Geliebte, von denen die eine jung, die andere alt war. Weil die, welche in vorgerücktem Alter stand, sich schämte, daß sie mit einem schlief, der jünger war als sie, zupfte sie ihm ständig, wenn er bei ihr war, seine schwarzen Haare aus. Die Jüngere aber, der es peinlich war, einen alten Mann als Liebhaber zu haben, zog ihm die grauen aus. So geschah es ihm, daß er, von beiden abwechselnd gezupft, ein Glatzkopf wurde. So ist Ungleichheit überall schädlich. (Äsop 2008: 24f.) 15 Zu dieser Diskussion vgl. Perry: Studies, S. 156ff. Kaspar H. Spinner 18 Solche Fabeln stützen die Annahme, dass hier nicht nur ein Beispiel für einen rhetorischen Zweck oder zur allgemeinen Belehrung erzählt wird, sondern dass die kleine Geschichte auch um des Vergnügens willen gelesen werden soll, und das heißt: als Literatur, die sich von der Funktionalisierung löst. Es gibt in der Collectio Augustana sogar einen expliziten Hinweis, dass Fabeln so verstanden werden können, nämlich in der Fabel vom Redner Demades: Als der Redner Demades einmal vor dem Volk in Athen sprach und die Leute ihm nicht viel Aufmerksamkeit schenkten, bat er sie um Erlaubnis, ihnen eine äsopische Fabel zu erzählen. Als sie es ihm gestatteten, begann er so: „Demeter, die Schwalbe und der Aal gingen denselben Weg. Als sie an einen Fluß kamen, flog die Schwalbe hinüber, der Aal aber tauchte unter.“ Und nach diesen Worten verstummte er. Als sie ihn fragten: „Was geschah nun mit Demeter? “, sagte er: „Sie zürnt euch, weil ihr die Staatsangelegenheiten unbeachtet laßt und in aller Ruhe eine äsopische Fabel anhört.“ So sind auch bei den Menschen diejenigen unvernünftig, die das Notwendige vernachlässigen, aber das, was ihnen Freude macht, vorziehen. (Äsop 2008: 33) Diese Fabel ist ein Zeugnis dafür, dass in der Zeit, als diese Fabel erfunden wurde, Fabeln auch einfach zum Spaß angehört wurden. Die Collectio Augustana könnte die erste Sammlung sein, in der die Fabeln in dieser Weise als literarische Texte gelesen wurden, ohne dass sie den Schmuck der Versifizierung brauchen. Dem Redner Demades scheint das nicht zu gefallen, und auch das Epimythion bezeichnet diejenigen, die das, was Freude macht, dem Notwendigen vorziehen, als unvernünftig. Dass hier das Anhören von Fabeln auf diese Weise kritisiert wird, lässt diese Fabel zu einem spielerischen Paradox werden. Es gibt in der Antike übrigens auch Hinweise, dass Fabeln zum Vergnügen bei Festessen vorgetragen und angehört wurden. 16 Im Mittelalter hat nicht die griechische Collectio Augustana, sondern der lateinische Romulus die Fabeltradition bestimmt und der Gattung zu literarischem Ansehen verholfen. Viele der mittelalterlichen Autoren haben die Fabeln in Verse gebracht und ihnen dadurch poetische Weihen verliehen. Anders ist dies bei Steinhöwel; er verstand sich nicht als Dichter, sondern als Herausgeber und Übersetzer. Das erklärt, warum er die deutsche Übersetzung der Fabeln in Prosa verfasste. Die Präsentation der Fabeln in einer prächtigen gedruckten Ausgabe und vor allem auch die Nutzung des neuen Mediums Buchdruck wirkt sich jedoch als verstärkte „Kontextlosigkeit bzw. -offenheit“ (Dicke 1994: 74) aus. Das gedruckte Buch ist für viele Leseweisen offen und stützt eine kontextenthobene literarische Rezeption. Trotz Steinhöwels Übersetzungen in Prosa dominierte bei den Dichtern der Neuzeit, die äsopische Fabeln schrieben, weiterhin die Versfabel. Zu hoher Kunst vervollkommnet sie Jean de La Fontaine. Kennzeichnend für ihn ist die Steigerung einer ironisierenden Psychologisierung. Dazu sei seine berühmteste Fabel zitiert: 16 Vgl. dazu Adrados: History, S. 246. Äsop Fabeln 19 Maître Corbeau, sur un arbre perché, Tenait en son bec un fromage. Maître Renard, par l’odeur alléché, Lui tint à peu près ce langage: „Hé! Bonjour, Monsieur du Corbeau, Que vous êtes joli! que vous me semblez beau! Sans mentir, si votre ramage Se rapporte à votre plumage, Vous êtes le phénix des hôtes de ces bois.“ À ces mots le Corbeau ne se sent pas de joie; Et pour montrer sa belle voix, Il ouvre un large bec, laisse tomber sa proie. Le Renard s’en saisit, et dit: “Mon bon Monsieur, Apprenez que tout flatteur Vit aux dépens de celui qui l’écoute: Cette leçon vaut bien un fromage, sans doute.” Le Corbeau, honteux et confus, Jura, mais un peu tard, qu’on ne l’y prendrait plus. (La Fontaine 1992: 28) Im Schnabel einen Käse haltend, hockt auf einem Baumast Meister Rabe. Von dieses Käses Duft herbeigelockt, spricht Meister Fuchs, der schlaue Knabe: „Ah! Herr von Rabe, guten Tag! Wie nett Ihr seid und von wie feinem Schlag! Entspricht dem glänzenden Gefieder Nun auch der Wohlklang Eurer Lieder, dann seid der Phönix Ihr in diesem Waldrevier.“ Dem Raben hüpft das Herz vor Lust. Der Stimme Zier Zu künden, tut mit stolzem Sinn Er weit den Schnabel auf; da - fällt der Käse hin. Der Fuchs nimmt ihn und spricht: „Mein Freundchen, denkt an mich! Ein jeder Schmeichler mästet sich Vom Fette des, der willig auf ihn hört. Die Lehr’ ist zweifellos wohl einen Käse wert! “ Der Rabe, scham- und reuevoll, schwört - etwas spät -, daß ihn niemand mehr fangen soll. (La Fontaine 1979: 6) Die für La Fontaine typische Psychologisierung wird vor allem deutlich im Vers 10 „Ne se sent pas de joie“ und im zweitletzten Vers in der Formulierung „honteux et confus“ („ist ganz außer sich vor Freude“ und „beschämt und peinlich berührt“ wären, im Vergleich zur zitierten deutschen Fassung der Fabel, die genauere Übersetzung). Eine Rückbesinnung auf die Prosafabel veranlasste Lessing mit seinen Fabeln, die er zusammen mit Abhandlungen über die Fabel veröffentlichte. Mit Worten wie den Le Corbeau et le Renard Der Rabe und der Fuchs Kaspar H. Spinner 20 folgenden kritisierte er die ausschmückenden Fabeln, die zu seiner Zeit verbreitet waren: „Ich hatte die alten und neuen Fabulisten so ziemlich alle, und die besten von ihnen mehr als einmal gelesen. […] Ich hatte mich oft gewundert, daß die gerade auf die Wahrheit führende Bahn des Aesopus, von den Neuern, für die blumenreichern Abwege der schwatzhaften Gabe zu erzählen, so sehr verlassen werde“. (Lessing 1970: 7f.) Ihm kam es auf „Präzision und Kürze“ (Lessing 1970: 131) an. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass mit Lessing die knappe Prosafabel endgültig den Status anerkannter Literatur gewonnen hat. Die tradierten Fabeln hat er geistreich abgewandelt; in seiner Fabel vom Raben und dem Fuchs trägt der Rabe „ein Stück vergiftetes Fleisch“ in seinen Klauen, so dass der Fuchs, als er es frisst, „verreckte“ (Lessing 1970: 34f.). Das Epimythion lautet: „Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler! “ Lessings Fabel ist allerdings nicht kürzer als die von La Fontaine; seinem eigenen Anspruch der Kürze, den er in seinen theoretischen Äußerungen vorträgt, ist er in dieser Fabel nicht wirklich gerecht geworden. Durch Lessing ist auch die Auffassung geprägt worden, dass die Fabel keine Gefühle wiedergeben und so auch beim Leser keine Empathie mit ihren Figuren erzeugen soll. Lessing vertritt eine dezidiert verstandes- und vernunftorientierte Auffassung von der Fabel. Er schreibt: „Nichts verdunkelt unsere Erkenntnis mehr als die Leidenschaften [heute würden wir sagen: Gefühle]. Folglich muß der Fabulist die Erregung der Leidenschaften soviel als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders z.B. die Erregung des Mitleids vermeiden, als wenn er die Gegenstände desselben unvollkommener macht und anstatt der Menschen Tiere oder noch geringere Geschöpfe annimmt? “ (Lessing 1970: 115) Ganz anders als in seinen theoretischen Äußerungen zum Drama schreibt er, wie man hier sieht, der Fabel keine mitleiderregende Wirkung zu; deshalb verwende sie Tiere als Figuren, mit denen man nicht wie mit Menschen zum Mitleid angeregt werde. IV Zum Stil der Augustana-Fabeln Die brevitas, also die knappe Erzählweise, gilt als ein Charakteristikum der äsopischen Fabel. Das kennzeichnet die versifizierten Fabeln von Phaedrus, die die Fabeltradition so nachhaltig bestimmt haben, ebenso wie die Prosafabeln der Collectio Augustana. Bei diesen kann man zusätzlich von Schlichtheit sprechen. 17 Besonders deutlich treten diese Stilmerkmale in der folgenden Fabel in Erscheinung, die hier in der Übersetzung und in der griechischen Fassung wiedergegeben wird: Das Zicklein, das auf dem Haus steht, und der Wolf Ein Zicklein stand auf einem Haus und beschimpfte einen vorbeigehenden Wolf. Der aber sagte zu ihm: „Nicht du beschimpfst mich, sondern der Ort.“ Die Fabel zeigt, daß günstige Gelegenheiten Mut gegenüber Stärkeren machen. (Äsop 2008: 46) 17 Zur stilistischen Analyse der Augustana-Fabeln vgl. Nøjgaard, Morten: La fable antique. Tome Premier. La fable grecque avant Phèdre. København 1964. Äsop Fabeln 21 Ἔριφος ἐπὶ δώματος ἑστὼς καὶ λύκος Ἔριφος ἐπὶ τινος δώματος ἑστὼς λύκον παριόντα ἐλοιδόρει. ὁ δὲ ἔφη πρὸς αὐτόν „οὐ σύ με λοιδορεῖς, ἀλλ’ ὁ τόπος.“ Ὁ λὁγος δηλοῖ ὅτι οἱ καιροὶ διδόασι κατά τῶν ἀμεινόνων θράσος. (Äsop 2005: 100f.) Die Gegenüberstellung von Übersetzung und Originaltext ist deshalb interessant, weil der Vergleich zeigt, dass der griechische Text mit weniger Wörtern auskommt, so dass das Charakteristikum der brevitas deutlicher zum Ausdruck kommt. Im Einzelnen geht es dabei um folgende Formulierungen: - Im Griechischen werden Artikel seltener gesetzt. Für den Übersetzer stellt sich die Frage, ob eine Formulierung ohne oder mit unbestimmtem oder mit bestimmtem Artikel jeweils angemessen ist. Das Zicklein wird im griechischen Text ohne Artikel ( ὁ ) genannt. Der Übersetzer wählt in der Überschrift den bestimmten, am Anfang des Textes den unbestimmten Artikel. Die artikellose Formulierung im Originaltext unterstützt die brevitas und wirkt wie ein Eigenname. Das entspricht der Typisierung der Tiere, die für die Fabel kennzeichnend ist. - In der Übersetzung ist z.T. ein verdeutlichendes Adjektiv zur Wiedergabe einer Substantivbedeutung nötig: „günstige Gelegenheiten“ für καιροὶ . - Das Griechische verwendet häufiger Partizipialkonstruktionen: Ἔριφος ἐπὶ δώματος ἑστὼς im Titel ist mit einem Relativsatz übersetzt: „Zicklein, das auf einem Haus steht“. Manchmal geraten Übersetzungen noch deutlich länger. In der zweisprachigen Reclamausgabe sind die drei Wörter λύκον παριόντα ἐλοιδόρει mit neun Wörtern übersetzt: „und machte sich über einen Wolf lustig, der vorbeiging“. (Äsop 2005: 100f.) Die Fabel zeigt weitere Merkmale, die generell für die Fabel als Gattung und besonders für die Collectio Augustana gelten: Die Handlung ist linear erzählt, es herrscht Einheit des Ortes, wobei dieser abstrakt bleibt, es gilt das Gesetz der zwei einzelnen Figuren, die jeweils auf eine einzige Eigenschaft reduziert sind. Die Fabel beginnt mit der Nennung der Gegebenheit und Situation, es folgt die Konfliktdarstellung mit der actio (meist eine indirekte Rede der einen Figur) und dann der reactio in direkter Rede der anderen Figur. Mit dem Höhepunkt endet der erzählende Teil der Fabel; es folgt das Epimythion. Zu nennen ist ferner die Unerbittlichkeit des Geschehens: Reaktionen der Figuren können nicht rückgängig gemacht werden. Realistisch ist der erzählende Teil nicht, er will ja auch nicht tatsächliche Tiere vorstellen; aber es handelt sich auch nicht um erstaunlich Wunderbares. Dass die Tiere in der Fabel reden können, wird vom Leser hingenommen. Der Verzicht auf Realistik unterstützt die Konzentration auf die Handlung. Ein Wirklichkeitsbezug ergibt sich durch die parabolische Bedeutung, die im Epimythion expliziert wird. Auf ausschmückende Beschreibung und auf Metaphorik verzichtet die Fabel. Kaspar H. Spinner 22 V Moral oder Lehre - moralische Lehre? Die im Zuge der Gattungsgeschichte erfolgte Loslösung von der rhetorischen Einbindung und dem direkten Bezug auf eine bestimmte Situation hat der Fabel die Funktion zukommen lassen, allgemeine Einsichten in menschliches Verhalten und moralische Anweisung zu vermitteln. Das ist etwa deutlich bei Steinhöwel, der in der Vorrede zu seiner Fabelsammlung dem Leser anempfiehlt, den Fabeln „die guoten lere“ (zit. nach Dicke 1994: 27) zu entnehmen, und der sich in den Pro- und Epimythia ausgesprochen lehrhaft gibt, wie die häufigen Soll-Formulierungen zeigen, z.B. „Welcher natürlich bös ist, dem sol man nit barmherczig syn.“ (zit. nach Dicke 1994: 111) Auch Lessings berühmte Fabeldefinition ist hier zu nennen: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel.“ (Lessing 1970: 104) Diese Definition scheint die verbreitete Auffassung zu unterstützen, dass es in Fabeln grundsätzlich um die Vermittlung einer moralischen Lehre im ethischen Sinn gehe. Für die Collectio Augustana gilt das allerdings nicht. Ihre Fabeln verkünden nicht moralische Grundsätze, sie kritisieren auch nicht verwerfliches Verhalten, sondern sie zeigen, wie es so zugeht im Zusammenleben der Menschen. Die Fabel ist, wie es Blackham in einer Studie zur Fabel nennt, „more descriptive than prescriptive“ (Blackham 1985: 252). In einer ausführlichen Studie zur Ethik in dieser Sammlung hat Zafiropoulos (Zafiropoulos 2001) gezeigt, dass praktisches, individuelles Interesse ohne Bezug auf allgemeine moralische Normen in den Fabeln gezeigt wird. Es geht nicht um tugendhaftes Handeln, sondern darum, sich vorsichtig zu verhalten und überlegt zu handeln und gegebenenfalls auch die Grenzen, die einem gesetzt sind, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit einem Stärkeren, einzusehen. Wenn sich der Fuchs in der Fabel vom Fuchs, der seinen Bauch überfüllt hat (Äsop 2008: 22) in einer Baumhöhle am Proviant eines Hirten so vollfrisst, dass er nicht mehr hinaus kommt, und ein anderer hinzukommender Fuchs zu ihm sagt, er müsse nur warten, bis er wieder dünn geworden sei, dann lautet die Lehre nicht etwa, dass man jemand anderem den Proviant nicht wegfressen soll oder dass die Fressgier ein Laster sei, sondern einfach: „Die Fabel zeigt, daß die Zeit Schwierigkeiten beseitigt.“ (Äsop 2008: 22) Im Sinne der Moraltheorie von Lawrence Kohlberg (Kohlberg 1974) kann man die Fabeln der Collectio Augustana der präkonventionellen Stufe des moralischen Urteils zuordnen, bei der das Handeln noch nicht nach moralischen Normen oder ethischen Maßstäben beurteilt wird, sondern nach den Folgen, die es für das Individuum hat. Es sind ausgesprochen utilitarische Lebenslehren und Verhaltensmaximen, die in den Fabeln veranschaulicht werden. Die Lehre ist nicht: So sollst du dich nach moralischen Grundsätzen verhalten, sondern: So ist die Welt, so sind die Menschen, nimm dich deshalb in Acht. Die Fabeln zeigen, wie man sich dumm oder schlau verhalten kann und wie es manchmal auch gar keine Lösung gibt. Besonders typisch für die lebenspraktische Ausrichtung der Collectio Augustana ist die Fabel von der Fledermaus und den Katzen (statt „Katzen“ steht in Äsop Fabeln 23 manchen Übersetzungen „Wiesel“, das griechische Wort γαλαϊ kann Katzen oder Wiesel bedeuten): Die Fledermaus und die Katzen Eine Fledermaus fiel auf die Erde und wurde von einer Katze gepackt. Als sie schon gefressen werden sollte, bat sie um Schonung. Die aber sagte, sie könne sie nicht freilassen, denn sie führe von Natur aus Krieg gegen alle Vögel, und da sagte die Fledermaus, sie sei kein Vogel, sondern eine Maus, und so wurde sie freigelassen. Später aber fiel sie wieder auf die Erde, wurde von einer anderen Katze gepackt und bat, diese möge sie laufenlassen. Als die aber sagte, sie sei allen Mäusen feind, sagte sie, daß sie keine Maus, sondern eine Fledermaus sei, und wurde wieder freigelassen. So geschah es ihr, daß sie zweimal den Namen änderte und dadurch ihr Leben rettete. Doch auch wir dürfen nicht immer bei denselben Dingen bleiben, sondern müssen bedenken, daß diejenigen, die sich den Gegebenheiten anpassen, oft auch den schweren Gefahren entrinnen. (Äsop 2008: 69) Besonders moralisch ist die Lehre dieser Fabel nicht; es geht hier darum, wie man unbeschadet durchs Leben kommen kann. Das widerspricht übrigens nicht der oben zitierten Fabeldefinition von Lessing; denn das Adjektiv „moralisch“ hatte zu Lessings Zeiten eine weiter gefasste Bedeutung als heute. Mit dem Substantiv „mores“ sind Sitten, Gewohnheiten und Verhaltenweisen von Menschen gemeint. 18 Die Fabeln zeigen solche mores, gute und schlechte, sie öffnen die Augen dafür, wie Menschen sich verhalten. Dabei kann es, aber muss es nicht um ethisch-moralische Maßstäbe gehen. Auch die vor allem in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Forschung verbreitete Auffassung, Fabeln würden grundsätzlich Herrscherkritik vermitteln, gilt keineswegs allgemein, insbesondere nicht für die Fabeln der Collectio Augustana. Wenn man die Geschichte der Fabel als eine Entwicklung vom rhetorischen Mittel zur Literatur begreift, dann heißt das auch, dass der Erzählteil an Eigenwert gewinnt. Wenn man, wie das im Schulunterricht oft geschieht, nur auf die Lehre blickt, missachtet man die literarische Qualität der äsopischen Fabel. Das Literarische des Erzählteils besteht in seiner Anschaulichkeit und der dadurch bewirkten Imagination des Lesers, in der kunstvollen Knappheit der Sprache und in der Ausrichtung auf eine Pointe am Schluss. Lessing sprach von der „anschauende[n] Erkenntnis“ (Lessing 1970: 86), die die Fabel vermittle; eine parabolische Übersetzung ist dafür nicht unbedingt nötig. Die Wirkung der Fabel besteht vielmehr darin, dass der Leser einen direkten Bezug zur Erfahrungswelt herstellt. Wenn wir die Fabeln der Collectio Augustana als pointierte, anschauliche, vergnügliche Geschichten, eben als kleine literarische Kunstwerke lesen, die, durch die Tierfiguren verfremdet und doch alltägliche Situationen ansprechend, bei uns kleine Aha-Effekte im Sinne von „ja, genau so ist es“ auslösen, dann ist dies wohl der Zugang zu den Fabeln, der unserer Zeit ange- 18 Vgl. z.B. Koopmann, Helmut: „Lessing: Das Allgemeine im Besonderen. Aufklärung als Denkfigur und Fabeltheorie“. In: Elm, Theo u. Peter Hasubek (Hg.): Fabel und Parabel. Kulturgeschichtliche Prozesse im 18. Jahrhundert. München 1994, S. 52-63. Er übersetzt Lessings „moralisch“ mit „menschlich“ (S. 67). Kaspar H. Spinner 24 messen und der zugleich das Ergebnis eines über die Jahrhunderte sich hinziehenden Prozesses der Literarisierung eines ehemals zweckorientierten rhetorischen Mittels ist. VI Schluss Abschließend sei die Frage gestellt: Welche Texte sind denn nun als Fabeln des Äsop zu bezeichnen? Zu dieser Frage gibt es mehrere Antworten. - Ganz unreflektiert geht man, wenn man sich nicht weiter um die Überlieferungsgeschichte kümmert, davon aus, dass es das sei, was in Ausgaben zu Fabeln des Äsop enthalten ist, selbst wenn man weiß, dass es nicht einmal sicher ist, ob es Äsop wirklich gegeben hat. - Die Wissenschaft fragt nach den Quellen, also im Wesentlichen nach den Handschriften. Hinter ihnen steht eine mehrere Jahrhunderte lange Überlieferungsgeschichte, die die Forschung zu vielen Rekonstruktionsversuchen veranlasst hat. Welche Überarbeitungen haben im Laufe der Zeit stattgefunden, was geht auf Abschreibfehler der Schreiber zurück, aus welchen Quellen schöpfen die verschiedenen Handschriften - das sind Fragen, mit denen sich die Forschung abmüht. Ein allgemeines Kriterium dafür, wann man eine Fabel als Fabel Äsops bezeichnen soll, gibt es nicht. - Die quellenkritische Sichtweise kann zur Schlussfolgerung gelangen, dass es sinnvoll ist, die überlieferten Fabeln der Collectio Augustana als Fabeln des Äsop zu bezeichnen. So verfahren heutige Fabel-Ausgaben in der Regel. - Eine strenge Antwort auf die Frage würde vom Archetyp der Collectio Augustana sprechen; damit ist die supponierte Originalfassung der Sammlung des 2./ 3.Jahrhunderts gemeint. Mehrere hundert Jahre Überlieferungsgeschichte bis zur ersten erhaltenen Handschrift der Sammlung machen deutlich, dass es keine Sicherheit gibt, welchen Fabelbestand die Collectio Augustana ursprünglich tatsächlich enthielt. - Man kann unter der äsopischen Fabel auch den Prototyp verstehen, der sich im kulturellen Bewusstsein herausgebildet hat. Prototypisch ist z.B., dass die Fabel Tierfiguren enthält. Dem entsprechen keineswegs alle Fabeln der Collectio Augustana. Bei der Romulus-Sammlung ist das dagegen der Fall. Diese lateinische Fabeltradition hat die Fabelliteratur in Europa viel mehr beeinflusst als die griechische, für die die Collectio Augustana die wichtigste Quelle ist. - Schon Phaedrus trifft die Unterscheidung von Fabeln des Äsop (fabulae Aesopi) und äsopischen Fabeln (fabulae Aesopiae). Die Bezeichnung fabulae Aesopi bezieht sich auf Fabeln, die Phaedrus der Tradition entnommen hat, die fabulae Aesopiae hat er selbst erdichtet. Die Unterscheidung ist vielfach aufgegriffen worden und scheint Klarheit zu schaffen: Die Fabeln des Äsop wären die Fabeln, die wir dem Äsop zuschreiben, die äsopischen Fa- Äsop Fabeln 25 beln diejenigen, die andere Autoren im Stil des Äsop erfunden haben. In diesem Sinne habe ich mich auch oben jeweils für den einen oder anderen Begriff entschieden. Aber da man bei keiner einzigen Fabel wissen kann, ob sie wirklich von Äsop stammt, ist die Unterscheidung doch nicht eindeutig. Man müsste präzisieren, dass man unter Fabeln des Äsop im Unterschied zu äsopischen Fabeln diejenigen Fabeln versteht, von denen man vermutet, dass sie auf den Fabeldichter Äsop zurückgehen könnten - wenn dieser denn überhaupt existiert hat. Wie man sieht: Je exakter die Forschung ist, desto komplizierter und hypothetischer wird die Antwort auf die Frage, was man als Fabel des Äsop bezeichnen kann. Der Freude an der Fabel, die über viele Jahrhunderte lebendig gewesen ist, muss das keinen Abbruch tun. 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Der Leser eines Sammelbandes mit dem Titel Große Werke der Literatur erwartet genau dies: Interpretationen großer Werke der Literatur. Als Beiträger zu einem solchen Band eine Novelle auszuwählen, die gattungstypisch ja ein eher kleines Werk darstellt, steht dazu allerdings nur scheinbar im Widerspruch, denn die Rede von der „Größe“ der Literatur meint ja nicht den quantitativen Umfang von Texten, sondern soll vielmehr einen qualitativen Maßstab bezeichnen und kanonisch gewordener, als literatur- und kulturgeschichtlich besonders werthaltig und bedeutend geltende Texte aus der Masse des Gedruckten herausheben. Dass der spanische Schriftsteller Miguel de Cervantes an sich ein bedeutender Autor ist, der nicht nur für die spanische Literaturgeschichte überaus wichtig ist, sondern auch für die Geschichte der Weltliteratur, wird niemand ernsthaft bestreiten. Genauso unstrittig ist aber auch, dass als das eigentlich ‚große‘ Werk dieses Autors der Don Quijote gilt - mit guten Gründen, wie Thomas Scheerer in einer luziden Interpretation bereits im ersten Band dieser Reihe zu Großen Werken der Literatur gezeigt hat. 1 Die übrige Textproduktion verblasst daneben. Das gilt auch für die Sammlung der Novelas ejemplares, die Cervantes 1613 publizierte und die insgesamt zwölf Kurzgeschichten enthält - zählt man die Doppelnovelle Die trügerische Heirat (El casamiento engañoso) und Das Zwiegespräch der Hunde (El Coloquio de los perros) als zwei Einheiten. Bedeutend geworden ist die Novellensammlung als ganze für den weiteren Verlauf der Gattungsentwicklung in Spanien. Das zeigt sich bereits an der Kontinuität, mit der man nach Cervantes in weiteren Sammlungen in Spanien meist das Adjektiv „ejemplar“ beibehielt und so die lehrhaft-exemplarische Dimension der Novellistik ausstellte - angefangen von Juan Pérez de Montalbán, der seine Vorfälle und Wunder der Liebe (Sucessos y prodigios de amor, 1626) im Untertitel in deutlichen Anklang an Cervantes näher als „ocho novelas 1 Thomas Scheerer: „Miguel de Cervantes: ‘Don Quijote’”. In: Geppert, Hans Vilmar, (Hg.): Große Werke der Literatur. Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg. Augsburg 1990, S. 69-86. Hanno Ehrlicher 28 exemplares“ bestimmt, bis hin zu María de Zayas y Sotomayor, die den ersten Band ihrer Sammlung von Liebesnovellen Novelas amorosas y ejemplares (1637) nannte. Außerhalb Spaniens wurde die Novellensammlung von Cervantes allerdings lange Zeit gar nicht als Einheit betrachtet (die Einheitlichkeit der Sammlung als ein konzeptionell geschlossenes Ganzes ist in der Forschung übrigens bis heute sehr umstritten). 2 In anderen Kulturkreisen wurden oft nur einzelne Texte daraus rezipiert. Die erste deutschsprachige Übertragung der Novelle Rinconete y Cortadillo, die 1617 unter dem Titel „Historia von Issac Winckelfelder und Jobst von der Schneidt“ erschien und - wie zu zeigen sein wird - alles andere als eine simple Übersetzung ist, belegt diesen Sachverhalt beispielhaft. Aufgrund dieser Tatsache könnte man nun entweder schlussfolgern, dass die Novelas ejemplares anders als der Don Quijote eben gar kein wirkliches ‚Werk‘ der Weltliteratur sind. Oder man kommt umgekehrt zur Auffassung - und dies ist der Weg, der im Weiteren beschritten werden soll -, dass die Kategorie des Werkes, die für den alltäglichen Umgang mit der Literatur in der Moderne bis heute prägend ist, zu hinterfragen ist, zumindest was die Literatur der Frühen Neuzeit betrifft, die noch sehr grundsätzlich und in einem ganz materiellen Sinne von der Mobilität der Texte gekennzeichnet war. II Vom Werk zum Text: Anmerkungen zur frühneuzeitlichen Mobilität der Literatur Aus einem bestimmten Blickwinkel, nämlich vom Standpunkt der sogenannten ‚Postmoderne‘ aus, ist der Werkbegriff schon längst in Frage gestellt worden. 1971 veröffentlichte der französische Zeichentheoretiker Roland Barthes einen Aufsatz in der Revue d’Esthetique, der Furore machen sollte und der inzwischen zum kanonischen Bestandteil moderner literaturwissenschaftlicher Text-Theorie geworden ist: De l’oeuvre au texte - Vom Werk zum Text. Schon die dabei vollzogene schroffe Entgegensetzung der Begriffe ‚Werk‘ und ‚Text‘ richtete sich gegen die geltende Üblichkeiten der Sprachverwendung, nach der beide Begriffe im Grunde synonym gebraucht werden, da Text und Werk in einer materiell begründeten metonymischen Nähe stehen. So lesen wir etwa zeitgleich in der fünften Auflage des Sachwörterbuchs der Literatur von Gero von Wilpert, der in diesem Zusammenhang als ein typischer Repräsentant der Literaturwissenschaft vor der Wende des Strukturalismus und des Poststrukturalismus gelten darf, zum Eintrag ‚Text‘: Grundlage der Literaturwissenschaft ist der genaue Wortlaut eines Werkes oder dessen Teile, auch der inhaltliche Hauptteil einer Schrift im Gegensatz zu Anmerkungen, Registern, Illustrationen und sonstigen Beigaben [...] Im heutigen Literatenjargon gleichbedeutend mit „Werk“ 3 . 2 Einen Einblick in die neuere Forschungslage geben u.a. Stephen Boyd (Hg.): A Companion to Cervantes’s ‚Novelas ejemplares‘. Woodbridge u.a. 2005, sowie Hanno Ehrlicher und Gerhard Poppenberg (Hg.): Cervantes’ ‚Novelas ejemplares‘ im Streitfeld der Interpretationen. Exemplarische Einführungen in die spanische Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin 2006. 3 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Erweiterte 5. Auflage. Stuttgart 1969, S. 773. Miguel de Cervantes’ Rinconete y Cortadillo (1613) 29 Entsprechend wird dann auch noch in der sechsten Auflage von 1979 ‚werkimmanent‘ (ein eigener Eintrag zum Lemma ‚Werk‘ ist nicht vorhanden) schlicht mit „textimmanent gleichgesetzt“. 4 Roland Barthes seinerseits trennte gegen diesen üblichen Sprachgebrauch beide Begriffe scharf voneinander, indem er einen vollkommen entmaterialisierten, rein semiotischen Textbegriff propagiert und ihn von der statischen Materialität des Werkes absetzt: Der Unterschied besteht darin: das Werk ist ein Bruchstück Substanz, es nimmt einen Teil innerhalb des Raums der Bücher ein (zum Beispiel in einer Bibliothek). Der ‚Text‘ hingegen ist ein methodologisches Feld. [...] das Werk ruht in der Hand, der Text ruht in der Sprache: er existiert nur innerhalb eines Diskurses [...] der ‚Text‘ ist nicht die Zersetzung des Werks, sondern das Werk ist der imaginäre Schweif des ‚Textes‘. Oder: der Text erweist sich nur in einer Arbeit, einer Produktion. Daraus folgt, daß der ‚Text‘ nicht enden kann (etwa auf dem Regal einer Bibliothek); seine konstitutive Bewegung ist die Durchquerung (er kann unter anderem das Werk, mehrere Werke, durchqueren). 5 Barthes trennt damit begrifflich, was als die Doppelnatur jedes Schrift-Textes verstanden werden kann: die materielle, an einen Überlieferungsträger gebundene und durch ihn fixierte Zeichenverknüpfung und den immateriellen semiotischen Gehalt der Zeichen, der durch jeden Zeichenbenutzer und seinen Rezeptionsvorgang neu bestimmt wird und deshalb, aufgrund der prinzipiellen Offenheit semiotischer Prozesse, nie einen endgültigen Zustand erreichen kann. Allerdings nimmt Barthes diese Trennung der Ebenen nicht neutral aus rein analytisch-deskriptiven Zwecken vor, sondern verfolgt mit ihr eine klar polemische Intention. Der Schritt vom Werk zum Text, den er selbst programmatisch fordert, soll keine Bewegung darstellen, die reversibel wäre und in der beide Durchgangsorte prinzipiell gleichwertige Alternativen böten, sondern ist dezidiert als eine Fortschrittsvision formuliert. Barthes scheut sich nicht, sogar von einer „gesellschaftlichen Utopie“ zu sprechen. 6 Um diese zu erreichen, kritisiert er nicht nur die Autorität des Autors, dessen ‚Tod‘ bereits zuvor im emblematischen Jahr 1968 proklamiert worden war, 7 sondern auch die damit einhergehende Fixierung aufs Werk. Der erwünschte Weg zur Utopie führt für den französischen Theoretiker unwiederbringlich weg vom Werk, das genealogisch vom Autor und dessen Intentionen bestimmt sei, der Kontrolle der Institutionen und deren 4 Ders.: Sachwörterbuch der Literatur. 6. verb. und erw. Auflage. Stuttgart 1979, S. 908f. 5 Roland Barthes: „Vom Werk zum Text“. In: Stephan Kammer und Roger Lüdeke (Hg.): Texte zur Theorie des Textes, S. 40-51, hier S. 42. 6 Ebd., S. 50: „Der ‚Text‘ partizipiert, indem er der Ordnung des Signifikanten angehört, auf seine Weise an einer gesellschaftlichen Utopie; der ‚Text‘ vollzieht, bevor dies die ‚Geschichte‘ tut (vorausgesetzt, sie entscheidet sich nicht für die Barbarei), wenn schon nicht die Transparenz der gesellschaftlichen, so doch die der sprachlichen Beziehungen [...]“. 7 Roland Barthes: „Der Tod des Autors“. In: Fotis Jannidis und Gerhard Lauer u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2007, S. 185-193. Der Text wurde zwar erstmals schon Ende 1967 in englischer Übersetzung publiziert, erschien im französischen Original dann aber in der Zeitschrift Manteia erst im darauffolgenden Jahr. Die zeitliche Zusammenfall zwischen Publikation und den ‚Ereignissen‘ von 1968 ist hier sicher kein Zufall, sondern symptomatisch, denn Barthes‘ Autorkritik ist ganz deutlich dem autoritätskritischen Geist jener Zeit verbunden. Hanno Ehrlicher 30 Wunsch nach Kanonbildung unterworfen bleibe und hörigen Lesern zum weitgehend unmündigen Konsum anheimgegeben werde. Der Text als werkunabhängiges, freies semantisches Mobile impliziert für Barthes dagegen die unbeschränkte Entfaltung der spielerischen und produktiven Möglichkeiten selbstbestimmter Rezipienten, die vom passiven mimetischen Nachvollzug eines gegebenen Sinns zur aktiven Lust am Text finden, wie der Autor wenig später in seiner Abhandlung Die Lust am Text (Le plaisir du texte, 1973) in allen Details ausführt. Man kann gegen diese Texttheorie, vor allem was ihre ideologie- und gesellschaftskritischen Aufladungen betrifft, einiges einwenden. Immerhin scheint die postmoderne Vision von Roland Barthes im Zeitalter digitaler Texte, die im hypertextuell konstituierten Internet weitgehend befreit von auktorialer Kontrolle zirkulieren und zu einer akuten Krise des urheberrechtlichen Verständnisses vom Werk als schöpferischem Eigentum geführt haben, eine neue technologische Grundlage gewonnen zu haben und damit für viele auch wieder neue Plausibilität zu besitzen. Allerdings verdankt sich die technisch verwirklichte Mobilität des Textes heute gerade nicht dem Bewusstsein der Rezipienten (bzw. der user, zu denen weitgehend bewusstlose Textverbraucher verkommen), womit ein für den semiologischen Textbegriff zentrales Kriterium fehlt. Das Textverständnis der Postmoderne, das gerade bei Roland Barthes trotz des unüberhörbaren materialistischen Zungenschlags seiner Rede vom ‚Text‘ idealistisch ein reines, von kulturpragmatischen Bedingungen völlig abstrahiertes Bewusstsein des Rezipienten konstruiert, erfüllt sich so nur scheinbar in der neuen Medienwelt. Vielmehr bleibt der postmoderne Textbegriff in seiner kritisch-polemischen Abwehr von einer modernen Werkzentrierung abhängig, die sie nicht wirklich überwindet, sondern ex negativo perpetuiert. Über die Feier des mobilen Textes hat die Postmoderne nämlich eine Dimension von Mobilität fast gänzlich aus dem Blick verloren, die vor der Moderne, in der Frühen Neuzeit, noch kennzeichnend für die Literatur war. Gemeint ist eine Instabilität der Texte auch und gerade auf ihrer materiellen Ebene, die in der Zeit des frühen Buchdrucks keineswegs die Ausnahme darstellte, sondern die Regel, und die erst im Zuge der Durchsetzung eines eigentumsrechtlichen Verständnisses von Autorschaft und mit zunehmender Institutionalisierung der Literatur verschwand. 8 Der Weg vom Werk zum Text, der in der folgenden Interpretation der cervantinischen Novelle und ihrer deutschen Übertragung beschritten werden soll, ist also keiner von der Moderne zur Postmoderne, sondern umgekehrt einer, der vor die Moderne zurückführt in die Frühe Neuzeit. III Textmobilität im ‚Werk‘ des Cervantes Es gäbe grundsätzlich viele mögliche Beispiele, an denen sich die behauptete materielle Instabilität von Texten in der Frühen Neuzeit aufzeigen ließe. Die Schriften von 8 Zur Mobilität der Texte der Frühen Neuzeit vgl. beispielhaft die Studie von Reinhard Uhrig: Changing ideas, changing textes: First-Person novels in the early modern period. Frankfurt a. M. u.a. 2001, insbesondere S. 25 ff. Miguel de Cervantes’ Rinconete y Cortadillo (1613) 31 Cervantes sind insgesamt ein sehr gutes. Gerade der zweiteilige Roman Don Quijote zeugt binnenfiktional wie realgeschichtlich von der behaupteten textuellen Mobilität. Binnenfiktional, indem er bereits im neunten Kapitel des ersten Teils den spektakulären Fund einer arabischen Manuskriptfassung inszeniert, die den vermeintlichen Herausgeber der Chronik des Don Quijote überhaupt erst dazu ermöglicht, den Text weiter zu erzählen, wobei allerdings außer dem Zufall des Fundes auch noch die Hilfe eines Übersetzers notwendig ist. Dieser Auflösung der Werkhaftigkeit des Textes innerhalb der Fiktion entspricht außerhalb der Fiktion der reale Autorschaftsstreit zwischen Cervantes und dem Autoren mit dem Pseudonym „Avellaneda“, der einen zweiten Teil der Abenteuer des sinnreichen Junkers schon auf den Markt gebracht hatte, bevor Cervantes mit seinem eigenen zweiten Teil wieder die erzählerische Autorität über ‚seinen‘ Text zurückgewinnen konnte. 9 Da der Don Quijote, wie schon erwähnt, ja bereits gründlich von Thomas Scheerer vorgestellt worden ist, soll dieses ‚große Werk‘ aber nur den Ausgangspunkt bilden, um von dort zu einem dem Umfang nach viel kleineren Text zu gelangen, der kurzen Novelle Rinconete y Cortadillo. Die Verbindung zu schaffen fällt nicht schwer, denn sie ist vom Autor selbst vorgegeben. Cervantes erwähnt bereits im ersten Teil des Don Quijotes 1605 mit offensichtlichem Stolz diese zu diesem Zeitpunkt nach noch unveröffentlichte Novelle, die vermutlich den Ausgangspunkt des 1613 veröffentlichten Bandes der Novelas ejemplares bildete. So heißt es in einer Szene, die im Wirtshaus eines gewissen Herrn Palomeque spielt: Der Wirt trat zum Pfarrer, händigte ihm einige Schriften ein und sagte, er habe sie in einem Futter des Mantelsacks gefunden, in dem er auch die „Novelle vom unziemlich Neugierigen“ entdeckt hatte. Da nun der Eigentümer des Mantels nicht wiedergekommen sei, möge der Pfarrer alle diese Schriften mitnehmen, denn da er selber nicht lesen könne, wolle er sie auch nicht. Der Pfarrer dankte ihm, schlug die Blätter auseinander und sah, daß am Anfang der Handschrift zu lesen stand „Novelle von Rinconete und Cortadillo“, woraus er entnahm, es müsse sich dabei wirklich um eine Novelle handeln, und da ihm die „Novelle vom unziemlich Neugierigen“ gefallen hatte, die gut war, nahm er an, daß auch diese es wäre, denn möglicherweise stammten beide aus der Feder des gleichen Verfassers; so steckte er sie ein und nahm sich vor, sie zu lesen, sobald er die erforderliche Muße dazu fände. 10 Die erwähnte „Novelle vom unziemlichen Neugierigen“ ist dem Leser an dieser Stelle schon bekannt. Sie hat als eingeschobene Erzählung das 33. und 34. Kapitel 9 Die Spekulationen über die mögliche Identität „Avellanedas“ sind inzwischen so ins Kraut geschossen, dass sie einen kaum mehr überschaubaren eigenen Forschungszweig ergeben. Auch zum Verhältnis des Don Quijote von Cervantes zu dem mit ihm rivalisierenden Werk ‚Avellanedas‘ gibt es inzwischen reichhaltige Forschung. Ich verweise hier lediglich auf die noch frische und sehr inspirierte Lektüre von William H. Hinrichs: The Invention of the Sequel. Expanding Prose Fiction in Early Modern Spain. Woodbridge, Suffolk, UK 2011, S. 200-222, sowie auf die noch unveröffentlichte, aber kurz vor dem Druck stehende Doktorarbeit von David Alvarez Roblin: Pratiques de l’apocryphe dans le roman espagnol au début du XVII e siècle: approche comparée du « Guzmán » de Luján et du « Quichotte » d’Avellaneda. 10 Im Haupttext wird hier und im folgenden nach der Übersetzung des Don Quijote von Anton M. Rothbauer zitiert, hier S. 582f. Hanno Ehrlicher 32 des Quijote gefüllt. Im gleichen Mantelsack, aus dem der Erzähler bereits diese erste Novelle gezaubert hatte, soll sich nun also erneut - im Futter versteckt - eine weitere Novelle befinden. Sie wechselt nicht nur den Besitzer, sondern wird damit innerhalb der Fiktion auf Reisen geschickt. Parallel dazu blieb der Text auch außerhalb der Fiktion in Bewegung und kehrte für den spanischen Leser vollständig lesbar im Rahmen der Novelas ejemplares wieder. Doch damit endete die Geschichte des Novellentextes keineswegs. In Manuskriptform existierte noch eine weitere spanische Fassung des Rinconete, der neben dem Celoso extremeño im Übrigen die einzige Novelle des Bandes darstellt, von der auch eine handschriftliche Fassung erhalten ist. Francisco Porras de la Cámera, der Pfründer der Kathedrale von Sevilla hat sie vermutlich um 1604 oder 1605 für den Erzbischof der Stadt verfertigt, weshalb dieser Textträger in der Forschung allgemein ‚Manuskript von Porras‘ tituliert wird. Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil das Vorhandensein einer Textfassung vor der Veröffentlichung des Novellenbandes überhaupt erst erklärt, warum diese Novelle im deutschsprachigen Raum eine ganz besondere Karriere machen konnte. 11 1617 erschien sie dort nämlich in einem von Andreas Arperger 12 in Augsburg realisierten Druck in einem ganz neuen Werkkontext, zusammengebunden nicht mit den anderen Novelas ejemplares, die überhaupt erst 1753 vollständig ins Deutsche übertragen wurden 13 , sondern mit der anonymen Vida de Lazarillo de Tormes. Aus der cervantinischen Novelle ist eine von insgesamt zwei „kurtzweilige[n], lustige[n] und lächerliche[n] Historien“ geworden, wie der barocke Titel des Buches nun formuliert (vgl. Abbildung 1), in dem jeder Hinweis auf die ursprüngliche Autorschaft von Cervantes fehlt. Stattdessen fungiert nun ‚Niclas Ulenhart‘ als Autor bzw. ‚Beschreiber‘ der Geschichte, wobei die Identität dieser Person bis heute weitgehend ungeklärt ist. 14 Soweit zur materiellen Entstehungsgeschichte des Textes, welche die strukturelle Voraussetzung dafür bildet, dass der im Übersetzungsprozess vorgenommenen Kulturtransfer überhaupt stattfinden konnte. Sie macht diesen Text zu einem ‚Werk‘, das - wenn überhaupt von Werk gesprochen werden soll - ein sich wandelndes Werk und ein Werk des Wandels ist. 11 Zur Entstehungs- und Editionsgeschichte des Textes verweise ich auf die Zusammenfassung von Gerhart Hoffmeister in seinem Nachwort zu Niclas Ulenhart: Historia von Issac Winckelfelder vnd Jobst von der Schneid 1617. München 1983, S. 259f. 12 Eine kurze biographische Skizze zu diesem Augsburger Drucker findet sich im Handbuch Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Helmut Gier und Johannes Janota im Auftrag der Stadt Augsburg. Wiesbaden 1997, S. 1237f. 13 Die erste komplette Übersetzung erschien in zwei Teilen unter dem Titel Satyrische und Lehrreiche Erzehlungen des Michel de Cervantes Saavedra, Verfasser der Geschichte des Don Quichotts; Nebst dem Leben dieses berühmten Schriftstellers, wegen ihrer besondern Annehmlichkeiten| in das Teutsche übersetzt. Frankfurt und Leipzig. In der Knoch- und Eßlingerischen Buchhandlung 1753. Alle wesentlichen Daten zur Geschichte der deutschen Übersetzungen der Novelas ejemplares liefert Alberto Marino: „Die Rezeption des Rinconete y Cortadillo und der anderen pikaresken Novellen von Cervantes im deutschsprachigen Raum (1617-1754)“. In: Daphnis 34 (2005), S. 23-135. 14 Zur bisherigen, weitgehend von Spekulationen geprägten Diskussion um die Identität des Autors vgl. ebd., S. 28-31. Miguel de Cervantes’ Rinconete y Cortadillo (1613) 33 Abbildung 1: Zwo kurtzweilige/ lustige/ vnd lächerliche Historien, Titelkupfer der Originalausgabe von 1617. Hanno Ehrlicher 34 IV Von der Venta del Molinillo zum Patio de Monipodio: Cervantes’ quasipikareske Novelle Rinconete y Cortadillo Bewegung kennzeichnet die Novelle, deren spanisches Original nun vorgestellt werden soll, nicht nur auf der Ebene der Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte. Sie ist auch ein zentrales Thema des Textes, der grundsätzlich dem Plot des Schelmenromans bzw. der spanischen novela picaresca folgt. Cervantes reagierte mit diesem Text - und nicht nur mit ihm, sondern auch mit einer ganzen Reihe weiterer Novellen sowie in Passagen des Don Quijote - auf den Erfolg, den diese Gattung kurz nach der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundet in Spanien feierte. 15 Auch wenn es mit der Vida de Lazarillo de Tormes (Leben des Lazarillo vom Tormes), die 1554 in vier verschiedenen Ausgaben an unterschiedlichen Orten (Antwerpen, Burgos, Alcalá de Henares und Medina del Campo) erschienen war, längst schon einen Prototyp für eine mögliche Gattung gab, kam es zur faktischen Entstehung einer solchen Gattung im Sinne eines generischen Modells, das im Bewusstsein von Lesern, Verlegern und Autoren wirksam ist, erst mit dem Erscheinen des ersten Teils des Guzmán de Alfarache von Mateo Alemán im Jahr 1599. Durch die Veröffentlichung dieses Romans, der ein regelrechter Bestseller seiner Zeit wurde, entstand eine Ähnlichkeitsbeziehung, die rückwirkend das kleine, anonym erschiene Bändchen zum Vorläufer eines erzählerischen Erfolgsmusters machte, das nun von einer ganzen Reihe von Schriftstellern aufgegriffen und variiert wurde, wobei um 1604 geradezu ein fieberhafter Wettbewerb um die Aneignung des neuen Modells entstand. Zwei Hauptmerkmale dieses Modells sind die autobiographische bzw. pseudoautobiographische Form des Erzählens und die Tatsache, dass dabei ein niederes Subjekt von zweifelhafter, sozial randständiger Herkunft den Status eines Protagonisten erlangt. Die Bedeutung der Herkunft ist in der novela picaresca dabei meist schon im Titel durch den geographischen Zusatz zum Eigennamen des Protagonisten hervorgehoben. La Vida de Lazarillo de Tormes/ Das Leben des kleinen Lazarus vom Tormes bzw. Primera parte de la Vida del pícaro Guzmán de Alfarache/ Das Leben des Pikaros Guzman von Alfarache, wie der erste Teil des Romans von Mateo Alemán in den auf die Erstaufgabe folgenden Editionen meist tituliert war. Der Stammbaum des Pikaros gründet dabei aber nicht im Sinne einer adeligen Genealogie auf herrschaftlichem Landbesitz, sondern verweist auf den Abgrund einer Geburt unter zweifelhaften Umständen. 15 Unumstritten ist in der Forschung, dass Cervantes sich außer in Rinconete y Cortadillo auch im Coloquio de los perros mit der Gattung der Pikareske auseinandersetzt, und dass die Figur des Ginés de Pasamonte im Don Quijote ebenfalls auf diese neue Gattungstradition anspielt. Weniger strukturelle als punktuelle Verbindungen lassen sich außerdem in La Gitanilla und La illustre fregona nachweisen. Während also die Tatsache einer recht intensiven Beschäftigung mit der novela picaresca bei Cervantes an sich von allen Forschern konstatiert wird, diskutiert man die Frage nach der damit verbundenen Positionierung Cervantes (ironisch, parodistisch, ambivalent oder gar affirmativ? ) äußerst kontrovers. Für einen ersten Einblick in die Diskussion verweise ich nur auf Katharina Niemeyer und Klaus Meyer-Minnemann: „Cervantes y la Picaresca“. In: Klaus Meyer-Minnemann und Sabine Schlickers (Hg.): La novela picaresca. Concepto genérico y evolución del género (siglos XVI y XVII). Madrid und Frankfurt 2008, S. 223-262. Miguel de Cervantes’ Rinconete y Cortadillo (1613) 35 Der kleine Lazarus wird am Ufer des Tormes geboren, denn seine Eltern verfügen über keinen eigenen Hausstand, sondern verdienen mit Dienstarbeiten und Diebstählen ihren Lebensunterhalt. Guzmán „von Alfarache“ wiederum verweist auf ein zwar nicht im Stile des alten Adels ererbtes, aber immerhin ein käuflich erworbenes Landgut, das sein Vater in der Nähe von Sevilla besitzt, doch der Herkunftsbericht am Anfang seiner Lebensgeschichte macht schnell deutlich, dass es gänzlich ungesichert ist, ob es sich bei diesem Vater auch tatsächlich um den biologischen Erzeuger handelt. Cervantes` Novelle Rinconete y Cortadillo greift diese typische Herkunftsproblematik der Pikareske auf und variiert sie zugleich entscheidend. Der Text setzt mit einem Gespräch zweier Burschen ein, „die vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein mochten“ und zufällig im Wirtshaus zur kleinen Mühle aufeinandertreffen, an einem Ort, den der auktoriale Erzähler mit äußerster Genauigkeit geographisch lokalisiert. Während die Zeitangabe der Handlung, die sich im sogenannten Manuskript von Porras noch findet (1569), in der veröffentlichten Fassung eliminiert ist, hat Cervantes die ungemein präzise Ortsbestimmung beibehalten. Die Venta del Molinillo befinde sich, so wird erläutert, „am Ende des Gefildes von Alcudia“ (Version von 1613) bzw. „schon am Eingang der Sierra Morena“ (Manuskriptversion, Cervantes hat hier offenbar die Sierra Madrona mit der Sierra Morena verwechselt), jedenfalls aber im Übergangsbereich zwischen Kastilien und Andalusien. 16 Im Gegensatz zum Don Quijote bildet hier nicht irgendein - nicht eigens erwähnenswertes - namenloses Dorf in der Mancha den Ausgangspunkt der erzählten Welt, sondern ein präzise bestimmter Ort, dessen Funktion als Durchgangsstation und transitorischer Übergangsraum unterstrichen wird. Das Wirtshaus am Wegesrand stellt hier, wie Wirtshäuser generell im Werk von Cervantes, einen Chronotopos des gesellschaftlichen Realismus dar, an dem es zur spannungsreichen, aber doch zivilen und letztlich positiven Begegnung unterschiedlicher sozialer Akteure kommt; ein Ort, an dem zudem ständig interessante und unterhaltsame Geschichten generiert werden, die jedoch (wir erinnern uns an die Novellenfunde im Mantelsack des Gastes im Wirtshaus von Palomeque) nie zu einem statischen Werk gerinnen. An diesem Ort also werden wir Leser Zeugen eines Dialogs, in dem sich die beiden Jugendlichen gegenseitig ihre Identität offenbaren. Auf die Frage nach seiner Herkunft („De qué tierra es vuesé“) antwortet der Jüngere der beiden zunächst ausweichend und lässt seine Existenz bewusst im Ungewissen: „mein Vaterland ist nicht mein Land, denn ich habe darin nur einen Vater, der mich als Stiefkind behandelt. 16 In der kommentierten Werkausgabe von Rodolfo Schevill/ Alfonso Bonilla (Obras completas de Miguel de Cervantes Saavedra. Novelas exemplares. Tomo I. Madrid 1922, S. 208-328) sind beide Varianten gegenübergestellt und lassen sich so leicht überprüfen: „En la venta del Molinillo, que está en los campos de Alcudia, viniendo de Castilla para la Andalucía, ya en la entrada de Sierra Morena, un día de los calurosos del verano del año 1569, se hallaron dos muchachos zagalejos.“ (Manuskript Porras, S. 209) „En la venta del Molinillo, que esta puesta en los fines de los famosos campos de Alcudia, como vamos de Castilla a la Andaluzia, vn dia de los calurosos del verano, se hallaron en ella a caso dos muchachos de hasta edad de catorze a quinze años; [...]“ (Version 1613, S. 208). Eine kritische Ausgabe, die einen solch systematischen Vergleich der Textfassungen auch für die deutschsprachigen Leser ermöglichen würde, ist derzeit noch ein Desiderat. Hanno Ehrlicher 36 Mein Weg führt ins Blaue und wird dort enden, wo ich jemand finde, der mir das Nötige gibt, dieses elende Leben zu fristen“ 17 Erst als sich ihm sein Gegenüber in recht gestelzter Rede als Pedro del Rincón vorstellt und als ein Kleinkrimineller präsentiert, der wegen Geldraubs aus seiner Heimat verbannt wurde und sich nun durch Trickspielerei seinen Lebensunterhalt verdient, wird auch Diego Cortado („so behauptete der Jüngere zu heißen“) auskunftsfreudiger und präzisiert seine Lebensgeschichte. Er bekennt nun, selbst ein Beutelschneider und auf der Flucht zu sein. Cervantes komponiert die Identitätsberichte seiner Protagonisten ganz klar aus Versatzstücken, die er den beiden Texten entnehmen konnte, die durch ihr Zusammenwirken den aktuellen Boom der novela picaresca ausgelöst hatten. Zugleich geht er aber erzählerisch auf Distanz zu dieser Modegattung. So entscheidet er sich bewusst gegen die gattungstypische homodiegetische Erzählweise, in der alle Informationen, die dem Leser unterbreitet werden, von der subjektiven Perspektive des wenig glaubwürdigen, weil von eigenen Interessen geleiteten Erzählers abhängig bleiben. Stattdessen setzt er einen unbeteiligten heterodiegetischen Erzähler ein, der eine Distanz zu den pikaresken Helden schafft, deren Reden und Verhalten er von außen registriert und so durchschaubar macht. Indem er mit Pedro del Rincón und Diego Cortado ein pikareskes Protagonistenpaar schafft, das freiwillig Freundschaft schließt, entfernt er sich zugleich vom agonalen und asozialen Grundzug der Gattung, in der ein vereinzeltes Individuum gegen die Gesellschaft ankämpft und ein unglaubwürdiger Erzähler um das Vertrauen seines Lesers ringt. Die konflikthafte Struktur pikaresken Lebens und Erzählens wird so aufgelöst und weicht einer Strategie ironischer, auktorial kontrollierter Mimesis. Es bleibt aber nicht nur bei diesen Eingriffen, die die Gestaltung der Protagonisten und die Erzählperspektive betreffen, Cervantes verändert vielmehr auch das Reiseschema der Gattung. Beim anonymen Lazarillo war die räumliche Reisebewegung des Pikaros verbunden mit der Behauptung eines gesellschaftlichen Aufstiegs, der von der materiellen Armut auf den vermeintlichen Gipfelpunkt des materiellen Glücks führt (der sich allerdings zugleich als moralischer Abgrund entpuppt). Im Guzmán Mateo Alemáns wiederum verläuft der geographische Weg des Pikaros, der nun wesentlich ausgeweitet wird und nun nicht mehr auf das spanische Landesinnere Kastiliens beschränkt bleibt, sondern weite Gebiete des europäischen Herrschaftsbereichs der spanischen Krone umfasst, im Kreise - von Sevilla über Madrid und Genua nach Rom und wieder zurück über Genau, Madrid und Sevilla). Er endet schließlich auf dem transitorischen Nicht-Ort einer Galeere, wo sich der Pikaro moralisch zum Guten gewandelt haben will und Distanz zu seinem bisherigen Leben gewonnen zu haben behauptet. Cervantes dagegen interessiert sich in seiner pseudopikaresken Novelle gar nicht wirklich für den vollständigen Verlauf des Lebenswegs seiner Protagonisten. Vielmehr werden die beiden jugendlichen Pikaros zum Instrument, um einen ganz besonderen sozialen Ort inszenieren und dessen komisches Potential auszukosten zu können: der Innenhof im Hause 17 Falls nicht anders gekennzeichnet wird im Folgenden mit einfachen Seitenangaben nach der deutschen Übersetzung von Anton M. Rothbauer zitiert: Miguel de Cervantes Saavedra: Gesamtausgabe in vier Bänden, Bd. 1: Exemplarische Novellen/ Die Mühen und Leiden des Persieles und der Sigismunda, Stuttgart 1963, S. 235-280, hier S. 236. Miguel de Cervantes’ Rinconete y Cortadillo (1613) 37 von Monipodio. Dieser Hof ist als das Zentrum der Unterwelt von Sevilla geschildert, einer Stadt, die um 1600 mit rund 15000 Einwohnern nicht nur eine der bevölkerungsreichsten Spaniens war und im positiven Ruf stand, das Tor zur ‚neuen Welt‘ Amerikas darzustellen 18 , sondern die auch als chaotisches Babel und Hauptstadt der Kriminalität verschrien war. 19 Nachdem die beiden Pikaros ihr betrügerisches Treiben kurzzeitig einstellen mussten, um vom Wirtshaus am Wegesrand mit einer Reisegruppe nach Sevilla gelangen zu können, beginnen sie dort sofort wieder mit Gaunereien und plündert bereits am Tor des Zollgebäudes die Manteltasche eines der Reisenden. Beim Verkauf des Diebesguts auf dem großen Trödelmarkt vor der Puerta del Arenal im Hafengebiet lernen sie einen Frachtarbeiter aus Asturien kennen und beschließen, ebenfalls diesem Gewerbe nachzugehen, um im Schutze dieser Tätigkeit ihr eigentliches betrügerisches Handwerk auszuüben. Dank ihrer Intelligenz und Geschicklichkeit und gemeinsamer Kooperation gelingen ihnen auch sofort erste Diebstähle, doch werden sie dabei von einem einheimischen Kleinkriminellen beobachtet, der sie darauf hinweist, dass die Delinquenz in Sevilla zwar nicht grundsätzlich verboten, aber doch der Herrschaft Monipodios unterstellt ist. Dieser Name ist als komische Verfremdung von „monopolio“ lesbar und damit klar motiviert. Er indiziert von Anfang an die strukturelle Funktion, die dem bühnenartigen Auftritt Monipodios und seiner Entourage im Innenhof seines Hauses insgesamt zukommt. Die Unterwelt Sevillas erscheint dort als ein in sich geschlossener sozialer Kosmos, der jedoch keine wirkliche Gegenwelt zur ‚normalen‘ sozialen Ordnung darstellt, sondern als deren komisch-groteske mimetische Verfremdung wirkt. Alles, was auch die legal verfasste Zivilgesellschaft zusammenhält, kehrt in diesem Mikrokosmos leicht deformiert, aber erkennbar wieder: Frömmigkeit und religiöser Glaube (dafür steht vor allem die alte Pipota), der alltägliche Geschlechterkampf (im Streit zwischen Juliana la Cariharta und Repolido), vor allem aber die Regeln ordentlicher Handelsführung, die bis zur kaufmännischen Buchhaltung reichen. In seinem „libro de cuentas“ notiert Monipodio nicht nur akribisch und in einzelnen Unterkategorien geordnet die zu erledigenden Aufgabe der von ihm kontrollierten Bande wie z.B. die „Schmarren, die diese Woche anzubringen sind“, dort werden auch die beiden Neuankömmlinge registriert und die ihnen zugewiesenen Aufgaben; „Rinconete und Cortadillo, Mit- 18 „Hafen und Tor nach Amerika“ („Puerto y puerta de las Indias“) nennt es beispielsweise Felix Lope de Vega y Carpio in seinem Roman El peregino en su patria [1604]. Hg. von Juan B. Avalle- Arce, Madrid: Castalia 1973, S. 353. 19 Auch dafür liefert das Werk von Lope de Vega ein gutes Beispiel. In seinem Stück El Arenal de Sevilla findet sich der Topos vom babylonischen Chaos im Gespräch zwischen Alvaro und dem Fremden (Forastero): „For. ¿Esto hay en el Arenal? / ¡Oh, gran máquia Sevilla! / Alvar. ¿Esto sólo os maravilla? / For. Es a babilonia igual“. Vgl. Felix Lope de Vega y Carpio: „El Arenal de Sevilla“. In: Obras escogidas, Bd. 1. Madrid: 1958, S. 1387. Zur realweltlichen Delinquenz im frühneuzeitlichen Sevilla vgl. insbesondere Pedro Herrea Puga, Sociedad y delincuencia en el Siglo de Oro, Madrid 1974, sowie Mary E. Perry: Crime and Societey in Early Modern Seville. Hanover, N.H. 1980. Hanno Ehrlicher 38 brüder; Noviziatsjahr: keines. Rinconete: Haderreißer; Cortadillo: Macher, und den Tag, den Monat, das Jahr, doch Eltern und Heimat sollten verschwiegen bleiben.“ (S. 277). Die beiden jugendlichen Pikaros, die zu einem selbstbestimmten Abenteuerleben aufgebrochen waren und sich damit sowohl der Obhut der Väter als auch den Regeln des Gesetzes entzogen hatte, sind mit dem Eintritt in die Sevillanische Monipodio-Mafia wieder zum Teil einer Familie geworden und erneut einer leitenden Autorität unterworfen. Konsequenter Weise sind sie als Handelnde in diesem zweiten Teil der Novelle praktisch komplett stillgestellt und werden zu bloßen Beobachtern. Dennoch spielen sie weiter eine wichtige Rolle, denn sie sind nicht rein passive Zuschauer, sondern werden zu Reflektorfiguren, deren Wahrnehmung den Leser leitet. Das gilt vor allem für Rinconete: Obwohl erst ein Junge, war Rinconete doch von aufgewecktem Verstand und guten Anlagen [...] und es reizte ihn zum Lachen, wenn er an die Wörter dachte, die er von Monipodio und der übrigen gesegneten Gesell-und Gemeinschaft gehört hatte [...] Nicht weniger verwunderte ihn der Gehorsam und die Achtung, die alle Monipodio bezeigten, obgleich dieser ein ungebildeter Mensch war. (S. 279) Die ironische Distanz, die der auktorialen Erzähler der Novelle in der Eingangssequenz den beiden jugendlichen Pikaros gegenüber aufgebaut hatte, wird so noch einmal, im Inneren der Pseudopikareske, von den Pikaros selbst der komischen Gaunergesellschaft gegenüber erzeugt. Komisch wirkt diese Gesellschaft dabei nicht nur, weil sie die Regeln der bekannten sozialen Ordnung verfremdet reproduziert, sondern auch durch die Verfremdung deren Sprache. Die Sondersprache der Unterwelt, die germanía, besitzt ja insgesamt die Funktion, eine eigenständige Gruppenidentität auszubilden, stellt dabei aber auch keine komplett andere Sprache dar, sondern speist sich vor allem aus lexikalischen Elementen der offiziellen Standardsprache, an der sie weiterhin parasitär partizipiert. Am individuellen Sprachgebrauch Monipodios und dessen Entstellung von Versatzstücken aus dem Wortschatz der Gebildeten wird diese strukturelle parasitäre Abhängigkeit der Unterwelt von der erhabeneren Gesellschaft dann im Inneren der Bruderschaft der Gauner noch einmal verdoppelt. Überhaupt ist die Novelle so grundsätzlich auf sprachliche Komik angelegt, dass sie sich kaum angemessen übersetzen lässt. 20 Die meisten Versuche einer Übersetzung hatten deshalb zu Folge, dass gerade dem Leser, der das Original nicht vergleichend heranziehen kann, der deutsche Text oft ganz spanisch anmutet (‚spanisch‘ hier im Sinne von ‚unverständlich‘). Dies kann anhand des Dialogs zwischen den beiden Protagonisten und dem zur Bruderschaft des Monipodios gehörenden Lastenträger in aller Kürze verdeutlicht werden. Es handelt sich dabei um eine Textpassage, die den entscheidenden Übergang von der ‚freien‘ Delinquenz der jugendlichen Pikaros in die streng strukturierte Ordnung der Unterwelt Sevillas markiert, und zwar sowohl handlungslogisch wie 20 Wie zentral die Thematisierung der Sprache als Objekt der Darstellung in der Novelle von Cervantes insgesamt ist, zeigt Alan K. G. Paterson: „Language as Object of Representation in Rinconete y Cortadillo“. In: Stephen Boyd: A Companion to Cervantes’s „Novelas ejemplares“, S. 104- 114. Miguel de Cervantes’ Rinconete y Cortadillo (1613) 39 sprachlich. In der modernen Neuübersetzung von Anton Rothbauer liest sich dies so: Etwas weiter entfernt stand ein anderer Junge des gleichen Gewerbes, der den ganzen Vorgang aufmerksam verfolgt hatte; als Cortado dem Rincón das Schnupftuch zusteckte, trat er zu den beiden und sagte: „Sagt mir, ehrenwerte Herren, seid Ihr Ganoven oder nicht? “ „Wir verstehen dieses Wort nicht, edler Herr“ erwiderte Rincon. „Wie? Ihr verkneißt nicht, Ihr Herren Ganoven? “ fragte jener. „Wir sind weder aus Barcanisa noch aus Cañefe“, sagte Cortado. „Wenn Ihr sonst noch etwas zu wissen begehrt, so sagt es; wenn nicht dann Gott befohlen.“ (S. 247) 21 Für den deutschen Leser ist dieser Dialog nicht wirklich witzig, sondern unverständlich. Gerade weil Rothbauer sich darum bemüht, ein Äquivalent des Stilregisters des Originals zu finden und für die Ausdrücke der spanischen germanía, die Cervantes einsetzt, entsprechendes Vokabular aus dem Rotwelsch benutzt (‚Ganove‘, ‚verkneißen‘ u.a.), geht der Wortwitz verloren, der im Original darin liegt, dass die Elemente des Gaunersoziolekts phonetische Ähnlichkeit zu real existierenden Städtenamen besitzen: Auf den Satz „Que no entreuan, señores murcios“ antwortet Cortado, dass er weder aus Teba noch aus Murcia komme. Das macht für den spanischen Leser durch die phonetsiche Ähnlichkeit Sinn und wirkt komisch. Die generellen Schwierigkeiten des Übersetzens scheinen an Passagen wie dieser, wo es um einen Effekt der sprachlichen Verfremdung geht, der in dem gründet, was der spanischen Sprache und Kultur am Eigentümlichsten ist, zur unüberwindbaren Hürde anzuwachsen. Gerade an diesen Stellen zeigt sich dann aber auch die besondere schöpferische Erfindungsgabe des Übersetzers, der unter dem Namen ‚Niclas Ulenhart‘ 1617 erstmals eine deutsche Version der Novelle von Cervantes veröffentlichte. Dass er die Autorschaft des Spaniers dabei ganz unerwähnt lässt, ist nicht etwa nur die Anmaßung eines mittelmäßigen Plagiatoren, sondern letztlich die logische Konsequenz aus der Tatsache, dass bei seiner eigenwilligen ‚Übersetzung‘ eine Kreativität erforderlich war, die über die rein sprachliche ‚treue‘ Transposition des Originals weit hinausging. 21 Im Original: „y mas abaxo estaua otro moço de la esportilla, que vio todo lo que auia passado, y como Cortado daua el pañuelo a Rincon; y, llegandose a ellos, les dixo: „Diganme, señores galanes, ¿voacedes son de mala entrada, o no? “ „No entendemos essa razon, señor galan“, respondio Rincon. „¿Que no entreuan, señores murcios? “, respondio el otro. „Ni somos de Teba ni de Murcia“, dixo Cortado: „si otra cosa quiere, digala, si no, vayase con Dios.“ (Cervantes: „Rinconete y Cortadillo“, ed. Schevill/ Bonilla, S. 239) Hanno Ehrlicher 40 V Wie Sevilla zu Prag wurde: Niclas Ulenharts Historia von Issac Winckelfelder und Jobst von der Schneidt Mit dem Erscheinen der Sammlung der novelas ejemplares von 1613 hatte die Novelle Rinconete und Cortadillo im spanischen Kontext vorläufig in ein Werk Eingang gefunden, dessen Eigenständigkeit und lehrhafte Funktion Cervantes in der Einleitung selbst betonte. Im Rahmen dieses Werkes wird zwar in mehreren Texten mit Elementen aus dem Gattungsmodell der novela picaresca gespielt, doch insgesamt konnte kein Zweifel an der Tatsache aufkommen, dass die novelas ejemplares keine Sammlung von novelas picarescas waren, sondern ein ambitionierter Beitrag zur Ausbildung einer eigenständigen Form der Novellistik in Spanien. Dass die Rezeption in Deutschland lange Zeit anders verlief, liegt an der schon geschilderten Mobilität der Texte in der Frühen Neuzeit. Mit der Entscheidung des Verlegers, Ulenharts Historia von Issac Winckelfelder und Jobst von der Schneidt mit dem Lazarillo zusammenzubinden und als Zwo kurtzweilige/ lustige/ vnd lächerliche Historien zu veröffentlichen, war eine Identifizierung zwischen der novela picaresca und der cervantinischen Quasipikareske vorprogrammiert und ein neuer Gattungszusammenhang geschaffen. Eine eigene ‚Gattung‘ der Pikareske im schon erwähnten Sinne, als rezeptionswie produktionssteuerndes Modell, existierte im deutschen Sprachraum ja noch nicht, eine ironische Distanznahme, wie sie Cervantes’ Novelle leistete, wäre daher funktionslos gewesen. Dass in der Übertragung Ulenharts diese Funktion verloren geht, ist also nicht als Untreue zum Original oder Versagen des Übersetzers zu werten, sondern logische Konsequenz der neuen Zielgruppenorientierung. Schon die erste der Zwo kurzweiligen Historien, der deutsche Lazarillo ist, entgegen der ausdrücklichen Behauptung, sie sei „Auß Spanischer Sprach ins Teutsche gantz trewlich transferiert“, eine relativ freie Übertragung, vergleicht man sie etwa mit der alternativen Übersetzung, die schon 1614 in Breslau entstanden war, aber nicht in Druck ging, sondern Handschrift blieb. 22 Der Wille zur Akkulturierung des spanischen Ausgangsmaterials, der so schon im ersten Text des Augsburger Druckes spürbar ist, kennzeichnet die Rinconete-Fassung Ulenharts dann in ganz besonderem Maße, wie zu zeigen sein wird. Noch eine der geringsten Veränderungen liegt dabei in der Tatsache, dass in der deutschen Version das Alter der beiden jugendlichen Helden um einige Jahre heraufgesetzt ist und so ihre Betrügereien in ein moralisch noch bedenklicheres Licht gerückt werden. Auch die vielen sprachlichen Ausweitungen müssen hier nicht ausführlich analysiert werden. 23 Insgesamt bewirken sie, dass aus dem am klassizistischen Renaissanceideal der brevitas orientierten konzisen Stil Cervantes ein ausuferndes und umständliches barockes Textgebilde wird, das seinem Umfang nach 22 Vgl. den modernen Neudruck: Leben und Wandel Lazaril von Tormes: Und Beschreibung, was derselbe für Unglück und Widerwärtigkeit ausgestanden hat. Verdeutscht 1614. Hrsg. von Manfred Stendrup. Nachwort von Giesela Noehles. Stuttgart 1983. 23 Die sprachlichen Veränderungen untersuchte systematisch zum ersten Mal Reiner Schulze-van Loon: Niclas Ulenharts „Historia“: Beiträge zur deutschen Rezeption der Novela picaresca und zur Frühgeschichte d. barocken Prosastils. Dissertation. Hamburg 1955. Miguel de Cervantes’ Rinconete y Cortadillo (1613) 41 fast doppelt so lang ist wie der Ausgangstext. Strukturell viel zentraler ist aber der Entschluss Ulenharts, die Handlung der Novelle aus dem Gebiet der kastilischen Krone ins Heilige Römische Reich deutscher Nationen zu verschieben und in Prag statt in Sevilla zu verorten. Denn die Konsequenz aus dieser Entscheidung bedingt weit mehr als bloß die Notwendigkeit zu terminologischen Substitutionen; sie zwingt zu einer kompletten Neugestaltung des erzählerischen Plots, der an die veränderten kulturellen Bedingungen angepasst werden muss, um weiterhin die realistische Glaubwürdigkeit entfalten zu können, die Cervantes ‚andalusische‘ Novelle so stark auszeichnet. 24 Zur Verdeutlichung reicht ein Blick auf die bereits zitierte Szene, in der die Jugendlichen als Gauner erkannt und von einem Mitglied der Bande angesprochen werden, die in Prag als „Bruderschaft des Zuckerbastels“ tituliert ist: Es stund aber ein Böhmischer Schwirack nicht weit darvon; der nahm gleichfalls wahr, was sich zwischen dem Einkauffer und dem Schneider verloffen [...] Dieser sagte zu den zweyen: Neg sauly panij taky toho rze mestla Der Herr wöll uns verzeihen, sagten die zween, wir verstehen nicht wällsch. Ich red nicht wällsch, sagt der ander, sondern frag allein, ob und wo die Herren Böhmisch gelernet? Der Winckler antwort und sagt: Wir verstehen vom Böhmischen soviel als vom Wällschen; da aber der Herr etwas anders von uns zu wissen begehrt, so mag ers uns gut teutsch sagen, so wöllen wir ihm gut teutsch antworten, so gut wirs verstehen. Entweder verstehen sie mich nicht, oder wollen mich mit Fleiß nicht verstehen; sagt der Böheimb bey sich selbs (der sonst beyder Sprachen genugsam kundig war). Entschleust sich also, ihnen die Meinung auf gut teutsch, und ohne Umschweiff zu entdecken, und sagt: Mein Frag, so ich euch vorgehalten, ob und wo ihr Böhmisch glernt, geht dahin, ob die Herren nicht auch Maußköpff seyen? Aber was darff es viel Fragens, spricht er: Weil ich die Prob allbereit gesehen, begehr also von den Herrn zu wissen, ob sie sich bey den Obristen Verwaltern und Praefecto dieser Zunfft und Bruderschaft, deßwegen, und daß sie diß Handwerck ungehindert treiben dörffen, angemeldt. 25 Wo sich Anton Rothbauer vergeblich um eine möglichst getreue Übersetzung dieses Dialogs bemühte, der vom willentlich-unwillentlichen Missverstehen geprägt ist, und an diesem Versuch scheiterte, nimmt sich der frühneuzeitliche erste Übersetzer das Recht zur freien Umgestaltung. Nur dank dieser Freiheit der Neuschöpfung kann er der neuen Lebensweltlichkeit, in welche die Novelle mit dem neuen Schauplatz ver- 24 Die andalusische Ambientierung wird derzeit besonders durch eine von der Junta de Andalucia finanzierte elektronische Edition des Textes hervorgehoben, die mit einem kommentierenden Nachwort von Rosa Navarro Durán abschließt, das den Text explizit als „andalusische Novelle“ darstellt: „Rinconete y Cortadillo, una novela ejemplar ‚andaluza‘ de Cervantes“. In: Miguel de Cervantes Saavedra: Rinconete y Cortadillo. Hrsg. u. kommentiert von Rosa Navarro Durán. Junta de Andalucia 2010, S. 62-81. http: / / www.juntadeandalucia.es/ cultura/ bivian / media/ flashbooks/ lecturas_pendientes/ rinconete_cortadillo/ index.html. 25 Vgl. Ulenhart: Historia von Isaac Winckelfelder, S. 85-87 [243-247]. Zu Gunsten leichterer Lesbarkeit zitiere ich jedoch nach der Transkription des Textes aus einer für das breitere Lesepublikum konzipierten und besser zugänglichen Ausgabe des Textes, ohne dabei auf die kleineren ‚modernisierenden‘ Abweichungen der dortigen Textfassung vom Original einzugehen: Miguel de Cervantes Saavedra/ Niclaus [sic! ] Ulenhart: Historia von Isaac Winckelfelder und Jobst von der Schneidt. Hrsg. von Gerhard Hoffmeister. Leipzig 1983, S. 63. Hanno Ehrlicher 42 setzt wurde, gerecht werden. Aus dem innersprachlichen Missverstehen zwischen germanía und Standardspanisch wird ein inter-sprachliches Missverstehen, das auf die ethnische und linguistische Pluralität Prags in der Zeit Rudolfs II. verweist. An vielen anderen Passagen zeigt sich, dass Ulenhart bzw. der hinter diesem Pseudonym stehende Schriftsteller sehr wohl in der Lage war, für die spanische germanía Äquivalente im deutschen Rotwelsch zu finden. An der zitierten Stelle entscheidet er sich aber bewusst für die Beibehaltung der primären Funktion der Szene, nämlich die, eine Einführung in die ‚andere‘ Ordnung der Welt des Zuckerbastels zu leisten. Und insofern diese Gaunerwelt als Mimesis - als ein verfremdetes aber doch strukturell ähnliches Abbild - der Alltagswelt der Stadt angelegt ist, muss sie logischerweise nun an die neuen Bedingungen der Alltagswelt angepasst werden. Gerade weil Ulenhart ganz ernsthaft einen Kulturtransfer von Spanien nach Böhmen zu erreichen versucht, muss er sowohl die Einsprachigkeit als auch die religiöse Homogenität aufgeben, die für den spanischen Kulturraum seit Abschluss der sogenannten Reconquista und der konfessionellen Vereinheitlichung des Territoriums durch die katholischen Könige prägend war. Das Prag, das die Novelle entwirft, ist der dort lebensweltlich vorhandenen Pluralität der Glaubensrichtungen und der Volksstämme angepasst - und mit ihm auch der soziale Kosmos des Zuckerbastels, der als Zerrspiegel dieser Stadt fungiert. Die konfessionelle Pluralität des neuen sozialen Kontextes motiviert Ulenhart auch zu einer Anpassung des Werdegangs seiner Protagonisten. Isaac Winckeschneider ist in seiner Fassung Sohn eines kalvinistischen Pfarrers, während Jobst von der Schneidt einer mährischen Wiedertäuferfamilie entstammt. Und folgerichtig wird die konfessionelle Pluralität auch als neues Element in die Welt des Zuckerbastels eingetragen. Damit ändert sich aber ganz grundsätzlich die Funktion der Religion innerhalb dieser Ordnung. Vor dem Hintergrund eines als Nationalreligion staatlich fest verankerten Katholizismus konnte bei Cervantes die Pseudoreligiosität der Bruderschaft Monipodios nur als eine komische Verfremdung des einen, rechten Glaubens wirken. Im multikonfessionellen Kontext von Prag dagegen war hochgradig umstritten, welche Konfession sich zu Recht im Besitz wahrer Orthodoxie wähnt. Das führt logisch zu weitreichenden Veränderungen am Original. An einer in diesem Sinne besonders einschlägigen Stelle soll diese Behauptung konkretisiert werden: Der Gauner-Novize, der bei Cervantes die beiden Pikaros in die Unterwelt von Monipodio einführt, erklärt dort den beiden Neulingen die Notwendigkeit zur Einhaltung einiger frommer Rituale wie beispielsweise dem - über eine ganze Woche hin verteilten - Beten des Rosenkranzes oder der Marienverehrung, die darin bestehen soll, „Samstag kein Weib anzuschaun, das Maria heißt“. Cortadillo erscheint diese pseudokatholische Ritualpraxis als eine etwas zu laue Frömmigkeit, so dass er einwendet Und nur dieser Tätigkeiten wegen sagen jene Herren, ihr Leben sei gut und gottgefällig? “ „Nu, was ist schon Schlimmes daran? “ - erwiderte der Bursche. „Ist es nicht schlimmer, ein Ketzer, ein Abtrünniger, ein Vater und Muttermörder oder ein Solomit zu sein? Sodomit wollen euer Gnaden sagen“, bemerkte Rinccón. „Das will ich sagen“, sagte der Bursche. „Alles ist schlimm“, erwiderte Cortado. „Da es aber unser Schicksal einmal so Miguel de Cervantes’ Rinconete y Cortadillo (1613) 43 bestimmt hat, dass wir in diese Bruderschafft eintreten, wäre es gut, wenn Euer Gnaden den Schritt etwas beschleunigten [...] (S. 249f.) 26 Ulenhart passt diese Szene an den neuen multikonfessionellen Sozialkontext an und fügt einen entsprechenden langen Exkurs ein, in dem er betont, dass in der Burschenschaft das Toleranzgebot herrsche und es einem jeden freistehe, „sein Andacht auf ein oder den andern Weg, er sey gleich Catholisch, Picardisch, Hussitisch oder Evangelisch, und wie ihn Gott ermahnt, zu erweisen“ 27 . Der Verweis auf Ketzerei ist in diesem Ambiente dagegen nicht mehr zweckdienlich und wird gestrichen. Trotz Beibehaltung des witzigen Versprechers (‚solomico‘ statt ‚sodomita‘ bei Cervantes, ‚Odomisterey‘ statt ‚Sodomiterey‘ bei Ulenhart) wird die komische Funktion dieses Wortwechsels weitgehend aufgehoben. So weitgehend, dass die Bruderschaft des Monipodio in ein ganz neues Licht gerückt wird. Das Zentrum der Unterwelt von Sevilla stellt im spanischen Original zwar sicher keinen Ort des Bösen dar, aber die Gaunerschaft blieb doch grundsätzlich zu suspekt, um als ein positives Sozialmodell gelten zu können. Vor allem aber war diese Gesellschaft mit ihrem paradoxer Wunsch, sozialen Normen bei gleichzeitiger Normüberschreitung des Gesetzes zu folgen, viel zu komisch inszeniert, um vom Leser wirklich ernst genommen werden zu können. Die Prager Bruderschaft des Zuckerbastels dagegen erschien einigen Interpreten des Textes von Ulenhart geradezu als eine „Utopie religiöser Toleranz“. 28 26 Ich zitiere diese Passage zwar grundsätzlich immer noch nach der deutschen Übersetzung von Rothbauer, korrigiere aber an den durch Unterstreichung hervorgehobenen Stellen, wo sich m.E. der Übersetzer zu weit vom Originaltext entfernt hat und dessen religiöse Implikationen bewusst vereindeutigt, indem er das neutrale „hacer“ (‚machen‘) als ‚Übungen‘ und das moralische Werturteil „malo“ (‚schlecht‘, ‚schlimm‘) als ‚sündhaft‘ wiedergibt. Im Original lautet die Passage folgendermaßen: „¿Y con solo esso que hazen, dizen essos señores“, dixo Cortadillo, „que su vida es santa y buena? “ „Pues ¿que tiene de malo? ”, replicó el moço. „¿No es peor ser herege o renegado, o matar a su padre y madre, o ser solomico? “ „Sodomita querra dezir v. m.“, respondio Rincon. „Esso digo“, dixo el moço. „Todo es malo“, replicó Cortado. „Pero pues nuestra suerte ha querido que entremos en esta cofradia, vuessa merced alargue el paso [...]“ (Cervantes: „Rinconete y Cortadillo“, Ed. Schevill/ Bonilla, S. 246). 27 Ulenhart, Historia von Isaac Winckelfelder, S. 97 [152], bzw. Cervantes/ Ulenhart, Historia von Isaac Winckelfelder, S. 66. 28 Zu dieser Einschätzung kommt z.B. Guillaume van Gemert: „Ulenhart, Niclas.“ In: Literatur- Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. von Walther Killy. Band 11. Gütersloh, München 1991, S. 469. Ich übernehme das Zitat aus Martino, „Die Rezeption des Rinconete y Cortadillo“, S.91, der die religiösen Umwertungen des Textes von Ulenhart ausführlich diskutiert. Hanno Ehrlicher 44 VI Glauben in der Realität der Frühen Neuzeit und in der Literatur Inwieweit Ulenhart tatsächlich eine derartige Utopie verfolgte, kann im Rahmen dieses Beitrags nicht abschließend geklärt werden. Die Verschiebung der Religionsproblematik, die mit dem am Text von Cervantes vorgenommenen Kulturwechsel von Sevilla nach Prag einhergeht, kann in jedem Fall als symptomatisch gelten. Nicht nur beim Transfer der quasipikaresken Novelle von Cervantes, sondern beim Transfer der unterhaltungsorientierten volkssprachige Literatur Spaniens, zu der die novela picaresca und alle anderen Formen des ‚niederen‘ Romans zweifellos zählen, in den deutschsprachigen Kulturraum überhaupt erweist sich der Umgang mit der Religion eins um andere Mal als Gretchenfrage, bei der die frühneuzeitlichen Übersetzer fast notwendig an ihre Grenzen gelangen mussten. Unter den Bedingungen der Gegenreformation gab es für die spanischen Autoren schlichtweg keinen strukturell vergleichbaren Druck zur konfessionellen Festlegung, da der Katholizismus als die einzig legitime Form der Religion normativ durchgesetzt war. Protestantische Neigungen, wie etwa Michael Nerlich sie in einer ‚heterodoxen‘ Lektüre zu Los trabajos de Persiles y Sigismunda (1617) vermutete 29 - dem zweiten, wenn auch heute weitgehend ungelesenen ‚großen Werk’ von Cervantes - sind zwar auch für spanische Autoren nicht gänzlich ausgeschlossen. Wenn sie bei Cervantes oder anderen tatsächlich existiert haben sollten, mussten sie jedoch so gründlich verborgen werden, dass sie für den Durchschnittsleser gar nicht wahrnehmbar und insofern politisch ganz dysfunktional waren. Die konfessionelle Homogenität in Spanien schloss Religionskritik zwar keineswegs aus, dispensierte aber sehr wohl von der Notwendigkeit, sich zwischen konkurrierenden Konfessionen eindeutig entscheiden zu müssen oder aber ebenso eindeutig die Position der Toleranz zu beziehen. Diese These vom Druck zur konfessionellen Vereindeutigung der spanischen Unterhaltungsliteratur, welcher bei ihrer ‚Übersetzung‘ in den deutschsprachigen Kulturraum entstand, ließe sich an vielen Fällen belegen, besonders gut etwa an der Übertragung des Guzmán durch Aegidius Albertinus, dem der Pikaroroman Alemáns offenbar religiös zu ambivalent war, weshalb er selbst durch entsprechende Ausgestaltungen ein offenes Bekenntnis zu den nachtridentinischen Dogmen des Katholizismus in den Text verankerte. 30 Konfessionskonflikte stellten in Deutschland des 17. Jahrhunderts notwendiger Weise, anders als im konfessionell schon weitgehend vereinheitlichten Spanien, eine die Lebenswelt durchdringende Angelegenheit dar, die auch die Literatur beschäftigen musste. Gerade in der Stadt Augsburg, in der Ulenharts Text gedruckt wurde, kann man diese Problematik bis in die Details des Alltagslebens nachvollziehen. Sie betrifft auch den Lebenslauf des katholischen Druckers Andreas Aperger, der unter schwedischer Besatzung im Dreißigjährigen Krieg die Stadt für mehrere Jahre verlassen musste. Derartig instabile Verhältnisse wirkten aus der Sicht Spaniens, wo die Krone seit dem Abschluss der Reconquista gegenüber religiösen Minderheiten mit 29 Michael Nerlich: Le „Persiles“ décodé ou la „Divine Comédie“ de Cervantes. Clermont-Ferrand 2005. 30 Erst Albertinus machte den Roman damit zu einer wirklichen „Pikareske im Dienste der Gegenreformation“. Siehe dazu Hans Gerd Rötzer: Der europäische Schelmenroman. Stuttgart 2009, S. 67-37. Miguel de Cervantes’ Rinconete y Cortadillo (1613) 45 Hilfe der Inquisition ein Programm der Nulltoleranz verfolgte, befremdlich. Ein Reflex dieser Wahrnehmung findet sich auch im zweiten Teil des Don Quijote von 1615. In diesem zweiten Teil verlieh Cervantes seinem Roman nicht nur eine metaliterarische Drehung und machte ihn zu einem regelrechten Buch der Bücher machte 31 , gleichzeitig reflektiert er darin auch die erst einige Jahre zuvor, 1609, getroffene politische Entscheidung zur definitiven Vertreibung der letzten verbliebenen religiösen Minderheit Spaniens, der Morisken. Cervantes verbindet so die Steigerung des Fiktionscharakters seines Werks mit einer gleichzeitigen Steigerung politischer Referenzen und ‚Wirklichkeitssättigung‘. Im Bericht, den der aus Spanien vertriebene, aber heimlich zurückgekehrte Ricote seinem Dorfnachbarn Sancho Panza erstattet, taucht auch Augsburg als ein emblematischer Ort der kulturellen Fremderfahrung auf: Ich reiste weiter nach Italien; von dort kam ich nach Deutschland, wo man, wie es mir scheint, am freiesten zu leben vermag, nehmen es doch die Leute dort in Gewissensfragen nicht so überaus genau; jeder lebt dort, wie es ihm am besten gehagt, herrscht doch im größten Teil Deutschlands Gewissensfreiheit. Ich habe mich in einem Ort in der Nähe von Augsburg niedergelassen. 32 Daraus lässt sich jedoch kein einfaches Credo des Autors für oder gegen die religionspolitische Praxis in Spanien im Vergleich zu der multikonfessionellen Situation im deutschsprachigen Kulturraum gewinnen. Dafür ist die Figur, der diese Rede in den Mund gelegt ist, schlechterdings viel zu ambivalent gestaltet. Cervantes legt dem Leser, vermittelt über Sancho Panza, der trotz aller Glaubensdifferenz seinem ehemaligen Nachbarn Ricote mit großer Herzlichkeit begegnet, einerseits Einfühlsamkeit, wenn nicht gar Mitleid mit dieser Figur nahe. Gleichzeitig jedoch macht er ausgerechnet Ricote zum Sprachrohr der offiziellen politischen Begründung der Moriskenvertreibung und instrumentalisiert so gerade ein betroffenes Individuum zur Rechtfertigung des Ausschlusses eines ganzen Kollektivs. Diese Widersprüchlichkeit ist durchaus symptomatisch für Cervantes und über seine persönliche Situation hinaus wohl auch kennzeichnend für die frühneuzeitliche Literatur Spaniens. Als Bürger einer sich gegenreformatorisch eindeutig positionierenden Monarchie besaß Cervantes keineswegs die Freiheit, eine andere als die einzig rechtgläubige Position in Glaubensdingen zu beziehen, dafür in seiner Rolle als Erzähler unterhaltsamer Geschichten aber eine umso größere, diesen Positionierungszwang zugunsten der Konstruktion eines fiktiven Weltentwurfs mit eigenen Regeln und dem Recht zu Mehrdeutigkeit aufzuheben. Und um ihn bei diesem Unternehmen begleiten zu können, benötigt der heutige Leser mit Sicherheit keine bestimmte Konfession, sondern nur jenen eingeschränkten Glauben an die Fiktion, für den Samuel Taylor 31 Gerhard Poppenberg: „Das Buch der Bücher. Zum metapoetischen Diskurs des Don Quijote“. In: Christoph Strosetzki (Hg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote. Berlin 2005, S. 195-204. 32 Cervantes: Don Quijote, S. 1141. Hanno Ehrlicher 46 Coleridge später die berühmte Formel von der „willing suspension of disbelief“ fand. 33 Literaturverzeichnis Anonymus: Leben und Wandel Lazaril von Tormes: Und Beschreibung, was derselbe für Unglück und Widerwärtigkeit ausgestanden hat. Verdeutscht 1614. Hg. Manfred Stendrup. Nachwort von Giesela Noehles. Stuttgart 1983. Ders.: Lazarillo de Tormes/ Klein Lazarus vom Tormes. Spanisch/ deutsch übers., kommentiert und mit einem Nachw. vers. von Hartmut Köhler. Stuttgart 2007. Alemán, Mateo: Das Leben des Guzmán von Alfarache. Aus d. Span. v. Rainer Specht. In: Spanische Schelmenromane. Bd. 1. Hg. Horst Baader. München 1964. 65-879. Barthes, Roland: Die Lust am Text. Frankfurt a.M. 1974. Ders.: „Vom Werk zum Text“. Texte zur Theorie des Textes. Hgg. Stephan Kammer und Roger Lüdeke. Stuttgart 2005. 40-51. Ders.: „Der Tod des Autors“. Texte zur Theorie der Autorschaft. Hgg. Fotis Jannidis und Gerhard Lauer u.a. Stuttgart 2007. 185-193. Boyd, Stephen (Hg.): A Companion to Cervantes’s „Novelas ejemplares“. Woodbridge u.a. 2005. Cervantes Saavedra, Miguel de: „Rinconete und Cortadillo“.Obras completas de Miguel de Cervantes Saavedra. Bd. 1 Novelas exemplares. Hgg. Rodolfo Schevill und Alfonso Bonilla. Madrid 1922. 208-328. Ders.: Rinconete y Cortadillo. Hrsg. u. kommentiert von Rosa Navarro Durán. Junta de Andalucia 2010. E-Book; URL: http: / / www.juntadeandalucia.es/ cultura/ bivian/ media/ flashbooks/ lecturas_pendientes/ rinconete_cortadillo/ index.html. Ders.: „Rinconete und Cortadillo“. Exemplarische Novellen/ Die Mühen und Leiden des Persiles und der Sigismunda. Hg. und übersetzt von Anton M. Rothbauer. Stuttgart 1963. 235-280. Ders.: Don Quijote de la Mancha. Hg. und neu übersetzt von Anton M. Rothbauer. Stuttgart 1964. Cervantes Saavedra, Miguel de / Niclaus Ulenhart: Historia von Issac Winckelfelder und Jobst von der Schneidt. Hg. Gerhard Hoffmeister. Leipzig 1983. Ehrlicher, Hanno und Gerhard Poppenberg (Hg.): Cervantes’ „Novelas ejemplares“ im Streitfeld der Interpretationen. Exemplarische Einführungen in die spanische Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin 2006. Gier, Helmut und Johannes Janota (Hg.): Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1997. Herrea Puga, Pedro: Sociedad y delincuencia en el Siglo de Oro. Madrid 1974. Hinrichs, William H.: The Invention of the Sequel. Expanding Prose Fiction in Early Modern Spain. Woodbridge, Suffolk, UK 2011. Jackson, H. J. (Hg.): Samuel Taylor Coleridge. Oxford 1985. Marino, Alberto: „Die Rezeption des Rinconete y Cortadillo und der anderen pikaresken Novellen von Cervantes im deutschsprachigen Raum (1617-1754)“. Daphinis 34 (2005): 23-135. Nerlich, Michael: Le „Persiles“ décodé ou la „Divine Comédie“ de Cervantes. Clermont-Ferrand 2005. 33 Die Formel findet sich in Samuel Taylor Coleridges Biographia Literaria von 1817. Vgl. H. J. Jackson (Hg.): Samuel Taylor Coleridge. Oxford 1985, S. 314. Miguel de Cervantes’ Rinconete y Cortadillo (1613) 47 Niemeyer, Katharina und Klaus Meyer-Minnemann: „Cervantes y la Picaresca“. La novela picaresca. Concepto genérico y evolución del género (siglos XVI y XVII). Hgg. Klaus Meyer- Minnemann und Sabine Schlickers. Madrid und Frankfurt 2008. 223-262. Perry, Mary E.: Crime and Societey in Early Modern Seville. Hanover, N.H. 1980. Poppenberg, Gerhard: „Das Buch der Bücher. Zum metapoetischen Diskurs des Don Quijote“. Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote. Hg. Christoph Strosetzki. Berlin 2005. 195-204. Rötzer, Hans Gerd: Der europäische Schelmenroman. Stuttgart 2009. Scheerer, Thomas: „Miguel de Cervantes: ‚Don Quijote‘“. Große Werke der Literatur. Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg. Hg. Hans Vilmar Geppert. Augsburg 1990. 69-86. 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Zwo kurtzweilige/ lustige/ vnd lächerliche Historien/ Die erste / von Lazarillo de Tormes, einem Spanier/ was für Herkommens er gewesen/ wo vnd was für abenthewerliche Possen/ er in seinen Herrendiensten getrieben/ wie es jme auch darbey/ biß er geheyrat/ ergangen/ vnnd wie er letstlich zu etlichen Teutschen in Kundschafft gerathen. Auß Spanischer Sprach ins Teutsche gantz trewlich transferiert. Die ander/ von Issac Winkelfelder/ vnd Jobst von der Schneid/ Wie es disen beyden Gesellen in der weitberümmten Statt Prag ergangen/ was sie daselbst für ein wunderseltzame Bruderschafft angetroffen/ vnd sich in dieselbe einuerleiben lassen. Durch Niclas Ulenhart beschriben. Augsburg 1617. Abbildungsnachweise Abbildung 1: Zwo kurtzweilige/ lustige/ vnd lächerliche Historien, Titelkupfer der Originalausgabe von 1617, nach dem Reprint München 1983 [S. 5]. Marie Leprince de Beaumont Le Magasin des Adolescentes Ein Klassiker der französischen Erziehungsliteratur des 18. Jahrhunderts Rotraud von Kulessa Als eine der meist gelesensten Autorinnen der französischen Aufklärung ist Marie Leprince de Beaumont (1711-1780? ) heute, seit der Verfilmung durch Walt Disney, vor allem als Autorin des Märchens La belle et la bête bekannt. Zu Lebzeiten und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hingegen schuldet Marie Leprince ihren Ruhm als Begründerin der Kinder- und Jugendliteratur mit ihrer Serie von Erziehungsdialogen, vom Magasin des Enfants (1756) über das Magasin des adolescentes (1760) hin zu den Instructions pour les jeunes dames (1764). Neben den zahlreichen der Erziehung junger Mädchen (den Magasins) und Jungen (Le mentor moderne 1772/ 1773) gewidmeten Schriften ist ihr an die Armen und Bauern gerichteter Erziehungsdialog, Le magasin pour les pauvres (1767) zu erwähnen, der sie lange vor Berquin (Bibliothèque des Villages, 1790) und Philipon de la Madelaine (Vues patriotiques sur l’éducation du peuple, 1783) zur Verfechterin der Demokratisierung der Erziehung im 18. Jahrhundert werden lässt. Darüber hinaus ist Leprince de Beaumont Autorin mehrerer Romane: Le triomphe de la vérité, ou Mémoires de Mr. De la Villette (1748), Civan, roi de Bungo, histoire japonaise, (Londres, Jean Nourse, 1754); Lettres d’Emerance à Lucy, Paris/ Lyon, Pierre Bruyset 1765; Lettres de Madame du Montier à la Marquise de *** sa fille (1750-52), Mémoires de Madame de Batteville, ou La veuve parfaite (1766), La nouvelle Clarice, histoire véritable (1767). Während Civan, roi de Bungo der dem jungen Joseph II. von Österreich, Sohn Maria- Theresias, und damit der Prinzenerziehung gewidmet ist und dabei die Exotismusströmung sowie die damit einhergehende Gesellschaftskritik bedient, 1 verschreiben sich die weiteren Romane, die entweder der Gattung des Briefromans oder der Pseudomemoiren angehören, der literarischen Strategie der fiktiven Authentizität. Beaumont bedient sich somit der romanesken Erfolgsstrategien ihrer Zeit, die sie 1 Marie-Jeanne Leprince de Beaumont: Civan, roi de Bungo. Histoire japonaise ou tableau de l’éducation d’un Prince, éd. Alix S. Deguise, Genève 1998, S. XVII-XXI. Rotraud von Kulessa 50 allerdings zum Zweck der religiösen und moralischen Erziehung ihres vorwiegend weiblichen - Lesepublikums umfunktioniert. 2 Ihrem pädagogischen Hauptwerk geht ihre journalistische Erfahrung voraus. In den Jahren 1750-52 publiziert sie in London Le nouveau magasin françois, das ebenfalls an ein vornehmlich weibliches Publikum gerichtet ist und neben literarischen Beiträgen auch Literaturkritik und politische Beiträge enthält. 3 Auch hier steht eine erzieherische Zielsetzung im Vordergrund, nämlich der Anspruch das Wissen ihrer Zeit auf angenehme Weise zu divulgieren. Im Folgenden wollen wir uns dem zweiten ihrer Magasins zuwenden, dem Magasin des adolescentes, das der Erziehung der heranwachsenden, bzw. pubertierenden Mädchen gewidmet ist. In einem ersten Schritt werden wir das Werk in die Reihe der Magasins einordnen, d.h. insbesondere die Entwicklung vom Magasin des enfants zum Magasin des adolescentes nachvollziehen, um im Anschluss daran das erzieherische Programm bzw. das didaktische Vorgehen und dessen Inszenierung im Text betrachten. Im letzten Schritt werden wir die Inhalte des Magasins des adolescentes im Kontext der Debatten der französischen Aufklärung untersuchen. I Vom Magasin des enfants zum Magasin des adolescentes Die drei Magasins der Marie Leprince de Beaumont erfüllen jeweils einen doppelten Zweck bzw. richten sich an ein doppeltes Publikum. Die in Form von Dialogen inszenierten Lehrsituationen sollen gleichermaßen als Anleitung für Erzieherinnen gelten als auch Lese-und Lernstoff für das jeweils anvisierte kindliche bzw. jugendliche Lesepublikum bieten. 4 Wie Marie Leprince de Beaumont in ihrem Vorwort zu den Magasins des adolescentes explizit formuliert, sind ihre erzieherischen Schriften durch ihre eigene Tätigkeit als Pädagogin inspiriert. 5 Ihre Ausbildung im Kloster von d’Ernemont in Rouen, 6 das zwar eine religiös geprägte Ausbildung vermittelte, darüber hinaus aber relativ progressive Erziehungsmethoden vertrat, prägt darüber hinaus ihre pädagogische Praxis. So erwähnt Leprince de Beaumont in ihren Lettres diverses et critiques (Nancy, 1750), dass die Prügelstrafe in Ernemont ausdrücklich ver- 2 Vgl. Pierre-Olivier Brodeur: „‚Ma chère Julie n’a jamais lu de romans‘ Madame Leprince de Beaumont et la recherche d’un romanesque nouveau“, in: Marie Leprince de Beaumont. De l’éducation des filles à La Belle et la Bête. Hg von J. Chiron/ C. Seth. Paris: 2013, S. 47-57. 3 Vgl. Barbara Kaltz: Jeanne Marie Leprince de Beaumont. Contes et autres écrits. Oxford 2000, S. 8- 20. 4 Vgl. Rotraud von Kulessa: „La fonction du dialogue dans ‘Le Magasin des enfants’ de Mme Leprince de Beaumont“. In: Jeanne-Marie Leprince de Beaumont. De l’éducation des filles à La belle et la bête. Hg. von Jeanne Chiron/ Catriona Seth. Paris 2013, S. 73-83. 5 M. Leprince de Beaumont, Le Magasin des adolescentes ou Dialogues entre une sage Gouvernante, et plusieurs des ses Elèves de la première distinction, Londres 1760, Bd. 1, Avertissement, S. xvj: „Je travaille d’après nature, mes élèves me fournissent des originaux dans tous les genres, et c’est ce qui abrège mon travail.“ 6 Vgl. Catriona Seth: „Introduction“. In : Jeanne-Marie Leprince de Beaumont. De l’éducation des filles à La belle et la bête. Hg. von Jeanne Chiron/ Catriona Seth. Paris 2013, S. 16-19. Marie Leprince de Beaumont Le Magasin des Adolescentes 51 boten war. 7 Prinzipien, die sich die Autorin auch für ihre Tätigkeit als Erzieherin englischer adeliger Mädchen zum Vorbild nimmt, die sie wohl zwischen 1748 und 1764 in London ausgeübt hat 8 . Bedeutende junge Damen des englischen Adels gehören zu ihren Schützlingen, wie Lady Sophia Carteret, 9 künftige Gräfin von Shelburne, die Lady Sensée Pate gestanden hat, wie Leprince de Beaumont in ihrem Widmungsbrief des Magasin des adolescentes an dieselbe hervorhebt. 10 Innovativ erscheint in den Magasins insbesondere das Prinzip der Anpassung von Inhalt und Sprache an das jeweilige Zielpublikum, ein Programm, das explizit im ausführlichen Untertitel des Magasins des enfants ausgeführt wird: Magazin für Kinder oder Dialog einer weisen Gouvernante mit ihren Schülerinnen, in dem junge Menschen entsprechend ihrer Begabungen, ihres Charakters und ihrer Neigungen zum Denken, Sprechen und Handeln gebracht werden. Es werden die Fehler ihres Alters dargestellt; es wird gezeigt, wie diese zu korrigieren sind; man bemüht sich darum, ihr Herz wie auch ihren Geist zu formen. Es wird in die Heilige Schrift, die Mythologie, die Geographie, etc. eingeführt […] Das Ganze wird abgerundet durch sinnvolle Überlegungen und moralische Märchen, die erfreuen sollen; alles in einfachem Stil gehalten, der ihren jungen Jahren entspricht. 11 Die am Gespräch beteiligten Personen sind jeweils zu Beginn eines jeden Werkes mit Namen und Alter inventarartig aufgeführt. Einige der Schülerinnen werden durch allegorische Namen charakterisiert, wie Lady Spirituelle, Lady Tempête, Lady Sensée und vor allem auch die Erzieherin selbst, Mlle Bonne, deren Namen Programm ist: Mit ihrer unfehlbaren Güte führt sie auch die schwierigeren Schülerinnen, wie Lady Tempête, immer wieder auf den Pfad der Tugend zurück. 12 7 Marie Leprince de Beaumont: Lettres diverses et critiques. Nancy 1750, t. II, p. 97, zit. nach Catriona Seth, op.cit., S. 17: „Dans la maison, où j’ai été élevée, il est expressément défendu de frapper les écolières: La Maîtresse qui a manqué à ce point, doit à genoux demander pardon à ses Écolières.“ 8 Zur Biographie Leprince de Beaumonts, vgl. Catriona Seth: „Introduction“. In: Jeanne-Marie Leprince de Beaumont. De l’éducation des filles à La belle et la bête. Hg. von Jeanne Chiron/ Catriona Seth. Paris 2013, S. 9-32. 9 Vgl. C. Seth, op.cit., S. 31. 10 Marie Leprince de Beaumont: Le Magasin des adolescentes, op.cit., épitre dédicatoire, ohne Seitenangabe: „Vous m’avez fourni le caractère de Lady Sensée, si vous croyez que ma respectueuse tendresse pour vous m’ait fait cette illusion, et que j’aie embelli le tableau sans le vouloir; attachez-vous à rectifier ma faute, et à le rendre si ressemblant qu’il n’y manque aucun trait.“ 11 Die deutschen Übersetzungen sind von Rotraud von Kulessa. Das französische Original findet sich jeweils in der Fußnote: Magasins des enfants ou Dialogue d’une sage gouvernante avec ses élèves, dans lesquels on fait penser, parler, agir les jeunes gens suivant le génie, le tempérament et les inclinations de chacun. On y représente les défauts de leur âge ; l’on y montre de quelle manière on peut les corriger ; on s’applique autant à leur former le cœur, qu’à leur éclairer l’esprit : On y donne un abrégé de l’Histoire Sacrée, de la Fable, de la Géographie etc [...]. Le tout rempli de réflexions utiles et de Contes moraux pour les amuser agréablement ; et écrit d’un style simple et proportionné à la tendresse de leurs années. 12 Marie Leprince de Beaumont: Le Magasin des enfants. Hg. von par Mme Louise SW.-Belloc. Paris 1865, S.331: „Mlle Bonne: Vous aviez de la bonne volonté, mon enfant ; d’ailleurs, vous n’aviez que sept ans : le dragon d’orgueil qui était dans votre cœur était encore tout petit, nous l’avons étranglé facilement ; mais le dragon de cette malheureuse créature [Lady Tempête, R.v.K.] est fort ; il a treize ans, et il l’étranglera elle-même au premier jour.“ Rotraud von Kulessa 52 Lady Sensée hingegen erscheint von Beginn an als Musterschülerin, der auch die Rolle der Hilfslehrerin zukommt. Zugleich ist sie der Beweis des Erfolgs der Methode Mlle Bonnes bzw. Marie Leprince de Beaumonts. Im Magasin des enfants werden die Rollen im Erziehungsdialog je nach Alter und Disposition der Schülerinnen verteilt. Die jüngeren erzählen aus der Erinnerung die Geschichten aus der Bibel, während die Älteren von ihrer Lektüre der griechischen Mythologie bzw. von Romanen berichten. Das Erzählen der Märchen ist allerdings für Mlle Bonne reserviert, die sich diese als Belohnung für ihre Schülerinnen vorbehält. Gleichzeitig enthalten die Märchen aber auch jeweils eine erzieherischen Botschaft und erfüllen damit den doppelten Zweck des Erfreuens und Belehrens. Die Diversität der Schülerinnen zielt auf die Illusion der Realität ab und unterstreicht zugleich die Fähigkeit der Erzieherin, sich auf die das einzelne Kind bzw. die spezifische Lern- oder Erziehungssituation einzustellen. 13 In der Tat besteht das Prinzip der altersgerechten Erziehung nicht allein in der entsprechenden Auswahl des Lernstoffes, sondern erst einmal in der Anpassung der Sprache an das Zielpublikum, 14 wie Leprince de Beaumont nicht nur im Untertitel des Magasin des enfants unterstreicht, sondern auch im Vorwort desselben. 15 Die Aufgabe Leprince de Beaumonts ist umso komplexer als sie für ein englisches Publikum schreibt und ihre Werke auch zum Erlernen des Französischen als Fremdsprache dienen sollen. 16 Wie bereits erwähnt, gehorcht der Dialog bei Leprince de Beaumont einer zweifachen Zielsetzung. Zum Einen handelt es sich um eine Handreichung für Erziehe- 13 Laurence Vanoflen: „La conversation, une pédagogie pour les femmes? “. In: Femmes éducatrices au siècle des lumières. Hg. von Marie-Emannuelle Plagnol/ Isabelle Brouard-Arends. Rennes 2007, S.183-196, hier S.188: „autant d’images d’enfants bien réels, et donc imparfaits, avec le mode d’emploi pour en tirer le meilleur. [...] l’art de s’adapter à l’enfant se ramène en fait à celui d’écouter, de louer et encourager les progrès, en choisissant les récits propres à corriger ses travers.“ 14 Ibid., S.188: „De fait, l’effort d’adaptation à l’esprit de l’enfant est d’abord littéraire. Simplicité du langage et brièveté sont les premières marques d’une littérature pour enfants émergeant et consciente d’elle-même.“ 15 Marie Leprince de Beaumont: Le Magasin des enfants, Bd. 1. La Haye 1768, S.vj-vij: „Le dégoût d’un grand nombre d’enfants pour la lecture, vient de la nature des livres qu’on leur met entre les mains; ils ne les comprennent pas, & de là naît inévitablement l’ennui. Je n’en excepte aucun ouvrage, quand je porte cette décision. Les miens, comme les autres, sont sujets à cet inconvénient, & je suis contrainte de les refondre, quand je veux les faire comprendre, non seulement aux enfants du premier âge, mais même à ceux qui seroient capables de les comprendre parfaitement s'ils étoient écrit en Anglois. Une fille de quinze ans, qui commence à apprendre le François, a besoin d’un style aussi simple, qu’un autre de cinq ans, qui lit dans sa langue maternelle. Qu’on en juge par là de l’ennui que doivent donner aux pauvres enfans, la lecture & la traduction de Télémaque & de Gil Blas, auxquels on borne d’ordinaire toutes leurs lectures dans les Ecoles.“ 16 Zur Problematik der Magasins als Lehrwerke für den Erwerb des Französischen als Fremdsprache vgl. B. Kaltz, op.cit., p. 56; und dies.: „Der Fall Beaumont oder: Wie lernten Mädchen im 18. Jahrhundert Französisch als Fremdsprache? “ In: Sprachen der Bildung - Bildung durch Sprachen im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts. Hg. von W. Hüllen & F. Klippel. Wiesbaden 2005, S. 247-260. Marie Leprince de Beaumont Le Magasin des Adolescentes 53 rinnen, weshalb die Dialoge in Form eines performativen Aktes den Erfolg des erzieherischen Handelns Mlle Bonnes vorführen. Zum anderen liefern die Dialoge aufbereiteten Lesestoff bzw. Wissen für das jeweilige kindliche Publikum. Das Leseprogramm wird durch den Schülermund vermittelt und die altersgerechte Sprache gewinnt damit an Authentizität. Dabei hat jeder rezitierte Text exempelhaften Charakter und vermittelt eine moralische Botschaft. 17 Darüber hinaus bietet das Werk auch einen Lernstoffbzw. hierarchisierten Lesekanon, in dem die Bibel an erster Stelle steht, gefolgt von der Mythologie und der Literatur im weiteren Sinne, wobei Leprince de Beaumont die Leser über ihre Quellen zumeist im Unklaren lässt. 18 Der Großteil der Märchen hingegen stammt wohl aus der Feder der Autorin selbst, die im Vorwort zum Magasin des enfants die Notwendigkeit unterstreicht, neue Märchen zu erfinden, da die bereits existierenden sich nicht zur moralischen Erbauung von Kindern eigneten. 19 Im Magasin des enfants kommt den Märchen eine führende Rolle zu und werden nur von Mlle Bonne selbst erzählt, als Motivation oder Belohnung für die Schülerinnen. Wie Marie-Emmanuelle Plagnol bereits festgestellt hat, inszenieren die Märchen auf der Mikroebene wiederum eine Erziehungssituation. 20 So verkörpern die Protagonisten der Märchen in der Regel genau die Unarten 17 Marie-Emmanuelle Plagnol-Dieval: „Statut et représentation de la lectrice chez Madame Leprince de Beaumont“. In: Lectrices d´Ancien Régime. Hg. von Isabelle Brouard-Arends. Rennes 2003, S. 615-623, hier S. 621: „La lecture est assujettie à l’édification dans toutes ses modalités. La disposition des textes insérés obéit non pas à une logique littéraire, mais à des impératifs moraux. De même que la stylistique adoptée sert á faire passer une leçon morale, le texte littéraire est conçu dans une visée utilitaire. Il vient illustrer et justifier le commentaire moral qui reste premier.“ 18 Ibid., S.619: „La conséquence est une intense intertextualité, une circulation très dense des textes et, on s’en doute, des questions hasardeuses d’attribution. Mme Leprince de Beaumont ne précise jamais ses sources.“ 19 Marie Leprince de Beaumont: Le magasin des enfants (1768), op.cit., S.viij-ix: „On me dira : nous avons douze volumes des contes de Fées, nos enfants peuvent les lire : à cela je réponds : outre que ces contes ont souvent des difficultés dans le style, ils sont toujours pernicieux pour les enfants auxquels ils ne sont propres qu’à inspirer des idées dangereuses & fausses. Comme j’avois résolu de m’aproprier tout ce que je trouverois à mon usage, dans les ouvrages des autres, j’ai relu avec attention ces contes, je n’en ai pas lu un seul que je puisse raccommander selon mes vues, & et j’avoue que j’ai trouvé les contes de la Mère l’Oye, quelques puériles qu’ils soient, plus utiles aux enfants, que ceux qu’on a écrit dans un style plus relevé. Je trouve moyen de faire comprendre aux enfans, lorsqu’ils lisent la Barbe-bleue, les inconvénients d’un mariage fait par intérêt ; les dangers de la curiosité, les malheurs qui peuvent arriver du peu de complaisance qu’on a pour les caprices d’un époux : l’inutilité du mensonge, pour éviter le châtiment. En pourrois-je trouver autant dans les douze volumes que j’ai cités? Le peu de morale qu’on y fait entrer, est noyé sous un merveilleux ridicule, parce qu’il n’est pas joint nécessairement à la fin qu’on doit offrir aux enfans ; l’acquisition des vertus, la correction des vices.“ 20 Marie-Emmanuelle Plagnol-Dieval, op.cit., S. 620: „Ainsi les personnages des contes des Magasins obéissent à la dichotomie traditionnelle entre bons et méchants, entre vice et vertu, mais cette opposition repose toujours sur un problème éducatif. Au méchant donné comme tel par le conte merveilleux, Mme Leprince de Beaumont substitue un contre-héros mal éduqué, retrouvant ainsi la distribution actantielle de la littérature d’éducation.“ Rotraud von Kulessa 54 bzw. Charakterschwächen, die auch die Schülerinnen betreffen (könnten). Häufig geben sie Anlass zur Diskussion und zur Selbstreflexion bei den kleinen bzw. jungen Mädchen. So hält das Märchen von Fatal et Fortunée aus dem 6. Dialog des Magasin des enfants Lady Charlotte dazu an, bei sich selbst eine Neigung zum Hochmut zu erkennen. Im 13. Dialog bringt das Märchen von den drei Wünschen Lady Mary et Lady Charlotte dazu, sich selbst und ihre Faulheit in Frage zu stellen. Moralische und religiöse Unterweisung, Erzählen von Märchen und Bibelgeschichten, Lektionen in den Naturwissenschaften und der Geographie stehen dabei keineswegs isoliert nebeneinander, sondern gehen auseinander hervor und ergeben sich aus der jeweiligen Gesprächssituation. Das altersgemäße enzyklopädische Wissen wird nicht programmartig vermittelt, sondern situationsadäquat, was am Beipsiel des 5. Dialogs des Magasin des Enfants gezeigt werden soll. Der Dialog beginnt nach dem Mittagessen während eines Gesprächs im Garten mit der Erzählung des bekanntesten Märches der Autorin La belle et la bête 21 durch Mlle Bonne. Ausgangspunkt ist eine Familiensituation, die zugleich den erzieherischen Kontext skizziert. Der reiche Händler, Vater von sechs Kindern, drei Jungen und drei Mädchen, lässt allen sechs eine vorbildliche Erziehung angedeihen. Im Folgenden wird übrigens auf die drei Söhne nur noch am Rande angegangen, wohingegen das Resultat der Erziehung der drei Mädchen ausführlich dargelegt wird. Bei den beiden älteren hat diese keine Früchte getragen; sie sind charakterisiert durch Eitelkeit und Oberflächlichkeit, wohingegen die jüngste und schönste, deshalb La Belle genannt, ihrem Namen auch durch ihren Charakter und ihr Verhalten gerecht wird. Koinzidieren in ihrem Fall innere und äußere Schönheit, ist dies beim Biest, in dessen Abhängigkeit der Vater aufgrund unglücklicher Umstände gerät, nicht der Fall. Die Fähigkeit von Belle, durch ihre Herzensgüte die inneren Qualitäten des Biests zu erkennen, führen am Ende zur Metamorphose desselben in einen schönen Prinzen, zur Belohnung von Belle und zur Bestrafung der ‚bösen‘ Schwestern, zu deren anfänglicher Eitelkeit sich am Ende auch noch Neid und Boshaftigkeit gesellen. Das an das Märchen anschließende Gespräch zwischen Mlle Bonne und ihren Schülerinnen führt zur Selbstreflexion derselben bezüglich ihres eigenen potentiellen Verhaltens in einer vergleichbaren Situation. Abschließend wird die moralische Botschaft von der Erzieherin zusammengefasst: innere Werte sind wichtiger als äußere. Die im Garten umherfliegenden Schmetterlinge, die von Miss Mary bewundert werden, leiten nun zur Lektion in Biologie über. Das Thema der Metamorphose wird forgeführt am Beispiel der Verwandlung der Raupe in den Schmetterling. Bevor diese Verwandlung von Mlle Bonne in allen Einzelheiten geschildert wird, kommt das Gespräch auf die Metamorphosen des Ovid und Lady Spirituelle stellt die Frage nach dem Wahrheitgehalt mythologischer Geschichten im Vergleich zum Märchen. Mlle Bonne verweist auf den Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung und Mythologie, vertagt die Lektion aber mit dem Hinweis auf die fehlende Adäquatheit einer solchen Lektion aufgrund des fehlenden Wissensstandes ihrer Schülerinnen in alter Geschichte. 21 Zum Märchen „La belle et la bête“, vgl. Marie Leprince de Beaumont. De l’éducation des filles à La Belle et la Bête. Hg. von J. Chiron, C. Seth. Paris 2013. Marie Leprince de Beaumont Le Magasin des Adolescentes 55 Die Lektion über den Schmetterling wird gefolgt von der Teestunde, die zum zweiten Teil des Nachmittags überleitet: der Erzählung der Bibelgeschichte der Arche Noah durch Miss Molly. Auch diese Bibelgeschichte führt zu einer naturwissenschaftlichen Fragestellung: die Schülerinnen möchten wissen, warum das Schiff nicht untergeht, was Mlle Bonne zu einer physikalischen Lektion über die Schwere des Wassers motiviert. Am Ende des Tages fasst Mlle Bonne abschließend die religiöse Botschaft der Bibelgeschichte ganz im Credo der Naturreligion zusammen, indem sie Gott als allmächtigen Schöpfer der Natur preist. Das Beispiel des 5. Dialogs der Magasins des enfants zeigt, wie Leprince de Beaumont ihre Erziehungsdialoge streng durchkomponiert, um ihr pädogogisches Programm in schriftlicher Form zu inszenieren. II Le magasin des adolescentes: Erziehungsprogramm und didaktisches Vorgehen Vom Erfolg ihres Magasin des enfants motiviert 22 , veröffentlicht sie ihre den nunmehr heranwachsenden jungen Mädchen gewidmeten Dialoge unter dem Titel Le Magasin des Adolescentes ou Dialogues entre une sage Gouvernante, et plusieurs de ses élèves de la première distinction 1760 in einer ersten Edition bei Nourse (London). 23 Noch im selben Jahr erscheinen mehrere Editionen in ganz Europa. 24 Bis in das 19. Jahrhundert hinein folgen Übersetzungen ins Deutsche, Englische, Holländische, Polnische, Russische, Schwedische, Dänische, Spanische, und Italienische. 25 Das Werk beinhaltet 33 Dialoge in vier Bänden, die Zahl der Schülerinnen ist auf 16 angestiegen, im Alter von fünf bis 18 Jahren, von denen sechs bereits aus dem Magasin des Enfants bekannt sind: Man findet in diesem Magazin einige neue Personen. Wären sie meiner Phantasie entsprungen, hätte ich sie vielleicht anders gestaltet, vielleicht dienen sie auch dazu, meine Ziele zu erfüllen. Ich arbeite Natur getreu. Meine Schüler liefern mir Originale aller Art, und das vereinfacht meine Arbeit. […] Indem ich hier ungefähr zwölf Charaktäre darstelle, zeichne ich mehr oder weniger alle Wege vor, denen ein Lehrer zu folgen hat. 26 Mit diesen Anmerkungen im Vorwort unterstreicht die Autorin nicht nur die Authentizität ihres Werkes, sondern erhebt auch den Anspruch auf Komplexität, denn 22 M. Leprince de Beaumont, Le Magasin des Adolescentes, op.cit., Bd. 1, Avertissement, S. i: „Le bon accueil qu’on a fait au Magasin des enfans, tant à Londres que dans les pays étrangers, m’a déterminé à donner celui des Adolscentes.“ 23 Vgl. B. Katz, op.cit., S. 52. 24 Vgl. B. Kaltz, op.cit., S. 52. 25 Ibid., S. 55-56. 26 M. Leprince de Beaumont, Le Magasin des Adolescentes, op.cit., Bd. 1, Avertissement, S. XVJ: „On trouvera dans ce Magasin quelques nouveaux personnages. S’ils étoient d’imagination, peutêtre les eussé-je autrement choisis; peut-être aussi sont-ils propres à remplir mes vues. Je travaille d’après nature, mes élèves me fournissent des originaux dans tous les genres, et c’est ce qui abrège mon travail. [...] En plaçant ici une douzaine de caractères, je trace à peu près les routes générales que doivent suivre les maîtres.“ Rotraud von Kulessa 56 die am Dialog beteiligten Schülerinnen decken die Bandbreite der möglichen Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen junger Mädchen ab und geben somit für die potentielle Erzieherin Handreichungen für alle erdenklichen Situationen. Im Vorwort zu ihrem Magasin des adolescentes unternimmt Leprince de Beaumont zugleich den Versuch, die Besonderheiten und insbesondere die Gefahren zu beschreiben, die der Altersklasse, die wir heute als Pubertät bezeichnen, eigen sind: Von allen Lebensphasen ist die gefährlichste, so meine ich, diejenige, die gegen vierzehn bzw. fünfzehn Jahren beginnt. In diesem Alter tritt der junge Mensch in die Gesellschaft ein, wo sozusagen eine neue Form seiner Existenz beginnt. Die Leidenschaften, die in der Kindheit unterdrückt sind, treten nun hervor […]. 27 Dabei spricht sie eines der Leitthemen des Werkes an, nämlich die Frage der Kanalisierung der Leidenschaften. Um diese zu domestizieren und die jungen Frauen vor Ausschweifungen und Entgleisungen zu bewahren, gibt es, so Beaumont, nur den Weg der christlichen Erziehung. 28 Oberstes Ziel der Mädchenerziehung ist es also, diese zur Christin zu machen, im Hinblick auf ihre zukünftige gesellschaftliche Rolle als Mutter, Ehefrau, Wirtschafterin und generell als Mitglied der Gesellschaft: „Man muss daran denken, ein Mädchen von fünfzehn Jahren zu einer Christin auszubilden, zu einer angenehmen Ehegattin, einer zärtlichen Mutter, einer aufmerksamen Verwalterin; zu einem Mitglied der Gesellschaft, das diese im Sinne der Vervollkommnung mitgestaltet.“ 29 Die Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Funktion der Erziehung, sowie deren Rückbezug auf aktuelle politische Fragestellungen, auf die noch einzugehen sein wird, zieht sich als roter Faden durch den Text und lässt zu einem bedeutenden Werk der Aufklärungsliteratur werden. In dieser besonderen Lebensphase gelte es weiterhin, die Weichen für das Erwachsenenleben zu stellen und Zukunftsentscheidungen vorzubereiten, bedeutet also für die jungen Mädchen sich entweder für die Ehe oder das Kloster zu entscheiden. 30 Zwecks Legitimation ihres schriftstellerischen Projektes verweist die Autorin sodann auf die Notwendigkeit derartiger Erziehungsratgeber für Gouvernanten, die 27 Ibid., S. i: „De toutes les années de la vie, les plus dangereuses, à ce que je crois, commencent à quatorze et quinze ans. C’est à cet âge qu’une jeune personne entre dans le monde, où elle prend, pour ainsi dire, une nouvelle manière d’exister. Toutes ses passions contraintes dans l’enfance, cherchent alors à se développer, [...].“ 28 Ibid., S. iv-v: „Quel est donc le chemin qui conduit au dérèglement? C’est l’imprudence, la curiosité, la légèreté, l’inapplication. [...] Il faut leur faire l’analyse des remèdes que la Religion leur présente.“ 29 Ibid., S. viij-ix: „Il faut penser à former dans une fille de quinze ans, une femme chrétienne, une épouse aimable, une mère tendre, une économe attentive; un membre de la société qui puisse en augmenter l’agrément.“ 30 Ibid., S. xjx-xx: „Ce ne sont pas seulement les premières années de l’adolescence, qui ont besoin de secours et de leçons. Les dernières décident ordinairement du reste de la vie; puisque c’est en ce temps qu’une jeune personne choisit un état. Le Magasin des Adolescentes doit donc comprendre les précautions qu’elle doit prendre pour s’engager dans le mariage ou pour se déterminer au célibat.“ Marie Leprince de Beaumont Le Magasin des Adolescentes 57 häufig ihr Handwerk nur unzureichend verstünden, aber ganz besonders auch für die Mütter, die zumeist noch weniger geeignet seien, ihren erzieherischen Aufgaben gerecht zu werden, da sie nur allzu häufig von ihren mondänen Freizeitvergnügungen abgelenkt werden und dazu noch ungebildet sind. 31 Wie auch im Magasin des enfants ist Ziel der Autorin eine religiöse Erziehung unter Einsatz der natürlichen Vernunftbegabung der Mädchen, und sie verteidigt sich vorab gegen potentiellen Anfeindungen, die ihr intellektuelle Überforderungen der jungen Menschen augrund ihres geringen Alters und insbesondere ihres Geschlechts unterstellen könnten. 32 Es geht ihr so nicht darum, Wissen selektiv zu vermitteln, oder einen Lesekanon aufzustellen, sondern ihre Schülerinnen dahingehend auszubilden, dass diese in der Lage sind, sich ihrer kritischen Vernunft zu bedienen, Gelesenes eigenständig zu beurteilen und Wahres von Unwahrem zu unterscheiden. 33 Wie auch im Magasin des enfants hat der erste Dialog des Magasin des adolescentes eine expositorische Funktion, indem er die Beziehung zum vorangehenden Magasin des enfants herstellt und damit für die LeserInnen Kontinuität suggeriert. So berichten die Dialogteilnehmer, was sie in der Zwischenzeit getan haben. Die zeitliche Lücke zwischen den beiden Magasins wird mit dem zweijährigen Aufenthalt Mlle Bonnes mit Lady Sensée und Lady Tempête in Frankreich erklärt. Auch werden neue Schülerinnen eingeführt (Lady Louise, Lady Lucie und Miss Champêtre). Das Gespräch zwischen Mlle Bonne und ihren Schülerinnen dreht sich um die persönlichen Stärken und Schwächen der einzelnen; im Gegensatz zum Magasin des Enfants ist der Ton nunmehr freundschaftlich, Lehrerin und Schülerinnen begegnen sich auf Augenhöhe. Die Gouvernante erscheint als Freundin, und die Erziehung erfolgt nicht mehr auf der Basis von Autorität, sondern auf der gegenseitigen Vertrauens: „Mme Bonne: Vergessen sie etwa, dass Sie meine Freundin sind und dass Sie ganz ungezwungen mit mir umgehen dürfen? “ 34 So erlauben sich die Mädchen gar Kritik an ihrer Gouvernante. Wenn Mlle Bonne im ersten Dialog Bescheidenheit predigt, antwortet Lady Marie darauf mit einem Märchen, das eine großzügige und eine selbstsüchtige Schwester gegenüberstellt - einige der Mädchen haben unter Anleitung Bonnes selbst schriftstellerische Fähigkeiten entwickelt: so verfasst Lady Mary Märchen und Lady Tempête ein Reisetagebuch. Madame Bonne erwidert selbst mit einem allegorischen Märchen vom Temple de l’amour propre, mit dem sie die menschliche Eitelkeit als 31 Ibid., S. v-vj: „Les mères le sont-elles davantage? Elles qui devraient sur cela donner le ton aux gouvernantes. Il y en a un grand nombre qui sont aussi ignorantes que ces dernières, beaucoup plus dissipées, et qui ont moins de moeurs.“ 32 Ibid., S. xx: „Quelques personnes trouveront peut-être les leçons du matin qui vont suivre, trop sérieuses pour des dames de quinze à dix-huit ans. Je ne fais qu’écrire mes conversations avec mes écolières, et l’expérience m’apprend qu’elles ne sont point hors de leurs portées.“ 33 Ibid., S.xxj: „On a trop mauvaise opinion de l’esprit des jeunes personnes; elles sont capables de tout, pourvu qu’on les accoutume au raisonnement petit à petit. Aujourd’hui les femmes se piquent de tout lire; histoire, politique, ouvrage de philosophie, de religion; il faut donc les mettre en état de porter un jugement sûr par rapport à ce qu’elles lisent, et leur apprendre à discerner le vrai d’avec le faux.“ 34 Ibid., S, 31: „Mme Bonne: „Oubliez-vous que je suis votre amie, et que vous devez en agir librement avec moi.“ Rotraud von Kulessa 58 Laster zeichnet. 35 Die Schülerinnen reagieren darauf mit einer Kritik an der Eitelkeit ihrer Erzieherin, den sie im Stolz derselben auf ihre Schülerinnen ausmachen. Mlle Bonne nimmt die Kritik der Schülerinnen dankbar auf und zeigt sich damit selbst lernfähig: Ja meine Kinder, ich spreche zu oft von Euch, weil ich Euch liebe, und sicherlich auch, weil es mir Freude macht, meine Erfolge in Euch zu bewundern. […] Ach, meine Damen, ich werde mich bessern, und es sollen alle ermutigt sein, mir meine Fehler zu offenbaren. 36 Der erste Dialog schließt mit einem Lob Lady Spirituelles, das nicht nur dazu dient, den Erfolg des Erziehungskonzeptes Mlle Bonnes/ M. Leprince de Beaumonts zu bezeugen, sondern auch dessen Leitidee in aller Kürze auf den Punkt zu bringen: freiwilliges Lernen durch Freude. 37 Im Gegensatz zu dem Magasin des enfants sind die Dialoge für die älteren Mädchen weniger streng durchkomponiert und variieren in der Struktur. Nicht immer sind alle Schülerinnen anwesend und die Thematik ergibt sich aus der jeweiligen Gesprächssituation, basierend auf der Inszenierung von Spontaneität. Ziel der Lehrgespräche ist dabei immer die Erziehung zum selbständigen Denken. 38 Der systematische Zweifel im Sinne Descartes ist für Madame Bonne oberstes Erziehungsziel; sie möchte ihre Schülerinnen zu Philosophinnen im Sinnes Descartes erziehen. Auf die Frage Lady Marys, ob es überhaupt weibliche Philosophen geben könne, antwortet Madame Bonne mit einer kurzen Abhandlung über die Moralphilosophie beginnend mit Sokrates und endet mit der Feststellung, dass Moralphilosophie Reflexion voraussetzt, wozu Frauen genauso wie Männer befähigt seien. 39 35 Ibid., S. 25. 36 Ibid., S. 31: „Oui, mes enfants, je parle trop souvent de vous parce que je vous aime, et sans doute aussi, pour avoir le plaisir de faire admirer mes talens dans les votres [...]. Ah ça Mesdames, je me corrigerai, et cela encouragera celles qui connoîtront mes fautes à me les dire.“ 37 Ibid., S. 31: „Et il me paraît qu’elle a été bien courte [la visite; R.v.K.]. Visite, conversations, leçons; tout est égal pour moi, tout me paraît récréation.“ 38 Ibid., S. 71: „Madame Bonne: Et voilà ce que je prétendois vous dire, Mesdames. Il ne faut jamais croire aucune chose, parce qu’on l’a lue ou que l’a entendue dire, mais parce qu’elle est conforme à notre raison. Dieu ne nous l’a donnée que pour en faire usage. Je prétends donc. Mesdames, que vous examiniez tout ce que je vous dirai, que vous me contredisiez quand vous croirez avoir de bonnes raisons pour le faire: vous me les direz ces raisons, j’aurai aussi la liberté de vous représenter les miennes, et l’on croira celles dont les raisons auront été les meilleures.“ 39 Ibid., S. 70-71: „Lady Mary: Ma bonne, pourquoi avez-vous appelé Mademoiselle Champêtre votre petite philosophe; je croyois qu’il n’y avait que les hommes qui fussent philosphes? Madame Bonne: C’est que vous n’entendez pas ce que veut dire ce mot, ma chère. Il y a deux sortes de philosophie qu’il ne faut pas confondre. Autre fois on appelloit philosophes, les gens qui s’appliquoient à connoître le cours des astres, à pénétrer dans les secrets de la nature. Cette étude paroît plus propre aux hommes qu‘aux personnes du sexe; mais un homme de notre connoissance s’avisa de dire qu’il y avoit trop long tems qu‘elle demeuroit dans le ciel, et qu’il falloit la faire descendre sur la terre. Cet homme étoit Socrate, ce philosphe qui avoit une si méchante femme. Il enseigna donc une nouvelle philosophie, qui consistoit à sçavoir les moyens d’être heureux: il prouva par de bonnes raisons, que ces moyens consistoient à vaincre Marie Leprince de Beaumont Le Magasin des Adolescentes 59 Später definiert Mme Bonne die Fähigkeit der kritischen Reflexion als kartesianischen Geist („Esprit géometrique“ 40 ), der darin besteht, Vorurteile kritisch zu hinterfragen, wie Leprince de Beaumont es eine der Schülerinnen (Lady Lucie) zum Ausdruck bringen lässt: „Lady Lucie: Ich glaube Euch gerne, meine liebe Gouvernante, aber alle Menschen, und ich allen voraus, überlegen kaum und wenn, dann schlecht; wir haben eine große Zahl falscher Ideen im Kopf, und diese falschen Ideen bestimmen unser Denken.“ 41 Oberstes Prinzip der Erzieherin ist dabei, die Schülerinnen in ihrem Wissensdurst und in ihrer Kritikfähigkeit zu bestärken: „Madame Bonne: Nein natürlich nicht, meine Liebe. Ich respektiere Euren Wissensdurst, egal wie er aussieht; […].“ 42 Dem Alter der Schülerinnen entsprechend treten die Märchen in ihrer allegorischen aber auch belohnenden Funktion zunehmend in den Hintergrund zugunsten der „wahren“ kurzen Geschichten 43 , die in den Dialog eingeflochten werden und die sich aus unterschiedlichsten Quellen speisen, die, wie im Magsin des enfants, nicht immer angegeben werden. So reagiert Mme Bonne in Dialog IV auf Lady Marys Feststellung, ihr gefielen keine Märchen mehr, da diese nicht wahr seien, mit der Ankündigung: Das ist so, weil Sie beginnen, eine junge Dame zu werden. Märchen sind dazu da, Kinder zu erfreuen, und wenn man groß und vernünftig wird, würde man sich schämen, sich mit Unwahrheiten abzugeben; ich werde Euch auch keine mehr erzählen, denn außer den Bibelgeschichten, habe ich noch eine große Zahl anderer zu erzählen, die sehr lustig und sehr wahr sind . 44 Die „wahren“ Geschichten dienen nunmehr weniger der Belohnung, als vielmehr dazu, exempelhaft ein Thema zu illustrieren oder zur Reflexion anzuregen. Ein Thema kann dabei von mehreren Geschichten behandelt werden, so dass diese miteinander in eine komplexe Dialogrelation treten. 45 ses passions, et à devenir raisonnable. Cette science que Socrate enseignoit, s’appelle la Philosophie Morale, et vous voyez bien, mes enfans, qu’elle convient aux dames aussi bien qu’aux hommes: or, la première disposition nécessaire pour apprendre la philosophie, est de beaucoup réfléchir.“ 40 Ibid., S. 77 und 82. 41 Ibid., S. 80: „Lady Lucie: Je le crois comme cela, ma Bonne, mais tous les hommes, et moi toute la première, nous ne réfléchissons guère, et nous réfléchissons mal; nous avons un trés-grand nombre de fausses idées dans l’esprit, et c’est d’aprés ces fausses idées que nous réfléchissons.“ 42 Ibid., S. 71: „Madame Bonne: Non assurément, ma chére. Je respecte le désir de savoir, quel qu’il soit; [...].“ 43 Vgl. Sonia Cherrad: „L‘‚Histoire‘, Forme bréve sans merveilleux dans les Magasins de Marie Leprince de Beaumont“. In: Marie Leprince de Beaumont. De l’éducation des filles à La Belle et la Bête. Hg. von J. Chiron, C. Seth. Paris 2013, S. 59-69. 44 Le Mgasin des adolescentes, op.cit., Bd. 1, S.112-113: „C’est que vous commencez à être une grande fille. Les contes sont bons à amuser les enfans, et quand on devient grande et raisonnable, on auroit honte de ne s’occuper que de choses fausses; aussi ne vous en dirai-je plus guères, parce qu’en outre les histoires de la Sainte Ecriture, j’en ai un très grand nombre d’autres à raconter, qui sont très amusantes et qui sont vraies.“ 45 S. Cherrad, op.cit., S. 61. Rotraud von Kulessa 60 Quellen sind das englische Erfolgsmagazin The Adventurer (Bd.2, Dialog 8), Tallemant de Réaux’s Historiettes, verkürzte Romanfassungen oder vermeintlich authentische Geschichten. Auch aus den Geschichtslektionen, die insbesondere die Antike behandeln und vornehmlich von C. Rollins Histoire ancienne inspiriert sind, speisen sich die Erzählungen, die wiederum in Dialog treten mit den Bibelerzählungen, die im Magasin des Adolescentes vor allem den Propheten gewidmet sind (Elias in Band 1 und 2). Das Beziehungsgeflecht der unterschiedlichen Kurztextsorten dient damit dazu, den Reflexionsprozess der jungen Mädchen zu unterstützen. Das Inszenieren des Erzählens im Text gibt dem Erzählen als literarischer Praxis damit eine quasi philosophische Dimension, die weit über die Exempelhaftigkeit hinausgeht. III Inhalte des Magasin des adolescentes: christliche Apologetik oder Aufklärungsliteratur? In der Forschung zeigt sich die Tendenz, die Werke der Marie Leprince de Beaumont im Bereich der christlichen Apologetik zu verhandeln und diese damit, insbesondere in der französischen Forschung, mit dem Etikett der so genannten Gegenaufklärung zu versehen. 46 Doch wird in den letzten Jahren immer wieder die Frage nach einer Öffnung des Konzeptes der Aufklärung gestellt sowie die Frage nach der Unumstößlichkeit der Dichotomie Aufklärung-Gegenaufklärung, die insbesondere in der französischen Forschung noch immer Gültigkeit hat. 47 Diese Frage stellt sich insbesondere für einen Großteil der Erziehungsliteratur des 18. Jahrhunderts. Bei Marie Leprince de Beaumont finden sich so in der Tat die maßgeblichen Themen und Fragestellungen der Aufklärung, die in der Regel auf den religiös christlichen Kontext zurückgeführt werden. So beruht das Vernunftprinzip, analog zu Descartes, auf der gottgegebenen natürlichen Vernunft. Die Frage des individuellen Glücks wird ebenfalls in einem gottgefälligen Leben, jenseits des mondänen gesellschaftlichen Zeitvertreibs und zerstörerischer Leidenschaften gesucht. Sind diese Ideen und Verfahren zwar der christlichen Apologetik eigen, bedient diese sich bekanntermaßen aufklärerischer Themen und Strategien, um sich in der Verteidigung der Religion zu üben, so hat das Werk der Leprince de Beaumont doch eine politische Dimension, die weit über die Apologetik hinausreicht und es rechtfertigt, sie der Aufklärungsliteratur zuzuschreiben. 46 In diesem Zusammenhang scheint der Titel des letzten Bandes der Zeitschrift oeuvres et critiques emblematisch: „L’apologétique littéraire et les anti-Lumières féminines“ (Oeuvres et critiques, XXXVIII,1, 2014). 47 Es seien an dieser Stelle auf einige Arbeiten verwiesen, die diese Gegenüberstellung in Frage stellen und die Ideologisierung des Aufklärungskonzeptes vor allem in der französischen Forschung kritisieren: Didier Masseau: Les ennemis des philosphes. L’antiphilosophie au temps des Lumières. Paris 2000; David Sorkin: The Religious Enlightenment. Protestants, Jews, and Catholics from London to Vienna. Princeton 2008. Marie Leprince de Beaumont Le Magasin des Adolescentes 61 Bereits Dialog 2 und 3 des Magasin des Adolescentes werden von aufklärerischen Themen wie individuellem Streben nach Glück, die Fragen nach Gerechtigkeit, dem Rechtssystem, der Freiheit des Einzelnen, der Problematik der Ständegesellschaft und der kulturellen Alterität bestimmt. Insbesondere die Frage nach dem individuellen Glücksstreben zieht sich wie ein roter Faden durch die vier Bände des Magasin des adolescentes. So definiert Mme Bonne dieses Streben als dem Menschen eigen. 48 Ganz im Sinne der Aufklärung findet die Suche nach dem Glück auf Erden statt. 49 Dort wird es allerdings begleitet von der Absage an die Leidenschaften, an die mondänen Vergnügungen und die unerfüllbaren Wünsche, so Mme Bonne: „Das Glück ist ein Zustand, in dem das Herz keinerlei Begierde hat, die es nicht in der Lage wäre zu befriedigen, ohne Abscheu zu fürchten.“ 50 Auch die Wahrheitssuche und intellektuelle Beschäftigung trage weit mehr zu einem glücklichen Leben bei als sonstige Vergnügungen, zu denen Mme Bonne Theaterbesuche genauso zählt wie Feste und Bälle. 51 Indem Mme Bonne auf das Spannungsverhältnis von mondänem Glück und christlicher Lebensführung verweist, spielt sie an auf eine der grundlegenden Debatten ihrer Zeit. 52 Ein weiteres Leitthema des Magasin des adolescentes ist die Frage nach der Ständehierarchie, die von Leprince de Beaumont anhand der Problematik der Behandlung der Dienstboten diskutiert wird. Wie in den meisten Fällen wird ein politisches Problem konkret an die Lebenswelt der Schülerinnen angebunden, die in der Regel aus dem Adel stammen und von Bonne dazu angeleitet werden, auch die niederen gesellschaftlichen Ränge mit Respekt zu behandeln. 53 Die Erzählung der römischen Geschichte in Dialog 3 führt sodann zur Diskussion über die Sklaverei und veranlasst Madame Bonne zu folgender Feststellung: 48 Le Magasin des adolescentes, t.1, op. cit., S. 127: „Madame Bonne: „C’est le penchant de tous les hommes, ma chére, nous sommes faites pour le bonheur; nous sommes faites pour le bonheur, nous le cherchons tout le tems de notre vie, [...].“ 49 Zum Thema des Glücksstrebens in der Aufklärung, s. Robert Mauzi: L’idée du bonheur au XVIIIe siècle. Paris, Armand Colin, 1969. 50 Le Magasin des adolescentes, t.2, op.cit., S. 19: „Le bonheur est un état dans lequel le coeur ne forme aucun désir qu’il ne soit en état de satisfaire sans craindre le dégoût.“ 51 Ibid., S. 19-20: „La vérité est la nourriture de l’esprit, et les plaisirs qu’on trouve en la découvrant surpassent infiniment ceux qu’on recherche dans les puériles amusemens du monde; [...].“ 52 Vgl. R. Mauzi, op.cit., S. 180-215. 53 Le Magasin des adolescentes, t.1, op.cit., S. 47: „Mme Bonne: [...] Vous dites que les domestiques ne servent que par intérêt; et quel autre motif peuvent-ils avoir? Quand vous les traitez commes des esclaves, avec une dureté, un orgueil, qui révoltent leur amour propre; car ces gens-là on tun amour propre aussi bien que vous. [...].“ Rotraud von Kulessa 62 Alle Stände sind in Augen Gottes gleich und sogar in den Augen des weisen Menschen. Es gibt keinen wahrhaft niederen Stand, der für einen Menschen entehrend wäre. Nur die Menschen können ihren Stand entehren, wenn sie ihre Aufgaben schlecht erfüllen. 54 Oberstes Prinzip innerhalb der Gesellschaft ist so die Gleichheit vor Gott, aber auch der vernunftbegabte Mensch kann sich vor dieser Einsicht nicht verschließen. Deshalb seien die Dienstboten zu respektieren, wenn sie den Aufgaben, die ihnen im Rahmen der Aufgabenteilung in einer Gesellschaft zufallen, gewissenhaft erledige. 55 Die Gesellschaft, so Madame Bonne/ Leprince de Beaumont, beruhe so auf der gegenseitigen Abhängigkeit ihrer Mitglieder, welche wiederum so zu gestalten sei, dass in ihr die Tugendhaftigkeit zum Tragen komme und gegenseitige Abhängigkeit sich nicht zu Lasten einzelner Gruppen auswirke. 56 Diese Darstellung einer arbeitsteiligen Gesellschaft geht bei Bonne mit der Valorisierung der Arbeitsgesellschaft einher. 57 Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, dem Grundsatz der Gleichheit aller Menschen wird von Bonne und ihren Schülerinnen im Rahmen der Geschichtslektion in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Beispiel Sparta fortgeführt. Von Lady Spirituelle angestoßen und von Mme Bonne aufgegriffen wird die Frage nach Gerechtigkeit und Rechtssystemen diskutiert. 58 Das Beispiel Sparta führt die Dialogpartner dazu, über die Frage des Naturrechts nachzudenken sowie das Problem der sozialen und materiellen Ungleichheit, insbesondere im Hinblick auf die persönliche Situation der Schülerinnen, zu erörtern. Das Herstellen materieller Gleichheit gegen den Willen einzelner Mitglieder der Gesellschaft sei gegen das Naturrecht, so Madame Bonne. 59 Ganz im Sinne Lockes stellt Bonne das Naturrecht über den Rechtspositivismus. An die Güte des Menschen glaubend postuliert Bonne die Freiheit des Einzelnen als Voraussetzung für tugendhaftes Handeln. 60 Dabei bedingen das moralische Handeln, die individuelle Freiheit und das Naturrecht einander: „Madame Bonne: […] Eine Handlung ist moralisch gut, wenn sie nicht gegen das Naturgesetz verstößt und auf einen guten Zweck ausgerichtet ist.“ 61 Die positive Rechtsprechung kann nur Richtschnur des Handelns sein, wenn 54 Ibid., S. 52: „Toutes les conditions sont égales aux yeux de Dieu, et même aux yeux de l’homme sage. Il n’y a point de condition vraiment basse, et qui puissent déshonorer un homme: ce sont les hommes qui deshonorent leurs conditions, lorsqu’ils en remplissent mal les devoirs.“ 55 Ibid., S. 53: „Nous devons donc respecter les hommes vertueux dans tous les états, et même nos domestiques. [...] La justice demande ce support mutuel, et nous avons besoin que ceux que nous servons l’aient pour nous, comme nous devons l’avoir pour nos domestiques.“ 56 Ibid., S. 55: „Aussi cette dépendance mutuelle, produit chez nous, les vertus de société. Mais cette dépendance fait aussi trés souvent notre supplice; parce que nous nous dédommageons de la contrainte dans laquelle nous vivons par rapport à ceux dont nous espérons quelque chose, en écrasant de notre insolente autorité ceux qui ont besoin de nous.“ 57 Le Magasin des adolescentes, t 2, op.cit., S. 200: „Madame Bonne: Ce n’est donc point le travail qui es tun malheur; mais l’opinion que vous avez que c’est un malheur. S’il étoit réel en lui-même, il seroit tel pour ces pauvres gens comme pour vous.“ 58 Le Magasin des adolescentes, t. 2, op.cit., S. 183ff. 59 Ibid., S. 152-154. 60 Ibid., S. 158: „Mme Bonne: [...] pour être vertueux il faut avoir la liberté de ne l’être pas.“ 61 Ibid., S. 161: „Madame Bonne: [...] Une action est moralement bonne, quand elle ne choque Marie Leprince de Beaumont Le Magasin des Adolescentes 63 diese sich am Naturrecht anlehnt. Implizit erlaubt Bonne damit die Auflehnung gegen eine solche Rechtsprechung, die diesem Prinzip nicht gehorcht. 62 Nachdem Mme Bonne das Naturrecht erläutert hat, leitet sie über zum Völkerrecht 63 und damit zu einem aktuellen politischen Problem: dem siebenjährigen Nordamerikakrieg und die Auseinandersetzung zwischen England und Frankreich um die kanadischen Provinzen Arkadien und das Ohiotal (1756-1763). In der Tat befindet sich Bonne als Französin in England in einem diplomatischen Konflikt, der von den Schülerinnen prompt angesprochen wird. Mme Bonne zieht sich mit einer gleichnishaften Geschichte ob der Unentscheidbarkeit der rechtmäßigen Aneignung von Juwelen aus der Affäre und stellt damit implizit die Frage der Rechtmäßigkeit jedweden Expansionsstrebens: „Mme Bonne: Achten Sie darauf meine Damen: es ist nicht die Größe der Besitzungen, die das Wohl eines Reiches ausmacht, sondern die Rechtmäßigkeit derselben, […].“ 64 In ihrem rechtsphilosophischen Denken steht Bonne somit einem John Locke, den sie an anderer Stelle durchaus kritisiert, und einem Pufendorf nahe, wenn sie das Naturrecht über den Rechtspositivismus stellt und das Recht auf Freiheit, Gleichheit und Unverletzlichkeit der Person und des Eigentums als höchste Rechtsgüter postuliert. Im zweiten Band des Magasin des adolescentes führt der Geographieunterricht nach Nordamerika und stellt in der Tradition der Aufklärung die Frage der kulturellen Relativität, wobei Leprince de Beaumont mitnichten den Topos des edlen Wilden bedient. Allerdings relativiert sie die Praxis des Kannibalismus 65 , erklärt die Naturreligionen der primitiven Völker und zeigt sich bis zu einem gewissen Maße auch als Anhängerin der religiösen Relativität bzw. Toleranz. 66 Forderungen, wie die des Rechts auf Freiheit, auf Gleichheit, auf individuelles Glück, die implizite Kritik an den aktuellen politischen Gegebenheiten ihrer Zeit sowie die Formen der Kommunikation derselben, die auf das Prinzip der kritischen Vernunft abheben, legitimieren ohne Zweifel eine Lesart Beaumonts nicht nur als christliche Apologetin, sondern vielmehr als aufgeklärte Erzieherin, die bestrebt ist, die Ideen der Aufklärungsphilospohie mit den Prinzipien einer christlichen Erziehung in Einklang zu bringen. 67 Selbst wenn in späteren Werken der Aspekt der Apologetik an Bedeutung pas les principes naturels, et qu’elle est faite pour une bonne fin.“ 62 Le Magasin des adolescentes, t. 1, op.cit., S. 187: : „Pour que l’obéissance aux lois soit une vertu, il faut que les loix soient bonnes; si elles sont mauvaises, plus en exact à les observer, plus on est méchant; [...].“ 63 Le Magasin des adolescentes, t. 2, op.cit., S. 227. 64 Ibid., S. 235: „Mme Bonne: Retenez bien Mesdames, que ce n’est pas la grandeur des possessions qui fait le bien des empires, mais la justesses des possessions, [...].“ 65 Ibid., S. 118. 66 Ibid., S. 119-120: „Mme Bonne: „les peubles les plus barbares ont été frappés du grand spectacle de l’univers, et ont compris que les hommes, n’ayant pu faire ce qu’ils admiroient, il fallait nécessairement qu’il y eut quelque chose au-dessus de l’homme, qui méritoit leur respect et leurs adorations. Chaque peubles s’est fait à cet égard des idées particulières [...].“ 67 S. auch: Rotraud von Kulessa: „L’apologétique chrétienne et l’éducation au féminin: Leprince de Beaumont, Les Américaines (1769)“, Œuvres et critiques, L’apologétique littéraire et les anti-Lumières féminines, XXXVIII, 1, 2014, S. 91-102. Rotraud von Kulessa 64 gewinnt, 68 lässt sich aus einer wirkungsästhetischen Perspektive, die die enorme Verbreitung des Werkes der Autorin in den Blick nimmt, festhalten, dass die Divulgierung aufklärerischen Ideengutes durch Beaumont eine wesentlich größere Breitenwirkung hatte als die Werke zum Beispiel eines Diderots, die zu seinen Lebzeiten zum Teil noch nicht einmal veröffentlicht waren. Das Werk der Leprince de Beaumont stellt damit in besonderem Maße die Frage nach der Validität des Paradigmas einer „katholisch“ geprägten Gegenaufklärung in Frankreich, die bereits Didier Masseau als ideologische Konstruktion a posteriori entlarvt hat: „Welches auch immer unsere ideologischen, politischen oder wissenschaftlichen Ansichten seien, so sind wir uns doch darüber einig, dass die Begriffe wie „Aufklärung“ und „Gegenaufklärung“ Konstrukte a posteriori sind, die stark beeinflusst sind von dem aktuellen Kontext, in dem sie sich herausbilden.“ 69 Literaturverzeichnis Primärliteratur Berquin, Arnauld: Bibliothèque des Villages. Paris 1790. Leprince de Beaumont, Marie: Le triomphe de la vérité, ou Mémoires de Mr. De la Villette. Nancy 1748. - Lettres diverses et critiques. Nancy 1750. - Civan, roi de Bungo. Histoire japonaise ou tableau de l’éducation d’un Prince. (Londres 1754) éd. Alix S. Deguise. Genève 1998. - Le Nouveau Magasin françois. Londres 1750-52. - Lettres de Madame du Montier à la Marquise de *** sa fille. In: Nouveau Magasin françois. Londres 1750-52. - Éducation complète. Londres 1752-53. - Le Magasin des enfants. (Londres 1756) La Haye 1768. - Le Magasin des enfants. Hg. Mme Louise SW.-Belloc. Paris 1865. - Le Magasin des adolescentes ou Dialogues entre une sage Gouvernante, et plusieurs des ses Elèves de la première distinction. Londres 1760. - Instructions pour les jeunes dames, qui entrenet dans le monde, se marient: leurs devoirs dans cet état, et envers leurs enfants. Lyon, Paris 1764. - Lettres d’Emerance à Lucy. Paris/ Lyon 1765. - Mémoires de Madame de Batteville, ou La veuve parfaite. Lyon 1766. - Le magasin pour les pauvres, artisans, domestiques et gens de la campagne. Londres 1767. - Le Mentor moderne. Paris 1772-1773. - La nouvelle Clarice, histoire véritable. Paris 1767. Philipon de la Madelaine, Louis: Vues patriotiques sur l’éducation du peuple. Lyon 1783. 68 Vgl. Barbara Kaltz, op.cit., S. 58-59. 69 Didier Masseau: Les ennemis des philosphes. L’antiphilosophie au temps des Lumières. Paris 2000, S. 9: „Quelles que soient nos positions idéologiques, politiques ou critiques, convenons que les notions de „Lumières“ et d‘ „Anti-Lumières“ relèvent d’une construction a posteriori profondément influencée par l’actualité dans laquelle elles s’élaborent.“ Marie Leprince de Beaumont Le Magasin des Adolescentes 65 Forschungsliteratur Brodeur, Pierre-Olivier: „‚Ma chère Julie n’a jamais lu de romans‘ Madame Leprince de Beaumont et la recherche d’un romanesque nouveau“. Marie Leprince de Beaumont. De l’éducation des filles à La Belle et la Bête. Hgg. J. Chiron und C. Seth. Paris 2013. 47-57. Cherrad, Sonia: „L’‚Histoire‘, Forme bréve sans merveilleux dans les Magasins de Marie Leprince de Beaumont“. Marie Leprince de Beaumont. De l’éducation des filles à La Belle et la Bête. Hgg. J. Chiron und C. Seth. Paris 2013. 59-69. Kaltz, Barbara: Jeanne Marie Leprince de Beaumont. Contes et autres écrits. Oxford 2000. Kaltz, Barbara: „Der Fall Beaumont oder: Wie lernten Mädchen im 18. Jahrhundert Französisch als Fremdsprache? “ Sprachen der Bildung - Bildung durch Sprachen im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts. Hgg. W. Hüllen und F. Klippel. Wiesbaden 2005. 247-260. Kulessa, Rotraud von: „La fonction du dialogue dans ‚Le Magasin des enfants‘ de Mme Leprince de Beaumont“. Marie Leprince de Beaumont. De l’éducation des filles à La Belle et la Bête. Hgg. J. Chiron und C. Seth. Paris 2013. 73-83. Kulessa, Rotraud von: „L’apologétique chrétienne et l’éducation au féminin: Leprince de Beaumont, Les Américaines (1769)“. Œuvres et critiques, L’apologétique littéraire et les anti- Lumières féminines, XXXVIII, 1, 2014. 91-102. Masseau, Didier: Les ennemis des philosphes. L’antiphilosophie au temps des Lumières. Paris 2000. Mauzi, Robert: L’idée du bonheur au XVIIIe siècle. Paris 1969. Plagnol-Dieval, Marie-Emmanuelle: „Statut et représentation de la lectrice chez Madame Leprince de Beaumont“. Lectrices d´Ancien Régime. Hg. Isabelle Brouard-Arends. Rennes 2003. 615-623. Preyat, Fabrice (Hg.): „L’apologétique littéraire et les anti-Lumières féminines“ (Oeuvres et critiques, XXXVIII, 1, 2014). Seth, Catriona: „Introduction“. Marie Leprince de Beaumont. De l’éducation des filles à La Belle et la Bête. Hgg. J. Chiron und C. Seth. Paris 2013. 16-19. Sorkin, David: The Religious Enlightenment. Protestants, Jews, and Catholics from London to Vienna. Princeton 2008. Vanoflen, Laurence: „La conversation, une pédagogie pour les femmes ? “. Femmes éducatrices au siècle des lumières. Hgg. Marie-Emannuelle Plagnol und Isabelle Brouard-Arends. Rennes 2007. 183-196. Johann Wolfgang Goethe Faust. Der Tragödie Erster Teil Helmut Koopmann Am 2. Oktober 1824 bekam der Herr Geheimrat vormittags Besuch: ein junger Mann machte ihm seine Aufwartung. Der hatte ihm schon vorher eigene Werke geschickt, Dramen im Stil der Zeit und Gedichte mit dem Bekenntnis, dass er Goethe liebe, und wenn etwas Rechtes aus ihm werde, dann wisse er, dass er das Goethe verdanke. Der junge Mann war vorher Student in Berlin gewesen, hatte den Goethekult in den jüdischen literarischen Salons kennengelernt, hatte, wie er in einem Brief schrieb, den ganzen Goethe gelesen, und nun, so hatte er sich angekündigt, habe ihn das Verlangen ergriffen, „zur Verehrung Göthes nach Weimar zu pilgern“ - und bitte um „das Glück […], einige Minuten vor Ihnen zu stehen. Ich will gar nicht beschwerlich fallen, will nur Ihre Hand küssen und wieder fort gehen“. 1 Es war Heinrich Heine, der sich Goethe so andiente, und seine Bitte wurde ihm auch erfüllt. Wir haben einen Bericht darüber. Er lautet: „Goethe empfing Heine mit der ihm eigenen graziösen Herablassung. Die Unterhaltung, wenn auch nicht gerade über das Wetter, bewegte sich auf sehr gewöhnlichem Boden, selbst über die Pappelallee zwischen Jena und Weimar wurde gesprochen. Da richtete Goethe plötzlich Frage an Heine: ‚Womit beschäftigen Sie sich jetzt? ‘ Rasch antwortete der junge Dichter: ‚Mit einem Faust‘. Goethe, dessen zweiter Teil des Faust damals noch nicht erschienen war, stutzte ein wenig und fragte in spitzem Tone: ‚Haben Sie weiter keine Geschäfte in Weimar, Herr Heine? ‘ Heine erwiderte schnell: ‚Mit meinem Fuß über die Schwelle Euer Exzellenz sind alle meine Geschäfte in Weimar beendet‘, und empfahl sich“. 2 Goethe wollte keine Konkurrenz, in Sachen seines Faust schon gar nicht. Aber er bekam davon mehr, als ihm lieb sein konnte. Schon damals wurde an verschiedenen deutschen Universitäten „ein Collegium über Goethe gelesen“, wie das schon Heinrich Heine in seiner Romantischen Schule erwähnte, 3 und zwar vorzüglich über Faust: der wurde vielfach kommentiert und auch fortgesetzt; Heine selbst 1 Heinrich Heine. Säkularausgabe. Werke. Briefe. Lebenszeugnisse. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Bd. 20, Briefe 1815-1831, bearbeitet von Fritz H. Eisner, Berlin/ Paris 1970, S. 175. 2 Gespräche mit Heine. Hrsg. von Heinrich Hubert Houben, Frankfurt/ Main 1926, S. 90f. 3 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 8/ 1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule. Text bearbeitet von Manfred Windfuhr, Hamburg: Hoffmann und Campe 1979, S. 159. Helmut Koopmann 68 hat seinen Plan von 1824 später wahrgemacht und 1851 ein Tanzpoem vom Doktor Faust geschrieben. Aber Heine ist nur einer aus einer Legion von Faust-Dichtern; das Interesse am Faust-Stoff war so groß, dass Ludwig Tieck mit seinem Lustspiel Anti- Faust bereits 1801 vor einer Faust-Inflation gewarnt hat. Vergebens - ein Ende gab es nicht. Adalbert von Chamisso (1804), Franz Grillparzer (1811), Alexander Puschkin (1826), Christian Dietrich Grabbe mit Don Juan und Faust (1829), Ludwig Bechstein (1833), Nikolaus Lenau mit seinem Faust-Epos 1836: das war eigentlich erst der Anfang, noch lange nicht das Ende. Zahlreiche Faustdichtungen der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts stammen von Autoren, die heute zu Recht vollkommen vergessen sind - poetae minores. Ein paar Bearbeitungen haben halbwegs überlebt, so Turgenevs Briefnovelle von 1856 und Friedrich Theodor Vischer mit seiner Parodie auf Faust, Der Tragödie dritter Teil von 1862. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Faustfortsetzungen, -bearbeitungen und -umformulierungen einzugehen, festgehalten sei nur, dass die Faust-Dichtungen auch im 20. Jahrhundert durchaus noch kein Ende gefunden haben. Hans Eisler hat 1952 ein Opernlibretto als sozialistische Version des Faust-Themas veröffentlicht, Volker Brauns Hinze und Kunze-Roman hat 1975 versucht, den Stoff in die eigene Gegenwart zu transformieren, und hinter alledem steht Thomas Manns monumentaler Doktor Faustus, der mit Goethes Faust, so Thomas Mann selbst, aber nichts zu tun habe. Faust ist im übrigen alles andere als ein nur deutscher Stoff: er ist in Frankreich wie in England, in Rußland wie in den USA bearbeitet worden, und die bekanntesten Versionen sind von F. Pessoa, Primeiro Faust (1934), Dorothy Sayers, The Devil to Pay (1939), Paul Valéry, Mon Faust (1941- 45), Lawrence Durrell, An Irish Faust (1936), M. Bulgakov, Der Meister und Margarita (1966), auch Jack Kerouac Doctor Sax (1959). Fast noch zahlreicher als Faust-Dramen und andere Faustdichtungen sind Faust- Vertonungen: die Opern bringen allerdings manchmal alles durcheinander, das Faustbuch, das Puppenspiel vom Doktor Faust, Marlowes Faust oder auch Goethes sogenannten Urfaust - Schauspielmusiken halten sich strenger an den Text. Faust- Opern sind aber heute im allgemeinen ebenso unbekannt wie viele Faust-Dichtungen und Nachdichtungen; im musikalischen Gedächtnis haben sich allenfalls Charles Gounod gehalten und Busonis Faust von 1925; der Faust-Stoff hat es aber sogar ins Musical (R. Newman, 1995) geschafft. An Faust-Balletten ist auch kein Mangel, so wenig wie an Schauspielmusiken - ebenfalls der Öffentlichkeit heute weitgehend verschlossen. Im Wagner-Jahr sei erwähnt, dass Richard Wagner 1840 eine Faust-Ouvertüre geschrieben hat, aber Faust fand auch Eingang in Chöre und Kantaten, Oratorien und Symphonien, Sinfonische Dichtungen und Szenen; Robert Schumann hat 1844-53 Szenen aus Goethes Faust vertont, Berlioz 1846 die Verdammung Fausts, Franz Liszt hat 1857 eine Faust-Symphonie komponiert und Anton Rubinstein 1864 Faust, ein musikalisches Charakterbild, Gustav Mahler bezieht sich 1910 in seiner achten Symphonie auf Faust; Namen wie Marcel Dupré oder L. Boulanger sind heute wie viele andere ins Vergessene entschwunden. Das sind nur Namen, nicht mehr. Aber diese Liste soll nur bezeugen, dass Goethes Faust eine Bearbeitung unter zahlreichen ist. Und wenn sie auch die prominenteste gewesen ist und bleiben wird, so ist sie doch nicht der Auslöser jener Unmenge Johann Wolfgang Goethe Faust 69 an verbalen und musikalischen Faust-Produktionen. Aber ohne Goethes Faust wären viele wohl nie ans Tageslicht gekommen * Wir müssen ein wenig zur Vorgeschichte des Goetheschen Faust sagen, denn die spielt erheblich in das Drama hinein. Der Stoff, auf den auch Goethe sich stützte, ist alt, er reicht bis ins ausgehende Mittelalter zurück: Georg Faust, der dann zu Johann Faust wurde, gelegentlich auch zu Heinrich, ist für den Anfang des 16. Jahrhunderts (1506-1539) nachgewiesen; er stammt wohl aus Knittlingen bei Maulbronn, obwohl auch andere Orte ihn später zu vereinnahmen suchten, und er war damals alles, was man eigentlich nicht sein durfte; er trat an unterschiedlichen Orten als alles mögliche auf - als Astrologe, als Alchemist, als Nigromant, als Chiromant, als Geisterbeschwörer und Prophet, und seine unklar-zwielichtige Person hinterließ schon zu Lebzeiten eine ebenso leuchtende wie fragwürdige Spur. Er war (wie später Goethes Faust) ein homo viator, wanderte als Wahrsager und Astrologe von Stadt zu Stadt. Gestorben ist er wohl um 1540 in Staufen im Breisgau: da ist man noch heute stolz auf ihn. Das von ihm überlieferte Bild ist, wie man gesagt hat, ein buntes Mosaik, zusammengeflickt aus gelegentlichen und sich zum Teil stark widersprechenden Äußerungen seiner Zeitgenossen, 4 und darin waren Legende und Wirklichkeit schon häufig ineinander übergegangen. Er war ein Halbgelehrter, galt immer wieder als Scharlatan. Vor allem aber war er ein Magier. Magie war damals nicht negativ konnotiert, sondern war quasi angewandte Naturwissenschaft, sie sollte dazu dienen, die Natur und ihre Kräfte zu verstehen. Wenn Faust in der ersten Szene, in „Nacht“ also sagt, dass er Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie durchaus studiert habe mit heißem Bemühn, aber nun so klug als wie zuvor sei und sich darum der Magie ergeben habe, dann darf das nicht missdeutet werden. Magie war ein Instrument der Erkenntnis wie auch Alchemie und Astrologie; es waren angewandte Naturwissenschaften, und wir dürfen hinzusetzen: die Entwicklung der Astronomie wäre ohne die Astrologie, die Entwicklung der Chemie nicht ohne die Alchemie gekommen. Magier hatten es damals allerdings nicht leicht. Heinrich Agrippa von Nettesheim, 1486-1535, berühmter deutscher Renaissance-Magier, auch bewandert in der Kunst der Mantik, hat in der Einleitung zu seiner De occulta philosophia zum Phänotyp des Magiers geschrieben: „Es wird manche bösartige, dumme und übelwollende Menschen geben, die aus großer Unwissenheit den Namen der Magie, ohne viel nachzudenken, in einem schlechten Sinn deuten und sofort schreien werden, ich lehre verbotene Künste, streue die Samen der Häresie aus, kränke fromme Ohren, beleidige gebildete Leute, ich, der Magier, treibe Hexerei, sei abergläubig und habe mit Dämonen zu tun. Denen könnte ich antworten, für ge- 4 Dazu Frank Baron: Faustus. Geschichte, Sage, Dichtung, München: Winkler 1982, S. 7. Ich bin dem Verfasser für viele Hinweise dankbar. Helmut Koopmann 70 bildete Leute bedeute Magier weder Zauberer, noch Abergläubischen, noch Teufelsbesessenen, sondern Weisen, Priester oder Propheten“. 5 Magier hatten dennoch eine schlechte Presse, zumal sie auch im Ruf standen, Verstorbene beschwören zu können; Hans Sachs hat im Jahr 1564 von einem Nigromanten berichtet, dass der sogar die schöne Helena habe herbeirufen können - nicht nur bei Marlowe, sondern auch bei Goethe taucht diese Szene später auf. In der Hexenküchenszene gaukelt Mephistopheles seinem Begleiter Faust mit Hilfe eines Spiegels „das schönste Bild von einem Weibe“ vor: „Das Frauenbild war gar zu schön! “, ruft der aus (2600). 6 Später erscheint dann wirklich die schöne Helena. Die Vorgeschichte gibt aber noch mehr her zum Verständnis schon der ersten Szene in Goethes Drama. Faust hat also alles Mögliche studiert, und eben leider auch Theologie. Warum leider? Das ist kein lockerer Seitenhieb auf die Pfaffen, wie Goethe ihn manchmal geführt hat, sondern hat seine tiefere Begründung. Faust ist neugierig - und deswegen gibt er die Theologie auf. Denn die war mit der Neugier durchaus nicht einverstanden; schon Augustinus hatte betont, dass Neugier gefährlich sei, hatte Astrologie und Zauberkünste als falsche, eitle Wissbegier verurteilt. Für Augustinus war sogar die curiositas der Manichäer verwerflich, weil sie die Sterne am Himmel erforschten und aus ihnen vorauszusagen pflegten. Zuvor, etwa bei Aristoteles, hatte curiositas durchaus als etwas ganz Natürliches gegolten - alle strebten, so meinte der, „aus tiefer Natur heraus nach Wissen“. 7 Aber Neugierde ist eben das, was die Kirche im ganzen Mittelalter bekämpfte, und so ist denn verständlich, dass Faust sich nicht nur scherzhafterweise mit seinem „leider auch Theologie“ von dieser ganz besonders abwendet, denn die war gegen das, was er verfolgte, hatte Neugier als etwas höchst Gefährliches verbannt. Und die Theologie konnte sich immerhin auf die Bibel berufen, wo unter Sprüche 23,5 zu lesen ist: „Laß deine Augen nicht fliegen nach dem, was du nicht haben kannst“. Aber Faust erscheint bei Goethe anders: eben als Vertreter der Renaissance-Magie, der auf der Suche nach Erkenntnis ist, dazu auch Alchemie und Astrologie nutzen will. Dafür war eine Vorlage besonders wichtig: die Historia von Doktor Johann Fausten von 1587. Faust bleibt zwar in der Historia in vielem das, was er vorher schon gewesen war: eine herumwandernde zwielichtige Gestalt von nicht geringer Anziehungskraft. Doch er verkörpert dort schon den Typus des Gelehrten, der immer weiter wissen will; Faust also nicht nur ein Magier, sondern auch ein Philosoph. Aber im 16. Jahrhundert waren Vernunft und freier Wille obsolet, denn beide erschienen als Verblendungen des Teufels - und so ist Faustens Geschick schon früh mit dem Diabolus verbunden. Faust vertraut, mit anderen Worten, seinem Kopf zu sehr; er ist fast so etwas wie ein vorzeitiger Aufklärer. Aber „Vernunft und freyer Will“ machen die Erkundungsfahrten dieses Faustus zu bedenklichen Unternehmungen, und am Schluß weiß er, dass gerade die ihn blind gemacht haben - und so verflucht er 5 Ebd., S. 77 6 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt/ Main: Insel 2003 [insel taschenbuch 3000]. Danach im folgenden die Goethe-Zitate, mit Verszahlen im Text. 7 Vgl. Baron (wie Anm. 1), S. 88. Johann Wolfgang Goethe Faust 71 sein unbeständiges Leben. Mit der Warnung vor dem Absolutsetzen der Vernunft war die Historia übrigens in voller Übereinstimmung mit Luthers Lehre, der die Vernunft einmal als „Hure des Teuffels“ bezeichnet hat: 8 auch Luther fand, dass es vermessen und unsinnig sei, „ausser uns uber die wolcken zu fladdern, von göttlicher Majestat, Wesen und Wullen zu speculiren, die unser blinden tollen Vernunft viel zu hoch, unbegreiflich und unerforschlich ist“. 9 Luther warnte eindeutig vor dem Irrglauben, „wir hetten das natürliche Liecht der Vernunfft und freien Willen“. 10 Die Vernunft galt als eine verführerische Macht, die den Menschen in den Abgrund reißen konnte. Schlimmer noch: in der Vernunftgläubigkeit und im Glauben an den freien Willen war Satans Macht präsent. Und so mischen sich also schon in der Vorlage - und das ist für Goethes Faust außerordentlich wichtig - zwei ganz unterschiedliche Strömungen: zum einen die neue Gelehrsamkeit der Renaissance, die curiositas nicht als Laster ansieht, sondern sich von der Theologie und den anderen Wissenschaften abwendet, weil die nicht zu Wissen führen; auf der anderen Seite die Skepsis einer freien Vernunft gegenüber, deren Taten schlechthin als Teufelswerk verdammt werden. Schon zu Beginn des Faust kommt beides zusammen. * Heine schreibt in seiner Romantischen Schule 1836 über Goethes Faust: „Ich darf den Inhalt des Faust als bekannt voraussetzen“. 11 So wollen wir es auch hier halten und nur einzelne Szenen herausgreifen: dazu gehört zunächst „Nacht“, die große erste Szene des Dramas. Faust will erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, glaubt nicht mehr an das Gerede der „Laffen, / Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen“ (366 f.), hält sich für gescheiter als sie alle - und so will er hinaus aus seiner Gelehrtenwelt, hinaus aus diesem „Bücherhauf, / Den Würme nagen, Staub bedeckt, / Den, bis an’s hohe Gewölb’ hinauf, / Ein angeraucht Papier umsteckt“. Es verlangt ihn, auf den Spuren Nostradamus’ die geheimen Kräfte der Natur ergründen, und so greift er zu dessen Buch (vom wirklichen Nostradamus ist allerdings kein Buch überliefert). Er will „erkennen“, aber das ist ein Erkennen jenseits der traditionellen Wissenschaften; er will die „unendliche Natur“ eben mit Magie fassen, folgt dem Spruch des Weisen, dass die Geisterwelt nicht verschlossen sei - und hat mit seinen Beschwörungen und mit dem Beschauen der diversen Zeichen des Nostradamus am Ende auch schnell Erfolg: der „Geist“ erscheint in der Flamme und spricht sein berühmtes „Wer ruft mir? “ (482) - und macht sich geradezu lustig über Faust, der voller Schrecken diesem Feuerspektakel zusieht. Faust, seiner Verstandeskraft gewiß, will der Flammenbildung aber nicht weichen und sagt: „Ich bin’s, bin Faust, bin deines gleichen! “ 8 Baron (wie Anm. 1), S. 92. 9 Ebd., S. 88. 10 Ebd., S. 92. 11 Heinrich Heine (wie Anm. 3), S. 159. Helmut Koopmann 72 (500) - doch der Geist weist Faust in seine Schranken, entgegnet „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, / Nicht mir“ (512 f.). Faust stürzt in sich zusammen: er hat noch nicht den Teufel, aber Unirdisches ins Haus bekommen. Doch in diesem Moment bekommt er noch etwas anderes, recht Irdisches ins Haus: sein Famulus erscheint und stört das geisterhafte Idyll. „O Tod! ich kenn’s“, ruft Faust - „das ist mein Famulus - / Es wird mein schönstes Glück zu nichte! / Daß diese Fülle der Gesichte / Der trockne Schleicher stören muß! “ Das wird so mancher Professor auch von seinem Assistenten gedacht haben, gelegentlich wenigstens. Doch diesmal dankt Faust „dem ärmlichsten von allen Erdensöhnen“, sagt: „Du rissest mich von der Verzweiflung los, / Die mir die Sinne schon zerstören wollte“ (610 f.). Aber verzweifelt bleibt er, auch nachdem sein Adlatus ihn wieder verlassen hat, gesteht sich selbst: „Ein Donnerwort hat mich hinweggerafft.“ Den Göttern gleicht er nicht, wie er sich das von seiner Geisterbeschwörung erhofft hatte; und wenn er sich eben noch als Ebenbild der Gottheit „dem Spiegel ew’ger Wahrheit“ ganz nah gedünkt hatte, so weiß er jetzt, dass er dem Wurme gleicht, der den Staub durchwühlt. Ein Totenschädel grinst ihm als memento mori zu. Faust ist ausgebrannt, verzweifelt, orientierungslos - von Wissensdurst keine Spur, keine Welteroberungsgelüste. Im Grunde genommen ist er zu Beginn des Dramas schon am Ende, und er weiß um seinen prekären Zustand: er ist zu alt, um nur zu spielen, und zu jung, um ohne Wunsch zu sein. Sein enges gotisches Studierzimmer ist ihm ein Kerker, ein verfluchtes dunkles Mauerloch, er selbst umgeben von „Tiergeripp’ und Totenbein“, von „Urväter Hausrat“, staubbedeckten Bücherhaufen und Gläsern - alles Trödel, eine Mottenwelt, das aus der Vergangenheit Überkommene, „ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer“ (582). Als Wagner meint, dass es aber doch ein groß Ergetzen sei, sich in den Geist der Zeiten zu versetzen, zu schauen, wie vor uns ein weiser Mensch gedacht, da nennt er die Zeiten der Vergangenheit „ein Buch mit sieben Siegeln“. Aber er bleibt dennoch verzweifelt, weiß nicht weiter. Doch dann fällt sein Blick auf jene „einzige Phiole“, eine „kristallne reine Schale“, und ihm kommt in den Sinn, dass deren Inhalt ihn befreien könne: er klopft an bei Gevatter Tod. Er kennt die letale Wirkung des braunen Saftes, der eilig trunken macht: es ist ein Extrakt „aller tödlich feinen Kräfte“ (694), und da er im Irdischen keinen Ausweg mehr sieht, sondern überall nichts als „Trug und Wahn“, erhofft er sich vom Tode, was ihm das Leben nicht gewährt hat: Entgrenzung und Befreiung, Entbürdung, ein neues Leben jenseits des Lebens. Der tödliche Trank soll den Schmerz lindern, das Streben mindern, und er stellt sich vor, wie das Leben im Tode sein wird: „Des Geistes Flutstrom ebbet nach und nach. / In’s hohe Meer werd’ ich hinausgewiesen, / Die Spiegelflut erglänzt zu meinen Füßen, / Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag“. Todesphantasien eines Lebensüberdrüssigen, der nur diesen einen Ausweg sieht. Die Intoxikation soll ihn bewusstlos machen, aber sie soll zugleich mit neuen, nie gekannten Abenteuern aufwarten, und so schwärmt er vor sich hin: „Ein Feuerwagen schwebt, auf leichten Schwingen, / An mich heran! Ich fühle mich bereit / Auf neuer Bahn den Äther zu durchdringen“. Es ist die Euphorie eines Selbstmörders, der der „holden Erdensonne“ entschlossen den Rücken zukehren will, der die Pforte des Todes, „dessen engen Mund“ nicht scheut, so we- Johann Wolfgang Goethe Faust 73 nig wie das Nichts, in das er vielleicht hineinfließen könnte. Der Tod als Rausch, als Fest, als einsames Bacchanal eines Lebensunwilligen, von der Welt tief Enttäuschten, an sich Verzweifelnden: das Opiat soll den Weg in Neues freimachen, und so will er denn diesen letzten Trunk „mit ganzer Seele“ als festlich hohen Gruß dem Morgen widmen. Selbstmord war zur Goethezeit bekanntlich ein Verbrechen, Werther wurde auf seinem letzten Weg von keinem Geistlichen begleitet - aber Faust sieht seinen Tod als Auferstehung aus dem Lebendig-Begrabensein seines Lebens. Der Tod ist kein Ende, kein Aus, kein Vorbei: er soll für ihn der endgültige Schritt aus dem Dunkel seines Daseins ins Licht eines neuen Lebens sein: eines Lebens, das nicht von dieser Welt ist. Es geht hochdramatisch weiter. Faust setzt die Schale an den Mund. Doch plötzlich hört er Glockenklang und Chorgesang, und die rufen ihn ins irdische Leben, halten ihn „vom letzten, ernsten Schritt zurück“; Christ ist erstanden, das Osterfest gekommen, sein Suizid im letzten Moment gescheitert. Und mit Christus ist auch Faust, der schon fast Gestorbene, auferstanden aus seiner finsteren Gruft - und an seiner Rettung ist der Himmel, ist der Chor der Engel sichtbarlich beteiligt. Faust durfte nicht verloren gehen. Denn der Herr will ihn, so heißt es schon im „Prolog im Himmel“, „bald in die Klarheit führen“ (309), und das ist eine andere Klarheit als die, die Faust sich vom tödlichen Saft aus der Phiole erhoffte. Ein Selbstmordversuch, ein ernsthafter; Faust ist entschlossen, sich auszulöschen. Erst im allerletzten Moment zuckt er zurück. Man überliest diese Zeilen oft, nimmt sie nicht ernst, sondern schreibt sie Fausts Versuchen zu, mit Hilfe der Magie zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber es ist wirklich pure Verzweiflung mit der winzigen Aussicht, dass der Tod eine Pforte öffnet zu einem neuen, anderen, wahren Leben. In Fausts Worten vor seinem versuchten Suizid ist sehr viel Werther-Stimmung, es ist weit mehr als nur das taedium vitae, das ihn überfallen und heimgesucht hat. Aber die Glocken und der Chorgesang wecken ihn aus seinem Todestraum, er ist noch einmal davongekommen. Aber geheilt ist er nicht, denn auch der Osterspaziergang verscheucht die Schatten nicht. Im Studierzimmer bekennt Faust noch einmal: „Und so ist mir das Dasein eine Last, / Der Tod erwünscht, das Leben mir verhaßt“ (1570 f.). Aber dann erscheint Mephistopheles, „des Pudels Kern“, in der ersten Studierzimmerszene aus dem fallenden Nebel als „fahrender Scolast“, und es beginnt der berühmte Dialog zwischen Faust und Mephistopheles über Gut und Böse, Licht und Finsternis, die Schöpfung und das Nichts. Mephistopheles versetzt ihn schließlich mit Geisterhilfe in einen Halbschlaf, der ihm allerlei Erfreuliches vorgaukelt, verschwindet dann, aber vorher sagt er noch: „Nun, Fauste, träume fort, bis wir uns wiedersehn“ (1552). Und das wird bald genug sein. Mephistopheles tritt jetzt als edler Junker auf, „In rotem goldverbrämtem Kleide, / Das Mäntelchen von starrer Seide, / Die Hahnenfeder auf dem Hut, / Mit einem langen, spitzen Degen“ (1536 ff.). Er will ihn lehren, zu erfahren, was das Leben sei: Fausts früher Wunsch nach Erkenntnis wird sich, so scheint es, erfüllen, wenn auch auf andere Art, als er es sich gedacht hatte. Aber Faust will eigentlich nicht. Er sagt diesem Mephistopheles, dass er alles verfluche, „was die Seele / Mit Lock- und Gaukelwerk umspannt, / Und sie in diese Helmut Koopmann 74 Trauerhöhle / Mit Blend- und Schmeichelkräften bannt“ (1587). Er verflucht den Hochmut des Geistes, die Sinnestäuschungen, die Heuchelei der Träume, den Trug des Ruhmes, die Schmeichelei des Besitzes und den Mammon. Selbst dem „Balsamsaft der Trauben“ und der „höchsten Liebeshuld“ flucht er, und: „Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben, / Und Fluch vor allem der Geduld! “ (1603 ff.). Es ist purer Nihilismus, der sich bei ihm ausbreitet, übrig bleibt das Nichts, und vom Nichts ist auch im Geisterchor, der die durch Faust zerstörte Welt beklagt, ausdrücklich die Rede. Aber dann verlockt ihn erneut ein unsichtbarer Chor des Mephistopheles: Faust soll heraus aus dem Gram, der wie ein Geier ihm am Leben frisst, heraus aus der Einsamkeit, er soll, mit anderen Worten, ein neues Leben beginnen. Mephistopheles dient sich ihm an: er will ihm geben, „was noch kein Mensch gesehn“. Und Faust willigt ein, denn so scheint sich endlich zu erfüllen, was er sich von seinem Selbstmord versprach - wie es nach dem Leben, also „drunten“, zugeht, das bekümmert ihn nicht. Er weiß zwar, dass Mephistopheles mit Speise verführen will, die nicht sättigt, und ein Spiel spielt, „bei dem man nie gewinnt“ (1681), er weiß, dass Mephistopheles’ Werk nichts ist als Betrug. Dennoch verkauft er sich ihm, besiegelt das mit einem Tropfen Blut, jenem ganz besonderen Saft. Er stellt ihm nur eine Bedingung: „Kannst Du mich schmeichelnd je belügen, / DaßDass ich mir selbst gefallen mag, / Kannst du mich mit Genuß betrügen: / Das sei für mich der letzte Tag! “ (1695 ff.). Und dann folgt das berühmte „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst Du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zu Grunde gehen! / Dann mag die Totenglocke schlagen, / Dann bist du deines Dienstes frei, / Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, / Es sei die Zeit für mich vorbei! “ (1699 ff.). Vorerst aber soll das Neue kommen. * Wer Faust ist, wissen wir nun: ein Suchender, ein Mensch der Renaissance, der auf Entdeckungsreise gehen will, der erkennen will, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Mephistopheles sagt allerdings schon im „Prolog im Himmel“, was er davon hält: „Nicht irdisch ist des Toren Trank noch Speise. / Ihn treibt die Gärung in die Ferne, / Er ist sich einer Tollheit halb bewußt; / Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne, / Und von der Erde jede höchste Lust, / Und alle Näh’ und alle Ferne / Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust“ (301 ff.). So wird es sein. Aber Mephistopheles will mehr als Faust nur auf solcher Fahrt begleiten: er will ihn seine Straße führen, will ihn abspenstig machen vom Herrn - und der erlaubt es ihm, „so lang’ er auf der Erde lebt“; er möge ihn nur auf seinem Wege mit herabziehen, und das wird Mephistopheles versuchen. Wer aber ist Mephistopheles? Im „Prolog im Himmel“ sagt der Herr schon, was es mit jenem auf sich hat: er ist der Geist, der stets verneint; ihm ist auf Erden ewig nichts recht. Sein Element ist das Böse, ist Sünde und Zerstörung, und als er Faust im Studierzimmer (I) erscheint, da offenbart er seine Herkunft: „Ich bin ein Teil des Teils, der Anfangs alles war, / Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar, / Das stolze Licht, das nun der Johann Wolfgang Goethe Faust 75 Mutter Nacht / Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht“ (1349 ff.). Er ist, kurz gesagt, die Verkörperung alles Dunklen - und damit alles Bösen. Wir müssen auch hier noch einmal ein wenig ausholen. Die Frage, was das Böse sei, hat die Menschheit seit Jahrtausenden bewegt, und wenn Mephistopheles vom Bösen als seinem eigentlichen Element spricht, dann nehmen er (und Goethe) gewissermaßen teil an einer Diskussion, die so alt ist wie die Theologie. Was macht das Böse aus? Das Böse galt schon bei den Juden als Gottes Widersacher. Aber das brachte bereits damals ein gedankliches Problem mit sich: wenn Gott gut ist, wie kann dann das Böse existieren? Erst im Neuen Testament gab es eine Auflösung des Problems: das Böse verkörperte sich zwar in Luzifer, doch weil der ein gefallener Engel war, gehörte auch er noch in den Machtbereich Gottes; er war Urheber des Bösen, „ohne das Prinzip des Bösen zu sein“, blieb das Geschöpf Gottes, auch wenn er dessen wichtigster Gegenspieler war und derjenige, der diese Welt entstellte und korrumpierte: der Herr war dennoch „Schöpfer aller Dinge“. 12 Das Böse erschien allenfalls als Gegenmythos zur Schöpfungsgeschichte, war der Versuch, sie zu degradieren, als Täuschung hinzustellen. So können wir es auch im Prolog zu Goethes Faust lesen. Aber überzeugend bestimmt war das Böse dadurch nicht. Es gab denn auch andere frühe Verdeutlichungen, um das Wesen des Bösen überzeugender zu kennzeichnen, und die spielen auch in Goethes Faust hinein; sie kamen aus der Optik. Schon der Manichäismus lehrte, dass das Gute mit dem Reich des Lichtes identisch sei, und so wurde das Böse der Finsternis zugeordnet. Diese Vorstellung hielt sich über Jahrtausende. Auch in Goethes Faust ist das Reich des Bösen die Finsternis. Mephisto spricht von ihr als allem Anfang, sieht sich selbst als dessen Teil. Die Vorstellung von der Finsternis als dem eigentlich Ursprünglichen war in der Goethezeit durchaus verbreitet; dass das Licht aus der Nacht komme, steht etwa auch in Karl Philipp Moritz’ Götterlehre der Alten von 1791: „Das Licht steigt aus der Finsternis empor. - Die Nacht vermählt sich mit dem Erebus, dem alten Sitze der Finsternis, und gebiert den Äther und den Tag“. 13 Die Lehre von der Herkunft des Lichtes aus der Finsternis hat freilich nicht nur mit antiken Schöpfungsvorstellungen zu tun, sondern findet sich auch in der Bibel: im Zweiten Korintherbrief 4,6 ist das Licht ebenfalls aus der Finsternis hervorgekommen, und Goethes Mephistopheles nimmt direkt darauf Bezug, wenn bei ihm von der „Finsternis“ die Rede ist, „die sich das Licht gebar“ (1351). Am Anfang also Finsternis, die Geburt des Lichtes als Schöpfung, deren Ende Mephistopheles aber hier schon prophezeit. Dass „der Geist der stets verneint“ (1338), ein Teil der Finsternis sei, „die sich das Licht gebar“, findet sich übrigens auch in Goethes Beiträgen zur Optik; dort heißt es über die Finsternis: 12 So Jeffrey Burton Russell: Biographie des Teufels. Das radikal Böse und die Macht des Guten in der Welt, Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau 2000 [englisch als The Origin of Satan, New York u.a.: Random House 1995]. Dazu auch Verf.: Über das Böse. Ein Versuch, in: Thomas Manns Doktor Faustus - Neue Ansichten, neue Einsichten. Hrsg. von Heinrich Detering u.a., Frankfurt/ Main: Klostermann: 2013 [= Thomas-Mann-Studien Bd. 46], S. 63 ff. Das hier Vorgelegte berührt sich an einigen Stellen mit dieser Arbeit. 13 Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten, in: Werke. Hrsg. von Horst Günther, Bd. II, Frankfurt/ Main: Insel 1981, S. 617. Helmut Koopmann 76 „Wir denken sie abstract ohne Gegenstand als eine Verneinung“. Mephistopheles ist der Geist der Verneinung, verneint alles Seiende als unwert. Er hätte sich auf Leibniz berufen können, bei dem es heißt: „Le mal est une privation de l’être“. 14 Am liebsten würde Mephistopheles denn auch die Schöpfung rückgängig machen: „Drum besser wär’s daß nichts entstünde“ (1341). Das Böse war freilich auch damit nicht als solches bestimmt. Aber es gab eine Ersatzdefinition: der Teufel war das Böse, und seine frühe Erfindung war so etwas wie eine gedankliche Großtat: in ihm verkörperte sich das, was als Böses an sich nicht zu definieren war; in ihm wurde es ansehnlich - und weil der Teufel stets in changierender Gestalt auftrat, konnte sehr viel unterschiedlich Böses in ihm dargestellt und notfalls auch bekämpft werden. Anders gesagt: das Böse war man los, der Böse war geblieben. Und mit dem konnte man auch Theater machen - was Goethe denn auch tat. In Goethes Faust nimmt Mephistopheles unterschiedlichste Gestalt an. Erst ist er des Pudels Kern, dann tritt er als fahrender Scholast auf, aber auch als „Herr der Ratten und der Mäuse, / Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse“ (1516 f.); dann wieder ist er ein edler Junker „In rotem goldverbrämtem Kleide, / Das Mäntelchen von starrer Seide, / Die Hahnenfeder auf dem Hut“ (1536 ff.). Bei den Studenten erscheint er als Reisender, bei der Hexe trägt er wieder seine Hahnenfeder und sein rotes Wams, als fremder Herr tritt er Frau Marthe gegenüber, er wird zum „vermaledeiten Rattenfänger“ (3699), als er Valentin trifft, aber im Lustgarten des Kaisers ist er wieder „anständig nicht auffallend nach Sitte gekleidet“. Mephistopheles hat viele Masken, Gesichter, Verkleidungen, Rollen und Erscheinungsformen; daneben ist er auch ein Spieler, möchte „den Teufel spielen“. Doch das Urböse ist er nicht, weil er Teil des Ganzen, eben nur das Böse im Guten ist. Aber er ist ein Versucher, und mit seinem Auftreten ändern sich auch die Reise Fausts: er wird durch Mephistopheles in Versuchungen geführt. Mit Erkenntnis hat er nichts mehr im Sinn. Dafür gewinnt etwas anderes in ihm Oberhand: er will genießen, und nur noch das. „Mir ekelt lange vor allem Wissen“ (1749), sagt Faust; er will glühende Leidenschaften in den Tiefen der Sinnlichkeit stillen, er will sich „in das Rauschen der Zeiten“ stürzen, „Ins Rollen der Begebenheit! / Da mag denn Schmerz und Genuß / Gelingen und Verdruß / Mit einander wechseln wie es kann; / Nur rastlos betätigt sich der Mann“. Faust will Lebensgenuß. „Dem Taumel weih’ ich mich, dem schmerzlichsten Genuß / Verliebtem Haß, erquickendem Verdruß. / Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist, / Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen, / Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / Will ich in meinem innern Selbst genießen“ (1766 ff.). Eine midlife crisis ist das nicht, und Selbstfindung ist das auch nicht. Er will nichts als leben, und Mephistopheles hat einen Rat, wie das zu erfüllen sei: „Wir gehen eben fort“ (1834). Und als Faust ein wenig später fragt: „Wohin soll es nun gehn“, da antwortet Mephistopheles: „Wohin es dir gefällt. / Wir sehn die kleine, dann die große Welt“ (2052 f.). Von Selbstmord ist keine Rede mehr. 14 Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, La Liberté de l’Homme et l’Origine du Mal, Berlin: Eichler 1840, Bd. 1, § 29, S. 153. Johann Wolfgang Goethe Faust 77 Und so wird denn gereist, und das ununterbrochen. Ein Zaubermantel verhilft zur nötigen Beweglichkeit, die Reise führt an höchst unterschiedliche Orte. Selbst in Auerbachs Keller, wo die Studenten sich betrinken, wird gereist - in ein schönes Land, wo es Weinberge gibt und die Trauben gleich zur Hand sind. Aber alles ist Hokuspokus, und einer der Studenten erkennt denn auch: „Betrug war alles, Lug und Schein“ (2333). Aber Mephistopheles will weiter. Und Faust macht immer mit, läßt sich führen und verführen, und ob die Reise nun eine rein phantastische ist oder ob sie wirklich stattfindet, tut nichts zur Sache - was ist Wirklichkeit? Faust ist unterwegs, auf dem Wege zur Erkenntnis und auf dem Wege zu mehr, und so, wie er aus seiner dunklen Forscherhöhle aufgebrochen ist, so reiht sich ein Ausbruchsversuch an den anderen: Auerbachs Keller, die Hexenküche. Die Walpurgisnacht, aber auch schon der Osterspaziergang - ein Befreiungsversuch folgt auf den anderen, und diese Aufbrüche und Ausbrüche sind immer mit Metamorphosen verbunden, Faust will immer höher hinaus in immer größere Fernen. Noch in der „Klassischen Walpurgisnacht“, in den Felsbuchten des Ägäischen Meeres, meinen die Nereiden und Tritonen: „Diese Unvergleichlichen / Wollen immer weiter, / Sehnsuchtsvolle Hungerleider / nach dem Unerreichlichen“ (8202 ff.). Auch in Fausts letzter Vision geht es weiter - aber das ist erst am Ende von Faust II gesagt. Hier ist es also erst die kleine, dann die große Welt, die sie durchfahren und durchfliegen, und in der Szene „Wald und Höhle“ hat Faust erreicht, was ihm vorschwebte: aber das ist nicht im Sinne des Mephistopheles. Mephistopheles will immer noch weiter: Er versucht den Zögernden aufzuwecken: „Habt ihr nun bald das Leben g’nug geführt? / Wie kann’s euch in die Länge freuen? / Es ist wohl gut, daß man’s einmal probiert; / Dann aber wieder zu was Neuen! “ (3251 ff.). Vom „Kribskrabs der Imagination“ habe Mephistopheles ihn doch für alle Zeit kuriert, und er erinnert ihn an Faustens Suizidversuch: „ Und wär’ ich nicht, so wär’st du schon / Von diesem Erdball abspaziert“ (3270 f.). Und er macht sich lustig über Faust, der in Nacht und Tau auf dem Gebirge liegt, Erd und Himmel wonniglich umfasst - Mephistopheles macht sich lustig über den Erdensohn, der sich selbst etwas vorlügt und hierbleiben möchte, aber Mephistopheles weiß: „Doch lange hält Er das nicht aus. / Du bist schon wieder abgetrieben“ (3299 f.). Auch die Hexenküche ist ein Reiseabenteuer, Faust erbittet Flügel, um „das schönste Bild von einem Weibe“, das er in einem Zauberspiegel sieht, realiter zu schauen, und Mephistopheles wird seinen Wunsch erfüllen, ein Schätzchen auszuspüren - die Gretchentragödie deutet sich hier schon an. Faust wittert zwar wieder „abgeschmacktesten Betrug“ (2534), aber er ist weiterhin verführbar, und so wird die Reise in der Hexenküche quasi schon zur Liebesreise: der Trank, den Faust dort bekommt, bringt ihn dazu, zu spüren, wie mit innigem Ergetzen sich Cupido „regt und hin und wider springt“ (2598), und dann führt Mephistopheles ihm Margarete zu. Faust will sie nicht heiraten; er will sie verführen. Faust hat „Appetit“: „Mich drang’s so g’rade zu genießen“, sagt er (2722) und fühlt jetzt einen „Liebestraum“ verwirklicht. Mephistopheles freilich weiß, wie dergleichen ausgeht: „von ewiger Treu’ und Liebe“ wird geschworen (3056), und wenn Faust auch dagegen hält, dass die Glut, von der er brenne, unendlich, ewig, ewig sei, so sagt Mephistopheles: „Ich Helmut Koopmann 78 hab’ doch Recht! “ Ja, er wird Recht behalten. Aber vorher will er Faust weiterleiten, und Faust spricht sein berühmtes „So tauml’ ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde“ (3249 f.). Wer ihm in den Weg tritt, wird umgebracht: so kommt es zum Mord an Gretchens Bruder Valentin. Doch nachdem Valentin erstochen worden ist, soll es noch schneller gehen: „Nun aber fort! Wir müssen gleich verschwinden“, sagt Mephistopheles (3712); später hält er Zauberpferde bereit, die die beiden entführen können, und Faust stimmt ein, sagt sein „Auf und davon“ („Trüber Tag · Feld“ 63). Flugbilder durchziehen das ganze Drama. Selbst das schöne Waldvögelein im Kerker bekommt zu hören „Fliege fort, fliege fort! “ (4420). Es ist Gretchen, die sich in den Vogel imaginiert. Auch danach kann nichts Faust aufhalten. Selbst die Walpurgisnacht ist Reisezeit, ist ein Zug durch eine „Traum- und Zaubersphäre“, sein Weg führt über Klippen hinweg, über Heide, Fels, Bäume und Schlünde: die wüste Fahrt Faustens geht weiter. In der Walpurgisnacht begegnet Faust der Hexe: es ist Lilith, Adams erste Frau, und Mephistopheles warnt ihn: „Nimm dich in Acht vor ihren schönen Haaren, / Vor diesem Schmuck, mit dem sie einzig prangt. / Wenn sie damit den jungen Mann erlangt, / So läßt sie ihn sobald nicht wieder fahren“ (4120 ff.). Aber Faust will nicht hören, tanzt mit der Schönen - bis ihm Gretchen erscheint, die Gegenspielerin der Hexe, geschmückt mit einem roten Schnürchen um den Hals: da deutet sich Margaretes Enthauptung an, und während Faust sich noch auf dem Blocksberg vergnügt und Mephisto ihm vorgaukelt, das „blasse, schöne Kind“, das er vor sich sieht, sein Gretchen, sei nur ein Zauberbild, leblos, ein Idol, da liegt sie bereits im Kerker: Gretchens Tragödie nimmt ihren Lauf. * Von der Suche nach Erkenntnis ist bei Faust schon seit langem keine Rede mehr. Er will leben, will sich ausleben. Spätestens hier merkt der aufmerksame Leser denn auch, dass sich in Goethes Drama eigentlich zwei ganz unterschiedliche Geschichten miteinander verbunden haben. Da ist einerseits Fausts Verlangen nach Erkenntnis, das zum Lebensverlangen geworden ist, und die Gretchentragödie andererseits. Hinter ersterem stand Fausts Wunsch, zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, und um diesen Wunsch zu erfüllen, wird gereist, mit Hilfe des Zaubermantels und mit Hilfe des Reisemarschalls Mephisto, es geht in die Höhen und in die Tiefen, auf die Berge und bis hinab zur See, in Auerbachs Keller, wo die Studenten sich betrinken, bis in die entlegene Natur, und Mephisto ist immer dabei. Eigentlich ist die Weltreise Faustens mit der Szene „Wald und Höhle“ aber schon an ein Ende gekommen, denn Faust sagt deutlich genug: „Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir Alles / Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst / Dein Angesicht im Feuer zugewendet. / Gabst mir die herrlichen Natur zum Königreich, / Kraft, sie zu fühlen, zu genießen“ (3217 ff.). Was will er mehr? „Wo fass’ ich dich, unendliche Natur? “ so hatte Faust in der Szene „Nacht“ gefragt, und in der Szene „Wald und Höhle“ hat er erreicht, was er wollte, nämlich zu erkennen, „Wie alles sich zum Ganzen webt, / Eins in dem andern wirkt und lebt! / Wie Himmelskräfte auf und nieder Johann Wolfgang Goethe Faust 79 steigen / Und sich die goldnen Eimer reichen! / Mit segenduftenden Schwingen / Vom Himmel durch die Erde dringen, / Harmonisch all’ das All durchklingen! “ (447 ff.). Und mehr als das: er ist ein reichlich hemmungsloser Genussmensch geworden. Doch da sind andererseits die Gretchen-Szenen: sie leiten so etwas wie eine Umkehr des Schubs nach vorne und nach dem Immer-Weiter-Hinaus und -Hinauf ein, und, vom Ansatz des Dramas her gesehen, also vom Wunsch nach immer größerer Erkenntnis der Welt, ist die Gretchengeschichte widerständig, im Grunde ein Fremdkörper: sie paßt nicht zum Erkenntnisdrang. Die Gretchengeschichte hatte ursprünglich auch gar nichts mit Fausts Wissensdurst und Ausbruchsversuchen zu tun, sie gehörte einfach nur zum Stoff, und zwar schon zur Urkonzeption, also zu den frühen Faust-Fassungen und -Entwürfen, die vor allem von Gretchen und vom Kerker handeln. Schon im Faustbuch des 16. Jahrhunderts tauchte eine Margarete auf, sie findet sich auch bereits in einer der frühen Faust-Erzählungen, aber die Geschichte kommt dort in ganz anderem Zusammenhang vor, nämlich als Beispiel „für das üble Treiben an den Universitäten, an dem Faustus teilnimmt“. 15 So wird ein junges Mädchen von einem Studenten verführt - unter Vorspiegelung einer späteren Ehe. Eine Magd (die spätere Frau Marthe) ist behilflich, und in dem Faustbuch Pfitzers von 1674, eine der vielen Versionen der Faustgeschichte, die auch Goethe kannte, ist davon die Rede, dass dieses „bösliche Leben“ Folgen habe: „Das Mädchen wird schwanger, der Verführer ziehet […] heimlich davon“. 16 Nach der Niederkunft ersticht die verlassene Verführte das Kind, begräbt es heimlich unter einem Baum - aber die Sache wird öffentlich, dem Mädchen und der Magd werden die Häupter vor die Füße gelegt, die Mutter hingegen, weil sie nicht besser aufgepaßt hat, wird der Stadt verwiesen. 17 Da ist also schon der Margarete-Stoff gegeben, aber in völlig anderem Zusammenhang: eben als Beispiel fürs liederliche Treiben der Studenten. Über Kindsmorde ist zu Goethes Zeit viel gehandelt worden; Goethe kannte auch die Geschichte der Susanna Margaretha Brandt - eine Verführungsgeschichte, die mit dem Tod der Kindermörderin endete. Kindermord war aber nicht nur juristisches Thema der Zeit: Heinrich Leopold Wagner, Goethes Freund in Straßburg und Frankfurt, hatte 1776 ein Stück Die Kindermörderin geschrieben. Goethe selbst war beteiligt an einem Urteil über die Kindermörderin Johanna Höhn - und folgte nicht dem Vorschlag, es bei öffentlicher Schande und Strafe für die Verführte bewenden zu lassen, sondern empfahl die Todesstrafe „beizubehalten“; er sprach sich allerdings bei ähnlichen Fällen für eine Begnadigung aus, wenn ein mildernder Umstand gegeben sei, und andere Kindermörderinnen sind in Weimar denn auch auf Goethes Vorschlag begnadigt worden. Von Gesellschaftskritik, wie sie sich bei Wagner findet, ist in Goethes Faust keine Spur - hier geht es um Faust, er ist der Verführer, er ist der Schuldige, obwohl er versucht, die Schuld auf Mephistopheles abzuwälzen. „Verräterischer, nichtswürdiger Geist“, so wird er von Faust tituliert; er habe ihn in abgeschmackten Zerstreuungen belassen, „verbirgst mir ihren wachsenden Jammer, und 15 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Kommentare. Von Albrecht Schöne. Frankfurt/ Main: Insel 2003 [insel taschenbuch 3000], S.195. 16 Nach Schöne (wie Anm. 15), ebd. 17 Ebd., S. 195 f. Helmut Koopmann 80 lässest sie hülflos verderben! “ („Trüber Tag · Feld“, 10 f.). Und auf des Mephistopheles‘ kaltschnäuzigem „Sie ist die erste nicht“ antwortet er mit: „Hund! abscheuliches Untier! “ Das Elend dieser Einzigen wühle ihm, so Faust, Mark und Leben durch, und er hält Mephistopheles vor: „du grinsest gelassen über das Schicksal von Tausenden hin! “. Doch der sagt nicht zu Unrecht: „Warum machst du Gemeinschaft mit uns, wenn du sie nicht durchführen kannst? Willst fliegen und bist vor’m Schwindel nicht sicher? Drangen wir uns dir auf, oder du dich uns? “ Und dann fragt er noch: „Wer war’s, der sie in’s Verderben stürzte? Ich oder du? “ Faust verlangt, Mephistopheles solle sie für eine gemeinsame Flucht befreien, und der verspricht, sie beide zu entführen. Gretchen aber will nicht; sie leidet an einer schweren Psychose, ist wahnsinnig geworden, und das ist verständlich, denn ihre Schuld ist nicht gering: „Meine Mutter hab’ ich umgebracht, / Mein Kind hab’ ich ertränkt“ (4507 f.). Faust, der Gretchens Bruder erstochen hat, möchte sich herausreden mit einem „Laß das Vergang’ne vergangen sein“, aber Gretchen will nur, dass er für die Gräber sorge: „Der Mutter den besten Platz geben, / Meinen Bruder sogleich darneben, / Mich ein wenig bei Seit’, / Nur nicht gar zu weit! / Und das Kleine mir an die rechte Brust! / Niemand wird sonst bei mir liegen! “. Und dann folgt die herzzerreißende Szene, in der sie ihren Tod vorwegnimmt. Die Szene im Kerker: ein Tiefpunkt in Fausts Karriere. Sein Begehren, sein Verführen hat tödliche Folgen: nicht für ihn, aber für eine Unschuldige. Und er, der zunächst Mephistopheles mit Schuld beladen wollte, sieht sich vernichtet, sagt (als letztes Wort): „O wär’ ich nie geboren! “. Doch da ist die Stimme von oben, das „Ist gerettet! “, die Gegenstimme zu des Mephistopheles‘ „Sie ist gerichtet“. Sie wird gerettet sein; am Ende des zweiten Teils des Faust wird sie als Gerettete, als fürbittende Büßerin Margarete noch einmal wiederkehren. Ist Fausts Schuld abgebüßt? Wohl kaum. Sieht er sich als schuldbeladenen Verführer? Nicht lange. Denn er entflieht, anstatt bei Margarete im Kerker zu bleiben, und wenn wir weiterlesen, also der Spur Fausts im zweiten Teil der Tragödie folgen, dann könnte der Gedanke aufkommen, dass Mephistopheles mit seinem „Sie ist die erste nicht“ gar nicht so unrecht hatte - denn es wird nicht bei der ersten bleiben. Fausts Reise-Leben geht weiter. Er ist mit Mephistopheles geflohen, und in der Tragödie Zweiter Teil ist er auf blumigem Rasen gebettet; zwar „ermüdet, unruhig, Schlaf suchend“, aber doch von einem „G EISTER K REIS “ umgeben; es sind „anmutige kleine Gestalten“. Er liegt in einer „anmutigen Gegend“, und Ariel fordert die Geister auf: „Besänftiget des Herzens grimmen Strauß, / Entfernt des Vorwurfs glühend bittre Pfeile,/ Sein Innres reinigt von verlebtem Graus. […] Wenn er gestärkt dem Tag entgegen ruht. / Vollbringt der Elfen schönste Pflicht / Gebt ihn zurück dem heiligen Licht“ (4623 ff.). Der Chor der Geister folgt dem und singt: „Schon verloschen sind die Stunden, / Hingeschwunden Schmerz und Glück; / Fühl’ es vor! du wirst gesunden; / Traue neuem Tagesblick“ (4650 ff.). Und dann spricht Faust selbst sein „Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig, / Ätherische Dämmerung milde zu begrüßen“, er entschließt sich, „Zum höchsten Dasein immerfort zu streben“, und der Sonnenaufgang, der ihn wie ein Feuermeer umschlingt, beendet vorerst seine Meditation mit dem berühmten: „Am farbigen Abglanz haben Johann Wolfgang Goethe Faust 81 wir das Leben“ (4727). Fausts Reise geht weiter. Wir begegnen Faust bei Morgensonne in einem Lustgarten, am Kaiserlichen Hof. Was er sucht, ist auch hier nichts anderes als „Gelegenheit zu Spaß und Trug“ (6176). Mephistopheles gibt ihm einen Schlüssel, der ihn zu der Welt der Mütter führen soll, und Faust ist begeistert: „Wohl! fest ihn fassend fühl’ ich neue Stärke, / Die Brust erweitert hin zum großen Werke“ (6281 f.). Und so geht es fort, durch alle Höhen und Tiefen des Weltkreises; von Gretchen ist keine Rede mehr, erst recht nicht von Schuld und Buße. Und vom Selbstmord ist er weiter denn je entfernt. Warum sollte er auch? Fausts Lebensreise war auf Ausbruch, auf „Befreiung, Verwandlung, Steigerung“ hin angelegt, 18 und so geht es denn auch weiter: des Mephistopheles Versprechen „Wir sehn die kleine, dann die große Welt“ erfüllt sich geradezu wörtlich - die kleine Welt, das war die Welt des Osterspaziergangs, des Studentenkellers, des Studierzimmers, schließlich des Kerkers, in dem er Margarete zurückließ; im zweiten Teil geht es an den Kaiserhof, nach Hellas, es geht in den Palast, dann in „offene Gegend“, aber auch ins „Hochgebirg“, an den Peneius, in die Felsbuchten des Aegäischen Meeres, auf die Pharsalischen Felder, kurzum: in die große Welt in jeglichem Sinne. Aber das liegt hier jenseits unserer Betrachtung. * Wir wollen noch einmal einen Blick werfen auf das merkwürdige Gespann, das sich da durch die kleine und durch die große Welt hindurchzaubert: auf Faust und Mephistopheles. Wer Faust ist, wissen wir halbwegs: ein Suchender, der auf Erkenntnis aus ist und dann das Leben sucht, der es auf Reisen zu finden glaubt und der mit dem Reisen nicht aufhört, bis zur bitteren Täuschung am Ende des Dramas, als er meint, da werde neues Land urbar gemacht. Wissen wir jetzt auch, wer Mephistopheles ist? Nicht unbedingt. Ist er die böse Seite des Guten, also nichts anderes als eine Emanation Fausts, das Schlechte in ihm, das auf Verführung und Täuschung aus ist, das das Gute in ihm zu überlisten, zu verdecken, zu zerstören droht? Das Böse ist theologisch gesehen der Gegenmythos zur Schöpfungsgeschichte, ist der Versuch, sie als Täuschung hinzustellen - aber in Goethes Drama ist Mephistopheles eben auch das unzertrennliche Gegenstück zu Faust, sein anderes Ich, und so ist er denn auch nicht von ihm zu trennen. Den Reiz des Dramas macht aus, dass Faust und Mephistopheles die Reise, die Weltenreise immer zusammen antreten. Einmal erscheint Mephistopheles in „Faust’s langem Kleide“ (nach 1850) - eine symbolische Geste, die die geheime Identität der beiden Figuren anzudeuten scheint. Vielleicht gilt hier das, was Goethe in einem Brief an Sophie von La Roche im Juni 1774 schrieb: „Das Gute und das Böse, rauscht von den Ohren vorbey die nicht hören. Und ist das böse nicht gut und das gute nicht bös? “ 19 Ja, Mephistopheles ist Teil von jener Kraft, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Das ist hier aber 18 So Schöne (wie Anm. 15), S. 203. 19 Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin von Sachsen, IV. Abtheilung, Goethes Briefe, 2. Bd., Weimar: Böhlau 1887, S. 164. Helmut Koopmann 82 weniger eine Frage der Persönlichkeitspsychologie, sondern zugleich eine Feststellung zur conditio humana. Das entschuldet Faust nicht, das Böse bleibt - auch in ihm. Es ist der Versucher im Menschen, der in Mephistopheles Gestalt geworden ist, aber Goethe denkt ganz im Zusammenhang der Philosophie des 18. Jahrhunderts, dass das Böse in die letztlich gute Schöpfung eingebunden bleibt - so wie das Leibniz schon 1710 in seinem Beitrag zur Theodicee-Diskussion des 18. Jahrhunderts feststellte, wo es darum ging, die Existenz des Bösen in der Welt in Einklang zu bringen mit der Existenz Gottes als höchster Weisheit. Selbst Mephistopheles wusste das eine vom anderen nicht klar zu trennen, wenn wir ein Paralipomenon zum zweiten Akt von Faust II auf ihn beziehen dürfen: vermutlich war ihm die Bemerkung „Das Böse das Gute / Ich weis es nicht doch ist {mir} schlecht zu Muthe“ zugedacht. 20 Möglicherweise antworten diese Zeilen auf des Mephistopheles Worte: „Das hätt er dencken sollen / Das Böse (Übel) kommt {so wenig} vor“. 21 Das scheint zu besagen, dass die Grenzlinie zwischen dem Guten und dem Bösen allen Polarisationen zum Trotz unscharf und durchlässig ist, dass das Böse nun einmal mit dem Guten zusammenhängt, das Gute mit dem Bösen. Schon in Goethes Rede Zum Shakespeares Tag von 1771 hieß es: „das was wir bös nennen, ist nur die andre Seite vom Guten, die so nothwendig zu seiner Existenz, und in das Ganze gehört, als Zona torrida brennen, und Lapland einfrieren muss, dass es einen gemäsigten Himmelsstrich gebe“. 22 Goethe beruft sich auf „edle Philosophen“ und das, was die von der Welt gesagt haben. Aber es ist seine eigene sehr ursprüngliche Idee. Goethes frühe Vorstellungen haben sich bis zum Faust gehalten, bis zu jenem Satz des Mephistopheles, dass er ein Teil von jener Kraft sei, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Nietzsche ging später noch einen Schritt weiter und schrieb in Menschliches, Allzumenschliches: „zwischen guten und bösen Handlungen giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte böse; böse Handlungen sind vergröberte, verdummte gute“. 23 Das Böse also nicht als Böses an sich, sondern als pervertierte Erscheinungsform des Guten? Ja, so ist es vielleicht zu deuten. Anders gesagt: es gibt wohl in jedem Menschen einen Versucher. „Der Geist des Widerspruchs und die Lust zum Paradoxen steckt in uns allen“, hat Goethe einmal anläßlich seiner Lektüre von Gottfried Arnolds Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie von 1699 gesagt. 24 Am Ende aber ist das Böse im Menschen nicht das, was ihn ausschließlich bestimmt. In der Grablegung am Ende von Faust II wird Fausts „Unsterbliches“ entführt, Mephistopheles sieht sich vergebens um, und dann muss er sich selbst gestehen: „Du bist getäuscht in deinen alten Tagen, / Du hasts verdient […]“ (11834 f.). Er konnte sich der Seele Faustens dann doch nicht bemächtigen. Freigesprochen 20 Schöne, Texte (wie Anm. 6), S. 651; vgl. Schöne, Kommentare (wie Anm. 15), S. 1008. 21 Schöne, Texte (wie Anm. 6), S. 645. 22 Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, I. Abtheilung, Goethes Werke, 37. Bd., Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1896, S. 134. 23 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 2, S. 104. 24 Goethes Werke (wie Anm. 22), 27. Bd., S. 217. Johann Wolfgang Goethe Faust 83 wird Faust von niemand anderem als von „U NA P OENITENTUM sonst Gretchen genannt“, mit ihrem „Neige neige / Du Ohnegleiche, / Du Strahlenreiche, / Dein Antlitz gnädig meinem Glück! / Der früh Geliebte / Nicht mehr Getrübte / Er kommt zurück“ (12069 ff.). Gretchen spricht ihn gleichsam los: „Er ahnet kaum das frische Leben / So gleicht er schon der heiligen Schar. / Sieh! wie er jedem Erdenbande / Der alten Hülle sich entrafft, / Und aus ätherischem Gewande / Hervortritt erste Jugendkraft“ (12085 ff.). Die M ATER GLORIOSA schließt mit „Komm! hebe dich zu höhern Sphären, / Wenn er dich ahnet folgt er nach“. Und so erfüllt sich, was die Engel singen, „F AUSTENS Unsterbliches tragend“: „Gerettet ist das edle Glied / Der Geisterwelt vom Bösen, / > Wer immer strebend sich bemüht / Den können wir erlösen. < “ (11934 ff.). Mephistopheles haben die Engel um seine Beute gebracht: die hohe Seele, „die sich mir verpfändet / Die haben sie mir pfiffig weggepatscht“. Er möchte gern auf seine Rechte pochen, doch der „ausgepichte Teufel“ ist am Ende unter die Toren geraten, Faust aber ist entschuldet, ist in den Himmel aufgenommen. Als das geschieht, ist „neuer Tag“, da ist das Reich der Finsternis, das Reich des Mephistopheles beendet, das stolze Licht hat über die Finsternis gesiegt. Damit schließt sich der Kreis, der mit der Diskussion zwischen Faust und Mephistopheles im Studierzimmer über Licht und Finsternis begonnen hatte. Was mit der Suche nach Erkenntnis begann, endet mit Erlösung. Ob damit der Erkenntnisdrang des Menschen in religiöses Fahrwasser abgeleitet ist, ist eine andere Frage, die wir hier nicht zu beantworten brauchen. * Bleibt die Frage, wie wir Faust lesen sollen. Die Zahl der Antworten darauf ist Legion, sie können nicht einmal andeutungsweise hier referiert werden. Man hat über Faust und das Faustische geschrieben, andere Arbeiten gehen über „Figuren der Unruhe“, wieder andere gelten dem plutonischen Faust, auch Faust als nationalem Symbol. Viele Interpreten neigten lange dazu, in Faust ein Menschheitsdrama zu sehen. In der bis heute hin sehr verbreiteten Hamburger Ausgabe von Erich Trunz, die ganze Studentengenerationen mit ihrem Goethebild versorgt hat, ist Faust vor allem und nichts weniger als ein religiöses Drama. Da steht: „Den heutigen Leser ergreift in ihren Werken [gemeint sind die von Ficino, Paracelsus, Bruno, Kepler, Leibniz] weniger das sachlich Dargestellte als ihre religiöse Haltung: diese stürmische Religiosität, diese Sehnsucht durch das All zu Gott“, 25 und da steht auch: „Dieses stürmische, religiös sehnsüchtige Ich, das mit den Mittel der Wissenschaft durch das All zu Gott will, immer zwischen Verzweiflung und Vergötterung, demütig und titanisch zugleich - welcher Stoff für einen Dichter! “ 26 Und an dritter Stelle ist zu lesen, dass das Wesen des Menschlichen im Faustdrama besonders deutlich werde: „In Faust lebt eine religiöse Sehnsucht nach Entgrenzung seines menschlichen Ich. 25 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. III, Dritte Auflage Hamburg: Christian Wegner Verlag 1957, S. 462. 26 Ebd., S. 462 f. Helmut Koopmann 84 Aber diese Sehnsucht führt ihn nicht ins Religiöse empor, sondern sie überstürzt sich, greift fehl, vermischt Hohes und Niederes und verstrickt sich eben dadurch immer tiefer ins Irdische. So wird da, wo Faust ins Absolute auszugreifen versucht, sein menschliches Ungenügen besonders offenbar“. 27 Das war 1949 geschrieben - eine Nachkriegsinterpretation aus dem Geist der späten vierziger Jahre heraus. Ganz schuld war die frühe Goethe-Philologie, die mit dem Adlatus Eckermann beginnt, daran nicht; hatte der doch erklärt, dass Goethe sich darüber ausgesprochen habe, „daß ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sei“. Das hat man oft als Erklärungsformel für den Faust gelesen, aber Albrecht Schöne, prominentester Kommentator des Dramas, hat das zu Recht kritisiert: der Satz gehe weiter, er laute: „das ist zwar ein wirksamer, Manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Szene im Besondern zu Grunde liege“. 28 Also das ganze Spiel gerade kein „zur Erlösungswürdigkeit führendes Läuterungsdrama“. 29 Aber auch später ist die sogenannte Tragik Fausts immer wieder ins Feld geführt worden: „tragische Größe“ war die Chiffre, unter der man Faust verstehen wollte. Das führte zu skurrilen Titeln: der philologisch eigentlich gut beleumundete Oskar Walzel sprach schon 1908 von der „faustischen Natur“, 30 1922 schrieb ein gewisser Obenauer über „Der faustische Mensch“ (Obenauer nahm später bei der Aberkennung der Ehrendoktorwürde Thomas Manns durch die Universität Bonn eine wenig rühmliche Rolle ein), aber es gab auch ein Buch von Constantin Brunner mit dem Titel „Faustischer Geist“ aus dem Jahr 1927 oder von Hermann August Korff 1938 „Faustischer Glaube“, und 1934 war bei Bernhard Kummer sogar vom „faustischen Jahrtausend“ die Rede gewesen: da war aus dem unglücklichen Titanen ein Millenniumsheld geworden. Natürlich gab es auch Widerspruch: 1933 sah ein Interpret in Faust geradezu einen immer tiefer in Blut watenden Wüstling. Aber diese Lesart setzte sich verständlicherweise nicht durch. Vielmehr ging der Interpretenweg vor allem dahin, in Faust die „größte dichterische Selbstoffenbarung des deutschen Geistes“ zu sehen; so konnte man das selbst noch 1980 aus der Feder des renommierten Ernst Beutler lesen, der lange das Deutsche Hochstift in Frankfurt leitete. Vorher war Faust einige Jahre lang auch zum nationalistischen Heros geworden; ein jemand schrieb 1933 über „Faust im Braunhemd“. Die Gegenbewegung gab es dazu in der Zeit des Kalten Krieges: eine orthodox-sozialistische Deutung des Dramas, über Jahrzehnte hin bis zu Walter Ulbricht hochgehalten. Faust wurde östlicherseits 1962 geradezu kanonisiert, sein Drama als Ausdruck des Erlebens eines „realexistierenden Sozialismus“ verstanden und die letzte Vision Fausts vor seinem Tod als Geschichtsprophetie, als Vision des ersten „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ auf deutschem Boden bezeichnet. Welch ein Unsinn! Eine linke Germanistik hat das damals in etwas bescheidenerer Form aber dennoch nachgebetet. Faust als Klassenkämpfer. 27 Ebd., S. 473. 28 Schöne, Kommentare (wie Anm. 15), S. 39. 29 Ebd. 30 Ebd. Ich folge im Nachstehenden der Übersicht Schönes. Johann Wolfgang Goethe Faust 85 Wie aber soll man ihn denn dann lesen? Als reines Sprachkunstwerk, also, wie man unter Geisteswissenschaftlern sagen würde, literaturimmanent? Das ist durchaus geschehen im riesenhaften Faustbuch des Kölner und später Berliner Germanisten Wilhelm Emrich. 31 Befriedigen will das heute nicht. Oder ist das Ganze eine riesige Allegorie, wie man auch gesagt hat, eine Allegorie, die ihre Bedeutung erst durch den Leser selbst und dessen Erfahrungen erhält? Aber auch damit wird man heute keinen Germanistikstudenten an die Lektüre heranbekommen. Da möchte man eher Bertolt Brecht recht geben, der an der Faustfigur das „historisch Neue“ rühmte, nämlich „seine Begierde und sein Bemühen, sich zu entwickeln, seine Fähigkeiten auszubilden und sich alles einzuverleiben, was Natur und Gesellschaft sich will entreißen lassen“. Mephisto und Gretchen nennt er „zwei der schönsten Figuren des Welttheaters“, und zu Faust meint er: „Sein Feuer ist es, in dem Gretchen verbrennt, und Mephisto nimmt sein ganzes Interesse davon, daß Faust sich mit ihm einläßt“. 32 Und Goethe selbst? Er hat am Ende seines Lebens von letzten Formeln gesprochen, „durch welche ganz allein mir die Welt noch frei faßlich und erträglich wird“ - so im Brief vom 3. November 1826 an Sulpiz Boisserée. 33 Damit ist nichts Mathematisches gemeint, sondern vielleicht - aber wir wissen es eben nicht genau - etwas Urbildhaftes, etwas Anschauliches für Urerfahrungen. Werden durch solche Urszenen, wie sie vor allem Faust II liefert, irdische Geschehnisse fasslicher, behandlungsfähiger, vielleicht auch erträglicher? „Kann sein, auch nicht“, heißt es einmal in Schillers Wallenstein. Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass eine sogenannte rein textimmanente Lektüre ebenso einseitig ist und vielleicht sogar so falsch wie eine solche, die den Geist der jeweils eigenen Zeit dort bestätigt sehen möchte. Dass hinter Fausts Streben allein religiöse Sehnsucht stecke, will uns allerdings nicht erst heute als eher unwahrscheinlich erscheinen. Andererseits hat ein uralter Menschheitstraum doch wohl erkennbar Pate gestanden: der Wunsch nach Befreiung, Aufbruch, nach Überschreiten der gesetzten Grenzen, nach Ausbruch aus einem eingekerkerten Dasein. „Wir sehn die kleine, dann die große Welt“: das muss noch nicht als Erlösungssehnsucht gedeutet werden, aber diese Befreiungsgelüste haben schon etwas Existentielles an sich; es hat etwas Verlockendes, dass die Aus- und Aufbrüche im Drama wirklich alle Grenzen sprengen. Allein kann das der Mensch nicht, und so braucht er einen Befreier, einen Helfer, einen ihm ergebenen Adlatus: hier ist es Mephistopheles. Doch mit diesem reist auch etwas mit, was diese Ausbruchsversuche mit Fragwürdigkeit belastet: jeder Ausbruchsversuch hat bei Faust zugleich mit Verführung zu tun, mit einem Weg ins Illusionäre, Phantastische, ja Bedenkenlose, und Faust hat vielfach Gelegenheit, sich 31 Wilhelm Emrich: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen, Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag 1943. 32 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp-Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann [werkausgabe edition suhrkamp], Bd. 17: Schriften zum Theater 3, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1976, S.1283. 33 Goethes Werke (wie Anm. 19), 41. Bd., S. 219. Helmut Koopmann 86 dessen bewußt zu werden. Mephistopheles: das ist auch die dunkle Kehrseite jenes Wunsches nach Entgrenzung. Einen Mephisto trägt wohl jeder in sich. Aber wir wollen diese quasi existentialistische oder auch jede psychologische Deutung gleich wieder einschränken, obwohl sie ein Weg zum Verständnis des Dramas sein kann. Doch wer immer in Faust und in sein Drama etwas grundsätzlich Zeitübergreifendes, vielleicht sogar etwas sogenanntes Allgemein-Menschliches hinein- oder herausliest, dem ist zu entgegnen, dass außerordentlich viel im ersten Teil des Faust auf die damalige Zeit bezogen ist. Dazu gehören auch die Ausbruchsgelüste - die gehörten nicht nur zur Renaissance, sondern die gab es zu Goethes Zeiten literarisch zugleich anderswo. 1780 veröffentlicht Jean-Jacques Rousseau seine 1772 begonnenen und 1776 fertiggestellten Gespräche Rousseau richtet über Jean-Jacques - eine Autobiographie als Fortsetzung seiner Bekenntnisse. Und da schrieb er: „Der aber, der aus dem engen Kerker des persönlichen Interesses und der kleinen irdischen Leidenschaften ausbricht, sich auf den Flügeln der Einbildungskraft über den Dunstkreis der Erde erhebt, der, der ohne seine Kräfte und Fähigkeiten im Streit gegen das Glück und das Schicksal zu erschöpfen, sich in ätherische Gegenden versetzen, dort in erhabenen Betrachtungen sich ergehen und sich halten kann, der kann von dort aus die Schläge des Schicksals und die sinnlosen Urteile der Menschen verlachen“. 34 Das liest sich wie eine Paraphrase des Faustschen „O glücklich! wer noch hoffen kann / Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen. […] Betrachte wie in Abendsonne-Glut / Die grünumgebnen Hütten schimmern. […] O daß kein Flügel mich vom Boden hebt […] Die stille Welt zu meinen Füßen, / Entzündet alle Höhn, beruhigt jedes Tal“ (1064 ff). Aufbruchsgelüste in Frankreich - aber auch in der deutschen Romantik; bei Eichendorff zieht man 1812 nach Amerika oder auch nach Hindustan, und der Held seiner Taugenichts-Erzählung will im Grunde nichts anderes als Faust: heraus, heraus aus den engen Grenzen einer bürgerlichen, ja, kleinbürgerlichen Welt. Aber dass viele dieser Ausbruchsversuche scheitern oder ad absurdum geführt werden - ist das nicht auch ein Kennzeichen jener (bürgerlichen? ) Welt, in der sich Goethe ebenso bewegte wie die Romantiker, auch wenn sie herauswollten? Es sind deren Grenzen, die auch im Faust, oder sagen wir besser: die selbst im Faust sichtbar werden. Wo gelingen die Ausbrüche? Die meisten enden mit der Rückkehr in eine Ordnung. Das war schon beim jungen Schiller so, das blieb auch beim Schiller des Wallenstein so, das ist in den meisten romantischen Ausbruchsversuchen so, und es ist letztlich auch bei Goethe so: am Ende steht die Rückkehr in eine Ordnung, die ihre konservativbürgerlichen Züge eigentlich nicht verleugnen kann. Oder sagen wir besser: die den religiösen Anschauungen der Zeit entspricht. Zeitgenössisches auch anderswo: von den Tragödien der Kindermörderinnen war schon die Rede, auch davon, dass Goethe, juristisch damit befaßt, in der Sache der Susanna Brandt dem rechtlichen Ordnungsbedürfnis der Zeit Genüge getan hat. Und was Zeitgenössisches angeht: da haben wir auch die Auseinandersetzung mit der Aufklärung, eine Auseinandersetzung, die in den Jahrzehnten, in denen der Faust entstand, überall aufflackerte und 34 Jean-Jacques Rousseau: Schriften. Hrsg. von Henning Ritter, Bd. 2, München: Hanser Verlag 1978, S. 432. Johann Wolfgang Goethe Faust 87 deren Ausläufer noch bis weit in das 19. Jahrhundert zu spüren waren. Mit aufgeklärtem Denken war es nicht getan - das wusste Schiller so gut, wie Goethe das wusste, und erhebliche Teile von Faust I handeln von einer missverstandenen Aufklärung, führen sie ins Absurde oder machen sie lächerlich - etwa in jenem Famulus, der glaubte, dass es mit der Verstandesgelehrsamkeit sein Rechtes und vor allem sein Bewenden habe. Schon der „Prolog im Himmel“ zeugt von Aufklärungsskepsis, von der Kritik an aufklärerischer Selbstüberschätzung, von einem falschen Gebrauch der Vernunft, denn das „Es irrt der Mensch, solang er strebt“ besagt eigentlich doch nur, dass der Mensch aus seinem Irren niemals entfliehen kann: das ist dem Menschen aufgegeben und eingegeben. Es ist der Versuch einer Widerlegung jenes aufklärerischen Grundsatzbekenntnisses, dass auch ein Irrtum zu Erkenntnis führen könne. Nein: durch Irren kommt man nicht zur Erkenntnis. Und Fausts Dasein ist ja auch alles andere als ein Weg von Erkenntnis zu Erkenntnis, und selbst Magie bringt am Ende nichts. Spottfigur einer gänzlich falschen Aufklärung ist in Goethes Drama jener Wagner, der als Famulus ihn in seinen Betrachtungen und im Gespräch mit dem Geist so unangenehm stört. Schiller hatte noch an Kant gerühmt, dass von keinem sterblichen Menschen kein größeres Wort gesprochen worden sei als dessen „Bestimme Dich aus Dir selbst“; das war am 18. Februar 1793. Auch Faust will sich selbst bestimmen, aber das gelingt eben nur mit Hilfe jenes dunklen alter ego des Mephistopheles. Selbstbestimmung ist bei Faust auch ein Befreiungsversuch aus Fremdbestimmung. Aber weit kommt er nicht damit. Wenn Mephistopheles dem wissbegierigen Schüler die Fakultäten durchhechelt, dann wirkt er selbst wie das Zerrbild des aufgeklärten Bemühens der Gelehrten, und es ist doch wohl Goethes Absicht, ein solches Zerrbild zu zeigen. Seinem Mephistopheles geht es nicht nur um die Fragwürdigkeiten von Wissenschaft und Aufklärung, sondern er macht sich auch noch über die Professoren lustig; denen sei es eigentlich ja doch vor allem darum zu tun, „Dass alle Studiosi nah und fern / Uns wenigstens einmal die Wochen / Kommen untern Absaz gekrochen. / Will einer an unserm Speichel sich lezzen, / Den thun wir zu unsrer Rechten sezzen“. (Faust: Frühe Fassung [Urfaust], 286 ff.). Natürlich gibt es auch zustimmende Äußerungen Goethes zur Aufklärung - er hat sie nicht in Bausch und Bogen verworfen, er hat sogar gesagt, dass es bei ihm einiges an Gemeinsamkeiten mit Kant gebe und dass die großen Hauptgedanken des Kantischen Werkes, hier die der Kritik der Urteilskraft, seinem eigenen Schaffen, Tun und Denken ganz analog gewesen seien. Aber dennoch: als Ganzes ist Faust auch ein Abgesang auf die Aufklärung, nicht zuletzt deswegen, weil die Aufklärung in der Natur etwas anderes sah als Goethe, sie restringierter, durch den Verstand beherrschbar und überhaupt fassbar verstand oder besser: damit missverstand. Goethe sah zu seiner Zeit das Ende der Aufklärung gekommen, schrieb in seinen Maximen und Reflexionen: „Es sind nun schon bald zwanzig Jahre, daß die Deutschen sämmtlich transcendiren. Wenn sie es einmal gewahr werden, müssen sie sich wunderlich vorkommen“. 35 Das heißt nichts anderes als: weg von der Transzendentalphilosophie der Kant und seiner Zeitgenossen, hin zu Wichtigerem. Also zur conditio humana, 35 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Friedmar Apel u.a., Frankfurt/ Main 1987 ff., I/ 13, S. 33. Helmut Koopmann 88 hin zu einer Natur, die nicht mehr vermessbar war, sondern die, wie die des Menschen, auch dämonisch, furchterregend und unbegreiflich sein konnte. Fausts Auf- und Ausbrüche aus jener Welt eines eingekerkerten Lebens endeten mit seiner Grablegung, einer großartigen Vision, die zugleich ein unendlich großer Irrtum war. Dahinter steht nicht nur Metaphysisches, sondern ebenfalls etwas sehr Konkretes. Schließen wir mit jenem Namen, mit dem wir begonnen haben, mit Heines Bemerkungen zu Goethes Faust, und das möge alles, was hier gesagt wurde, zureichend relativieren. Heine schrieb in seiner Romantischen Schule: „Denn vom größten Denker bis zum kleinsten Markör, vom Philosophen bis herab zum Doktor der Philosophie, übt jeder seinen Scharfsinn an diesem Buche. Aber es ist wirklich eben so weit wie die Bibel, und, wie diese, umfaßt es Himmel und Erde, mitsammt dem Menschen und seiner Exegese“. 36 Goethes Faust: ein Renaissancestoff, vermehrt um Goethes eigene Erfahrungen des Aufbruchs, um die Frage, ob das Gute im Menschen nicht immer auch von Bösem begleitet werde, also Mephistopheles die dunkle Seite Fausts verkörpere, ob zwischen Wahn und Wirklichkeit stets klar zu unterscheiden sei und schließlich, ob es Schuld und Erlösung gebe. Auch wenn Faust schließlich erblindet ist und der Chor sein „Es ist vorbei“ (11594) sagt, so gilt doch sein Wort: „Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn“. Bis jetzt hat er recht behalten. * Literaturverzeichnis Primärliteratur Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hg. Elisabeth Hauptmann. Frankfurt/ Main 1976. Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke. Bd. 2. Hg. im Auftrag der Großherzogin von Sachsen, IV. Weimar 1887. - Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 3. Hamburg 1957. - Goethes Werke. Bd. 37. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, I. Weimar 1896. - Faust. Kommentare. Hg. Albrecht Schöne. Frankfurt/ Main 2003. - Faust. Texte. Hg. Albrecht Schöne. Frankfurt/ Main 2003. - Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. Friedmar Apel. Frankfurt/ Main 1987. Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 8/ 1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule. Hg. Manfred Windfuhr. Hamburg 1979. - Säkularausgabe. Werke. Briefe. Lebenszeugnisse. Hg. Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin/ Paris 1970. 36 Heinrich Heine (wie Anm. 3), S. 159. Johann Wolfgang Goethe Faust 89 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, La Liberté de l’Homme et l’Origine du Mal. Bd. 1. Berlin 1840. Moritz, Karl Philipp: Werke. Hg. Horst Günther. Frankfurt/ Main 1981. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Kritische Studienausgabe. Hgg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999. Rousseau, Jean-Jacques: Schriften. Hg. Henning Ritter. München 1978. Forschungsliteratur Baron, Frank: Faustus. Geschichte, Sage, Dichtung. München 1982. Emrich, Wilhelm: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen. Berlin 1943. Houben, Hubert (Hg.): Gespräche mit Heine. Frankfurt/ Main 1926. Koopmann, Helmut: „Über das Böse. Ein Versuch“. Thomas Manns Doktor Faustus - Neue Ansichten, neue Einsichten. Hg. Heinrich Detering u.a. Frankfurt/ Main 2013. 63-76. Russel, J.B.: Biographie des Teufels. Das radikal Böse und die Macht des Guten in der Welt. Wien 2000. George Gordon Byron Written after Swimming from Sestos to Abydos Thomas Schmidt Für Rudolf Gerstenberg, den Schwimmer † „[T]o him the swimmer's skill Was native, and now all his hope from ill“. 1 Byron, The Island „Written after swimming from Sestos to Abydos. May 9, 1810 If in the month of dark December Leander, who was nightly wont (What maid will not the tale remember? ) To cross thy stream, broad Hellespont If when the wintry tempest roar’d He sped to Hero, nothing loth, And thus of old thy current pour’d, Fair Venus! how I pity both! For me, degenerate modern wretch, Though in the genial month of May, My dripping limbs I faintly stretch, And think I've done a feat to-day. But since he cross’d the rapid tide, According to the doubtful story, To woo, - and - Lord knows what beside, And swam for Love, as I for Glory; ‘Twere hard to say who fared the best: Sad mortals! thus the Gods still plague you! He lost his labour, I my jest: For he was drown’d, and I’ve the ague.“ 2 1 Byron: „The island, or Christian and his comrades“. In: Ders.: The complete poetical works, Bd. 7, S. 63. 2 Byron: „Written after swimming“, In: Ders.: The Complete Poetical Works, Bd. 1, S. 281f. Thomas Schmidt 92 Fiebrige Verse Das Gedicht Written after swimming from Sestos to Abydos, das der englische Dichter George Gordon Byron im Mai 1810 verfasste, hat fünf Strophen zu je vier Versen und ist konsequent kreuzgereimt. Diese Regelmäßigkeit findet sich auch im Metrum wieder: Im Wesentlichen bestehen die Verse aus 4-hebigen, auftaktlosen Jamben. Allerdings fallen einige kleine, gleichwohl signifikante Unregelmäßigkeiten in diesen schlichten, Long metre oder Long measure genannten Strophen auf: Sechs der zwanzig Verse haben nicht acht, sondern neun Silben. In den Versen 1 und 3 der ersten sowie 2 und 4 der vierten und der fünften Strophe ändert sich durch diese Devianz zwar nicht das Schema der Versfüße, wohl aber die Gestalt des Versendes. Diese sechs Zeilen erhalten mit der überzähligen Silbe eine weibliche Kadenz, während alle anderen eine männliche haben. Nun kann man diese Unregelmäßigkeiten als Nachlässigkeit, mithin als qualitativen Mangel abtun. Das Gedicht mag in Eile hingeschrieben und um seiner Authentizität Willen nicht weiter bearbeitet worden sein. - Byron hat im Übrigen sämtliche Texte seines ebenso umfangreichen wie schnell produzierten Werkes in Versen geschrieben. - Man kann die herausgehobenen Zeilen aber auch auf semantische Besonderheiten hin befragen. Dabei springt ins Auge, dass Byron die Paare December - remember, story - glory und plague you - ague so wichtig gewesen sein müssen, dass er auf die durch den Reim exponierte Position dieser Worte nicht hat verzichten wollen. Das unterstreicht die polare Anlage des Gedichts, denn der dunkle, kalte Dezember zieht den milden Mai in den Blick und das „glory“, der Ruhm, die Liebe, für die Leander in den Tod schwamm, während das lyrische Ich nur ein Fieber („ague“) bekam. Gegen Ruhm und Fieber als Antrieb und Resultat auf Seiten des lyrischen Ichs stehen auf Seiten Leanders Liebe und Tod, deren Verknüpfung das Referenzgeschehen letztendlich auch zu einer wichtigen antiken Mythe gemacht hat: Diese tragische Liebesgeschichte, die in Ovids und Musaios’ Berarbeitung überliefert wurde, erzählt von Leander aus Abydos, der sich verbotenerweise in die Priesterin der Aphrodite, Hero, aus dem gegenüberliegenden, durch den Hellespont getrennten Sestos verliebt hatte und allnächtlich die knapp zwei Kilometer der Meerenge in einem Zug durchschwamm, um die Geliebte heimlich zu besuchen. Bei einem Sturm, der die von Hero aufgestellte Fackel, Kraftspender und Hoffnungszeichen in einem, löschte, ertrank Leander, worauf sich auch die Priesterin das Leben nahm: Eine übergroße Liebe und zwei Tote stehen dort am Ende, hier „the ague“. Überhaupt das Fieber: Es wird vom Ich nicht erinnert, sondern als sein gegenwärtiger Zustand herausgestellt: Nicht „I had“, sondern „I’ve the ague.“ Das macht den ganzen Text gleichsam zu einer fiebrigen Rede. Doch zunächst zurück zu den Unregelmäßigkeiten: Augenscheinlich wird gerade in den formal auffälligen Versen das Referenzgeschehen, also die antike Mythe, bewertet: Sie sei eine „doubtful story“ und ein „tale“, also „a story created using the imagination, especially one that is full of action and adventure“ bzw. „an exciting George Gordon Byron Written after Swimming from Sestos to Abydos 93 spoken description of an event, which may not be completely true“, 3 wie der Begriff im Oxford Dictionary definiert wird. Diese skeptische Distanzierung von Leanders Schwimm-Leistung und damit von jener Mythe, die so fest im kulturellen Gedächtnis verankert ist, dass jedes Mädchen sie erinnert („What maid will not the tale remember“), wird noch durch eine weitere metrische Abweichung unterstützt: Zwar fügen sich sämtliche Stropheneingänge dem auftaktlosen Versschema, doch erhalten die identischen Einsätze der ersten und der zweiten Strophe durch die Subordinationskonjunktion „if“ zumindest semantisch einen Hilfsakzent. Mit diesem nachdrücklichen, nachgerade programmatischen Auftakt durch das doppelte „if“ wird eine Bedingung formuliert, in der die Skepsis gegenüber dem Geschehen buchstäblich vom ersten Wort an mitschwingt. Durch ihre konditionale Verkopplung zeigen sich die ersten beiden Strophen als zusammengehörig und setzen sich vom Rest des Gedichtes ab, insbesondere von der mittleren dritten Strophe, in der sich das Ich unmittelbar zu erkennen gibt: formal betont durch die grafische Hervorhebung des „me“. Im Zentrum des Gedichtes bezeichnet sich das Ich als „degenerate modern wretch“, als missratene moderne Jammergestalt, die im milden Mai - anders als Leander im vom Wintersturm gepeitschten dunklen Dezember - die Strecke geschwommen ist und sich nun selbst abspricht, damit eine Heldentat vollbracht zu haben. Solch eine Selbstablehnung ist die typische Haltung des Byronic Hero, der sich aus den Figuren des englischen Dichters heraus entwickelte und fest zum Inventar der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts zählt: eher ein Außenseiter, charakterisiert durch eine Melange aus Lebensüberdruss, Melancholie, Selbsthass, Langeweile - imprägniert mit beißendem Spott und Ironie. Die folgende Strophe beginnt zwar mit einem eindrücklichen „but“, so als ob die Anmutung, die eigene Schwimmleistung könne „a feat“, eine Großtat, gewesen sein, noch einmal abgewehrt werden müsse; das „but“ zeigt aber eher rhetorisch die Änderung der Perspektive an, die den 3. Teil des Gedichts, die beiden letzten Strophen, bestimmt: So zweifelhaft die Geschichte auch sein mag, sie macht Leanders Tat für das Ich nun einmal zum Maßstab für die eigene Leistung und das eigene Erleben („hard to say who fared the best“). Byron hatte den Dreischritt: 1. Leander, 2. Ich, 3. Leander und Ich, zunächst auch durch die quantitative Gleichheit der Teile abbilden wollen: Eine nach der dritten platzierte, im Texas-Manuskript erhaltene Strophe aus dem Mittelteil wurde später gestrichen. „Though Hero and a hundred such Were waiting on these welcome banks - But I’ve already done too much Confound Leander’s gooselike pranks! “ 4 3 „Tale“ (noun). In: Oxford Advanced Learner’s Dictionary (8. Auflage), http: / / www.oxford learners dictionaries.com/ definition/ english/ tale (24.4.2014). 4 Byron: „Written after swimming“. In: Ders.: The complete poetical works, Bd. 1, S. 281. Thomas Schmidt 94 Diese Verse waren dem Mythos gegenüber noch weitaus schärfer formuliert. Sie zogen dessen Kern selbst, die große, alle Hindernisse überwindende Liebe, ins Lächerliche: „Hero and a hundred such“! Die einzigartige Geliebte, für die Leander nächtlich den Hellespont durchquerte, ist hier ohne Weiteres austauschbar. ‚Auch wenn Hunderte von Heros Sorte warten sollten, das Ich hat schon genug getan.‘ Die Enttäuschung über die Belanglosigkeit der eigenen, nur um ihrer selbst Willen vollbrachten Leistung schlägt in Aggression gegen das Vorbild um: ‚Zum Teufel mit Leanders idiotischen Aktionen‘ („gooselike pranks“). Wenn Byron auf diese Strophe dann aber verzichtet, verringert er weniger die Distanz des Gedichtes zum Mythos. Vielmehr macht er sie noch markanter, da die Dreiteilung des Textes nun umso stärker auf die Mittelstrophe ausgerichtet ist, die sich nun ganz allein auf das selbstverachtende Ich bezieht. Der abschließende, vergleichende und wertende Teil, von dem bereits die Rede war, erzeugt über schlichte, vermeintlich gleichwertige Polaritäten eine fast schon zynisch zu nennende Klage: Er habe, so das Ich, durch sein Fieber den Spaß an der Sache eingebüßt - vermeintlich gleichwertig, weil in der puren Entgegensetzung von „labour“ und „jest“ eine maliziöse Wertung versteckt ist, die Leanders Ertrinken alle Tragik abspricht. Denn das die Gegenüberstellung tragende Syntagma „He lost his labour“ ist eine Persiflage des Titels einer bekannten Komödie von Shakespeare: Love’s Labour’s Lost. Leanders tödlicher Schwimmakt war eben auch nur Verlorne Liebesmüh. Ohne hier schon ein Fazit ziehen zu wollen: Byron hält Abstand zur Antike und diskreditiert deren überlieferte Werte als „doubtful“. Während der junge Goethe noch Prometheus war, schlüpft Byrons Ich nur in die Leander-Rolle, um sie zu entwerten. Auch formal hält er sich mit seinem schlichten Metrum von der antiken Überlieferung fern: Die Vorlage in Ovids Heroiden war in elegischen Distichen geschrieben, Musaios’ Adaption nutzte den Hexameter. Griechenland mit dem Körper suchen Die Vers-Analyse hat einige Anschlussstellen freigelegt, von denen aus sich weiter interpretieren ließe: etwa vom Aufeinanderprallen von Antike und Moderne aus, das sich symbolisch in jenem Fieber ausdrückt, mit dem das Gedicht endet. Dieses Fieber ist hier weit mehr als nur eine überhöhte Körperkerntemperatur. Symbolisch gelesen, steht es als Zeichen für eine geradezu körperliche Auseinandersetzung mit überkommenen Mustern und Werten, als Zeichen für einen schmerzhaften, bis in die Leiber greifenden kulturellen Wandel, der gemeinhin Weg in die Moderne genannt wird. Ein solcher Befund allein rechtfertigt freilich nicht, dass diesem Gedicht, das weder überwältigende Sprachbilder beherbergt noch metrische Experimente wagt und wohl auch deshalb bislang noch keine ausführliche Behandlung erfahren hat, ein eigener Abend in der Ringvorlesung Große Werke der Literatur gewidmet wird - zumal man gerade von Byron ganz andere Texte hätte wählen können, Texte, die sein Bild als wirkungsmächtigster Dichter der europäischen Romantik mitgezeichnet haben. George Gordon Byron Written after Swimming from Sestos to Abydos 95 Dazu gehört zuallererst Childe Harold’s Pilgrimage. Mit dieser Verserzählung, deren ersten Gesänge 1812 erschienen, begann Byrons kometengleicher Aufstieg: ‚Eines Morgens wachte ich auf und war berühmt‘, 5 soll er geäußert haben. Binnen kurzer Zeit wurden mehrere tausend Exemplare eines Buches verkauft, das die Reisen eines Schildknappen durch verschiedene Mittelmeerländer sowie deren Geschichte, Politik und Kultur zum Gegenstand hat und das einen neuen Typus in die Literaturgeschichte einführte: den schon erwähnten Byronic Hero. Dieser Held, der hier „seelisch ruiniert vor den Ruinen der Vergangenheit steht und in seinem Weltschmerz im Reisen vergeblich seinen Frieden sucht“, 6 traf mit seiner Melancholie, Distanziertheit und Mutwilligkeit den Nerv der Zeit. Das Buch nannte der Autor später „a fine indistinct piece of poetical desolation, and my favourite. I was half mad during the time of its composition, between metaphysics, mountains, lakes, love unextinguishable, thoughts unutterable, and the nightmare of my own delinquencies. I should, many a good day, have blown my brains out, but for the recollection that it would have given pleasure to my mother-in-law“. 7 Ebenso hätte hier ein anderer wichtiger Text Byrons weit eher besprochen werden können: das Drama Manfred (1816/ 17), das den Byronic Hero maßgeblich profilierte, das Goethe sehr geschätzt hat und das von Robert Schumann, Peter Tschaikowski und Friedrich Nietzsche vertont wurde. Auch Byrons unvollendetes Spätwerk Don Juan (1819-24), ein Versroman über die Wanderungen eines leicht verführbaren Helden durch europäische Länder und Häfen, der Byron in den Augen von Robert Southey an die Spitze der Satanic school of poetry stellte, 8 könnte zu Recht in dieser Vorlesungsreihe einen Platz beanspruchen. Dass hier aber das kurze Gedicht über die Hellespont-Durchquerung im Mittelpunkt steht, liegt nicht zuletzt an jenem fiebrigen Zustand, in dem sich das Ich am Ende wiederfindet. Denn dieses Fieber verleiht den Versen - versteht man es ganz ohne Symbolik - eine Authentizität, die durch den Gedichttitel noch unterstützt wird. Und in der Tat hat sich Byron am 3. Mai 1810 selbst in der Rolle des Leander probiert und das Gedicht sieben Tage, nachdem er die Dardanellen durchschwommen hatte, niedergeschrieben. Im Juli 1809 war der 21-Jährige englische Adlige zu einer zweijährigen Grand Tour durch Südeuropa und den Mittelmeerraum aufgebrochen, die in Portugal ihren Anfang nahm, den Süden Spaniens berührte, ebenso Sardinien, Sizilien und Malta, ihn dann „a good portion of Turkey in Europe and Asia Minor“ 9 sehen ließ und schließlich nach Athen und auf den Peloponnes führte. - Aus dem Journal dieser Reise speisten sich auch die ersten Gesänge des Childe Harold. - Als sein Schiff, die Salsette, auf dem Weg ins Marmarameer an den Dardanellen halten musste, nutzte Byron die Chance, die gefährliche Meerenge zwischen Asien und Europa gemeinsam mit einem Schiffsoffizier zu durchqueren: 5 Vgl. [Byron: ] Life, letters and journals of Lord Byron, S. 159. 6 Hoffmeister: Byron und der europäische Byronismus, S. 13. 7 Byron an Thomas Moore am 28. Januar 1817. In: Byron’s letters and journals, Bd. 5, S. 165. 8 Vgl. Rutherford: Byron. The critical heritage, S. 179-181. 9 Byron an Catherine Gordon Byron am 2. Oktober 1810. In: Byron’s letters and journals, Bd. 2, S. 17. Thomas Schmidt 96 „This morning I swam from Sestos to Abydos, the immediate distance is not above a mile but the current renders it hazardous, so much so, that I doubt whether Leander’s conjugal powers must not have been exhausted in his passage to Paradise. - I attempted it a week ago and failed owing to the North wind and the wonderful rapidity of the tide, though I have been from my childhood a strong swimmer, but this morning being calmer I succeeded and crossed the broad Hellespont in an hour and ten minutes.“ 10 Für die mythische Rolle des Leander war Byron körperlich bestens vorbereitet; darüber wird noch zu sprechen sein. Er war für diese Sonderform der Imitatio aber auch mental gerüstet: In den Tagen vor der Dardanellen-Durchquerung, schreibt er in einem Brief, habe er nach Spuren des alten Troja gesucht, die Hügelgräber gefunden, in denen „the carcases of Achilles[,] Antilochus, Ajax &c.“ liegen sollen, und jenen Berg Ida „still in high feather“ 11 gesehen, auf dem Hera Zeus verführt haben soll, um ihn vom Trojanischen Krieg abzulenken. So versuchte Byron im Frühjahr 1810 zugleich in das Wasser des Hellespont und in die Antike einzutauchen. Dass er „das Land der Griechen“ nicht nur „mit der Seele“ 12 suchte, wie die deutschen Philhellenen in Winckelmanns und Goethes Nachfolge, sondern auch mit dem Körper, hat sein mitreisender Freund Hobhouse notiert: Er sah Leander auf dem Weg zu Hero. 13 Man könnte diesen biografischen Erfahrungen nun in einem bildungsgeschichtlichen oder -theoretischen Kontext bewerten, wie ihn die Encyclopédie français den Zeitgenossen Byrons in Erinnerung gerufen hat: „Bei den alten Griechen & Römern nahm die Kunst des Schwimmens bei der Erziehung der Jugend einen so wichtigen Platz ein, daß es von einem unwissenden, groben & schlecht erzogenen Mann sprichwörtlich hieß, er könne weder lesen noch schwimmen.“ 14 Dafür ließe sich auch der Byron-Verehrer Goethe ins Feld führen, der - wenn auch metaphorisch - Schwimmen und Bildung an signifikanter Stelle in seinem Werk verklammert: „Wir sehen unsere Schüler [...] sämtlich als Schwimmer an“, erläutert der Aufseher der Pädagogischen Provinz in Wilhelm Meisters Wanderjahren, „welche mit Verwunderung im Elemente, das sie zu verschlingen droht, sich leichter fühlen, von ihm gehoben und getragen sind; und so ist es mit allem, dessen sich der Mensch unterfängt“. In dieser zentralen Passage des elf Jahre nach Byrons Hellespont-Durchquerung veröffentlichten Romans spendet gerade das Schwimmen das Material für ein universelles Modell von Bildung, für das der Grundsatz gilt, „daß man nichts lerne außerhalb des Elements, welches bezwungen werden soll“. 15 Dieser Ansatz würde allerdings ebenso rasch von Byrons Gedicht wegführen wie dessen Interpretation mit Charles Sprawsons an der Weltliteratur seit der Antike entwickelten These, Literatur und Schwimmen würden in der Auslieferung ans Fremde strukturell eine Ähnlichkeitsbeziehung aufweisen. 16 Bleibt man indes zunächst bei Byron selbst und bei seinem Werk, dann springt ins Auge, dass sich 10 Byron an Henry Drury am 3. Mai 1810. In: Byron’s letters and journals, Bd. 1, S. 237. 11 Ebd., S. 238. 12 Goethe: „Iphigenie auf Tauris“. In: Ders.: Werke, Bd. 1, S. 641. 13 Vgl. Marchand, A biography, Bd. 1, S. 238. 14 Selg, Wieland: Die Welt der Encyclopédie, S. 353; vgl. Platon: Nomoi (689c-d). 15 Goethe: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. In: Ders.: Werke, Bd. 11, S. 260. 16 Zu Sprawsons Ansatz vgl. Schmidt: „Verschwommen“. George Gordon Byron Written after Swimming from Sestos to Abydos 97 Schwimmthema und -motiv auch in etlichen anderen seiner Texte ausmachen lassen. 17 So hat der Dichter, obgleich ihm, wie oben erläutert, die Leander-Imitatio misslang, seinen Helden Don Juan im 2. Gesang des gleichnamigen Versepos über dessen Schwimmbegabung charakterisiert und dabei die eigene Hellespont-Durchquerung zum Maß genommen: But in his native stream, the Guadalquivir, Juan to lave his youthful limbs was wont; And having learnt to swim in that sweet river, Had often turn'd the art to some account: A better swimmer you could scarce see ever, He could, perhaps, have pass'd the Hellespont, As once (a feat on which ourselves we prided) Leander, Mr. Ekenhead, and I did. 18 Ein weiteres Beispiel: An exponierter Stelle des Versepos über Childe Harold heißt es, Abschied nehmend und resümierend: And I have loved thee, Ocean! and my joy Of youthful sports was on thy breast to be Borne, like thy bubbles, onward: from a boy I wantoned with thy breakers - they to me Were a delight; and if the freshening sea Made them a terror - 'twas a pleasing fear, For I was as it were a child of thee, And trusted to thy billows far and near, And laid my hand upon thy mane - as I do here. 19 Durch solche Befunde wird die Bewegung im Wasser noch nicht zu einem geheimen Zentrum von Byrons Schreiben, obgleich auch Sprawson feststellte, nie zuvor habe „ein Dichter das erregende Gefühl zu schwimmen so festgehalten“ 20 wie Byron. Doch die erfahrungsgesättigten Passagen geben hinreichend Anlass, den Status des Gedichts Written after swimming from Sestos to Abydos von Byrons eigener Schwimmkompetenz aus weiter zu verfolgen und zwei Fragen zu stellen, die zunächst zur Biografie des englischen Adligen führen, dann aber vor allem die literatur- und be- 17 Vgl. Diem: Byron als Sportsmann, S. 93-122. 18 Byron: „Don Juan“. In: Ders.: The complete poetical works, Bd. 5, S. 121. 19 Byron: „Childe Harold’s Pilgrimage“. In: Ders.: The complete poetical works, Bd. 2, S. 186. 20 Sprawson: Schwimmen, S. 114. Es gibt noch weit mehr Schwimm-Passagen in Byrons Werk als die hier angeführten, etwa in The Two Foscari: „How many a time have I / Cloven with arm still lustier, breast more daring, / The wave all roughen’d; with swimmer’s stroke / Flinging the billows back from my drench’d hair, / And laughing from my lip the audacious brine, / Which kiss’d it like a wine-cup, rising o’er / The waves as they arose, and prouder still / The loftier they uplifted me; and oft, / In wantonness of spirit, plunging down / Into their green and glassy gulfs, and making / My way to shells and sea-weed, all unseen / By those above, till they wax’d fearful; then / Returning with my grasp full of such tokens / As show’d that I had search’d the deep: exulting, / With a far-dashing stroke, and drawing deep / The longsuspended breath, again I spurn’d / The foam which broke around me, and pursued / My track like a sea-bird. - I was a boy then.“ (Byron, The complete poetical works, Bd. 6, S. 135f.). Thomas Schmidt 98 wegungsgeschichtlichen Folgen seiner Schwimmtat betreffen: 1) Warum schwamm Byron? 2) Welche Folgen hatte seine antikegestützte Leistung für die Mythe und für die Bewegungstechnik Schwimmen? In der Beantwortung dieser Fragen werden jene beiden bedeutenden Signaturen kenntlich werden, wegen denen Written after swimming from Sestos to Abydos für den heutigen Abend ausgewählt wurde. Ein schwimmender Waldsatyr Dass George Gordon Byron am 22. Januar 1788 in London geboren wurde und in Aberdeen aufwuchs, dass sein Vater seine Frau und den zweijährigen Sohn verließ und dass er im Alter von zehn Jahren den Titel Lord Byron, Baron of Rochdale, und das Familienschloss Newstead Abbey erbte, soll hier allenfalls der Vollständigkeit halber erwähnt werden - ebenso wie die Schulausbildung in Harrow und Cambridge, die er 1808 abschloss. Nach der bereits erwähnten Grand Tour kehrte der junge Adlige 1811 nach Newstead Abbey zurück, feierte erste literarische Erfolge und heiratete 1815 nach mehreren Affären Annabella Milbanke. Seine erste Tochter wurde geboren, Byron aber trennte sich von seiner Frau und floh, auch um den Inzestvorwürfen, die die Beziehung zu seiner Halbschwester betrafen, zu entgehen, 1816 aus England und kehrte nie wieder auf die Insel zurück. Den Sommer 1816 verbrachte er mit Percy Shelley und dessen späterer Frau Mary Wollstonecraft Godwin am Genfer See, lebte und schrieb dann in Italien, von wo er im Sommer 1823 nach Griechenland aufbrach, um am Freiheitskampf gegen die Türken teilzunehmen. Wenig später, am 19. April 1824, starb er in Missolunghi an der Westküste Griechenlands an einem Fieber. Diese Eckdaten genügen schon, Byrons ebenso selbstbestimmte und freiheitsliebende wie maß- und rücksichtslose Lebensführung zu charakterisieren; eine Lebensführung, die die sozialen Normen derart strapazierte, dass seine Freunde und sein Verleger nach Byrons Tod das dicke Manuskript seiner Autobiografie verbrannt haben sollen, weil sie einen beispiellosen Skandal befürchteten. 21 Für unsere Fragen ist Byrons Körperbiografie indes wichtiger als seine moralischen Grenzverletzungen, und diese Körperbiografie war durch einen exzessiven Bewegungsdrang geprägt. Als psychosoziale Ursache für Byrons Bewegungswut wird gemeinhin eine körperliche Beeinträchtigung ins Feld geführt, die in keinem Porträt des Dichters fehlt und die den Reiz seiner Persönlichkeit noch verstärkte: Der englische Lord hatte eine verkürzte Sehne am rechten Bein, und es fiel ihm dadurch nicht leicht, sich gemäß der Konventionen der Ständegesellschaft zu bewegen. Mitunter heißt es auch, er habe einen Klumpfuß gehabt oder sei lahm gewesen. In jedem Fall hat seine Mutter von frühester Kindheit an versucht, den Defekt zu normalisieren - mit Eisenklammern, Schenkeldrehern, Spezialschienen und eigens bestellten Orthopäden. Später hat Byron dann Spezialschuhe und ausnahmslos lange Hosen getragen. Sein Bekannter Trelawny, der ihn die letzten Monate seines Lebens begleitet hat - nebenbei: eben- 21 Marchand, Leslie A.: „Editorial note“. In: Byron’s letters and journals, Bd. 1, S. 25f; vgl. Anm. 67. George Gordon Byron Written after Swimming from Sestos to Abydos 99 falls ein fanatischer Schwimmer 22 - berichtete, er habe den Leichnam des Dichters kurz nach dessen Tod nackt gesehen. Trelawnys Befund: „the form and features of an Apollo, with the feet and legs of a sylvan satyr“. 23 Auf seinen Körperfehler ist Byron selbst immer wieder zurückgekommen - in Briefen, im Tagebuch, aber auch in seinem literarischen Werk: So schrieb er mit der ihm eigenen Selbstironie an seinen Freund Francis Hodgson: „If my songs have produced the glorious effects you mention, I shall be a complete Tyrtaeus, though I am sorry to say, I resemble that interesting Harper, more in his person than Poesy.“ 24 Tyrtaios war ein Elegiendichter aus Sparta im 7. Jahrhundert v. Chr., der gehinkt haben soll. Jedenfalls hoffte Byron, „that I shall have a better pair of legs than I have moved on these two-and-twenty years, or I shall be sadly behind in the squeeze into Paradise.“ 25 Weitaus bitterer heißt es an anderer Stelle: „Meine Mutter und später die Schulkameraden hatten mich durch ihre Neckereien dazu gebracht, mein Gebrechen als das größte Unglück zu betrachten und nie habe ich über dieses Gefühl hinwegkommen können.“ 26 Seiner hysterischen und launischen Mutter, die ihn mit ihren orthopädischen Interventionen gequält und mit boshaften Kommentaren provoziert hatte, stellte Byron in dem späten Dramenfragment The deformed transformed (1822) die Rechnung, wenn sich dort die Hauptfigur Arnold in einem bitteren Dialog gegenüber seiner Mutter über seine Schreckensform, „this hateful aspect“ 27 beklagt: über „all Deformity’s dull, deadly / Discouraging weight upon me, like a mountain, / In feeling, on my heart as on my shoulders -“. 28 Um es kurz zu machen: Byrons lebenslange leibliche Umtriebigkeit, sein übermäßiges Schießen, Reiten, Boxen, Kricketspiel und vor allem sein Schwimmen, lässt sich im Kern in der Tat als soziokulturelle Kompensation eines Körperfehlers erklären. Gewiss finden sich auch andere, sekundäre Motivationen; die sports als Antidot gegen Langeweile und Weltschmerz etwa. So liest man am 6. Januar 1821 im Tagebuch: „Swimming also raises my spirits, - but in general they are low, and get daily lower.“ 29 Oder diätetische Begründungen, wenn es heißt: „I fence & box & swim & run a good deal to keep me in exercise & get me to sleep.“ 30 Auch die Hoffnung auf eine die Kreativität befördernde „animal energy“ 31 zählt zu den sekundären Antrieben. In einem Brief an seine mütterliche Freundin Lady Melbourne vermerkt der Dichter im April 1814: „Today I have been very sulky - but an hour’s exercise with Mr. Jackson of pugilistic memory - has given me spirits & fatigued me into that state of languid laziness which I prefer to all other.“ 32 22 Zu Trelawny vgl. Sprawson: Schwimmen, S. 122-128. 23 Trelawny: The last days of Shelley and Byron, S. 166. 24 Byron an Francis Hodgson am 18. November 1808. In: Byron’s letters and journals, Bd. 1, S. 176. 25 Byron an Francis Hodgson am 13. September 1811. In: Byron’s letters and journals, Bd. 2, S. 98. 26 Vgl. [Byron: ] Conversations of Lord Byron with the Countess of Blessington, S. 129. 27 Byron: „The deformed transformed“. In: Ders.: The complete poetical works, Bd. 6, S. 520. 28 Ebd., S. 531. 29 Byron’s letters and journals, Bd. 8, S. 16. 30 Byron an Augusta Leigh am 9. September 1811. In: Byron’s letters and journals, Bd. 2, S. 94. 31 Byron: „Journal (23.11.1813)“. In: Byron’s letters and journals, Bd. 3, S. 216. 32 Byron an Lady Melbourne am 8. April 1814. In: Byron’s letters and journals, Bd. 4, S. 90. Thomas Schmidt 100 Doch diese eher konventionellen Antriebe bleiben der Kompensation des Bewegungsdefizits immer untergeordnet, zumal Byron die eigene körperliche Leistungsfähigkeit an entscheidenden Stellen als Überbietungsgeste inszeniert. Eine solche Überbietungsgeste macht auch vor Jean-Jacques Rousseau nicht Halt, dessen Emil mit seiner körperzentrierten negativen Erziehung immerhin als Gründungsurkunde der modernen Bewegungskultur gelten kann. 33 Zurückblickend auf mehrere Situationen, in denen er mit Rousseau verglichen wurde, schrieb Byron 1821 in sein Tagebuch, dieser habe weder reiten noch schwimmen gekonnt - was ich im Fall des Reitens für sehr unwahrscheinlich halte, was Byron aber die Gelegenheit gab, sich gerade an dem Genfer selbst zu profilieren: „I was an excellent swimmer - a decent though not at all a dashing rider - (having staved in a rib at eighteen in the course of scampering) & was sufficient of fence - particularly of the Highland broadsword - not a bad boxer - when I could keep my temper […] and I was besides a very fair Cricketer - one of the Harrow Eleven when we play[ed] against Eton in 1805.“ 34 Überbietungsgesten finden sich - wie die zitierte Passage aus dem Don Juan gezeigt hat - auch im Fall der Hellespont-Durchquerung. Und doch liegen die Dinge beim Schwimmen etwas anders. Denn nur bei dieser Bewegungsform spielt der zu kompensierende Körperfehler keinerlei Rolle. Das unterstreicht auch Kasimir Edschmid in seinem 1929 entstandenen Buch Lord Byron. Roman einer Leidenschaft. Früher als seine Altersgenossen habe Byron „mit der Ausübung einiger Sports“ begonnen: „Beim Laufen war da wenig für ihn zu machen. Es gab hier eine Grenze, über die selbst der Wille nicht kam. Im Wasser aber schien ihm die Natur eine große Vorgabe verliehen zu haben.“ 35 Byrons Reisegefährte Trelawny hat überliefert, der Dichter „was built for floating, - with a flexible body, open chest, broad beam, and round limbs“. 36 Unter allen Leibesübungen war es allein das Schwimmen, das sowohl bei der Wahrnehmung des Körpers wie bei der seiner Bewegung völlige Freiheit von den durchregulierten Bewegungskonventionen der Standesgesellschaft versprach - Konventionen, denen Byron mit allen kaschierenden Mitteln zu genügen versuchte. Byrons Schwimmwut war also alles andere als ein individueller Spleen. In welchem Maße diese Bewegungskonventionen für das damalige England als habitusrelevant galten, gerade für einen Angehörigen des englischen Oberhauses wie Byron, kann ein fremder Blick anschaulich machen, wie ihn Goethe in einer ironischen Szene seines Bildungsromans Wilhelm Meisters Lehrjahre auf die englische Körperhaltung warf. Wilhelm Meister hatte sich dort, um für die Theaterbühne optimal vorbereitet zu sein, durch Fechten und Tanzen derart intensiv körperlich gebildet, dass er später beim Eintritt in die Turmgesellschaft aufgrund seines besonders distinguierten Habitus mit einem englischen Adligen verwechselt wird. 37 33 Vgl. Krüger: Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung, S. 25ff. 34 Byron’s letters and journals, Bd. 9, S. 12. 35 Edschmid: Lord Byron, S. 21. 36 Trelawny: The last days of Shelley and Byron, S. 33. 37 Vgl. Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. In: Ders., Werke, Bd. 10, S. 629. Diese Szene wird vorbereitet durch Werners Beschreibung von Wilhelms Körperattributen (vgl. ebd., S. 522f.). George Gordon Byron Written after Swimming from Sestos to Abydos 101 Im Wasser also spielte das körperliche Defizit keine Rolle. Im Gegensatz zu allen anderen Leibesübungen hatte das Schwimmen neben der von Sprawson für die damalige Zeit reklamierten Protestfür Byron auch eine Befreiungsfunktion. „Während er an Land humpelte und immer Hosen trug, um seinen Makel zu verbergen, verschaffte ihm das Schwimmen die heitersten Momente seines Lebens.“ 38 Die sozialen Bewegungsnormen galten hier nicht, sondern allein die eigene Leistung. So ist Byron sein ganzes Leben lang geschwommen, zuhause in England und in ganz Europa. In seinem Landgut Newstead Abbey soll er ein eigenes Schwimmbecken gehabt haben. Stundenlang hat er sich unter Aufsicht des berühmten Faustkämpfers Jackson, der auch sein Boxtrainer war, in der Themse bewegt. 39 Zum Start seiner Grand Tour durchquerte er am 6. Juli 1809 in Lissabon in drei Stunden die Tejo-Mündung und soll später, nach seiner Flucht aus England, in Venedig, so die Legende, nächtliche Heimwege durch die Kanäle schwimmend zurückgelegt haben - mit einer Fackel in der Hand. In Venedig nannte man ihn den englischen Fisch, 40 nachdem er einen Wettkampf mit einem Adligen namens Mendalgo ohne Mühe gewonnen hatte. Der Italiener und ein Begleiter Byrons saßen wohl längst beim Essen, als der Dichter nach einer Tour von der Lido di Venezia durch den Canal Grande bis in die Laguna Veneta das Wasser verließ. 41 Er schwamm „without help or rest - and never touching ground or boat four hours and twenty minutes“. 42 Edgar Allen Poe erweist dem englischen Fisch in seiner Erzählung The Assignation - in deutscher Übersetzung Die Verabredung, Das Stelldichein oder Der Hellseher - seine Referenz, wenn dort ein Dichter, „with the sound of whose name the greater part of Europe was then ringing“, 43 in Venedig ein Mädchen vorm Ertrinken rettet. Zugestanden: Byron ist hier über die Maßen auf die Rolle des Schwimmers festgelegt. 44 Aber er verteidigte diese Rolle selbst auch sein ganzes Leben lang, vor allem die als Leander. Es gab für Byron kaum ein Thema, auch kein literarisches, das er mit solchem Ernst anging wie seine Hellespont-Passage. Bereits im Juli 1810 hatte er einem Freund geschrieben: „I plume myself on this achievement more than I could 38 Sprawson: Schwimmen, S. 114. 39 Zu Byrons frühen Schwimmaktionen vgl. auch den Brief vom 11. August 1807 an Elizabeth Bridget Pigot, in dem er berichtet, er sei, nachdem er schwimmend fast fünf Kilometer in der Themse zurückgelegt habe, „in excellent training“ (Byron’s Letters and Journals, Bd. 1, S. 132). 40 Vgl. Nichol: Byron, S. 125. 41 Vgl. Byron an John Cam Hobhouse am 15. oder 16. Juni 1818. In: Byron’s Letters and Journals, Bd. 6, S. 51). 42 Byron an John Murray am 21. Februar 1821. In: Byron’s letters and journals, Bd. 8, S. 81. In diesem Brief drei Jahre später geht es Byron dann gegen Turner weit mehr um die Schwimmfähigkeit des Menschen als um die eigene Überlegenheit. Daher wertet er hier seine Konkurrenten auf. 43 Poe, „The Assignation“, S. 113. 44 Vgl. die Überblicke bei Diem: Byron als Sportsmann S. 93-122 (allerdings faktisch nicht immer genau), Ross: „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“, S. 271-275, und Sprawson: Schwimmen, S. 113-143 und passim. Thomas Schmidt 102 possibly do on any kind of glory, political, poetical, or rhetorical“. 45 Und noch zehn Jahre später mobilisierte Byron seine rhetorischen und publizistischen Kräfte, um sich den Ruhm des Leander-Nachfolgers zu erhalten. William Turner, nicht der Maler, sondern ein gleichnamiger bekannter Diplomat und Reiseschriftsteller, hatte nämlich mit Vehemenz versucht, ihm diese Rolle zu nehmen. Turner selbst war im Jahr 1820 daran gescheitert, den Hellespont zu durchschwimmen. In seinem Reisebuch Tour in the Levant, das von Byrons Verleger Murray publiziert wurde, spricht Turner dem Dichter dessen Erfolg aus Missgunst ab: Byron sei ja im Gegensatz zu Leander nur den einen Teil der Strecke geschwommen und dazu auch noch den leichteren. Byron reagierte darauf auf ausgesprochen fiebrige Weise. Er verfasste eine mehrseitige Rechtfertigungsschrift, die er als Brief an Murray schickte und die auch öffentlich bekannt wurde. In dieser umfassenden Selbstverteidigung, in der er u.a. auch seinen siegreichen Wettkampf in Venedig ins Feld führt, springt nun eine Erklärung der Schwimm- Intention ins Auge, die die ganze Aktion gezielt herunterzuspielen versucht, dabei aber genau den springenden Punkt markiert: Seine Absicht sei lediglich gewesen „to ascertain that the Hellespont could be crossed at all by swimming“. 46 Das heißt, Byron ging es um eine empirische Evaluation der Mythe, wie sie sich bereits im ersten Brief nach der Durchquerung abgezeichnet hatte, als er bezweifelte, dass Leander nach dieser körperlichen Leistung noch hätte sexuell aktiv werden können. Der Abstand zur Antike, den der Dichter in Written after swimming from Sestos to Abydos in einem Akt der Selbstverhöhnung inszeniert, weil sein selbstbezügliches Ich ohne jede Tragik agiert, erscheint hier als rein quantitativer. Zweifelhaft, „doubtful“, ist damit nicht die mythische, grenzenlose Liebe von Hero und Leander, sondern allein jenes Rahmengeschehen, das dieser Liebe erst ihre mythische Dimension verleiht. Dass dieser kleine Zweifel große Folgen hat, macht die Einzigartigkeit des Gedichts Written after swimming aus und wird gleich zu erläutern sein. Byron jedenfalls argumentierte gegen Turner ganz nüchtern: Auch wenn dieser gescheitert und er selbst nur eine Strecke geschwommen sei, ändere das nichts an der Machbarkeit. „[A]ny young man in good health - and tolerable skill in swimming might succeed in it [the passage of Leander - T.S.] from either side.“ 47 Dass „a young Greek of the heroic times - in love - and with his limbs in full vigour“ hin und zurück habe schwimmen können, sei jedenfalls weder zu bezweifeln noch überhaupt erstaunlich: „Whether he attempted it or not is another question - because he might have had a small boat to save him the trouble.“ 48 45 Byron an Francis Hodgson am 4. Juli 1810. In: Byron’s letters and journals, Bd. 1, S. 253. Schon in den Wochen nach der Durchquerung kam Byron immer wieder auf „my only notable exploit lately“ (Byron an Mrs. Catherine Gordon Byron am 24. Mai 1810. In: Byron’s letters and journals, Bd. 1, S. 243) zurück, so z.B. am 5., 18., 23. und 24. Mai und am 17., 23., und 28. Juni. Noch Monate später nannte er seine Schwimmaktion „an exploit of which I take care to boast“ (Byron an Catherine Gordon Byron am 2. Oktober 1810. In: Byron’s letters and journals, Bd. 2, S. 18). 46 Byron an John Murray am 21. Februar 1821. In: Byron’s letters and journals, Bd. 8, S. 80. 47 Ebd., S. 81. 48 Ebd., S. 82. George Gordon Byron Written after Swimming from Sestos to Abydos 103 Nicht Nachahmung oder Überbietung, sondern die Frage nach der Wahrscheinlichkeit von Leanders Tat führt Byron als seinen Handlungsantrieb an, also nicht die Diskreditierung von Leanders Leistung wie noch im Gedicht, wo das nur um seiner selbst Willen schwimmende Ich nichts Heroisches spürte und so auch seinem Vorgänger alles Recht auf Tragik absprach. Während Turner, mit welchen Motiven auch immer, auf der Inkommensurabilität von Leanders Liebesbeweis beharrte und mit seinen Zweifeln an Byrons Tat die mythische Dimension der Story stabilisierte, entzog Byron dem Mythos mit seiner eigenen Hellespont-Durchquerung nolens volens die Basis, denn er entmythologisierte Leanders nächtliche Abenteuer und rückte sie nahe an die Lebenswelt heran. 49 Dass diese Entmythologisierung Folgen für das Repertoire Jahrhunderte lang bewährter literarischer Stoffe hatte, ist die eine Signatur, die Byrons Gedicht Written after swimming eingeschrieben ist. Auf die andere Signatur verweist der verräterische Relativsatz aus Byrons Rechtfertigungsschrift, jeder, „der erträgliche Geschicklichkeit im Schwimmen besitzt“, könne Leanders Tat wiederholen. Solch „erträgliche Geschicklichkeit“ aber hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur wenige; nur wenige hätten - wie der englische Fisch - in die Rolle des Leander schlüpfen können, denn das Schwimmen war zu Byrons Zeiten keine kollektiv geteilte Bewegungstechnik. Um diese beiden Signaturen genauer in den Blick nehmen zu können, soll zunächst der Resonanzraum gezeigt werden, in dem dieses kleine Gedicht und die Nachricht von Byrons Rolle als Leander widerhallten. „Ein teurer Zeitgenoß“ Byron war eine Kultfigur. Kein anderer europäischer Autor hat bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein eine derartige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Mehr noch als sein überaus erfolgreiches Werk war seine schillernde Persönlichkeit für diese Ikonisierung verantwortlich, zumal die Person des Autors mehr und mehr mit den Figuren der Texte verschmolz: mit Childe Harold, mit Kain, Manfred und Don Juan, mithin mit jenem entwurzelten Helden, den Byron „zum düsteren, geheimnisumwitterten, schuldbeladenen, seine Umwelt verachtenden Außenseiter“ 50 stilisiert hat. Grundlage für die übergroße Faszination an Byron war eine Melange von Hellem und Dunklem, von Verbotenem und Exotischem, von Schuld und Liebe, von Langeweile und Ruhelosigkeit, von privater Nonchalance und politischem Engagement, von überbordender Leidenschaft und Lebensüberdruss - sowie von makellosem Antlitz und Handicap des Körpers. Goethe, immerhin 40 Jahre älter als der Engländer, brachte diese Faszination mit einem doppelbödigen Kommentar in klassizistische Bahnen: „Er war mir ein teurer 49 Das bestätigte er auch 1823 in einem Gespräch: Nichts sei unmöglich in der Liebe, wenn man auf der anderen Seite eine Hero habe (vgl. Medwin’s Conversations of Lord Byron, S. 117). 50 Seeber (Hg: ): Englische Literaturgeschichte, S 256. Thomas Schmidt 104 Zeitgenoß, und ich folgte ihm in Gedanken gern auf den Irrwegen seines Lebens.“ 51 Und Goethe drängte Eckermann auch, Englisch zu lernen: „besonders des Lord Byron wegen, dessen Persönlichkeit von solcher Eminenz sei, wie sie nicht dagewesen und wohl schwerlich wiederkommen werde“. 52 In Deutschland war die Byron- Manie besonders stark: „Der englische Romantiker“, konstatiert Frank Erik Poitner, „avancierte zu einer Ikone Deutschlands und seiner Kultur, und überstrahlte in dieser Eigenschaft zeitweise gar Goethe“. 53 Er habe als identitäts- und „einheitsstiftende[s] Symbol“ 54 - wie der durch die Übersetzungen Wielands und der Romantiker schon eingebürgerte Shakespeare - gar einen Beitrag zum deutschen Nationbuilding geleistet. Den Dichtern seiner Zeit, insbesondere den jüngeren der Romantik, gab Byron etliche thematische Steilvorlagen: Weltschmerz, Melancholie, Titanismus, Philhellenismus - auch, weil er die Enttäuschungen einer Generation formulierte, die der nachrevolutionären und nachnapoleonischen Kriege müde war, und weil er mit seinen Texten und Taten einen Teil jener Freiheit und Unabhängigkeit vorlebte, die ihr die 1815 einsetzende Zeit der Restauration vorenthielt. Wilhelm Waiblinger notierte ein Jahr vor Byrons Tod: „Der originellste aller Dichter der neuesten Zeit, ist Byron. Scott hat diese Geistesfülle, dieses geniale Rasen nicht. Schon Byrons Leben lehrt ihn kennen.“ 55 Der junge Heinrich Heine nannte ihn seinen „Vetter“, 56 den einzigen Menschen, mit dem er sich „verwandt“ 57 fühle. Und viele der sich formierenden Nationalliteraturen hatten ihren eigenen Byron oder bedeutende Autoren, die sich in Byrons Nachfolge oder in seine Themenkreise stellten: Mickiewicz in Polen, Lermontow und Puschkin in Russland, in Deutschland neben Heine auch Lenau und Grabbe, Foscolo in Italien und viele andere. Gerhart Hoffmeisters ungemein instruktives Bändchen Byron und der europäische Byronismus gibt über diese unvergleichliche, weit über literarische Anschlusshandlungen hinausgehende Wirkungsgeschichte ebenso weitgreifend wie konzis Auskunft. Vor diesem Hintergrund kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass Byron bereits zu Lebzeiten als „der herausragende Schwimmer seiner Zeit“ 58 bekannt war. Noch während seiner Grand Tour durch Südeuropa suchte in Athen ein spanischer Arzt seine Bekanntschaft, was Byron zu der Befürchtung trieb, dieser wolle mit ihm, dem „celebrated aquatic genius who swam across the Hellespont“, 59 Experimente machen. Bereits 1827 - dies nur als eine Momentaufnahme - war Byrons Schwimmtat 51 Goethe: „Tag- und Jahreshefte 1817“. In: Ders.: Werke, Bd. 16, S. 274. Zur Beziehung Goethe - Byron siehe Hoffmeister: Byron und der europäische Byronismus, S. 97-106. 52 Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 46f. (18.10.1823). 53 Pointner: „Lord Byron als deutsche Ikone“, S. 149. 54 Ebd., S. 150. 55 Waiblinger: Tagebücher, Bd. 2, S. 959 (9.3.1823). 56 Heine an Friederike und Ludwig Robert am 27. Mai 1824. In: Heine: Werke und Briefe. Bd. 8, S. 160. 57 Heine an Moses Moser am 25. Juni 1824. In: Heine: Werke und Briefe. Bd. 8, S. 165. 58 Sprawson: Schwimmen, S. 113. 59 Byron an John Cam Hobhouse am 26. November 1810. In: Byron’s letters and journals, Bd. 2, S. 30. George Gordon Byron Written after Swimming from Sestos to Abydos 105 der Allgemeinen Deutschen Real-Enzyklopädie, deren 1. Auflage just während der Grand Tour erschien, in ihrem Artikel Hellespont erstmals eine Erwähnung wert. 60 Und auch hier in Augsburg wusste man um die Leander-Rolle: In der Allgemeinen Zeitung vom 28. Mai 1824 wurde anlässlich von Byrons Tod in einem mehrspaltigen Artikel, der fast ein Drittel der Ausgabe einnahm, auch auf die Hellespont-Durchquerung und ihre Details hingewiesen. 61 Ebenso kannten seine schreibenden Kollegen den exzentrischen Dichter des Weltschmerzes und Unterstützer des griechischen Freiheitskampfes als Schwimmer. 62 Goethe, der sich das Schwimmen im Übrigen nachts in Weimar selbst beigebracht haben will, glaubte sogar, in Byrons Texten „die Wasserluft mit zu empfinden“, und er bestätigte uneingeschränkt Eckermanns Eindruck, man sehe Byron bei der Lektüre stets „aus den Meereswellen kommen, frisch und durchdrungen von schöpferischen Urkräften“. 63 Von Goethe stammt auch die weitestgehende Würdigung von Byrons Bewegungsdrang. In einer prinzipiellen Erwägung über die „produktivmachenden Kräfte“, die der Weimarer im März 1828 anstellt, kommt nach dem Wein und dem Schlaf auch die Körperbewegung an frischer Luft zur Sprache. Als Beleg für deren Wirksamkeit wird dann allein der Engländer angeführt: „Lord Byron, der täglich mehrere Stunden im Freien lebte, bald zu Pferde am Strand des Meeres reitend, bald im Boote segelnd oder rudernd, dann sich im Meere badend und seine Körperkraft im Schwimmen übend, war einer der produktivsten Menschen, die je gelebt haben.“ 64 Besuchte Alphonse de Lamartine zumindest die Dardanellen auf Byrons Spuren, 65 so gingen andere Autoren des Engländers wegen auch ins Wasser. Bei Alexander Puschkin freilich kann man da nicht ganz sicher sein. Puschkin, der zwar nicht als russischer Byron bezeichnet wurde - dieser Titel kam Lermontow zu -, der aber ebenfalls ein begeisterter Byron-Leser war und seinen Eugen Onegin im Epos selbst einen „Moskauer im Haroldschen Mantel“ 66 („Москвич в Гарольдовом плаще“) nannte, soll sich ebenfalls ein Fieber „after swimming“ geholt haben, und zwar nach der Durchquerung des eiskalten Dnjepr. Dass Puschkin von Byrons Schwimmtat wusste, liegt allerdings auf der Hand: Im 4. Kapitel des kurz vor dem Tod des Engländers begonnenen Versepos Eugen Onegin wird ein morgendliches Bad des Helden mit ausdrücklichem Byron-Bezug als Schwimmen durch den Hellespont bezeichnet. 67 Fürst Pückler-Muskau hingegen, der Byron sowohl in den Briefen eines Verstorbenen als 60 Vgl. Allgemeine deutsche Real-Enzyklopädie für die gebildeten Stände (7. Auflage). Leipzig 1827, Bd. 5, S. 197. 61 Vgl. Allgemeine Zeitung. 28. Mai 1824, S. 3. 62 Vgl. dazu Sprawson: Schwimmen, S. 113-143 (Die Tradition Byrons). 63 Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 221 (5.7.1827). 64 Ebd., S. 586 (11.3.1828). 65 Vgl. Hoffmeister: Byron und der europäische Byronismus, S. 70. 66 Puschkin: Eugen Onegin, S. 229. 67 Vladimir Nabokov, der das Versepos übersetzt hat, erläutert Puschkins Byron-Kenntnisse in seinem umfassenden Kommentar: vgl. Nabokov: Kommentar, S. 535; zu Puschkins Byronismus vgl. Hoffmeister: Byron und der europäische Byronismus, S. 80-85. Thomas Schmidt 106 auch in seinen Reisetagebüchern aus England und Griechenland immer wieder erwähnt, 68 folgte dem großen Schwimmer erklärtermaßen ins Wasser. Er schwimmt zwar nicht im Hellespont, wohl aber in der Bucht von Piräus, im Jordan und im Nil, wo er nur überleben konnte, weil seine Diener die hungrigen Krokodile mit ihren Rudern fernhielten. Ein besonders eminentes Beispiel für eine literarisch-aquatische Anschlusshandlung lieferte der bereits als Byron-Verehrer bekannte Edgar Allen Poe, der Byrons wegen sogar erwog, am griechischen Freiheitskampf teilzunehmen. Eine Gleichsetzung seiner eigenen Leistungsfähigkeit im Wasser mit der Byrons wollte er jedoch nicht akzeptieren. Was war passiert? Zu Beginn des Jahres 1835 veröffentlichte der Southern Literary Messenger eine Kurzgeschichte unter dem Titel The Doom, in der der Protagonist versucht, es „Leander’s remarkable feat in crossing the Hellespont“ gleichzutun - „or at least E- P-, who swam from Mayo’s Bridge to Warwick wharf some years ago“. Angespornt wird der Held letztendlich aber nicht durch Leander oder „E- P-“, sondern durch einen dritten Schwimmer, der am anderen Ufer sitzt und den Fluss anscheinend schon bezwungen hat. In diesem geheimnisvollen Schwimmer, der den Helden dann vorm Ertrinken rettet, erkennt dieser seinen „old schoolfellow George B-“. 69 In den Initialen „E- P-“ hat sich Poe leicht wiedergefunden: Er war selbst bereits als 15-Jähriger in Byrons Todesjahr den James-Fluss hinaufgeschwommen, neun Kilometer gegen die Strömung, und hat sich mit dieser Leistung sein Leben lang gebrüstet, wie Byron mit der Durchquerung des Hellespont. Nun sah er sich durch die kleine Erzählung zu einer Richtigstellung herausgefordert, die die amerikanische Zeitschrift im Mai 1835 auch abdruckte: „I noticed the allusion in the Doom. The writer seems to compare my swim with that of Lord Byron, whereas there can be no comparison between them. Any swimmer in the falls in my days, would have swum the Hellespont, and thought nothing of the matter. I swam from Ludlam’s wharf to Warwick, (six miles,) in a hot June sun, against one of the strongest tides ever known in the river. It would have been a feat comparatively easy to swim twenty miles in still water. I would not think much of attempting to swim the British Channel from Dover to Calais.“ 70 Dass sich dieser Konflikt nicht im eigentlichen Kampffeld der Literatur, in den Texten entfaltete, sondern stupenderweise im Wasser, mag daran gelegen haben, dass Poe seine eigene Autorschaft in seinen frühen Texten auch über die bereits etablierte Byrons definiert hat. Zu deren Attributen zählte die schwimmerische Leistungsfähigkeit offenkundig hinzu, denn nun musste Poe, um sich als moderner Autor zu etablieren, seine Vaterfigur auch im Wasser übertrumpfen. Während Poe seine Abgrenzungs- und Überbietungsgeste in dem schier unermesslichen Resonanzraum, in dem sich Byrons Hellespont-Durchquerung entfalten konnte, nicht im semantischen Rahmen des überlieferten antiken Stoffes ansiedelte, 68 Dabei zeigt sich Pückler-Muskau schon 1828 in Kenntnis der oben erwähnten Tatsache, dass das Manuskript von Byrons skandalträchtiger Biografie verbrannt worden war (vgl. Pückler- Muskau: Briefe eines Verstorbenen, Bd. 1, S. 192). 69 Benedict: „The Doom“, S. 235. 70 Poe an Thomas W. White am 30. April 1835. In: Poe: Letters, Bd. 1, S. 57. George Gordon Byron Written after Swimming from Sestos to Abydos 107 sondern in der Lebenswelt, liegen die Dinge im Fall eines weiteren Byron verpflichteten Autors anders. Gemeint ist Franz Grillparzer, dessen Drama Des Meeres und der Liebe Wellen (1819-29) sich als letzter bedeutender literarischer Text mit der Heround-Leander-Mythe auseinandersetzt. 71 In dieser Auseinandersetzung wird eine jener beiden Signaturen sichtbar, die Byrons Gedicht Written after swimming von Sestos to Abydos eingeschrieben sind. „Die Arme derb und tüchtig“ Als Grillparzer sich 1819 an die Arbeit an seinem Drama machte, war der antike Mythos bereits durch die Empirie eingeholt, und Grillparzer sah sich sichtlich gezwungen, der Machbarkeit der Leander-Tat Tribut zu zollen. Erstmals rückte so die leibliche Kraft der mythischen Figur als Ermöglichungsbedingung der Hellespont- Durchquerung in den Blick. Grillparzer machte den Schwimmer stark: „Des Körpers Last vertraut den breiten Schultern“; „[d]ie Schultern weit; die Arme derb und tüchtig, / Von prallen Muskeln ründlich überragt“. 72 Dass Grillparzer fast zehn Jahre an diesem Stoff litt und mit der Uraufführung am Wiener Burgtheater 1831 beim Publikum durchfiel, mag nicht zuletzt den widerstreitenden Ansprüchen von Mythos und Empirie geschuldet gewesen sein. Die Auswirkungen der Byron’schen Leistung führten aber noch weiter. Sie strapazierte auch das Selbstbild des Künstlers. Denn wenn sich Grillparzer die Frage stellt, ob die Leibesübungen nicht seine poetische Empfänglichkeit gefährdeten, „ob man lieber ein elender Siechling und ein Dichter, oder ein gesunder Mensch und - eben nichts als solcher, sein wollte“, 73 dann muss er - wie Goethe - Byron im Wasser gesehen haben. Anders als der Weimarer aber zweifelte Grillparzer an den „produktivmachenden Kräfte[n]“ der Leibesbewegung und zeichnete mit der Verknüpfung von körperlicher Schwäche und Kreativität ein Dichterbild, dass fortan die Kunstdiskurse mitbestimmen sollte. Während der Arbeit am Drama äußerte sich Grillparzer, der den englischen Adligen 1819 in Italien getroffen hatte, 74 jedenfalls sehr irritiert über das Ineinanderspielen von körperlicher Aktivität und künstlerischer Kreativität beim Engländer: 71 Zwei Jahre nach Byrons Hellespont-Durchquerung hat auch Joseph Albrecht von Ittner in Konstanz den Stoff auf ironisch-liebevolle Weise aufgegriffen. Sein Leander gilt zwar als außerordentlicher Schwimmer, benötigt aber einen aufgeblasenen Dudelsack als Schwimmhilfe, um den Bodensee überqueren zu können, und kommt in arge Not, als er diesen verliert (vgl. Ittner: Hero und Leander am Bodensee). 72 Grillparzer: „Der Liebe und des Meeres Wellen“. In: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 31. 73 Grillparzer: „Tagebuch 1826“. In: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 390. 74 Dass Grillparzer zu Beginn seiner Arbeit an Des Meeres und der Liebe Wellen von Byron die Vorstellung eines Athleten hegte, zeigt ex negativo eine Notiz in seiner Selbstbiographie, in der ein Treffen im März 1819 in Venedig erinnert wird. Grillparzer hatte Byron im Theater gesehen: „Da setzte er sich geflissentlich in den Schatten der Logewand, so daß mein schlechtes, obgleich bewaffnetes Auge von ihm nichts unterscheiden konnte, als daß er beleibter war, als ich ihn mir vorgestellt hatte.“ (Grillparzer: „Selbstbiographie“. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 93). Thomas Schmidt 108 „Wenn man sich ein so äußerst erregbares Nervensystem vorstellt, als das meine von Kindheit an war, und bedenkt was Baden und Schwimmen im kalten Wasser z.B. das Hineinspringen den Kopf zuunterst, darauf für eine Wirkung machen kann und muß, so erschrickt man. Stärken, abhärten − abstumpfen vielleicht. Lord Byron tat das zwar auch und die Wärme seiner Phantasie litt nicht darunter, aber seine Körperbeschaffenheit war eine andere, er war von Jugend auf daran gewohnt; ich habe erst nach meinem 30ten Jahre die ersten Versuche gemacht [...]“. 75 Das heißt nichts anderes, als dass Grillparzer, der sich später in seiner Selbstbiografie einen „der besten, oder wenigstens der elegantesten Schwimmer“ 76 nannte, das Schwimmen erst während der Abfassung des Hero-und-Leander-Dramas erlernt hat. Dem Stück kann man die Kenntnis dieser Bewegungstechnik in Textpassagen mit intensiver Wassererfahrung auch ablesen. Alles in allem darf man in Der Liebe und des Meeres Wellen und den Umständen seiner Entstehung unmittelbare Reaktionen auf die Byronsche Leistung, die körperliche wie die dichterische, sehen. Wie sich binnen kürzester Zeit der literarische Umgang mit dem Hero-und- Leander-Stoff geändert hat, möchte ich, ohne hier die lange europäische Tradition der Bearbeitungen dieses Stoffes auch nur skizzieren zu können, 77 in einer kurzen Rückblende erläutern: Als der 18-jährige Friedrich Hölderlin 1788 sein 12-strophiges Gedicht Hero verfasst, vermeidet er es, auf den Schwimmakt überhaupt einzugehen. Dazu wird das dramatische Geschehen ausnahmslos - der Titel ist Programm - an die Perspektive der Priesterin gebunden, die schon „sieben solcher Schreckennächte“ 78 auf ihren Liebsten wartet und nun an seiner Liebe zweifelt. So bleibt die körperliche Leistung, die Leander auf „des Meeres furchtbare[n] Pfade[n]“ 79 zunächst bestehen lässt, auch im Dunklen. Und wenn sich Hero in ihrer Verzweiflung angesichts des Sturms selbst beschwört: „Auf! zu ihm, zu ihm in die Wogen hinüber, / Wenn er ermattete - auf! dem Geliebten entgegen ins Meer“, 80 dann ist gerade das Unterbleiben dieser Handlung sprechend. Bezeichnenderweise ist Leander im einzigen Bild, in dem ihn das Gedicht im Wasser zeigt, passiv, „vom Meere gefällig gewiegt“, 81 wie Hero den Anblick des treibenden toten Körpers völlig falsch interpretiert. Diese signifikante Konstellation Meer als Agens und menschlicher Körper als Patiens findet sich auch in der 1801 entstandenen Ballade Hero und Leander von Friedrich Schiller: „Doch du trägst auf deinem Rücken / Ohne Nachen, ohne Brücken, / Mir den Freund in meinen Arm.“ 82 Auch Schiller berichtet allein aus Heros Perspektive, geht allerdings offensiver mit der inkommensurablen Schwimmleistung um, indem er sie in einen empirisch einholbaren semantischen Rahmen einspannt: Das Schwim- 75 Grillparzer: „Tagebuch 1826 “. In: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 395. 76 Grillparzer: „Selbstbiographie“. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 54. 77 Vgl. dazu Jellinek: Die Sage von Hero und Leander; Murdoch: „Bearbeitungen“. 78 Hölderlin: „Hero“, S. 54. 79 Ebd., S. 53. 80 Ebd., S. 54. 81 Ebd., S. 55. 82 Schiller: „Hero und Leander“, S. 262. George Gordon Byron Written after Swimming from Sestos to Abydos 109 men wird dort zur „Fahrt“ 83 und der Schwimmer zum „Wandrer“. 84 Das Ergebnis freilich ist bei beiden Autoren das gleiche: Die Botschaft der Gedichte, bei Schiller ein schicksalhaftes Ausgeliefertsein an sich unabhängig vom Menschen vollziehende natürliche Kräfte, beim jungen Hölderlin schlichter die Beständigkeit der großen Liebe über den Tod hinaus, lässt sich nur formulieren, wenn die körperliche Leistung Leanders ohne Referenten in der Lebenswirklichkeit bleibt. Die Inkommensurabilität von Leanders Schwimmakt ist letztendlich unverzichtbar für die mythische Dimension der Geschichte von der verbotenen Liebe. Man kann es auch so sagen: Weil beide keinen Referenten in ihrer Lebenswirklichkeit kannten, haben sie den Stoff zu ihren Bedingungen erst aufgreifen können. Oder anders: Schiller und Hölderlin konnten nicht schwimmen. Sie gehörten zu jenen wasserscheuen Schriftstellern der Zeit, die, wie Werner Ross es formulierte, selbst allenfalls „[b]is zum Knie und nicht weiter [...] in der Natur“ 85 aufgingen. Der Schwimmer Goethe hat sich dieses Stoffes bezeichnenderweise nie angenommen. 86 Keine zwei Jahrzehnte nach Schillers Ballade fällt Grillparzer der kreative Umgang mit der alten Mythe mehr als schwer. Byrons körperkulturelle Antikerezeption - und die dadurch geförderte Revitalisierung der Kulturtechnik Schwimmen, über die gleich zu sprechen sein wird, - hatte sie Grillparzer und der schönen Literatur insgesamt entwertet und für empfindsame wie tragische literarische Anschlusshandlungen beschädigt. Dass der Mensch sein Schicksal gerade im Wasser nicht in der Hand hat, konnte in der Dichtung nur solange faszinieren, bis jemand im Leben das Gegenteil bewies. So wirkte sich Byrons Rolle als Leander unmittelbar auf die Literarizität eines Stoffes aus, der über Jahrhunderte die beispiellose Liebe im europäischen kulturellen Gedächtnis gehalten hatte und auch dieser Aufgabe nun verlustig ging - einer Aufgabe, die für Byron selbst noch ganz unbestritten war. Sie erinnern sich: „What maid will not the tale remember? “ Noch kurz vor 1800 besaß der Stoff eine derartige Präsenz, dass auch Rousseaus berühmter Emil „in einem Kanal des väterlichen Gartens“ lernen sollte, „den Hellespont zu durchqueren“. 87 Nun öffnete sich eine Lücke, die allerdings durch die stetig anschwellende Shakespeare-Rezeption schnell gefüllt werden konnte. Die natürliche und vermeintlich anthropologische Barriere zwischen zwei Liebenden wurde in der Romeo-und-Julia-Konstellation durch eine soziale ersetzt, über die sich die übergroße Liebe weiter angemessen im kulturellen Gedächtnis repräsentieren ließ. Wenn Gottfried Keller dann mit Romeo und Julia auf dem Dorfe (1847 konzipiert, 1856 veröffentlicht) diesen Stoff aufgreift, dann hat er Hero und Leander und die beiden 83 Ebd., S. 263. 84 Ebd., S. 260. 85 Ross: „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“, S. 267. 86 Der literarische Ertrag aus diesem Stoff macht in Goethes Gesamtwerk trotz mehrer Anläufe ganze zwei Zeilen aus. In einem Distichon der Römischen Elegien tritt das Paar vom Hellespont in einer Reihe spontaner Liebesakte der Mythologie auf, die der Sprecher zur Beruhigung seiner Geliebten anführt und in der Goethe signifikanterweise Leander als Schwimmer exponiert und damit gerade jene Perspektive einnimmt, die Schiller und Hölderlin verweigert haben (vgl. Goethe: „Römische Elegien“. In: Ders.: Werke, Bd. 1, S. 169). 87 Rousseau: Emil, S. 119. Thomas Schmidt 110 Königskinder, die nicht schwimmen konnten, gleichwohl noch im Blick. Denn Sali und Vrenchen gleiten am Ende der Novelle aus eigenem Willen von einem Heukahn, den sie als Hochzeitsbett gewählt hatten, in den Fluss und werden später leblos am Ufer gefunden. War also die Behandlung des Hero-und-Leander-Stoffs lange allein überlieferungstechnischer Natur, so hat sich das durch Byrons Leander-Imitatio radikal geändert. Die skizzierte Umordnung im Arsenal literarischer Stoffe ist somit die erste dem Gedicht Written after swimming from Sestos to Abydos eingeschriebene Signatur. Die zweite verweist direkt in die Geschichte der Bewegungstechnik selbst: auf die Revitalisierung des Schwimmens aus dem Geist der Aufklärung, die Byron beförderte und die ebenso wirkungsvoll wie Byrons Tat die mythopoetische Basis des alten Stoffes zersetzte. Eine „natürliche Übung“? Byron schwamm in einem historischen Augenblick durch die Dardanellen, in dem diese Aktion eine größtmögliche Wirkung entfalten konnte. Schwimmgeschichtlich war das Jahr seiner Hellespont-Durchquerung überhaupt ein wichtiges Datum. Ernst von Pfuel, Kleists intimer Freund und Gymnastiklehrer und später ein wichtiger Propagandist der Schwimmkultur, gründete im gleichen Jahr in Prag die erste Militärschwimmschule weltweit, die zum Muster vieler Badeanstalten wurde. 88 Als kollektiv akzeptierte und praktizierte Kulturtechnik steckte das Schwimmen 1810 noch in den Anfängen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zählte es in Europa nicht zu den bewegungskulturellen Basiskompetenzen. Der menschliche Ganzkörperkontakt mit dem Wasser, sprich: die beiden wichtigen Kulturtechniken Baden und Schwimmen, hatte nach seiner antiken Blütezeit in Europa einen beispiellosen Niedergang erlebt, der bis zu beider Verbot führte. Noch um 1750 stand die Schwimmkultur auf einem Tiefpunkt, auch in England, dem Mutterland der Sports. Der Schwimmer Byron war noch im vorviktorianischen England eine Ausnahmegestalt. 89 In der Schweiz, in Zürich, wurden Goethe und die Brüder Stolberg 1775 bei Badeversuchen mit Steinen beworfen. 90 Vielerorts war das Schwimmen wegen der Gefahr des Ertrinkens gar verboten. Und die Debatte, ob der Mensch überhaupt schwimmen solle, zog sich durch das ganze anthropologische 18. Jahrhundert. So deklarierte eine französische, 1776 ins Deutsche übertragene Schrift, dass der menschliche Körper nicht zu dieser Bewegung im Wasser tauge: Wer nämlich schwimmen wolle, müsse seinem Körper „eine Stellung geben, die der natürlichen Bauart desselben geradezu entgegen stehet“, und er müsse dann „fast lauter solche Bewegungen vornehmen, die dem Mechanismus seiner Glieder eigentlich nicht angemessen sind, und die ihm folglich, schon aus diesem Grunde, allemahl 88 Vgl. dazu Schmidt: „Pfuel und Kleist im Wasser“. 89 Vgl. dazu Cregan-Reid: „Water Defences“. 90 Vgl. Goethe: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. In: Ders.: Werke, Bd. 13, S. 802f. George Gordon Byron Written after Swimming from Sestos to Abydos 111 fremd und ungewohnt, mithin gezwungen seyn müssen“. 91 Der Autor schlug deshalb einen Scaphander vor, eine aus einem Korkwams, einer wasserdichten Hose und einer Mütze bestehende „Schwimmrüstung“, 92 die die dem Menschen gemäße aufrechte Geh-Bewegung auch im Wasser ermöglichen sollte. Ab dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts kam es dann zu einer schrittweisen Rehabilitierung des Schwimmens, 93 die vor allem unter pragmatischen Vorzeichen stand. Für die Philanthropen und die anthropologischen Ärzte waren Schwimmkompetenz und Kaltbadepraxis Hilfsmittel zur Abwendung existentieller Gefahren und Antidot gegen die zivilisatorische Verweichlichung; für Militärs wie Ernst von Pfuel war die Schwimmfähigkeit der Soldaten aus strategischen Gründe von Belang. Lebensrettungsgesellschaften wurden gegründet, 1774 auch in London; zur gleichen Zeit finden sich erste Badeschiffe vertäut auf den Flüssen. Das erste deutsche Seebad wurde Mitte der 1790er Jahre in Heiligendamm an der Ostsee eingerichtet. Auch Georg Christoph Lichtenberg hatte für eine solche Institution nach englischem Vorbild plädiert. 94 Das erste deutsche Schwimmlehrbuch erschien dann 1798, verfasst von dem Philanthropen Johann Christoph Friedrich GutsMuths. Im Anschluss an den Italiener Oronzio de Bernardi und dessen Buch L’uomo gallegiante o sia l’arte ragionata del nuote (1794, dt. 1797) wollte GutsMuths dem aufgeklärten Menschen die Angst vor dem fremden Element durch den Nachweis nehmen, er sei „specifisch leichter als Wasser“. 95 Gleichwohl traute der Philanthrop diesem vermeintlichen Naturgesetz nicht vollends und ergänzte die „[n]eue italienische“ zur Sicherheit um eine „[a]eltere deutsche Schwimmschule“, 96 die davon ausging, der Mensch sei „der Schwere des Wassers gleich“ 97 oder übertreffe sie. In dieser Phase der Unsicherheit und der Suche hat der berühmte Byron mit seiner nur ein Dutzend Jahre später vollbrachten Leistung, die in aller Munde war, die Karriere der Bewegungstechnik Schwimmen in Europa wesentlich, wenn auch unbeabsichtigt befördert - ähnlich wie der Eislauf-Apostel Klopstock das Schlittschuhfahren. Neue Mythen Byrons aquatische Tat, der sich das Gedicht Written after swimming verdankt, traf genau jenen geschichtlichen Moment, in dem sie noch weit mehr sein konnte als nur eine beeindruckende körperliche Leistung. Denn sie bezog ihre Bedeutung ebenso aus einer noch intakten mythopoetischen Überlieferung, wie sie diese zerstörte. Durch diese Ambivalenz konnte Byrons Tat selbst eine mythische Dimension erlangen (und der Name seines Begleiters, der eigentlich als erster das Ufer erreichte, 91 Chapelle: Gründliche und vollständige Anweisung, S. 23. 92 Ebd., S. XI. 93 Zur Vorgeschichte in der Renaissance vgl. A. Krüger: „Schwimmen“. 94 Vgl. Promies, Wolfgang: „Der Deutschen Bade-Meister“. 95 GutsMuths: Kleines Lehrbuch der Schwimmkunst, S. 3. 96 Ebd., Inhaltsverzeichnis. 97 Ebd., S. XI. Thomas Schmidt 112 Ekenhead, wurde ausgeblendet). Noch 1895 vermerkt das Encyklopädische Handbuch des gesamten Turnwesens Byrons Leistung im Zusammenhang mit der Hero-und- Leander-Geschichte, 98 und bis heute treffen sich Schwimmbegeisterte jedes Jahr am Hellespont, um Byrons Tat zu wiederholen. 99 Ganz im Sinne des New Historicism, der in den hier angestellten Überlegungen unausgesprochen den theoretischen Hintergrund abgab, wurde Byrons kleines Gedicht hier zurück in seinen kulturellen Kontext gestellt und mit einigen der um 1800 zirkulierenden Texte, Ideen und Praktiken verbunden, denen es seine Entstehung verdankt und auf die es zurückgewirkt hat. Nach Stephen Greenblatt hat das Gedicht so seine soziale Energie zurückerhalten und sich damit auch als literarisches Werk gezeigt, das hier zu Recht unter die Großen Werke der Literatur aufgenommen wurde. Dort hat es seinen Platz, weil Byron das alte Griechenland auch mit dem Körper suchte und damit die lange normsetzende Antike geradezu symbolisch durch moderne Leistungsmaßstäbe entwertete. Das bereits erwähnte Resultat dieses Experiments steht am Ende des Gedichtes und kann auch als Diagnose für die Sattelzeit um 1800 gelten, in der die überkommenen Wertmaßstäbe in der Kunst und im Leben umgeordnet wurden: „I‘ve the ague.“ Literaturverzeichnis Primärliteratur Benedict: „The Doom“. Southern Literary Messenger January (1835): 235-240. http: / / www.eapoe.org/ works/ rejected/ slmdoom.htm. 22.4.2014. Byron, George Gordon: The complete poetical works. Hg. Jerome J. McGann. 7 Bände. Oxford 1980-1993. Byron, George Gordon: Life, letters and journals of Lord Byron. With notices by Thomas Moore. London 1839. Byron, George Gordon: Conversations of Lord Byron with the Countess of Blessington. London 1834. 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Im Gegensatz zum Taugenichts und zu Eichendorffs Gedichten - von denen einige der berühmtesten, wie etwa „O Täler weit, o Höhen“, „Frische Fahrt“, „Waldgespräch“, „Zwielicht“ und „In einem kühlen Grunde“ zum ersten Mal in Ahnung und Gegenwart erschienen sind - ist Eichendorffs erster Roman nie populär geworden. Zum Teil lässt sich dies aus seiner Entstehungsgeschichte erklären. 1810 konzipiert und im Oktober 1812 in Wien zu Ende geschrieben, sollte diese Dichtung einen unmittelbaren Bezug zur Zeitgeschichte herstellen. So lernt dessen Protagonist, Graf Friedrich, im ersten Buch die Gräfin Rosa, die große Liebe seines Lebens, kennen und durch sie auch ihren lebenslustigen Bruder Leontin und den Berufsdichter Faber. Von Leontins Schloss auf einer gemeinsamen Reise aufbrechend, wird Rosa bald gelangweilt und lässt sich von ihrer Freundin, der Gräfin Romana, überzeugen, mit nach der Residenz zu fahren, deren dunkle Türme in der Ferne „wie Leichensteine des versunkenen Tages“ stehen, wie Friedrich sagt: „Anders sind die Menschen dort, unter welche Rosa nun kommt; treue Sitte, Frömmigkeit und Einfalt gilt nicht unter ihnen“ (62). 1 Im zweiten Buch des Romans lernen wir die Residenz und deren Einwohner zur Genüge kennen, wo Religion, Dichtung und Patriotismus lediglich Unterhaltungswert besitzen, aber zuerst verbringt Friedrich die Erntezeit mit Leontin auf dem Landschloss des Herrn von A., wo Leontin Julie, seine künftige Frau, kennen und lieben lernt. Kommentare zum Roman machen darauf aufmerksam, dass sowohl Herr von A. als auch dessen Schloss autobiographische Reminiszenzen an Eichendorffs eigene Jugend auf dem Lubowitzer Landgut darstellen. Es ist kein Zufall, dass am Ende des ersten Buches von Ahnung und Gegenwart Friedrich 1 Alle Seitenzahlen in Klammern im laufenden Text beziehen sich auf folgende Ausgabe: Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. Hg. mit Anhang, Literaturhinweisen und einem Nachwort v. Gerhart Hoffmeister. Stuttgart 1984; 1998 bibliographisch ergänzt und 2011 unverändert gedruckt [= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8229]. Dennis F. Mahoney 116 im Schlossgarten „O Täler weit, o Höhen“ (115f.) schreibt, bevor er im zweiten Buch den vergeblichen Versuch macht, Rosa aus den Verstrickungen des Hofes zu retten. Im Anfangskapitel des dritten Buches schließt sich Friedrich dem allerdings stark verschlüsselten Tiroler Volksaufstand gegen Napoleon und seine deutschen Verbündeten im Jahre 1809 an; es wird z.B. im Roman nicht ausdrücklich gesagt, gegen wen Friedrich eigentlich kämpft. 2 Die Angst der Verleger vor französischen Zensurmaßnahmen war dennoch so groß, dass Eichendorffs erster Roman erst zu Ostern 1815 erschien - d.h., zu einer Zeit, als die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen weniger der Romanlektüre als Napoleons Rückkehr aus Elba galt, wie Glyn Tegai Hughes mit Recht bemerkt. 3 Und wenn Friedrich am Ende des Romans den Entschluss fasst, Mönch zu werden, und sich von dem verdorbenen Deutschland, bzw. Europa seiner Gegenwart zurückzieht, war dies für Eichendorffs Zeitgenossen nicht unbedingt ein Romanschluss, der zur Lektüre eingeladen hat. Darüber hinaus hatten Forscher bis vor einigen Jahrzehnten in Ahnung und Gegenwart lediglich ein planloses Durcheinander von Stimmungsbildern gesehen, was schwerlich zu einer Vorlesung über „Große Werke der Literatur“ passen würde. 4 Inzwischen plädiert man für eine sinnvolle Romanstruktur. Egon Schwarz und Gerhart Hoffmeister deuten z.B. die drei Bücher von Ahnung und Gegenwart als eine dreistufige Bewegung der Exposition, Verwicklung und Lösung, die sowohl eine Nähe zum triadischen Geschichtsbild der deutschen Frühromantik enthält als auch eine Kritik an der Überbewertung der Poesie als Antwort auf die Krisen der Gegenwart darstellt. Andere Forscher untersuchen die Integrierung der zahlreichen Gedichte in die Romanhandlung oder die Funktion der Tageszeiten, Landschaften, Motive und Bilder, die sowohl hier als auch in späteren Werken Eichendorffs immer wieder in neuer Umstellung auftauchen. 5 Nicht zuletzt enthält Ahnung und Gegenwart die betörende Gräfin Romana, das Urbild von späteren Venusgestalten bei Eichendorff, die als Gegenspielerin zu Graf Friedrich auf eine Ambivalenz innerhalb der Romantik selbst hindeutet. Eichendorffs poetische Anfänge sollen aber zuerst kurz besprochen werden, bevor wir uns im Detail mit Ahnung und Gegenwart beschäftigen, damit der Zusammen- 2 Vgl. Jürgen Meyer-Wendt, „Eichendorffs Ahnung und Gegenwart: ‚Ein getreues Bild jener gewitterschwülen Zeit’? “, in: Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen. Hg. v. Wolfgang Paulsen, Bern & München 1977, S. 158-174. 3 Glyn Tegai Hughes: Romantic German Literature. New York 1979, S. 101. 4 Vgl. dazu Walter Killy: „Der Roman als romantisches Buch: Über Eichendorffs Ahnung und Gegenwart.“ Die neue Rundschau 73 (1962). 533-552; später abgedruckt in Ders.: Wirklichkeit und Kunstcharacter: Neun Romane des 19. Jahrhunderts. München 1963, S. 36-58, und in Interpretationen III. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt/ M 1966, S. 136-154. Zur Wertung der Forschung zu Ahnung und Gegenwart vor 1945, vgl. Egon Schwarz: „Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart“, in: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Hg. v. Paul Michael Lützeler, Stuttgart 1981, S. 302-305. 5 Vgl. Hans Eichner: „Zur Integration der Gedichte in Eichendorffs erzählender Prosa.“ Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft, 41 (1981). 7-21; Peter Paul Schwarz: Aurora: Zur romantischen Zeitstruktur bei Eichendorff. Bad Homburg 1970; Oscar Seidlin, „Eichendorffs symbolische Landschaft“, in: Eichendorff heute: Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie. Hg. v. Paul Stöcklein, Darmstadt 1966, S. 218-241. Joseph von Eichendorff Ahnung und Gegenwart 117 hang des Romans sowohl mit Eichendorffs Biographie als auch mit der Sozial- und Kulturgeschichte um 1810 deutlicher wird. II Wer eine Eichendorff-Ausgabe besitzt, wird wahrscheinlich die Lithographie aus dem Jahr 1832 kennen, zu einer Zeit, als Eichendorffs Geburtsort auf Schloss Lubowitz in Schlesien zur Tilgung von Familienschulden längst verkauft worden war und er Preußischer Beamter geworden ist. Weniger bekannt ist dagegen das Bildnis, das Eichendorff Anfang November 1809 für seine Verlobte Luise von Larisch in Breslau machen ließ, bevor er mit seinem Bruder Wilhelm für einen viermonatigen Aufenthalt in Berlin aufbrach; hier haben wir mit einem Bild zu tun, das sowohl zeitlich als auch bezüglich der Selbstdarstellung besser zur Lebenseinstellung der jungen Adligen in seinem ersten Roman passt. Abbildung 1: Emil Krupa-Krupinski: Portrait Joseph von Eichendorff 6 Die Stadt Halle ist für Eichendorffs dichterischen Werdegang wichtig, wo er und sein Bruder 1805-06 ihr Jurastudium begonnen hatten, aber auch die Vorlesungen des Naturphilosophen Henrik Steffens und des Theologen Friedrich Schleiermacher 6 Bildquelle http: / / www.treffpunkt-kunst.net/ s/ cc_images/ cache_2443557106.jpg? t=13843984 96. Bei dieser Abbildung von Krupa-Krupinski (1899) handelt es sich um ein Ölbild angefertigt nach der Vorlage eines Miniaturportraits von Karl Joseph Raabe aus dem Jahre 1809. Beide gelten als verschollen. Das Bildnis von Krupa-Krupinski ist jedoch in folgendem Werk als Frontispiz abgebildet: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Wilhelm Kosch und August Sauer. 11. Band: Tagebücher. Regensburg [1908]. Dennis F. Mahoney 118 besuchten. In seinem späten autobiographischen Fragment „Halle und Heidelberg“ schreibt Eichendorff über den gewaltigen Eindruck, den diese beiden Professoren auf die romantisch veranlagte Studentenschaft machten. Aber bei seiner Darstellung sind es ihre Persönlichkeiten und nicht etwa die Besprechung konkreter Texte aus der ersten Phase der deutschen Romantik, die betont werden, obwohl wir wissen, dass Franz Sternbalds Wanderungen (1798) und Heinrich von Ofterdingen (1802), die Fragment gebliebenen Künstlerromane von Ludwig Tieck und Novalis, schon damals zu Eichendorffs Lieblingslektüre gehörten. Nach der Schließung der Universität Halle infolge der Schlachten zwischen Preußen und Napoleons Truppen im Herbst 1806 gingen die Gebrüder Eichendorff im folgenden Frühling zum Weiterstudium nach Heidelberg, wo Achim von Arnim und Clemens Brentano den ersten Band des Knaben Wunderhorn bereits veröffentlicht hatten, dessen Volksliedton für Eichendorffs reife Lyrik so wichtig werden sollte. Während der Heidelberger Studienzeit war aber - im Gegensatz zu seiner verklärenden Darstellung in „Halle und Heidelberg“ - Eichendorffs poetisches Vorbild weder Arnim noch Brentano, sondern Otto Heinrich Graf von Loeben (1786-1825), alias „Isidorus Orientalis“, dessen Pseudonym an den Isistempel der Lehrlinge zu Sais von Novalis erinnern sollte. Im März 1808 erschien Loebens Roman Guido, der zwar als Fortsetzung zu Heinrich von Ofterdingen konzipiert wurde, aber nach dem Urteil von Gerhard Schulz eher als dessen parasitäre „Umkehrung“ zu betrachten ist. 7 Ein ähnliches Urteil könnte man aber auch über die acht Sonette des jungen Eichendorff fällen, die 1808 durch Loebens Vermittlung in Friedrich Asts Zeitschrift für Kunst und Wissenschaft unter dem Pseudonym „Florens“ erschienen sind. Wie im Falle seines fast gleichaltrigen Mentors Loeben gibt es in Eichendorffs Erstveröffentlichung eine Anhäufung von Motiven, die in Novalis’ Schriften zu finden sind wie etwa „Jungfrau“, „Schleier“, die wiederholte Verwendung der Farbe „blau“ und vor allem diejenige Verbindung von Religiosität und Erotik, die die Hymnen an die Nacht kennzeichnet. So stellt Klaus Köhnke in seinem aufschlussreichen Aufsatz „Eichendorff und Novalis“ über das Jugendwerk Eichendorffs fest: „Das Thema der Vereinigung mit der zur Geliebten gewordenen Maria wird von Eichendorff mehrfach variiert, so etwa in dem Sonett Frühlingsandacht (IV, 17), in dem Maria zugleich in mystischer Einheit mit der Frühlingsnatur erscheint.“ 8 Die Problematik einer solchen erotisierten Andacht wird vor allem in Eichendorffs Erzählung Das Marmorbild (1819) deutlich, wo der Protagonist Florio aus den Verstrickungen einer narzisstischen Liebe zur Venusfigur des Titels nur mit der Hilfe von Fortunatos betont christlicher Poesie gerettet wird. Aber bereits in Ahnung und Gegenwart wird Friedrich mit Schmerzen 7 Isidorus Orientalis (Otto Heinrich Graf von Loeben): Guido. Faksimiliedruck nach der Ausgabe von 1808. Hg. und mit einer Einführung v. Gerhard Schulz, Bern 1979, S. 23.* Vgl. auch Leif Ludwig Albertsen: „Novalismus.“ Germanisch-Romanische Monatsschrift, n.F. 17 (1967). 272-285. Albertsen versteht unter Novalismus eine Trivialmystik, „die Modebegriffe aus jenen Symbolen machte, die bei Novalis notwendiger Ausdruck persönlichster Poesie sind, in der er den Gegensatz zwischen irdischer Gegenwart und himmlischer Ahnung einmalig aufhebt“ (S. 285); zu Guido, S. 276-278. 8 Klaus Köhnke: „Eichendorff und Novalis.“ Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 45 (1985). 63-90; hier S. 69. Joseph von Eichendorff Ahnung und Gegenwart 119 erkennen müssen, dass die Gräfin Rosa, seine Geliebte, alles andere als eine Madonna oder eine Muse ist. 9 Noch im November 1809 folgten die Brüder Eichendorff Loebens Aufforderung, zu ihm nach Berlin zu ziehen, wo sie bis zum März 1810 geblieben sind. Die satirische Schilderung einer ästhetischen Teegesellschaft im 12. Kapitel des zweiten Buches von Ahnung und Gegenwart, bei der ein schmachtender Dichterling „einen Haufen Sonette mit einer Art von priesterlicher Feierlichkeit“ liest, stellt Eichendorffs wachsende Skepsis zu Loebens Ästhetizismus, aber auch eine gehörige Prise Selbstkritik dar. Hier heißt es: „Alle [Sonette] hatten einen einzigen, bis ins Unendliche breit auseinandergeschlagenen Gedanken, sie bezogen sich alle auf den Beruf des Dichters und die Göttlichkeit der Poesie, aber die Poesie selber, das ursprüngliche, freie, tüchtige Leben, das uns ergreift, ehe wir darüber sprechen, kam nicht zum Vorschein vor lauter Komplimenten davor und Anstalten dazu“ (142). Wenn Graf Friedrich zu dem Schmachtenden sagt: „Ihre Gedichte gefallen mir ganz und gar nicht“ (153), so sind Eichendorffs eigene novalisierende Anfänge auch mitgemeint. Friedrichs lobende Worte über Achim von Arnims Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (1810), an dem Arnim gerade arbeitete, als die Brüder Eichendorff in näheren Kontakt zu ihm, Brentano, Adam Müller und Heinrich von Kleist in Berlin kamen, zeigen dagegen die Bedeutung einer lebenszugewandten Poesie, die auch moralisch bessern will: Die größte Sünde aber unserer jetzigen Poesie ist meines Wissens die gänzliche Abstraktion, das abgestandene Leben, die leere, willkürliche, sich selbst zerstörende Schwelgerei in Bildern. Die Poesie lebt vielmehr in einer fortwährend begeisterten Anschauung und Betrachtung der Welt und der menschlichen Dinge, sie liegt ebensosehr in der Gesinnung als in den lieblichen Talenten, die erst durch die Art ihres Gebrauches groß werden. Wenn in einem sinnreichen, einfach strengen, männlichen Gemüte auf solche Weise die Poesie wahrhaft lebendig wird, dann verschwindet aller Zwiespalt: Moral, Schönheit, Tugend und Poesie, alles wird eins in den adeligen Gedanken, in der göttlichen, sinnigen Lust und Freude, und dann mag freilich das Gedicht erscheinen, wie ein in der Erde wohlgegründeter, tüchtiger, hoher, schlanker Baum, wo grob und fein erquicklich durcheinander wächst, und rauscht und sich rührt zu Gottes Lobe. (150) In diesem Sinn begann Eichendorff die Arbeit an seinem ersten Roman in den Monaten zwischen der Rückkehr zu Lubowitz im Frühjahr 1810 und der Reise nach Wien im Herbst desselben Jahres, wo er sein Jurastudium 1812 erfolgreich abschloss. Inzwischen waren Friedrich Schlegel und seine Frau Dorothea, die beide 1808 im Kölner Dom zum Katholizismus konvertierten, Eichendorffs literarische Berater geworden. Im Herbst 1812 schloss Eichendorff die Arbeit an Ahnung und Gegenwart ab, dessen Titel auf einen Vorschlag Dorotheas zurückgeht. Dieser Titel hat Berührungspunkte mit der eigenen Jugend der Schlegels, als Jena der Sammelpunkt der Frühromantik war: man denke an das 109. Blüthenstaub-Fragment von Novalis, das mit den Worten anfängt: „Nichts ist poetischer, als Erinnerung und Ahndung oder 9 Zu den zahlreichen Venus-, Diana- und Mariengestalten in Eichendorffs Lyrik und Prosa vgl. Theresia Sauter Bailliet: Die Frauen im Werk Eichendorffs: Verkörperungen heidnischen und christlichen Geistes. Bonn 1972. Dennis F. Mahoney 120 Vorstellung der Zukunft.“ 10 In seiner ursprünglichen Form in den „Vermischten Bemerkungen“ ging dieser Gedanke unmittelbar weiter: „Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft beide durch Beschränkung - es entsteht Continguitaet, durch Erstarrung - Crystallisation. Es giebt aber eine geistige Gegenwart - die beyde durch Auflösung identificirt - und diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters.“ 11 Was geschieht aber, wenn romantische „Erinnerungen“ und „Ahndungen“ nicht in dem poetischen Mittelalter eines Heinrich von Ofterdingen, sondern in der „gewöhnlichen“ Gegenwart um 1810 situiert werden? In den zum Teil autobiographischen Abenteuern von Eichendorffs jugendlichem Protagonisten, der den Gefährdungen und falschen Tendenzen seiner Gegenwart ausgesetzt wird, sehen wir sowohl Ferne als auch Nähe zu Novalis und der Frühromantik. Wie Klaus Post in seinem Aufsatz zum spätromantischen Roman bei einem Vergleich von Eichendorff und Novalis schreibt: „Wo das Leben der Verwirrung verfällt, kann auch die Dichtung, da sie Ausdruck des Menschen ist, nicht frei von Irrgängen bleiben. Auch sie ist nicht der Schlüssel zum Absoluten, sondern charakterisiert vielmehr den sehnsuchtsvollen Weg des Menschen zur schließlichen Einheit von Leben und Religion. Dichtung ist deshalb bei Eichendorff genauso gefährdet wie das Leben selbst, ist niemals ihrer selbst sicher, sondern muß sich im lebendigen Prozeß immer wieder selbst erfahren in ihrem Trug und in ihrer Nichtigkeit, aber auch in ihrer verheißungsvoller Macht, die Wirrnisse des Lebens zu überwinden.“ 12 III Wenden wir uns in diesem Zusammenhang an ein konkretes Beispiel von Dichtung aus Ahnung und Gegenwart, und zwar an ein Lied, das Leontin, Friedrichs Freund und Rosas Bruder, am Ende des 6. Kapitels des ersten Buches singt, nachdem er zusammen mit Friedrich vom Sitz in einem hohen Baum „ein wunderschönes Mädchen“ (65) bei einem Tanz erblickt hat und ihr später im Garten begegnet ist. Während Friedrich zurück zum Wirtshaus geht, wo die beiden reisenden Freunde übernachten, sein Abendgebet verrichtet und sich hinlegt, nimmt Leontin seine Gitarre, geht zum Schauplatz des Tanzes zurück, setzt sich auf den Gartenzaun und singt das folgende Lied, während das noch unbekannte Fräulein „halbentkleidet“ am offenen Fenster steht (68): Der Tanz, der ist zerstoben, Die Musik ist verhallt, Nun kreisen Sterne droben, Zum Reigen singt der Wald. 10 Friedrich von Hardenberg: Novalis Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 2. Hg. v. Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1965. S. 461. Vgl. dazu Erika Jansen: Ahnung und Gegenwart im Werke Eichendorffs. Gießen 1937, S. 7; s. auch Köhnke: „Eichendorff und Novalis“, S. 75, Anm. 16. 11 Ebd., S. 468. Nr. 123. 12 Post, „Der spätromantische Roman“, in: Handbuch des deutschen Romans. Hg. v. Helmut Koopmann, Düsseldorf 1983, S. 305. Joseph von Eichendorff Ahnung und Gegenwart 121 Sind alle fortgezogen, Wie ist’s nun leer und tot! Du rufst vom Fensterbogen, >Wann kommt der Morgen rot! < Mein Herz möcht mir zerspringen, Darum, so wein ich nicht, Darum, so muß ich singen, Bis daß der Tag anbricht. Eh’ es beginnt zu tagen: Der Strom geht still und breit, Die Nachtigallen schlagen, Mein Herz wird mir so weit! Du trägst so rote Rosen, Du schaust so freudenreich, Du kannst so fröhlich kosen, Was stehst Du still und bleich? Und laß sie gehn und treiben Und wieder nüchtern sein, Ich will wohl bei Dir bleiben! Ich will Dein Liebster sein. (68) Leontin singt aus dem Stegreif - wir wollen zumindest hoffen, dass er dieses Ständchen nicht zur jeweils passenden Gelegenheit verwendet, denn sein Schäkern mit der kleinen Marie im 3. Kapitel des ersten Buches, die an die Gestalt der Philine aus Wilhelm Meisters Lehrjahre erinnert, deutet an, dass Leontin auch einige Züge von einem ‚Lothario’ in sich hat. Wie so oft in den vielen Gedichten des ersten Buches von Ahnung und Gegenwart verwendet Eichendorff eine volksliedartige Strophe, hier mit dreihebigen Iamben und alternierenden weiblichen und männlichen Reimen, in dem Versuch, wie im Fall von Arnim und Brentanos Wunderhorn an ein größeres Publikum zu kommen. 13 Aber hinter dem schlichten Satz- und Strophenbau verbergen sich hier kunstvolle Kontraste, die zeigen, wie Eichendorff bei allen Anklängen an verehrte Vorgänger wie Goethe, Novalis, Brentano, Arnim und Dorothea Schlegel durchaus eigene Wege geht. 14 In der ersten Strophe gibt es zum Beispiel den Gegensatz zwischen dem Ende des von Menschen veranstalteten Tanzes und der kosmischen Musik und Bewegung im Himmel und Wald. Ebenfalls besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den anderen Tanzgästen, für die der prosaische Alltag bereits zurückgekehrt ist, und der Haltung von Leontin und der noch unbe- 13 Zum Zusammenhang von Volk, Poesie und Volkston bei Arnim und Brentano vgl. Fabian Lampart: „The Turn to History and the Volk: Brentano, Arnim, and the Grimm Brothers“, in: The Literature of German Romanticism. Hg.v. Dennis F. Mahoney. Rochester, NY 2004, S.171-189, vor allem S. 176-183. 14 Für Hinweise auf literarische Vorbilder zu Figuren und Textstellen in Ahnung und Gegenwart vgl. die ausführlichen Erläuterungen und Anmerkungen von Hoffmeister (332-350). Dennis F. Mahoney 122 nannten Adressantin dieses Liedes, die voll Freude und Zuversicht auf den Morgen warten. Dabei wird deutlich, dass es nicht um ein chronologisches Ausharren geht, sondern dass der Morgen den Beginn eines ganz wesentlichen Lebensabschnitts symbolisiert. Auch hier wird die Bedeutung von Eichendorffs Studienjahr in Heidelberg deutlich, wo der neunzehnjährige Student die Vorlesungen von Joseph Görres besucht hat. So steht in Eichendorffs Tagebuch für den 9. Juli 1807 der folgende Eintrag: „Zeigte uns Görres in der ästhetischen Stunde die 4 himmlischen Kupferstiche von Runge, die diesmal den Preis in Weimar erhalten. Arabesken. Unendliche Deutung.“ 15 Es handelt sich um Philipp Otto Runges Stiche „Die Zeiten“ (d.h, Morgen, Mittag, Abend und Nacht), die trotz Eichendorffs Aussage den damaligen Kunstpreis in Weimar nicht erhalten haben, wohl aber 1807 bei Perthes in Hamburg erschienen sind. In seiner Eichendorff-Biographie macht Günther Schiwy darauf aufmerksam, wie Görres in seinen Vorlesungen wesentliche Elemente von Eichendorffs hieroglyphischer Kunsttheorie vorwegnimmt. Schiwy zitiert zur Unterstützung die folgenden Sätze aus Görres’ 1808 gedruckter Erläuterung von Runges „Zeiten“ in den Heidelberger Jahrbüchern der Literatur: „Hat die Natur aus den Elementen die Körper zuerst gebildet, dann ergreift das Leben die Materie wieder, und bildet sie in organische Formen um; ergreift die Kunst dann wieder diese Formen, und gießt ihnen im Bilde die Harmonie der idealen Schönheit ein; erfasst endlich die Idee die schöne Form, und bildet sie sich wie der Geist die Rede zu, und es wird ein bedeutend, tiefsinnig Wort nun ausgesprochen, eine heilige Rede, die der Sinn mit Andacht hören sollte.“ 16 Bei Runges „Abend“ umrahmen z.B. zwei Rosensträucher, worauf musizierende Engel sitzen oder stehen, die zentrale Gruppe von neun Putten auf einer untergehenden Lilie, was die Ankunft der Nacht im oberen Teil des Bildes verkündet; die explizit christliche Symbolik der „Arabesken“ im oberen und unteren Rahmen - Lamm, Kreuz, Dornenkrone, Kelch - ermöglicht aber auch eine religiöse Deutung der Rosen. 17 Und so nimmt Leontin im Roman nicht allein das Rauschen des Waldes, den Vogelsang um ihn her und das Fließen des breiten Stroms in sein Lied auf, sondern er verarbeitet auch seinen ersten Eindruck des unbekannten Mädchens, indem sie sich vom Tanzen erholt: Darauf öffnete sie gar das Fenster, teilte zierlich ihre Haare, durch die ein Rosenkranz geflochten war, nach beiden Seiten über die Stirn, und schaute, so wie in Gedanken versunken, lange in die Nacht hinaus. - Leontin und Friedrich waren ihr dabei so nahe, daß sie 15 Eichendorff: Neue Gesamtausgabe der Schriften in vier Bänden. Bd. 3. Hg. v. Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse. Stuttgart 1958, S. 195. 16 Günther Schiwy, Eichendorff: Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biographie. München 2007, S. 219. Zur weiteren Auskunft über Görres Erläuterung von Runge und deren Wirkung auf den jungen Eichendorff vgl. Theodore Ziolkowski: Heidelberger Romantik: Mythos und Symbol. Heidelberg 2009, S. 85-86, und Schwarz, Aurora, S. 44-59, vor allem S. 57. 17 Zur Deutung von Runges Tageszeiten vgl. Rudolf M. Bisanz: German Romanticism and Philipp Otto Runge: A Study in Nineteenth-Century Art Theory and Iconography. Dekalb, IL 1970, S. 106-120, hier S. 110. Joseph von Eichendorff Ahnung und Gegenwart 123 ihren Atem hören konnten; ihre stillen, großen Augen, in deren feuchtem Spiegel der Mond wiederglänzte, standen gerade vor ihnen. (65) Dass das Mädchen rote Rosen trägt und kosen kann, deutet auf eine innere Bereitschaft zur Liebe hin, die Leontins Lied in ihr erweckt, wenn sie sich hinlegt; so heißt der letzte Satz des sechsten Kapitels: „Aber sie schlief nicht, denn das Fenster blieb offen und Leontins verführerische Töne stiegen die ganze Nacht wie auf goldenen Leitern in die Schlafkammer des Mädchens ein und aus“ (69). Es ist kein Zufall, dass Eichendorff das Wort „Rosenkranz“ verwendet bei seiner Beschreibung dieser Tochter eines reich begüterten Edelmanns, die im weiteren Verlauf des ersten Buches sich in der Tat in Leontin verliebt und ihn im dritten Buch nach seiner Verwundung im Krieg pflegt und mit ihm nach Amerika auswandert. Hier haben wir ein erstes Zeichen, dass Julie, so heißt sie, eine andere Art von Frau als Leontins Schwester Rosa ist, die Friedrich bereits im ersten Kapitel des Romans kennen gelernt hat, und dass Leontins Liebesgeschichte einen glücklicheren Ausgang haben wird: wer einen Sinn für die sowohl in der Natur als auch im Menschen verborgene göttliche Botschaft hat, wird die Orientierung im Leben nicht verlieren. IV Dass viele von Eichendorffs Romanfiguren nicht mehr in der Lage sind, diese Zeichen richtig zu lesen, offenbart bereits der Anfang zu Ahnung und Gegenwart, wo Friedrich beim Sonnenaufgang eine Schiffsreise auf der Donau unternimmt. Ruft der Tagesbeginn bei Eichendorff eine Aufbruchsstimmung, ein Reisen mit Gott hervor, so deutet die Stromlandschaft auf die Gefahren hin, die Friedrich bevorstehen, sowie auf das geheime Ziel seiner Lebensreise: Wer von Regensburg her auf der Donau hinabgefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird. Hohe Bergschluften umgeben den wunderbaren Ort. In der Mitte des Stromes steht ein seltsam geformter Fels, von dem ein hohes Kreuz trost- und friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut. Kein Mensch ist hier zu sehen, kein Vogel singt, nur der Wald von den Bergen und der furchtbare Kreis, der alles Leben in seinen unergründlichen Schlund hinabzieht, rauschen hier seit Jahrhunderten gleichförmig fort. Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes. Der Mensch fühlt sich auf einmal verlassen in der Gewalt des feindseligen, unbekannten Elements, und das Kreuz auf dem Felsen tritt hier in seiner heiligsten und größten Bedeutung hervor. (3f.) Graf Friedrich und seine studentischen Reisegefährten werden von diesem Anblick alle still und betroffen. Aber bezeichnend ist, in welche Richtung eine noch unbekannte „hohe, junge, weibliche Gestalt“ hinblickt, die in einem anderen Schiff dieselbe Stelle an der Donau gleichzeitig erreicht: nicht zum Kreuz auf dem Felsen hinauf, sondern „unverwandt in den Wirbel hinab“ (4), was auf die rein irdische Gesinnung dieser Romanfigur hinweist und sie mit der lockenden Gefahr der Sexualität in Verbindung bringt. Das Mädchen, das niemand anders als Rosa ist, wechselt bereits am Ende des ersten Kapitels Küsse mit Friedrich in der Herberge, welche die Passagiere auf beiden Schiffen für die Nacht auswählen. Bereits im ersten Buch be- Dennis F. Mahoney 124 kommt jedoch Friedrich eine Ahnung von Rosas Charakter und ihrem künftigen Schicksal durch Fabers Erzählung von der Gräfin Ida, die sich über die Frömmigkeit ihres Vaters lustig macht und nach seinem Tod einen goldenen Ring, als Erbstück ihrer Mutter, in den Fluss wirft, anstatt ihn zu bewahren, bis sie einen tugendhaften Mann gefunden hat; dafür wird Ida von einem Wassermann, der ihren Ring an seinem Finger trägt, in sein Reich gebracht (39-44). Diese „Ahnung“ wird „Gegenwart“, wenn im zweiten Buch Friedrichs Gegenspieler, der heuchlerische Erbprinz, Rosa verführt und entführt. Am Ende des Romans unternimmt Rosa eine Pilgerfahrt zu dem Kloster, wo Friedrich im Begriff ist, Mönch zu werden. Aber im Gegensatz zur entsprechenden Szene in Arnims Gräfin Dolores findet keine Versöhnung zwischen den Geliebten statt, denn Rosa hat den Erbprinzen bereits geheiratet und ist „Weltfutter“ geworden, wie ihr Bruder Leontin ärgerlich feststellt (267). Die wichtigste und wohl faszinierendste weibliche Figur im Roman ist allerdings weder Julie noch Rosa, sondern die Gräfin Romana, die im bereits erwähnten 12. Kapitel des zweiten Buchs von Ahnung und Gegenwart eingeführt wird. In der Erzählung ihrer Jugendgeschichte und dem darin enthaltenen Gesang „Laue Luft kommt blau geflossen“ (131) lockt sie der Lebensstrom aus dem beschränkten Garten, in dem sie nach Wunsch der Mutter hätte bleiben sollen. Bereits Romanas Name verweist auf eine Ambivalenz in der Romantik selbst: ist „Rom“ hier der Sitz des nachantiken Christentums, oder vielmehr die Stadt der „heidnischen“ Götter? 18 Geht es um Erinnerung an das unwiederbringlich Vergangene oder um Ahnung des noch zu Erreichenden? Für die Sängerin von „Frische Fahrt“ sind solche Fragen belanglos: „Fahre zu! ich mag nicht fragen, / Wo die Fahrt zu Ende geht! “ (131). Aber die Tatsache, dass Romana bald danach bei der ästhetischen Teegesellschaft in einem Tableau „die lebenslustige, vor dem Glanze des Christentums zu Stein gewordene Religion der Phantasie“ (137) darstellt, gibt Eichendorffs Lesern einen Hinweis auf die Problematik einer Romantik ohne religiöse Orientierung. Schließlich endet Romanas Lebensreise im Selbstmord, nach wiederholten Versuchen, Friedrich, für den sie eine „unbezwingliche Leidenschaft“ (241) empfindet, mit in den Abgrund hinunterzuziehen. Eric Blackall, der einen feinen Sinn für die symbolische Bedeutung der oft phantastisch anmutenden Handlungselemente im romantischen Roman besitzt, weist darauf hin, wie Romanas Schloss, das sie beim Sterben in Brand steckt, Venusberg und verfallender feudaler Wohnsitz zugleich ist. 19 Hiermit deutet Eichendorff an, dass ein von seinen Traditionen und Glaubensgrundsätzen losgelöster Adel nicht mehr existenzfähig ist. V In seinem mustergültigen Aufsatz „Eine Landschaft Eichendorffs“ machte Richard Alewyn bereits 1957 darauf aufmerksam, dass Landschaftsdarstellungen bei Eichen- 18 Zum Zusammenhang zwischen „Rom“ und „Romantik“ vgl. Gerhard Schulz: Romantik: Geschichte und Begriff. München 1996, S. 10-12 und die damit verbundene Bibliographie, S. 140. 19 Eric Blackall: The Novels of the German Romantics. Ithaca & London 1983, S. 253. Joseph von Eichendorff Ahnung und Gegenwart 125 dorff letzten Endes aus „ungreifbaren Elementen“ bestehen, nämlich „Licht, Bewegung und Raum.“ 20 Was aber für ein Licht erscheint, und in welcher Tageszeit Bewegung und Raum zum Vorschein kommen, hat einen wesentlichen Einfluss auf Eichendorffs konkrete Gestaltung einer Landschaft und deren Wirkung auf seine Charaktere (und Leser). In ihrer letzten Nacht auf Erden wird Romana z.B. als „Versteinert wie eine Bildsäule“ beschrieben, bevor der Mond aufsteigt und Friedrich sie aus dem Gebirge zu ihrem Schloss führt (239). Und wie grundverschieden von Leontins Abendlied an Julie ist die bedrückende Atmosphäre jenes Liedes, das Friedrich gegen Ende des zweiten Buches von Ahnung und Gegenwart vernimmt und das Robert Schumann unter dem Titel „Zwielicht“ in seinem Liederkreis von Eichendorff-Gedichten, op. 39, vertont hat: Dämmrung will die Flügel spreiten, Schaurig rühren sich die Bäume, Wolken ziehn wie schwere Träume - Was will dieses Graun bedeuten? Hast ein Reh du lieb vor andern, Laß es nicht alleine grasen, Jäger ziehn im Wald und blasen, Stimmen hin und wieder wandern. Hast du einen Freund hienieden, Trau ihm nicht zu dieser Stunde, Freundlich wohl mit Aug und Munde, Sinnt er Krieg im tück’schen Frieden. Was heut müde gehet unter, Hebt sich morgen neugeboren. Manches bleibt in Nacht verloren - Hüte dich, bleib wach und munter! (217) Im Gegensatz zum positiven Charakter des Morgenlichts bei Eichendorff haben wir es hier mit einer Abenddämmerung zu tun, in der die unheimliche Ambivalenz spätromantischer Landschaftsbilder zum Vorschein kommt; so bezieht sich das Wort „Graun“ sowohl auf die absterbenden Tagesfarben im Gebirge als auch auf die gespenstigen Töne und Formen der Bäume und Wolken. Im Roman weiß Friedrich nicht einmal, wer hier beim letzten Abendlicht singt: „Die Stimme war ihm durchaus unbekannt“, wenn auch er bei einem bald danach vorgetragenen Lied der Gräfin Romana über einen durch bösen Liebeszauber gefangengenommen Ritter „manchmal eine plötzliche, aber ebenso schnell wieder verschwindende Ähnlichkeit ihres Gesanges mit jener Stimme auf dem Berge zu bemerken“ glaubt (217, 219). Die erschreckende Ahnung, dass dieses Lied an ihn gerichtet wird, bewahrheitet sich, wenn er Rosa, seiner Geliebten, im Wald begegnet und sie „wie ein aufgescheuchtes 20 Richard Alewyn, „Eine Landschaft Eichendorffs“, in: Eichendorff heute, S. 19-43, hier 26-27. Dennis F. Mahoney 126 Reh“ den Berg hinab flieht (218). Auch Rosa hatte das warnende Lied gehört, aber falsch gedeutet, denn in ihrer Angst und Verwirrung vertraut sie Friedrichs Rivalen, dem hinterlistigen Erbprinzen, und lässt sich „halb gezwungen und halb verführt“ auf dessen Jagdschloss bringen (223). Vergeblich geht Friedrich zu Pferd auf die Suche nach Rosa; der letzte Satz des zweiten Buches lautet: „So ritt er ohne Bahn fort und immerfort, und der Wald und die Nacht nahmen kein Ende“ (224). In diesem Sinn kann man an die Schlussworte jenes Liedes denken, das Romana in ihrer Verkörperung der Lorelei singt: „Es ist schon spät, es wird schon kalt, / Kommst nimmermehr aus diesem Wald! “ (197). Wenn Romana tatsächlich auch „Zwielicht“ singt - wie sind denn die folgenden Worte aus der letzten Strophe zu deuten: „Was heut müde gehet unter, / Hebt sich morgen neugeboren“? In seiner Interpretation von “Zwielicht“ weist Alexander von Bormann darauf hin, dass diese Zeilen der Gedanken- und Bilderwelt des geistlichen Liedes durchaus entsprechen. 21 Romana kennt sich in dieser Tradition gut aus. Es heißt über eine Lebensphase von ihr, bei der sie den vergeblichen Versuch unternimmt, in Friedrichs Fußstapfen zu wandeln und ein ganz neues Leben der Wahrheit anzufangen, dass sie „geistliche Lieder und Legenden“ gedichtet habe, die ein alter, frommer Dorfgeistlicher mit Freude liest und in sein Gebetsbuch legt: „Mein Gott! sagte da Romana in Gedanken verloren oft zu sich selbst, wie ist der gute Mann doch unschuldig! -“ (202). In der Tat besitzt „Zwielicht“ die teuflische Doppelzüngigkeit, dass es als autonomer Text erbauend, ja sogar mahnend wirkt - „Hüte dich, bleib wach und munter“ (217) - aber romanintern wesentlich dazu beiträgt, dass Rosa dem Erbprinzen ausgeliefert wird, damit Friedrich für Romana frei wird. Hans Eichner hat dargelegt, wie sorgfältig Eichendorff Romanas Gedichte in die Romanhandlung integriert. So identifiziert sich die als Jäger verkleidete Romana mit der Hexe Lorelei in jenem Wechselgesang, der in der Vertonung von Robert Schumann „Waldgespräch“ heißt (197): „Wenn sie nach der letzten Strophe Friederich zutrinkt, bezeichnet sie ihn als ihr Opfer, wird aber durch das Zerspringen des Glases, das ihr Schicksal antizipiert, widerlegt: Nicht er wird an ihr zugrundegehen, sondern sie an ihm.“ 22 So manifestiert sich im Schicksal der Romana Eichendorffs Überzeugung von der Gefahr einer Romantik, die bei aller Genialität ihre religiöse Herkunft nicht mehr wahrnehmen kann, bzw. nicht wahrnehmen will. Andererseits sollen wir als Leser nicht vergessen, dass im ersten und auch im letzten Satz von Ahnung und Gegenwart Sonnenaufgänge erwähnt werden: „Die Sonne war eben prächtig aufgegangen“ und „Die Sonne ging eben prächtig auf“ (3, 328). So gibt es innerhalb der Lebensreise jedes Menschen sowohl die rhythmische Wiederkehr von Tag und Nacht als auch zumindest die Möglichkeit einer innerlichen Erneuerung, wenn auch die verdorbene „Gegenwart“, in der Eichendorffs Roman stattfindet, dafür sorgt, dass mancher/ manche/ manches in der Nacht verloren bleibt. In dieser Hinsicht kann man sowohl die Thematik als auch das Reflexions- 21 Alexander von Bormann: „Aufschwung und Untergang, Einklang und Dissonanz: Mondnacht, Zwielicht“, in: Interpretationen: Gedichte von Joseph von Eichendoff. Hg. v. Gert Sautermeister. Stuttgart 2005, S. 29. 22 Eichner, „Zur Integration der Gedichte in Eichendorffs erzählender Prosa“, S. 18. Joseph von Eichendorff Ahnung und Gegenwart 127 element von Ahnung und Gegenwart mit einem anderen Schüsseltext der Moderne vergleichen, nämlich Edgar Allan Poes Erzählung A Descent into the Maelström, in der Poes Protagonist über dessen Eintauchen in den Wirbel folgendermaßen berichtet: „After a while I became possessed with the keenest curiosity about the whirl itself. I positively felt a wish to explore its depths, even at the sacrifice I was going to make.“ 23 Ebenfalls trägt Eichendorffs Vorstellung vom Dichtertum geradezu existenzielle Züge. In diesem Sinn messen sich alle Romangestalten am Diktum, das Friedrich in seinem letzten Lied verkündet, bevor er ins Kloster tritt: Der Dichter kann nicht mit verarmen; Wenn alles um ihn her zerfällt, Hebt ihn ein göttliches Erbarmen - Der Dichter ist das Herz der Welt (324). 24 Literaturverzeichnis Primärliteratur Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Hg. mit Anhang, Literaturhinweisen und einem Nachwort v. Gerhart Hoffmeister. Stuttgart 1984; 1998 bibliographisch ergänzt und 2011 unverändert gedruckt. (= Reclams Universal-Bibliothek 8229). - Neue Gesamtausgabe der Schriften in vier Bänden. Hg. Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse. Stuttgart 1958. Forschungsliteratur Hughes, Glyn Tegai: „Natural und Supernatural: Eichendorff, with Görres“. Romantic German Literature. New York 1979. 98-111. Köhnke, Klaus: „Eichendorff und Novalis“. Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 45 (1985): 63-90. Koopmann, Helmut: „Joseph von Eichendorff Aus dem Leben eines Taugenichts“. Große Werke der Literatur. Bd. 11. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen 2010. 85-107. Lampart, Fabian: „The Turn to History and the Volk: Brentano, Arnim, and the Grimm Brothers“. The Literature of German Romanticism. Hg. Dennis F. Mahoney. Rochester, NY 2004. 171-89. Meyer-Wendt, Jürgen: „Eichendorffs Ahnung und Gegenwart: ‚Ein getreues Bild jener gewitterschwülen Zeit‘? “. Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen. Hg. Wolfgang Paulsen. Bern & München 1977. 158-174. Post, Klaus-Dieter: „Der spätromantische Roman“. Handbuch des deutschen Romans. Hg. Helmut Koopmann. Düsseldorf 1983. 302-322. 23 Edgar Allan Poe: A Descent into the Maelström, in The Selected Writings of Edgar Allan Poe. A Norton Critical Edition. Hg. v. G.R. Thompson. New York 2004, S. 275. 24 Dieser Vortrag ist Klaus-Dieter Post gewidmet, in Anerkennung seiner langjährigen Verdienste um die Eichendorff- und Romantikforschung. Dennis F. Mahoney 128 Schiwy, Günther: Eichendorff: Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biographie. München 2007. Schwarz, Egon: „Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart“. Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Hg. Paul Michael Lützeler. Stuttgart 1981. 302-324. Abbildungsnachweis Krupa-Krupinski, Emil: Portrait Joseph von Eichendorff. http: / / www.treffpunkt-kunst.net/ s/ cc_ images/ cache_2443557106.jpg? t=1384398496. 1899. Emily Brontë Wuthering Heights Martin Middeke I Emily Brontës Roman Wuthering Heights ist tatsächlich eines der großen Meisterwerke der Weltliteratur - ein Text, der seinen Interpreten im Hinblick sowohl auf seine Themenvielfalt als auch auf seine vielschichtigen formalästhetischen Charakteristika große Deutungsspielräume schafft. Die Analyse von Erzählstruktur, Naturdarstellung sowie Charakterkonfigurationen des Romans kristallisiert eine überaus dichte literarische Epistemologie heraus, die sich einerseits romantisch um die Liebesthematik, andererseits - in der Tendenz durchaus metafiktional - um Verstehen von Selbst, Anderen und Welt und zuletzt in einem ganz abstrakten Sinne um die Möglichkeiten und Grenzen von Interpretation und Wahrheit zentriert. Wie wirkmächtig der Stoff und die Geschichte um das Findelkind Heathcliff und seine leidenschaftlich unglückliche Liebe zu Catherine Earnshaw sind, zeigen intermedial breit gestreut viele Illustrationen der Romanhandlung ebenso wie gleichnamige Opern von Bernard Hermann, Carlisle Floyd und Frédéric Chaslin oder Jean- Michel Schönbergs Ballett aus dem Jahre 2002. Das 1977 erschienene Album Wind & Wuthering der Progressive Rock Band Genesis beinhaltet das zweiteilige Instrumentalopus „Unquiet Slumbers for the Sleepers“/ „In that Quiet Earth“, dessen Titel die berühmte Schlusszeile von Brontës Roman aufnimmt. Die britische Musikerin Kate Bush landete ein Jahr später mit „Wuthering Heights“ einen Hit. Hörspiele, zahlreiche Verfilmungen - die früheste als Stummfilm bereits im Jahre 1920 - und verschiedene Fortsetzungen und Adaptionen bekräftigen, dass der Stoff längst zu einem modernen Mythos avanciert ist. II Die Biographie Emily Brontës stützt sich auf wenige Fakten, das meiste wissen wir aus dem Briefwechsel ihrer berühmten Schwester Charlotte mit Ellen Nussey. Emilys eigene Korrespondenz ist auf Tagebuchsequenzen mit freilich großen zeitlichen Sprüngen und vereinzelten Übungen in französischer Sprache beschränkt. Wuthering Heights ist somit nicht allein auf biographische Tatsachen des kargen Lebens seiner Autorin, einer zurückhaltenden, sensiblen, unverheirateten Frau, festzulegen, was Martin Middeke 130 den Text etwa von Charlotte Brontës bedeutendem Roman Jane Eyre deutlich unterscheidet. Emily Jane Brontë ist das fünfte Kind und die vierte Tochter des Pfarrers Patrick Brontë, der im Jahre 1820 in das kleine Dorf Haworth, knapp 15 Kilometer entfernt von Thornton in Yorkshire zieht, wo sie am 30. Juli 1818 geboren wird. Der Tod der Mutter drei Jahre später darf als traumatisches Ereignis für alle Brontë-Kinder gewertet werden, wie die Vielzahl von Waisen im Werk aller Brontës bekräftigt. Verwaist oder fremd-sein und -bleiben und Heimweh sind zentrale Leitmotive, die, wie noch zu zeigen sein wird, in Wuthering Heights sowohl das Liebeserleben als auch die Erkenntnisprozesse im Roman charakterisieren. Mit nur wenigen kurzen Ausnahmen wird Emily Brontë zuhause unterrichtet, und auch ihre späteren Aufenthalte fern von Haworth, in denen sie mehrfach versucht, als Lehrerin Fuß zu fassen, sind nicht glücklich. Emily bevorzugt ihre gewohnte, häusliche Umgebung, die trotz aller Enge ihrer Imagination schon als Kind auch Raum bietet. Als ihr Vater eines Tages Spielzeugsoldaten aus Holz mit nach Hause bringt, erfinden die drei Schwestern und ihr Bruder Branwell damit Angria - ein imaginäres Reich in Afrika. Emily und ihre jüngere Schwester Anne trennen sich jedoch rasch davon und begründen ihr eigenes Reich - Gondal - das sie in den Pazifischen Ozean legen und welches zum Schauplatz von Geschichten und Gedichten wird. Die Erzählungen sind verloren, die seit 1836 geschriebenen Gedichte zwar vorhanden, jedoch nur schwer zu einer zusammenhängenden Geschichte zusammenzufassen. Offensichtlich jedoch ist, dass Gondal eine Landschaft darstellt, die wie die um Wuthering Heights dominiert wird von energiegeladenen, grausamen Menschen, deren Handeln zu gleichen Teilen von Hass und von Liebe motiviert erscheint. 1842 kehren Emily und Charlotte aus Brüssel zurück, weil ihre Tante gestorben ist, während Charlotte jedoch zurück nach Brüssel geht und dort bekanntermaßen unter der unerwiderten Liebe des Pensionatsleiters M. Heger leidet, bleibt Emily zuhause. Auch ihr Bruder Branwell kehrt 1845 nach gescheiterten Versuchen als Maler und Hauslehrer nach Hause zurück und ertränkt das Selbstwertgefühl von Versagen, Scheitern und Insignifikanz in schwerem Alkoholismus und Opiumkonsum. Aus einem von ihm gemalten Porträt der Brontë-Kinder entfernt er sich morbiderweise retrospektiv selbst (s. Abb. 1). Emily mithin schreibt in dieser Zeit einige ihrer größten Gedichte und eben ihren einzigen Roman Wuthering Heights, der, weil er für einen traditionellen three-decker-Roman nicht lang genug war, zusammen mit Anne Brontës Agnes Grey 1847 von Thomas Newby in Buchform unter dem Pseudonym Ellis Bell publiziert wird. Von der Kritik wird Wuthering Heights mit Fassungslosigkeit aufgenommen, nur wenige Stimmen erkennen die verstörend faszinierende Kraft der Geschichte. Emilys Bruder Branwell stirbt am 24. September 1848, und Emily, die sich nach dem Tode des Vaters vor allem um Branwell kümmert, stirbt rasch danach am 19. Dezember 1848 dreißigjährig an Tuberkulose oder, was wahrscheinlicher ist, an einer Lungenentzündung, sich bis zuletzt beharrlich weigernd, sowohl ärztliche Hilfe anzunehmen als auch nur im Bett zu liegen. Stattdessen bestreitet sie das Alltagsgeschäft weiter, Emily Brontë Wuthering Heights 131 um dabei ‚der Natur ihren Lauf zu lassen’. Charlotte Bronte soll Emilys Sterben später als ein ‚schreckliches Spektakel’ beschreiben. Abbildung 1: Branwell Brontë, „The Brontë Sisters“ (c. 1835) 1 Charlotte ist es auch, die vor allem um Emily zu schützen wohlmeinend im Vorwort zur 1850er Ausgabe das Bild des naiven Naturkindes Emily Brontë kolportiert, das nicht recht wusste, was es tat, als es Wuthering Heights schrieb. Charlotte selbst hat dies in den folgenden Jahren mehrfach widersprüchlich korrigiert: Auf der einen Seite ist es natürlich richtig, dass Emily die meiste Zeit ihres Lebens zuhause in der Abgeschiedenheit Yorkshires zubrachte und kaum Erfahrungen großer Leidenschaf- 1 R. L. Wilson, The Brontës (London: Ward Lock Educational, 1980, 1 1932), p. 71. Martin Middeke 132 ten machen konnte, auf der anderen Seite jedoch zeitigen die kurze Lehrtätigkeit und der Auslandsaufenthalt ohne den Vater größere Lebenserfahrungen als die allermeisten Frauen im frühviktorianischen Zeitalter solche vor der Heirat hätten machen können. Was bleibt ist somit ein rätselhaft ambivalentes Persönlichkeitsbild Emily Brontës - ein Eindruck, den der Text ihres einzigen Romans bestätigt. III Ein kurzer Blick auf die Genealogie des Romans (Abb. 2) 2 erleichtert das Verstehen der Interaktionen und ruft die Eckdaten der Chronologie des Romans in Erinnerung. Im Jahr 1771 bringt Mr. Earnshaw Heathcliff heim; 1784 stirbt Heathcliffs große Liebe Catherine, und wird deren Tochter mit Edgar Linton, Cathy, geboren; im Herbst 1801 mietet Lockwood Thrushcross Grange; im März 1802 verlässt Lockwood Yorkshire; im September des gleichen Jahres kommt er - fünf Monate nach Heathcliffs Tod - zurück; im Jahre 1803 wollen Cathy und Hareton heiraten. Abbildung 2: Genealogie Der wohlwollende Mr. Earnshaw zieht zusammen mit seinen Kindern Catherine (Cathy) und Hindley auf dem auf einer sturmumtosten Anhöhe in der Moorlandschaft Yorkshires gelegenen Gutshof Wuthering Heights einen Findling auf, den er „Heathcliff“ getauft hat. Er und Catherine empfinden Liebe für den fremden Jungen mit seinem schroffen Wesen und aufbrausenden Temperament, aber Hindley verfolgt ihn mit eifersüchtigem Hass. Während Hindley ihn nach dem Tod des Vaters quält und demütigt, versucht Catherine, Heathcliff in Schutz zu nehmen. 2 Stuart Daley, „A Chronology of Wuthering Heights,“ Huntington Library Quarterly 37 (1974): 337-53. Emily Brontë Wuthering Heights 133 Beide fühlen eine starke Wesensverwandtschaft und sind unzertrennlich. Wenige Jahre später tritt jedoch mit dem wohlhabenden, kultivierten Edgar Linton ein junger Mann in ihr Leben, dessen Charakter zu Heathcliff einen ebenso großen Gegensatz bildet wie die gepflegte Atmosphäre von Thrushcross Grange, des im Tal gelegenen Herrenhauses der Lintons, zur kalten Dunkelheit Wuthering Heights’. Als Catherine unbeherrscht der Haushälterin Ellen (Nellie) Dean erklärt, sie halte Heathcliff, obwohl sie ihn liebe, für ihrer nicht würdig, verlässt Heathcliff, nachdem er zufällig Zeuge dieser Bemerkung wird, wütend Wuthering Heights. Er hört jedoch nur den ersten Teil von Catherines Rede, den zentralen Punkt hört er nicht: I was only going to say that heaven did not seem to be my home; and I broke my heart with weeping to come back to earth; and the angels were so angry that they flung me out, into the middle of the heath on the top of Wuthering Heights; where I woke sobbing for joy. That will do to explain my secret, as well as the other. I’ve no more business to marry Edgar Linton than I have to be in heaven; and if the wicked man in there had not brought Heathcliff so low, I shouldn’t have thought of it. 1t would degrade me to marry Heathcliff now so he shall never know how I love him; and that, not because he’s handsome, Nelly, but because he’s more myself than I am. Whatever our souls are made of, his and mine are the same, and Lintons is as different as a moonbeam from lightning, or frost from fire. (63) Und noch deutlicher: What were the use of my creation if I were entirely contained here? My great miseries in this world have been Heathcliff’s miseries, and I watched and felt each from the beginning; my great thought in living is himself. If all else perished, and he remained, I should still continue to be; and, if all else remained, and he were annihilated, the Universe would turn to a mighty stranger. I should not seem a part of it. My love for Linton is like the foliage in the woods. Time will change it, I’m well aware, as winter changes the trees - my love for Heathcliff resembles the eternal rocks beneath - a source of little visible delight, but necessary. Nelly, I am Heathcliff - he’s always, always in my mind - not as a pleasure, any more than I am always a pleasure to myself - but, as my own being - so, don’t talk of our separation again - it is impracticable. (64) In der Tendenz ist dies tragisch, weil der Fortgang des Romans sich jedoch aus dieser Differenz, aus diesem Missverständnis ableitet. Nach Jahren kehrt Heathcliff als reicher Mann zurück, findet Catherine (die lange vergeblich auf Nachricht von ihm gewartet hat) als Edgar Lintons Frau wieder und sinnt von nun an nur noch auf mitleidlose Rache. Er verdirbt Hindley durch Alkohol und Glücksspiel, um alleiniger Herr von Wuthering Heights zu werden, und führt einen erbarmungslosen Kampf gegen die Lintons und um Thrushcross Grange. Er stürzt Catherine in einen verzweifelten Konflikt zwischen Liebe und Treue und Edgars unreife Schwester Isabella, die sich geschmeichelt von ihm entführen lässt, in eine geplant-alptraumhafte Ehe mit ihm. Wenn er selbst nicht die Liebe haben kann, nach der er sich sehnt, dann kann er, so scheint es, jede andere Liebe auch zerstören. Seine Frau solle ihn, so sagt er zynisch, nicht lieben, sondern hassen: This morning she announced, as a piece of appalling intelligence, that I had actually succeeded in making her hate me! A positive labour of Hercules, I assure you! If it be Martin Middeke 134 achieved, I have cause to return thanks. Can I trust your assertion, Isabella? Are you sure you hate me? If I let you alone for half-a-day, won’t you come sighing and wheedling to me again? I dare say she would rather I had seemed all tenderness before you; it wounds her vanity, to have the truth exposed. But I don’t care who knows that the passion was wholly on one side, and I never told her a lie about it. She cannot accuse me of showing one bit of deceitful softness. The first thing she saw me do, on coming out of the Grange, was to hang up her little dog; and when she pleaded for it the first words I uttered were a wish that I had the hanging of every being belonging to her, except one: possibly she took that exception for herself. But no brutality disgusted her. I suppose she has an innate admiration of it, if only her precious person were secure from injury! Now, was it not the depth of absurdity - of genuine idiocy for that pitiful, slavish, mean-minded brach to dream that I could love her? Tell your master, Nelly, that I never, in all my life, met with such an abject thing as she is. She even disgraces the name of Linton; […] I have avoided, up to this period, giving her the slightest right to claim a Separation; […] If she desired to go she might: the nuisance of her presence outweighs the gratification to be derived from tormenting her! (118) Nach einer Aussprache in Thrusscross Orange verliert Catherine den letzten Lebenswillen; sie stirbt im Glauben, Verrat an ihrer Liebe begangen zu haben. Für Heathcliff gleichwohl lebt sie weiter als Idee und als Vision, die ihn bis zu seinem Ende heimsuchen wird. Als eine neue Generation heranwächst, macht Heathcliff auch diese zum Instrument und Opfer seiner Rache. Er verheiratet seinen und Isabellas kränklichen Sohn Linton mit Catherines und Edgars Tochter Cathy, die ihrer Mutter täuschend ähnlich sieht, aber frei ist von deren Egoismus. Linton hingegen gleicht in seiner Grausamkeit und seinem Menschenhass Heathcliff, ohne freilich dessen Energie und seine Fähigkeit zu großen Gefühlen zu besitzen. Heathcliff nimmt zuletzt noch Rache an Hindley Earnshaws Sohn Hareton, den er auf Wuthering Heights aufwachsen lässt, um an ihm die grausamen Demütigungen zu wiederholen, die er einst durch dessen Vater erhalten hat. Hareton wird dadurch hart und verstockt, jedoch nicht böse, woraus sich schließen lässt, dass Emily Brontë menschliche Grausamkeit (in Hareton und in Verlängerung somit auch in Heathcliff) nicht nur als Produkt einer grausamen Behandlung durch andere - also sozial - motiviert sieht, sondern dass vielmehr das Böse im Menschen von Anfang an angelegt ist und sich irrational und unvorhersehbar seine Bahn bricht. Bevor nun Heathcliff auch das Leben Cathys und Haretons, deren Liebe die unheilvollen Kräfte zu besiegen in der Lage zu sein scheint, zerstören kann, stirbt er unter mysteriösen Umständen und ist im Tod mit seiner Geliebten vereint. IV Die Struktur des nicht chronologisch erzählten Romans, dessen Geschehen aus der Perspektive zweier Randfiguren dargestellt ist, mutet geradezu modern an. Zur Logik der Rahmenerzählung: Nelly Dean, die treue, freilich biedere Haushälterin der Earnshaws, die die Ereignisse von Anfang an miterlebt hat, wird von Mr. Lockwood, der als Mieter von Thrushcross Grange kurz vor Heathcliffs Ende zufällig Zeuge Emily Brontë Wuthering Heights 135 ihm rätselhafter Vorgänge wird, um eine Erklärung gebeten, und Nelly erzählt ihm alles, was bis zu diesem Zeitpunkt geschehen ist. Als Lockwood nach Heathcliffs Tod von einer Reise zurückkehrt, erfährt er, wiederum von Nelly Dean, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat. Es ist ein großer Kunstgriff Emily Brontës, das Gesamtgeschehen durch die Augen zweier solcherart unzuverlässigen - weil voreingenommenen und unwissenden - Erzähler/ -innen-Instanzen zu präsentieren: Nelly’s Horizont bleibt von einer christlicher Moral verhafteten, schlichten, imaginationslosen und dazu noch manipulierenden Beschränktheit. Und nur ein Außenseiter und Narr wie Lockwoood könnte die Resignation des romantischen Todeswunsches, in den sich Heathcliff zurückzieht, seinen Verkehr mit visionären Erscheinungen seiner Geliebten, die nekrophil akzentuiert sind und einem pathologischen Realismus folgen, der an Edgar Allan Poe erinnert, und die Liebe der neuen Generation zwischen Cathy und Hareton zuletzt als Versöhnung, Verzeihung, Erlösung vom Fluch im Tod, ja sogar Friede mit Gott empfinden: I lingered round them, under that benign sky; watched the moths fluttering among the heath and hare-bells; listened to the soft wind breathing through the grass; and wondered how any one could ever imagine unquiet slumbers for the sleepers in that quiet earth. (258) Die beiden unzuverlässigen Erzählinstanzen im Roman tragen von Beginn an dazu bei, dass jede Darstellung, jede Wertung des Geschehens immer destabilisiert erscheint, und so wird auch das Handlungsgeschehen davon abgehalten, einerseits ins Unglaubhafte - was Nelly und Lockwood sich vorstellen können, ist, wie der Roman zeigt, noch lange nicht die Grenze des Vorstellbaren - oder ins Klischee-, Kitsch- oder gar Schmonzettenhafte abzugleiten - etwas was in diesem Roman im Vergleich zu sämtlichen Verfilmungen des Stoffes, eine Überlegenheit der Literatur manifestiert. Was der Roman hier erreicht ist, dass er offene Fragen offen lässt und beharrlich dem Versuch widersteht, Ambivalenzen, Ambiguitäten und Differenzen in feste oder dialektisch-organische Meinungen aufzulösen. Wie Gaby Allrath und vor ihr Ansgar Nünning überzeugend gezeigt haben, liefern in diesem multiperspektivisch erzählten Roman beide unzuverlässigen Erzähler widersprüchliche Versionen der fiktionalen Fakten, deren Synthetisierung sich als unmöglich erweist. Lockwood dient als extradiegetischer Erzähler der Rahmenhandlung, Nelly Dean als Erzählerin der darin eingebetteten Geschichte, und eine weitere Anzahl von Figuren übernehmen passagenweise die Rolle von intradiegetischen Erzählinstanzen. Der Roman ähnelt von außen daher einer Matryoshka, einer russischen Puppe ineinander verschachtelter Erzählerinstanzen. Ein großer Teil der, von der Erzählgegenwart aus betrachtet, in der Vergangenheit liegenden Handlung wird somit mehrfach multiperspektivisch gebrochen. Lockwood steht der Welt der Yorkshire Moore und ihren Bewohnern verständnislos gegenüber und bleibt während seiner Zeit in Yorkshire ein Fremder, ein Außenseiter, unfähig, die Zeichen dieser Welt richtig zu deuten: Einen Haufen toter Hasen hält er für Katzen, Catherine hält er für Mrs Heathcliff. In der Summe sind Martin Middeke 136 sämtliche seiner Irrtümer rezeptionsästhetische Warnungen für Leser, allzu schnell wie er selbst Schlüsse aus Beobachtungen zu ziehen. Lockwood sucht Einsamkeit in Yorkshire („This is certainly, a beautiful country! In all England, I do not believe that I could have fixed on a situation so completely removed from the stir of society. A perfect misanthropist’s heaven“, 45), und doch sucht er immer wider die Nähe seiner Nachbarn und selbst später noch die Gesellschaft Nellys, wobei er aus der Not seiner Inkonsistenz und Selbststilisierung selbst noch eine Tugend macht: „What vain weather-cocks we are“ (74). Die intradiegetische Erzählerin Nelly Dean ist Lockwood diametral entgegengesetzt angelegt: Emotional ist sie, da sie als Hausangestellte die Familie seit langem kennt, hin- und hergerissen zwischen Zuneigung, Abhängigkeit und Widerstand. So sehr sie empathisch-emotional jedoch auch involviert sein mag, so sehr mangelt es ihr wiederum an Vorstellungskraft, Mut und Bildung, über Konventionelles hinauszudenken. Aus beiden solcherart limitierten Perspektiven können nur Verzerrungen des Geschehens entstehen. Beide Perspektiven stellen problematische Werte- und Ordnungsmuster dar, wobei auf der Metaebene der Textethik Brontë es dadurch erreicht, moralische Probleme und dieser und anderer Wertesysteme kollidieren zu lassen und diese multiplen Betrachtungsweisen nicht in jener homogenen Textwelt künstlich zu harmonisieren, die für eine Vielzahl von Romanen im ‚realistischen’ 19. Jahrhundert so typisch und geradezu genrebildend ist. Diese in der Erzählstruktur verankerten Ambivalenzen und Unentscheidbarkeiten werden von der Bildlichkeit und Naturdarstellung des Textes vollends bestätigt. Den Roman zeichnet eine kontrastierende Sprachverwendung aus Alltagsprosa und an Stellen, wie etwa der oben zitierten ‚I am Heathcliff’-Rede Catherines, deutlich zu Tage tretenden poetischen Sprache aus. Manierismen finden sich tatsächlich nur in Nellys Sprache und im Salonstil des Städters Lockwood, die allesamt pompös und in der Umgebung Wuthering Heights’ völlig deplatziert wirken. Die Metaphorik des Romans wirkt unforciert und bleibt am unmittelbaren Erfahrungshorizont der Charaktere orientiert. Auffällig ist die extreme Häufung von Tiermetaphern gerade im Hinblick auf Heathcliff, der nicht nur als ‚Teufel’ oder ‚Satan’, sondern mehrfach auch als ‚Tier’ bezeichnet wird. Catherine warnt Isabella vor ihm, indem sie ihr in als „fierce, pitiless, wolfish man“ vorstellt, der nicht zögern werde „to crush you like a sparrow’s egg.“ Nelly hat Zweifel in der Gegenwart Heathcliffs, ob sie „in the company of a creature of my own species“ sei (125); mehrfach fletscht er die Zähne, reißt den Mund auf, und knirscht mit den Zähnen, schäumend vor Wut „like a mad dog.“ Catherine steht ihm hier in kaum etwas nach: „There she lay,“ erinnert Nelly, „dashing her head against the arm of the sofa, and grinding her teeth, so that you might fancy she would crash them to splinters.“ (93) Für Brontë scheinen Mensch und Tier von der gleichen Natur zu sein: rücksichtslos, gewalttätig, indifferent, brutal, vergänglich. Während sie Federn aus einem Kissen zieht, erinnert sich Catherine, dass sie mit Heathcliff als Kind auf der Heide ein Nest mit kleinen Kiebitzen gesehen hat: And here is a moor-cock’s; and this - I should know it among a thousand - it’s a lapwing’s. Bonny bird; wheeling over our heads in the middle of the moor. It wanted to get to its nest, for the clouds touched the swells, and it felt rain coming. This feather was Emily Brontë Wuthering Heights 137 picked up from the heath, the bird was not shot; we saw its nest in the winter, full of little skeletons. Heathcliff set a trap over it, and the old ones dare not come. I made him promise he’d never shoot a lapwing after that, and he didn’t. Yes, here are more! Did he shoot my lapwings, Nelly? (96) Ein Nest voller kleiner Gerippe; Heathcliff legt eine Schlinge über das Nest, das die Alten von den Jungen fernhält - ein böses, grausames Bild, das im Besonderen das Allgemeine jener Armee von dem Tod geweihten, heimatlosen Kindern sichtbar macht, zu der Heathcliff und mit Abstrichen Catherine selbst gehören. Die Indifferenz und Erbarmungslosigkeit der Natur werden von Wuthering Heights selbst gespiegelt. Das Adjektiv ‚wuthering’ selbst ist ein Ausdruck des Yorkshire Dialekts, der keineswegs allein nur das Wild-Romantische der Moorlandschaft von Yorkshire, sondern deren Unwirtlichkeit, die schrecklichen Unwetter, den Schnee, den Regen, die Kälte, alles dem Menschen Widerstrebende und Unzugängliche transportiert. Zwischen den Mooren und der zivilisierten Welt Londons herrscht ein starker Kontrast, der es Lockwood bezeichnend unmöglich macht, etwa den Weg von Wuthering Heights nach Thrushcross Grange allein zu finden, Lockwood wird in dieser Landschaft niemals heimisch und ist jedes Mal froh, sie wieder verlassen zu können. Für Heathcliff und Catherine hingegen ist gerade diese Natur seit der Kindheit ein Refugium, ein Ort, der ihre Seelenverwandtschaft bezeugt. Die Natur bedeutet für beide Freiheit, die sowohl in Wuthering Heights als auch in Thrushcross Grange eingeschränkt ist. Analog zum Kontrast zwischen der offenen Natur und der Geschlossenheit der Häuser, bedeutet das Leben in diesen Häusern Gefangenschaft, Heathcliff benutzt das Haus als Gefängnis, als er Nelly, Cathy und Linton dort gefügig machen will. Immer wieder trennen zudem Grenzen und Fenster in Wuthering Heights gegensätzliche Welten: draußen und drinnen, Freiheit und Gefangenschaft, Emotionalität und Rationalität. Dabei sind die Fenster zum einen Abtrennungen, zum anderen aber auch Verbindungen; sie lassen sich öffnen, sind durchsichtig, dünn und zerbrechlich. In den Todesmomenten von sowohl Heathcliff und Catherine reißen beide die Fenster gegen jeden Ratschlag weit auf. Für beide ist das symbolisch offene Fenster, das die Natur ins geschlossene Gebäude lässt, Lebenselixier mit einer geradezu paradox todbringenden, aber zugleich auch heilenden Wirkung. Catherine wird von der sanften Tallage, von der zivilisierten und luxuriösen Welt von Thrushcross Grange verführt, wie Stephan Dörr ausgeführt hat: Das Haus begegnet dem Leser damit auch als Stätte der Korruption. Brontë variiert hier den in romantischer Literatur sichtbaren Gegensatz von Stadt und Land, zwischen verdorbener und unschuldiger Natur (etwa bei Wordsworth), indem sie in der Opposition zweier Häuser, Thrushcross Grange und Wuthering Heights, die korrumpierende Wirkung der Gesellschaft, die den Menschen von seinem Naturzustand entfernt, veranschaulicht. In einem Fieberwahn erteilt Catherine ihrem Mann Linton und dem korrumpierenden Ort eine Absage: „What you touch at present, you may have; but my soul will be on that hilltop before you lay hands on me again. I don’t want you, Edgar; I’m past wanting you. Return to your books. I’m glad you possess a consola- Martin Middeke 138 tion, for all you had in me is gone“ (100). Ihr Grab soll in der offenen Natur sein: „They can’t keep me from my narrow home out yonder, my resting place where I’m bound before spring is over! There it is, not among the Lintons, mind, under the chapel-roof; but in the open air with a head-stone“ (100). Innen und Außen/ Natur und Kultur/ Thrushcross Grange und Wuthering Heights avancieren somit zu solch ambivalenten Bildern wie die Kippfigur des Feuers eines ist, das wärmt, zugleich aber auch Zeichen trügerischer Hoffnung und Chiffre zerstörerischer Gedanken, Leidenschaften und Gewalt ist. Vom offenen Kamin aus wirft Heathcliff ein Messer nach Isabella (217), und nachdem Heathcliff Cathy in Wuthering Heights eingesperrt hat, schlägt er sie brutal: „[He] seized her with the liberated land, and, pulling her on his knee, administered with the other, a shower of terrific slaps on both sides of the head“ (302). In welchem Maße das Leben in Heathcliffs Haus verrohend auf die Menschen darin wirkt, zeigt Isabellas Beschreibung ihrer Flucht von Wuthering Heights: „In my flight through the kitchen [...] I knocked over Hareton, who was hanging a litter of puppies from a chairback in the doorway“ (217) Isabella stößt ihren kleinen Neffen um, ohne sich um ihn zu kümmern, und eben dieser kleine Junge ist gerade dabei, eine der rohesten Handlungen in Emily Brontës Roman zu begehen: Er erhängt mit Bedacht einen Wurf Welpen an einer Stuhllehne. Wie wenig aufsehenerregend ein solcher Akt in Wuthering Heights ist, zeigt die Tatsache, dass er nur in einem Nebensatz beiläufig erwähnt wird. Heathcliff selbst erscheint auf den ersten Blick bereits als paradigmatischer Byronic Hero: archetypisch, intelligent, indifferent gegenüber dem Wohl der Allgemeinheit, zynisch, stolz, rücksichtslos, ein Außenseiter, der allein nach Durchsetzung eines Verlangens strebt. Damit steht Heathcliff in einer langen intertextuellen Charakterreihe, die von Satan in Miltons Paradise Lost, Byrons Childe Harold, The Giaour, The Corsair, Manfred bis hin zu modernen Varianten wie Joyces Stephen Dedalus oder gar Rhett Butler in Mitchells Gone with the Wind reicht. Nach bislang Gesagtem verwundert es jedoch nicht mehr, dass Emily Brontë der Figur des Heathcliff eben nicht nur Züge des Leidenschaftlichen, Gewalttätigen und Rücksichtslosen, sondern zugleich menschliche Züge gibt. Als Hindley seinen Sohn Hareton über ein Treppengeländer fallen lässt, ist es Heathcliff, der ihn auffängt und rettet; viele Gewaltakte droht er nur an und stilisiert oft bewusst diese grausame Aura. Überdies sind, was der Erzählstruktur des Romans geschuldet ist, viele seiner Gewaltakte Produkte der Erzählungen anderer, Produkte also der Interpretations- oder Stilisierungsleistung anderer. Seine Beziehung zu Catherine ist gekennzeichnet von Mitgefühl, Anteilnahme und Verständnis. Er betont, dass er Edgar niemals etwas antun könnte, weil es Catherine schmerzen könnte. Tatsächlich ist Heathcliff der einzige Charakter im Roman, der sein Leben für das eines anderen bereitwillig opfern würde, der geradezu altruistisch seine Interessen hinter denen Catherines zurückstellt. In diesem Sinne - und freilich NUR in diesem Sinne - ist Heathcliff, wie Martha Nussbaum gezeigt hat, „not only the only living person among the dead, the only civilized man among savages, he is in a genuine if peculiar sense, the only Christian among the Pharisees“ (403). Emily Brontë Wuthering Heights 139 V Heathcliff wird so zu einem Charakter, der sich - wie der Roman im Ganzen - einer eindeutigen Festlegung beständig entzieht. Dies ist der zentral moderne Aspekt der literarischen Epistemologie von Emily Brontës Roman: Die Welt, die Charaktere und ihre Handlungen sind multiperspektivisch gebrochen, die Dinge sind nicht mehr die, die sie sind, sondern die, die sie scheinen. Rezeptionsästhetisch gewendet, durchkreuzt Emily Brontë damit jeden Versuch der Leser/ Rezipienten (fiktiver wie realer), in dem Text eine gültige, einheitliche und kohärente Bedeutung zu ermitteln - womit nicht gesagt ist, das eine solche quasi als Desiderat mit all der Offenheit und Ambiguität nicht koexistiert. Alles, was wir wissen, wissen wir aus den Interpretationen der verschiedenen Perspektiven, aus der widersprüchlichen netzartigen Ineinanderschachtelung nebeneinander stehender Deutungen des Geschehens. Sämtliche kippfigurenartig funktionierenden Gegensätze des Romans bestätigen dies: die Genrehybridität aus sozialem Realismus und romanzenhafter Gothic Fiction; die ethisch moralische Trennung in Gut/ Böse; die Häuser Wuthering Heights/ Thrushcross Grange; deren Innen/ Außen; Gleichheit/ Differenz (in den vielen Dopplungen und Wiederholungen); Häuslichkeit/ Natur; Freiheit/ Gefangenschaft; Grausamkeit/ Mitgefühl; Distanz und Empathie. Die beiden Catherines sind ähnlich und verschieden; Catherines „I am Heathcliff“ indiziert eine psychologische Nähe oder gar Gleichheit, bei gleichzeitiger logischer Trennung und Verschiedenheit. Nirgendwo im Roman bekommt der Leser einen verlässlichen Zugang dazu, wie diese Oppositionen auch nur ansatzweise entstanden sind: er muss sich interpretierend mit der Situation ständiger Nachzeitigkeit begnügen. Leser/ Interpreten des Romans finden sich in derselben Grundsituation von desire/ Sehnsucht auf der einen und Abwesenheit des Aktuellen und Faktischen auf der anderen wieder, die die Liebesbeziehung von Heathcliff und Catherine charakterisiert. Und auch Lockwood und Nelly sind und bleiben letztlich fremde Gäste und Interpreten des Geschehens und der Welt Wuthering Heights’. Als Lockwood zu Beginn des Romans dort notgedrungen übernachten muss, liest er die verwirrenden Zeilen des Tagebuchs von Catherine und beginnt zu träumen, zunächst von einer Predigt des Pfarrers Jabes Branderham, der in vierhundertneunzig Teilen vierhundertneunzig Sünden interpretiert. Lockwood wacht auf, versucht kurz das Geträumte zu interpretieren, und träumt dann weiter, wobei er im Moment des Erzählens bereits das Erzählte/ Wahrgenommene interpretiert: This time, I remembered I was lying in the oak closet, and I heard distinctly the gusty wind, and the driving of the snow; I heard, also, the fir-bough repeat its teasing sound, and ascribed it to the right cause; but it annoyed me so much, that I resolved to silence it, if possible; and, I thought, I rose and endeavoured to unhasp the casement. The hook was soldered into the staple, a circumstance observed by me when awake, but forgotten. “I must stop it, nevertheless! ” I muttered, knocking my knuckles through the glass, and stretching an arm out to seize the importunate branch: instead of which, my fingers closed on the fingers of a little, ice-cold hand! The intense horror of nightmare came over me; I tried to draw back my arm, but the hand clung to it, and a most melancholy voice sobbed — Martin Middeke 140 “Let me in — let me in! ” “Who are you? ” I asked, struggling, meanwhile, to disengage myself. “Catherine Linton,“ it replied, shiveringly (why did I think of Linton? I had read Earnshaw twenty times for Linton). “I’m come home, I’d lost my way on the moor! ” As it spoke, I discerned, obscurely, a child’s face looking through the window. Terror made me cruel; and, finding it useless to attempt shaking the creature off, I pulled its wrist on to the broken pane, and rubbed it to and fro till the blood ran down and soaked the bed-clothes: still it wailed, “Let me in! ” and maintained its tenacious gripe, almost maddening me with fear. “How can I? ” I said at length. “Let me go, if you want me to let you in! ” The fingers relaxed, I snatched mine through the hole, hurriedly piled the books up in a pyramid against it, and stopped my ears to exclude the lamentable prayer. I seemed to keep them closed above a quarter of an hour, yet, the instant I listened again, there was the doleful cry moaning on! “Begone! ” I shouted, “I’ll never let you in, not if you beg for twenty years! ” “It’s twenty years,” mourned the voice, “twenty years, I’ve been a waif for twenty years! ” (20-21, meine Hevorhebungen) Lockwood ist der schlechteste aller möglichen Interpreten des Geschehens, weil das Erlebte ihm Angst macht und weil er - und das sagt sein Name schon - sich aus dieser Angst vor diesem Geschehen verschließt. ‚Furcht mache ihn grausam’, wie er es selbst ausdrückt, und Rationalität in Form eines Stapels Bücher vor dem Fenster und zugehaltene Ohren sind seine törichten Rettungsversuche - Verdrängungsmechanismen, gleichsam geschlossene Interpretationsweisen, die sich der Heterogenität des Geschehens im wahrsten Sinne des Wortes nicht nur nicht öffnen können, sondern die Fenster möglicher differenter und wohlwollender Interpretationshorizonte aktiv geschlossen halten. Lockwood strebt nach dieser unreifen Geschlossenheit noch in dem Moment, als er längst wach ist und dennoch Catherines Stimme hört. Was somit metafiktional bzw. literaturepistemologisch für den Interpreten oder die Interpretationsbreite des Romans gilt, die aus Brontës Sicht genau nicht in organischer Geschlossenheit und logischer Kohärenz zu fassen ist, gilt auch für die aus Wuthering Heights sprechende Konzeption der Liebe und der Liebenden: Heathcliffs und Catherines Liebe zueinander erwartet totale Hingabe, totale Offenheit - wenn man will, ein bereitwillig geöffnetes Fenster für das Andere, das Fremde, das um Einlass bittet. Sich aufeinander einzulassen kann für beide den Tod bedeuten, und wenn es nur der Tod einer Welt wäre oder der Tod einer Welt, so wie man sie vorher kannte. Im Falle Heatchcliffs und Catherines ahnen beide, dass ihr Todesmoment ihre Vereinigung bedeutet. Liebe bedeutet hier, wie in jeder starken Interpretation, die Feinporigkeit und damit die Durchlässigkeit des Gegenübers, des Anderen - sei es ein Geschehen, eine Person, eine Idee oder ein Text - anzuerkennen. Darin liegt das kreative, imaginative Potential von Liebe wie von Interpretation, das Wuthering Heights so nachhaltig anspricht und freisetzt. Was Catherine und Heathcliffs Liebe zueinander betrifft, ist es somit, wie Martha Nussbaum gezeigt hat, gar nicht so sehr die Frage, warum Heathcliff Catherine nicht bekommt. Die Frage muss vielmehr lauten: Warum kann Catherine Heathcliff nicht akzeptieren? Warum muss sie diese Liebe verraten? Warum kann sie ihrer eigenen Seele nicht treu sein? Warum muss sie Begehren domestizieren? Wie Lockwood gibt Emily Brontë Wuthering Heights 141 sie diesen Teil ihrer Seele auf aus Furcht vor einer totalen Aufgabe jedes Widerstandes oder Rettungsankers, den die rückhaltlose Liebe zu Heathcliff bedeuten würde. Vielmehr gibt sie der sichereren, konventionelleren Liebe zu Edgar nach, obwohl sie weiß, dass, wie es im Text heißt, „das gesamte Meer genauso gut in einen Pferdetrog passen, wie ihre ganze Zuneigung nur diesem Mann [Linton] gelten könnte.“ Beide Seiten sind in Catherines Psyche und Charakter offensichtlich gleich angelegt und miteinander verklammert - die Furcht wie die Sehnsucht - und so bleibt das Bild der drei rätselhaften Grabsteine, an denen Lockwood zuletzt vorbeigeht, „the middle one, grey, and half buried in heath - Edgar Linton’s only harmonized by the turf, and moss creeping up its foot - Heathcliff’s still bare“ (258) ein entsprechend doppelgesichtiges, unheimliches, weil heimlich heimisches Emblem. Diese Doppelgesichtigkeit entlarvt auch Lockwoods harmonisierende Schlusssentenz von der „quiet earth“ (258) als idealisiertes Wunschbild der Verdrängung: Wuthering Heights wie Wuthering Heights bleiben bis zu Letzt von Gespenstern heimgesucht, von Unbestimmtheit, Mehrstimmigkeit, Ambiguität. Liebende wie Interpreten beziehen die Beseeltheit ihrer Liebe und ihrer Interpretationen aus dieser Differenz. Ein kleiner Junge sagt Lockwood, er habe Catherine und Heathcliff im Moor gesehen und seine Schafe seien nicht weitergezogen. Lockwood schaut und sieht [...] nichts. Gute Leser, gute Interpreten, gute Liebende sollten sie sehen, würden sie sehen - um den Preis freilich ruheloser Nächte in einer alles andere als ruhigen Erde. Literaturverzeichnis Primärliteratur Brontë, Emily: Wuthering Heights. Hg. Richard J. Dunn. New York 2003. Brontë, Emily: Sturmhöhe. Übers. Michaela Meßner. München 1997. Sekundärliteratur Allrath, Gaby: „Multiperspektivisches Erzählen und synthesestörende Strategien im englischen Frauenroman des 19. Jahrhunderts aus der Sicht einer feministischen Literaturwissenschaft. Subversive Varianten des single-point perspective system bei Jane Austen, Emily Brontë und George Eliot“. Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18.-20. Jahrhunderts. Hgg. Vera und Ansgar Nünning. Trier 2000. 175-198. Daley, Stuart: „A Chronology of Wuthering Heights“. Huntington Library Quarterly 37 (1974): 337-53. Dörr, Stephan. ‚Earth rising to heaven and heaven descending’: Die Werke Emily Brontës im Kontext der englischen Romantik. Frankfurt a. M. 1995. Miller, J. Hillis: Fiction and Repetition. Seven English Novels. Cambridge, MA. 1982. Nussbaum, Martha: „Wuthering Heights: The Romantic Ascent“. Philosophy and Literature 20 (1996): 362-382. Waldmann, Werner: Die Schwestern Brontë. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1990. Wilson, R. L.: The Brontës. London 1980, 1 1932. Herman Melville Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall-Street Hubert Zapf I Vorbemerkungen Herman Melvilles Erzählung „Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall-Street“ gehört wie ihre mysteriöse Hauptfigur zu jenen Texten, die nach ihrem eher unauffälligen Erscheinen zu einem umso nachhaltiger präsenten Bestandteil der Weltliteratur geworden sind. War die Geschichte von Bartleby, wie die anderen Werke Melvilles, bis lange Zeit nach seinem Tod weitgehend unbeachtet geblieben, so ist sie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer der meistdiskutierten modernen Erzählungen geworden, die gerade in ihrer Widerständigkeit gegen hermeneutische Verstehensansprüche nicht nur die Literaturwissenschaft, sondern auch die neuere Philosophie, Kulturtheorie und Kunst immer wieder beschäftigt haben. Auch ihre nachträgliche umstandslose Einordnung in einen autoritativen Kanon großer Literatur würde nicht dem Irritationspotential dieser Erzählung gerecht, die sich nicht in normativen Beständen gesicherter Tradition und gesicherten Wissens archivieren lässt, sondern vielmehr eine radikale Herausforderung für jegliche literaturgeschichtliche Vereinnahmung darstellt, ganz im Sinn der berühmten Formel „I would prefer not to,“ mit der der Protagonist die Aufkündigung seiner professionellen Tätigkeit als scrivener, als Schreiber, kundtut. Verweigerung schlüssiger Zuordnungen und unabweisbare Präsenz scheinen sich im Fall von Bartleby gegenseitig zu bedingen, im Text selbst wie in seiner Rezeption in zeitgenössischer Kulturtheorie und Praxis. Was letztere anbelangt, so findet gerade in diesen Wochen in München eine Kunstausstellung statt, in der verschiedenste, gesellschaftskritisch inspirierte Videoinstallationen und Kurzfilme unter dem programmatischen Titel „I would prefer not to“ präsentiert werden. In einem unmittelbarer politischen Kontext kann Bartleby als erster Vertreter der „Occupy Wall Street“ Bewegung gesehen werden, die in ihrer Opposition gegen die Herrschaft einer unkontrollierbar gewordenen Finanzwelt durchaus auch von literarischen Vorbildern beeinflusst war und während ihrer Besetzung der Wall Street 2011-2012 eine eigene kleine Bibliothek aufbaute, die dann übrigens bei der Räumung von der Polizei zerstört wurde. In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Debatte selbst hat Melvilles Erzählung neben einer breiten Sekundärliteratur vor allem auch in der neueren Theoriegeschichte ihre unübersehbaren Spuren hinterlassen und ist gewissermaßen zum Testfall für Theorien des New Historicism, der Dekonstruktion, der Postmoderne und der philosophischen Ethik Hubert Zapf 144 geworden. So haben Theoretiker wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Georgio Agamben oder Slavoj Zizek die Figur und Erzählung Bartlebys im Licht ihrer jeweiligen theoretischen Voraussetzungen in je unterschiedlicher Weise interpretiert. Dabei kommt es zu oft sehr eigenwilligen und widersprüchlichen Deutungsansätzen, was nicht allein an der Mehrdeutigkeit der Erzählung selbst liegt, sondern auch daran, dass sie letztere oft relativ stark den jeweiligen theoretischen Prämissen unterordnen und dabei die Hauptfigur und ihre ikonische Formel aus ihrem narrativen Zusammenhang herauslösen, wodurch der Text als ganzer kaum in den Blick genommen wird. Ich möchte mich in meinem Beitrag der ebenso faszinierenden wie rätselhaften Geschichte von Bartleby in folgenden Schritten annähern. Zunächst werde ich kurz etwas zum Leben und Werk Herman Melvilles und zu seiner Stellung in der amerikanischen Literaturgeschichte sagen und die Erzählung „Bartleby“ in diesem Oeuvre verorten. Danach werde ich einige typische Interpretationsansätze vorstellen und mich dann dem Text genauer zuwenden, indem ich Handlung, Erzählsituation, Figuren und andere Textelemente charakterisiere, insbesondere das zentrale Motiv der Wände, und diese am Ende in eine kulturökologische Deutung der Erzählung einbeziehen. II Herman Melville und die American Renaissance Herman Melville gehört zu jener Gruppe von Autoren, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts wesentlich dazu beitrugen, dass die Literatur der USA nach der über ein halbes Jahrhundert zuvor errungenen politischen Unabhängigkeit auch die intellektuelle und literarische Unabhängigkeit gegenüber England und Europa gewann. Lange Zeit war die frühere Kolonie als kulturelle Provinz gesehen worden, deren literarische Hervorbringungen nur ein unbedeutendes Randphänomen der englischen Literatur darstellten, die sich seit Shakespeare und der englischen Renaissance als Zentrum und Inbegriff literarischer Kultur empfand. Dies änderte sich im Lauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich mit Autoren wie James Fenimore Cooper, Edgar Allen Poe, Ralph Waldo Emerson, Margaret Fuller, Henry David Thoreau, Harriet Beecher Stowe, Walt Whitman, Emily Dickinson, Nathaniel Hawthorne, und eben Herman Melville eine eigenständige literarische Kultur Amerikas herausbildete, die später im Rückblick in Analogie zur europäischen und englischen Renaissance mit dem heute fest eingebürgerten Begriff der American Renaissance, der amerikanischen Renaissance, bezeichnet wurde. Jeder dieser Autoren steht für wichtige Innovationen der Literaturgeschichte - James Fenimore Cooper mit seinen Leatherstocking Tales als Begründer der frontier novel und des Western, Edgar Allen Poe als Erfinder des Kriminalromans und der modernen Kurzgeschichte, Ralph Waldo Emerson als Vertreter einer systemtranszendierenden literarischen Philosophie, die zum Vorbild unter anderem für Friedrich Nietzsche wurde, Margaret Fuller als Vorläuferin der modernen Frauenbewegung mit ihrem Manifest Woman in the Nineteenth Century, Henry David Thoreau Resistance to Civil Government und Walden als Vordenker des zivilen Ungehorsams und erster Repräsentant einer ökologi- Herman Melville Bartleby, the Scrivener 145 schen Poetik, Harriet Beecher Stowe mit ihrem Bestseller Uncle Tom’s Cabin als Wegbereiterin des Abolitionismus und der literarischen Aufarbeitung der Sklaverei, Walt Whitman als poetische Stimme der amerikanischen Demokratie und Natur, dessen dionysisch-offene Dichtungsweise das 20. Jahrhundert entscheidend beeinflusst hat, Emily Dickinson als Vertreterin einer experimentellen Lyrik, die die literarische Moderne vorwegnahm, Nathaniel Hawthorne als Repräsentant einer neuen Form des historischen Romans und Vorläufer des magischen Realismus - und eben Herman Melville, auf den wir uns hier beziehen wollen. III Biographische Bemerkungen Melville war Einzelgänger und doch auch Teil dieses literarischen Feldes, Außenseiter und Repräsentant zugleich, der vor allem Nathaniel Hawthorne nahe stand und mit diesem befreundet war, dessen literarische Karriere aber höchst untypisch und wechselhaft verlief. Die „power of blackness“, die er Hawthorne zuschrieb, galt insbesondere auch für Melville selbst, jene Verbindung von Faust und Mephistopheles, von Wahrheitssuche und radikalem Zweifel in einer Person, wie sie auch seinen Werken zugrunde liegt. Erkenntnisdrang und Erkenntnisskepsis, Religion und Rebellion, Mythos und Wissenschaft, Abenteuer und Philosophie, Eigenes und Fremdes, Natur und Kultur gehen in seinem Schreiben eine spannungsreiche Verbindung ein, die zwar immer wieder biographische Elemente enthält, aber diese immer auch verfremdet und in hochgradig komplexe und eigendynamische Bedeutungsprozesse einbezieht. Melville stammte aus einer New Yorker Kaufmannsfamilie und musste, als sein Vater Bankrott machte und früh starb, mit zwölf Jahren die Schule verlassen. Nachdem er sich mit verschiedenen Jobs durchgeschlagen hatte, ging er zur See, unter anderem als Matrose auf verschiedenen Walfangschiffen, eine Erfahrung, auf der sein wichtigstes Werk Moby-Dick, or, the Whale, aber auch seine bereits zuvor geschriebenen, höchst erfolgreichen Südseeromane beruhten. Nachdem er vom Walfangschiff Acushnet, auf dem er 18 Monate lang im südlichen Pazifik unterwegs war, desertiert war, lebte er auf den Marquesas-Inseln mehrere Wochen beim einheimischen Stamm der Typee, die bei den Nachbarvölkern als Kannibalen galten. Zumindest aus seinem Erfolgsroman Typee zu schließen, lernte er aber dort eine geradezu paradiesisch-ursprüngliche Lebensweise kennen, die er, einschließlich einer romantischen Liebesbeziehung zur Eingeborenen Fayaway, in dem Roman in idealisierender, der Repression und Naturentfremdung der westlichen Welt überlegenen Weise darstellte. Typee sollte später in Eugene O’Neills Drama Mourning Becomes Electra zur Chiffre jener Happy Islands werden, die der tristen puritanischen Welt des Stücks utopisch gegenübergestellt werden. Der Roman machte Melville über Nacht berühmt, und Melville ließ einige weitere in diesem Stil folgen, doch sein Ruhm blieb kurz. Nach New York zurückgekehrt, holte er, der von sich sagte, „a whaleship was my Harvard and my Yale,“ und der im Unterschied zu Hawthorne und den Harvardnahen Bostoner Intellektuellen keine formale Bildung hatte, die Lektüre der Weltliteratur nach von der Bibel über Shakespeare und die Antike bis zur europäischen Lite- Hubert Zapf 146 ratur seiner Zeit. Seine Versuche, im literarischen Milieu Fuß zu fassen, blieben mühsam, er schrieb und arbeitete immer besessener, mit immer größerer Distanz zu den Erwartungen der Öffentlichkeit, aber in bewusster Auseinandersetzung mit der gesamten Literatur- und Geistesgeschichte. Er heiratete, zog von New York nach Pittfield, Mass., und freundete sich dort mit dem im nahen Lexington wohnenden Hawthorne an. Die Phase exotischer Abenteuererzählungen hatte er längst hinter sich gelassen, und auch wenn sein größter Roman Moby-Dick, der 1851 erschien, durchaus auch auf dieser Ebene des Abenteuerromans gelesen werden kann und wohl auch in einer ersten Fassung eher noch diesem Modell entsprach, so ging der Roman doch weit darüber hinaus und wurde zum amerikanischen Epos, das den Kampf Captain Ahabs mit dem weißen Monster der Tiefe zu einer Parabel über die moderne Zivilisation werden lässt, deren vielgestaltiges Wissen ebenso in den Roman eingeht wie das Wissen anderer Kulturen, aber auch das Wissen über die elementare Welt der Natur, gegen die sich der anthropozentrische Allmachtswahn Ahabs richtet, für die aber gerade der Erzähler Ishmael, der als einziger die Katastrophe des Romanendes überlebt, ein besonderes Sensorium hat. Moby-Dick, der heute als einer der größten Romane der Weltliteratur gilt, war den Zeitgenossen sprachlich und thematisch zu komplex, er markierte letztlich den Wendepunkt, von dem an Melvilles Ruhm beständig abnahm, und weitere Romane wie Pierre, or, the Ambiguities und The Confidence-Man trafen auf zunehmendes Unverständnis. Mit seinen als bizarr empfundenen Plots, seiner experimentellen Schreibweise und seiner kompromisslosen Erkundung von Sprach- und Gattungsgrenzen geriet Melville zeitweise in den Ruf, geisteskrank zu werden. „HERMAN MELVILLE CRAZY“, titelte die New York Day Book am 8. September 1852, und schrieb: „Melville’s last book, Ambiguities […] appeared to be composed of the ravings and reveries of a madman […] his friends were taking measures to place him under treatment. We hope one of the earliest precautions will be to keep him stringently secluded from pen and ink.“ Vor allem das exzessive Schreiben selbst also erschien als eine Ursache von Melvilles vermeintlicher Geisteskrankheit, und vor diesem Hintergrund erscheint die Erzählung „Bartleby“ noch einmal in einem besonderen, ironischen Licht. Verlage zogen sich von Melville zurück, er verdiente notdürftig seinen Lebensunterhalt mit Vorträgen über römische Antike, er begann Gedichte zu schreiben, die niemand publizieren wollte. 1856 reiste er nach Europa, wo er in England Hawthorne wiedertraf, der dort einen Posten als Gesandter übernommen hatte. Ihr Gespräch am Strand in den Sanddünen bei Southport hat Hawthorne in folgendem berühmten Tagebucheintrag so festgehalten: Melville, as he always does, began to reason of Providence and futurity, and of everything that lies beyond human ken, and informed me that he ‘pretty much made up his mind to be annihilated’ […] It is strange how he persists […] in wandering to-and-fro over these deserts, as dismal and monotonous as the sand hills amid which we were sitting.” Notebook Entry, November 20, 1856. Zurück in New York, konnte er ab den 1860er Jahren immerhin seinen Lebensunterhalt und den seiner Frau und seiner inzwischen vier Kinder dadurch bestreiten, dass er, wie schon Hawthorne vor ihm, als Zollinspektor arbeitete. Er schrieb Ge- Herman Melville Bartleby, the Scrivener 147 dichte über den Bürgerkrieg, Battle Pieces and Aspects of the War (1866), die ohne Resonanz blieben, ebenso wie das epische Gedicht von 16,000 Zeilen, Clarel, an dem er jahrelang arbeitete und das durch eine Reise nach Palästina inspiriert war. Es verkaufte sich so schlecht, dass die meisten, noch unverkauften Exemplare verbrannt wurden, weil Melville kein Geld hatte, um sie selbst zu erwerben - auch eine Form von Bücherverbrennung. Der Tod zweier Söhne, Alkoholismus und Depression waren Begleiterscheinungen seiner späteren Jahre, in denen er trotz allem noch einmal einen Seeroman schrieb, Billy Budd, Sailor, der unvollendet blieb und erst 1924, also über dreißig Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht wurde. In diese Zeit der literarischen Moderne fällt dann auch die endgültige Wiederentdeckung des Autors, der zu seinen Lebzeiten in Vergessenheit geraten war. Darin ähnelt sein Schicksal dem seiner Zeitgenossin Emily Dickinson, die in ihrem Leben nur sieben von ihren 1700 Gedichten veröffentlichen konnte. Auch sie wurde ebenfalls erst im Lauf des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt und gilt inzwischen, wie Melville, als eine der größten Figuren der amerikanischen Literatur überhaupt. Wie diese beiden Beispiele zeigen, scheint also doch etwas daran zu sein, dass die Geltung großer Werke der Literatur nicht durch die eigene Zeit, sondern erst von späteren Generationen nachhaltig bestätigt werden kann. Melvilles „Bartleby“ entstand 1853, genau in der Zeit, in der sein gebrochenes Verhältnis zur Gesellschaft und zum Literaturbetrieb immer deutlicher wurde. In gewisser Weise ist sie untypisch, ja fast ein Gegenentwurf zu seinen anderen Werken, in denen Mobilität, Dynamik und ständige Grenzüberschreitung charakteristisch sind, während in Bartleby gerade die Immobilität der Hauptfigur und ihr radikaler Rückzug aus dem aktiven Leben im Mittelpunkt stehen. IV Handlungsskizze Die Geschichte wird erzählt von einem namenlos bleibenden Anwalt, der mit seiner Kanzlei in der Wall Street wenig spektakuläre, aber gewinnbringende Geschäfte mit der dortigen Finanzwelt betreibt. Vor allem zu John Jacob Astor, dem Pelzhändler und damals, d.h. gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, reichstem Mann Amerikas, unterhält er lukrative Geschäftsbeziehungen. In seiner Kanzlei arbeiten drei Angestellte, ein 12jähriger Junge Ginger Nut, der hauptsächlich Laufbursche und Essensholer ist, und zwei Kopisten namens Turkey und Nippers, die in einem vom Büro des Anwalts getrennten Vorzimmer sitzen und deren Aufgabe es ist, Dokumente und Verträge abzuschreiben - es gab schließlich damals keine Kopiergeräte - und dabei gegenseitig auf die Genauigkeit der Abschrift zu achten. Die Geschäfte laufen gut, und doch gibt es immer wieder Unregelmäßigkeiten und Pflichtverletzungen der beiden Schreiber, von denen der eine, Turkey, am Morgen tadellos funktioniert, am Nachmittag aber regelmäßig in eine Krise gerät und seine Aufgaben vernachlässigt, wenn nicht gar sabotiert, während der andere, Nippers, eher am Vormittag seine Aussetzer hat und gegen seine Tätigkeit rebelliert, hingegen am Nachmittag wieder ganz funktionsfähig ist. Hubert Zapf 148 Eines Tages steht ein Fremder vor der Tür, ein blasser junger Mann namens Bartleby, der sich auf eine Stellenanzeige hin bewirbt und den der Anwalt auch als zusätzlichen Schreiber einstellt. Bartlebys bisheriges Leben liegt im Dunkeln, er gibt auch sonst nichts von sich preis, sondern wird vom Erzähler hinter einer eigens eingezogenen, faltbaren Trennwand platziert, um ihn jederzeit für die Anweisungen des Anwalts verfügbar zu haben. Bartleby legt zunächst ein vorbildliches Arbeitsverhalten an den Tag und erledigt alle Aufträge gewissenhaft, ja er scheint ununterbrochen zu arbeiten und nur Pausen zu machen, um eine der von Ginger Nut geholten Süßwaren zu essen und dann sofort wieder mit seinen Schreibarbeiten weiterzumachen. Eines Tages aber, als der Erzähler Bartleby auffordert, zusammen mit den anderen beiden Kopisten ein eben fertiggestelltes Schriftstück zu prüfen und gegenzulesen, kommt von dem unsichtbar hinter seiner Trennwand sitzenden Bartleby die ebenso überraschende wie provozierende Antwort: „I would prefer not to.“ Der Erzähler und seine Angestellten meinen, sich verhört zu haben, doch Bartleby, der kurz hinter seinem Sichtschutz hervorschaut, wiederholt diese Feststellung in seiner typisch ruhigen, freundlich-distanzierten Art noch einmal, so dass der Anwalt schließlich über die Sache hinwegsieht und die Dokumente ohne Bartleby geprüft werden. Immer öfter reagiert Bartleby in dieser Weise, und die Formel „I would prefer not to“ wird allmählich zum leitmotivisch wiederholten Refrain des Textes und zur Erkennungsmelodie von Bartlebys Charakter, der hinter seiner Trennwand, wie es scheint, zunehmend seinen eigenen Gedanken nachgeht und sich den Arbeitsvorgängen des Büros immer mehr entzieht. Man sieht ihn häufig am Fenster stehen und gegen eine Wand starren, auf die von dort der Blick fällt, und so sehr Bartleby sich am Anfang seiner Arbeit hingegeben hat, so sehr lehnt er sie inzwischen ab, bis er endgültig jede Schreibtätigkeit verweigert und dem Anwalt erklärt, „[that] he had permanently given up copying.“ Nun hat der Erzähler also einen Angestellten in seinem Büro, der nicht arbeitet, auch nicht, wenn Klienten zu Besuch kommen und die Geschäfte dringend sind. Der Erzähler versucht vergeblich, Bartleby zu einer Änderung seiner Haltung zu überreden, und findet stattdessen heraus, dass Bartleby offenbar ins Büro eingezogen ist, dort auch übernachtet und sich eine armselige Bleibe eingerichtet hat. Eine Weile lang arrangiert der Erzähler sich mit der Situation, weil er keinen geeigneten Weg findet, Bartleby entweder zur Wiederaufnahme seiner Arbeit oder zur Aufgabe seines Jobs und zum Auszug zu bewegen. Doch allmählich erscheint ihm die Lage untragbar auch angesichts von Klienten, die die Anwesenheit des seltsam passiven Mitarbeiters sonderbar finden. Alle Versuche jedoch, Bartleby loszuwerden, scheitern, woraufhin der Anwalt sich entschließt, selbst auszuziehen und sich anderswo neue Kanzleiräume zu mieten. Dies scheint eine Weile gutzugehen, bis der neue Mieter seiner früheren Kanzleiräume ihn erregt aufsucht und ihm berichtet, dass dort ein blasser Schreiber zurückgeblieben sei, der sich nicht aus dem Haus entfernen lasse und, nachdem er aus der Kanzlei geworfen wurde, weiterhin im Treppenhaus sitze und die Kunden verunsichere. Der Erzähler sieht sich genötigt, Bartleby aufzusuchen und bietet ihm noch einmal verschiedene Möglichkeiten an, wie er sich beruflich neu orientieren könne, Herman Melville Bartleby, the Scrivener 149 wenn ihm die Tätigkeit eines Schreibers und Kopierers nicht mehr zusage. Doch Bartleby lehnt alle Angebote ab, und der Anwalt flüchtet vor der Menge, die sich vor dem Bürogebäude versammelt hat. Er verschwindet für ein paar Tage aus der Stadt, doch als er wieder zurück ist, erfährt er, dass der neue Mieter inzwischen die Polizei holen und Bartleby ins Gefängnis bringen ließ, in die Tombs, wie sie heißen, ein von dicken Mauern umgebenes Gebäude in Lower Manhattan, das in seiner monumentalen Bauweise an ein altägyptisches Mauerwerk erinnert. Der Anwalt gibt dem Gefängniswärter Geld, um Bartleby, dem gegenüber er sich auf unklare aber tiefempfundene Weise schuldig fühlt, mindestens eine gute Verpflegung zukommen zu lassen. Einmal sehen sich die beiden noch, als der Erzähler Bartleby im Gefängnis besucht, doch will dieser nichts mehr von ihm wissen und hält ihm seinen Verrat mit den Worten vor: „I know you […] and I want nothing to say to you.“ Beim nächsten Besuch des Erzählers findet er Bartleby tot im Gefängnishof liegen, in einer embryonalen Haltung, den Kopf an die Gefängnismauer gelehnt. Der Wärter berichtet ihm, dass Bartleby jede Nahrung verweigert habe und dann wohl an Erschöpfung gestorben sei. Am Schluss folgt ein Nachwort des Erzählers, der noch einmal die Besonderheit und Unverständlichkeit dieses Falles betont, aber auch erwähnt, dass er etwas herausgefunden habe, was vielleicht Bartlebys sonderbar gestörtes Verhalten erklären könne, nämlich dass er einst in einem sogenannten Dead Letter Office gearbeitet habe, einer Abteilung der Post also, in der Briefe und Postsendungen gesammelt werden, die nie ihren Absender erreichen und an denen sozusagen beispielhaft die Brüchigkeit und Vergeblichkeit menschlicher Kommunikation deutlich werde. „Ah Bartleby, Ah, humanity! “ ruft der Erzähler am Ende der Geschichte aus. V Intertexte, Deutungsansätze, Rezeption in der aktuellen Kulturtheorie Verschiedene mögliche reale und literarische Quellen für die Erzählung sind genannt worden: Eine zeitgenössische Anekdote über einen Kanzleischreiber, die in der New York Times erschien mit dem Titel „The lawyer‘s story, or the wrongs of the orphans“ und deren Anfang dem von „Bartleby“ ähnelt, dann aber eine melodramatisch-sozialromantische Wendung im Sinn der populären Reformliteratur der Zeit nimmt. Weiterhin wird Charles Dickens‘ Bleak House oder A Christmas Carol genannt, wo es um das Verhältnis von Ethik und Frühkapitalismus geht, von moralischer Scheinheiligkeit und sozialem Unrecht, und wo der ironisch-satirische Ton und die teilweise grotesk-karikaturhafte Charakterzeichnung der Geschichte vorgeprägt sind. In dieser Hinsicht gilt auch Washington Irving als Einfluss, aber auch als Zielscheibe, da er wie der Erzähler von „Bartleby“ mit John Jacob Astor gut bekannt war und sich auf diese Bekanntschaft auch entsprechend etwas einbildete. Genannt werden ferner Emerson und Thoreau, deren transzendentalistische Alternative zum Materialismus der amerikanischen Gesellschaft und Idee des zivilen Ungehorsams in die Konzeption Bartlebys eingegangen seien. Die Interpretationen der Geschichte innerhalb der Literaturwissenschaften sind von daher ebenfalls sehr unterschiedlich. Es gibt die Deutung Bartlebys als Christusfigur, die das Leid und Unrecht in der Hubert Zapf 150 Welt auf sich nimmt, ohne allerdings noch eine Erlösung zu verheißen - und in der Tat sind Anspielungen auf die Bibel unübersehbar im Text vorhanden. Es gibt eine Deutung als gesellschaftskritische Außenseitergestalt, die dem trivialisierten Glücksversprechen des American Dream die Gefolgschaft aufkündigt. Es gibt eine biographische Deutung, die Bartleby als fiktionales alter ego des in der Krise befindlichen Autors betrachtet, der sich bewusst den Erwartungen des Publikums entzieht und sich ein für alle Mal weigert, den Stil seiner früheren Erfolgsromane zu ‚kopieren‘. In Vorwegnahme von Kafkas späterer Geschichte wird Bartleby als „Hungerkünstler auf dem Gebiet der menschlichen Kommunikation“ gedeutet (Gerigk, 111). Es gibt eine psychopathologische Deutung, nach der die Geschichte die drohende Geisteskrankheit Melvilles literarisch verarbeite, von der mehrere seiner Familienmitglieder betroffen gewesen waren. Es gibt eine zivilisationskritische Deutung, die die Geschichte als Parabel der Wände, a „parable of the walls“ betrachtet, wie der führende Vertreter der American Studies, Leo Marx, dies nannte, eine Parabel, die die Gefangenschaft der Menschen in den von ihnen selbst geschaffenen zivilisatorischen Strukturen herausstellt, wie sie in dem schon vom Titel her allgegenwärtigen Motiv der „wall“ symbolisiert sind (Marx). Auch in der aktuellen Kulturtheorie hat „Bartleby“, wie eingangs schon erwähnt, erhebliche Aufmerksamkeit gefunden. Für Jacques Derrida verkörpert Bartleby die Verweigerung von persönlicher Verantwortung, die eine vom Christentum geerbte Illusion der Moderne sei, eine Illusion deswegen, weil jede Übernahme einer konkreten Verantwortung immer zugleich andere Verantwortlichkeiten ausschließe und daher unverantwortlich sei. Indem er sich weigert, etwas Bestimmtes zu sagen, thematisiert und negiert Bartleby die problematischen Voraussetzungen individualistischer Verantwortungsethik. Mit seiner radikalen, aber konsequenten Verweigerungshaltung nimmt Bartleby eine negative, das Projekt der Aufklärung in Frage stellende Haltung ein, eine „responsibility for a response without response“(Derrida 75). In Parallele zur biblischen Erzählung von Abraham, der angesichts des mit dem Opfer Isaaks von Gott eingeforderten Gehorsams in einer unbestimmten, anderen Menschen nicht zugänglichen Sprache rede, sieht Derrida Melvilles Bartleby gleichermaßen in einer Verbindung von sprachlicher Unbestimmtheit und einer „sacrificial passion that will lead him to death“ (Derrida 76). Das Problem bei dieser Parallele ist indessen, dass es bei Abraham um das Leben seines Sohns, bei Bartleby aber um sein eigenes Leben geht, und dass Bartleby sich gerade nicht auf das Diktat einer höheren Macht, sondern auf eine eigene, wenn auch inhaltsleere Autonomie beruft. Der Bezug zur Bibel ist im Text durchaus gegeben, doch wird Bartleby explizit nicht mit Abraham, sondern mit Hiob in Verbindung gebracht, wenn der Erzähler ihn im Tod mit „Kings and Councellors“ vereint sieht. Bei Gilles Deleuze geht es ebenfalls vor allem um die Bartleby-Formel, wie er sie nennt, das „I would prefer not to,“ das als agrammatikalische Aussage eine „Zone der Unbestimmtheit“ eröffne, „die alles ausschließt und alles offenlässt“(Abbt, 39), eine Sphäre reinen Werdens gegenüber einem in faktischen Handlungsalternativen erstarrten Sein. Diese Sphäre entsteht nach Deleuze aus einem Pakt des Erzählers mit Bartleby, der ihn vor der Welt hinter der grünen Falttür verbirgt, und der diesen Pakt Herman Melville Bartleby, the Scrivener 151 bricht, als er Bartleby aus seiner abgeschirmten Rückzugsposition hervorholt und zum Korrekturlesen zwingen will. Das Problem ist auch hier, dass von einem solchen Pakt im Text selbst nicht die Rede ist. Dennoch ist auf einer grundsätzlichen Ebene der Bruch und der paradoxe Schwebezustand zwischen pragmatischer Realwelt und radikaler Potentialität zweifellos im Text vorhanden, und dieser Aspekt steht noch stärker im Vordergrund bei Georgio Agamben, der die Handlungsenthobenheit der Bartleby-Formel als Formel reiner Potenz deutet, als sowohl affirmative wie negative Aussage, die den Übergang von der Sprache zum Handeln zugleich verheißt und unmöglich macht. Agamben formuliert dies so: „Es gibt nur eine Formel in der gesamten abendländischen Kulturgeschichte, die sich so entschlossen im Gleichgewicht zwischen Behauptung und Verneinung hält, zwischen Akzeptanz und Weigerung, zwischen Setzung und Aufhebung.“ (Agamben 38) Bartleby ist demgemäß ein neuer Messias, der das Recht auf mögliche Welten gegen die existierende Welt geltend macht. „Fähig [zu] sein, in einer reinen Potenz, das ‚lieber nicht‘ jenseits des Seins und des Nicht-Seins zu ertragen, bis ans Ende der unvermögenden Möglichkeit zu verharren, die beide überschreitet - das ist das Experiment von Bartleby“ (Agamben 45f.). Daneben gibt es auch eher politische Deutungen. So sieht der vom New Historicism geprägte Amerikanist Michael Gilmore in der Verweigerungshaltung und der Unentschiedenheit Bartlebys gerade ein Sichabfinden, eine Komplizität mit den Gegebenheiten der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit, insbesondere der Sklaverei, gegen deren Skandalon der Text, wie sein Autor, sprachlos bleibe. Gerade der Umstand, dass das Sklavereiproblem ausgespart bleibe, ist hier Symptom eines political unconscious, eines politischen Unbewussten der Texte, wie Fredric Jameson dies nennt. Demgegenüber wiederum kommt Slavoj Zizek zu einer ganz anderen Interpretation. Für ihn ist die konsequente Passivität Bartlebys das Zeichen revolutionärer Unbedingtheit, ja einer latenten Gewalt, die gegen jeden Kompromiss und jegliche Konformitätserwartung der Gesellschaft gerichtet ist. Bartleby illustriert in seiner bedingungslosen Negativität die implizite Gewalt, deren jede wahre Revolution zu ihrer Authentisierung bedarf. Der Unterschied zwischen impliziter und expliziter Gewalt wird allerdings von Zizek nicht näher erläutert, was auch hier ein gewisses Missverhältnis zwischen Theorie und Text deutlich macht, das unter anderem auch etwa daran sichtbar wird, dass Zizeks Aufsatz sich in extenso mit einer allgemeinen Logik von Revolution und Gewalt beschäftigt, aber am Schluss nur sehr kurz auf den Text eingeht. Es gibt noch viele andere Deutungsansätze, die in sich durchaus bis zu einem bestimmten Punkt plausibel scheinen, die aber vor allem eines belegen, nämlich dass es keine endgültige Deutungsmöglichkeit dieser Geschichte und ihrer Hauptfigur gibt, sondern dass sie wesentlich gerade durch ihre radikale und unauflösbare Unbestimmtheit charakterisiert ist, dass sie also ex negativo und in minimalistischer Reinform gewissermaßen das Prinzip literarischer Kommunikation selbst repräsentiert. Das Phänomen Bartleby wäre in dieser rezeptionsästhetischen Sichtweise nicht nur für den Erzähler und die narrative Binnenwelt, sondern vor allem auch für den Leser eine zentrale Unbestimmtheitsstelle, die wesentliche Interpretationsmöglichkeiten Hubert Zapf 152 menschlicher Existenz zugleich evoziert und dementiert. Bartleby ist wie ein strange attractor, der die kulturelle Deutungsaktivität seiner Außenwelt mobilisiert, während seine opake Innenwelt einer unverfügbaren Eigensinnigkeit folgt. Die Geschichte illustriert auf dieser Ebene in zugespitzter Form jene „negative capability,“ die der englische Dichter John Keats als Hauptmerkmal der Literatur und ihrer Rezeption betrachtete, die Fähigkeit nämlich, „to remain in doubts, mysteries, and uncertainties, without any irritable reaching after fact and reason.“ Es geht also auf einer Ebene auch um die Funktion von Literatur innerhalb des Gesamtsystems kultureller Diskurse, und gerade das Spannungsverhältnis von extremer Unbestimmtheit und multiplen Deutungspotentialen, das in ihr angelegt ist, hat die Literatur- und Kulturwissenschaft immer wieder herausgefordert und inspiriert. VI Textanalyse Die vielfältige, ja widersprüchliche Rezeptionsgeschichte Bartlebys ist somit von der enormen Assoziationsbreite der Geschichte entscheidend geprägt, dennoch werden immer wieder auch die Grenzen der jeweiligen Deutungen am Text deutlich, der ja nicht einfach jede mögliche willkürliche Lesart zulässt, sondern eine wenn auch semantisch offene, so doch sprachlich-literarisch komponierte Struktur und einen eigendynamischen Prozess darstellt, an dem sich der wie auch immer relative Geltungsanspruch angebotener Deutungen erweisen müsste. Gehen wir also in diesem Sinn nun etwas näher auf den Text selbst ein. Wenn wir uns zunächst einmal die Frage der stilistischen und gattungsmäßigen Einordnung der Erzählung stellen, so ergibt sich eine ähnliche Doppelung von Reduktion einerseits und proliferierender Vielgestaltigkeit andererseits wie bei der Frage ihrer Interpretation. Die Erzählung ist von Beginn an markiert als eine Art Biographie, eine Form von life writing, wie dies im Englischen in einem kaum übersetzbaren Begriff genannt wird, die gleichzeitig als notwendig und doch als unmöglich erscheint. „[…] I waive the biographies of all other scriveners for a few passages in the life of Bartleby, who was a scrivener the strangest I ever saw or heard of. While of other scriveners I might write the complete life, of Bartleby nothing of that sort can be done“ (Melville 1980 6). Der fragmentarische Ausschnitt, den wir aus Bartlebys Leben sehen, wird also ganz durch die Zeit seiner Begegnung mit dem Erzähler bestimmt und begrenzt. Dessen Beruf als Anwalt gibt den juristisch-amtlichen Kanzleiton vor, der den Text sprachlich prägt - „Imprimis,“ so fängt seine Selbstcharakterisierung an als eines Menschen, der immer den leichtesten Weg im Leben gesucht hat und sich dementsprechend seine Existenz als eine Art verantwortungsferne Sinekure aufgebaut hat, und in ähnlichem Stil geht sein Versuch weiter, das Phänomen Bartleby mit den Mitteln einer Sprache zugänglich zu machen, die sich dafür immer wieder als unzulänglich erweist. Gleichzeitig sind in den Oberflächentext aber auch andere Register und Tonlagen eingearbeitet, die gleichsam hinter dem Rücken des Erzählers wirksam sind und dessen diskursive Kontrollversuche unterlaufen. Dazu gehört nicht zuletzt der anarchische Humor, der von der Bartleby-Formel selbst ausgeht und der sich wie ein Herman Melville Bartleby, the Scrivener 153 ansteckender Virus in die Sprache und Dialoge der andern Figuren ausbreitet. „Somehow, of late, I had got into the way of involuntarily using this word „prefer“ upon all sorts of not exactly suitable occasions. And I trembled to think that my contact with the scrivener had already and seriously affected me in a mental way.“ (62) Der Erzähler wird also, wie die anderen Figuren, umso mehr von Bartlebys Subvertierung sprachlicher Konventionen infiziert, je mehr dieser sich deren Geltungsanspruch entzieht. Aus dieser Diskrepanz zwischen Konvention und Abweichung ergeben sich bei aller tragisch-melancholischen Tonlage der Erzählung zugleich auch satirische, groteske, absurde, ja farcenhafte Effekte, die sich einerseits auf die Widersprüche innerhalb des Bewusstseins und Weltbilds des Anwalts, andererseits auch auf die Widersprüche innerhalb der dargestellten Bürowelt beziehen, die im Lauf der Geschichte immer schärfer hervortreten. Der Anwalt ist über weite Strecken als Vertreter einer ohne eigene Anstrengung an den Finanztransaktionen der Wall Street verdienenden gesellschaftlichen Oberschicht charakterisiert, der seine Werte und seinen Lebensstil in eine profitable Einheit gebracht hat, bis er durch Bartleby aus seiner Ruhe gerissen und in den Grundfesten seiner bisherigen Existenz erschüttert wird. Die mitmenschlich-empathetische Seite, die ihn zu einer für die Beschäftigungsverhältnisse der Zeit zweifellos ungewöhnlichen Nachgiebigkeit gegenüber Bartleby bringt und ihn in seine bisher größte Lebenskrise stürzt, wird dennoch immer wieder durch die Realität seiner materiellen Interessen konterkariert, die sich am Ende durchsetzen und das Schicksal Bartlebys besiegeln. Dass ihn die freundliche, aber unbeirrbare Standfestigkeit Bartlebys zu immer größerer Unruhe und schließlich zur Flucht aus seinem eigenen Büro und zeitweise sogar aus der Stadt treibt, ist einer dieser Widersprüche, die die eskalierende Tragödie zwischendurch als fast burleske Farce erscheinen lässt. In eine ähnliche Richtung geht die Charakterisierung der anderen Büroangestellten. Die Rolle von Ginger Nut, dem Laufburschen, besteht fast ausschließlich darin, die anderen Mitarbeiter mit Süßigkeiten zu versorgen, insbesondere Bartleby, der sich von nichts anderem zu ernähren scheint als von den ginger nuts - eine erste Form der fast food Ernährung sozusagen, die durch die Beschleunigung der Arbeitswelt zu dieser Zeit beginnt und an der man ein frühes Anwendungsbeispiel für die Food Studies, einer neuen Richtung der Literatur- und Kulturwissenschaft, sehen könnte. Weitaus lebendiger und eindrücklicher sind die beiden anderen Kopisten charakterisiert, Turkey und Nippers, die wiederum allein schon von ihren Namen her, nämlich „Truthahn“ und „Kneifzange“, etwas Satirisch-Karikaturhaftes haben und die fast einem Comicbuch entsprungen sein könnten, während sie zugleich bereits auf die halb kindlichen, halb dämonischen Gehilfen in Kafkas Schloss vorausweisen. Das Bemerkenswerte an den beiden ist vor allem, dass sie Arbeitseifer und Nachlässigkeit, Ordnung und Chaos, konstruktives und destruktives Verhalten in extremer und doch unterschiedlicher Mischung miteinander verbinden. Turkey ist ein älterer Engländer, der von starken Stimmungsschwankungen geprägt ist und dessen Gesicht mit der steigenden Tagessonne rot anläuft wie das eines zunehmend erregten Truthahns, und dessen Energien ab der Mittagszeit derart in Wallung geraten, dass er in der zweiten Tageshälfte völlig die Kontrolle über sich und sein Verhalten verliert und Hubert Zapf 154 seine am Vormittag pflichtgemäß ausgeführte Bürotätigkeit auf spektakuläre Weise wieder sabotiert: The difficulty was, he was apt to be altogether too energetic. There was a strange, inflamed, flurried, flighty recklessness of activity about him. He would be incautious in dipping his pen into his inkstand. All his blots upon my documents were dropped there after twelve o’clock, meridian. Indeed, not only would he be reckless, and sadly given to making blots in the afternoon, but, some days, he went further, and was rather noisy. At such times, too, his face flamed with augmented blazonry, as if cannel coal had been heaped on anthracite. He made an unpleasant racket with his chair; spilled his sandbox; in mending his pens, impatiently split them all to pieces, and threw them on the floor in a sudden passion; stood up, and leaned over his table, boxing his papers about in a most indecorous manner; very sad to behold in an elderly man like him. (12,14) Während also Turkey am Vormittag als Schreiber problemlos funktioniert und sich in die normativen Arbeitsabläufe des Anwaltsbüros einfügt, hingegen am Nachmittag von chaotischen, dysfunktionalen Energien erfasst wird, ist es bei dem anderen Schreiber, Nippers, genau umgekehrt. Nippers, der wohlgekleidet ist und doch in seinem bärtigen Gesicht an einen Piraten erinnert, scheint neben seinem regulären Job noch Verbindungen zu dubiosen Klienten zu haben, die ab und zu im Büro auftauchen und mit denen er undurchschaubare Geschäfte abwickelt. Aufgrund von zu viel Ehrgeiz und von chronischen Verdauungsstörungen, so der Erzähler, ist Nippers am Vormittag stets in gereizter Stimmung, maßt sich Aufgaben an, die eigentlich nur dem Rechtsanwalt zustünden, flucht und schimpft vor sich hin, und kämpft ständig mit der richtigen Höhe und Position seines Schreibtischs. Though of a very ingenious mechanical turn, Nippers could never get this table to suit him. He put chips under it, blocks of various sorts, bits of pasteboard, and at last went so far as to attempt an exquisite adjustment, by final pieces of folded blotting paper. But no invention would answer. If, for the sake of easing his back, he brought the table lid at a sharp angle well up towards his chin, and wrote there like a man using the steep roof of a Dutch house for his desk, then he declared that it stopped the circulation in his arms. If now he lowered the table to his waistbands, and stooped over it in writing, then there was a sore aching in his back. In short, the truth of the matter was, Nippers knew not what he wanted. Or, if he wanted anything, it was to be rid of a scrivener’s table altogether. (16,18) Die grotesk übersteigerte Zeichnung der beiden Schreiber, die einen erstaunlich großen Raum im Text einnimmt, erinnert in der Tat an die Charaktere von Dickens, hat aber zugleich eine abgründigere zivilisationskritische Dimension. In den irrationalen Verhaltensweisen der Kopisten kommt eine grundsätzliche Entfremdung von ihrer Arbeit zum Ausdruck, die sich in körperlichen Abwehrreaktionen gegen die funktionalen Abläufe des Bürobetriebs äußern. Während sie den halben Tag ihre Arbeit gewissenhaft ausführen, rebellieren sie den anderen halben Tag, wenn auch unkoordiniert und ziellos, dagegen. Es entsteht eine gewisse Serialität noch in der Abweichung, denn die Phasen ihrer Funktionsverweigerung kehren ebenso regelmäßig wieder wie die Phasen ihres Funktionierens, die sich symmetrisch ablösen und überlagern. Als rationalisierter Ort der modernen Finanzwirtschaft ist das Büro zugleich ein mühsam kontrolliertes Tollhaus. Wenn Rationalisierung und Bürokratisie- Herman Melville Bartleby, the Scrivener 155 rung nach Max Weber wesentliche Merkmale des Modernisierungsprozesses sind, so werden diese in „Bartleby“ gleichsam von innen heraus mit ihren Widersprüchen und Defiziten, mit ihrer Unvereinbarkeit mit grundlegenden menschlichen Sinn- und Lebensbedürfnissen konfrontiert. In diesem Kontext ist nun aber auch Bartleby selbst zu sehen. Viele Deutungen leiden darunter, dass sie Bartleby isoliert sehen und nicht als Teil einer Konstellation von Figuren und Verhaltensweisen, wie sie nicht zuletzt durch die beiden anderen Kopisten aufgebaut wird. Durch diese Kontextualisierung aber rückt Bartleby eben nicht als bloßer, beziehungsloser Außenseiter, sondern in gewisser Weise geradezu als Repräsentant der gesellschaftlichen und menschlichen Realität in den Blick, die in diesem Büro in der Wall Street zum Ausdruck kommt. Der hinter den heftigen Fehlleistungen von Nippers stehende Impuls, „to be rid of a scrivener’s table altogether“, also den Schreibtisch eines Kopisten ein für alle Mal loszuwerden, ist in dieser Sicht nichts anderes als eine unbewusste Version des Widerstands, den Bartleby später mit seinem „I would prefer not to“ bewusst zum Ausdruck bringt. Die strukturelle Analogie zwischen den Kopisten und Bartleby wird auch durch die genannte zeitliche Symmetrie ihres Funktionierens und Nichtfunktionierens deutlich. Wie erinnerlich, funktioniert Turkey am Morgen, nicht aber am Nachmittag, Nippers dagegen am Nachmittag, nicht aber am Morgen. Zu Beginn seiner Tätigkeit im Büro verkörpert Bartleby in extremer Form zunächst die eine Seite, die Funktionsseite der beiden anderen Kopisten. Er arbeitet und kopiert ununterbrochen, offenbar auch die Nächte durch, und geht völlig in seiner Arbeit auf. Dann aber zieht er sich nach und nach von den Arbeitsabläufen der Kanzlei zurück und nimmt schließlich in ebenso extremer Form, die Seite der Funktionsverweigerung ein. Bartlebys Verhalten ist also kein Gegensatz zu dem der anderen Schreiber, sondern deren Übersteigerung und Radikalisierung, die in seinem Fall bis zur Verweigerung der Nahrungsaufnahme und des Lebens selbst geht. So wie das Verhalten der beiden Kopisten durch den Wechsel von Regel und Abweichung gekennzeichnet ist, die ihrerseits sich regelmäßig wiederholt, so lebt auch die Wirkung von Bartlebys Formel von der Serialität, der ständigen Wiederholung der Abweichung, der repetition of difference, oder der repetition with a difference, wie man sagen könnte. Auch in der Geste der radikalen Differenz bewahrt sich die unaufhebbare Zugehörigkeit Bartlebys zu der Welt, von der er sich innerlich lossagt; andererseits wird diese Geste gerade in ihrer unauflöslichen Rückbindung an diese Welt zu einer umso größeren Herausforderung für sie. Die wie auch immer negativ gewendete und semantisch resistente Repräsentativität Bartlebys zeigt sich auch im Hinblick auf ein weiteres Merkmal der Erzählung, das Motiv der Wände, das bereits vom Untertitel her, „A Story of Wall Street“, besonders betont wird und auf das ich im Folgenden ein wenig näher eingehe. Dieses Motiv bezieht sich zunächst natürlich auf die reale Wall Street, deren Aufstieg zum Finanzzentrum in der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits im Gang war und mit der ja die Aktien- und Immobiliengeschäfte des Anwalts unmittelbar verbunden sind. Es bezieht sich aber auch auf die buchstäblichen und metaphorischen Wände, von denen die Figuren und vor allem Bartleby umstellt sind. Die im ersten Stock eines grö- Hubert Zapf 156 ßeren Gebäudes befindliche Anwaltskanzlei ist dergestalt zwischen anderen hohen Gebäude eingeschlossen, dass der Blick nach draußen stets nur auf Mauern fällt. At one end, [my chambers] looked upon the white wall of the interior of a spacious skylight shaft, penetrating the building from top to bottom. This view might have been considered rather tame than otherwise, deficient in what landscape painters call ‘life.’ But, if so, the view from the other end of my chambers offered, at least, a contrast, if nothing more. In that direction, my windows commanded an unobstructed view of a lofty brick wall, black by age and everlasting shade; which wall required a spy-glass to bring out its lurking beauties, but, for the benefit of all near-sighted spectators, was pushed up to within ten feet of my window panes. (10) Das Büro ist also umstellt von Wänden, wobei der Kontrast zwischen der weißen und der schwarzen Wand auf den beiden Seiten die schematische, wie gesagt schon fast comic-hafte Gestaltungsweise illustriert, mit der Melville in einer Art ästhetischem Minimalismus gewissermaßen leere Signifikanten auf eine Weise miteinander kontrastiert und aufeinander bezieht, dass daraus paradoxer Weise vielfältige Bedeutungsprozesse resultieren. Der besondere Bezug Bartlebys zu den Wänden, vor denen er in seinem inneren Exil wie gebannt in stundenlangen Meditationen verharrt, ist also wiederum nicht etwas der Welt des Büros Entgegengesetztes, sondern thematisiert deren in der Raumkomposition objektiviertes ureigenstes Prinzip. Dieses Prinzip, das Eindrücke wie Trennung, Isolation, Lebensfeindlichkeit, Kälte, Kommunikationsverlust und Naturentfremdung konnotiert und als Rahmenbedingung für alle Figuren gilt, wird im Fall Bartlebys wiederum noch durch ein zusätzliches räumliches Arrangement zugespitzt und ins Bizarre übersteigert. Das Anwaltsbüro ist ohnehin schon durch eine verschiebbare Trennwand unterteilt, die zwischen dem Arbeitsbereich des Anwalts und dem der Kopisten eingezogen ist, und als Bartleby eingestellt wird, platziert ihn der Anwalt auf seiner Seite der Trennwand in einer Ecke, die noch einmal zusätzlich durch eine weitere, grüne Falttür von ihm abgetrennt ist, wodurch Bartleby zwar nicht zu sehen ist, sich aber doch in praktischer Reichweite für mögliche Anweisungen befindet. Bartleby sitzt allein in einem Labyrinth von Wänden, die denn auch zum Zentrum seiner Mediationen und zum Thema seines Widerstands werden: I should have stated before that ground glass folding doors divided my premises into two parts, one of which was occupied by my scriveners, the other by myself. According to my humor, I threw open these doors, or closed them. I resolved to assign Bartleby a corner by the folding-doors, but on my side of them, so as to have this quiet man within easy call, in case any trifling thing was to be done. I placed his desk close up to a small sidewindow in that part of the room, a window which originally had afforded a lateral view of certain grimy back-yards and bricks, but which, owing to subsequent erections, commanded at present no view at all, though it gave some light. Within three feet of the panes was a wall, and the light came down from far above, between two lofty buildings, as from a very small opening in a dome. Still further to a satisfactory arrangement, I procured a high green folding screen, which might entirely isolate Bartleby from my sight, though not remove him from my voice. And thus, in a manner, privacy and society were conjoined. (26) Herman Melville Bartleby, the Scrivener 157 VII Kulturökologische Interpretation Aufgrund der genannten Strukturmerkmale des Textes scheint es mir also evident, dass Bartleby nicht einfach von außen als das ganz Andere in die Erfahrungswelt des Anwalts und der anderen Figuren einbricht, sondern vielmehr etwas zum Ausdruck bringt, was deren tiefere Realität prägt und durch Bartlebys Verhalten eine bis dahin nicht gekannte Verbindlichkeit gewinnt. Obwohl diese Dimension dessen, was in der zivilisatorischen Normalwelt der Wall Street ausgeblendet bleibt, nicht inhaltlich eindeutig bestimmbar ist, sondern in der Geschichte gerade die fundamentale Offenheit und Unbestimmtheitsrelation als wesentliche Bestimmung des Menschen - und seiner literarischen Repräsentation - vermittelt wird, gibt es jedoch Hinweise im Text für eine kulturökologische Interpretation, die ich abschließend noch kurz vorschlagen möchte. Diese Interpretation bezieht sich auf das Verhältnis von Kultur und Natur, deren lebendige Wechselbeziehung aus der abstrakten Funktionswelt des Büros vollständig abwesend zu sein scheint, die aber am Ende in einer wiederum minimalistisch gestalteten, jedoch eindringlichen Schlüsselszene zurückkehrt. Spuren der verdrängten Präsenz von Natur und Körper waren schon zuvor in den Essens- und Verdauungsproblemen der Schreiber und ihren stets scheiternden Versuchen erkennbar, ihre mechanisierte Arbeitswelt auf ihre körperlichen Befindlichkeiten abzustimmen. Darin wurde die Diskrepanz zwischen den zivilisatorischen Strukturen und den evolutionären Lebensbedürfnissen des Menschen deutlich, die den Abläufen des Büros zugrunde liegt. Am Ende der Erzählung, als Bartleby im Gefängnis der Tombs ist und ihn der Anwalt tot im Gefängnishof findet, hat sich diese Geschichte der radikalen Selbstentfremdung bis zu ihrem bitteren Ende erfüllt; gleich- Hubert Zapf 158 zeitig aber hat sich etwas vermeintlich Unbedeutendes verändert, das zu einer völlig neuen Erfahrung für den Erzähler wird und eine neue Bedeutungsdimension der Erzählung mindestens andeutet. Zum ersten Mal in der Geschichte nämlich zeigt sich dabei die unscheinbare Präsenz der Natur. The yard was entirely quiet. It was not accessible to the common prisoners. The surrounding walls, of amazing thickness, kept off all sounds behind them. The Egyptian character of the masonry weighed upon me with its gloom. But a soft imprisoned turf grew under foot. The heart of the eternal pyramids, it seemed, wherein, by some strange magic, through the clefts, grass-seed, dropped by birds, had sprung. Strangely huddled at the base of the wall, his knees drawn up, and lying on his side, his head touching the cold stones, I saw the wasted Bartleby. But nothing stirred. I paused; then went close up to him; stooped over, and saw that his dim eyes were open; otherwise he seemed profoundly sleeping. Something prompted me to touch him. I felt his hand, when a tingling shiver ran up my arm and down my spine to my feet. (106, 108) Inmitten der innersten Gefängniszellen der menschlichen Zivilisation haben sich Spurenelemente der lebendigen Welt der nichtmenschlichen Natur und ihrer regenerativen Kraft manifestiert. Bartleby liegt in embryonaler Haltung auf dem Gras, dessen weichen Untergrund der Erzähler unter seinen Füßen spürt und dessen Samen wie durch eine „strange magic“ von Vögeln her durch die Mauerritzen ins Innere des Gefängnisses gelangt sind. Gegensätze wie Gefangenschaft und Freiheit, Zivilisation und Natur, Tod und Leben, Ende und Anfang werden in geradezu schmerzhaft spürbarer Spannung miteinander in Beziehung gesetzt. Dieser Akt des Zusammenführens des kulturell Getrennten bezieht auch die beiden menschlichen Akteure ein. Als Repräsentant des kulturellen Systems kommt der Erzähler hier zum ersten Mal in konkreten persönlichen Kontakt mit Bartleby im Moment seines Todes. Nachdem er zuvor erfolglos versucht hat, das Phänomen Bartleby aus den verschiedensten verfügbaren Verstehenskontexten zu begreifen - juristisch, sozial, psychologisch, medizinisch, moralisch, religiös -, nur um immer wieder dessen Unverfügbarkeit erkennen zu müssen, wird er von der körperlichen Begegnung mit diesem anderen menschlichen Wesen im labyrinthischen wasteland der Zivilisation im Innersten berührt: „I felt his hand, when a tingling shiver ran up my arm and down my spine to my feet.“ (2136) Während die diskursiven Versuche des Erzählers, Bartlebys radikale Differenz rational zu erklären, nur das Skandalon seiner Unerklärbarkeit verstärkt haben, wird in diesem Augenblick faszinierten Kontakts die Spaltung von Geist und Körper überwunden und eine schockartige, elektrisierende Intensität in der Beziehung zwischen Selbst und Anderem erfahrbar, die die Person und den ganzen Organismus des Erzählers erfasst und ihn in einen größeren Lebenszusammenhang stellt, der ihn mit Bartlebys toten Körper und mit dem Gras unter seinen Füßen verbindet. Die kurze, aber eindrückliche Szene stellt eine transformative Begegnung dar, in der Selbst und Anderes, Zivilisation und Natur, kultursemiotische und biosemiotische Kräfte aufeinander bezogen werden, ohne aufeinander reduzierbar zu sein. Die Szene markiert darin zugleich einen Punkt, an dem eine wesentliche Funktion der Literatur im Gesamtsystem kultureller Diskurse momenthaft an die Oberflä- Herman Melville Bartleby, the Scrivener 159 che des Textes tritt, nämlich dass Literatur in immer neuer Weise das kulturelle Gedächtnis der menschlichen Zivilisation auf das biozentrische Gedächtnis der menschlichen Gattung zurückbezieht, wie sie im Verweis auf die ägyptischen Pyramiden und die kulturelle Evolution (translatio imperii) einerseits und auf die regenerative Kraft der Natur und die körperlich-evolutionäre Ko-existenz des Menschen mit ihr andererseits evoziert werden. In diesem Spannungsverhältnis besteht ein kreatives Potential der literarischen Imagination, das in „Bartleby“ über weite Teile der Erzählung nur unterschwellig präsent ist, aber am Ende in einer ähnlich unscheinbaren aber nachhaltigen Form zur Geltung kommt, wie Bartleby seine einsame Mission und seinen Widerstand gegen alle Vereinnahmungsversuche einer ökonomisch-rationalen Monokultur inszeniert. Das kulturell Ausgegrenzte wird am Ende der Geschichte als unabweisbare, existentiell erfahrene Wirklichkeit zur Geltung gebracht, die gleichzeitig, wie auch immer unscheinbar und unverfügbar, als Ort möglicher Selbsterkenntnis und Selbsterneuerung des kulturellen Systems imaginiert wird. Dies lässt sich auch für die Erzählung als ganze verallgemeinern, die gerade in ihrer fundamentalen Herausforderung aller verfügbaren Deutungssysteme eine stets erneuerbare Quelle kritischer Reflexion und kreativer Energie für immer neue Generationen von Lesern darstellt. Literaturverzeichnis Primärliteratur Melville, Herman: „Bartleby, the Scrivener“. The Piazza Tales. Hg. Harrison Hayford u.a. Evanston 1996. - Bartleby the Scrivener/ Bartleby der Schreiber. Übs. und Nachwort Karlernst Ziem. München 1980. (Im Beitrag wird aus dieser Ausgabe zitiert). Sekundärliteratur Abbt, Christine: „Herman Melville: Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte der Wall Street (1853)“. Der wortlose Suizid. Die literarische Gestaltung der Sprachverlassenheit als Herausforderung für die Ethik. München 2007. 37-49. Agamben, Giorgio: „Bartleby oder die Kontingenz“, gefolgt von „Die absolute Immanenz“. Aus dem Italienischen von Maria Zinfert und Andreas Hiepko. Berlin 1998. Deleuze, Gilles: „Bartleby, or the Formula“. Essays Critical and Clinical. Übers. Daniel W. Smith und Michael A. Greco. Minneapolis 1997. 68-90. Derrida, Jacques: The Gift of Death. 1992. Übers. David Wills. Chicago 1995. Gerigk, Horst-Jürgen: „Melancholie als Ärgernis: Melvilles ‚Bartleby‘“. Melancholie in Literatur und Kunst. Hürtgenwald 1990 (= Schriften zu Psychopathologie, Kunst und Literatur. Hg. Dietrich von Engelhardt, Horst-Jürgen Gerigk, Guido Pressler, Wolfram Schmitt; Bd. 1). 112-126. Gilmore, Michael: „Intertext: ‚Bartleby the Scrivener‘“. The War on Words. Slavery, Race, and Free Speech in American Literature. Chicago 2010. 192-195. Marx, Leo: „Melville’s Parable of the Walls“. The Sewanee Review 61 (1953): 602-627. Hubert Zapf 160 Wilson, James C: „‚Bartleby‘: The Walls of Wall Street“. Arizona Quarterly 37 (1981): 335- 346. Zizek, Slavoj: „Notes Towards a Politics of Bartleby. The Ignorance of Chicken“. Comparative American Studies 4.4 (2006): 376-394. Hugo von Hofmannsthal Elektra Mathias Mayer Frau Dr. Beatrice Spiegel zum 7. Januar 2013 Elektra ist die einzige Gestalt des griechischen Mythos, deren Schicksal in drei unterschiedlichen Darstellungen durch die großen Tragiker erhalten geblieben ist. Aischylos schildert die Rache an den Mördern von Agamemnon, der nach seiner Rückkehr von Troja von seiner Frau Klytemnästra und ihrem Liebhaber Aegisth erschlagen wird, im Mittelteil seiner dreiteiligen Orestie, - aber Elektra, als Schwester Orests, spielt dabei keine zentrale Rolle. Das Stück trägt bei Aischylos auch gar nicht ihren Namen, sondern den der im Chor sprechenden Choephoren, die das Grab Agamemnons hüten. Bei Sophokles, dem zweiten Tragiker aus Athen, rückt Elektra dann in den Mittelpunkt, indem ihr unerbittlicher Hass auf die Mörder ihres Vaters sie sogar dazu befähigen würde, die Rache selbst auszuüben: Hier steht Elektra als das, wie Nietzsche sagen wird, „heroische Weib“ 1 im Mittelpunkt des gesamten Stückes, das der Hofmannsthalschen Version zugrunde liegt und daher hier kurz zu umreißen ist. Orest kehrt inkognito nach Mykene zurück, wo nur noch Elektra den Tod Agamemnons beklagt, während ihre Schwester Chrysothemis sich ins Unvermeidliche fügt. Elektra und Klytemnästra stehen sich in unversöhnlichem Hass gegenüber, - da kommt die Nachricht von Orests vermeintlichem Tod, die Mutter ist von ihrer Angst erlöst, indes Elektra meint die Rache für Agamemnon selbst vollziehen zu müssen. Schließlich gibt sich ihr Orest zu erkennen, tötet erst die Mutter, dann Aegisth. So geht bei Sophokles die Handlung ganz an Orest über, von Elektra ist nicht mehr weiter die Rede. Die Elektra des Euripides spielt für Hofmannsthal keine Rolle. 2 1 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. v. G. Colli, M. Montinari, 15 Bde., München 1988, Bd. 7, S. 394. 2 Zur Forschung vgl.: Walter Jens: Elektra. In: W. J.: Hofmannsthal und die Griechen, Tübingen 1955, S. 44-74. - Lorna Martens: The Theme of the Repressed Memory in Hofmannsthal’s „Elektra“. In: German Quarterly 60 (1987), S. 38-51. - Mathias Mayer: Hofmannsthals „Elektra“: Der Dichter und die Meduse. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 110 (1991), S. 230-247. - Mathias Mayer: Der Tanz der Zeichen und des Todes bei Hugo von Hofmannsthal. In: Franz H. Link (Hg.): Tanz und Tod in Kunst und Literatur, Berlin 1993, S. 351-368. - Mathias Mayer: Nachwort. In: Hugo von Hofmannsthal/ Richard Strauss, Elektra, Frankfurt am Main 1994, S. 65-89. - Wolfgang Nehring: Die Tat bei Mathias Mayer 162 Was bringt einen knapp 30jährigen Autor wie Hugo von Hofmannsthal in der Zeit um 1900 dazu, gerade diesen Stoff zum Zentrum eines ambitionierten Projektes zu machen? Seine Motivation muss so stark gewesen sein, und so ertragreich, dass es ihm immerhin gelungen ist, mit seinem Bühnenerfolg eines der großen Dramen des 20. Jahrhunderts zu schreiben, das v. a. in der Vertonung durch Richard Strauss nach wie vor zu den prominentesten und musikalisch überdies anspruchsvollsten Stücken des Repertoires gehört. Hofmannsthal war sich später dessen durchaus bewusst, dass seine Elektra „sehr deutlich das Gepräge ihrer Entstehungszeit, Anfang des XXten Jahrhunderts“ zu erkennen geben wird (SW VII 474). 3 Es war wohl zunächst das dramaturgische Gespür, der Sinn für die packende Szene, der Hofmannsthal gerade an diese Figur verwies. Die Entscheidung, einen Stoff des Mythos zu bearbeiten, wo sie nicht dem puren Klassizismus huldigt, kann als Herausforderung der Tradition beschrieben werden, als Identitätsbildung durch Abweichung. Aber es kommt bei einer Arbeit am klassischen sujet noch etwas hinzu, was man als Prüfung jener Menschlichkeit bezeichnen mag, die vielfach mit dem antiken Vorbild verbunden wurde. Und es wäre dann dieser zweite Punkt, den Hofmannsthals Elektra als das „Erinnerungstier Mensch“ problematisiert: In Absetzung von historischen, klassizistischen Mythenaufgüssen geht es hier um den Widerspruch, dass man sich als Mensch durch die Erinnerung beweisen muss, aber gerade in der Insistenz dieser Erinnerung alles Menschliche zu verlieren droht. Schon Jahre zuvor, 1892, hatte Hofmannsthal aus Sophokles‘ Drama Verse für eine dann nicht weiter ausgeführte eigene Arbeit zitiert (SW VII 303f.), und 1901 las er gleichzeitig die Elektra und Shakespeare, um wieder etwas für seine eigenen Bühnenvorhaben zu lernen. 4 Durch die Auseinandersetzung mit der großen dramati- Hofmannsthal. Eine Untersuchung zu Hofmannsthals großen Dramen, Stuttgart 1966. - Hans-Joachim Newiger: Hofmannsthals Elektra und die griechische Tragödie. In: arcadia 4 (1969), S. 138-163. - Heinz Politzer: Hugo von Hofmannsthals Elektra. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Psychopathologie. In: DVjs 47 (1973), S. 637-651. - William H. Rey: Elektra. In: W. H. R.: Weltentzweiung und Weltversöhnung in Hofmannsthals Griechischen Dramen , Philadelphia 1962 , S. 58-95 . - Ritchie Robertson: „Ich habe ihm das Beil nicht geben können“: The Heroine’s Failure in Hofmannsthal’s „Elektra“. In: Orbis litterarum 41 (1986), S. 312-331. - Elisabeth Steingruber: Elektra. In: E. St.: Hugo von Hofmannsthals Sophokleische Dramen, Winterthur 1956, S. 79-103 und S. 139-151. - Juliane Vogel: Priesterin künstlicher Kulte. Ekstasen und Lektüren in Hofmannsthals „Elektra“. In: Tragödie. Idee und Transformation. Hg. v. Hellmut Flashar, Stuttgart 1997, S. 287-306. - Heinz Wetzel: Elektras Kult der Tat - „freilich mit Ironie behandelt“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1979, S. 354-368. - Lothar Wittmann: Das tragische Sprechen und die Struktur der Tragödie. In: L. W.: Sprachkritik und dramatische Form im Werke Hofmannsthals, Stuttgart 1966, S. 67-92. - Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt am Main 1983, S. 259-295. 3 Alle Angaben im Text beziehen sich auf folgende Ausgabe: Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. v. Rudolf Hirsch, C. Perels, E. Reichel, H. Rölleke, 40 Bde., Bd. VII: Dramen 5. Hg. v. Klaus E. Bohnenkamp und Mathias Mayer, Frankfurt am Main 1997. Darin der Text des Dramas und des Librettos, mit ausführlicher Entstehungsgeschichte, Varianz und Kommentar. 4 Das Verhältnis zur Vorlage hat Werner Frick kompliziert beschrieben und schließlich als „kommentierende Intertextualität“ bezeichnet, - eine Formel, die meines Erachtens nicht Hugo von Hofmannsthal Elektra 163 schen Tradition suchte der Anfänger gleichsam den eigenen Weg zur Bühne zu finden. Geben wir zu diesem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund dem Dichter selbst das Wort, der mit einer auffallenden, nicht selbstverständlichen Intensität seine Tragödie immer wieder kommentiert hat: Sogleich verwandelte sich die Gestalt dieser Elektra in eine andere. Auch das Ende stand sogleich da: dass sie nicht mehr weiter leben kann, dass wenn der Streich gefallen ist, ihr Leben und ihr Eingeweid ihr entstürzen muss, wie der Drohne, wenn sie die Königin befruchtet hat, mit dem befruchtenden Stachel zugleich Eingeweide und Leben entstürzen. Die Verwandtschaft und der Gegensatz zu Hamlet waren mir auffallend. Als Stil schwebte mir vor, etwas gegensätzliches zur Iphigenie zu machen, etwas worauf das Wort nicht passe: „dieses gräcisierende Product erschien mir beim erneuten Lesen verteufelt human.“ (SW VII 304f.) Nicht das verteufelt Humane, sondern das Erinnerungstier Mensch ist die moderne Variante. Zunächst war offenbar eher an eine Übersetzung oder Bearbeitung für die moderne Bühne gedacht, und die ersten Notizen, die erhalten sind, bezeugen denn noch eine größere Orientierung an der griechischen Vorlage. Zwischenzeitlich war auch eine zweiteilige Orestie geplant (SW VII 366), bevor es schließlich ein Theaterereignis war, das Hofmannsthal die Gestalt der Elektra vor Augen treten ließ, - er sah in einem Wiener Gastspiel des Max Reinhardt-Theaters die geniale Gertrud Eysoldt in Gorkijs Nachtasyl. Der Entschluss, für sie eine Elektrarolle zu schreiben, wurde in sehr kurzer Zeit umgesetzt. Hofmannsthal hatte zuvor die sogenannten kleinen Dramen, lyrische Einakter, geschrieben, die in vielen Fällen eher als Lesedramen gedacht waren. Mit den von ihm in Angriff genommenen, aber nicht ausgeführten Sujets der Antike, mit dem Pentheus-Stoff nach Euripides, mit einem Ödipus auf Kolonos sollte der Weg zur Bühne geebnet werden. Gelungen ist dies zunächst allein mit der Elektra, die im Sommer 1903 geschrieben wurde, offenbar unter innerer Distanz, wenn nicht gar mit Widerstreben, das noch das spätere Verhältnis des Dichters zu diesem Werk kennzeichnen wird. Man kann dabei den Eindruck gewinnen, dass Hofmannsthal auf Dauer diesem Werk, das eines seiner besten ist, nicht gewachsen war, dass er nachträglich versucht hat, es zu zähmen oder gar zu diskreditieren. Vielleicht ist Hofmannsthal kaum je wieder so modern gewesen wie hier, offenbar hat er die Diagnose moderner Zerrüttung und menschlicher Animalität in einer beispiellosen Radikalität vor Augen gestellt, dass er dieser später nicht mehr folgen wollte. Was man ihm sicher nicht vorwerfen kann, ist dass er in diesem Fall als archivarischer Klassiker vorgegangen wäre, vielmehr ist der Mut zur entschiedenen Dekonstruktion des antiken Stoffs auffallend. Einmal mehr scheint ihn Max Reinhardt darin bestärkt zu haben, denn dieser weigerte sich geradezu antike Dramen zu spielen, weil ihre Übersetzungen einen „gipsernen Charakter“ hätten (SW VII 459). Diesem Eindruck hat Hofmannsthal energisch entgegen gearbeitet, - er nutzte zwar die damals vorliegende Reclamübersetzung von Georg Thudichum (SW VII 304), aber schon das äußere Geschehen weit(er)führt: W. F.: ‚Die mythische Methode‘. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne, Tübingen 1998, S. 123. Mathias Mayer 164 wurde gegenüber der Vorlage energisch verändert. Wir sehen nicht mehr, wie bei Sophokles, die Fassade, die repräsentative Schauseite des königlichen Palastes zu Mykene, unweit vom Grab des Agamemnon, sondern der moderne Dichter versetzt uns in die Atmosphäre von „Enge, Unentfliehbarkeit, Abgeschlossenheit“, ohne „antikisierende Banalitäten“ wie Säulen oder Treppen, gezeigt wird die unschöne Rückseite, der „Hinterhof des Königspalastes“, mit Anbauten, „welche Sclavenwohnungen und Arbeitsräume“ enthalten (SW VII 379). Der Orient des Alten Testaments verdrängt jede klassizistische Harmonie. Aber es ist kein naturalistisches Bühnenbild, sondern ein Szenarium belastender Ausweglosigkeit, das geradezu das „Lauernde, Versteckte des Orients“ (SW VII 380) sichtbar machen soll. Mauern, Türen, gedrückte Bauten evozieren eine von Anfang an unheimliche, gewaltsame Szene, die Hofmannsthal so beschreibt: Über das niedrige Dach des Hauses rechts wächst von draußen her ein riesiger schwerer gekrümmter Feigenbaum, dessen Stamm man nicht sieht, dessen Masse aber, unheimlich geformt im Abendlicht wie ein halbaufgerichtetes Thier, auf dem flachen Dach auflagert. Hinter diesem Baum steht die sehr tiefe Sonne und tiefe Flecken von Roth und Schwarz erfüllen, von diesem Baum ausgeworfen, die ganze Bühne. […] Das Innere des Hauses liegt zunächst ganz im Dunkel, Thür und Fenster wirken als unheimliche schwarze Höhlen. (SW VII 380) Hier ist Hofmannsthal dem Expressionismus näher als dem klassizistischen Historismus des 19. Jahrhunderts. Dazu rechnen auch weitere drastische Änderungen gegenüber der sophokleischen Vorlage. Hofmannsthal hat seiner gottverlassenen Szenerie eine höchst übersichtliche Anordnung gegeben: Die 5 Mägde tauschen sich am Beginn über die hasserfüllte, einem Hund gleich gehaltene Elektra aus, die jeden Tag bei Sonnenuntergang ihres um diese Stunde ermordeten Vaters gedenkt und sich ganz in die erhoffte Rückkehr ihres Bruders Orest versenkt, der die Rache ausüben soll. Ihre Schwester dagegen will sich aus dieser fruchtlosen Fixierung auf Vergangenheit und Zukunft befreien, will einfach nur leben, eine Familie gründen, und warnt Elektra vor den Plänen ihrer Mutter. Diese, misstrauisch, seelisch zerrüttet und verängstigt, überwindet in der zentralen Szene ihre Abneigung vor Elektra und fragt sie um Rat, wie ihre Träume abgestellt werden könnten. Elektra spielt ein grausames Spiel mit ihr, suggeriert ihr, es müsse nur das rechte Opfer unter dem Beil fallen, dann sei sie erlöst: zu Klytemnästras sprachlosem Grauen beruft Elektra in einer dramatischen Steigerung deren Hinrichtung durch Orest herauf, - bevor sich die Spannung im höhnischen Gelächter der Mutter löst: Man hat ihr die Nachricht von Orests Tod zugeflüstert. Elektra entschließt sich in ihrer Verzweiflung sofort, die Rachetat selbst durchzuführen, sie verflucht die Schwester, nachdem sie sie vergeblich zur Mithilfe zu gewinnen gesucht hatte. Da tritt unerkannt Orest auf, als der Bote, der den nur vorgetäuschten Tod des Rächers verkünden soll, es kommt zur hochdramatischen Erkennung, allerdings ohne die ausführliche Schilderung von Orests vermeintlichem Tod. Dann folgt der Mord an Klytemnästra, Elektra umschmeichelt den ahnungslos heimkehrenden Aegisth, auf dessen Tod hin sie zum großen Siegestanz ansetzt, einer Mänade gleich, die glaubt, den Reigen der Tanzenden anzuführen, indes sie völlig allein mit dem Hugo von Hofmannsthal Elektra 165 Ausruf „Schweigen und tanzen! “ tot zusammenbricht: Ein gegenüber Sophokles entscheidend zugespitzter Schluss, der einen der markantesten Akzente setzt in der Theaterlandschaft des 20. Jahrhunderts. Ihr gegenüber steht der seelische Zerfall der von ihrem Gewissen zerrissenen Mutter. In einem wertvollen Dokument der Zeit- und Theatergeschichte lässt er sich als akustisches Dokument verfolgen. Der Auftritt der Klytemnästra wird als Monolog, ohne die Einwürfe Elektras, gesprochen von Tilla Durieux, die zwar nicht bei der Berliner Uraufführung aber danach als eine der großen Mimen dieser Rolle in Erscheinung getreten ist. 5 Ich habe keine guten Nächte. […] Wer älter wird, der träumt. Allein es lässt sich vertreiben. […] Man muß sich nur die Kräfte dienstbar machen, die irgendwo verstreut sind. Es gibt Bräuche. Es muss für alles richtige Bräuche geben. Wie man ein Wort und einen Satz ausspricht, darauf kommt vieles an. Auch auf die Stunde. Und ob man satt ist, oder nüchtern. Mancher kam um, weil er ins Bad gestiegen ist zur unrichtigen Stunde. […] Aber ich bin morsch Ich denke, aber alles türmt sich mir eins übers andre. Und ich tu’ den Mund auf, da schreit Aegisth, und was er schreit, das ist mir verhaßt, aufbäumen will ich mich und stärker als seine Worte sein - und finde nichts. Ich finde nichts! ich weiß auf einmal nicht, ob er das heut gesagt hat, was vor Wut mich zittern macht, ob heute oder einmal vor langer Zeit; […] Du könntest vieles sagen, was mir nützt. Wenn auch ein Wort nichts weiter ist! Was ist denn ein Hauch! und doch kriecht zwischen Nacht und Tag, wenn ich mit offnen Augen lieg’, ein Etwas hin über mich, es ist kein Wort, es ist kein Schmerz, es drückt mich nicht, es würgt mich nicht, es läßt mich liegen, wie ich bin, und da an meiner Seite liegt Aegisth und dort, dort ist der Vorhang: alles sieht mich an als wär’s von Ewigkeit zu Ewigkeit: […] 5 Verfügbar über die CD in: Max Reinhardt und das Deutsche Theater. Texte und Bilder aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums seiner Direktion. Hg. v. Roland Koberg, Bernd Stegemann, Henrike Thomsen, Berlin 2005. Mathias Mayer 166 Und dann schlaf’ ich und träume, träume! daß mir in den Knochen das Mark sich löst, und taumle wieder auf, und nicht der zehnte Teil der Wasseruhr ist abgelaufen, und was unter’m Vorhang hereingrinst, ist noch nicht der fahle Morgen, nein, immer noch die Fackel vor der Tür, die gräßlich zuckt wie ein Lebendiges und meinen Schlaf belauert. Ich weiß nicht, wer die sind, die mir das antun, und ob sie droben oder drunten wo zu Hause sind - wenn ich d i c h stehen sehe, wie jetzt, so mein’ ich, du mußt mit im Spiel sein. Allein wer bist denn du? Du weißt nicht einmal ein Wort zu reden, wenn man auf dich hört. […] Aber diese Träume müssen ein Ende haben. Wer sie immer schickt: ein jeder Dämon läßt von uns, sobald das rechte Blut geflossen ist. […] Und müßt’ ich jedes Tier, das kriecht und fliegt, zur Ader lassen und im Dampf des Bluts aufsteh’n und schlafen gehen wie die Völker der letzten Thule in blutrotem Nebel: ich will nicht länger träumen. (SW VII 78-80) Es ist ein Protokoll modernen Selbstverlustes, der Traum und die Zeit, das Versagen des Wortes und die Macht des Aberglaubens - sie dokumentieren das Ende einer von Gewalt und Schuld belasteten Gesellschaft. An ihrem Beginn steht nichts Olympisches oder Homerisches, sondern der Mord an Agamemnon, der bei Hofmannsthal ohne Motivation bleibt, als gleichsam abgründige Basis einer im Blutbann gefesselten Welt. Im Unterschied zu den griechischen Vorlagen spielt in Klytemnästras Rechtfertigung für den Mord an Agamemnon das Argument gar keine Rolle, dass er ja schließlich die ältere Tochter Iphigenie geopfert hat, um Fahrtwind nach Troja zu gewinnen. - Die vielleicht gravierendste Änderung bei Hofmannsthal ist der Verzicht auf den Chor - nicht allein, weil damit eine auf Elektra mäßigende und beratend wirkende Autorität wegfällt, die bei Sophokles durch die Frauen von Mykenä repräsentiert ist. 6 Mit dem Chor, als dem Vertreter einer griechischen Ordnung, die den Menschen wesentlich als Sterblichen gegenüber den unsterblichen Göttern verortet, entfällt bei Hofmannsthal die Ebene der Transzendenz, er zeigt eine gottlose, eine gottverlassene Welt, die damit eindeutig antiklassisch besetzt ist. Besonders grausam wird dieses Fehlen der Götter in Elektras zynischer Abrechnung mit der Mutter ausgesponnen, in jener groß angelegten Vision von Klytemnästras Ermor- 6 Dazu Timo Günther: Vom Tod der Tragödie zur Geburt des Tragischen. Hugo von Hofmannsthals ‚Elektra‘. In: DVjs 79, 2005, S. 96-130. Hugo von Hofmannsthal Elektra 167 dung durch Orest, die ihr Elektra in dem großen Rededuell in der Mitte des Stückes prophezeit: Und ich steh’ neben dir: du kannst den Blick nicht von mir wenden, innen krampft es dich, daß du von meinem schweigenden Gesicht ein Wort ablesen willst, du rollst die Augen, willst irgend etwas denken, willst die Götter heruntergrinsen aus dem Nachtgewölk: die Götter sind beim Nachtmahl! so wie damals, als du den Vater würgtest, sitzen sie beim Nachtmahl und sind taub für jedes Röcheln! Nur ein halbtoller Gott, das Lachen, taumelt zur Tür herein: er glaubt, du triebest Scherze zur Schäferstunde mit Aegisth, allein sogleich bemerkt er seinen Irrtum, lacht lautgellend auf und ist im Nu davon. (SW VII 86) Diese wortmächtige, zugleich blutrünstige Elektra ist eine in ihrer unmenschlichen Degradierung auf den Hass, die Macht des Wortes und die Erkenntnis festgelegte Intellektuelle, - die in mancher Hinsicht Parallelen zu Hamlet aufweist, denn wie bei diesem steht die extreme Reflektiertheit ihrem Handeln im Weg; sie vergisst am Ende, Orest das Beil, das sie all die Jahre gehütet hat, mitzugeben, wenn er die Mutter erschlägt, und Elektra kommentiert ihr Versagen mit dem verzweifelten Ausruf „Es sind keine Götter im Himmel“. Elektras Intellektualität manifestiert sich in der von allen anderen ängstlich wahrgenommenen Klugheit, in ihrem scharfsichtigen Zynismus, einer ätzenden Ironie, einer Wortmächtigkeit, die bis in die Nähe des Prophetischen und des Poetischen geht: Zweimal, in ihrem großen Auftrittsmonolog sowie in der Vision der Ermordung Klytemnästras, nimmt sie das künftige Geschehen vorweg. Klytemnästra versucht der Tochter und ihrem strengen moralischen Maßstab auszuweichen, sie fürchtet ihre Vorwürfe, aber schließlich ist sie von ihrem schlechten Gewissen so zerrüttet, dass sie in ihrer Naivität Elektras Rat sucht, ja, „du könntest etwas sagen, das mir nützt,/ […] denn du bist klug./ In deinem Kopf ist alles stark. Du redest/ Von alten Dingen so, wie wenn sie gestern/ geschehen wären“. (SW VII 78) Elektras Intellektualität und Moralität bleibt auf den Vollzug der Rache fixiert und muss sich selbstzerstörerisch aufheben, sobald die Fixierung auf die Vergeltung der Vergangenheit vollzogen ist. Den doch so lange erhofften Tod der Mörder ihres Vaters kann Elektra nicht überleben. - Aber noch in einer andern Bildebene meldet sich ihr lebensfeindlicher Verstand: Elektra ist die Meduse, deren vergifteten, hasserfüllten, leidgeprüften Blick niemand auszuhalten vermag. Als „verstörte und beschädigte Repräsentantin der ‚Humanität‘ und des ‚Gewissens‘“, wie W. Frick, vermag ich sie nicht zu sehen. 7 Aber es spricht vieles dafür, Elektra als eine letztlich poetologische 7 Frick: Die mythische Methode, S. 135. Mathias Mayer 168 Gestalt zu lesen, deren Gedächtnis und Sprachgewalt sie zu einem heiklen Spiegel dichterischer Rede machen. 8 Einer der Impulse für diese schroffe, moderne Intellektualisierung der Gestalt ist dabei die Absetzung vom klassischen Griechenbild der deutschen Literatur. In Goethes Iphigenie war schon von Elektras „Feuerzunge“ die Rede gewesen, und dieses Moment hat Hofmannsthal aufgegriffen, um den klassischen Standpunkt des Humanitären, des Allgemein-Menschlichen und Vorbildlichen zu unterlaufen. Man kann daher dieses Elektra-Drama in eine Reihe von Widerrufen derjenigen klassischen Griechendeutung stellen, die ursprünglich Winckelmann in der Mitte des 18. Jahrhunderts begründet hatte. Kleists Penthesilea wäre der wohl schroffste Einspruch gegen das Versöhnungs- und Vermittlungsdenken der Iphigenie, und nach Hofmannstahl werden es Hans Henny Jahnns Medea und die Griechenstücke von Heiner Müller sein, die dieser winckelmannschen Deutung widersprechen. Für Hofmannsthal speziell kommen ein paar Perspektiven hinzu, die zur Schärfung des Profils seiner Elektra beitragen: Da ist zunächst der Gedanke des Dionysisch-Rauschhaften, der bis in die mediale Gestaltung des Tanzes hinein seine Interpretation des Mythos beherrscht. Elektras Auftrittsmonolog mündet bereits in die Vision ihres triumphalen Siegestanzes, den sie als Aufhebung der Sprache inszeniert. Entscheidend für das Verständnis des Textes ist daher das Verhältnis zwischen Zeichen und Tat, derjenige Umschlag vom Wort zum Vollzug, der letztlich für Elektras visionäre Vorwegnahme der Rache verantwortlich ist. In ihrem Auftrittsmonolog, im Gespräch mit der Schwester und auch im Schlagabtausch mit Klytemnästra lässt sie das Wort an die Stelle des Handelns treten. 9 So muss hier auch die sprachkritische Dimension der Moderne reflektiert werden, die u. a. in Hofmannsthals berühmtem Chandos-Briefe eine wichtige Gestaltung gefunden hatte. In der Opernfassung für Richard Strauss 1909, sechs Jahre nach der Uraufführung des Theaterstücks, lautet das Ende des Auftrittsmonologs: dann tanzen wir, dein Blut, rings um dein Grab: und über Leichen hin werd’ ich das Knie hochheben Schritt für Schritt, und die mich werden so tanzen sehn, ja, die meinen Schatten 8 Vgl. dazu Vf.: Der Dichter und die Meduse, wie oben Anm. 2, womit eine Linie verfolgt wird, die auch bei Sabine Schneider jetzt aufgegriffen wird: S. S.: Tödliche Präsenz. Primitivismus bei Hofmannsthals „Elektra“. In: Literarischer Primitivismus. Hg. v. Nicola Gess, Berlin, Boston 2013, S. 191-210. 9 Im Unterschied zu der subtilen Lesart des Stückes durch Bernhard Greiner: ‚Damenopfer‘ für das Theater. Hofmannsthals und Reinhardts Begegnung in der Arbeit an „Elektra“. In: Von Franzos zu Canetti. Jüdische Autoren aus Österreich. Neue Studien. Hg. v. Mark H. Gelber, Hans Otto Horch, Sigurd Paul Scheichl, Tübingen 1996, S. 253-271, scheint mir in diesem Stück durchaus ein pragmatischer, nicht nur ein semantischer oder teleologischer Aspekt der Zeichenrelation umgesetzt zu werden, gegen Greiner, S. 261. Wichtig scheint mir seine Beobachtung: „Wenn Elektra den Übergang vom Bezeichnenden, das sie ist, zum Bezeichneten durch eine eigene Tat leistete (indem sie selbst Klytemnestra töten würde), müßte sie etwas sein (mehr als ein Zeichen), was sie nicht ist. Auf Zeichen-Sein festgelegt, gibt es für Elektra keinen Übergang vom Zeichen zur Tat“, S. 260. Hugo von Hofmannsthal Elektra 169 von weitem nur so werden tanzen sehn, die werden sagen: einem großen König wird hier ein großes Prunkfest angestellt von seinem Fleisch und Blut, und glücklich ist, wer Kinder hat, die um sein hohes Grab so königliche Siegestänze tanzen! Agamemnon! Agamemnon! (SW VII 118) Dabei steht die von Friedrich Nietzsche betriebene Archaisierung des Griechischen natürlich im Hintergrund, jene Rückführung der griechischen Tragödie auf den Kult des Gottes Dionysos, auf den Chor, auf den Ausgleich zwischen Apollinischem und Dionysischem. Ein Hauptwerk aus diesem Umkreis, das Hofmannsthal intensiv genutzt hat, ist Erwin Rohdes Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen von 1898, das zahlreiche Anregungen für den Auftrittsmonolog geboten hat. Für den Schlusstanz dagegen hat man auf die Abbildungen zur bacchischen, dionysischen Mänade in Thomas Taylors Buch (The Eleusinian and Bacchic Mysteries, New York 1891, vgl. SW VII 493) hingewiesen. Weitere Anregungen mögen etwa dem Mutterrecht des Schweizer Mythenforschers J. J. Bachofen entnommen sein, - vor allem in Klytemnästra hat man Züge einer ‚tellurischen Mutter‘ erkannt, einer ‚erdhaft‘ gebärenden, tötenden, herrschenden Frau. 10 - Aber diese ganze, sehr beträchtliche Vielfalt von Quellen, deren sich Hofmannsthal einmal mehr bedient hat, folgt nicht einer historistischen Authentifizierungsstrategie: vielmehr verschmilzt der moderne Dichter eine Reihe gegenklassischer Perspektiven mit dem antiken Mythos, indem die Basis zwar aus Sophokles genommen, aber zugleich angereichert wird um zahlreiche weitere Anregungen, die ebenso aus der Antike selbst wie aus der Forschung zur Antike stammen, wie die gerade genannten Studien. - Sie werden dann u. a. um Textanregungen z. B. von Shakespeare, von Hebbel und Maurice Maeterlinck erweitert. So wird etwa Elektra zu einer Figur der Jahrhundertwende, zu einer Zeitgenossin der Dekadenz, wenn sie sich in der Erkennungsszene mit Orest an die eigene Schönheit erinnert, die ihr durch die Erniedrigung verlorengegangen ist. Dazu greift Hofmannsthal auf Formulierungen aus zwei Gedichten von Friedrich Hebbel zurück, die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden waren. Auch hier wieder die gegenüber dem Sprechtext knappere Version der Oper: Ich bin nur mehr der Leichnam deiner Schwester, mein armes Kind. Ich weiß, es schaudert dich vor mir, und war doch eines Königs Tochter! Ich glaube, ich war schön: wenn ich die Lampe ausblies vor meinem Spiegel, fühlt ich es mit keuschem Schauer. Ich fühlt es, wie der dünne Strahl des Mondes in meines Körpers weißer Nacktheit badete, 10 Dazu Horst Thomé: Das Ich und seine Tat. Überlegungen zum Verhältnis von Psychologie, Ästhetik und Gesellschaft im Drama der Jahrhundertwende. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930. Hg. v. Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann, Stuttgart 1997, S. 323-353, bes. S. 338-346, hier S. 344. Mathias Mayer 170 so wie in einem Weiher, und mein Haar war solches Haar, vor dem die Männer zittern, dies Haar, versträhnt, beschmutzt, erniedrigt. Verstehst du’s Bruder? Ich habe Alles was ich war, hingeben müssen. Meine Scham hab’ ich geopfert, die Scham, die süßer als Alles ist, die Scham, die wie der Silberdunst, der milchige, des Monds um jedes Weib herum ist und das Gräßliche von ihr und ihrer Seele weghält. Verstehst du’s Bruder? Diese süßen Schauder hab’ ich dem Vater opfern müssen. (SW VII 143) Zu den gravierendsten Modernisierungen des Mythos gehört jedoch der Komplex der Geschlechterrollen, nämlich die starke Konzentration auf die Frauenfiguren. Elektra, Chrysothemis und Klytemnästra stellen nach einem weiteren Selbstzeugnis Hofmannsthals gleichzeitig „die Schattierungen eines intensiven und unheimlichen Farbentones“ dar (SW VII 459), d. h. sie bilden eine das Stück dominierende Konstellation: Orest ist in seiner für den Verlauf freilich unverzichtbaren Funktion extrem reduziert, und Aegisth hat seinen Auftritt lediglich, um von Elektra verhöhnt und von Orest erschlagen werden zu können. Hofmannsthal selbst hat zugegeben, dass es „ein schöneres Stück und ein reineres Kunstwerk wäre, wenn der Orest nicht vorkäme“ (SW VII 403), aber gerade die „grässliche Lichtlosigkeit“ (SW VII 387) wäre dann noch verstärkt worden. Indessen sollte man Hofmannsthals Werk nicht auf eine Studie der psychopathologischen Aspekte der Wiener femme fatale um 1900 reduzieren. Die Forschung hat sich intensiv mit diesem Komplex beschäftigt, und sie steht dabei auf einem klar nachweisbaren Boden: 1895 war als Gemeinschaftswerk von Sigmund Freud und Josef Breuer das Buch Studien über Hysterie erschienen, in welchem die beiden Psychotherapeuten selbst, wie sie sagen, geradezu als Novellisten aufgetreten sind und Krankengeschichten berichtet haben. 11 Im Zentrum ihrer Beobachtungen steht dabei der Prozess der Konversion, d. h. „anstatt der seelischen Schmerzen“ treten körperliche auf, es vollzieht sich eine Umwandlung mit dem Gewinn, „daß die Kranke sich einem unerträglichen psychischen Zustand entzogen hatte, allerdings auf Kosten einer psychischen Anomalie, der zugelassenen Bewußtseinsspaltung, und eines körperlichen Leidens“. 12 Der wohl berühmteste Fall dieser Studien ist derjenige der Bertha Pappenheim, die später in der Arbeiterbewegung um den Ersten Weltkrieg aktiv wurde; nach der Verschlüsselungstaktik der beiden Ärzte wurde ihr Name um eine Stelle im Alphabet nach vorne gerückt, aus Bertha Pappenheim wurde Anna O. als die erste Fallgeschichte der Hysteriestudien. Ihr psychisches Trauma wurde durch den Tod des geliebten Vaters ausgelöst, sie versetzt sich in ihrem psychischen Privattheater ganz in die Vergangenheit zurück, und vor allem übernahm Hofmannsthal den Befund in seine Figur, dass sie nachmittags „in einer Somnolenz“ lag, „die bis etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang dauerte“. 13 Diese 11 Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie, Frankfurt am Main 1985, S. 131. 12 Freud: Studien über Hysterie, S. 135. 13 Freud: Studien über Hysterie, S. 23. Hugo von Hofmannsthal Elektra 171 Beobachtung stellt Hofmannsthal an den Beginn seines Dramas, mit dem ganz neu erfundenen Auftritt der Elektra gehässig begegnenden Mägde. Strauss hat daraus einen schrillen Einstieg gemacht: Der innere Hof, begrenzt von der Rückseite des Palastes und niedrigen Gebäuden, in denen die Diener wohnen. Dienerinnen am Ziehbrunnen, links vorne. Aufseherin unter ihnen. ERSTE MAGD ihr Wassergefäß aufhebend Wo bleibt Elektra? ZWEITE MAGD Ist doch ihre Stunde, die Stunde, wo sie um den Vater heult, daß alle Wände schallen. Elektra kommt aus der schon dunkelnden Hausflur gelaufen. Alle drehen sich nach ihr um. Elektra springt zurück wie ein Tier in seinen Schlupfwinkel, den einen Arm vor dem Gesicht. ERSTE MAGD Habt ihr gesehn, wie sie uns ansah? ZWEITE MAGD Giftig, wie eine wilde Katze. DRITTE MAGD Neulich lag sie da und stöhnte - ERSTE MAGD Immer, wenn die Sonne tief steht, liegt sie und stöhnt. (SW VII 113) Elektra ist in einer Art und Weise auf den Vater fixiert, ihr Monolog ist täglich auf die Stunde seiner Ermordung datierbar, dass man von einer libidinösen Obsession sprechen kann. Sie hat, wie vorhin gegenüber Orest zu hören war, ihre Scham dem Vater geopfert, - und ihr Verhältnis zur Sexualität ist in einer Weise belastet, dass sie nur in Ekel und Aggression davon sprechen kann: Dabei ist vor allem der Kontrast mit Chrysothemis offensichtlich, die ja für sich ein Familien-, ein „Weiberschicksal“ herbeisehnt, was Elektra zu diskreditieren versucht: ELEKTRA Pfui die’s denkt, pfui, die’s mit Namen nennt! Die Höhle zu sein, drin nach dem Mord dem Mörder wohl ist; das Tier zu spielen, das dem schlimmern Tier Ergetzung bietet. Ah, mit einem schläft sie, preßt ihre Brüste ihm auf beide Augen und winkt dem zweiten, der mit Netz und Beil hervorkriecht hinter’m Bett. (SW VII 71) Sexualität und Gewalt sind für Elektra identisch, ihre eigene Fruchtbarkeit ist diejenige eines Ungeheuers, heißt es doch, sie füttere sich „einen Geier auf im Leib“ (SW VII 63), - sie habe, so sagt sie ihrem Bruder, die Qualen einer Gebärenden gespürt, aber „nichts zur Welt“ gebracht, „habe nichts hervorgeholt aus mir/ und meinem Leib wie Flüche und Verzweiflung“ (SW VII 103). Es ist ausgerechnet das Mordbeil, Mathias Mayer 172 das sie seit dem Tod des Vaters versteckt gehalten hat, das sie allenfalls so küssen könnte, als wenn es ihr „lieber Sohn“ wäre (SW VII 96). Dass Elektra es aber vergisst, Orest das Beil zu übergeben, kann man, mit Ritchie Robertson, als Zeichen einer unbewussten Identifikation Elektras mit der Mutter lesen: In Elektras Fixierung auf den Vater identifiziert sie sich mit der Mutter, und kann diese daher nicht selbst töten. 14 Hofmannsthals Elektrafigur, so möchte ich zusammenfassen, ist die sehr komplexe Spiegelung einer Krise des modernen Bewusstseins, ist die Diagnose einer psychischen Verausgabung, die sich in ihrer eigenen Überholtheit einrichtet. Da ist zunächst die keineswegs zufällige oder beliebige, sondern die strukturell ins Konzept eingebundene Vielschichtigkeit der unterschiedlichen Textanregungen. Intertextualität, d. h. hier, ein Text als Gedächtnisspeicher, der eine altgriechische Vorlage mit Spuren des Alten Testaments und der Moderne, mit Elementen von Oscar Wilde und Maurice Maeterlinck, verknüpft, der aber auch die klassische Philologie und die zeitgenössische psychologische Forschung integriert, - nicht aus Bildungsbeflissenheit, sondern als Gedächtnistext, und überdies als Zeichen einer Prägung durch das Gedächtnis der Vergangenheit, das Elektra als Person wie auch als Figur der Moderne kennzeichnet. Sie will sich dadurch vom Tier absetzen, dass sie, anders als ihre Schwester, gerade nicht vergisst, aber dieses Nicht-Vergessen macht sie schließlich zu einer schlaflosen Meduse, deren Auge immer weit vor Schreck geöffnet bleibt, so dass niemand ihren Blick aushält, der dann ein Blick der Versteinerung, des Grauens und des Todes ist. Die Gedächtnisfunktion des Textes selbst wie seiner Protagonistin lässt sich damit als Befund wie auch als Last der Moderne charakterisieren. Schon der 19jährige Hofmannsthal hatte 1893 diesen Zusammenhang in einem Essay über Gabriele d’Annunzio ziemlich klar diagnostiziert, wenn er davon spricht, das 19. Jahrhundert hätte den Spätgeborenen „überfeine Nerven“ hinterlassen und den „vergangenen Dingen ein unheimliches Eigenleben“ eingeflößt: „Jetzt umflattern sie uns, Vampire, lebendige Leichen […] Wir haben aus den Toten unsere Abgötter gemacht […] Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung. Wir schauen unserem Leben zu“. 15 Mit Hilfe Nietzsches und Freuds, so kann man sagen, wird Hofmannsthals Einakter zu einer Bilanz der antiquarischen Fixierung, deren Gefahr „für das Leben“ die 2. von Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen reflektiert hatte. Eben dort war die Rede davon, dass das Tier ganz unhistorisch ist, ohne Gedächtnis und daher auch glücklich. Die Meduse, die den Blick auf das grässliche Geschehen des Agamemnon-Mordes versteinert und fixiert, ist Garant eines Nicht-Vergessenkönnens. Elektra identifiziert - als Intellektuelle - das Vergessen mit dem Animali- 14 Robertson: The Heroine’s Failure, S. 312-331, bes. S. 325. Maximilian Bergengruen möchte die einmal mehr aus Breuer/ Freud und Rohde rekonstruierten Spuren im Argument bündeln, „jeder Einzelne kann als eine hysterisch gespaltene Persönlichkeit verstanden werden, dessen Subpersönlichkeiten sich auf die anderen Figuren verteilt haben“ (M. B.: Mystiker der Nerven. Hugo von Hofmannsthals literarische Epistemologie des ‚Nicht-mehr-Ich‘, Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2010, S. 55), wonach Elektra sowohl mit Chrysothemis wie mit Klytemnästra „verwachsen“ sei (S. 50). 15 Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke, 10 Bände, RA I, S. 174f. Hugo von Hofmannsthal Elektra 173 schen, mit dem bloßen Trieb, sie diskreditiert die Sexualität und reduziert sie aufs Tierische: den Mägden wirft sie vor, ihre Kinder hätten sie „hündisch auf der Treppe/ im Blute glitschend“ (SW VII 66) empfangen, und Chrysothemis‘ Begehren schildert sie in Bildern von Pferd und Schwan. Die aggressiv eingesetzten Tierbilder stehen dabei im Zeichen einer Vermessung menschlicher Identität - in ihrer labilen Abgrenzung gegenüber dem Animalischen. 16 Aber verstörend wird die Identifikation zwischen Mensch und Tier dadurch, dass sie nicht einfach als hysterische Abwehrreaktion der Sexualität beschrieben werden kann, sondern dass Elektra selbst fast eine Tierverwandlung durchlebt: Schon in den Regiebemerkungen heißt es, dass sie „wie ein Tier in seinen Schlupfwinkel zurückspringt“ (SW VII 63), dass sie „lautlos, wie ein Tier“ nach dem Beil gräbt (SW VII 96), und als sie auf den Muttermord wartet, läuft sie auf einem Strich hin und her, „mit gesenktem Kopf, wie das gefangene Tier im Käfig“ (SW VII 106). Einsam wie das Tier im Wald hat sie gelebt (SW VII 98), sie hat „gewinselt mit den Hunden“ des Hofes (SW VII 103). Ihre gewaltsame Absetzung vom Animalischen lässt sie paradoxerweise zu einem nicht mehr menschlichen Grenzfall werden, zu einer Figur unlebendiger Kreativität, die sich in Hass auf das Lebendige nur im Tod einrichten kann und damit eine Ausweglosigkeit thematisiert, die mit einer Krise des Wortes korreliert. So kommt ein weiteres Moment dieser Kritik des modernen Bewusstseins in den Blick, nämlich die Zukunftslosigkeit, die letztlich dekadente Überholtheit, die auf der Bühne der Elektra durch die Enge und Unentfliehbarkeit schon symbolisiert ist. Die moderne Elektragestalt kann die Fixierung auf die Vergangenheit, die sie ständig als Rachevision in die Zukunft projiziert, nicht überleben; - mit der heutigen Zeittheorie gesprochen kann man sagen, dass diese Elektra von einer extremen Gegenwartsschrumpfung geprägt ist, dass sie zwischen den ungeheuer breit erfahrenen Räumen von Vergangenheit und Zukunft keine Lebensmöglichkeit mehr hat. In diesem prekären und von Selbstaufhebung bedrohten Grenzstreifen aber ist Elektra als eine moderne Intellektuelle erkennbar, die als einzige die böse Welt durchschaut und sie in einer freilich von Hass vergifteten Weise zum Ausdruck bringen kann. Sie ist als Meduse und Prophetin eine Erkennende, eine das Wort, aber eben kein Leben hervorbringende Künstlerfigur, deren Gewaltsamkeit und deren Ausweglosigkeit nicht zuletzt ihren Schöpfer immer wieder verstören musste. Hofmannsthal hatte offenbar nur wenig Freude an diesem erfolgreichen Werk, - er hat es aber in auffallender Gründlichkeit wieder und wieder kommentiert, jedoch wohl eher aus einem Bedürfnis der Abwehr und der Einordnung heraus, - letztlich hat er sich der Radikalität der hier angestellten Diagnose zu entziehen versucht. Dass er gleichwohl dieses Drama in dem hochmodernen Kontext von Sprachkrise, Pantomime und Tanzkunst eingestellt hat, zeugt von den enormen Widersprüchen, die diesen Autor nach wie vor interessant sein lassen. Der Tanz der Elektra ist nicht nur aus dramaturgischen Gründen der Effektivität ans Ende gestellt: er ist das Ende der Elektra, er ist jene Form von Dynamik, zu der sie 16 Vgl. Elke-Maria Clauss: ‚und weiß nicht Mensch und Tier zu unterscheiden‘. Zur Funktionsweise der Tierbilder in Hofmannsthals „Elektra“. In: Die Zoologie der Träume. Studien zum Tiermotiv in der Literatur der Moderne. Hg. v. Dorothee Römhild, Opladen, Wiesbaden 1999, S. 59-83. Mathias Mayer 174 das ganze Stück, das ganze Leben über nicht in der Lage war. So besehen stellt Hofmannsthals Experiment mit dem antiken Sujet auch einen zentralen Beitrag zu jenem „théatre statique“ dar, das wenige Jahre zuvor der belgische Dramatiker Maurice Maeterlinck beschrieben hatte - als den der Moderne entsprechenden Verzicht auf das lautstarke Handeln, auf Othellos eifersüchtiges Rasen oder die große Massenszene des Geschichtsdramas. Das statische Theater, in dem fast nichts passiert, das die Handlung auf ein Minimum reduziert und die Wahrnehmung, das Reflektieren ins Zentrum stellt, - die Stille statt den Lärm propagiert, diese Form des Theaters findet Maeterlinck u. a. im Hamlet, gleichsam dem älteren oder jüngeren Bruder Elektras, der auch einen ermordeten Vater zu rächen hat. Beide, Hamlet und Elektra, kommen erst am Ende zum Handeln, die längste Zeit aber ersetzen sie es durch den Gedanken und das Wort, es sind Figuren des Statischen. Zusätzlich fällt auf, dass Hofmannsthals Werk als Einakter angelegt ist, womit er ein Modell der europäischen Moderne aufgreift, das gegen das handlungsreiche Drama des 19. Jahrhunderts gestellt worden war. Im Einakter, so hat es Peter Szondi gesehen, dominiert die Situation über die Handlung, - also auch hier ein statisches Element. Die schon beobachtete Enge und Unentfliehbarkeit der Bühne, Elektras Fixierung auf den einen Winkel mit dem verscharrten Beil, ihre Besessenheit, im wörtlichen Sinn: „Sitz an der Erd’ wie ich und wünsch den Tod und das Gericht herbei auf sie und ihn“ (SW VIII 69, vgl. S. 120), macht sie zu einer weitgehend unbeweglichen, zwischen Erinnerung und Zukunft stehenden Figur. Ihre prophetische Hellsichtigkeit, das Prophetische, das Medusenhafte - all das prägt das für Chrysothemis so beängstigend Starre und Leblose, das Elektra verbreitet. Es ist, so könnte man sagen, ihr Preis für das Erkennen und für das Sprechen der Wahrheit. Chrysothemis’ Unruhe treibt sie treppauf, treppab, von Schwelle zu Schwelle, ebenso wie Klytemnästra in sich von extremer Unruhe zerrissen ist; die Männer, Aegisth und Orest, haben ohnehin den Weg ins Freie oder von draußen zur Verfügung. Einzig Elektra ist die, die „mit Eisenklammern“ (SW VII 70) sich und ihre Umgebung fesselt oder im Wort bannt, in einem statischen Augenblick der Erkenntnis, der sich erst am Ende in die sprachlose Dynamik des Tanzes öffnet und damit notwendigerweise Elektras Ende bedeutet. Ihr Tod löst den Bann des Agamemnon-Mordes. Das Stück leistet aber auf diese Weise ein Doppeltes: es stellt als auf die Rache fixierter Einakter mit der dominanten Rolle von Wort, Reflexion und Erkenntnis das statische Theater unter Beweis, zugleich aber arbeitet es mit dem Umschlag in den Tanz an dessen Aufhebung, die erst im Tod der Protagonistin vollzogen wird: Elektras Tod ist ein Tod in der Ekstase, ein höchst dynamischer Tod, so wie umgekehrt ihr Leben von lebloser Erstarrung geprägt war. Als Experiment solcher Umkehrungen, als Paradoxie und Dissonanz von Lebendigkeit und Unlebendigkeit wird das Stück zu einem dramatischen Grenzfall, einem riskanten Schritt in die Aporien der Moderne. Denn so sehr Elektra hier als wortmächtige Gestalt auftritt und kraft ihrer Rede gleichsam die Zukunft vorausbeschreiben kann, so sehr sie auch in der Tradition der Medusa als eine poetische Figur erscheint, - letztlich unterstellt ihr das Drama eine skeptische, eine negative Künstlerrolle. Am Ende, wenn sozusagen ihr Lebenszweck Hugo von Hofmannsthal Elektra 175 aufgebraucht ist und die verhassten Mörder ihres Vaters umgebracht sind, kann sie ihren Triumph nicht ausleben, sondern sie zieht sich mit dem „Schweigen und tanzen“ in den Entzug des Wortes zurück, und ihr namenloser Tanz, auf dessen Höhepunkt sie tot zusammenbricht, ist ein Stück weit die Chandos-Krise des Sprechtheaters: ein Rückzug ins Schweigen, der gleichwohl als Sprechtheater und als Tanz vorgeführt wird, - eine allerdings heikle, für die Legitimation der Sprache keineswegs harmlose Entscheidung, die zu einer Pathosformel des 20. Jahrhunderts werden sollte. Vor allem ist Elektra die Moralistin - der Maßstab zur Beurteilung der Welt liegt für sie in der Verpflichtung, das geschehene Unrecht auszugleichen. Nach der Nachricht vom Tod Orests, die sich erst später als falsch erweist, ist sie weniger von Trauer bestimmt, wie Chrysothemis, als vielmehr von der Überzeugung, nun selbst „das Werk“ der Rache vollziehen zu müssen, da „ungetan es ja nicht bleiben darf“ (SW VII 90). So fraglos steht ihr diese Aufgabe als moralisches Gesetz vor Augen, dass sie fest davon ausgeht, der Schatten des Orest würde sich aus schlechtem Gewissen nicht in die Nähe des Vaters wagen, weil er seiner Rachepflicht nicht habe nachkommen können. Entsprechend pathetisch aufgeladen ist dann ihre biblisch transponierte Verklärung der Tat, - „der ist selig, der tuen darf“ (SW VII 104), von der sie dann aber selbst ausgeschlossen bleibt. Ihr Moralismus ist dabei mit einem genealogischen Denken kombiniert, - die Berufung auf das königliche Blut in ihren Adern ist dadurch umso entschiedener, weil sie sich bis ins Tierische erniedrigt sieht: „ich bin das hündisch/ vergoß’ne Blut des Königs Agamemnon! “ (SW VII 99). Das Bildfeld des Tierischen spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle, weil sich darin sowohl die aristokratische Verachtung und der Hass Elektras entlädt, gegenüber den Dienerinnen, die sie für Schmeißfliegen und Hunde erklärt, wie gegenüber der Sexualität, die sie aufs Animalische reduziert, wie auch weil sich Elektra selbst in ihrer äußersten Degradierung am Hof Aegisths als bloßes Tier empfinden muss. Insofern steht das „hündisch vergoß’ne Blut“ ganz im Zentrum des Stückes, aus dessen moralischem System Chrysothemis auszuscheren versucht. Agamemnon und der Bruder sind für sie tot, und ihr Ausbruchsversuch, ins wirkliche Leben zu kommen, folgt weder moralischen noch aristokratischen Regeln - „und wär’s ein Bauer,/ dem sie mich geben“, sagt sie zu Elektra, „Kinder will ich ihm/ gebären“ (SW VII 70). In diesem Lebensentwurf vermag Elektra freilich nur ein tierisches Vergessen, eine unmenschliche Gewissenlosigkeit erkennen - aber ihr Anspruch eines menschlichen Erinnerns, einer gewissenhaften Gerechtigkeit, zeigt sich als rigider Hass, als Selbstzerstörung, wenngleich er Kräfte des Entlarvens, des Sprechens und des Prophetischen freisetzt. Und die beklemmende Bilanz des Stückes richtet sich eben auf dieses Dilemma, dass weder das Verdrängen des Unrechts lebbar ist: Klytemnästra und Chrysothemis führen beide ein nichtlebendiges Leben, gefangen im Kerker ihrer Ängste und Wünsche, noch auch Elektras Vision sich dem Leben vermitteln kann, - ihre Vereinigung mit dem hohläugigen Bräutigam, dem Hass, den ihr der Vater ins Bett geschickt hat, erzeugt nichts als das Werk der Rache, die sich im Vollzug zugleich vernichtet. Als Experiment der Jahrhundertwende, das Mathias Mayer 176 Moral und Intellekt, Erkenntnis und Gedächtnis in einer Figur verbindet, stellt Hofmannsthals Drama die Möglichkeiten des modernen Bewusstseins in Frage; die Aufhebung ins Schweigen und Tanzen, das Versäumen der Tat und das Versagen des Wortes, sie stehen am Anfang eines modernen Theaters, dem seine Voraussetzungen abhandengekommen sind. Der expressionistische Schrei, die Kommunikationslosigkeit des absurden Theaters und das Verstummen der Figuren Becketts bestätigen Hofmannsthals Gespür für die Grenzen und Abgründe des Dramas. Literaturverzeichnis Bergengruen, Maximilian: Mystiker der Nerven. Hugo von Hofmannsthals literarische Epistemologie des ‚Nicht-mehr-Ich‘. Freiburg i. Br. Berlin, Wien 2010. Clauss, Elke-Maria: „‚und weiß nicht Mensch und Tier zu unterscheiden‘. Zur Funktionsweise der Tierbilder in Hofmannsthals „Elektra““. Die Zoologie der Träume. Studien zum Tiermotiv in der Literatur der Moderne. Hg. 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Kannst Du seine Welt […] lehsehn? Es wird immer von allen erzählt. Vielen. Mischrassen auf Mischrassen. 2 Wer Finnegans Wake, James Joyce’ letztes Werk, schon einmal in die Hand genommen und sich an der Lektüre wenigstens einer der 628 Seiten versucht hat, wird von seiner eigenen Rezeptionserfahrung her verstehen können, warum diesem Buch der Ruf obskurer Unzugänglichkeit vorauseilt. Von der Mehrzahl seiner Zeitgenossen wurde das in Teilen vorab veröffentlichte Work in Progress (wie es bis vor seiner endgültigen Veröffentlichung noch hieß) schon während seiner Entstehungszeit zwischen 1922 und 1939 als Scharlatanerie, pathologischer Sprachfetischismus oder 1 Alle Zitatnachweise im Text ohne weitere Angaben beziehen sich auf Joyce, James: Finnegans Wake, eingeleitet v. Seamus Deane, Harmondsworth 1992. Dabei hat sich in der Mehrzahl der Sekundärliteratur die Konvention durchgesetzt, mit der Zahl vor dem Punkt die Seitennummer und mit der zweistelligen Zahl nach dem Punkt die Zeilennummer zu bezeichnen. Alle Ausgaben des Finnegans Wake seit seinem ersten Erscheinen 1939 halten sich an den genauen Drucksatz der Originalausgabe. 2 Stündel, Dieter H.: Finnegans Wehg, Kainnäh ÜbelSätzZung des Wehrkeß fun Schämes Scheuß, Frankfurt a. M. 1993, S. 18. Christoph Henke 180 abstruses Wahnsystem verschrien. 3 Joyce’ Text, dessen Abfassung immerhin fast ein Drittel seines Leben bestimmt hat, ist bis heute nicht über den Status eines zumeist skeptisch zur Kenntnis genommenen, bisweilen ehrfürchtig bestaunten, aber mithin als literarische Sackgasse verstandenen Experimentes hinausgekommen. Nunmehr siebzig Jahre Forschung zu Finnegans Wake 4 haben zwar Einiges zur Erhellung des Textes beigetragen, das Werk hat jedoch nie auch nur annähernd den Stellenwert eines Ulysses einnehmen können, jenes epochalen Vorgängerromans des Autors, der einhellig als modernistischer Roman par excellence betrachtet wird. Finnegans Wake hingegen polarisiert bis heute: für die einen markiert er die bedauerliche Verirrung eines genialen Autors, für die anderen ist es das postmoderne Buch der Bücher schlechthin. 5 Was macht das Werk so unzugänglich? Wie im einleitenden Zitat zu erkennen ist, wird James Joyce’ seltsamer Text auch in der deutschen ‚Übersetzung‘ von Dieter H. Stündel (welcher seinen Versuch einer Übertragung bezeichnenderweise mit „Kainnäh ÜbelSätzZung“ untertitelt hat) nicht wesentlich klarer. Nimmt man die semantischen Angebote an, die obiges Zitat macht, so könnte man die Schwierigkeit des Lesen so paraphrasieren: Es sind die kuriosen Sprachzeichen des Textes, in denen sich viele Geschichten verschiedener Menschheitsgenerationen ineinander vermischen und dabei doch immer nur von derselben Welt erzählen, oder anders gewendet: immer wieder nur selbstreferenziell auf ihre eigene Welt zurückverweisen. Beim Versuch der Rezeption dieser kuriosen Zeichen stellen sich für die Joyce-Forschung übrigens dieselben beiden Grundprobleme wie für jede sonstige Leserschaft (letztere ist übrigens ebenso gut zu vernachlässigen, da das schmale Rezeptionsumfeld des Finnegans Wake fast ausschließlich ‚vom Fach‘ ist): 3 Vgl. hierzu die vielen kritischen zeitgenössischen Reaktionen, über die Richard Ellmann in seiner maßgeblichen Joyce-Biographie berichtet (James Joyce, New York 1982, S. 563, 579, 581, 584 f., 591, 594 f., 607 et passim). 4 Der Beginn der Finnegans-Wake-Forschung kann ziemlich genau mit dem 1944 verfassten, bahnbrechenden A Skeleton Key to ‚Finnegans Wake‘ von Joseph Campbell und Henry Morton Robinson (London 1947) ermittelt werden, der den ersten Versuch machte, das Werk in seiner Totalität zu erfassen und inhaltlich zu paraphrasieren. Dieser Versuch ist aus heutiger Forschungsperspektive nicht ganz unkritisch, aber zumindest setzte diese erste Aufarbeitung von begeisterten ‚Amateuren‘ (im französischen Wortsinn) die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Finnegans Wake in Gang. 5 Einen guten Überblick zum Spektrum der Reaktionen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts bietet Dettmar, Kevin J. H.: The Illicit Joyce of Postmodernism, Madison 1996, S. 209-217. Wenngleich Finnegans Wake von wortführenden Intellektuellen der Postmoderne wie Michel Butor, Hélène Cixous, Jacques Derrida, Umberto Eco, Ihab Hassan, Julia Kristeva, Jacques Lacan und anderen als postmodernes Buch par excellence gesehen wurde, stellt Dettmar in polemischer Weise die Gegenthese auf, dass der narrativ vielschichtige Ulysses der wesentlich postmodernere Roman als der sprachstrategisch einseitige Finnegans Wake sei: „Finnegans Wake, though one may never be quite comfortable reading it, does get noticeably easier the further one reads; its ‚initial style‘ is also its final style. [...] Ulysses is a guerrilla text, constantly shifting the grounds of its narrative experiments; Finnegans Wake is an outlaw all right, but remains consistent within itself in a way that Ulysses does not care to.“ (S. 210 f.) James Joyce Finnegans Wake 181 1. Der Anspruch an die sprachlichen Kapazitäten der Leserschaft ist mit der Verarbeitung von etwa sechzig bis siebzig Weltsprachen 6 in den Neologismen der Finnegans-Wake-Sprache (Wakeanese) exorbitant hoch. In Finnegans Wake stößt Joyce mit seiner ansatzweise schon im Ulysses praktizierten Sprachschöpfungstechnik in völlig neue Dimensionen vor, sowohl qualitativ als auch quantitativ. Allein die Frequenz von sogenannten portmanteau words (ineinander verschmelzenden Lexemen), sonstigen Neologismen und idiosynkratischen Schreibweisen erhöht sich derart, dass hier nicht mehr von einer Erweiterung oder bloßen Verfremdung des sprachlichen Lexikons gesprochen werden kann, sondern von dessen völliger Entgrenzung und Auflösung in einer hypertrophen Idioglossie. So drängt sich die Sprache des Textes als unausweichliche Hürde bei der Rezeption auch kürzester Passagen in den Vordergrund. 2. Der schiere Umfang des Finnegans Wake ist gemessen an dem sprachlichen Schwierigkeitsgrad so überwältigend, dass die Lektüre auf jene Mehrheit der Leserschaft abschreckend und demotivierend wirkt, die im Zuge üblicher Lesegewohnheiten eine Einheit des Werkes in einer vom Anfang bis zum Ende fortschreitenden Linearität zu erfassen sucht. Finnegans Wake unterminiert aber nicht nur das syntagmatische Linearitätsprinzip natürlicher Sprache und somit auch einer entsprechenden Lektüre von Anfang bis Ende, sondern auch ein denotatives Sinnverstehen insgesamt. Mit anderen Worten: Der Text kann nicht mehr auf herkömmliche Weise verstanden werden, es lässt sich keine eindeutige Story, kein klares Substrat einer Ereignisabfolge mit Handlungsfiguren, wie es etwa aus einem traditionell erzählten Roman hervorgeht, abstrahieren. In den ersten Jahrzehnten nach seinem Erscheinen hat sich die Forschung zu Finnegans Wake diesen Herausforderungen im Grunde mit der impliziten Annahme gestellt, dass Joyce’ Text ein extrem komplexes hermeneutisches Rätsel darstelle, eine Art multidimensionales Rebus, 7 welches aber prinzipiell lösbar sei, wenn man nur den richtigen Schlüssel, den passenden Code oder den zugrundeliegenden monomyth 8 fände. Gemäß dem damals vorherrschenden textpositivistischen Paradigma des New Criticism wurde ein erheblicher Aufwand unternommen, um dem Autor bzw. dem Text selbst ‚auf die Schliche zu kommen‘, indem das Bauprinzip seines Labyrinths 6 In seiner Einleitung zur 1992er Penguin-Ausgabe des Finnegans Wake nennt Seamus Deane die Zahl 65 (S. xlviii). Die Zahl der vermuteten Sprachen scheint sich pro Dekade um etwa 5 bis 10 zu erhöhen. Davon zeugen auch zahlreiche Annotationslexika, die die Etymologien des Wakeanese aus einzelnen Nationalsprachen nachweisen. Den Hauptanteil machen neben dem Englischen wohl das Französische, Deutsche, Italienische, Irisch-Gälische und das Norwegische aus (Joyce soll diese Sprachen mehr oder weniger flüssig beherrscht haben). 7 Vgl. Bishop, John: Joyce’s Book of the Dark, ‚Finnegans Wake‘, Madison 1986, S. 315: „[Any] paragraph, like Finnegans Wake as a whole, might better be treated as a rebus, a crossword puzzle, or a hardly comprehensible dream whose manifest elements are particles of trivia and nonsense that conceal latent and apocalyptic senses which lie not on the lines but between them, and not in any literal senses but in ‚outlex.‘“ 8 Joseph Campbell hat diesen Joyce’schen Neologismus aus Finnegans Wake (581.24) übernommen und in seiner mythographischen Studie The Hero with a Thousand Faces (Princeton 1949) als gemeinsame Tiefenstruktur aller (mythischen) Erzählungen definiert (vgl. S. 30, Fn. 35). Christoph Henke 182 mithilfe eines Arsenals an sprachlichem und enzyklopädischem Referenzmaterial ergründet und somit sein semantisches Potenzial freigesetzt, aber damit zugleich auch fixiert und eingegrenzt werden sollte. 9 Dieser Forschungsphase verdanken wir eine ganze Reihe von Lexika, Kompendien und Lektürehilfen, die als eindrucksvolle Materialsammlungen zu Sprachwurzeln, Textbezügen, Leitmotiven etc. 10 einen Zugang zum Text ermöglichen. Doch auch mit diesen Hilfsmitteln bleibt Finnegans Wake eine unverhältnismäßig ‚harte Nuss‘. Es stellt sich unweigerlich die Frage, ob Finnegans Wake nur exegetisch studiert werden kann oder ob man damit nicht genau einer Leseweise verfällt - nämlich jedes Zeichen, jedes Wort, jeden Satz semantisch zu meistern und somit logisch-sinnvoll beherrschen zu wollen -, deren Konvention der Text auf so extreme Weise in Frage stellt. 11 Wie diesen einleitenden Ausführungen bereits entnommen werden kann, ist der Versuch, über James Joyce’ Finnegans Wake als großes Werk der Weltliteratur zu sprechen, mit der Schwierigkeit verbunden, nicht einfach seinen Plot, seine Handlungsfiguren, seine Themen und seine möglichen Aussagen, die das Werk wertvoll erscheinen ließen, zusammenfassen zu können. Und trotzdem - gewissermaßen wider besseres Wissen - werde ich Joyce’ Text zunächst genauso behandeln, nämlich als einen Roman mit Charakteren, Handlung und Themen. 12 So sollen das arabeske 9 Adaline Glasheen (Third Census of ‚Finnegans Wake‘, An Index of Characters and Their Roles. Berkeley 1977) bezeichnet ihr Register sinnfällig als „interim report, for no man has yet sounded the deep structure of Finnegans Wake or teased out the plan of the maze Joyce made in vainglorious imitation of God and Masterbuilder Daedalus“ (S. vii). 10 Als die für diese Arbeit verwendeten ‚Materialsammlungen‘ möchte ich folgende nennen: Atherton, James S.: The Books at the Wake, A Study of Literary Allusions in James Joyce’s ‚Finnegans Wake‘, Mamaroneck, N.Y. 1974; Campbell u. Robinson: Skeleton Key; Glasheen: Third Census; sowie McHugh, Roland: Annotations to ‚Finnegans Wake‘, London 1980. - Weitere wichtige Lesehilfen sind: Tindall, William York: A Reader’s Guide to ‚Finnegans Wake‘, New York 1969; Rose, Danis u. John O’Hanlon: Understanding ‚Finnegans Wake‘, A Guide to the Narrative of James Joyce’s Masterpiece, New York 1982. Als neuere Publikation, die auf den genannten reading guides aufbaut, ist zu nennen: Epstein, Edmund Lloyd: A Guide Through ‚Finnegans Wake‘, Gainesville 2009. 11 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung von hermeneutischer und dekonstruktiver, ‚sprachgenießerischer‘ Lesehaltung auch den konzisen Forschungsüberblick bei Siedenbiedel, Catrin: Metafiktionalität in Finnegans Wake, Das Weibliche als Prinzip selbstreflexiven Erzählens bei James Joyce, Würzburg 2005, S. 39-50. 12 Eine solche Haltung - die Zuschlagung zur Gattung des Romans - ist seit Beginn der Kritik zu Finnegans Wake umstritten und ist insbesondere unter einem poststrukturalistischen Theorieparadigma zurückgewiesen worden; vgl. auch Siedenbiedel (Metafiktionalität, S. 48, Fn. 80), die einige markante Stimmen aus der Debatte um die Gattungszugehörigkeit aus den letzten siebzig Jahren herausgreift. Dass Finnegans Wake ein Text sui generis sei, ist als ehrerbietender Gemeinplatz der Finnegans-Wake-Kritik zu betrachten. Stellvertretend sei hier Patrick A. McCarthy zitiert: „The debate over what Finnegans Wake really is, and what Joyce intended it to be, is hardly over.“ („A Warping Process: Reading Finnegans Wake“, in: Work in Progress, Joyce Centenary Essays, hg. v. Richard F. Peterson, Alan M. Cohn u. Edmund L. Epstein, Carbondale 1983, S. 49.) Zuletzt hat Christian Hein (Finnegans Fast-Nacht, Formen literarischer Karnivalisierung in James Joyces Finnegans Wake, Würzburg 2010) Joyce’ Text als Phänomen Bachtin’scher Karnivalisierung auf verschiedenen sprachlichen, motivischen und thematischen Ebenen betrachtet, was Finnegans Wake trotz seiner extremen („monströsen“) Form als geradezu typischen Roman ausweist. James Joyce Finnegans Wake 183 Grundprinzip der Handlungsfiguren im Text sowie wichtige herauszudestillierende Handlungselemente dargestellt werden. Danach werde ich zwei verbreiteten Ansätzen der Sekundärliteratur zur Erhellung strukturbildender Prinzipien des Textes folgen: Finnegans Wake soll als Umsetzung eines nächtlichen Traumzustandes sowie als Universum einer archetypischen Menschheitsgeschichte vorgestellt werden. Schließlich werde ich am Schluss noch einmal zur Problematik des sinnverstehenden Lesens zurückkehren und Finnegans Wake als einen Text charakterisieren, der genau dieses zum eigentlichen Thema erhebt. II Urfamilie und Handlung im „chaosmos“ Was lässt sich über Finnegans Wake sicher sagen? Dass Finnegans Wake ein Buch über Irland und über Dublin ist - wie jedes (oder vielleicht noch mehr als jedes) andere Buch von Joyce. Dass es ein Buch der Bücher ist - wie vorher schon Portrait of the Artist as a Young Man und Ulysses. Es ist voller intertextueller Bezüge, deren Menge aber die vorhergehenden Werke wohl um ein Vielfaches übersteigt. 13 Was sich allerdings nicht bis in Letzte bestimmen lässt, sind Handlung und Figuren des Textes. Eine kaum überschaubare Vielfalt an Namen entlehnt aus Geschichte und Mythologie, noch dazu in veränderlicher Schreibweise und wandelbarer Identität, erschwert die Rezeptionsabsicht, Finnegans Wake als Roman zu verstehen. Neben einer großen Anzahl von Figuren, die einen einmaligen ‚Auftritt‘ haben bzw. nur an einigen wenigen Stellen im gesamten Text genannt werden, gibt es eine überschaubare Menge von ständigen ‚Hauptfiguren‘, die allerdings - gleichsam maskiert - unter verschiedenen Namen oder Namensvarianten an der Textoberfläche erscheinen. 14 Diese wiederkehrenden Figuren sind keine Charaktere im üblichen Sinne, so wie Finnegans Wake auch keinen einem traditionellen Romanverständnis entsprechenden Plot aufweist; sie sind nicht etwa mit individueller personaler Identität versehen, sondern erscheinen eher als arabeske Mischungen aus Fragmenten menschlicher Charaktere, deren bisweilen widersprüchliche Beschreibungen die Illusion einer realistischen fiktionalen Welt gar nicht erst aufkommen lassen. Da diese Identitätsfragmente eher auf allgemeine Prinzipien verweisen, möchte ich sie im Folgenden Archetypen nennen (wobei auch dieser Ansatz der Gefahr einer Reduktion unterliegt). Die wichtigsten fünf dieser personalen Archetypen bilden die Urfamilie des Finnegans Wake: Vater, Mutter, Zwillingssöhne und Tochter. Die am häufigsten vorkommenden Namen 13 Atherton zählt im Titelregister seines Referenzhandbuchs der intertextuellen Bezüge (Books at the Wake) 364 Autoren aus Literatur, Philosophie, Politik und Wissenschaft, deren Namen oder Werke im Finnegans Wake direkt oder durch Anspielungen erwähnt werden. 14 Diese These wird neben textimmanenten Beobachtungen im Übrigen durch die Notizbücher und Manuskripte James Joyce’ gestützt, der mit einer Anzahl von etwa sieben Hauptsiglen als Abkürzungen seiner Hauptfiguren die Übersicht über seinen eigenen Text behielt. An der Distribution dieser Siglen ist erkennbar, welche Personen an der Textoberfläche welchem allgemeineren Personenkonzept angehören. Eine Analyse dieser Siglen befindet sich in McHugh, Roland: The Sigla of ‚Finnegans Wake‘, Austin 1976. Christoph Henke 184 dieser fünf Archetypen sind: HCE (Vater), ALP (Mutter), Shem & Shaun (Söhne) und Issy (Tochter). * HCE steht für viele Namen, üblicherweise für Humphrey (oder Harold) Chimpden Earwicker, oder häufiger H. C. Earwicker. Earwicker, abgeleitet von engl. earwig (Ohr[en]kneifer) soll ursprünglich nur ein Beiname gewesen sein 15 , der der Figur von William dem Eroberer verliehen wird (cf. 31.25-28) und hernach erst zu seinem Nachnamen wird. 16 Hieran wird schon deutlich, dass die Figuren des Finnegans Wake keinem üblichen Realismusprinzip folgen, sie sind zeit- und ortsungebundene Erscheinungen. Trotzdem lässt sich so etwas wie eine Kernhandlung erkennen: HCE lebt mit seiner Familie in Chapelizod, einem westlichen Vorort von Dublin, 17 und unterhält dort eine Gastwirtschaft, die er und seine Familie auch bewohnen. 18 Sein gesellschaftlicher Stand ist niedrig, und er gilt als unbescholten, bis er jedoch eines obskuren Sittendeliktes beschuldigt wird, das er im Phoenix Park von Dublin an zwei jungen Frauen begangen haben soll. Die Vorstellungswelt HCEs, sofern sie sich als solche bezeichnen ließe, dreht sich im gesamten Buch um seine Rechtfertigung als respektables Gesellschaftsmitglied und die Zurückweisung der vorgeblich rückhaltlosen Anschuldigungen. 19 15 Als Grund: „we are back in the presurnames prodomarith period“ (30.03-04). 16 John Gordon vermutet, dass sich HCE diesen Namen u.a. aufgrund seiner Eigenart verdient hat, seinen Gürtel um den fettleibigen Bauch („rollpins of gansyfett“ - 531.07; „lot stoutlier than of formerly“ - 570.17-18) derart eng zu schnallen (Indizien sieht Gordon in 269.24-25 und 564.23-25), dass er dem Insekt „earwig“ (‚Ohrwurm‘ oder ‚Ohrenkneifer‘) gleicht; vgl. Gordon, John: Finnegans Wake, A Plot Summary, Syracuse, N.Y. 1986, S. 44 f. Viele von Gordons Figuren- und Handlungsbeschreibungen sind allerdings mit sehr viel Vorsicht zu genießen, da sie oft überaus spekulativ sind und auf zweifelhaften Textindizien beruhen. 17 Der Name Chapelizod enthält einerseits etymologisch die sagenhafte irische Prinzessin Isolde (vgl. Gordon 9), in Finnegans Wake ein Alter Ego der Tochter Issy, andererseits das Wort chapel, welches eine Kombination aus den Initialen der Hauptfiguren HCE und ALP ist (vgl. Glasheen: Third Census, S. 54). (Chapelizod ist Joyceanern spätestens seit „A Painful Case“ aus Dubliners bekannt.) 18 Gordon: Plot Summary, S. 9-11, meint darlegen zu können, dass es sich um ein dreistöckiges Haus handelt, das im Erdgeschoß von den beiden Bediensteten Kate und Joe, im 1. Stock von den Eltern HCE und ALP und im Obergeschoß von den Kindern Shem und Shaun (in einem Zimmer) und Issy (in einem anderen Zimmer) bewohnt wird. 19 Vgl. Begnal, Michael H.: „The Dreamers at the Wake: A View of Narration and Point of View“, in: Narrator and Character in ‚Finnegans Wake‘, v. Michael H. Begnal u. Grace Eckley, London 1975, S. 35. James Joyce Finnegans Wake 185 Über diesen Kernkonflikt hinaus ist HCE die Verkörperung des männlichen Prinzips in Finnegans Wake, sein Natursymbol ist der Berg 20 (Dublins Howth), sein Machtsymbol ist der Phallus (darauf gibt es vielerlei Anspielungen im Text). In programmatischer Form steht HCE auch für „Here Comes Everybody“ (32.19-20) auf, was auf seine Repräsentation als Universalfigur verweist. Die Initialen HCE sind im gesamten Finnegans Wake geradezu omnipräsent. Von der ersten Seite an („Howth Castle and Environs“ - 3.03) okkupieren sie durchgängig immer wieder Wortfolgen und deuten die ständige Präsenz HCEs an. 21 Seine Doppelgänger und personalen Projektionen sind Adam, Noah, Isaak, Caesar, König Artus, St. Patrick (der irische Nationalheilige), König Roderick O’Connor (der letzte High King Irlands vor der anglonormannischen Machtübernahme im Hochmittelalter), Falstaff, Tristram Shandy, aber auch Sir Tristram (William St Lawrence, Earl of Howth, ein irischer Adeliger des 19. Jahrhunderts) u.v.m. 22 Zudem manifestiert sich in HCE aber auch Finn MacCool, ein gutmütiger Riese aus der irische Sage und eine mythische Irlandpersonifikation, sowie Tim Finnegan, jener einfache Tagelöhner und Trunkenbold aus der irischen Volksballade „Finnegan’s Wake“, deren Titel Joyce unter Auslassung des Apostrophen für sein Werk am Ende übernimmt: Finnegan wird nach dem vermeintlich tödlichen Sturz von einer Leiter durch Whiskey wiederbelebt, mit dem er von alkoholisierten Trauergästen bei der für ihn abgehaltenen Totenwache übergossen wird. 23 Einerseits ist somit alles Männliche in Finnegans Wake ein Teil von HCE - seine Söhne Shem und Shaun und deren Varianten können als sich widerstrebende fragmentarische Anteile von HCE gesehen werden -, andererseits ist er in der Urfamilie des Finnegans Wake die spezifische Vaterfigur. Diese Vaterfigur unterhält jedoch ein problematisches Verhältnis zu seinen Kindern. Gegenüber seiner Tochter Issy hegt er einen latenten Inzestwunsch - dies kann als sein eigentliches, archetypisches Vergehen gesehen werden, das im Phoenix- Park-Delikt nur seine manifeste Ausprägung in Form einer Verschiebung hat. Das mysteriöse Vergehen HCEs ist aber auch Widerhall der mythischen Erbsünde, „Der Fall Adams“ (70.05), der sich auch in der Kernhandlung an HCE vollzieht. HCE steht nun nicht nur zu seiner Tochter in einem archetypischen Verhältnis, sondern ebenfalls zu seinen Söhnen Shem und Shaun. Obwohl Joyce sich nur abfällig zur Psychoanalyse Freuds und Jungs geäußert hat, 24 ähnelt die Beziehung zwischen HCE und seinen Söhnen, auch in vielen seiner Abwandlungen (z.B. Caesar/ HCE und Brutus/ Shaun und Cassius/ Shem in 161-168), den Vorstellungen Freuds von der 20 Vgl. Paul, Elliot: „Mr. Joyce’s Treatment of Plot“, in: Our Exagmination round His Factification for Incamination of Work in Progress, James Joyce, ‚Finnegans Wake‘, A Symposium, hg. v. Samuel Beckett u.a., New York 1972, S. 134. 21 Hervorhebungen von mir. In „Edenborough“ steckt offensichtlich eine Anspielung auf den Garten Eden. 22 Vgl. Glasheen: Third Census, S. lxxii ff., die auf dreizehn Seiten eine Tabelle der Personenkonstellationen mit dem treffenden Titel „Who Is Who When Everybody Is Somebody Else“ zusammengestellt hat. 23 Die Volksballade „Finnegan’s Wake“ stammt aus dem 19. Jahrhundert; zum Inhalt vgl. Glasheen: Third Census, S. 93 f. 24 Vgl. Begnal: „Dreamers“, S. 35. Christoph Henke 186 Urhorde in Totem und Tabu (1913), in der sich die Söhne zusammenschließen und gemeinsam den Vater töten, um in den Genuss seiner Machtprivilegien (etwa sein Vorrecht auf die Mutter und alle anderen Frauen der Urhorde) zu gelangen. Um solche Privilegien geht es auch im Werben beider Brüder um ihre Schwester Issy, die für sie beide ebenso ein Objekt der Begierde ist wie für HCE. Als ein Beispiel sei hier eine mit sexuellen Konnotationen durchsetzte Rede Jauns (eines Alter Egos von Shaun) zitiert: Iy waount yiou! yore ways to melittleme were wonderful so Ickam purseproud in sending uym loveliest pansiful thoughts touching me dash in-you through wee dots Hyphen, the so pretty arched godkin of beddingnights. If I’ve proved to your sallysfashion how I’m a man of Armor let me so, let me sue, let me see your isabellis. (446.02-07) 25 Der gemeinsame Wunsch des Vatermordes einigt die Söhne aber nicht sonderlich, vielmehr ist der Umsturz des Vaters Ausgangspunkt erbitterter und blutiger Machtkämpfe (der Motor geschichtlicher und kultureller Entwicklung), was mythologisch schon in der Kain-und-Abel-Problematik festgehalten ist, aber auch auf das problematische Verhältnis Noahs zu seinen Söhnen beziehbar ist, insbesondere auf den verstoßenen Sohn Ham, einer der vielen Entsprechungen des Sohnes Shem im Text. Shem und Shaun als Facetten des männlichen Prinzips HCE sind nicht so vielschichtig charakterisiert wie HCE selbst. In einem wörtlicheren Sinne als HCE sind sie lediglich „figments“, 26 Allegorien gegensätzlicher Elemente des einen Prinzips. Zwischen ihnen als Antipoden entwickeln sich in Finnegans Wake regelrechte „brother battles“ (von denen in der Mehrzahl aus der Perspektive Shauns berichtet wird). Shem ist von beiden der Introvertierte, der Verstoßene, der Erforscher des Verbotenen. 27 Er ist „Shem the Penman“ (125.23), der triebhafte Künstler, der unverstandene Poet und unerhörte Prophet, der genialische „seeker of the nest of evil in the bosom of a good word“ (189.29-30), der, wie Shaun missgünstig darlegt, seinen Körper („the only foolscap available, his own body“ - 185.35-36), seine Fäkalien und diverse Körperflüssigkeiten (cf. 185.27 - 186.18) als Schreibmaterial benutzt. Diese Körperschrift ist einerseits die „cyclewheeling history“ (186.02) der Welt als eine Geschichte aus Blut und Fäkalien, andererseits ein dem ganzen Körper entspringendes Stück Literatur, dessen Sprache buchstäblich die Unschuld verloren hat: Finnegans Wake. 28 25 Exemplarisch hierzu einige Annotationen (vgl. u.a. McHugh: Annotations, S. 446), die sehr erhellend sind, um den ‚eindeutig zweideutigen‘ sowie auch recht gewalttätigen Charakter dieser Passage zu erfassen: „Iy“ - I (auch Andeutung an Issy, ‚i‘/ ‚y‘-Cluster, ebenso auch ‚ss‘, scheinen in Finnegans Wake immer wieder auf Issy zu deuten); „waount“ - want, wound; „Ickam“ - I am, Ich kam (dt., ? ); „Hyphen“ - hymen; „beddingnights“ - weddingnights; „sallysfashion“ - satisfaction; „Armor“ - amour (fr.); „isabellis“ - Issy’s belly, bell, bellum (lat.). 26 Gordon: Plot Summary, S. 50. 27 Vgl. Campbell u. Robinson: Skeleton Key, S. 19: „the explorer and discoverer of the forbidden. He is an embodiment of dangerously brooding, inturned energy. He is the uncoverer of secret springs, and, as such, the possessor of terrific, lightning powers.“ 28 Dies ist in letzter Konsequenz die autoreferenzielle Botschaft des obskuren Briefes, der das gesamte Buch thematisch durchzieht - siehe dazu den folgenden obigen Absatz. James Joyce Finnegans Wake 187 Shaun dagegen ist „Shaun the Postman“ 29 , der Postbote, der die Botschaften Shems nur transportiert und verbreitet, dafür aber allen Ruhm erlangt. 30 Die zu überbringende Botschaft, repräsentiert durch einen ominösen Brief Shems, der im ganzen Buch immer wieder thematisiert wird, ist eine von Shaun zensierte, seiner dunklen Wahrheiten entledigte Nachricht. Shaun ist erfolgreicher Politiker und kalkulierender Manipulierer, puritanischer Prediger und autoritärer Moralapostel, viktorianischer Bourgeois und heuchlerischer Spießbürger, der seine Umwelt maßregelt, nur um sie für seine Zwecke auszunutzen: So let it be a knuckle or an elbow, I hereby admonish you! [...] The pleasures of love lasts but a fleeting but the pledges of life outlusts a lifetime. I’ll have it in for you. I’ll teach you bed minners, tip for tap, to be playing your oddaughter tangotricks with micky dazzlers [...]. I overstand you, you understand. (444.06-30) 31 In dieser als herablassende Moralpredigt an seine Schwester Issy zu lesenden Passage zeigt sich ein heuchelnder Shaun, dessen Rede voll ist von sexuellen Anspielungen, die wie Freudsche Versprecher immer wieder seine Rede unterwandern. Shauns immerwährendes Lieblingsthema ist die Beleidigung und Verleumdung seines verhassten Bruders Shem. In der Traumsprache des Finnegans Wake - dazu im Folgenden noch mehr - kommt mit Shem das Prinzip des Verdrängten in HCE an die Oberfläche, das - angesichts Shems angedeuteter Nähe zu Noahs verstoßenem Sohn Ham - allegorisch für das Andere, das Fremde an sich steht, das die eigene Identität gefährdet und dessen HCE sich entledigen möchte, aber nicht kann. So kann der Shaun-Shem-Antagonismus als der Widerstreit der Gegensätze im Menschen (HCE) gesehen werden: Ich-Bewusstsein (Shaun) gegenüber Es-Unbewusstem (Shem), Geist (Shaun) gegenüber Körper (Shem), Logik-Rhetorik (Shaun) gegenüber Phantasie (Shem), subjektive Identität (Shaun) gegenüber fragmentarischer Differenz (Shem), das Selbst (Shaun) gegenüber dem Fremden (Shem). * Das weibliche Prinzip in Finnegans Wake wird durch ALP repräsentiert. ALP steht in voller Länge für Anna Livia Plurabelle (ausbuchstabiert in 215.24: „Anna was, Livia is, Plurabelle’s to be“). Meistens wird auf sie nur mit ALP, Anna Livia oder in einer der ungezählten graphemischen Variationen verwiesen, z.B. „Annushka Lutetiavitch Pufflovah“ (207.08-09), „Appia Lippia Pluviabilla“ (548.06), „allaniuvia pulchrabelled“ (627.27-28) etc. Sie verkörpert einerseits die paradiesische Eva, die Frau Noahs, die Gottesmutter Maria, Marias Mutter Anna, die Göttin Isis, etc. - kurzum die ar- 29 „Shaun! Shaun! Post the post! “ (404.07) 30 Vgl. Campbell u. Robinson: Skeleton Key, S. 20: „Under the title of Shaun the Postman, he delivers to mankind the great message which has been actually discovered and penned by Shem, and enjoys thereby all the rewards of those who carry good tidings.“ 31 In „I overstand you, you understand“ klingt die patriarchal-archetypische Rollenhierarchie zwischen Mann und Frau an. Christoph Henke 188 chetypische Mutterfigur, deren Prinzip die Fruchtbarkeit ist. 32 Das Naturelement der Fruchtbarkeit ist das Wasser als Quellgrund allen Lebens. Entsprechend ist ALPs eigentliche Manifestation der Fluss, also das im Archetypus der Allmutter enthaltene Prinzip des Lebens („Livia“). ALP als Fluss ist zuerst die Liffey in Dublin; ihre typische Farbe wechselt zwischen grün und braun; ihr Name Livia/ Liffy transformiert sich häufig in Wortspielereien um ihre „leafiness“: „Lsp! I am leafy speafing. Lpf! “ (619.20). ALP mäandriert auch in Gestalt aller Flüsse der geographischen und mythologischen Welt durch den letzten Teil des ersten Buches (I.8) 33 - eigenen Angaben zufolge hat Joyce an keiner anderen Passage des Finnegans Wake so lange und intensiv gearbeitet wie an der berühmten „Anna Livia Plurabelle“-Passage, in die er bis zum endgültigen Erscheinen des Finnegans Wake zwischen 800 und 1000 Namen von Flüssen aus der ganzen Welt eingearbeitet haben soll. 34 Trotz der Irrungen, die sie mit HCE aufgrund seines Sittlichkeitsverbrechens durchmacht, steht sie letztlich loyal zu ihm („What about his age? says you. What about it? says I. I will confess to his sins and blush me further.“ - 494.30-31). Doch über die binäre Opposition ALPs und HCEs, des weiblichen und des männlichen Prinzips, kann dies nicht hinwegtäuschen; die Einheit zwischen Mann und Frau ist konfliktbelastet, ein lediglich illusionärer und nie erreichbarer Idealzustand - eine echte Vereinigung ist unmöglich. Signifikanterweise deutet sich dies am Ende von Buch III an, als die zu vollziehende körperliche Vereinigung von Mr. und Mrs. Porter (als Entsprechungen HCEs und ALPs) am morgendlichen Hahnenschrei scheitert (cf. 584.20-27). Als weitere Variante des weiblichen Prinzips tritt in Finnegans Wake vor allem die Tochter Issy (oder Isolde, Isabel, Iseut) auf. 35 Sie ist die ewige Verführerin, und über ihre Teilhabe an ALP ist sie ständiges Objekt der ödipalen Begierde von Shaun und Shem. Sie ist ebenso Stimulus für HCE, der sie im Spannungsfeld des Inzesttabus als junge ALP begehrt. Issy ist Narziss und kindliche Nymphomanin, eine Art Lolita, die explizite sexuelle Offerten macht, wie hier in einem „lovelitter“ (459.23) in Kapitel III.2 an die Brüder, die hier als Jaun/ Juan (Shaun) und Jaime (Shem) auftreten: I’ll strip straight after devotions before his fondstare - and I mean it too, (thy gape to my gazing I’ll blind and makeleash) and poke stiff under my isonbound with my soiedisante chineknees cheekchubby chambermate for the night’s foreign males and your name of 32 Vgl. Campbell u. Robinson: Skeleton Key, S. 18: „She is the eternally fructive and love-bearing principle in the world [...].“ 33 Finnegans Wake ist in vier ‚Bücher‘ mit einer jeweils unterschiedlichen Anzahl von Unterkapiteln aufgeteilt. Hier wird in der üblichen Form einer römischen Nummer (I - IV) vor dem Punkt auf das Buch und einer arabischen Nummer hinter dem Punkt auf das entsprechende Unterkapitel (die Zählweise beginnt bei jedem Buch wieder mit 1) Bezug genommen. 34 Vgl. Bishop: Book of the Dark, S. 336. 35 Des Weiteren wäre Kate „the Charwoman“ zu nennen, eine widerspenstige, hexenhafte Putzfrau im Haushalt von HCE und ALP in Chapelizod. Sie wird von einigen Kritikern als ein Stück verdrängter Vergangenheit - ähnlich wie der obskure „manservant“- interpretiert und in Analogie zum Mythos der dämonischen Lilith (der ersten Frau Adams, die vertrieben und vergessen wurde, so dass Adam Eva ehelichen konnte) als erste Frau HCEs gesehen (vgl. Glasheen: Third Census, S. 169; Gordon: Plot Summary, S. 73). James Joyce Finnegans Wake 189 Shane will come forth between my shamefaced whesen with other lipth I nakest open my thight when just woken by his toccatootletoo my first morning […]. Coach me how to tumble, Jaime and listen, with supreme regards, Juan, in haste, warn me which to ah ah ah ah ah. . . . (461.21-32) Issy als Anteil von ALP komplettiert also die als archetypisch verstandenen konträren Rollenmuster der Frau als Mutter und Hure. Dass diese Seite auch in ALP steckt, wird in der schon genannten „Anna Livia Plurabelle“-Passage (I.8) deutlich, die u.a. auch von ihrer archaischen promiskuitiven Vergangenheit handelt. Aus dieser Zeit gingen, wie die Waschfrauen zu berichten wissen (201 - 204), statt der ‚offiziellen‘ Version von drei Kindern einhundertundelf Kinder unbekannten Ursprungs hervor: „She can’t remember half of the cradlenames she smacked on them [...]. A hundred and how? They did well to rechristien her Pluhurabelle“ (201.31-35). Dies ist ihre Vergangenheit als „Plu-Hure-Belle“. Die Gegenwart ist der Familie gewidmet, ihre Zukunft ist vielleicht die einer verwitweten, hexengleichen Kate, einer weiteren Frauenfigur im Roman, die als Putzfrau in HCEs und ALPs Pub arbeitet. 36 Als ewiger Fluss wird sie immer wieder Wasser auf das „millwheeling vicociclometer“ (614.27) der Geschichte schütten und dieses von neuem als Issy-ALP-Kate durchleben. 37 III Strukturbildende Themen in Finnegans Wake Eine wichtige Voraussetzung zur Erhellung von Finnegans Wake ist die Annahme einiger grundlegender Referenzrahmen, mithilfe derer dem „chaosmos“ (118.21) des Textes Bedeutungen abgewonnen werden können. Allerdings ergibt sich hier wie schon bei der Handlungsanalyse die unausweichliche Hürde der dekonstruktiven Sprache des Textes, weshalb partikuläre Deutungsmuster dem „collideorscape“ (143.28) des Finnegans Wake nie ganz gerecht werden können. Trotz allem möchte ich im Folgenden zwei produktive Interpretationsrahmen ansprechen: Finnegans Wake als Buch der Nacht sowie als Buch der Geschichte. * 36 Vgl. Gordon: Plot Summary, S. 68. 37 Eine wesentlich differenziertere Analyse der Frauenfiguren in Finnegans Wake und ihrer Funktionen stellt Catrin Siedenbiedels umfassende Dissertation zum Thema des Weiblichen als metafiktionalen Prinzips dar, das in den vier Hauptrepräsentationen ALP, Issy, Kate und die Waschfrauen unterschiedliche Bedeutungsschattierungen im Hinblick auf die zyklische Wiedererzählung von Mythen und Erzählstoffen aufweist (für einen gerafften Zugriff siehe die Schlussbetrachtung der Arbeit; Siedenbiedel: Metafiktionalität, S. 291-298). Christoph Henke 190 What was thaas? Fog was whaas? Too mult sleepth. Let sleepth. (555.01-02) [...] curious dreamers [...] (577.31) Befasste sich Joyce im Ulysses noch mit dem Mikrokosmos eines Tages, so ist Finnegans Wake das entsprechende Pendant der Nacht. Die Domäne der Nacht und des Schlafes ist der Traum. Dies hat weitreichende Konsequenzen für Form und Inhalt, wie Joyce selbst in einem Brief an seine Förderin Harriet Shaw Weaver betonte: One great part of every human existence is passed in a state which cannot be rendered sensibly by the use of wideawake language, cutanddry grammar and goahead plot. 38 Finnegans Wake als „traumscrapt“ (623.36) thematisiert den Bereich menschlicher Existenz, der sich der Logik und der Vorgänge des wachen Bewusstseins entzieht und diese in der nächtlichen Traumarbeit geradezu pervertiert. Joyce interessiert sich hier jedoch nicht für den Traum als Erzählung, wie ihn in epochemachender Weise Freud in seiner Traumdeutung beschrieben und analysiert hat, denn diese Traumerzählung markiert immer schon die Abwesenheit des Geträumten als Vorgang, ist somit ein Relikt, nur eine Spur dessen, was sich im Traum abgespielt hat. Joyce äußerte sich hierzu in einem Gespräch: Work in Progress? A nocturnal state, lunar. That is what I want to convey: what goes on in a dream, during a dream. Not what is left over afterward, in the memory. Afterward, nothing is left. 39 Wie aber ist nun Finnegans Wake als ‚Traumroman‘ zu verstehen? 40 Wie soll etwas erzählt werden, was in der Sprache des wachen Bewusstseins niemals ausgedrückt werden kann? Vor einem ähnlichen Repräsentationsproblem standen die modernistische Avantgarde im Allgemeinen und Joyce im Speziellen bei der Entwicklung von Stream-of-consciousness-Techniken, also Erzähltechniken, die einen Bewusstseinsstrom darstellen sollen, welcher als Ungesagtes aber prinzipiell nicht adäquat durch Gesag- 38 Joyce, James: Letters of James Joyce, Bd. III, hg. v. Richard Ellmann, New York 1966, S. 146; zit. nach Joyce: Finnegans Wake, S. xi. 39 Mercanton, Jacques: „The Hours of James Joyce“, in: Portraits of the Artist in Exile, Recollections of James Joyce by Europeans, Hg. v. Willard Potts, Seattle 1979, S. 207. 40 Die wichtigste Studie zu Finnegans Wake als Traum- und Nachtroman ist sicher weiterhin John Bishops monumentales Joyce’s Book of the Dark von 1986. Meine hier folgenden Ausführungen zur Traumsprache in Finnegans Wake sind im Wesentlichen Bishops Buch geschuldet, wenngleich sie seine weitreichende intertextuelle Kontextualisierung unberücksichtigt lassen müssen. - Bishops Ansatz, der der schon als überholt gegoltenen Traumbuch-Lesart des Finnegans Wake neuen Auftrieb gab, ist, wie eigentlich alles in Bezug auf Joyce’ komplexes Werk, nicht unumstritten; vgl. die kritische Auseinandersetzung mit Bishop bei Attridge, Derek: „Finnegans Awake, or the Dream of Interpretation“, in: Joyce Effects, On Language, Theory, and History, Cambridge 2000, S. 133-155. Attridge erkennt darin das Begehren des Interpreten nach Bedeutungsfixierung, welches dem offenen Text Gewalt antut (siehe dazu auch meine Schlussreflexion im letzten Abschnitt). James Joyce Finnegans Wake 191 tes wiedergegeben werden kann. In analoger Weise handelt sich in Finnegans Wake also um den Versuch einer ästhetischen Transformation, die ihre eigenen darstellerischen Mittel finden muss, hier zur Darstellung des Traumes und seiner ihm eigentümlichen Un-Logik. Gemäß der Freudschen Unterscheidung zwischen manifestem und latentem Trauminhalt 41 ist das Sprachmaterial des Finnegans Wake in seiner Vermittlung als Schwarz-Weiß-Verteilung 42 , die man als Buchstabenschrift erkennt, immer noch manifest und somit der Welt des Tages angehörig. Dieses Schriftmaterial verweist aber bereits auf so unorthodoxe Weise auf das latente Nachtgeschehen des Finnegans Wake, indem es seine eigene Sprache schreibt, die in ihrer Form die Gesetze und Konventionen der englischen und aller übrigen angedeuteten Sprachen unterwandert. 43 Auf diese Weise folgen die sprachlichen Mittel des Finnegans Wake, obwohl einem mimetischen Impuls geschuldet, am Ende ihren eigenen ästhetischen Prinzipien. Die eigentümliche ‚Traumsprache‘ in Finnegans Wake ist vielfach als Radikalisierung der Technik der sogenannten portmanteau words charakterisiert worden, benannt nach dem englischen Autor Lewis Carroll und dessen Gedicht „Jabberwocky“, welches im zweiten Teil von Alice im Wunderland enthalten ist. Kofferwörter oder Schachtelwörter entstehen aus der Verschmelzung verschiedener Lexeme in einem neuen und verstellen somit Sinn, wie sie gleichermaßen neuen enthüllen. Aus Joyce’ komplexer Portmanteau-Technik erwachsen die vornehmlichen Schwierigkeiten in der Rezeption des Werkes; dagegen geht seine Syntax weitgehend mit der englischen konform. Diese Verschmelzungssprache ist nun durchsetzt mit sexuellen Anspielungen, die einerseits bereits die Signifikantenbildung unterlaufen („Phall if you but will, rise you must“ - 4.15-16; „Mastabatoom, Mastabadtomm, when a mon merries his lute is all long“ - 6.10-12), andererseits thematisch das Geschehen im Finnegans Wake bestimmen, z.B. das inzestuöse Begehren des Vaters HCE sowie der Söhne Shem und Shaun nach seiner Tochter bzw. ihrer Schwester Issy, das das ganze Buch durchzieht und ständig latent thematisiert wird. So scheint das Inzesttabu als nur oberflächlich verdrängtes Thema in allen Liebesszenen des Finnegans Wake durch. 44 Wenn es nur im Traum, dem Schauplatz des Unbewussten, möglich ist, die Zensur des Bewusstseins zu unterlaufen und das Tabu zu brechen, kann dies literarisch am 41 Als manifesten Trauminhalt bezeichnet Freud die nach dem Erwachen in Erinnerung gebliebenen Bilder, als latenten Trauminhalt dagegen die durch Verdichtungs- und Verschiebungsarbeit des träumenden Bewusstseins verstellte, tiefer liegende Traumbedeutung; vgl. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, Frankfurt a. M. 1991, S. 284 f. 42 „Be vaccillant over those vigilant who would leave you to belave black on white“ (439.31-32). 43 Vgl. Bishop: Book of the Dark, S. 309. 44 Durch die mäandrierenden Personenkonstellationen, die sich immer wieder auf die Urfamilie der Handlung zurückführen lassen, wird beispielsweise die Kopulationsszene zwischen Tristram und Iseult in Kapitel II.4 zur Vereinigung beider Brüder mit der Schwester und zugleich zur Vereinigung des Vaters mit der Tochter, dessen Trauminhalt (als dream within a dream) hier präsentiert wird: „the vivid girl, deaf with love, [...] with a queeleetlecree of joysis crisis she renulited their disunited, with ripy lepes to ropy lopes (the dear o’dears! ) [...] when, as quick, is greased pigskin, Armoricas Champius, with one aragan throust, druve the massive of virilvigtuory flshpst the both lines of forwards (Eburnea’s down, boys! ) rightjingbangshot into the goal of her gullet“ (395.29 - 396.02; Hervorheb. von mir). Christoph Henke 192 ehesten durch eine Sprache repräsentiert werden, die die Zensur der Wortbildungsregeln und der Grammatik gleichermaßen unterläuft und einen anarchischen Spielraum der Signifikanzen schafft. * A way a lone a last a loved a long the riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs. (628.15-16 / 3.01-03) Finnegans Wake endet und beginnt mit einem Satz, der sich von der letzten bis zur ersten Seite erstreckt. Dieser Satz deutet auf den für Finnegans Wake strukturbildenden „vicus of recirculation“ hin. Dies spielt offenbar auf den italienischen Philosophen Giambattista Vico und dessen Hauptwerke Prima Scienza Nuova (1725) und Seconda Scienza Nuova (1744) an, die Joyce in der Konzeption seines Werkes stark beeinflusst haben. Dies hat Joyce häufig genug selbst geäußert, der junge Samuel Beckett hat es in einem bekannten Aufsatz 45 im Auftrag des Autors dargelegt. Vicos Geschichtstheorie geht von einem sich wiederholenden Geschichtszyklus aus, der aus drei aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen besteht - dem göttlichen, dem heroischen und dem menschlichen Zeitalter -, nach denen sich prinzipiell die Geschichte aller Völker vollzieht. In der letzten Phase der Entwicklung, dem menschlichen oder zivilisierten Zeitalter wird eine Kultur immer mehr von Dekadenz bestimmt, bis es schließlich zum Zusammenbruch der Kultur und damit zum ricorso kommt: der Zyklus beginnt von neuem. Vicos Paradebeispiel aus der abendländischen Geschichte ist der Aufstieg, die Blütezeit und der Verfall des römischen Imperiums. Sein Entwurf ist aber nicht nur auf die Geschichte einzelner Völker, sondern auf die gesamte Menschheitsgeschichte bezogen. In Finnegans Wake lässt sich der Einfluss Vicos am deutlichsten strukturell nachweisen. Das Werk besteht aus vier ‚Büchern‘, deren erste drei der Abfolge von göttlichem, heroischem und menschlichem Zeitalter zugeordnet werden können. Das vierte, nur etwa dreißig Seiten lange Buch entspräche dann dem ricorso, der bei Vico allerdings nicht den Rang eines eigenen Zeitalters innehat, sondern nur den Ab- 45 Beckett, Samuel: „Dante [...] Bruno. Vico.. Joyce“, in: Our Exagmination round His Factification for Incamination of Work in Progress, James Joyce, ‚Finnegans Wake‘, A Symposium, hg. v. Samuel Beckett u.a., New York 1972,S. 1-22. - Die differenzierte literaturwissenschaftliche Aufarbeitung von Vicos Geschichts- und Sprachphilosophie als einer entscheidenden intertextuellen Bezugsgröße setzte erst mit einem Konferenzband von 1987 ein; siehe Verene, Donald Phillip (Hg.): Vico and Joyce, Albany 1987. James Joyce Finnegans Wake 193 schluss des dritten Zeitalters kennzeichnet. 46 Inhaltlich sind die Bezüge zu Vico spärlicher, 47 obwohl besonders das erste Kapitel (I.1) von Vicos Vorstellungen vom göttlichen Zeitalter erfüllt ist. Laut Vico wurde die Erde zu dieser Zeit noch von primitiven, stummen Riesen bewohnt, die eines Tages - durch lautes Donnern am Himmel erschüttert - zum ersten Mal ehrfürchtig zum Himmel blickten und das Bewusstsein göttlicher Präsenz entwickelten. Als Beginn des göttlichen Zeitalters ist dies zugleich der Schöpfungsakt menschlicher Sprache, nämlich als Nachahmung göttlichen Donners. 48 Entsprechend findet sich gleich auf der ersten Seite des Finnegans Wake das erste der berüchtigten Hundert-Buchstaben-Wörter (3.15-17, zusammengesetzt aus den Entsprechungen des Wortes thunder in einer Vielzahl verschiedener Sprachen), 49 das an Vicos Donner erinnert. Auf den darauffolgenden Seiten spielt der irische Riese Finn MacCool auf Vicos Urriesen an. Finnegans Fall von der Leiter (6.09-10) markiert zudem den mythischen Sündenfall der Menschheit, und es deutet sich in der linguistischen Verschmelzung von Finn und Finnegan bereits an, dass sich der Zyklus der Geschichte, beginnend mit der Vico’schen „tragoady [on] thundersday“ (5.13) wiederholen wird: „Hohohoho, Mister Finn, you’re going to be 46 Diese strukturelle Freiheit des Autors ist seit dem Skeleton Key von Campbell u. Robinson (die Vicos ricorso fälschlicherweise einfach zur vierten, ‚chaotischen‘ Phase erklärten, vgl. S. 14), lange keiner kritischen Erwägung unterzogen worden. Erst in jüngerer Zeit scheint dieser Punkt die Aufmerksamkeit einiger Interpreten erlangt zu haben, so in dem kurzen überblicksartigen Aufsatz „Joyce and Vico: A Review“ von Jean-Michel Rabaté (in: Joyce 3, Joyce et l’Italie, hg. v. Claude Jacquet u. Jean-Michel Rabaté, Paris 1994, S. 225-229), der von einigen Forschungsaktivitäten berichtet, diesen Punkt zu untersuchen, und vorläufig lediglich anmerkt: „Joyce always stated that he did not ‚believe‘ in the scientificity of Vico’s theories and merely used them ‚for what they were worth‘“ (S. 226). Beckett beschreibt die Analogien so: „Part 1. is a mass of past shadow, corresponding therefore to Vico’s first human institution, Religion, or to his Theocratic age, or simply to an abstraction - Birth. Part 2 is the lovegame of the children corresponding to the second institution, Marriage, or to the Heroic age, or to an abstraction - Maturity. Part. 3. is passed in sleep, corresponding to the third institution, Burial, or to the Human age, or to an abstraction - Corruption. Part 4 is the day beginning again, and corresponds to Vico’s Providence, or to the transition from the Human to the Theocratic, or to an abstraction - Generation.“ (Beckett: „Dante [...] Bruno. Vico.. Joyce“, S. 7-8) 47 Dementsprechend ist Vico bei Atherton auch unter den Autoren der „structural books“ aufgeführt (vgl. Atherton: Books at the Wake, S. 29-34). 48 Vgl. Reichert, Klaus: „Vico’s Method and Its Relation to Joyce’s“, in: Joyce 3: Joyce et l’Italie, hg. v. Claude Jacquet u. Jean-Michel Rabaté, Paris 1994, S. 166-169. 49 In Finnegans Wake kommen insgesamt zehn dieser Hundert-Buchstaben-Wörter vor, von denen 9 genau 100 Buchstaben und das zehnte 101 Buchstaben lang ist, was die Gesamtsumme von 1001 Buchstaben ergibt. Die dazu korrespondierende Textstelle in I.1 lautet: „There extand by now one thousand and one stories, all told, of the same.“ (5.28-29) Diese und weitere Anspielungen (z.B. „Haroun Childeric Eggeberth“ - 4.32, Hervorheb. v. mir) verbinden den Finnegans Wake mit dem Mythos von Scheherazade und den Erzählungen aus 1001 Nacht; vgl. den Hinweis bei Rogers, Margaret: „Thoughts on Making Music from the Hundred-Letter Words in Finnegans Wake“, in: James Joyce’s ‚Finnegans Wake‘, A Casebook, hg. v. John Harty, III, New York 1991, S. 189. - Dies ist nicht der einzige Fall von Zahlensymbolismus in Finnegans Wake, Joyce scheint ein besonderes Interesse an der Signifikanz von Zahlen gehabt zu haben; vgl. Kenner, Hugh: „Shem the Textman“, in: James Joyce’s ‚Finnegans Wake‘, A Casebook, hg. v. John Harty, III, New York 1991, S. 34-36. Christoph Henke 194 Mr. Finnagain! “ (5.9-10). Joyce lässt darüber hinaus an vielen weiteren Stellen Andeutungen fallen, die auf die zirkuläre Struktur der Handlung und der in ihr enthaltenen Menschheitsgeschichte - die ‚Ordnung‘ Vicos - hinweisen, sehr deutlich u.a. in 215.22-23: „Teems of times and happy returns. The seim anew. Ordovico or viricordo.“ 50 Wie im berühmten Marx-Zitat aus dem Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte, wonach sich Geschichte zuerst als Tragödie ereigne und sich dann als Farce wiederhole, ist die Vico’sche Wiederholung der Geschichte bereits im oben zitierten ersten Satz des Buchs als „commodius vicus of recirculation“ gekennzeichnet: Dies spielt zwar in dieser Schreibweise sicher auf Dantes Divina Commedia an, 51 ist aber auch die signalhafte Ankündigung eines ‚komödiantischen‘ und letztendlich ‚komischen‘ Textes. Ähnlich wichtig wie Vico für das Verständnis des Finnegans Wake ist die frühneuzeitliche Monadenlehre Giordano Brunos, nach der alle Dinge und Lebewesen in unserem göttlich beseelten Universum aus einer jeweils einzigartigen Kombination von minimalen, unveränderbaren Elementarteilchen (Monaden) bestehen. Diese ewigen, präexistenten Monaden enthalten daher gleich einem Keim das Ganze, den großen Bauplan des Universums. Dieses Grundaxiom Brunos hat viele Finnegans- Wake-Exegeten zu der These gebracht, gleich den Monaden enthielten die einzelnen Teile des Finnegans Wake (Wörter, Abschnitte etc.) Joyce’ großen ‚Bauplan‘, den es zu entdecken gelte. Dies mag unter Umständen auf Teile des Werkes zutreffen, so wie z.B. die ersten Seiten des Finnegans Wake im Kleinen schon alle Themen des Gesamtwerkes zu enthalten scheinen, die im Laufe des Textes immer wieder rekombiniert werden. 52 Ein anderer Aspekt der Philosophie Brunos erscheint jedoch noch sinnfälliger für Joyce’ Werk: eine dialektische Weltanschauung, wonach das Universum auf der Verbindung von Gegensätzen beruht, welche Einheiten bilden und auf gemeinsame Prinzipien verweisen. 53 Die Verbindung von scheinbar unauflösbaren Gegensätzen findet sich in Finnegans Wake auf allen Ebenen. Auf der Ebene der Sprache entstehen immer wieder Wortschöpfungen, die gegensätzliche bzw. disparate Assoziationen enthalten, so z.B. „themselse“ (3.07), das offensichtlich nach „themselves“ klingt, andererseits das gegenteilige Konzept „else“ enthält, die „litters from aloft“ (17.28), die die Heilige Schrift und der heilige ‚Müll‘ sind, oder - mit etwas mehr Phantasie - 50 Hervorhebung von mir. 51 Dante ist bekanntermaßen eine der intertextuellen Referenzen, die in Joyce’ Gesamtwerk eine zentrale und strukturgebende Stellung einnehmen; vgl. Reynolds, Mary T.: Joyce and Dante, The Shaping Imagination, Princeton 1981. 52 Das Denken Brunos klingt auch in einzelnen Sätzen durch, so z.B. bei der Beschreibung der Entstehung des Alphabets, dem all for a bit, in I.1: „When a part so ptee does duty for the holos we soon grow to use of an allforabit.“ (18.36-19.02) 53 Dies hat schon Beckett herausgehoben: „There is no difference, says Bruno between the smallest possible chord and the smallest possible arc, no difference between the infinite circle and the straight line. The maxima and minima of particular contraries are one and indifferent. Minimal heat equals minimal cold. Consequently transmutations are circular. [...] Maximal speed is a state of rest. The maximum of corruption and the minimum of generation are identical: in principle, corruption is generation“ (Beckett: „Dante [...] Bruno. Vico.. Joyce“, S. 6). James Joyce Finnegans Wake 195 Finns/ Finnegans/ HCEs „crest of huroldry“ (5.06), ein Mischwort aus „heraldry“ und „cuckoldry“ oder gar dt. Hurerei, also sein heraldischer Schmuck, der zugleich sein Zeichen als ‚gehörnter‘ Ehemann ist. Als Beispiel für die Vereinigung von Gegensätzen auf thematischer Ebene ist der bereits angesprochene Shem-Shaun- Antagonismus zu sehen, der in der Vaterfigur HCE als dessen unterschiedliche und in ständigem Widerstreit stehende Wesensmerkmale absorbiert wird. 54 Mit Vico und Bruno sind somit einige Eigentümlichkeiten in Finnegans Wake erklärbar. Finnegans Wake ist das Buch der Geschichte im Sinne Vicos, indem es historische Vorgänge nicht als singuläre Ereignisse - von individuellen, partikulären Subjekten bestimmt -, sondern als sich zyklisch wiederholende Variationen archetypischer Ereignisse erscheinen lässt. Finnegans Wake ist das Buch der Geschichte im Sinne Brunos, indem es ein textuelles Universum präsentiert, das in all seinen Besonderheiten (den großen und kleinen Schlachten, den großen und kleinen Heroen, den großen und kleinen Mythen der Menschheitsgeschichte) prinzipiell nur aus der Rekombination elementarer dialektischer Grundfigurationen zu bestehen scheint. IV Schluss: Finnegans Wake im Zeichen des Zeichens [...] where in the waste is the wisdom? (114.20) Betrachten wir zum Schluss die beiden Sinnangebote, die ich gerade mit den Stichwörtern Traumsprache und Geschichtskonzeption offeriert habe, noch einmal auf ihre Leistung für die Rezeption des Joyce’schen Textes. Es fällt auf, dass wir diese als externe Referenzrahmen dankbar von außen aufnehmen, um dem Text einen Sinn abzuringen. Gemäß dem Paradigma kognitiver Literaturwissenschaft benötigen wir beim Lesen eines jeden Textes - in unserer Absicht, diesen zu verstehen - Referenzrahmen zu dessen ‚Naturalisierung‘, die wir unwillkürlich gemäß kultureller, historischer, gruppenspezifischer und auch individueller Vorgaben beim Lesen konstruieren. Ein solches sinnverstehendes Lesen ist Menachem Perry zufolge „a process of constructing a system of hypotheses or frames which can create maximal relevancy among the various data of a text“. 55 Genau dies wird jedoch zum Kardinalproblem in Finnegans Wake, da das Naturalisierungsbestreben des Lesers in der unvoreingenommenen Lektüre notwendigerweise frustriert wird: es lässt sich kein einheitlicher Referenzrahmen konstruieren, Sinn stellt sich höchstens flüchtig über kontinuierliche Brüche und Neukonstruktionen kognitiver Rahmen ein. In unserer Fixierung auf Sinnverstehen scheinen wir bei Joyce’ Werk umso dringlicher auf Interpretationsrahmen angewiesen zu sein, die uns von außen vorgegeben werden, entweder durch 54 Vgl. Gordon: Plot Summary, S. 50. 55 Perry, Menakhem: „Literary Dynamics: How the Order of a Text Creates Its Meanings“, in: Poetics Today 1, 1979, S. 43. Christoph Henke 196 sich informiert gebende Sekundärliteratur oder auch durch Aussagen des Autors selbst. Diese Problematik soll exemplarisch noch einmal an einer kurzen isolierten Passage vor Augen geführt werden, dem Ende der bereits angesprochenen „Anna Livia Plurabelle“-Passage. Sollte es noch unvoreingenommene Leser des Finnegans Wake geben, so sei ihnen an dieser Stelle zunächst mitgegeben, was Joyce selbst über diese Passage gesagt hat: dass in ihr nämlich zwei tratschende Waschweiber beim Wäschewaschen im Fluss Liffey präsentiert werden, die sich über die Figur ALP und ihre Familie unterhalten. Die Verständigung der beiden Frauen wird am Ende durch den Einbruch der Nacht, den ansteigenden Pegel der Liffey und den übrigen Umstand erschwert, dass sich die Frauen langsam in einen Baum und einen Stein verwandeln: 56 Can’t hear with the waters of. The chittering waters of. Flittering bats, fieldmice bawk talk. Ho! Are you not gone ahome? What Thom Malone? Can’t hear with bawk of bats, all thim liffeying waters of. Ho, talk save us! My foos won’t moos. I feel as old as yonder elm. A tale told of Shaun or Shem? All Livia’s daughtersons. Dark hawks hear us. Night! Night! My ho head halls. I feel as heavy as yonder stone. Tell me of John or Shaun? Who were Shem and Shaun the living sons or daughters of? Night now! Tell me, tell me, tell me, elm! Night night! Telmetale of stem or stone. Beside the rivering waters of, hitherandthithering waters of. Night! (215.31-36 - 216.1-5) Mit dem vom Autor vorgegebenen Referenzrahmen lassen sich „Are you not gone ahome? What Thom Malone? “ als Dialogfetzen einer misslungenen Kommunikation der beiden Frauen naturalisieren - bezeichnenderweise befindet sich der Leser gegenüber dem Text häufiger in der Rolle der zweiten Waschfrau! Auch mit dem Wissen um die mythische Metamorphose der Frauen in stone und elm tree lässt sich als deutscher Rezipient eine Phrase wie „My foos won’t moos“ problemlos naturalisieren. Und doch führt ein zu starres Festhalten an einmal konstruierten Referenzrahmen einerseits zur Blindheit gegenüber anderen konnotativen Inhalten, andererseits zum potenziellen Verlust des geradezu sinnlichen Genusses, dem einen die Sprache des Finnegans Wake gewähren kann. Ohne Joyce’ verständnisleitende auktoriale Kommentare schließlich, die ja nicht Bestandteil des eigentlichen Textes, wohl aber seiner Interpretationstradition sind, wäre die gesamte Passage ohnehin nur sehr schwer in einen einheitlichen narrativen Verständniszusammenhang zu bringen. Joyce’ auktorialer Einfluss auf den Rezeptionsprozess wirft zudem die Ambivalenz des Finnegans Wake als eines Textes auf, der in paradoxer Weise sowohl den Endpunkt der modernistischen Überhöhung des Autors als auch das Fanal zu seiner postmodernistischen Auflösung bedeutet. Dies wird bereits in Joyce’ eigenen Aussagen zu seinem Text deutlich: Während er sich selbst für seine gottgleiche auktoriale Kontrolle rühmte - „I can justify every line of my book“ sowie „I have discovered I can do anything with language I want“ 57 -, so hat er zugleich die Unlesbarkeit des Finnegans Wake mit 56 Vgl. Joyce’ Erläuterung in seinem Brief an Harriet Weaver vom 7. März 1924 - Joyce, James: Letters of James Joyce, Bd. I, hg. v. Stuart Gilbert, New York 1966, S. 212; zit. nach Ellmann: James Joyce, S. 563 f. 57 Beides zitiert in Ellmann: James Joyce, S. 702. James Joyce Finnegans Wake 197 Selbstironie kommentiert: „Lord know what my prose means […]. In a word, it is pleasing to the ear.“ 58 So sehr sich Joyce als ein jeden Aspekt seines Werkes meisterndes Künstlergenie stilisierte, so sehr löst sich auktoriale Identität in Finnegans Wake auf in den fragmentierten und zugleich ausufernden Identitäten dessen, was von fiktionalen Charakteren im Buch residual übrig geblieben ist, 59 sowie vor allem in der nicht mehr zu bändigenden Bedeutungsexplosion einer Sprache, die trotz offenbar akribisch kontrollierter Produktion von Autorseite her auf der Rezipientenseite als nicht abschließend entschlüsselbar ankommt. Finnegans Wake beschreiben, wie ich es hier versucht habe, heißt demnach: den Text umschreiben, d.h. ihn zu umschreiben und umzuschreiben. Der Text widersetzt sich einer sinnverstehenden Lektüre im herkömmlichen Sinne und wird stattdessen je neu erschaffen im konnotativen Spiel der Entschlüsselung seiner Idioglossie. Sprache ist somit das Grundproblem und - vereinfacht argumentiert - auch das eigentliche Thema von Finnegans Wake. Sie ist der Sündenfall, von dem der Text handelt; aus ihm gehen Fragen nach der Differenz von Wirklichkeit und Fiktion, Referenz und Metapher, Einheit des Werkes und intertextueller Echokammer hervor. Die Wörter in Finnegans Wake scheinen auf eigentümliche Weise die für die abendländische Geschichte so kennzeichnende Trennung zwischen Gesprochenem und Geschriebenem aufheben zu wollen: durch seine Sprachkreativität provoziert der Text, gehört und gesehen, gesprochen und (neu) geschrieben zu werden. Doch auf was referiert der Text? Texte als Elemente des kulturellen Systems Literatur referieren als Grundfunktion immer implizit auf sich selbst als Literatur, doch dieser Text verweist mit dem doppeldeutigen „letter“-Thema ganz explizit thematisch (der nie fassbare Inhalt des Briefes als Symbol für das gesamte Werk) sowie sprachlich-medial (der Buchstabe als Baustein seiner Kodierung) auf sich selbst und seine sprachliche Materialität. Joyce scheint Vico in seiner Vorausnahme dekonstruktiver Thesen beim Wort genommen zu haben, indem er das Bedeutungsproblem von Sprache eindringlich vor Augen geführt hat. Sprache ist in ihrer Materialität der Ort einer grundsätzlichen Abwesenheit des Bezeichneten und somit immer schon meta- 58 Brief an seine Tochter Lucia Joyce vom 1. Juni 1934 - Joyce: Letters, I, S. 340; zit. nach Ellmann: James Joyce, S. 702. 59 Vgl. Müller, Timo: The Self as Object in Modernist Fiction, James, Joyce, Hemingway, Würzburg 2010, S. 219: „The entity of the author, with its supposedly privileged vantage-point on the fictional world, is dissolved, and Joyce associates with his characters in his awareness that there is no categorical difference between his life and his texts since his life, just like its fictional representations, is always already textualized.“ Dieser Analogieschluss vom Text auf seinen Autor erscheint zunächst kühn; in der Diagnose eines sich auflösenden (Autor-)Selbst als semiotische ‚Botschaft‘ des Textes rekurriert Müller aber implizit auf ein poststrukturalistisch-psychoanalytisches Interpretationsparadigma, das sich seit den 1980er Jahren als fester Bestandteil der Finnegans-Wake-Kritik etabliert hat. Vgl. auch Brivic, Sheldon: The Veil of Signs, Joyce, Lacan, and Perception, Urbana 1991, S. 167, der die sprachschöpferische Bedeutungsexplosion in Finnegans Wake als Konsequenz auktorialer „alienation“ und „dispersal“ wertet, welche die unhintergehbare Selbstentfremdung des Subjekts im Anderen der Sprache freilegen: „In this sense Joyce’s work no more belongs to him than his personal life - except insofar as he makes this dispersal his own discovery and creation.“ Christoph Henke 198 phorisch und nie das Ding selbst. 60 Dies eröffnet immer neue Spiel-Räume für subversive Sinndekonstruktionen - Peter Sloterdijk hat den anarchischen Sprachwitz in Finnegans Wake kürzlich noch todernst als „Untergang des Wirklichen durchs Kalauer-Chaos“ 61 gerügt. So paradox es anmutenden mag, hat dieses Kalauer-Chaos aber doch einen Hintersinn. „When is a pun not a pun? “ (307.02-03), fragt der Text in offensichtlicher Tautologie und verweist damit einerseits auf die Abwesenheit positiv bestimmbarer Bedeutung: ein ‚Sprachspiel‘ ist immer ein ‚Sprachspiel‘, so wie eine ‚Rose‘ immer eine ‚Rose‘ ist, ein Wort ohne Bedeutung, solange es nicht von anderen unterschieden wird. Andererseits weist das Zitat die Sprache des Finnegans Wake insgesamt als „pun“ aus, als ein immerwährendes Spiel der Differenzen von Buchstaben, Wörtern, Sätzen, deren Bedeutung wie Stephen Heath anmerkt, immer auf ‚später‘ verschoben wird: „the text produces a derisive hesitation of sense, the final revelation of meaning being always for ‚later‘.“ 62 Dieses Zögern, dieser fortwährende Aufschub letztendlicher Bedeutungspräsenz ist laut Jacques Derrida das Prinzip der différance, welches in jeglicher Sprache waltet. In Finnegans Wake ist diese différance, die üblicherweise in einer dekonstruktiven Lektüre literarischer Texte erst entdeckt werden muss, radikal veräußerlicht. Im Gegensatz zur natürlichen Sprache, die différance (ver)birgt, ist ihr der Leser in Joyce’ überbordendem Sprachexperiment offen und unentrinnbar ausgesetzt. Finnegans Wake provoziert; der Text facht das Begehren eines investigativen Lesens an, um durch das Aufspüren und Nachverfolgen von Bedeutungen in den signifikanten Spuren seiner seltsamen Wörter zu den Signifikaten, also dem Sinn des Textes vorzudringen; aber er fordert dabei Geduld: “Now, patience; and remember patience is the great thing, and above all these things else we must avoid anything like being or becoming out of patience.“ (108.08-10) Doch Geduld worauf? Die aufgeschobene Bedeutung, die ständige „HeCitEncy“ (421.23) des Textes führt zwar, der Linearität des Mediums Buch entsprechend, an ein Ende, welches aber keines ist, sondern nur ein infiniter Regress, versinnbildlicht durch das zirkuläre Fortschreiben des letzten Satzes des Buches im ersten. So gesehen verbleibt der Text ein „perpetual turning of sense into form, of signified into signifier“. 63 Das allbedeutende Signifikat bleibt aus. Was bleibt dennoch? Finnegans Wake ist ein ästhetisches Buch im doppelten Sinn. Es sensibilisiert für die Bedingungen der Wahrnehmung seines signifikanten Materials, das auf den infiniten Regress der Aufschiebung seiner Bedeutung verweist. Es wird zugleich zu einem schönen Buch, wenn man sich auf dieses Spiel mit allen Sinnen einlässt, wenn man es als ein Arrangement von belles lettres akzeptiert, die zwar immer wieder fragmentarisch Bedeutung verräumlichen, dabei aber die Suche nach 60 Vgl. Beckett: „Dante [...] Bruno. Vico.. Joyce“, S. 11. Beckett zeigt die archetypischen Wurzeln der Sprache auf, die, als sie lautlich wurde, Vico zufolge vom Prototyp einer deiktischen Ursprache mit lauter Eigennamen entsprang und sogleich immer schon metaphorisch war. 61 Sloterdijk, Peter: Tau von den Bermudas, Über einige Regime der Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 2001, S. 52; zit. nach Hein: Finnegans Fast-Nacht, S. 12. 62 Heath, Stephen: „Ambiviolences: Notes for Reading Joyce“, in: Post-Structuralist Joyce, Essays from the French, hg. v. Derek Attridge u. Daniel Ferrer, Cambridge 1984, S. 31. 63 Heath: „Ambiviolences“, S. 53. James Joyce Finnegans Wake 199 dem einen Signifikat, nach der einen Bedeutung suspendieren. Dann wird es zum Genuss bringenden ‚Etwas‘, wie Beckett so treffend anmerkte: You complain that the stuff is not written in English. It is not written at all. It is not to be read - or rather it is not only to be read. It is to be looked at and listened to. His writing is not about something; it is that something itself. 64 Literaturverzeichnis Primärliteratur Joyce, James: Finnegans Wake. Eingeleitet v. Seamus Deane. Harmondsworth 1992. - Letters of James Joyce, Bd. I. Hg. Stuart Gilbert. New York 1966. - Letters of James Joyce, Bd. III. Hg. Richard Ellmann. New York 1966. Forschungsliteratur Atherton, James S.: The Books at the Wake. A Study of Literary Allusions in James Joyce’s ‚Finnegans Wake‘. Erw. u. korr. Aufl. Mamaroneck, N.Y. 1974. Attridge, Derek: „Finnegans Awake, or the Dream of Interpretation“. Joyce Effects. On Language, Theory, and History. Cambridge 2000. 133-155. Beckett, Samuel: „Dante [...] Bruno. Vico.. Joyce“. Our Exagmination round His Factification for Incamination of Work in Progress. James Joyce, ‚Finnegans Wake‘. A Symposium (1. Aufl. 1929). Hg. Samuel Beckett u.a. New York 1972. 1-22. Begnal, Michael H.: „The Dreamers at the Wake. A View of Narration and Point of View“. 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Hans Vilmar Geppert Der Titel meines Beitrags montiert die Anfangs- und die Schlusszeile zweier Gedichte zusammen, die unterschiedlicher kaum sein können; sie wurden ja auch 11 Jahre getrennt voneinander veröffentlicht. 1 Aber von Anfang an gehören sie unlösbar zusammen. Das Gedicht, das mit dem „Angenehmen“ endet, erschien zuerst: als das erste einer Gruppe von sechs unter der Überschrift Gedichte im Herbst 1953 im Heft 6 der Zeitschrift Sinn und Form. Wenig später bezeichnete Brecht in einem Brief an Peter Suhrkamp diese Gedichte als Teil eines Zyklus mit dem eigentümlichen, widersprüchlichen Titel: Buckowlische Elegien. 2 In Buckow am Scharmützelsee bewohnte er seit 1952 ein Ferienhaus; aber „bukowlisch“ klingt natürlich noch viel deutlicher als das spätere „Buckower“ an die Tradition „bukolischer“, also ländlich-idyllischer Dichtung an. Und in dieser „bukolischen“ Tradition scheint offensichtlich das erste dieser 6 Gedichte zu stehen: Der Blumengarten Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten So weise angelegt mit monatlichen Blumen Daß er vom März bis zum Oktober blüht. Hier, in der Früh, nicht allzu häufig, sitz ich Und wünsche mir, auch ich mög allezeit In den verschiedenen Wettern, guten, schlechten Dies oder jenes Angenehme zeigen. 3 1 Zur genaueren Entstehungs- und Publikationsgeschichte vgl. Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, 31 Bde., Berlin/ Weimar und Frankfurt/ M.: Aufbau und Suhrkamp 1988-2000, Bd. 12, Gedichte 2, Sammlungen 1983-1956, S. 444 ff. 2 1945, im Heft 15 der Versuche weist Brecht noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass diese hier erneut abgedruckten 6 Gedichte nur ein Teil einer Sammlung mit dem Titel Buckower Elegien seien (vgl. ebd., S. 445). 3 Da es sich um eine sehr kurze Gedichtsammlung handelt, werden einzelne Texte daraus hier im Zitat nicht eigens nachgewiesen. Zuverlässige, hier zugrunde gelegte Ausgaben sind: Bert Hans Vilmar Geppert 202 In schöner Umgebung ein schöner Ort, räumlich umgrenzt, ja „beschirmt“ vor der Welt draußen, wo menschliche Arbeit und Naturzeit harmonisch zusammen gehen, wo der Dichter selbst sich geborgen fühlen darf, geborgen im Rhythmus der Jahreszeiten: Wahrhaft eine Idylle. Kein Wunder, dass Brecht, der so oft „lehrhaft“ und „nützlich“ dichten musste, hier in Erinnerung an den von ihm gerade in Buckow oft gelesenen Horaz -, 4 es einmal mit dem „Angenehmen“ und Erfreulichen hält! 5 Wahrhaft eine Idylle auch der das ganze Jahr blühende Garten soll ja klassischen Vorbildern folgen -, 6 wenn da nicht dieser sperrige Kontext wäre! Denn erst als Brechts lyrischer Nachlass allgemein zugänglich wurde, 7 zeigte sich das wahre, von krassen Widersprüchen geprägte Gesicht der Buckower Elegien. Und man musste von nun an unweigerlich ganz konträre, ja geradezu kontrapunktisch zu verstehende Gedichte neben Der Blumengarten stellen. Der nachgelassene Teil der Buckower Elegien war nicht geordnet. Aber in allen nur etwas durchdachten Ausgaben 8 das sind leider nicht alle folgen jetzt auf diese erste, noch ganz wirklich „buckowlische“ Idylle Gedichte, die auch sie geradezu verfremden und zur distanzierten, fast schon ein wenig von Trauer umgebenen Buckower Elegie machen, als sei von jetzt an Der Blumengarten nicht mehr so unbefangen zu betreten: Die Lösung Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, daß das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Brecht, Werke, Bd. 12, S. 305-315, sowie: Bertolt Brecht, Die Gedichte. Zusammenstellung Jan Knopf, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2000, S. 294-300; sowie Bertolt Brechts Buckower Elegien mit Kommentaren von Jan Knopf, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1986, S. 5-31. 4 An „Haus und Umgebung“ in Buckow gefiel Brecht sogleich, „dass ich wieder etwas Horaz lesen kann“ (im Arbeitsjournal notiert am 15. 7. 1952, Bertolt Brecht, Werke, Bd. 27, S. 318). 5 Die Anspielung bezieht sich auf die Epistula ad Pisones bzw. Ars poetica des Horaz und die Zeile (Vers 333): „Aut prodesse volunt aut delectare poetae / entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter“, Horaz, Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch, hrsg. von Hans Färber, München: Heimaran 1967, S. 250. 6 Zu den „zwei wichtigsten Gartenbeschreibungen der Antike, die Brecht beide gekannt hat“, dem Garten des Alkinoos aus der Odyssee und einem Garten aus Vergils Georgica, vgl. Marion Lausberg, Brechts Lyrik und die Antike. In: Helmut Koopmann (Hrsg.), Brechts Lyrik - neue Deutungen. Würzburg: Königshausen u. Neumann 1999, S. 161-198, S. 186. 7 Bertolt Brecht, Gedichte. Hrsg. von Elisabeth Hauptmann, Bd. 7, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1964, S. 5-23. 8 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1976, Bd. 10, Gedichte 3, S. 1009 ff., und vor allem die Ausgabe: Bertolt Brechts Buckower Elegien mit Kommentaren von Jan Knopf, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1986. Bert Brecht Buckower Elegien 203 Löste das Volk auf und Wählte ein anderes? Es gibt in der Brecht-Forschung eine lange Tradition, solche DDR-kritischen Gedichte herunter zu spielen. Noch in einem ganz neuen ‚Standartwerk‘ steht zu lesen: Dieses Gedicht „richtet sich […] nicht pauschal gegen die Regierung oder das politische System der DDR, sondern gegen einen ganz bestimmten Schriftsteller- Funktionär“, den berüchtigten Kurt Bartels, genannt „Kuba“, ja, Brecht kritisiere hier zwar zu viel „Funktionärsanmaßung“, nehme aber „die Partei aus der Schusslinie“. 9 Ebenso verbreitet wie solche ideologische Voreingenommenheit ist es unter ‚Brecht-Kennern‘, auf die Form von dessen Gedichten wenig zu geben. Aber kann man den Gang der Argumentation, also die „Dialektik“ dieses Gedichts, die vom Einzelnen zum Allgemeinen fortschreitet, bzw. vom Nacherzählen eines Ereignisses zu einer grundsätzlichen Frage führt eine „induktive Beispielargumentation“, 10 die sich in den Buckower Elegien oft findet: Sie gehen von Alltagszenen, beiläufigen Lektüren oder einzelnen Situationen aus und kommen von da zu allgemeinen Überlegungen, oder, und noch wichtiger, sie animieren die Leser dazu, solche allgemeinen Überlegungen anzustellen -, kann man es wirklich überlesen, dass hier mit der irrealen Umkehr der Macht zwischen „Regierung“ und „Volk“ eben Funktionen bzw. Nicht-Funktionen in einem System angesprochen werden? So protestiert ja dann auch ganz konsequent gerade die Form dieses Gedichts gegen das Urteil des Funktionärs. Er war streng ideologisch von der ‚objektiven Identität‘ von Partei und Proletariat ausgegangen, also von einer bzw. der vorgegebenen Theorie. (Denn bekanntlich ist ‚Basis‘ das, was der Teil des ‚Überbaus‘, der sich für Überbau hält, für Basis hält.) Und von dieser „Regel“ aus, dass die Partei die eigentlichen Interessen der Arbeiterklasse vertritt, hatte er den „Fall“, die „Ungelegenheit“ des 17. Juni (so Brecht) 11 , den Skandal verurteilt, dass Arbeiter gegen die DDR revoltieren. Weil „deduktiv“ eben ‚nicht sein kann, was nicht sein darf‘. Aber genau das, was er nicht denken konnte oder wollte, aus den Ereignissen des 17. Juni zu lernen, genau das sollen Verfasser und Leser, der Argumentation des Gedichts folgend, also „induktiv“ verallgemeinernd erkennen: Die Macht muss vom „Volk“ ausgehen. Und wer richtig lesen kann, lernt auch richtig denken. Und eine dritte schlechte Tradition der Brecht-Kritik, ausgelöst oder doch begünstigt durch die Zerstörung der Sammlung in der „Großen“ Brecht-Ausgabe 12 , 9 Ulrich Kittstein, Das lyrische Werk Bertolt Brechts. Stuttgart: Metzler 2012, S. 298 und 304. 10 Zu den Begriffen vgl. grundlegend Manfred Kienpointer, Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustern. Stuttgart: Kohlhammer 1992, als knappe Einführung vgl. Verf., Rhetorik und Literaturtheorie. In: Verf. und Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 2, Tübingen und Basel: Francke 2005, S. 49-83, v.a. S. 74 ff.; zur „kreativen Alltagslogik“ in Brechts Lyrik vgl. Verf., Bert Brechts Lyrik - Außenansichten. Tübingen und Basel: Francke 2011, S. 116 ff. 11 Bertolt Brecht, Werke, Bd. 27, S. 346. 12 Dort (Bertolt Brecht, Werke, Bd. 12, S. 305-315) werden zuerst, allerdings unter dem späteren Gesamttitel, die vorab veröffentlichten 6 Gedichte abgedruckt, dann, beginnend mit dem Motto („Ginge da ein Wind“) der Rest der nachgelassenen Texte. Die Ausgabe: Bertolt Brecht, Die Hans Vilmar Geppert 204 besteht sicher darin, diese Gedichte jeweils für sich isoliert zu deuten. 13 Man kann es nicht oft genug sagen: „Die Zusammenstellung[und] die Anordnung [der Buckower Elegien sind] integraler Bestandteil des Zyklus“. 14 Denn unverrückbar muss auf Der Blumengarten und Die Lösung als nächstes im Zyklus der Buckower Elegien das Gedicht Böser Morgen folgen, in dem Brecht geradezu sich selbst „schuldbewußt“ als Teil des Systems anklagt: Böser Morgen Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit Heut eine alte Vettel. Der See Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren! Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel. Warum? Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und Sie waren gebrochen. Unwissende! Schrie ich Schuldbewußt. „Der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet“, notiert sich Brecht am 20. 8. 1953, also mitten in der Arbeit an den Buckower Elegien, in sein Arbeitsjournal. 15 Dies ist nicht nur ein wichtiger Hinweis auf Brechts wahre Befindlichkeit in dieser Zeit und viel sprechender als alle öffentlichen Stellungnahmen. Dieser Satz: „Der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet“, gibt ganz direkt eben auch ein wichtiges Ordnungsmuster für den Anfang der Buckower Elegien selbst vor. Das Gedicht Böser Morgen „verfremdet“ ganz anschaulich das Gedicht Der Blumengarten. Und zwischen beiden wird der Grund dieser Verfremdung genannt, zugleich der einzige explizite Hinweis darauf in der ganzen Sammlung: „der Aufstand des 17. Juni“. Ist das so schwer zu verstehen? Darf man, ohne ihren Sinn zu beschädigen, diese Gedichte trennen? Bezeichnenderweise wird dieser Textzusammenhang am besten klar, wenn man ihn mindestens zweimal liest und dann rückwärts auflöst. Und dabei stellt uns Brecht eine Denk-Aufgabe, vergleichbar, wie wir noch sehen werden, dem Rätsel in Der Radwechsel: Bekennt er, bzw. weiß das sprechende „Ich“ des Gedichts Böser Morgen sich „schuldig“, weil die Arbeiter „unwissend“ sind, oder nennt er sich „schuldbewußt“, weil er sie für unwissend hält, oder doch bisher für unwissend gehalten hatte? Gedichte, S. 294-300, die ja leider nun lange die Standart-Leseausgabe bleiben wird, behält diese ‚Unordnung‘ bei, lässt zwar auf den Titel das Motto folgen, trennt dieses aber dann von Der Radwechsel, obwohl beide Texte eindeutig als Zusammenhang hinterlassen sind. 13 Ulrich Kittstein (Das lyrische Werk Bertolt Brechts) etwa behandelt Die Lösung einerseits im Kontext anderer zeitkritischer Gedichte außerhalb der Sammlung in einem eigenen Kapitel (vgl. ebd., S. 285 ff.), andererseits dann Gedichte wie Der Blumengarten in einem neuen Kapitel zu den Buckower Elegien, sodass dann, als beträfe der Titel nur solche Texte, eigens darauf hingewiesen werden muss, „dass die Buckower Elegien durchaus keine geschichtslosen Idyllen aufbauen“ usw. (ebd., S. 314). 14 Jan Knopf, Nachwort zur Edition. In: Bertolt Brechts Buckower Elegien, S. 121-125, S. 123/ 124. 15 Bertolt Brecht, Werke, Bd. 27, S. 346. Bert Brecht Buckower Elegien 205 Das würde einen erheblichen Unterschied machen - und beide Lesarten lassen sich sowohl aus Brechts sonstigen Äußerungen als auch in weiteren Gedichten der Buckower Elegien belegen: Brecht verstand sich immer als ein ‚Lehrer‘ des Sozialismus, und wenn es zum 17. Juni gekommen ist, dann haben er und seinesgleichen versagt. Die „Arbeiter und Arbeiterinnen“ haben sich, so Brecht in einem Brief an Peter Suhrkamp, „unwissend“, worauf es ankommt, den falschen Leuten angeschlossen. Brecht sah ja durchaus etwa auch „deklassierte Jugendliche“ und sogar „scharfe, brutale Gesichter der Nazizeit“ mitmarschieren. Selbst da, wo die Forderungen der Arbeiter verständlich wären, seien „ihre Losungen [doch] verworren und kraftlos, eingeschleust durch den Klassenfeind“ und so fort. 16 Solche Gedanken finden sich auch in den Buckower Elegien, nämlich in den Gedichten, die sich mit den Voraussetzungen des 17. Juni beschäftigen. Die da auf der Straße waren, wären dann in der Tat „Unwissende“ (Böser Morgen), sie orientierten sich an „alten Zeiten“ (Heißer Tag), etwa an „einer „Zeit / Da war alles hier anders“ (Vor acht Jahren), viele hielten sozusagen in Gedanken noch immer „die Hand hoch“ wie der alte „S. S. Mann“ (Der Einarmige im Gehölz), 17 oder sie lassen sich bereits wieder von den „Söhnen MacCarthys“ (eines berüchtigten US-amerikanischen Kommunisten-Jägers) verblenden, so wie „das Kalb [sich] drängt [zur] Hand seines Metzgers“ (Lebensmittel zum Zweck), und so weiter. „Schuldbewußt“ also sollen Brecht und seinesgleichen sich fühlen, weil sie als ‚Lehrer’ des Sozialismus 18 nicht, zumindest noch nicht genug Überzeugungsarbeit geleistet haben. Aber auch die weitergehende Selbst-Kritik macht für die Buckower Elegien Sinn: 19 „Unwissende! Schrie ich / Schuldbewußt“, weil ich so arrogant bin, die Arbeiter für „unwissend“ zu halten, anders und mit anderen Gedichten gesagt, weil ich und meinesgleichen die „Weisheit des Volkes“ eine für Brecht sehr wichtige Orientierung - 20 nicht zu erkennen bereit sind (Große Zeit, vertan), weil viele Intellektuelle stalinistisch linientreu „singen“ (Die Musen), weil immer noch oder wieder „preußisch“ autoritär regiert wird (Gewohnheiten noch immer), und weil vor allem - die härteste Kritik - die, die jetzt „herrschen“, das Volk nicht mehr verstehen, nicht mehr auf es „hören“ wollen: 16 Brief an Peter Suhrkamp vom 1. Juli 1953 (zitiert in Bertolt Brecht, Werke, Bd. 12, S. 444/ 445). 17 Nach Brecht soll es am 17. Juni auch Bücherverbrennungen, Überfälle auf Juden und anfeuernde Reden alter Nazis gegeben haben, vgl. Jan Knopf, Gelegentlich Poesie. Ein Essay über die Lyrik Bertolt Brechts. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1996, S. 262 ff. 18 Es ginge also lediglich um Brechts „Versagen in seiner Rolle als Lehrer“, Ulrich Kittstein, Das lyrische Werk Bertolt Brechts, S. 328. 19 Insbesondere wenn man bedenkt, dass die letzten beiden Zeilen des Gedichts offensichtlich erst in einem letzten Arbeitsschritt einer „frühen Fassung“ hinzugefügt wurden (vgl. Bertolt Brecht, Werke, Bd. 12, S. 447). 20 „Weisheit des Volkes“ heißt für Brecht „die Erfahrung des Alltäglichen, des Gewöhnlichen, des wiederkehrenden Umgangs mit den Menschen und den Dingen, eine Weisheit, die die niederen Materialismen zur Grundlage hat“, Jan Knopf, Gelegentlich Poesie, S. 255. Hans Vilmar Geppert 206 Die neue Mundart Als sie einst mit ihren Weibern über Zwiebeln sprachen Die Läden waren wieder einmal leer Verstanden sie noch die Seufzer, die Flüche, die Witze Mit denen das unerträgliche Leben In der Tiefe dennoch gelebt wird. Jetzt Herrschen sie und sprechen eine neue Mundart Nur ihnen selber verständlich, das Kaderwelsch Welches mit drohender und belehrender Stimme gesprochen wird Und die Läden füllt - ohne Zwiebeln. Dem, der Kaderwelsch hört Vergeht das Essen. Dem, der es spricht Vergeht das Hören. Das Gedicht - nach Auskunft von Elisabeth Hauptmann wollte Brecht es nie veröffentlicht wissen 21 - ist ein auf andere, vor allem auf die „Herrschenden“ zielendes, waches, scharf kritisches Pendant zu dem inneren und persönlichen Alptraum in Böser Morgen: Dem „unerträglichen Leben in der Tiefe“ hier entsprechen die „zerarbeiteten und gebrochenen Finger“ dort, verging einem dort die Freude an der Natur, „vergeht“ einem hier sogar „das Essen“. Der systematische Schluss hier - Kaderwelsch ist eine Paronomasie, ein Kunstwort aus „Kauderwelsch“ und „Kader“, also Partei-Elite - wirkt wie eine Verallgemeinerung der ideologischen Arroganz des Schriftsteller-Funktionärs in Die Lösung. Es geht nicht um Einzelne, es geht um das System. Auf alle Fälle sieht man, wie die Gedichte der Buckower Elegien einander kommentieren und system-kritisch verstärken. Allerdings übt Brecht die schärfste Kritik an der Regierungs- und Partei-Mentalität so gut wie im Geheimen, in seiner Lyrik, einer Dichtung, die ja eben nicht veröffentlicht wurde und die immer, so der Biograph Klaus Völker, „zu innerem Gebrauch bestimmt“ war. 22 Brechts Aufzeichnungen, vor allem die im Arbeitsjournal, auch sie ja immer noch recht privat, klingen längst nicht so schneidend und wesentlich zurückhaltender als die Gedichte, benennen immer ein ‚sowohl als auch‘; und noch mehr gilt das für seine wenigen öffentlichen Äußerungen. Aber, und das muss unbedingt festgehalten werden, bei aller zu- und abnehmenden Schärfe der Kritik, deren Substanz bleibt dieselbe: Brecht fordert eine offene, rückhaltlose Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und Folgen des 17. Juni. Wenn dieser, so das Arbeitsjournal, „die ganze Existenz verfremdet“ hat, so „zeigen die Demonstrationen der Arbeiterschaft immer noch, daß hier die aufsteigende Klasse ist“, die „große Ungelegenheit“ des Aufstands müsse genutzt werden als „große Gelegenheit die Arbeiter zu gewinnen“, auf „Kontakt“ und „Begegnung“ komme es jetzt an. 23 Gegenüber der Deutschen Akademie der Künste fordert Brecht, 21 Vgl. Bertolt Brecht, Werke, Bd. 12, S. 447 und 449. 22 Klaus Völker, Bert Brecht. Eine Biographie. München: Beck 1976, S. 148. 23 Bertolt Brecht, Werke, Bd. 27, S. 346/ 347. Bert Brecht Buckower Elegien 207 immerhin bedingt öffentlich, die „Dringlichkeit einer großen Aussprache“, 24 und dass über „gemachte Fehler eindringlich und offen zu sprechen“ sei. 25 Auch und gerade in seiner prominentesten Äußerung, seinem offenen Brief an Walter Ulbricht, macht er unmissverständlich eine „große Aussprache mit den Massen“ zur Voraussetzung seiner „Verbundenheit“ mit Partei und Regierung: Werter Genosse Ulbricht, Die Geschichte wird der revolutionären Ungeduld der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ihren Respekt zollen. Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zu einer Sichtung und zu einer Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der sozialistischen Einheitspartei auszudrücken. Ihr bertolt brecht. 26 Das Neue Deutschland druckte nur den letzten Satz dieses Briefes ab, worauf die Öffentlichkeit und die Medien im Westen empört reagierten. 27 Aber es lohnt sich vielleicht, auch diesen Brief wie ein Gedicht, nicht zuletzt im Kontext der Buckower Elegien, zu analysieren: So wie hier das Futur „wird führen“ eine klare Forderung nach dieser „Aussprache“ voraussetzt, ein „soll führen“, so ist auch eine „Sichtung“ des Sozialismus, die doch wohl gar nicht anders erfolgen kann, als kritisch, ganz eindeutig Voraussetzung von dessen „Sicherung“. Nur diese wiederum kann der Sache nach Voraussetzung sein für den „Respekt [der] Geschichte“. Und der ganze Aufbau des Briefes drückt aus, dass nach Brechts Meinung diese kritische „Sichtung“ des Sozialismus nicht oder nicht genug geleistet wurde. Ist das so prinzipiell verschieden, von der Aufforderung, die „Kader“ sollen wieder zu „hören“ lernen? Und wenn Brecht dichtet: „Unwissende! Schrie ich / Schuldbewußt“, sollen dann nicht auch und noch mehr alle die sich mit gemeint fühlen, die die Arbeiter für „unwissend“ gehalten haben und nach wie vor halten? Es ist nicht unwichtig festzuhalten, dass so gesehen auch in Böser Morgen, so wie im vorhergehenden Die Lösung, die Form des Gedichts zu einem kritischen Argument in der Frage nach „Unwissen“ und „Schuld“ wird. Der Gedankengang, der vom „förmlichen Schock“ 28 zur Umkehrung von Überzeugungen, zu Selbstzweifel und Selbstkritik fortschreitet, zeichnet einen schmerzlichen Lernprozess auf. Er protestiert im Namen des verunsicherten „Ich“ gegen die Anmaßung all derer, die sozialistisches „Wissen“ sicher zu besitzen beanspruchen. Und damit ist dann auch rückblickend der Zusammenhang von Böser Morgen, Die Lösung und Der Blumengarten wieder hergestellt. Denn die offene Logik eines lernen- 24 Werner Hecht, Brecht Chronik 1898-1956. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1997, S. 1063, vgl. ebd. ff. 25 Werner Hecht, Brecht Chronik Ergänzungen. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2007, S. 122. Noch 1956 nach dem XX. Parteitag der KPDSU und dessen Abrechnung mit dem Stalinismus fordert Brecht „eine gigantische Mobilisierung der Weisheit der Massen“ (Bertolt Brecht, Werke, Bd. 23, S. 418), was immer noch die Tendenz der Buckower Elegien fortsetzt. 26 Bertolt Brecht, Werke, Bd. 30, S. 178. 27 Vgl. ebd. 28 Ulrich Kittstein, Das lyrische Werk Bertolt Brechts, S. 300, vgl. S. 299 ff. Hans Vilmar Geppert 208 den Denkens und sich Verhaltens bestimmt ganz unauffällig und alltäglich auch schon die vermeintliche Idylle. Man kann, ja muss auch hier mehrmals und etwas „verfremdend“ lesen, und am besten eben wieder vom Schluss her. Denn hat „das Angenehme“ hier wirklich das letzte Wort? Die Antwort gibt kein geringerer als Brechts Lieblings-Klassiker. Mit Buckow war für Brecht schon immer die Freude verbunden gewesen, hier in Ruhe Horaz lesen zu können. 29 Mindestens noch zweimal in den Buckower Elegien (Beim Lesen des Horaz und das Motto) hat sich das niedergeschlagen. Und immer geht es um ein aktives, ja durchaus auch widersprechendes Lesen. Auch in Der Blumengarten kann und soll man ja über die zitierte Stelle hinaus weiter auf Horaz hören. Denn die so „konträr“ klingende Aussage: „das Angenehme“ oder „das Nützliche“ wird schon von Horaz selbst zur „Disjunktion“ ( „sei es dies, sei es jenes oder beides“) und dann ausdrücklich zur „Konjunktion“ („beides zusammen“ - Brecht interessiert sich immer wieder für logische Folgen) 30 , also zu einer wesentlich klareren Position weiter entwickelt: „Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci / lectorem delectando pariterque monendo / allen Beifall erhält der, der das Nützliche mit dem Angenehmen verbindet, den Leser erfreuend und zugleich ermahnend“. 31 Das war schon immer Brechts Programm gewesen, und für die Buckower Elegien wird es erst recht wichtig: Das „Nützliche“ wird auch zu scharfer Kritik oder skeptischer Reflexion oder programmatischer Sentenz führen, und das „Angenehme“ zum Bekenntnis zum Schönen, zur individuellen Kreativität, ja zu utopischen Augenblicken. Man sieht, wie sozusagen der leere Raum zwischen ihnen die so tief verschiedenen Gedichte Der Blumengarten und Die Lösung gleichwohl verbindet - allerdings auf eine nur sehr prinzipielle Weise. Ihr Gegensatz wird zum spannungsreichen Kontrast vertieft, der die „Verfremdung“ in Böser Morgen vorbereitet. Und so ist auch das offene, sich selbst korrigierende Denken, das Hören- und Lernen- Können, das die beiden Folge-Gedichte fordern, schon in Der Blumengarten zur unauffälligen Alltagsgewohnheit geworden. „Dies oder jenes“ sind ganz offene Vorstellungen, die nur offen, also korrigier- und erweiterbar verbunden sind; „nicht allzu häufig“, also nicht regelmäßig oder gar immer sitzt der Dichter im Garten, er könnte jederzeit aufstehen und weggehen; „verschiedene Wetter, gute, schlechte“ sieht er voraus, also eine völlig offene Zukunft. Und zur „Weisheit“ des Gärtners, der hier vielleicht ja ganz anspruchslos die „Weisheit des Volkes“ vertritt, gehört es sowieso, nichts mit Sicherheit zu erwarten. Hier gibt es keine ‚ganzheitliche‘ oder ‚objektive‘ Zeit, keine ‚Sinntotalität der Geschichte‘ - ganz anders als für die „Wissenden“, die „Sekretäre“ oder die „Kader“. All das ist bezeichnend: Der „Aufstand des 17. Juni“, so sehr er sie prägt, ist Anlass, nicht Gegenstand der Buckower Elegien. Brecht antwortet auf diesen „Schock“ nicht mit politischen Forderungen oder Vorschlägen. Die Alternative etwa: „Das 29 Zu Brecht und Horaz vgl. mit vielen Belegen, Marion Lausberg, Brechts Lyrik und die Antike, v.a. S. 190 ff. 30 Vgl. zu diesen Begriffen z.B. Albert Menne, Einführung in die Logik. München: Francke, 2. Aufl., 1973, S. 32 ff., v.a. S. 38 ff. 31 Horaz, Sämtliche Werke, S. 250 (Vers 342 f.). Bert Brecht Buckower Elegien 209 Volk wählt[e] eine neue Regierung“, ist lediglich als die Umkehrung eines grammatikalischen „Irrealis“ verklausuliert. Vergleichbar umkreisen ja auch die vielerlei kritischen Gedichte, auch die Satiren (Gewohnheiten noch immer, Die Musen), die konkrete historische Situation, die nie aus dem Auge gerät, im Modus der bloßen Möglichkeit: Sie fragen nach möglichen Voraussetzungen des Aufstands und noch bezeichnender durchaus systemkritisch nach den verpassten Möglichkeiten, angemessen und produktiv darauf zu reagieren. Eine weitere Gruppe von Gedichten fasst auch das gehört zu einem ‚offenen‘ Zeitverständnis eine katastrophale mögliche Zukunft ins Auge: Es könnte wieder „ein Bomber“ über „Kinder“ oder „Frauen“ seine tödliche „Nahrung“ abwerfen (Der Himmel dieses Sommers), „auch die Troer“ führten bekanntlich drei Kriege (Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters), und so fort. Und jetzt erlauben Sie bitte einen gedanklichen Sprung zu einem ganz anders klingenden Gedicht, einen Sprung, vergleichbar dem von Die Lösung zurück zu Der Blumengarten! Denn auf solche Kontraste und Zusammenhänge kommt es in den Buckower Elegien wesentlich an. So wie die ‚offene Logik‘ der zeitkritischen Gedichte sich in der ‚offenen Zeit‘ der nur räumlich „abgeschirmten“ Garten-Idylle gespiegelt hatte, so gehen oft in den Buckower Elegien fast punktuell begrenzte räumliche Anschauungen, gehen kleine szenische Räume in weite und immer offene zeitliche Horizonte über. So sind in diesem Sinne Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukunft auf eine ganz ‚offene‘, ungesicherte Weise verbunden, und die zeitliche Assoziation wird ausgelöst durch einen genau gesehenen „kleinen“ Raum, in dem Gedicht: Der Rauch Das kleine Haus unter Bäumen am See Vom Dach steigt Rauch Fehlte er Wie trostlos dann wären Haus, Bäume und See. Die anschauliche Vignette zeigt die lebendige und friedliche Geborgenheit der Szene wie eingerahmt und nur aus der Distanz und wie etwas Überraschendes. Der Sprecher scheint dort selbst nicht oder nicht ganz zuhause zu sein, so wie er den Blumengarten jederzeit verlassen könnte. Das Gedicht sagt: Was da vor Augen ist, könnte immer auch nicht sein. „Trost“ wird anschaulich vor dem Hintergrund jederzeit möglicher „Trostlosigkeit“. Welche weite historische, ja geschichtsphilosophische Perspektive damit verbunden ist, besser, sein könnte, zeigt eine Vorstufe dieses Gedichts aus Brechts Nachlass: Heimkehr des Odysseus Dies ist das Dach. Die erste Sorge weicht, Denn aus dem Haus steigt Rauch, es ist bewohnt. Hans Vilmar Geppert 210 Sie dachten auf dem Schiffe schon: vielleicht Ist unverändert hier nur mehr der Mond. 32 Das Gedicht wird auf 1936 datiert; und das Exil ist nicht nur sein Kontext, sondern in der Figur des Ur-Exilanten Odysseus auch sein Thema. Dass der Dichter der Buckower Elegien sich in Der Rauch so an das Exil erinnert, vertieft nur das Fragile und Problematische in der lebendigen und geborgenen Szenerie, die da wie etwas kaum erwartetes und kaum geglaubtes in den Blick gerät. Auf alle Fälle ist das, was man in Der Rauch im weiteren historisch-aktuellen Sinn „nach dem Volksaufstand des 17. Juni“ vielleicht als Zeichen einer nach Krieg und Exil doch immerhin eher beruhigten, lebendigen, sicherer fortschreitenden Gegenwart verstehen kann, also was immer an der Gegenwart „angenehm“ oder erfreulich zu „zeigen“ sein mag etwa das heimelige „kleine Haus unter Bäumen am See“ -, dieses ‚Zuhause-Sein‘ in der Gegenwart ist weder einfach aus der Vergangenheit irgendwie gesetzmäßig zu folgern, noch für die Zukunft als sicher fortsetzbar zu erwarten. Man erinnert sich vielleicht an die Sentenz, oder ahnt sie schon: „Ich bin nicht gern wo ich hin fahre.“ Hier zeigt sich erneut jene offene Logik des historischen und politischen Denkens, mit der Brecht auf das Trauma des 17. Juni antwortet. Am klarsten wird das ausgesprochen in einem dichterisch eher plakativen, daher hier nur verkürzt zitierten, gleichwohl sehr wichtigen, programmatischen Gedicht mit dem Titel: Die Wahrheit einigt Freunde, ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheit und sagtet sie! […] Freunde, ein kräftiges Eingeständnis Und ein kräftiges WENN NICHT! Auch hier bittet der ‚Logiker‘ Brecht um aufmerksame Lektüre: Die Formel „wenn nicht“ entzieht aller vorgeblich ‚objektiv‘ gewussten ‚Geschichtstotalität‘ den Boden. 33 Denn sie beschreibt das Engagement als die zwar „notwendige“, aber keineswegs „hinreichende“ Bedingung irgend eines sozialistischen Erfolgs: 34 Nur wenn wir mit aller Kraft für eine gesellschaftlich bessere Zukunft arbeiten, wird diese eintreten - „wenn nicht“ dann nicht, ist die einzige Folgerung, die diese Voraussetzung logisch zulässt -; aber damit ist keineswegs gesagt, dass wir diese Ziele (die logische Folge) auch erreichen, dass wir die ‚Sieger der Geschichte‘ sein werden, und gleich gar nicht, 32 Bertolt Brecht, Werke, Bd. 14, S. 339, 33 Zu Brechts ‚offenem‘ Marxismus, etwa zum „Spannungsverhältnis zwischen individueller politischer Handlungsethik und den Anforderungen kollektiver Gesellschaftsveränderung“, oder dazu, dass er „immer wieder gegen Weltbilder und Weltanschauungen polemisiert und sich für Kritik, Zweifel und geschichtliche Bewegung“ einsetzt, vgl. z.B. Marcus Llanque, Individuum und Partei: Brecht und das politische Denken. In: Mathias Mayer (Hrsg.), Der Philosoph Bertolt Brecht. Würzburg: Königshausen und Neumann 2011, S. 227-244, S. 227, oder Jan Knopf, „[...] es kömmt darauf an, sie zu verändern.“ Marx’ Theorie der Praxis bei Brecht. In: Ebd., S. 157-174, S. 161. 34 Vgl. genauer und allgemeiner zu Brechts „Logik des Engagements“ Verf., Bert Brechts Lyrik - Außenansichten, S. 101-113. Bert Brecht Buckower Elegien 211 dass wir diese Autorität jetzt schon vorweg beanspruchen können. Das, so Brecht, sollen sich alle „Wissenden“, Partei-„Sekretäre“ und „Kader“ ins Stammbuch schreiben. Denn wer so, also im Sinne dieses „kräftigen WENN NICHT“ denkt, muss bereit sein, sowohl getroffene Entscheidungen zu überprüfen und zu korrigieren, als auch gegensätzliche Auffassungen einzubeziehen. Nur so ließe sich jene „große Aussprache“ erfolgreich führen, die Brecht in seinem Brief an Walter Ulbricht gefordert hatte. Anders gesagt, eine so erreichte „Wahrheit“ könnte in der Tat die einender entfremdeten Parteien, „Volk“ und „Regierung“ (man denke an Die Lösung), wieder „einigen“. Und es ist dann in der Tat schlüssig, dass Brecht dieses „Gedicht 1953 an Otto Grotewohl geschickt [hat] mit der Bitte, es im Ministerrat vorzulesen“. 35 So konsequent das gewesen sein mag, war es irgendwie praktisch? Überwiegt nicht auch bei dieser nahezu öffentlichen Äußerung Brechts der subjektive und skeptische Aspekt, der Vorbehalt, in aller Distanz und Stille richtig gedacht zu haben? Die Buckower Elegien reagieren auf ihren Anlass, den 17. Juni, subjektiv, skeptisch, eher philosophisch als politisch, elegisch distanziert und eben nicht öffentlich - schon wieder oder vielleicht noch immer wie in einer Situation des Exils. 36 Gerade der Anfang, den wir kennen, und der Schluss der Sammlung, soweit wir ihn vermuten können, werden das zeigen. Gleichwohl wird für ihren Dichter unter dieser offenen Logik seines Engagements der Kopf und, wenn ich so sagen darf, das Gemüt frei für Gedichte, die ganz anders klingen als Die Lösung oder Die neue Mundart oder Die Wahrheit einigt, und die diese doch notwendig ergänzen, nämlich Gedichte, die von Hoffnung reden, von dichterischer Kreativität und sogar von für Augenblicke aufscheinender sozialistischer Utopie. Das „Angenehme“ und Schöne aus Der Blumengarten scheint erst in diesem Zusammenhang seine für Brecht wahre Qualität zu gewinnen. Schon dass Brecht etwa in dem Gedicht Beim Lesen des Horaz, das einen weiten historischen Horizont entwirft, statt der „Überschwemmung“, von der Horaz spricht, das biblische Wort „Sintflut“ verwendet, zu dem eben untrennbar das Hoffnungszeichen des „Regenbogens“ gehört, zeigt eine neue Orientierung in der Geschichtsphilosophie der Buckower Elegien: Beim Lesen des Horaz Selbst die Sintflut Dauerte nicht ewig. Einmal verrannen Die schwarzen Gewässer. Freilich, wie wenige Dauerten länger! 35 Bertolt Brecht, Werke, Bd. 12, S. 450. 36 Vgl. ausführlich Helmut Koopmann, Brechts „Buckower Elegien“ - ein Alterswerk des Exils? In: Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann (Hrsg.), Hundert Jahre Brecht - Brechts Jahrhundert. Tübingen: Stauffenburg 1998, S. 113-134. Hans Vilmar Geppert 212 Die große Flut, bei der „Fische über Berge geschwommen sind“, 37 steht bei Horaz für die widersinnige Katastrophe des Bürgerkriegs, die erst durch das neue Zeitalter unter Augustus beendet wird. Brecht denkt gelegentlich der Horaz-Lektüre bei der „großen schwarzen Flut“, das ist für ihn ein lange schon geläufiges Bild, an Nazi- Herrschaft, Krieg, Exil, 38 durchaus auch an die Zeit des Stalinismus. 39 Aber ganz anders als bei Horaz sucht er nicht nach einem mythischen Erlöser was zu seinen Anti-Stalin-Gedichten passte -, 40 für ihn geht es um die Opfer und das bloße Überleben. Das könnte resigniert klingen. 41 Aber auch hier zeigt sich, wie wichtig für Brecht seine ‚offene Geschichtslogik‘ ist. Indem er in einem später, nämlich 1956 entstandenen Gedicht aus dem Nachlass dessen ursprünglichen Beginn: „wären wir unendlich“, zu „dauerten wir unendlich“ veränderte, 42 wurde der kurze Vierzeiler geradezu zu einem Kommentar zu Beim Lesen des Horaz, genauer, es entstand ein Kommentar zur Leerstelle einer Möglichkeit, die ja schon immer - „wenige“ sind immerhin „einige“ keinesfalls ausgeschlossen war. Auch die Bibel war ja schon mit „wenigen“ zufrieden gewesen, die die „Sintflut“ überdauerten: Dauerten wir unendlich So wandelte sich alles Da wir aber endlich sind Bleibt vieles beim alten. 43 So wie die schlimme Vergangenheit, bzw. die „Sintflut“, nicht alle vernichtet hat und „wenige“ sie über-„dauerten“, so folgt noch grundsätzlicher aus unserer „nicht unendlichen“ Lebens-„Dauer“ nicht nur, dass „vieles beim alten […] bleibt“, sondern auch, zumindest ist es nicht ausgeschlossen, dass einiges „sich wandeln“ kann: Einiges können wir verändern. Das mag genauso abstrakt argumentiert sein wie das „wenn nicht“ in Die Wahrheit einigt, aber es eröffnet zugleich einen über alle schmerzliche Erinnerung an die Opfer der Geschichte hinausreichenden, logisch ‚harten‘ Möglichkeitssinn, der so unbedingt ist wie die nicht weg zu diskutierende, nach vorwärts treibende „Ungeduld“ in Der Radwechsel. Wenn Dichter über Dichter reden, dann denken sie immer auch an sich selbst. So steckt in Brechts Frage, nach denen, die „länger […] dauerten“ vielleicht auch der Gedanke an eine der berühmtesten Zeilen des Horaz: „Exegi monumentum aere 37 „Omne cum Proteus pecus egit altos visere montis / Als des Proteus Herde zu hoher Berge Spitzen hinanstieg“, Horaz Carmina I.2, Vers 7/ 8 (Horaz, Sämtliche Werke, S. 8). 38 Vgl. etwa den ausführlichen Kommentar in: Bertolt Brecht, Buckower Elegien mit Kommentaren von Jan Knopf, S. 113-118. 39 Jan Knopf (Hrsg.), Brecht-Handbuch. Bd. 2: Gedichte. Stuttgart und Weimar: Metzler 2001, S. 451. 40 Beim Lesen des Horaz ist zusammen mit Die Wahrheit einigt und eben Eisen nur in einer der Sammlungen der Buckower Elegien überliefert (vgl. Bertolt Brecht, Werke, Bd. 12, S. 446), und die zentrale Zeile in Eisen erzählt von einem „im Traum“ gesehenen „großen Sturm [...] / Den Bauschragen riß er / Den Eisernen abwärts [...]“. Die sicher überlieferte Großschreibung „der Eiserne“ (vgl. ebd. S. 450) weist auf Stalin hin. 41 Insbesondere wenn das Gedicht, wie in den beiden jetzt leider maßgeblichen Ausgaben, am Ende der Sammlung steht. 42 Hervorhebung von mir. 43 Bertolt Brecht, Werke, Bd. 15, S. 294, vgl. zur früheren Fassung Bd. 14, S. 494. Bert Brecht Buckower Elegien 213 perennius / ich habe ein Denkmal errichtet, dauerhafter als Erz“. 44 Denn die Sorge um die „Dauer“ seines eigenen literarischen Werks, seine Wirksamkeit, die Gefahr „vergessen“ zu werden und so fort, war etwas, was Brecht schon lange und besonders seit dem Exil immer wieder dichterisch beschäftigte. 45 Und im Kontext einer Sammlung, bei der es ungewiss war, ob und wann sie überhaupt erscheinen wird, erhält das noch mehr Gewicht. Wenn also Beim Lesen des Horaz im Stillen auch mit einer Frage nach der „Dauer“ von Brechts eigenem Werk endet, dann gibt ein anderes, ähnlich über Zeit und Geschichte nachdenkendes Gedicht darauf vielleicht eine durchaus konsequente Antwort: Tannen In der Frühe Sind die Tannen kupfern. So sah ich sie Vor einem halben Jahrhundert Vor zwei Weltkriegen Mit jungen Augen. Immer wieder in den Buckower Elegien, das hat sich mehrmals gezeigt, nutzt Brecht die Form eines Gedichts als eigenes, die sprachliche Aussage fortsetzendes Argument. Hier erinnert der Anfang die beiden ersten Zeilen könnten ja durchaus für sich allein stehen nicht zufällig an ein Hai-Ku oder ein Kürzest-Gedicht der Imagists oder Ungarettis oder an manche der „epiphanies“ von Joyce oder, und noch mehr, an die „mémoires involontaires / die unwillkürlichen Erinnerungen“ bei Proust. 46 Die Tannen „strahlen“ geradezu von Verweisen: Das melancholische Dunkelgrün verwandelt sich in frisches, rotes Kupfer; die Bäume, deren Spitzen das erste Morgenlicht fangen, haben wohl schon eine gewisse Größe, ein gewisses Alter erreicht, aber „in der Frühe“ gewinnen sie ein ganz neues eigenes Leben. Das wirkt wie eine Momentaufnahme aus jenen Zeiten „in der Früh, nicht allzu häufig“, wenn der Dichter im Blumengarten „sitzt“. Gleichwohl scheinen die „kupfernen Tannen“, vergleichbar dem „kleinen Haus unter Bäumen am See“, ganz plötzlich und unerwartet in den Blick zu kommen. 47 Die Überraschung erst löst die unwillkürliche Erinnerung an die Kindheit aus. In eins damit entsteht gegenüber der Vergangenheit von „fünfzig Jahren“ und der schmerzlichen Erinnerung an „zwei Weltkriege“ vielleicht sogar der Sorge um den dritten, wie ihn „auch die Troer“ erlebten - , gegenüber der schmerzlich vergänglichen, gewussten Zeit, auch gegenüber der Sorge um die eigene „Dauer“, auch gegenüber der „Sintflut“ aus Beim Lesen des Horaz“, gegenüber der bedrückenden Geschichte entsteht der intensive, vom überraschenden, „kupfernen“ 44 Carmina III.30, vgl. Horaz, Sämtliche Werke, S. 176. 45 Vgl. z.B. Werner Frick, „Ich, Bertolt Brecht[...] “. Stationen einer poetischen Selbstinszenierung. In: Helmut Koopmann (Hrsg.), Brechts Lyrik - neue Deutungen, S. 9-47, v.a. S. 31 ff. 46 Vgl. dazu ausführlicher Verf., Bert Brechts Lyrik - Außenansichten, S. 61-63. 47 Insbesondere wenn man an das in vielem ähnliche Gedicht Schwierige Zeiten (1955) denkt: „[...] Und erkenne darin etwas Rotes und etwas Schwarzes / Und erinnere mich plötzlich des Holders / Meiner Kindheit in Augsburg [...].“ Bertolt Brecht, Werke, Bd. 15, S. 294. Hans Vilmar Geppert 214 Strahlen der Tannen erfüllte Augenblick. Und die intensive Vorstellung kommt aus einer intensiv verdichteten lyrischen Sprache: Die Tannen sehen nicht aus wie etwas anderes, sie „sind […] kupfern“. Die direkte und kühne Metapher beweist, dass der kreative Blick der „jungen Augen“ heute und jetzt noch lebendig ist, ja, sie ist ganz direkt in actu, als Sprechakt, als lyrisches Ereignis -, das Gedicht selbst ist diese kreative Lebendigkeit. Ein solches ‚Prinzip Kreativität‘ ist genauso wenig hinterfragbar wie das Prinzip „WENN NICHT“ aus Die Wahrheit einigt oder die subjektive „Ungeduld“ in Der Radwechsel oder das ‚Prinzip Hoffnung‘ im Gedicht: Rudern, Gespräche Es ist Abend. Vorbei gleiten Zwei Faltboote, darinnen Zwei nackte junge Männer. Neben einander rudernd Sprechen sie. Sprechend Rudern sie nebeneinander. Die kleine Szene kommt ähnlich wie das „Haus unter Bäumen“ (Der Rauch) oder die „kupfern[en] Tannen […] in der Frühe“ (Tannen) als ganze und von außen in den Blick. Und doch ist sie wie diese Reflex subjektiver Gedanken und eine Antwort auf subjektive Wünsche. Darauf weist die eigentümliche Schreibweise „neben einander“ hin, 48 darauf weist das etwas surreale Bild von „Faltbooten“, die nicht gepaddelt, sondern „gerudert“ werden, und darauf weist vor allem der Zusammenhang hin, in dem Brecht dieses Gedicht bereits in Sinn und Form und in den Versuchen veröffentlicht hat. Denn dort folgt auf Rudern, Gespräche und Der Rauch eine deutlich, fast schon plakativ konstruierte, ‚gestellte‘ Szene, auf alle Fälle ein bewusst hierher gesetztes Kontrast-Gedicht: Heißer Tag Heißer Tag. Auf den Knieen die Schreibmappe Sitze ich im Pavillon. Ein grüner Kahn Kommt durch die Weide in Sicht. Im Heck Eine dicke Nonne, dick gekleidet. Vor ihr Ein ältlicher Mensch im Schwimmanzug, wahrscheinlich ein Priester. An der Ruderbank, aus vollen Kräften rudernd Ein Kind. Wie in alten Zeiten! Denke ich Wie in alten Zeiten! 49 48 „Brecht schreibt stets auseinander: ‚Neben einander‘; erst im Schlussvers ist die ‚Harmonie‘ ganz hergestellt. Hierbei [bei der Schreibweise „nebeneinander“] handelt es sich ganz offensichtlich um ‚Verbesserungen‘ von Elisabeth Hauptmann“, Jan Knopf, Bertolt Brechts Buckower Elegien, S. 124. Dass die „großen“ Ausgaben diese „Verbesserungen“ wieder hergestellt haben (vgl. Werke, Bd. 12, S. 307; Die Gedichte, S. 295) zeigt erneut, wie beschränkt ‚strenge‘ Philologie manchmal vorgeht - und wie schädlich für das Verständnis. 49 Auch bei der Schreibung: „Auf den Knieen“ orientiere ich mich an der Ausgabe von Jan Knopt, Bertolt Brechts Buckower Elegien, S. 15. Bert Brecht Buckower Elegien 215 Eine bedrückende Szene, fast wie aus einem Film von Louis Bunuel! Man vermutet sofort Schlimmes. Dass der Dichter sich selbst ausdrücklich mit inszeniert, wirkt wie eine Erklärung. Am wichtigsten daran ist der Kontrast zu Rudern, Gespräche: die mühsame, schwerfällige Bewegung gegen das leichte „Gleiten“, „dick gekleidet“ gegen die paradiesische „Nacktheit“, Hierarchie und Ausbeutung („an der Ruderbank“ - wie in einer Galeere) gegen das betont zwanglose „Nebeneinander“, und natürlich die „alten Zeiten“ gegen eine Szene, die offensichtlich dazu im Gegensatz zu sehen ist. „Wie in der neuen Zeit! Denke ich“? Das würde, so ausgesprochen, das Gedicht Rudern Gespräche verhunzen, aber kann man anders, als sich genau das hinzu zu denken? „Neben einander rudernd / Sprechen sie. Sprechend / Rudern sie nebeneinander“: So wie das „Rudern“ von fern noch an Arbeit erinnert, aber an eine Arbeit, die nicht ‚entfremdet‘ und kein Zwang mehr ist, so gerät auch das „Gespräch“ hier zum Gegensatz sowohl zum unverständlich trennenden „Kaderwelsch“ (Die neue Mundart), der schärfsten Kritik am System der DDR, als auch zu den bloßen „Lauten von Menschen rührend“ (Laute), der minimalen Kommunikation, mit denen, so meine Überzeugung, die Buckower Elegien schließen. Rudern, Gespräche entwirft eine einmalige anschauliche Szene von sehr weit reichender Bedeutung: Es geht um die bloße Möglichkeit mehr lässt sich als Bedeutung nicht verallgemeinern, schon gar nicht sowohl gegenüber der fragilen, friedlich-lebendigen Gegenwart in Der Rauch als auch gegenüber den zähen „alten Zeiten“ in Heißer Tag -, ja, es geht um ein Wunschbild zwangloser Harmonie von Natur, Arbeit und denkender Kommunikation. Auch diese punktuelle „Utopie einer ‚richtigen‘ Welt“, 50 die minimale „Utopie der neuen Zeit“ 51 freilich steht unter Brechts Vorbehalt des „WENN NICHT“ und schließt an ihn an: Nur wer zu hoffen wagt und sich für „glückliches Voranschreiten, Fortschritt“ 52 in der Geschichte engagiert, wird die punktuell und ganz wie von selbst aufscheinende „utopische Funktion“ 53 in der kleinen Szene erkennen. Die Buckower Elegien sind durchgängig subjektive Reflexe: auf den Alltag in Buckow am See und ganz ebenso auf „den 17. Juni“. Nirgends geht es um ‚objektive Geschichtstotalität‘. Das machen, und damit will ich meinen Vortrag schließen, gerade Anfang und Schluss des Zyklus deutlich: Ginge da ein Wind Könnte ich ein Segel stellen. Wäre da kein Segel Machte ich eines aus Stecken und Plane. 50 Günter Häntzschel, Einfach kompliziert. Zu Bert Brechts Lyrik: In: Hans-Jörg Knobloch / Helmut Koopmann (Hrsg.), Hundert Jahre Brecht, S. 65-82, S. 77. 51 Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München: Beck 2009, S. 195. 52 Jan Knopf, Bertolt Brechts Buckower Elegien, S. 90, vgl. S. 88 ff. 53 Günter Häntzschel, Einfach kompliziert, S. 77. Hans Vilmar Geppert 216 Der Radwechsel Ich sitze am Straßenhang. Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld? Die beiden Gedichte, die unbedingt zusammen gehören, 54 stellen jedes für sich eine gewisse Distanz her zu den anderen Gedichten der Buckower Elegien. Die Ausgangssituation in Der Radwechsel ist ausdrücklich nicht in Buckow angesiedelt, ja, es ist eher unwahrscheinlich, dass dieser doch wohl schöne, idyllische Ort gemeint ist, wenn der Dichter sagt, dass er dort „nicht gern“ sei. Der minimal skizzierten äußeren Gegebenheit entspricht eine nur sehr generell, fast abstrakt zu verstehende innere, Denken und Gefühl, Zeitdenken und Zeitgefühl ansprechende Frage: Wie hängen ganz allgemein „erzwungener Stillstand“, „Distanz“, „Wechsel“, also ein Neuansatz und „ungeduldig“ erwartetes neues „Fahren“ 55 zusammen, woher, wie und wohin auch immer die Fahrt führen mag? Auch der Vorgang des „Radwechsels“ selbst wird ja vom „Straßenhang“ aus, also in deutlicher Distanz zur Arbeit des „Wechsels“ und der Straße gesehen. Umso allgemeiner und grundsätzlicher wirkt dann die Frage: „Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld? “, und das erst recht, wenn man sich erinnert, dass das Stichwort „revolutionäre Ungeduld“ ja auch in Brechts offenem Brief zum 17. Juni eine zentrale Bedeutung hatte. Unter diesem Prinzip, nur unter diesem Prinzip, hatte sich Brecht damals an „die Seite“ der SED gestellt. Das Gedicht Der Radwechsel wirkt so gesehen wie ein subjektives, persönliches, reflexiv-skeptisches, ja kontemplatives, ganz wörtlich „sehend“ fragendes Pendant zum allgemeinen, geschichtsphilosophischen Lehrgedicht Die Wahrheit einigt. In der Tat, Brechts „[revolutionäre] Ungeduld“ hier benennt ebenso wie das „wenn nicht“ seines sozialistischen Engagements dort lediglich eine notwendige Voraussetzung seines Geschichtsverständnisses. Denn - und das scheint mir nun sehr wichtig der sprachliche Parallelismus von Vergangenheit und Zukunft in Der Radwechsel will genauer bedacht werden: Die Parallele verdeckt die prinzipielle Unsicherheit und Offenheit, ja Unfassbarkeit aller Zukunft. Denn dass Brecht die noch andauernde Vergangenheit das ist ja ein wichtiges Thema in den Buckower Elegien -, dass er die Zeit von Faschismus, Krieg, Exil, Stalinismus und so fort „ungeduldig“ zu verlassen wünscht, ist leicht einsehbar: „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme“. Aber die Zukunft ist nie in dem Maße bekannt wie die Vergangenheit. Dafür ist sie im Gegensatz zu dieser prinzipiell noch gestaltbar. „Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre“ entwirft eine ganz subjektiv „gesehene“ und vor allem eine skeptisch eingegrenzte Zukunft. „Skepsis“ kommt von (griechisch) „Sehen“. Und hier geht es um eine produktive Skepsis. So wie ein „Wenn-Nicht“-Satz seiner offenen Logik nach durch eine nicht eingetretene Folge nicht negiert werden kann, so kann eine noch so negativ gesehene 54 Vgl. Jan Knopf, Bertolt Brechts Buckower Elegien, S. 35 ff. und 39 ff. 55 Ebd. S. 40/ 41. Bert Brecht Buckower Elegien 217 gewusste, also erwartete Zukunft nie die Zukunft schlechthin ganz erfüllen. Die Einsicht: „Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre“, kann meine „Ungeduld“ nicht widerlegen. Dass die wissbare, die erwartbare Zukunft, die Zukunft, in die die „Fahrt“ des ‚real existierenden Sozialismus‘ in der DDR damals offensichtlich führte, dass da Brecht „nicht gern“ hin wollte, das passt dann durchaus zu den systemkritischen Gedichten „nach dem 17. Juni“ wie Die Lösung oder Die neue Mundart. Aber wie Die Wahrheit einigt begibt sich auch Der Radwechsel auf eine ganz grundsätzliche, ganz theoretische ‚Meta-Ebene‘ dieser Kritik. Es geht, sozusagen ‚transzendentalpolitisch‘, um die Bedingung der Möglichkeit ganz subjektiver „revolutionärer Ungeduld“, bzw. noch allgemeiner, einer persönlichen, inneren „Ungeduld“ zum Besseren, so wie es dort um kollektives ‚sozialistisches Engagement‘ gegangen war. Hier wie dort kann und muss der Möglichkeitshorizont, muss die kreative Dynamik, muss auch das Hoffnungspotential „ungeduldig“ erwarteter, aber eben prinzipiell nicht wissbarer besserer Zukunft offen bleiben. Und erhält so gesehen nicht, genauso wie die „utopische Funktion“ in Rudern, Gespräche oder das ‚Prinzip Kreativität‘ in Tannen, erhält dann in der Folge des beginnenden Gedicht-Zyklus nicht auch der „schöne Ort“ (der locus amoenus) in Der Blumengarten eine Bedeutung, die gerade auch die „guten Wetter“ und „das Angenehme“, das Erfreuliche, ja das Utopisch-Bessere prinzipiell als möglich offen hält? So wie die gewusste Zukunft - „ich bin nicht gern, wo ich hin fahre“ in Der Radwechsel die „Ungeduld“ zum Besseren nicht negieren kann, so kann im Motto- Gedicht die „Windstille [des] gesellschaftlichen Lebens“ in der DDR 56 zwar das „Stellen“, nicht aber das „Machen“ eines „Segels“ verhindern. Denn dieses „Segel“, das sind es handelt sich um eine „Allegorie“ ganz einfach die Buckower Elegien selbst: Ginge da ein Wind Könnte ich ein Segel stellen Wäre da kein Segel Machte ich eines aus Stecken und Plane. Brecht hat auch jetzt, wenn er diese Verse schreibt, so darf man sich das vorstellen, seinen Horaz aufgeschlagen vor sich auf dem Schreibpult liegen. Bei Horaz (Carmina IV, 15), 57 und überhaupt in einer langen Tradition seit der Antike, 58 insbesondere auch im Barock, ist die Seefahrt ein Bild, eine Allegorie der Dichtung, ja überhaupt eine Allegorie der „Lebensreise“. Und hier wird sie für Brecht zum sorgfältig durchdachten Bild seiner jetzt gegenwärtigen dichterischen Situation. 56 Ulrich Kittstein, Bertolt Brechts lyrisches Werk, S. 319. 57 „Vela dare / die Segel (dem Meer) geben“ als Bild für das Dichten, vgl. Horaz, Sämtliche Werke, S. 218. 58 Vgl. Jan Knopf, Buckower Elegien mit Kommentaren, S. 35 ff.; Marion Lausberg, Brechts Lyrik und die Antike, S. 187/ 188; beide weisen ausdrücklich auch auf das Bild der Seefahrt als „Lebensreise“ hin. Hans Vilmar Geppert 218 So wie Der Radwechsel ‚meta-politisch‘ die Bedingung der Möglichkeit für Brechts ganz persönliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft reflektiert, so ist das Motto ein ‚meta-poetisches’ Gedicht. Es reflektiert die Bedingungen der Möglichkeit, die Buckower Elegien zu verwirklichen. Und auch diesmal denkt bzw. dichtet Brecht seinen Horaz weiter: Noch gefährlicher als für diesen das „stürmische Tyrrhenische Meer“ ist ihm die Windstille; und es gilt nun vor allem solche Differenzierungen sind typisch für die Kunst der Allegorie -, sorgfältig zwischen dem „Stellen“ das „Segels (der Dichtung)“ und dem „Machen“ (griechisch „poiein“, was v.a. auch „Dichten“ bedeutet), also dem Verfertigen von Dichtung zu unterscheiden. Da dieses „dichtende Machen“ ganz subjektiv bedingt ist, kann es dann auch den Irrealis des ganzen Gedichts jederzeit aufheben: „Wäre da kein Segel / Machte ich eines aus Stecken und Plane“ - Gedichte „machen“ könnte ich immer. Und dann kann man weiter ‚de-kodieren‘: „Ginge da ein Wind / Könnte ich ein Segel stellen“ dann hätten meine Gedichte eine Chance, ‚hinaus zu fahren‘, also veröffentlicht und gelesen zu werden. Ist es jetzt nicht völlig klar, dass damit das zentrale Trauma der Buckower Elegien angesprochen ist? Die brisanten Gedichte blieben ausdrücklich unveröffentlicht. Und als sie veröffentlicht wurden, hatten sie ihre Brisanz verloren. 59 „Ginge da ein Wind / Könnte ich ein Segel stellen“: Wäre die politische Situation nicht so lähmend, könnte ich diese Buckower Elegien veröffentlichen. So kann, ja muss man diese Allegorie verstehen. Der erneut zum Schweigen „verdammte“ Dichter denkt wohl auch beim Motiv der Seefahrt als „Lebensreise“ an die viel herumgetriebene Existenz des Exils, so wie ein „Segel aus Stecken und Plane“ ganz von selbst weniger an ein Schiff, als viel mehr an das Floß des „viel herumgetriebenen“ (polytropos) Odysseus denken lässt. Auch an die aus „Stecken“ und „Segel“-Tuch „gemachten […] Faltboote“ in Rudern, Gespräche kann man und soll man wohl denken. Und schließlich sind „Stecken und Plane“ alltägliche Materialien: „Die allereinfachsten Worte / Müssen genügen. […] Daß du untergehst, wenn du dich nicht wehrst / Das wirst du doch einsehen“. Auch dieses Gedicht aus Brechts Nachlass von 1956 60 lässt sich wie ein später Kommentar zu den Buckower Elegien lesen: Das Bild der Seefahrt für die dichterische Existenz, die „allereinfachsten“, alltäglichen Szenen und Worte in Buckow, die Logik eines „kräftigen WENN NICHT“ („dass du untergehst, wenn du dich nicht wehrst“)‚ der Gedanke, ‚auch mit nicht veröffentlichten Gedichten kann ich mich noch wehren‘ und ‚so lange ich noch dichten kann, bleibt mir noch Hoffnung‘, „gehe“ ich „nicht unter“, und so fort den Anspielungen und Korrespondenzen nachzugehen, in denen Brechts späteste Gedichte immer wieder an die Buckower Elegien erinnern, wäre eine unendliche Aufgabe. Auf alle Fälle lohnt es sich, diese Texte als zusammenhängenden Zyklus zu lesen, etwa so wie ein teilweise gelöstes Kreuzworträtsel: Alles werden wir nie genau wissen, aber einiges ist doch recht klar. Ein paar „Achsen“ und „Felder“ habe ich in 59 Jan Knopf, Gelegentlich Poesie, S. 265. 60 Bertolt Brecht, Werke, Bd. 15, S. 1180. Bert Brecht Buckower Elegien 219 diesem Vortrag versucht aufzuzeigen. Und so können wir vielleicht auch den Schluss dieses Gedichtzyklus erkennen: Laute Später, im Herbst Hausen in den Silberpappeln große Schwärme von Krähen Aber den ganzen Sommer durch höre ich Da die Gegend vogellos ist Nur Laute von Menschen rührend. Ich bin’s zufrieden. „Brecht soll, konfrontiert mit dem Einwand, es wären doch überall Vögel zu hören, zunächst geschwiegen, am Abend dann aber freundlich und verschmitzt repliziert haben: ‚Ich bin kein Ornithologe‘.“ 61 Das gibt zu denken. Man erkennt die „Silberpappel“ wieder aus Der Blumengarten und Böser Morgen. Aber eine „Gegend“, in der kein Vogel singt und allenfalls Krähen krächzen, ist sicher das Gegenteil des früheren „schönen Orts“. „Krähen“ sind Unglücksvögel, die Stille gehört traditionell, etwa im Barock, zur „Einsamkeit“ der „öden Wüste“. 62 Einerseits wird so die dichterische „Existenz“ aus Der Blumengarten auf neue Weise aber vergleichbar konsequent „verfremdet“ wie in Böser Morgen, als sei im „Sommer […] nach dem Aufstand des 17 Juni“ die einfache Freude an der Natur nicht mehr erlaubt. Und andererseits macht dieser barocke topos rückblickend auf deutlich barocke Elemente gerade in den beiden Anfangsgedichten der Buckower Elegien aufmerksam. Die Allegorie der „Seefahrt“ im Motto-Gedicht als Dichtungs- und Lebensreise war im Barock sehr beliebt; 63 Der Radwechsel ist nach dem barocken „emblematischen“ Schema 64 gegliedert von inscriptio („Überschrift“), pictura („szenisches Bild“), und subscriptio („der Text darunter“), eine gedankliche, vor allem moralische Nutzanwendung; auch das Thema der „leeren“ Zeit und die Antithetik in: „Ich bin nicht gern wo ich herkomme / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre“, erinnern an barocke Dichtung. 65 Und der Gedanke an die Hinfälligkeit zeitlicher Freuden und an die verwehrte Idylle betont das „elegische“ Moment im Titel der Sammlung, unter dem gerade auch deren Anfang und Schluss verbunden sind. Aber die Natur ist in den Buckower Elegien immer Reflex, ja Projektion menschlicher Wünsche und Sorgen. So sind offenkundig hier auch die „Laute von Menschen rührend“ wichtiger als alle Fragen nach „schönen“ oder „wüsten“ Orten. Noch 61 Jan Knopf, Bertolt Brechts Buckower Elegien mit Kommentaren, S. 119, der das Gedicht Laute zu Recht und meines Wissens erstmals an das Ende des Zyklus stellt. 62 Etwa in Andreas Gryphius’ Sonett Einsamkeit (Sonette, II. Buch, Nr. 7), wo „Eulen nur und stille Vögel nisten“ (Andreas Gryphius, Dichtungen. Hrsg. von Karl Otto Conrady, Hamburg: Rowohlt 1968, S. 41). 63 Etwa in Andreas Gryphius’ Sonett An die Welt (Sonette, I. Buch, Nr. 49, vgl. ebd., S. 34). 64 Etwa in Gryphius’ berühmten Sonetten Morgen und Abend (Sonette, II. Buch, Nr. 1 und 3, ebd., S. 38/ 39). 65 Vgl. etwa: „Diß was ihr Leben nennt’ ihr Sterblichen / ist tod / Was ihr für tod anschau’t ist Leben sonder Noth“ in Gryphius’ Sonett Grabschrift eines hochberühmbten Mannes (Sonette, II. Buch, Nr. 38, ebd. S. 58). Hans Vilmar Geppert 220 einmal zeigt sich jene offene Gedanken- und Geschichtslogik, die jeder Totalität, jedem „alles“ oder „immer wenn“ misstraut. „Laute“ sind die Vorstufe von Sprache und Kommunikation, wie etwa kleine Kinder sie am Anfang ihres Spracherwerbs hervorbringen und weit entfernt von den utopischen Gesprächen beim Rudern oder der „gesagten“ Wahrheit, die einigt, oder von der „großen Aussprache“, wie Brecht sie nach dem 17. Juni forderte. Aber durch ihre bloße Möglichkeitsform der Sprache sind solche bloßen Laute eben auch dem selbstsicheren „Kaderwelsch“ der Neuen Mundart entgegengesetzt. Weil in den „Lauten von Menschen her rührend“ menschliche Kommunikation und Verständigung, weil auf ganz lange Sich vielleicht ja auch eine Wahrheit, die einigt, weil all dies als minimale Spur besserer Zukunft immerhin möglich bleibt, können die Buckower Elegien mit einem Satz schließen, der nicht provoziert und keine unmittelbare Antwort mehr einfordert: „Ich bin’s zufrieden“. Literaturverzeichnis Primärliteratur Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hgg. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. 31 Bde. Berlin/ Weimar und Frankfurt/ M. 1988-2000. - Die Gedichte. Zusammenstellung Jan Knopf. Frankfurt/ M. 2000. - Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. Frankfurt/ M. 1976. - Buckower Elegien mit Kommentaren von Jan Knopf. Frankfurt/ M. 1986. Gryphius, Andreas: Dichtungen. Hg. Karl Otto Conrady. Hamburg 1968. Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch, hrsg. von Hans Färber. München 1967. Forschungsliteratur Frick, Werner: „‚Ich, Bertolt Brecht…‘. Stationen einer poetischen Selbstinszenierung“. Brechts Lyrik - neue Deutungen. Hg. Helmut Koopmann. Würzburg 1999. 9-47. Geppert, Hans Vilmar: Bert Brechts Lyrik - Außenansichten. Tübingen und Basel 2011. Ders.: „Rhetorik und Literaturtheorie“. Theorien der Literatur. Bd. 2. Hgg. Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2005. 49-38. Ders. und Hubert Zapf (Hrsg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 1 ff. Tübingen und Basel 2003. Häntzschel, Günter: „Einfach kompliziert. Zu Bert Brechts Lyrik“. Hundert Jahre Brecht. Hgg. Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann. Tübingen 1998. 65-82. Hecht, Werner: Brecht Chronik 1898-1956. Frankfurt/ M. 1997. Ders.: Brecht Chronik Ergänzungen. Frankfurt/ M. 2007. Kienpointer, Manfred: Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustern. Stuttgart 1992. Kittstein, Ulrich: Das lyrische Werk Bertolt Brechts. Stuttgart 2012. Knobloch, Hans-Jörg und Helmut Koopmann (Hgg.): Hundert Jahre Brecht - Brechts Jahrhundert. Tübingen 1998. Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. Bd. 2: Gedichte. Stuttgart und Weimar: Metzler 2001. Bert Brecht Buckower Elegien 221 Ders.: „‚…es kömmt darauf an, sie zu verändern.‘ Marx‘ Theorie der Praxis bei Brecht“. Der Philosoph Bertolt Brecht. Hg. Mathias Mayer. Würzburg 2011.157-174. Ders.: Gelegentlich Poesie. Ein Essay über die Lyrik Bertolt Brechts. Frankfurt/ M. 1996. Ders.: Nachwort zur Edition. Bertolt Brechts Buckower Elegien mit Kommentaren von Jan Knopf. Frankfurt/ M 1986. S. 121-125. Koopmann, Helmut: „Brechts ‚Buckower Elegien‘ - ein Alterswerk des Exils? “ Hundert Jahre Brecht. Hgg. Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann. Tübingen 1998. 113-134. Ders. (Hg.): Brechts Lyrik - neue Deutungen. Würzburg 1999. Llanque, Marcus: „Individuum und Partei. Brecht und das politische Denken“. Der Philosoph Bertolt Brecht. Hg. Mathias Mayer. Würzburg 2011. 227-244. Lausberg, Marion: „Brechts Lyrik und die Antike“. Brechts Lyrik - neue Deutungen. Hg. Helmut Koopmann. Würzburg 1999. 161-198. Mayer, Mathias (Hg.): Der Philosoph Bertolt Brecht. Würzburg 2011. Menne, Albert: Einführung in die Logik. München, 2. Aufl. 1973. Müller, Klaus-Detlef: Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München 2009. Völker, Klaus: Bert Brecht. Eine Biographie. München 1976. Ingeborg Bachmann Malina Schreiben im Widerspiel des Möglichen mit dem Unmöglichen Stephanie Waldow I Schreiben im Widerspiel des Möglichen mit dem Unmöglichen Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, so das Diktum von Theodor W. Adorno, an dem sich zahlreiche Autorinnen und Autoren nach 1945 abgearbeitet haben. Wie Gedichte schreiben in einer Sprache, deren Worte von der Sprache des Faschismus in Anspruch genommen wurden? Auch Ingeborg Bachmann hat sich schreibend mit diesem Diktum auseinandergesetzt und wechselte von der Gattung Lyrik schließlich zur Prosa. Worauf die zeitgenössische Kritik mit Unmut reagiert und vom „Fall der Lyrikerin“ gesprochen hat. 1 Nicht nur in ihren Poetikvorlesungen, sondern auch in ihren literarischen Texten hat sich Bachmann immer wieder mit der Frage auseinandergesetzt, wie schreiben mit der „schlechten Sprache“, wie hinschreiben auf eine „schöne Sprache“, denn, so Bachmann: „Es gilt weiterzuschreiben.“ 2 So ist der „ewige Krieg“, der nicht zuletzt mittels der Sprache ausgefochten wird, auch wesentliches Thema ihres Todesarten-Projektes, welches posthum veröffentlicht wurde. Die Gesellschaft wird als „allergrößter Mordschauplatz“ 3 eingeführt, konkretisiert im Mordschauplatz der Sprache, jene Todesarten, die die Fortsetzung der gewaltigen Verbrechen sind, die nie aufgehört haben. Schreiben heißt demzufolge immer im Bewusstsein des Krieges schreiben. Die Erfahrung des Faschismus stellt nach Bachmann die Sprache und ihre Mitteilungsfunktion radikal in Frage. Nicht nur, dass das, was geschehen ist, nicht mitteilbar ist, sondern auch die Schrift an sich wurde zum Herrschaftsinstrument und lässt sich nicht mehr unbefangen benutzen. Die poetologische Konsequenz liegt für Bachmann darin, die Fixierung im Zeichen 1 Reich-Ranicki, Marcel: „Ingeborg Bachmann oder die Kehrseite des Schreckens (1963)“. In: Kein objektives Urteil - Nur ein Lebendiges. Hg. v. Koschel, Christine u. Inge von Weidenbaum. München 1989. S. 69-82. 2 Bachmann, Ingeborg: „Literatur als Utopie“. In: dies.: Werke, Bd. 4. Hg. v. Koschel, Christine, Inge von Weidenbaum u. Clemens Münster. München 1993, S. 255-274, S. 271. 3 Ebd. „Malina“. In: dies.: „Todesarten“-Projekt. Bd. 3.1. Hg. v. Albrecht, Monika u. Dirk Göttsche. München 1995, S. 617. Stephanie Waldow 224 als „Todesart“ zu verurteilen. Die Vernichtung der Figuren Fanny und Franza, zweier Protagonistinnen aus dem Todesarten-Zyklus, die durch die Schrift zu Beschriebenen werden, sind Beispiele dafür. 4 „Das Vertrauensverhältnis zwischen Ich, Sprache und Ding ist schwer erschüttert“, so heißt es in Bachmanns erster Frankfurter Poetikvorlesung über Fragen und Scheinfragen. 5 Gesucht wird nach einem „Gegenwort“, welches dem herrschenden auf Instrumentalisierung der Sprache abzielenden Diskurs entgegengesetzt ist. Dieses „Gegenwort“ - oder in Bachmanns Terminologie der Name - stellt eine ursprüngliche Form des Sprechens dar, in der Ich, Sprache und Ding noch nicht voneinander getrennt sind und das allein im Dialog mit anderen Stimmen erahnt werden kann. Hier im Andenken an die Stimme des Dichterkollegen Paul Celan. Es ist das Gegenwort, es ist das Wort, das den „Draht“ zerreißt, das Wort, das sich nicht mehr vor den „Eckstehern und Paradegäulen der Geschichte“ bückt, es ist ein Akt der Freiheit. Es ist ein Schritt. 6 Erklärtes Ziel von Bachmanns Schreiben ist es, an diesem gestörten Vertrauensverhältnis schreibend zu arbeiten. Eine Sprache zu finden, die Abstand nimmt von der „schlechten Ordnung“ und jene Namen, die Kunde geben von einer intakten Beziehung zwischen Ich, Sprache und Ding in die neue Textur zu integrieren. Allerdings korrespondiert der Wunsch nach einem Ausstieg aus der „schlechten Sprache“ mit dem Wissen um dessen Unerreichbarkeit, wie etwa die Titelerzählung aus dem Band Das Dreißigste Jahr deutlich macht. Infolgedessen gilt es, sich mit dem Vorhandenen anzustrengen, mit der vorhandenen Sprache so zu arbeiten, dass sie „Richtung nimmt“ auf eine andere Art des Sprechens. Ein Sprechen im „Widerspiel des Möglichen mit dem Unmöglichen.“ 7 Denn dies bleibt doch: sich anstrengen müssen mit der schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese eine Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber unsre Ahnung regiert und die wir nachahmen. 8 Die Literatur aber, die selber nicht zu sagen weiß, was sie ist, die sich nur zu erkennen gibt als ein tausendfacher und mehrtausendjähriger Verstoß gegen die schlechte Sprache - denn das Leben hat nur eine schlechte Sprache - und die ihm darum ein Utopia der Sprache gegenübersetzt, diese Literatur also, wie eng sie sich auch an die Zeit und ihre 4 Vgl. dazu Bachmann, Ingeborg: „Das Buch Franza“. In: dies.: „Todesarten“-Projekt. Bd. 2. Hg. v. Albrecht, Monika u. Dirk Göttsche. München 1995, S. 54. 5 Ebd.: „Fragen und Scheinfragen“. In: dies.: Werke. Bd. 4. Hg. v. Koschel, Christine, Inge von Weidenbaum u. Clemens Münster. München 1993, S. 182-199, S. 188. 6 Celan, Paul: „Der Meridian. Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises Darmstadt, am 22. Oktober 1960“. In: ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 3. Hg. v. Allemann, Beda u. Stefan Reichert. Frankfurt a. M. 1986, S. 185-202, S. 189. 7 Bachmann, Ingeborg: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“. In: dies.: Werke. Bd. 4. Hg. v. Koschel, Christine, Inge von Weidenbaum u. Clemens Münster. München 1993. S. 275-277, S. 276. 8 Bachmann: Literatur als Utopie, S. 270. Ingeborg Bachmann Malina 225 schlechte Sprache halten mag, ist zu rühmen wegen ihres verzweiflungsvollen Unterwegssein zu dieser Sprache und nur darum ein Ruhm und eine Hoffnung der Menschen. 9 Insbesondere die Praxis des Zitierens scheint für Bachmann ein gangbarer Weg zu sein, sich vom sog. „Mordschauplatz der Sprache“ zu distanzieren und die Namen im neu entstehenden Text erahnbar zu machen. Bereits zu Beginn des Romans Malina wird eine enge Verbindung zwischen einer Namenssprache und der intertextuellen Verfahrensweise aufgemacht. Im Andenken an Paul Celan begibt sich das Ich auf die Suche nach dem Namen, der eine neue Sprechweise erkennen lässt und der nur in Korrespondenz mit dem anderen Text zu suchen ist. Vor diesem Blumengeschäft, dessen Namen ich noch herausfinden muss, und stehengeblieben bin ich im Laufen nur, weil im Fenster ein Strauß Türkenbund stand. 10 Wenn Bachmann hier den Türkenbund aufruft, erinnert sie u.a. an Celans programmatisches Gespräch im Gebirg, in dem der Türkenbund die fiktive Begegnung zwischen Celan und Adorno markiert. Im Mittelpunkt des Gesprächs steht vor allem die Frage, wie Schreiben nach Auschwitz möglich ist, wie sich absetzen vom Geschwätz und hinschreiben auf eine Namenssprache, die allein im Gespräch, im Austausch mit der anderen Stimme möglich zu sein scheint. Armer Türkenbund, arme Rapunzel! Da stehn sie, die Geschwisterkinder, auf einer Straße stehn sie im Gebirg, es schweigt der Stock, es schweigt der Stein, und das Schweigen ist kein Schweigen, kein Wort ist da verstummt und kein Satz, eine Pause ists bloß, eine Wortlücke ists, eine Leerstelle ists [...] Die Geschwätzigen! Haben sich auch jetzt, da die Zunge blöd gegen die Zähne stößt und die Lippe sich ründet, etwas zu sagen! Gut, laß sie reden [...] 11 So ist die daraus erwachsende Utopie des „unbeschriebenen weißen Blattes“ kein Ort, an dem noch nichts eingetragen ist, sondern eine Richtung, die sich aus der Korrespondenz mit bereits geschriebenen Texten konstituiert. Entsprechend heißt es in Bachmanns Frankfurter Vorlesungen: Und unsere Begeisterung für bestimmte herrliche Texte ist eigentlich die Begeisterung für das weiße, unbeschriebene Blatt, auf dem das noch Hinzuzugewinnende auch eingetragen scheint. 12 Es gibt also keinen Nullpunkt der Sprache, die Einschreibung in die literarische Tradition ist zwangsläufig und so entsteht das gesuchte „Gegenwort“, der Name, nicht auf einem weißen Blatt, sondern nur in Auseinandersetzung mit der vorhandenen Sprache. 9 Ebd., S. 268. 10 Ebd.: Malina, S. 300. 11 Celan, Paul: „Gespräch im Gebirg“. In: ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 3. Hg. v. Alleman, Beda u. Stefan Reichert. Frankfurt a. M. 1983, S. 169-173, S. 170. 12 Bachmann: Literatur als Utopie, S. 258. Stephanie Waldow 226 II Die Verfahrensweise der allegorischen Intertextualität Hilfreich scheint mir in diesem Zusammenhang Walter Benjamins vor allem im Ursprung des deutschen Trauerspiels entwickelter Allegorie-Begriff zu sein, der für das Verständnis der Zitierweise Ingeborg Bachmanns fruchtbar gemacht werden kann. Mit ihm verbinden sich die Gesten der Suche, des Eingedenkens und der erinnernden Wieder-Holung, die zusammengenommen zu einer Theorie der ‚allegorischen Intertextualität‘ verknüpft werden können. 13 Eine Verfahrensweise, die den Namen als utopisches Gegenwort in die Textur integriert und die in Bachmanns Texten nicht allein als intertextuelle Praxis fungiert, sondern auch als poetologische Kompositionstechnik. Auf diese Weise scheint nicht nur ein Sprechen nach Auschwitz wieder möglich zu sein, darüber hinaus wird Sprache auch aus ihrem instrumentellen Zusammenhang gelöst. Es wird nicht mehr ‚durch Sprache‘ mitgeteilt, sondern ‚in Sprache‘. Eine wichtige Unterscheidung, die Benjamin bereits in seinem Sprachaufsatz von 1916 vornimmt und die zugleich den Unsagbarkeitstopos der Moderne radikal in Frage stellt. 14 Was teilt die Sprache mit? Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache. Es gibt also keinen Sprecher der Sprachen, wenn man damit den meint, der durch diese Sprachen sich mitteilt. 15 Eine Sprache, in der die Worte allein zur Mitteilung gebraucht werden, bezeichnet Benjamin - wie auch Celan - als „Geschwätz“. 16 Sie sind Ausdruck jenes verlorenen Zusammenhangs von Ich, Sprache und Ding. Stattdessen stellt er diesem „Geschwätz“ eine Mitteilung „in Sprache“ gegenüber, die er auch als Namenssprache bezeichnet und die jene ursprüngliche Einheit wieder erinnert. Rekurriert wird auf ein Erzählen, welches einen erinnernden Umgang mit Vergangenheit praktiziert und auf diese Weise auch das Unsagbare im Text erahnen lässt. Nur so, und da sind sich Bachmann und Benjamin einig, kann der „Kulturgeschichte der Sieger“ eine andere Art des Sprechens entgegengesetzt werden. Voraussetzung für diesen neuen Umgang mit Vergangenheit ist Benjamins Konzept des Eingedenkens, welches eine Reaktivierung der Vergangenheit in der gegenwärtigen Erfahrung fordert. Statt eines passiven Erinnerns, welches auf Kontinuitäten und Chronologien aufbaut und ein Inventarisieren im Blick hat, wird ein aktives Andenken erprobt. Dieses Andenken reißt den Gegenstand aus seinem ursprüngli- 13 Zum Begriff der ‚allegorischen Intertextualität‘ vgl. die Studie von Stephanie Waldow: Waldow, Stephanie: Der Mythos der reinen Sprache. Allegorische Intertextualität als Erinnerungsschreiben der Moderne. Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Hans Blumenberg. Paderborn 2006. 14 Benjamin, Walter: „Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien“. In: ders.: Gesammelte Schriften, Aufsätze, Essays und Vorträge. Band II/ 1. Hg. v. Tiedemann, Rolf u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 89-234, S. 140-157. (Im Folgenden abgekürzt mit: Gesammelte Werke: II/ 1). 15 Benjamin: Gesammelte Schriften. II/ 1, S. 142. 16 Ebd., S. 153. Ingeborg Bachmann Malina 227 chen Zusammenhang heraus und überführt ihn in einen neuen Kontext, wo er die Möglichkeit erhält, zu überdauern. 17 Zieht man diese Überlegungen für die Verfahrensweise der Intertextualität heran, wird deutlich, dass eine Voraussetzung der Intertextualität die Loslösung des Wortes aus seinem kontinuierlichen Sinnzusammenhang ist. Seine ursprüngliche Bedeutung bleibt allerdings im Folgetext erhalten, wodurch das Wort zwei Bedeutungen erhält, es wird ambivalent. 18 Nach Benjamin erlangt Sprache durch ihr bruchstückhaftes Vorliegen dann einen neuen, gesteigerten Ausdruckswert. Mithilfe dieser Verfahrensweise nimmt Sprache Richtung auf eine als utopisch vorgestellte Namenssprache, die, wie Bachmann es formuliert, das Vertrauensverhältnis von Ich, Sprache und Ding zur Voraussetzung hat und die in der menschlichen Sprache nur noch erahnt werden kann. Hat ein Name einmal solche Strahlkraft, so scheint es, daß er sich frei macht und verselbständigt; der Name allein genügt, um in der Welt zu sein. Es gibt nichts Mysteriöseres als das Leuchten von Namen und unser Hängen an solchen Namen. 19 Der Name hat in der menschlichen Sprache einzig diesen Sinn und diese unvergleichlich hohe Bedeutung: dass er das innerste Wesen der Sprache selbst ist. Der Name ist dasjenige, durch das sich nichts mehr, und in dem die Sprache sich selbst mitteilt. 20 Wie vor allem in seinem Trauerspielbuch und in den Arbeiten über Baudelaire deutlich wird, ist die Allegorie für Benjamin eine angemessene (Text)form, um der Suche nach einer neuen Sprache gerecht zu werden. Die zertrümmerte Sprache hat in ihren Stücken aufgehört bloßer Mitteilung zu dienen und stellt als neugeborner Gegenstand seine Würde neben die der Götter, Flüsse, Tugenden und ähnlicher ins Allegorische hinüberschillernder Naturgestalten. 21 Die Allegorie zeichnet sich nicht nur durch ein produktives Eingedenken aus, indem sie Altes als Neues erzählt. Durch diese ihr eigene Erinnerungsleistung macht sie darüber hinaus auf den Abstand zwischen Text und Bedeutung aufmerksam. Der allegorische Text hat stets eine doppelte Bedeutung. Neben seiner wörtlichen Auslegung ist ihm immer noch eine andere Bedeutung unterlegt, die sog. Anders-Rede. 17 Ebd.: „Abhandlungen “. In: ders.: Gesammelte Schriften, Aufsätze, Essays und Vortrage. Band I/ 2. Hg. v. Tiedemann, Rolf u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 666. (Im Folgenden abgekürzt mit: Gesammelte Schriften. I/ 2) 18 Kristeva, Julia: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven III. Hg. v. Jens Ihwe. Frankfurt a. M. 1972, S. 345-375. Butzer macht darauf aufmerksam, dass Benjamins Sprachphilosophie ein postmoderner Gedanke innewohne. Er arbeitet heraus, dass durch die Vorstellung einer messianischen Zeit der Einheitsdiskurs der Geschichte aufgelöst und in die Pluralität von mündlichen Erzählungen überführt wird. Butzer, Günter: „Das Glück in der Geschichte. Walter Benjamins Utopismus“. In: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, 12 (1992), S. 59-75, S. 71. 19 Bachmann, Ingeborg: „Der Umgang mit Namen“. In: dies.: Werke. Bd. 4. Hg. v. Koschel, Christine, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München 1993, S. 238-255, hier S. 238. 20 Benjamin: Gesammelte Schriften. II/ 1, S. 144. 21 Ebd.: Gesammelte Schriften. I/ 1, S. 382. Stephanie Waldow 228 Nicht umsonst basiert der Begriff Allegorie etymologisch auf dem griechischen Wort „allos“ und „agoreuein“, was soviel bedeutet wie anders als auf dem Marktplatz, der Agora, reden. 22 Die allegorische Rede impliziert also immer auch das Andere, das was nicht ausgesagt werden kann. Sie beinhaltet stets einen zweiten, entgegen gesetzten Sinn, als systematische Anspielung einer Geschichte auf eine andere verweist sie auf eine Leerstelle. Auf diese Weise gibt sie eine Ahnung von dem auch von Bachmann gesuchten „Gegenwort“. So weiß schon Friedrich Schlegel: Das höchste kann man, weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen. 23 Die Richtung auf eine Sprache, auf eine allegorische Sprache, die nicht Ausdruck einer „Kulturgeschichte der Sieger“ ist, ist sowohl den Texten Bachmanns als auch Benjamins eigen. Der Intertext bietet hier eine ideale Basis für eine allegorische Sprechweise, da durch diese Verfahrensweise nicht mehr Eindeutigkeit und Festschreibung von Sprache im Mittelpunkt stehen, sondern Mehrdeutigkeit und Offenheit. Mehrere Stimmen kommen gleichzeitig zu ihrem Recht. Das Zitat zerlegt den Text in eine Vielstimmigkeit, die der einen autoritären Stimme eine Absage erteilt. Durch die Zitation wird das Wort aus seinem scheinbar harmonischen Zusammenhang des Sinns entbunden, um in seiner Mitte das „Gegenwort“ erahnbar zu machen. Im rettenden und strafenden Zitat erweist die Sprache sich als die Mater der Gerechtigkeit. Es ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück an seinen Ursprung. Nicht ungereimt erscheint es, klingend, stimmig, in dem Gefüge eines neuen Textes. Als Reim versammelt es in seiner Aura das Ähnliche; als Name steht es einsam und ausdruckslos. Vor der Sprache weisen sich beide Reiche - Ursprung so wie Zerstörung - im Zitat aus. Und umgekehrt: nur wo sie sich durchdringen - im Zitat - ist sie vollendet. Es spiegelt sich in ihm die Engelsprache, in welcher alle Worte, aus dem idyllischen Zusammenhang des Sinnes aufgestört, zu Motti in dem Buch der Schöpfung geworden sind. 24 Durch den Vorgang des Zitierens wird die herrschende gesellschaftliche Sprachordnung aufgebrochen, um an den Namen, der Ausdruck eines ursprünglichen Vertrauensverhältnisses von Sprache und Welt ist, zu erinnern. Und so heißt es bei Benjamin weiter: Ein Wort zitieren, heißt es beim Namen rufen. 25 „Denn Dichtung“, so Benjamin, „entsteht erst dort, wo das Zeichen nicht mehr unter dem Druck einer Aufgabe steht“. 26 So verhilft die ‚allegorische Intertextualität‘ in Auseinandersetzung mit der bereits vorhandenen Sprache, eine Ahnung von der Namenssprache, dem „Gegenwort“, zu vermitteln. Folgetext und Prätext werden zu 22 Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet v. Elmar Seebold. Berlin 1995 23 , S. 27. 23 Schlegel, Friedrich: „Gespräch über die Poesie“. In: ders.: Kritische Schriften. Bd. II. Hg. v. Ernst Behler. Paderborn 1963. S. 324. 24 Benjamin: Gesammelte Schriften. II/ 1, S. 363. 25 Ebd., S. 362. 26 Ebd., S. 208, 214. Ingeborg Bachmann Malina 229 zwei Stimmen eines kontrapunktischen Satzes, die sich überlagern und durchkreuzen und in deren Konstellation sich nach Benjamin die Wahrheit als Denkbruchstück ereignet. 27 Insofern fungiert das Zitat als eine Form der Allegorie, die die Leerstelle des Namens, das „Gegenwort“, umkreist. III Musik im Roman Malina: Die ‚allegorische Intertextualität‘ als literarische Kompositionstechnik Komposition hat für mich immer eine große Rolle gespielt [...] und es ist tatsächlich so, dass ich erst beim Korrigieren oder beim Versuch, einige Dinge zu streichen, gesehen habe, wie verzahnt es ist, dass es fast keinen Satz gibt, der sich nicht auf einen anderen Satz bezieht; also insofern könnte man dieses Wort Komposition in einem doppelten Sinn gebrauchen. 28 „Es gibt keinen Satz, der sich nicht auf einen anderen Satz bezieht“, ist in dem Roman Malina nicht nur als Verweis auf seine intertextuelle Verfahrensweise zu verstehen, sondern darüber hinaus auch als literarische Kompositionstechnik. Er drückt die enge Verbindung zwischen Musik und Literatur aus. Während sich die Komposition in der Musik auf die horizontale wie auch vertikale Ebene bezieht, um Mehrstimmigkeit zu erzielen, muss im Verlauf des Schreibprozesses die Vertikale erst hergestellt werden. Dieses Herstellen der Vertikalen funktioniert im Roman Malina mittels der allegorischen Intertextualität, die eine Gleichzeitigkeit der Stimmen zulässt und den Text durch eine Absage an strikt lineare Textabläufe als ein Gewebe konstruiert. Bachmanns Arbeit mit Musik ist mehr als ein Einschreiben in die musikalische Tradition, mehr als eine bloße Anspielung auf Wagner, Beethoven usw. Musik und Dichtung haben, wie Bachmann in ihrem Essay über Musik und Dichtung schreibt, vielmehr die selbe Gangart. Es gibt ein Wort von Hölderlin, das heißt, dass der Geist sich nur rhythmisch ausdrücken könne. Musik und Dichtung haben nämlich eine Gangart des Geistes. Sie haben Rhythmus, in dem ersten, dem gestaltgebenden Sinn. Darum vermögen sie einander zu erkennen. Darum ist da eine Spur. 29 Infolgedessen greifen in Bachmanns Text traditionelle Konzepte von Intermedialität und Intertextualität nicht. 30 Komposition bezeichnet bei Bachmann eine narrative Vereinigung von Musik und Dichtung, einen polyphonen Prozess des Mit-, Neben- 27 Vgl. dazu auch Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie und Symbol. Göttingen 1982, S, 64. 28 Bachmann, Ingeborg: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. v. Christine Koschel. München 1994, S. 96. 29 Ebd.: „Musik und Dichtung“. In: dies.: Werke. Bd. 4. Hg. v. Koschel, Christine, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München 1993, S. S. 59-62, S. 60. 30 Vgl. Solibakke, der die Integration von Musik, von musikalischen Figuren und Klanganalogien in den Roman Malina als strukturelles Erweiterungsprinzip für die Ästhetik des Schriftmediums versteht. Solibakke, Karl Ivan: „Musik als Diskurs und Struktur in Bachmanns Malina“. In: Re- Acting to Ingeborg Bachmann. Hg. v. Leahy, Caitríona u. Bernadette Cronin. Würzburg 2006, S. 23-33, hier S. 25. Stephanie Waldow 230 und Gegeneinanders vielfältiger und zum Teil gleichzeitiger Stimmen und Diskurse. 31 Das Ineinandergreifen von Musik und Dichtung wird von Bachmann als Verfahrensweise eingeführt, um Richtung zu nehmen auf eine Sprache, die sich abgrenzt von der „Kulturgeschichte der Sieger“ und die in ihrer Mitte den Namen erahnen lässt. Von dort aus entfaltet sie ihre Wirkung, die zugleich ihren ethischen Gehalt markiert. Ihre Schwäche ist ihre neue Würde. [...] Miteinander und voneinander begeistert, sind Musik und Wort ein Ärgernis, ein Aufruhr, eine Liebe, ein Eingeständnis. […] Sie halten die Toten wach und stören die Lebenden auf, sie gehen dem Verlangen nach Freiheit voraus und dem Ungehörigen noch nach bis in den Schlaf. Sie haben die stärkste Absicht zu wirken.32 Musik wird in Malina sowohl als utopische Leerstelle in den Text eingeschrieben als auch als literarisches Kompositionselement herangezogen, um die Leerstelle des Namens aufzeigen zu können. Der Roman schreibt sich auf diese Weise - strukturell wie inhaltlich - in die Tradition der Musikgeschichte ein und nimmt Richtung auf das „Gegenwort“. Neben Verweisen auf Wagner, Beethoven und Populärmusik sind dies vor allem auch Auseinandersetzungen mit Mozarts Motette Exultate Jubilate und Schönbergs Pierrot lunaire, die im Roman eine große Rolle spielen. Beide Kompositionen sind für eine weibliche Stimme komponiert. IV Mozarts Exultate Jubilate oder das schöne Buch Novalis’ Diktum, Sprache müsse wieder Gesang werden und der Dichter solle mehr auf die Klangkombinationen als auf die Bedeutung achten, zieht eine Verschiebung von der Sinnzur Formebene nach sich. 33 Musikalität eines Textes gilt als Zeichen für eine gesteigerte Ausdruckskraft und Authentizität. Worte haben keinen instrumentellen Verweischarakter mehr, sondern werden zu Tönen, die erst in der Kombination ihren Sinn generieren. 34 Interessanterweise etabliert sich diese Idee der absoluten Musik zunächst in der Dichtung, bevor sie zum kompositorischen Programm der musikalischen Romantik erhoben wird. 35 Jenes In-Klang-Setzen des Wortes ist letztlich eine Reaktion auf die angenommene Differenz von Begriff und 31 Vgl. auch Albrecht, Monika u. Dirk Göttsche (Hgg.): Bachmann Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2002, S. 304. 32 Bachmann: Musik und Dichtung, S. 62. 33 Novalis: Schriften. Die Werke von Friedrich von Hardenbergs, 5. Bde. Bd. 1. Das dichterische Werk. Tagebücher und Briefe. Hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1965, S. 360; Ders.: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. v. Hans-Joachim Mähl. München 1978, S. 517. 34 Wackenroder, Wilhelm Heinrich u. Ludwig Tieck: „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“. In: dies.: Phantasien über die Kunst. Stuttgart 1979, 67. 35 Vgl. Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik. Kassel u. a. 1984. Ingeborg Bachmann Malina 231 Ding, von sog. ursprünglicher und bereinigter Sprache. 36 Musik bekommt den Wert eines Anderen zugesprochen, sie gilt als etwas Außersprachliches, die das Unsagbare als Leerstelle mit einschließt. In dem Roman Malina wird Mozarts Exultate Jubilate aufgerufen, um diese Leerstelle vermeintlich zu füllen. Da ich nicht antworte, sagt Ivan: Das gefällt mir nicht, ich habe mir schon so etwas Ähnliches gedacht, und alle diese Bücher, die hier herumstehen in deiner Gruft, die will doch niemand, warum gibt es nur solche Bücher, es muss auch andere geben, die müssen sein wie EXULTATE JUBILATE, damit man vor Freude aus der Haut fahren kann, du fährst doch auch oft vor Freude aus der Haut, warum also schreibst du nicht so. Dieses Elend auf den Markt tragen, es noch vermehren, auf der Welt, das ist doch widerlich, alle diese Bücher sind widerwärtig. 37 Gebunden ist das schöne Buch Exultate Jublilate an die Figur Ivan, mit dem das Ich eine Sprache der Liebe, die Ausdruck von höchster Authentizität sein soll, erproben will. Er ist es, der das Ich von der „schlechten Ordnung“ der Sprache erlösen soll, an ihn ist die Erwartung geknüpft, die „ersten Worte der Welt“ wieder sprechen zu können. „Denn er (Ivan, S.W.) ist gekommen, um die Konsonanten wieder fest und faßlich zu machen, um die Vokale wieder zu öffnen, damit sie voll tönen, um mir die Worte wieder über die Lippen kommen zu lassen, um die zerstörten Zusammenhänge wiederherzustellen und die Probleme zu lösen, und so werde ich kein Jota von ihm abweichen, ich werde unsere identischen, hellklingenden Anfangsbuchstaben, mit denen wir unsre kleinen Zettel unterzeichnen, aufeinanderstimmen, übereinanderschreiben und nach der ersten Vereinigung unserer Namen könnten wir vorsichtig anfangen, mit den ersten Worten dieser Welt wieder die Ehre zu erweisen, damit sie wünschen muß, sich wieder die Ehre zu geben, und da wir die Auferstehung wollen und nicht die Zerstörung, hüten wir uns, einander schon öffentlich mit den Händen zu berühren, und auch nur heimlich fassen wir einander ins Aug, denn mit seinen Blicken muß Ivan erst die Bilder aus meinen Augen waschen, die vor seinem Kommen auf die Netzhaut gefallen sind.“ 38 Ähnlich wie Benjamin und Bachmann rekurriert auch Adorno auf die Namenssprache als utopischer Sprechweise, in der das Vertrauensverhältnis von Ich, Sprache und Ding noch intakt ist. Für Adorno, mit dem sich Bachmann in ihrem Essay über Musik und Dichtung ausführlich auseinandergesetzt hat, ist die Idee einer Namenssprache eng mit der Musik verbunden. Für ihn werden durch die Musik Namen genannt, anstatt Bedeutungen mitzuteilen. Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik eine von ganz anderem Typus. In ihm liegt ihr theologischer Aspekt. [...] Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist entmythologisiertes Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens; der wie immer auch ver- 36 Vgl. dazu Christine Lubkoll, die hierin die Grundlage dafür gegeben sieht, dass Musik zu einem literarischen Mythos wird. Lubkoll, Christine: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg im Breisgau 1995, S. 21. 37 Bachmann: Malina, S. 333f. 38 Bachmann: Malina, S. 303-305. Stephanie Waldow 232 gebliche menschliche Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen. 39 Ein Umstand, dem auch im Roman Malina Rechnung getragen wird. Das vermeintlich schöne Buch Exultate Jubilate kann als ein Versuch gelesen werden, jene Namen wieder in den Text einzuschreiben. Interessant ist allerdings, dass das schöne Buch nicht als direkte Zitation in den Text eingeschrieben wird, sondern über den Umweg von Paul Celan. Angeregt durch das Gedicht Anabasis, in dem sich Celan ebenfalls mit der Mozart-Motette auseinandersetzt und mit ihr hinschreibt zu einem „Leuchtglockenton“, integriert Bachmann in ihren Romanentwürfen zunächst die von Celan integrierte Rhythmus-Figur. Dieses schmal zwischen den Mauern geschriebne unwegsam - wahre Hinauf und Zurück in die herzhelle Zukunft. Dort. Silbenmole, meerfarben, weit ins Unbefahrene hinaus. Dann: Bojen-, Kummerbojen-Spalier mit den sekundenschön hüpfenden Atemreflexen -: Leuchtglockentöne (dum-, dun-, un-, unde suspirat cor), ausgelöst, eingelöst, unser. Sichtbares, Hörbares, das freiwerdende Zeltwort: Mitsammen. 40 Der Rhythmus der Mozart-Motette soll dem Text eine „neue Gangart“ geben. Das Wort, eingeschrieben in den „Grenzraum des Meeres“ wird zu einem „Leuchtglockenton“, der das „Herz aufatmen lässt“. Die „Leuchtglockentöne“ lassen das utopi- 39 Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik. Frankfurt a. M. 1978, S. 139f. 40 Celan, Paul: „Anabasis“. In: ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. I. Hg. v. Allemann, Beda u. Stefan Reichert. Frankfurt a. M. 1986, S. 256. Anabasis Ingeborg Bachmann Malina 233 sche „Gegenwort“, hier das „frei werdende Zeltwort“, welches Ausdruck einer gemeinsamen Sprache zwischen Ich und Du ist, erahnen. Musik und Wort nehmen gemeinsam Richtung auf eine „herzhelle Zukunft.“ Eine Kommunikation, ausgedrückt in dem Wort „Mitsammen“ scheint wieder möglich. Ein erster zarter Versuch des gemeinsamen Sprechens jenseits der „schlechten Sprache“. Auf diesen Versuch des gemeinsamen Sprechens rekurriert Bachmann, wenn sie die Rhythmusfigur „dadim dadam“ in den Romanentwürfen zu Malina aufnimmt. Sie wird als mögliche Sprache zwischen Ich und Ivan eingeführt und stellt eine Form der Liebessprache dar, die durch Alliterationen und Wiederholungen versucht, eine „neue Gangart“ in den Text zu bringen. Durch den Umweg über die Celan-Zitation wird deutlich, dass das Aussprechen des „Gegenwortes“ nur in Auseinandersetzung mit einer anderen Stimme erfolgen kann. Erst in der edierten Fassung werden die über Celan vermittelten Rhythmusfiguren durch den Titel der Motette Exultate Jubilate ersetzt und als der scheinbar gesuchte Name, als „Gegenwort“, gefeiert. Einzig in dem Traumkapitel Der dritte Mann findet sich das „dadim dadam“ noch als Einschub einer Liebessprache, die allerdings vom Vater vernichtet wird. Die Sprache der Liebe kann hier nicht mehr von einer Sprache der Hölle getrennt werden. 41 Ich habe in diesem [...] vierhundertsechstausendachtzig Silben geschrieben, dadam dadam, dadadam dadam, dadam, dam, dada und ich bin glücklich und habe keine Silbe geschrieben und doch schon dreihunderteinundsechzig pro Kurve, ich schreibe dreihundert mindestens pro Kurve, und ich schreie zu Ivan hinüber, damdam, dam, dadamdam, dam du hast eine ungeheure Importanz, und er schreit zurück, was hast du gesagt. 42 JUBILATE. Über einen Abgrund hängend fällt es mir ein, dennoch ein, wie es anfangen sollte: EXULTATE: [...] MIT IVAN DURCH WIEN FAH- REN, weil er den Titel hat GLÜCK- LICH, GLÜCKLICH MIT IVAN und GLÜCKLICH IN WIEN, WIEN GLÜCKLICH, und diese reißenden Bilderfolgen, die mich schwindlig machen, hören auch nicht auf, wenn scharf gebremst wird, warme Luftschwaden mit dem Benzingestank durch das offene Fenster kommen, GLÜCKLICH, GLÜCKLICH, es heißt glücklich, es muß glücklich heißen, denn die ganze Ringstraße ist untermalt von einer Musik. 43 Wie an der Gegenüberstellung der Zitate deutlich wird, ist die Liebessprache zwischen Ich und Ivan schon in den Entwürfen von Unverständnis geprägt. Die Heiterkeit des schönen Buches wird je jäh? durchbrochen, weil Ivan die Worte des Ich nicht versteht. Exultate Jubilate als Name für das schöne Buch wird als Schein entlarvt und der Liebessprache in der edierten Fassung konsequenterweise eine Absage erteilt. Während sich für das Ich mit dem schönen Buch „das Leben erschließt“ und die Einschreibung von Namen in den Text zu einer existenziellen Frage wird, geht es 41 Bachmann: Malina, S. 505. 42 Ebd., S. 62. 43 Ebd., S. 361f. Stephanie Waldow 234 Ivan um die Verdrängung der Todesarten, um die Flucht in den schönen Schein. Diese Flucht findet ihren Höhepunkt in einem Nietzsche-Zitat, mit dem Ivan versucht, das Ich zum Glücklichsein zu zwingen, da er sich von den Todesarten des Ich bedroht fühlt. Ich lösche Dir aber einmal alle Lichter aus, schlaf du endlich, sei glücklich. Ich bin glücklich. Wenn du nicht glücklich bist - Was dann? Dann wirst du nie etwas Gutes tun können. Und ich sage zu mir, glücklich werde ich es tun können. Ivan geht leise aus dem Zimmer und löscht jedes Licht hinter sich, ich höre ihn gehen, ich liege ruhig da, glücklich. 44 Die entsprechende Stelle bei Nietzsche lautet: Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer, er wird nie etwas tun, was andere glücklich macht. 45 Ivan will das Ich dazu veranlassen, die Erinnerungen zu verdrängen, ein schönes Buch zu schreiben ohne die Vergangenheit miteinzubeziehen, ohne die anderen Stimmen zu ihrem Recht kommen zu lassen. Doch auf dieser Grundlage scheitert das schöne Buch. Der Name als produktives Gegenwort, welches den Text aufstört und ihn zu einem „Widerspiel des Möglichen mit dem Unmöglichen“ werden lässt, entsteht nicht auf einem weißen, unbeschriebenen Blatt, sondern durch den Austausch mit der anderen Stimme. Allein im Zitieren des Zitats scheint es möglich, diesen utopischen Ort des schönen Buches aufzusuchen, allein in dieser Metatextualität lässt sich das gesuchte „Gegenwort“ erahnen. Diesen Umstand machen die Entwürfe deutlich und so markiert der Übergang zur edierten Fassung, die den Titel der Motette als Name für das Glücklichsein einführt, ein Indiz für das Scheitern des weißen Blattes. Durch Bachmanns intertextuelle Verfahrensweise wird demzufolge eine Spur aufgemacht, die schon für Celans Gedicht konstitutiv ist. Die Rhythmusfigur fungiert als Störung im Text, als Erinnerungsfragment. Das „Gegenwort“ kann nicht direkt ausgesprochen werden, sondern wird in Korrespondenz mit dem anderen Wort, hier mit dem Wort Celans, erahnt. V Schönbergs Pierrot Lunaire Bezeichnenderweise wird in der edierten Fassung an einigen Stellen das rhythmische Element des ‚dadim dadam‘ auch durch das Pierrot-Motiv ersetzt. Der ekstatische 44 Bachmann: Malina, S. 346. 45 Nietzsche, Friedrich: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. In: ders.: Werke in drei Bänden. Bd. 1. Hg. v. Karl Schlechta. München 1966, S. 212. Vgl. auch den Sachkommentar zu dieser Stelle: Bachmann: Malina, S. 937. Ingeborg Bachmann Malina 235 Glückszustand weicht einer produktiven Erinnerungsarbeit, wie sie Bachmann mit der Schönbergschen Komposition aufruft. Erzittre Byzanz. Dadam. Dam. Dada, dadam. In der Nacht auf dem Wolfgangsee, wenn wir mit dem Boot hinüberrasen, mit vierzig, mit fünfzig Stundenkilometern, und die Nacht, wie heute, einmal lau ist, höre ich immerzu die Musik, dadam, und ich denke an Venedig, ich denke an Wien, ich denke an die dunklen Wasser und die dunklen Geschichten. 46 (IB, KA, 3.1, S. 199f.) Leise singe ich, aber falsch und daneben: erzittere Byzanz! Dann noch leiser und richtiger: der Wein, den man mit Augen trinkt. 47 (IB, KA, 3.1, S. 487) Die Schönbergsche Kompositionstechnik steht in enger Verbindung mit Bachmanns intertextueller Verfahrensweise, die sich in dem Zusammenhang als ‚allegorische Intertextualität‘ ausweist. Sowohl Bachmann als auch Schönberg erteilen einem hierarchischen Tonbzw. Sprachmodell eine Absage, beide reißen den einzelnen Ton bzw. das einzelne Wort aus seinem sinnhaften und scheinbar harmonischen Zusammenhang, um ihn in einem neuen Kontext zu seiner Materialität zu verhelfen und auf diese Weise die ursprüngliche Namenssprache erahnbar zu machen. Pierrot lunaire ist eine Komposition für Sprechstimme von 1912 und bildet den musikalischen Rahmen des Romans Malina. Durch die Sprechstimme wird eine nuancenreiche Musikalisierung der Sprache erreicht, die den Pierrot in die Gattung des Melodrams einreiht. Bereits das Vorwort macht deutlich, dass es sich hier um einen Grenzgang zwischen Sprechen und Singen handelt, der höchste Anforderungen an die Interpretin stellt. Der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Steigen und Fallen sofort wieder. Der Ausführende muß sich aber sehr davor hüten in eine singende Sprechweise zu verfallen. Das ist absolut nicht gemeint. Es wird zwar keineswegs ein realistisch-natürliches Sprechen angestrebt. Im Gegenteil, der Unterschied zwischen gewöhnlichem und einem Sprechen, das in einer musikalischen Form mitwirkt, soll deutlich werden. Aber es darf auch nie an Gesang erinnern. 48 Es ist ein Werk der frühen Atonalität, in dem allerdings das letzte Stück „O alter Duft aus Märchenzeit“ auf eine Tonalität zurückgreift und an eine harmonische Klangwelt erinnert. Die von Schönberg ausgewählten 21 Stücke sind zyklisch aneinandergereiht als dreimal sieben Gedichte. Den Text hat Schönberg von Albert Girauds Pierrot lunaire aufgenommen und umgearbeitet; dieser umfasste ursprünglich 50 Gedichte. Historisch geht das Motiv des Pierrot auf den Pulcinella aus der Com- 46 Bachmann: Malina, S. 199f. 47 Ebd., S. 487. 48 Schönberg, Arnold: Pierrot lunaire opus 21. Partitur. Wien: Universal Edition. O.J. S. 3. Stephanie Waldow 236 media dell‘ arte zurück. Giraud verleiht seiner Figur lunare Eigenschaften und eine dekadente Weltfremdheit, anhand derer er die Problematik einer poetischen Existenz markiert. Thema des Zyklus ist die Heimatlosigkeit der Seele, die isolierte Innerlichkeit des Pierrots. Das Motiv der Sehnsucht wird von Schönberg musikalisch durch die Simulation eines Bezugssystems unterstrichen. Tonalität wird vorgetäuscht und immer wieder durch eine enharmonische Verwechslung gebrochen. Das Stück ist durchzogen von auffällig disharmonischen Klängen, die Sprechstimme und die Instrumente sind teilweise gegeneinander gerichtet. Durch den Verzicht auf einen Grundton wird dem Quintenzirkel eine Absage erteilt. Die einzelnen Töne sind nicht mehr eingebettet in einen harmonischen Klangzusammenhang, sondern auf ihre eigene Tonmaterialität zurückgeworfen. Schönberg bezieht sich auf die von Otto Erich Hartleben 1893 besorgte deutsche Fassung und bringt die 21 Gedichte in eine neue Reihenfolge. Auffällig hierbei ist, dass „O alter Duft aus Märchenzeit“, in dem eine Traumszene zur Darstellung kommt, bei Schönberg an das Ende seiner Komposition rückt, während es bei Giraud als 35. Gedicht erscheint. Damit verleiht Schönberg dem Zyklus bei aller Disharmonie doch ein utopisches Moment. Die Arbeit mit Schönbergs Pierrot stellt für Bachmann eine Möglichkeit dar, musikalische Kompositionstechniken als utopisches Schriftmodell in den Text zu integrieren. Musik wird nicht, wie im Fall von Mozarts Motette, als Symbol für das zu schreibende schöne Buch aufgerufen, sondern als utopisches Potenzial entfaltet, welches gemeinsam mit der Schrift Richtung nimmt auf eine „neue Gangart“. Der Pierrot fungiert neben seiner motivischen Bedeutung vor allem als poetologischer Intertext der Dekonstruktion des Erzählens und der Suche nach neuen Darstellungsmöglichkeiten in der ästhetischen Struktur des Romans. Dem Text wird das Gegenwort in Form der ‚allegorischen Intertextualität‘ eingeschrieben, die anhand von Schönbergs Kompositionstechnik nachvollziehbar gemacht wird. Dabei langweilen mich Gedichte meistens, ich lese fast keine mehr, hier und da erinnere ich mich an eine früh gehörte Zeile, an einen Ausdruck, und wenn mir etwas sehr gefällt, wenn ich meine, es müsse gerettet werden, dann verwende oder variiere ich einen Ausdruck, gebe ihm einen neuen Stellenwert. Das ist also, wenn Sie so wollen, ein Verhältnis zur Vergangenheit, ein Arbeitsverhältnis, das zum Beispiel in der Musik seit jeher vorkommt. 49 Gerade im letzten und für den Roman Malina zentralen Lied „O alter Duft aus Märchenzeit“ wird an die Tonalität als ein ferner Klang erinnert. Dieses Lied bildet nicht nur die Rahmung des Romans Malina, es wird auch mit der Figur Malina in Verbindung gebracht. Der Stadtpark, der als gemeinsamer Ort von Malina und Ich eingeführt wird, ist zugleich der Ort, an dem die Komposition Schönbergs zum ersten Mal zitiert wird. Aber in diesem Stadtpark, über dem für mich ein kalkweißer Pierrot mit überschnappender Stimme angetönt hat, 49 Bachmann: Gespräche und Interviews, S. 60. Ingeborg Bachmann Malina 237 kommen wir höchstens zehnmal im Jahr, weil man ja in fünf Minuten dort sein kann; und Ivan, der prinzipiell nicht zu Fuß geht, trotz meiner Bitten, Schmeicheleien, kennt ihn gar nur vom Vorüberfahren, denn der Park ist einfach zu nah. 50 Der Stadtpark steht für eine Stelle, an der der „alte Duft aus Märchenzeit“ einmal zu spüren war, das Ich kann sich jedoch nicht daran erinnern, weil Ivan es in seiner Erinnerung stört. Zu diesem Stadtpark, zu dem wir nicht fahren müßten, haben wir eine abstinente und unherzliche Beziehung, und ich erinnre mich an nichts mehr aus Märchenzeit. 51 Während Ivan das Ich in seiner Erinnerung stört, steht Malina und mit ihm die Komposition Schönbergs für das produktive Konzept des Eingedenkens, welches die Voraussetzung für eine ‚allegorische Intertextualität‘ darstellt. So ist die Melancholie von Schönbergs Pierrot-Zyklus Teil einer zentralen Erinnerungsthematik. Auch Die Legende der Prinzessin von Kagran, der wahrscheinlich dichteste intertextuelle Teil des Romans, wird eingeleitet durch ein Zitat aus Schönbergs Pierrot. Auf diese Weise wird die Legende als Erinnerungsfragment markiert. Im Gespräch mit Malina versucht das Ich sich an den „Duft aus alter Märchenzeit“ zu erinnern. Malina soll durch das gemeinsame Gespräch diesen Duft wieder erahnbar machen. Während die „selgen Weiten“ auf die Zukunft verweisen, erinnert der „alte Duft“ an die Vergangenheit. Eine produktive Spannung wird erzeugt und ein Moment der Gegenwärtigkeit hergestellt, wobei die Sprache angerufen und aus ihrem instrumentellen Zusammenhang befreit wird. Das gesuchte „Gegenwort“ soll nicht mehr wie im Fall des schönen Buches, auf einem weißen Blatt eingetragen, sondern in Auseinandersetzung mit der anderen Stimme gesucht werden. Solange ich noch reden kann, rede ich, es ist wichtig, daß ich rede, weißt du, ich rede nur noch, und bitte, red du doch mit mir, Ivan darf nie, nie etwas wissen, bitte erzähl mir etwas, [...] O alter Duft! Rede mit mir, es ist gleichgültig, was wir miteinander reden nur irgend etwas reden, reden, reden dann sind wir nicht mehr in Sibirien, nicht mehr in dem Fluß, nicht mehr in den Auen, den Donauauen, dann sind wir wieder da, in der Ungargasse, du mein gelobtes Land, mein Ungarland, rede mit mir, mach überall Licht an, denk nicht an unsre Lichtrechnung, es muß überall Licht sein, dreh alle Schalter an, gib mir Wasser, mach Licht, mach das ganze Licht an! Zünd auch den Leuchter an. 52 Es handelt sich in dieser Szene fast um eine Anrufung der Sprache. Durch Wiederholung und Variation steigen Malina und Ich gemeinsam aus dem herrschenden 50 Ebd.: Malina, S. 281-282. 51 Ebd., S. 282. 52 Bachmann: Malina, S. 525f. Stephanie Waldow 238 Diskurs aus und besinnen sich durch das Eingedenken an die Schönbergzitate auf die Namenssprache. Mit dieser Szene korrespondiert eine Klavierszene am Ende des Romans, in der Malina und das Ich anhand einer Schönberg-Rezitation noch einmal an jene Namenssprache erinnern. Malina singt halb und spricht halb, sein Ausdrucksmodus ist weder Sprache noch Gesang und steht damit im Zeichen des Pierrots. Die vermeintliche Liebessprache zwischen Ich und Ivan, die das weiße Blatt fordert, wird ersetzt durch das gemeinsame Eingedenken, nachvollzogen an einer Zitatcollage von Schönbergs Pierrot. Auf diese Weise kann das Gegenwort als Leerstelle in den Text eingeschrieben werden. Malina und ich sind eingeladen bei den Gebauers, aber wir reden nicht mehr mit den anderen, die im Salon umherstehen, trinken und in die hitzigen Gespräche gekommen sind, sondern finden uns plötzlich allein in dem Zimmer, in dem der Bechsteinflügel steht. [...] Mir fällt ein, was Malina zum ersten Mal für mich gespielt hat, ehe wir anfingen, miteinander wirklich zu reden, und ich möchte ihn bitten, es noch einmal für mich zu tun. Aber dann gehe ich selber zum Flügel und fange ungeschickt an, ein paar Töne zusammenzusuchen im Stehen. Malina dreht sich nun doch um, kommt zu mir, drängt mich weg und setzt sich auf den Hocker. Ich stelle mich wieder hinter ihn, wie damals. Er spielt wirklich und spricht halb und singt halb und nur hörbar für mich: Wir haben uns schnell verabschiedet und gehen zu Fuß nach Hause und im Dunkeln sogar durch den Stadtpark, in dem die finsteren schwarzen Riesenfalter kreisen und die Akkorde stärker zu hören sind unter dem kranken Mond, es ist wieder der Wein im Park, den man mit Augen trinkt, es ist wieder die Seerose, die als Boot dient, es ist wieder das Heimweh und eine Parodie, eine Gemeinheit und die Serenade vor dem Heimkommen. 53 (kursive Hervorh. S.W.) 54 53 Bachmann: Malina, S. 671-673. 54 Die entsprechenden Stellen bei Schönberg stammen aus dem 7. Stück Der kranke Mond, der 1. Zeile des ersten Stücks Mondestrunken, dem 20. Stück Heimfahrt, dem 15. Stück Das Heimweg, dem 17. Stück Parodie, dem 16. Stück Gemeinheit, dem 19. Stück Serenade und noch einmal dem 20. Stück O alter Duft aus Märchenzeit. Ingeborg Bachmann Malina 239 Im Akt des gemeinsamen Erinnerns werden die Ausdrucksmöglichkeiten des konventionellen Sprechens erweitert. Wie der Pierrot bewegt sich Malinas Stimme auf der Grenze zwischen Sprechen und Singen und verführt das Ich zu einer anderen Sprache. Malina verschweigt auch wirklich nichts, denn er hat, im besten Sinn, nichts zu sagen. Er webt nicht an dem großen Text mit, an der Textur des Verbreitbaren, das ganze Wiener Gewebe hat ein paar kleine Löcher, die nur durch Malina entstanden sind. 55 Vor diesem Hintergrund erlangt schließlich eines der wohl prominentesten und viel diskutiertesten Enden der Literaturgeschichte, nämlich das Verschwinden des Ichs in der Wand und die Worte „Es war Mord“, eine neue Bedeutung. Es ist logische Konsequenz aus dem Ausstieg aus einer Sprache der Bedeutungen und nicht als Mord im klassischen Sinne zu verstehen. Die vorwiegend friedliche und erhabene Stimmung in dieser gemeinsamen Vortragsszene scheinen das Verschwinden sogar vorzubereiten und als einen Akt der Befreiung zu deklarieren. So erhält die Passage aus dem letzten Lied „all meinen Unmut geb ich preis und träum hinaus in sel’ge Weiten“ eine neue Konnotation. Liest man das Verschwinden in der Wand darüber hinaus als intratextuelle Anspielung auf Ingeborg Bachmanns Gedicht ‚Was wahr ist‘, wird die existenzielle Wahrheitssuche, die mit dem Riss in der Wand verbunden ist, deutlich. [...] Du haftest in der Welt, beschwert von Ketten, doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand. Du wachst und siehst im Dunklen nach dem Rechten, dem unbekannten Ausgang zugewandt. 56 Für das Auffinden des „Gegenwortes“ scheint es unerlässlich, „zugrund“ zu gehen. Dieses „zugrund“ bedeutet aber zugleich den „Satz vom Grunde“ zu finden. Das Gedicht Böhmen liegt am Meer macht dies zusammenfassend noch einmal deutlich, indem es sowohl Heidegger als auch Celan aufruft. Auch mit Heidegger hat sich Bachmann ausführlich in ihrer Dissertation auseinandergesetzt. Der „Satz vom Grunde“ kann also allein in Auseinandersetzung mit der anderen Stimme gefunden werden. BÖHMEN LIEGT AM MEER Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus. Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund. Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern. Bin ich’s nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich. 55 Bachmann: Malina, S. 646. 56 Bachmann, Ingeborg: „Ludwig Wittgenstein“. In: dies.: Werke. Bd. I. Hg. v. Koschel, Christine, Inge von Weidenbaum u. Clemens Münster. München 1993, S. 103-127, S. 118. Was wahr ist Stephanie Waldow 240 Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen. Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land. Bin ich’s, so ist’s ein jeder, der ist soviel wie ich. Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn. Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren. Kömmt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser, und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal, wie ich mich irrte und Proben nie bestand, doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal. Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags ans Meer begnadigt wurde jetzt am Wasser liegt. Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr, ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält, begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen. 57 VI Schlussbetrachtung Wie anhand von Schönbergs Pierrot deutlich wird, fungieren Zitate in Bachmanns Roman Malina als Kompositionselement und sind durch ihren allegorischen Charakter Ausdruck einer Suche nach der Namenssprache, die wieder an das ursprüngliche Vertrauensverhältnis von Ich, Sprache und Ding anknüpft. Insofern ist die ‚allegorische Intertextualität‘ für Bachmann nicht nur als zitierender Umgang mit der Tradition zu verstehen. Die enge Verbindung von Erinnern und Erzählen ist auch eine poetologische Möglichkeit, sich vom „Mordschauplatz der Sprache“ zu distanzieren und „Richtung zu nehmen“ auf das gesuchte „Gegenwort“. Indem Sprache durch die allegorischen Bewegungen der Destruktion und Montage in einen neuen Kontext gestellt wird, erlangt sie dort nicht nur die Möglichkeit des Überdauerns, sondern wird auch aus ihrem instrumentellen, zeichenhaften Zusammenhang befreit, um eine Ahnung davon zu vermitteln, was sie einmal war: Namenssprache. Die Kompositionstechnik der allegorischen Intertextualität, so wie Bachmann sie zur Anwendung bringt, stellt demzufolge eine mögliche Form des Sprechens nach Auschwitz dar, da durch sie nicht nur dem herrschenden gesellschaftlichen Diskurs eine Absage erteilt, sondern auch versucht wird, das, was nicht aussagbar ist, im poetischen Text erahnen zu können. Dies scheint für Bachmann der einzig adäquate 57 Bachmann, Ingeborg: „Böhmen liegt am Meer“. In: dies.: Werke. Bd. I. Hg. v. Koschel, Christine, Inge von Weidenbaum u. Clemens Münster. München 1993, S. 156-181, S. 167f. Ingeborg Bachmann Malina 241 Umgang mit Sprache zu sein, sich auseinanderzusetzten mit der Vergangenheit, die Erinnerung an das Gewesene nicht verdrängen, sondern mit dem Vorhandenen zu arbeiten. Nur so kann „das Unsägliche, leise gesagt, übers Land gehen.“ 58 Darin liegt zugleich das große ethische Potenzial dieser Vorgehensweise. Mit einer neuen Sprache wird der Wirklichkeit immer dort begegnet, wo ein moralischer, erkenntnishafter Ruck geschieht, und nicht, wo man versucht, die Sprache an sich neu zu machen, als könnte die Sprache selber die Erkenntnis eintreiben und die Erfahrung kundtun, die man nie gehabt hat. 59 Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik. Frankfurt a. M. 1978. Albrecht, Monika u. Dirk Göttsche (Hgg.): Bachmann Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2002. Bachmann, Ingeborg: „Böhmen liegt am Meer“. Werke. Bd. I. Hgg. 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Paderborn 2006. Chinua Achebe Things Fall Apart Eine Gesellschaft im Umbruch und die Notwendigkeit des Geschichtenerzählens Katja Sarkowsky I Things Fall Apart: Einführende Überlegungen Der Roman Things Fall Apart des nigerianischen Autors Chinua Achebe wurde 1958 in London publiziert; es war Achebes erster Roman, aber er kann in seiner Bedeutung kaum unterschätzt werden. Mit Blick auf die Würdigung des Romans fünfzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen hebt Oyeniyi Okunoye dessen Zentralität für die Entwicklung der modernen afrikanischen Literatur hervor: „[I]t is not possible to dissociate the publication of the novel from the emergence of modern African writing in general and the African novel in particular. Thus, in celebrating half a century of its publication, the existence of modern African writing was also being celebrated“. (42) Für Kritiker wie für Schriftsteller war und ist Things Fall Apart, wie C.L. Innes hervorhebt, „the foundational African novel which provided a literary model and also set the agenda for African and postcolonial fiction for several decades“ (17). Die Wirkmacht dieses Textes liegt also zum einen in seiner Form und zum anderen in seiner politischen Stoßrichtung. Beides ist, wie zu zeigen sein wird, sowohl in eine anti-koloniale als auch eine transkulturelle Agenda eingebunden; der Roman stellt dabei eine gesellschaftliche Krisen- und Umbruchssituation in den Mittelpunkt. Die Art und Weise, wie diese Transformationsprozesse narrativ umgesetzt werden ist weder mit dem Begriff der Dekolonisierung noch dem der Postkolonialität angemessen fassbar und berücksichtigt auch, wie das Sprechen über die Kolonisierung Afrikas in diskursive Machtstrukturen eingebunden ist. Letzteres wird besonders deutlich anhand der bitter-ironischen Passage, die das Ende des Romans bildet: The District Commissioner walked away. [...] As he walked back to the court he thought about that book. Everyday brought him some new material. The story of this man who had killed a messenger and hanged himself would make interesting reading. One could almost write a whole chapter on him. Perhaps not a whole chapter, but a reasonable paragraph, at any rate. There was so much else to include, and one must firm in cutting out details. He had already chosen the title of the book, after much thought: The Pacification of the Primitive Tribes of the Lower Niger. (117) Katja Sarkowsky 244 Der britische Kolonialbeamte in dieser Passage ist mehr als nur ein Verwalter; er versteht sich als Historiker. Als solcher sieht er sich nicht nur involviert in den Kolonisierungsprozess Nigerias, aus seiner Sicht ein Pazifizierungs- und Zivilisierungsprozess, sondern auch in dessen Dokumentation. Diese Dokumentation - als eine Form der Narration - macht aus Ereignissen Geschichte, etwas, was der afrikanische Kontinent nach einer in Europa weit verbreiteten Ansicht bis zur Begegnung mit den Europäern nicht hatte: Das Bild Afrikas - vornehmlich der Subsahara - in der europäischen Wahrnehmung war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von einer Vorstellung Afrikas als geschichtsloses Gegenbild zur europäischen Zivilisation geprägt und diente oft als Projektionsfläche für individuelle und kollektive Selbstkonstruktionen im Sinne des von Edward Said ausgeführten Konzept des Orientalismus’ (1978) durch den Entwurf des vermeintlich primitiven Anderen (Innes 2007, 17-20). Als Achebe Things Fall Apart schrieb, war Nigeria noch eine Kolonie Großbritanniens; das Land wurde erst 1960 unabhängig, und das literarische Afrikabild war dominiert von den zuvor skizzierten Wahrnehmungen und Projektionen. Die Populärliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, aber auch Joseph Conrads Heart of Darkness oder Joyce Careys Mr. Johnson sind gute Beispiele dafür (für dieses Afrikabild siehe z.B. Döring 1996, insb. S. 23-40). Achebe, selbst geprägt von dem Bildungssystem, das die Briten in Nigeria eingerichtet hatten, und von seinem christlichen Elternhaus, hat in Interviews und Essays wiederholt dieses verzerrte rassistische Bild als eine Motivation für sein Schreiben genannt. So sagte er in seiner Rede anlässlich des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2002: I decided to have a go at a fiction of my own for characters like the people I knew, neither writing them up nor writing them down. It seemed to me a simple matter of fairness that I should find them a home in my own story. [...] The Africa I write about is not inhabited by people without speech. I grew up hearing sometimes magnificent, and always efficient, language in my community. I did not hear the grunts and the screeches that savages were supposed to use in place of speech. So I wrote what I did hear, in a translation that accorded equal respect to the two languages I have. (20) Achebes Versuch in Things Fall Apart, seiner eigenen ethnischen Gruppe, den Igbo, literarisch gerecht zu werden, sie also realistisch darzustellen und weder zu romantisieren noch zu entwerten, kann somit eingeordnet werden zwischen zwei Polen in der Darstellung und Wahrnehmung Afrikas in den 1950er Jahren: einer von den exotisierenden und rassistischen Bildern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geprägten einerseits und der oft unkritischen Verherrlichung präkolonialer afrikanischer Gesellschaft im Rahmen der Négritude-Bewegung der 1930er und 1940er Jahre gekennzeichneten andererseits (Innes 2007, 19). Auch wenn Achebe nachdrücklich gegen die genannten rassistische Repräsentation anschrieb, so stand er jedoch gleichzeitig jeder Romantisierung präkolonialer afrikanischer Kulturen sehr skeptisch gegenüber; dies schlägt sich durchaus in Things Fall Apart nieder. Im Folgenden soll es nun nicht darum gehen wie historisch und gesellschaftlich genau Achebes Roman ist. Vielmehr möchte ich Things Fall Apart als einen kritischen Blick auf kulturelle Transformationsprozesse in Nigeria lesen, die zwar massiv beschleunigt und erzwungen wurden durch die britische Kolonisierung, die aber teilweise bereits vorbereitet wa- Chinua Achebe Things Fall Apart 245 ren durch gesellschaftsinterne Konflikte und Auseinandersetzungen. Ich werde zuerst den Roman interpretierend vorstellen und mich dabei auf die Konflikte des Protagonisten Okonkwo konzentrieren. Daran anknüpfend werde ich dann Things Fall Apart im Kontext unterschiedlicher Rezeptionsmöglichkeiten diskutieren, um abschließend der Frage nach der Art und Weise, wie Achebe diese drastischen kulturellen Transformationsprozesse der Igbo-Gesellschaft in wenigen Jahrzehnten in Szene setzt und bewertet, nachzugehen. Insgesamt, so meine These, stellen die politischen und kulturellen Transformationsprozesse, die Roman thematisiert, gleichzeitig eine Transformation der Möglichkeiten des Erzählens, des Erinnerns und damit auch des community building dar. II Struktur und Kontext Der Schauplatz des Romans ist der Südosten des heutigen Nigerias, das Land der Igbo, die Zeit vermutlich die letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Hier schwanken die Einschätzungen der Kritiker zwischen 1860 und 1900 (Gikandi 298), denn Achebe integriert historische Hinweise und Ereignisse, die sich von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Jahrzehnt des 20. ziehen. Meine Vermutung ist, dass Achebe hier Ereignisse zeitlich verdichtet; unbestritten ist die Bedeutung der beiden letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts für die Einordnung des Romanverlaufs. Der sog. „Scramble for Africa,“ der Kampf der europäischen Kolonialmächte um die Ressourcen des afrikanischen Kontinents und dessen Aufteilung in Kolonien war nach der Berliner Kongokonferenz 1884/ 85 im vollen Gang. Dies spielt nicht von Anfang an, aber zunehmend eine Rolle für den Roman, der als eine Art Gesellschaftsportrait der Igbo-Gesellschaft vor der britischen Kolonisierung beginnt. Das erste Kapitel eröffnet jedoch erst einmal mit dem Portrait einer Person, Okonkwo, einem wohlhabenden und hochangesehenen Mann in seinem Dorf Umuofia, der gleich zu Beginn als eine zentrale Figur eingeführt wird: Okonkwo was well known througout the nine villages and even beyond. His fame rested on solid personal achievements. As a young man of eighteen, he had brought honour to his village by throwing Amalinze the Cat. Amalinze was the great wrestler who for seven years was unbeaten, from Umuofia to Mbaino. He was called the Cat because his back would never touch the earth. It was this man that Okonkwo threw in a fight which the old men agreed was one of the fiercest since the founders of their town engaged a spirit of the wild for seven days and seven nights. (3) Diese Passage und die Zentralität Okonkwos für den Romanverlauf legen es nahe, ihn als den Protagonisten zu sehen. Dies ist jedoch umstritten; für einige Kritiker resultiert diese Sichtweise aus einer unhinterfragten Konzentration auf das Individuum vor dem Hintergrund europäischer Romantraditionen, und sie argumentieren für eine Interpretation von Umuofia, der Gesellschaft des Geschehens, als eigentlichem Protagonisten (z.B. Ker zitiert in Okunoye 48). Dennoch ist Okonkwo der mit Abstand am häufigsten genutzte Fokalisierer dieses Gesellschaftsportraits. Die zitierte Passage stellt ihn nicht nur als starken, geschickten und furchtlosen Kämpfer vor, Katja Sarkowsky 246 sondern setzt in auch in Bezug zu den Gründungsmythen von Umuofia, verortet ihn also sozial und symbolisch in der Mitte seiner Gesellschaft, wenn sich auch seine Interpretationen der sozialen Konventionen der Ibo und seine sich daraus ableitenden Handlungen im Verlauf des Romans oft als extrem erweisen. Darauf wird noch später im Detail zurück zu kommen sein. Der erste und mit Abstand längste Teil des Romans also kann als Portrait der Gesellschaft von Umuofia mit Okonkwo als wichtigstem Fokalisierer gelesen werden: es geht vor allem um den Alltag, um die Art und Weise der Konfliktregelung, um religiöse Riten, um soziale Strukturen und Hierarchien - zwischen Besitzenden und Besitzlosen, Männern und Frauen, Freien und Unfreien. Eine Handlungslinie im engeren Sinne ist in diesem ersten Teil kaum erkennbar; das zyklische Zeitverständnis oraler Gesellschaften (ten Kortenaar in Samatar 64) findet seine Umsetzung in der narrativen, vermeintlich zeitlosen Struktur dieses ersten Teils. Dabei spielt die Beziehung und der Konflikt zwischen den Europäern und den Igbo hier noch keine Rolle, nur kleinere Hinweise, wie z.B. auf Okonkwos Besitz eines Gewehrs (37) und die Erwähnung von Menschen „white like this piece of chalk“ (69), verweisen auf Kontakte zu Europäern, das heißt auf die bestehenden Handelsbeziehungen zwischen den Briten und den Igbo seit den 1830er Jahren sowie auf die bereits im 18. Jahrhundert existierende Kontakte zu den dänischen Handelsposten an der westafrikanischen Küste. Tatsächlich entsteht zunächst der Eindruck einer Art ahistorischen Gesellschaft, wie sie u.a. von Hegel im 19. Jahrhundert für das Afrika der Sub-Sahara angenommen wurde; ich komme später noch im Detail darauf zu sprechen, dass dieser Eindruck trügt. Die Handlungsarmut ändert sich am Ende des ersten Teils als Okonkwo versehentlich auf einer Trauerfeier den Sohn des Verstorbenen tötet und für sieben Jahre aus Umuofia verbannt wird. Im zweiten Teil des Romans baut sich der ehrgeizige Okonkwo widerstrebend und mit seinem Schicksal hadernd in Mbanta, in der Heimat seiner Mutter, eine neue Existenz auf. In diesem Teil werden zum ersten Mal die britischen Kolonisatoren und Missionare ausführlicher erwähnt - sie rücken buchstäblich näher und erscheinen in einer Mischung aus Skurilität und Schrecken, bis sich schließlich Missionare in Mbanta niederlassen und eine Gemeinde gründen; danach steht das Kapitel vor allem unter den Vorzeichen zunehmender Konflikte zwischen der schnell wachsenden christlichen Gemeinde und denjenigen, die an traditionellen Igbo-Strukturen festhalten. Im dritten Teil schließlich kehrt Okonkwo nach Umuofia zurück, das sich in seiner Abwesenheit grundlegend verändert hat, unter anderem - aber nicht ausschließlich - durch die zunehmende Präsenz der europäischen Kolonisatoren. Dabei verschieben sich die Spannungslinien: Während im zweiten Teil vor allem religiös motivierte Konflikte im Mittelpunkt stehen, kommen nun im dritten die Konflikte mit der Kolonialverwaltung und dem britischen Rechtssystem hinzu, die schließlich in Gewalt münden und zu Okonkwos Selbstmord führen. Okonkwo wurde von vielen Kritikern als ein tragischer Held gelesen (z.B. Korang 14); trotz seiner vielen für die Gesellschaft wichtigen Eigenschaften scheitert er u.a. an seinen unverrückbaren, starren Vorstellungen davon, wie die Dinge zu sein haben. Sein Fall ist tief und reicht über seinen Freitod hinaus: Okonkwo tötet einen Boten der Kolonialverwaltung und erhängt sich, als ihm klar wird, dass er für diese Tat, die er selbst als un- Chinua Achebe Things Fall Apart 247 ausweichlich betrachtet, in seiner Gesellschaft keine Unterstützung mehr bekommt: „He knew that Umuofia would not go to war. He knew because they had let the other messengers escape. They had broken into tumult instead of action. He discerned fright in that tumult. He heard voices asking: ‚Why did he do it? ’“ (194). Als Selbstmörder kann dieser einst hoch angesehene Mann nicht von seiner Familie begraben werden, er gilt als unrein und verliert auch nach dem Tod jede Position in der Igbo-Gesellschaft. Vom Ende her gelesen deuten sich bereits auf den ersten Seiten die Komplexitäten des Protagonisten an. Okonkwo wird, ebenfalls gleich zu Beginn, als eine Figur eingeführt, die nicht nur, wie zitiert, in sportlichen oder kriegerischen Auseinandersetzungen brilliert, sondern als jemand, der auch in anderen Kontexten zur Gewalt neigt. Das Bild, das von Okonkwo entsteht ist das einer körperlich dominanten Präsenz. That was many years ago, twenty years or more, and during this time Okonkwo’s fame had grown like a bush-fire in the harmattan. He was tall and huge, and his bushy eyebrows and wide nose gave him a very severe look. He breathed heavily, and it was said that, when he slept, his wives and children in their out-houses could hear him breathe. When he walked his heels hardly touched the ground and he seemed to walk on springs, as if he was going to pounce on somebody. And he did pounce on people quite often. He had a slight stammer and whenever he was angry and could not get his words out quickly enough, he would use his fists. He had no patience with unsuccessful men. He had no patience with his father. (3-4) Für viele Kritiker ist Okonkwo eher ein Typus als ein Individuum (Olney 289). Passagen wie diese jedoch verweisen auf individuelle, psychische Komplexitäten, denn der letzte Satz dieses Zitats, Okonkwos Ungeduld mit, ja Verachtung für seinen Vater kristallisiert sich im Verlauf des Romans als ein zentraler Antrieb für Okonkwos Ehrgeiz und für sein Selbstbild heraus. Sein Vater, Unoka, wird als gesellschaftlicher Versager beschrieben, als Feigling, als künstlerisch begabter Luftikus, dem Palmenwein zugetan und ständig hochverschuldet; für die bei den Igbo so zentrale Landwirtschaft ist er völlig ungeeignet und entsprechend erfolglos; und sogar im Tod bleibt er eine gesellschaftlicher Außenseiter, denn die Krankheit, an der er stirbt (vermutlich eine Form von Krebs) macht seinen Körper zu einer Beschmutzung für die Erde, so dass er unbestattet bleibt. Aus Okonkwos Sicht ist sein Vater ein Hindernis, das er überwunden hat; für den Leser stellt er sich jedoch als ein konstanter negativer Referenzpunkt für Okonkwos Leben dar: With a father like Unoka, Okonkwo did not have the start in life which many young men had. He neither inherited a barn nor a title, nor even a young wife. But in spite of these disadvantages, he had begun even in his father’s life time to lay the foundation of a prosperous future. It was slow and painful. But he threw himself into it like one possessed. And indeed he was possessed by the fear of his father’s contemptible life and shameful death. (18) Okonkwos schwieriges Verhältnis zu seinem Vater ist in mehrfacher Hinsicht wichtig für die Erzählung. Zum einen impliziert es eine Sicht auf die Gesellschaftsstruktur der Igbo als einer ökonomisch durchlässigen und für individuelle Leistungen offenen; es ist eines der vielen erzählerischen Puzzleteile, mit deren Hilfe Achebe die Katja Sarkowsky 248 Struktur der Igbo-Gesellschaft , ihrer Praktiken und Hierarchien entwirft. Zum anderen steht in Okonkwos Wahrnehmung sein Vater für alles was ‚schwach‘ und damit auch ‚weiblich‘ konnotiert ist; getrieben von dem Wunsch, ganz anders zu sein als sein Vater verleugnet Okonkwo jedes Gefühl, das er mit Schwäche assoziiert. Sein Selbstbild als Mann basiert auf einem eindimensionalen Verständnis von Stärke, im Rahmen dessen Gewalt zur Brutalität und Konsequenz zum blinden Starrsinn wird: „Okonkwo never showed any emotion openly, unless it be the emotion of anger. To show affection was a sign of weakness; the only thing worth demonstrating was strength“ (27). Dies führt sowohl zu unkontrollierten Wut- und Gewaltausbrüchen, z.B. gegenüber seinen Ehefrauen und Kindern, als auch zu Härte gegenüber seiner selbst und zu Unbeugsamkeit gegenüber anderen. So nimmt er beispielsweise, obwohl er dies explizit nicht muss, an der Tötung eines Jungen, Ikemefuna, teil, der in seinem Haushalt zwar als Geisel aber gleichzeitig wie ein Stiefsohn mit aufwächst und der ihn ‚Vater‘ nennt. Obwohl er Ikemefuna mehr liebt als seinen eigenen Sohn, ist er es, der dem Jungen den Todesstoß versetzt - auch wenn er anschließend (heimlich) unter dieser Tat sehr leidet, so verteidigt Okonkwo seine Rolle in der Tötung dennoch als unausweichlich: „[S]omeone had to do it. If we were all afraid of blood, it would not be done“ (62). Zuvor jedoch, als Okonkwo Ikemefuna tötet, gibt die Erzählstimme eine andere Erklärung: „He was afraid of being thought weak“ (57). Klar wird, dass ‚Stärke‘ ein wichtiges Attribut von Männlichkeit im Roman ist; hier wird Okonkwo als Verkörperung normativer Igbo-Maskulinität präsentiert. Gleichzeitig ist jedoch offen, was genau ‚Schwäche‘ bedeutet, und an diesem Punkt erscheint Okonkwo nicht als repräsentativ, sondern als getrieben von seinen individuellen Konflikten und mit desaströsen Konsequenzen auch für seine Familie. Besessen von seinen Vorstellungen dessen was Männlichkeit konstituiere sieht er in seinem leiblichen Sohn Nwoye einen Spiegel seines Vaters Unoka und versucht, die Ähnlichkeiten mit Härte auszutreiben - was seinen Sohn nicht nur dem Vater grundlegend entfremdet, sondern auch der traditionellen Igbo-Gemeinschaft: Nwoye ist einer der Ersten, die zum Christentum konvertieren. Verbunden mit der bereits erwähnten Diskussion, ob Okonkwo als Individuum oder als Typus zu verstehen sei, ist nun die Frage, ob er als Verkörperung der Werte seiner Gesellschaft darstelle oder ihr gegenübergestellt werde (Palmer 411). Als ‚entweder-oder‘-Fragen erscheinen beide wenig produktiv; interessant daran ist jedoch, dass beide eine direkte Korrelation zwischen Okonkwos Schicksal und dem der Igbo-Gesellschaft herstellen: Okonkwo Fall und Untergang werden in dieser Lesart direkt mit den tiefgreifenden Veränderungen verknüpft, die mit der Kolonisierung durch die Briten einher gehen. Wo Okonkwos Starrsinn und sein Hang zur Gewalt in der traditionalen Igbo-Gesellschaft noch kanalisiert werden können, aber bereits immer wieder sowohl auf gesellschaftsinterne als auch individuelle Wertekonflikte verweisen, so führen sie unter veränderten Bedingungen zur persönlichen Katastrophe. Diese persönliche Katastrophe, den Selbstmord, im Lichte des Endes des Romans als stellvertretend für ein kollektives Schicksal zu lesen (wie es mit Einschränkung z.B. Olney tut; Olney 288) hielte ich jedoch als Interpretation für zu weit gehend. „Things fall apart,“ wie es in Yeats’ Gedicht „The Second Coming“ heißt, Chinua Achebe Things Fall Apart 249 das dem Roman seinen Titel gab. Aber aus dem Zerfall entsteht unter Umständen auch wieder Neues, er stellt die Frage nach der Richtung, die eine Gesellschaft im fundamentalen Umbruch nehmen wird. III Things Fall Apart als postkolonialer Roman Damit stellt sich nun die Frage, wie dieser Roman einzuordnen sei. Things Fall Apart war nicht der erste anglophone nigerianische Roman; ihm voraus ging beispielsweise Amos Tutuola The Palm Wine-Drinkard (1952). Wie eingangs bereits hervorgehoben war Things Fall Apart jedoch unerwartet erfolgreich - vor allem in Afrika. Für Simon Gikandi hat dieser unmittelbare Erfolg damit zu tun, dass Achebe einen Nerv der Zeit traf: In the very simple and conventional story of Okonkwo, a strong individual and an Igbo hero struggling to maintain the cultural integrity of his people against the overwhelming power of colonial rule, Achebe was able to capture the anxieties of many African readers in the 1950s. (298) Der Roman handelt von einer Umbruchszeit, und in einer Umbruchszeit befanden sich auch Nigeria und andere britische Kolonien in Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Beginn der umfassenden Dekolonisierung nach der Unabhängigkeit und Teilung Indiens. Wie also ist dieser mittlerweile kanonisierte Text einzuordnen? Geschrieben in den 1950ern wird Things Fall Apart teilweise als ein kolonialer Roman bezeichnet, was aber - abgesehen von einem rein zeitlichen Verständnis als ‚während der Kolonialzeit publiziert‘ - dem Text keinesfalls gerecht wird. In seiner Ausrichtung könnte er allenfalls als ‚antikolonialer‘ Roman gelesen werden, aber auch das griffe, wie ich zeigen möchte, viel zu kurz. Eine verbreitete Lesart von Things Fall Apart ist die als postkolonialer Roman, postkolonial hier offensichtlich nicht verstanden als ein zeitliches Attribut - nach der Unabhängigkeit - sondern als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus im Sinne von Bill Ashcroft, Gareth Griffith und Helen Tiffin, die ‚postkolonial‘ sehr breit fassen wenn sie schreiben: „We use the term ‚post-colonial‘ [...] to cover all the culture affected by the imperial process from the moment of colonization to the present day. This is because there is a continuity of preoccupation throughout the historical process initiated by European imperial aggression“ (1989, 3). Diese Definition ist seit ihrer Formulierung in The Empire Writes Back 1989 immer wieder kritisiert und debattiert worden; zentrale Kritikpunkte sind, dass in diesem Verständnis sehr unterschiedliche historische Erfahrungen unter einem Begriff gefasst werden (Mukherjee 17), dass der Kolonialismus immer ein unhinterfragter Referenzpunkt für die Definition literarischen Schaffens in den ehemaligen Kolonien bleibe, und dass somit die betroffenen Literaturen immer direkt oder indirekt über ihr Verhältnis zum ehemaligen Kolonialmacht definiert werden, und dass der Begriff verfrüht das Ende asymmetrischer globaler Machtverhältnisse zelebriere (McClintock 12-13). Wenn wir diese Definition nun aber für den Moment akzeptieren, dann ist Achebes Roman natürlich ein postkolonialer Roman, dessen kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonisierungspro- Katja Sarkowsky 250 zess auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet. Der Bezug auf Joyce Carys Roman Mister Johnson (1939), einen Roman der seinerzeit als eine authentische Darstellung Nigerias galt (s. Döring 1996), und Achebes bereits zitierte Motivation für Things Fall Apart lassen eine Strategie vermuten, die in dem von Ashcroft und seinen Ko- Autoren entwickelten Theorierahmen als Writing Back bezeichnet worden ist: Writing Back bedeutet eine kritische Auseinandersetzung mit den Selbst- und Fremdbildern, dem Literaturkanon, oder den Wissenskategorien der Kolonisatoren und eine eigene kulturelle Antwort darauf. Diese ‚Antwort‘ läuft nicht darauf hinaus, dass der kolonialen eine ‚authentische‘ präkoloniale Darstellung gegenübergestellt wird, in Inhalt oder Form; vielmehr ist die Strategie des Writing Back, wie auch postkoloniale Gesellschaften selbst, immer von einem hohem Maß an kultureller Hybridisierung gekennzeichnet (Ashcroft et al. 34). Zwei wichtige Aspekte des Romans sprechen dafür den Roman sowohl antikolonial als auch als postkoloniales Writing Back zu lesen: zum einen die eindeutige Kritik am und Reflexion des Kolonisierungsprozesses, die der Roman formuliert, zum anderen seine Sprache und Erzählstruktur. Die Kritik am Kolonisierungsprozess ist zentral für den zweiten und dritten Teil des Romans, der die Veränderungen in Mbanta und Umuofia nach Okonkwos Rückkehr aus dem Exil in den Blick nimmt. Dabei richtet sich die Kritik gegen die christliche Missionierung und gegen die Kolonialverwaltung. Hier lässt sich jedoch ein Unterschied ausmachen in der Art und Weise, wie Achebe diese beiden Aspekte britischen Eindringens in das Land der Igbo darstellt. So richtet sich die Kritik an der Christianisierung nur bedingt gegen diesen Prozess an sich, da der Roman deutlich zwischen unterschiedlichen Vertretern der christlichen Mission differenziert: so wird der Missionar Mr. Brown als offen für religiöse Debatten mit den Igbo-Ältesten präsentiert, während sein Nachfolger Mr. Smith als selbstgerechter und kompromissloser ‚Hardliner‘ dargestellt wird. Hier mag sich Achebes eigener, christlicher Hintergrund durchaus niederschlagen; Kritiker wie Irele und andere haben auf wiederkehrende Passagen verwiesen, in denen die Erzählstimme sich von der dargestellten Igbo-Kultur durch Formulierungen wie ‚these people‘ seine eigene Distanz ausdrückt: „[T]he perspective from which Achebe looks at the traditional world is that of an external oberserver, a perspective that implies a cultural distance from the background of life - of thoughts and manners - that provides the concrete referecne for his fiction“ (Irele 457). Während diese Strategie durchaus als eine ironische Inszenierung eines anthropologischen Blickes gelesen werden kann, so mag sie gleichzeitig jedoch auch Achebes Distanz zur ‚traditionellen‘ Igbo-Kultur bewusst herstellen. Im Gegensatz zu dieser Ambivalenz wird die Kolonialverwaltung als Institution an sich kritisiert und gewinnt erst mit dem eingangs erwähnten District Commissioner ein individuelles Gesicht. Sie tritt durchgängig als eine Institution der Erniedrigung auf, die nach für die Igbo unnachvollziehbaren Regeln Recht spricht und die somit die auf Ausgleich bedachten Konfliktregelungsprozesse des Dorfes ersetzen durch ein System der Bestrafung und Abschreckung. Der Verwalter selbst ist verantwortlich für eine Falle, die den Dorfältesten gestellt wird, als sie dem Commissioner ihre Sicht der Dinge auf einen bestimmten Konflikt vortragen wollen: die Männer werden überwältigt und gefesselt, ihnen werden die Köpfe rasiert und sie werden für drei Tage, bis sie für Chinua Achebe Things Fall Apart 251 eine Tat, die ihnen als solche nicht einsichtig ist, eine Strafe zahlen, festgesetzt: „The six men ate nothing throughout that day and the next. They were not even given any water to drink, and they could not go out to urinate or go into the bush when they were pressed. At night the messengers came in to taunt them and knock their shaven heads together“ (185). Diese ‚messengers‘ sind Afrikaner, zumeist Igbo aus anderen Gebieten, die mit der Kolonialverwaltung zusammen arbeiten; Achebe zeichnet hier also kein Bild von der europäischen Kolonisierung als eines Prozesses, der auf militärischer Übermacht beruht, sondern für den - gerade weil die Briten zahlenmäßig weit unterlegen waren - die Kooperation einzelner Bevölkerungsgruppen eine elementare Rolle spielte. So sehen auch nicht alle Bewohner Umuofias die Anwesenheit der Europäer nur als ein Problem, sondern wissen durchaus die wirtschaftlichen Vorteile zu schätzen, von denen das Dorf profitiert: „The white man had indeed brought a lunatic religion, but he had also built a trading store and for the first time palm-oil and kernel became things of great price, and much money flowed into Umuofia“ (168). Insofern beruht Achebes Kritik an der Kolonisierung nicht auf einer klaren Gegenüberstellung von Afrikanern und Europäern, sondern sucht den Komplexitäten des Prozesses und den unterschiedlichen Interessen auch innerhalb der Gruppe der Igbo Rechnung zu tragen. Während Passagen wie die eben zitierte den Kolonisierungsprozess buchstäblich perspektivieren, ist jedoch für Achebes grundlegende Kritik die erzählerische Verschiebung, die am bereits erwähnten Ende des Romans stattfindet, entscheidend: während Things Fall Apart bis kurz vor Schluss durch eine Fokalisierung auf Okonkwo und gelegentlich andere Igbo-Charaktere erzählt wird, so verschiebt sich in der eingangs zitierten Passage die Fokalisierung auf den Verwalter und seine Pläne, die Geschichte der Region und des Kolonisierungsprozesses zu schreiben. Es ist die Diskrepanz zwischen der Igbo-Perspektive, die den Roman dominiert, einerseits und der Perspektive einer kolonialen Geschichtsschreibung andererseits, in der sich hier die Kritik ausdrückt. Diese Perspektivenverschiebung zum Ende hin - und damit auch eine Verschiebung der Kritik am Kolonisierungsprozess als einem politischen und diskursiven Prozess - beginnt bereits mit dem Übergang zum letzten Kapitel. Das vorletzte Kapitel vierundzwanzig endet mit Okonkwos bereits zitierter Realisierung, dass er bei den Igbo keine aktive Rückendeckung mehr für seinen Mord an dem Boten der Kolonialverwaltung erwarten kann. Für Okonkwo ist der Mord der einzige richtige Weg; als sich nach der willkürlichen Festnahme und stundenlangen Erniedrigungen aller Dorfältesten in der Kolonialverwaltung die Igbo versammeln um das weitere Vorgehen zu beratschlagen, versucht der Bote im Namen dieser Verwaltung die Versammlung aufzulösen: damit spricht er in Okonkwos Augen nicht nur für die Kolonialverwaltung, sondern er ist Teil von ihr. Ihn zu erschlagen ist damit für Okonkwo die bewusste Kriegserklärung an die Briten, eine Erklärung, der die Igbo zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu folgen bereit sein. Das Kapitel endet mit dem Satz „He wiped his matchet on the sand and went away“ (194); das darauf folgende 25. und letzte Kapitel setzt mit der Ankunft des District Comissioners vor Okonkwos compound ein. Während es mit einer quasi neutralen Erzählperspektive beginnt, verschiebt sich die Erzählung mit der Bestätigung, dass sich Okonkwo das Leben genommen hat, zunehmend hin zum Commissi- Katja Sarkowsky 252 oner und seiner kolonialen Doppelrolle als Verwalter und selbsternannter Ethnologe: „The District Commissioner changed instantaneously. The resolute administrator in him gave way to the student of primitive customs“ (196). Mit Okonkwos Selbstmord scheint ein klares Ende erreicht, Okonkwos, aber auch das einer selbstbestimmten Igbo-Kultur. Okonkwos enger Freund Obierika schleudert dem Verwalter entgegen: „That man was one of the greatest men in Umuofia. You drove him to kill himself; and now he will be buried like a dog [...]“ (117) Es ist hier in der Tat alles zerfallen, und das Ende des Romans mit der Perspektive des Commissioners, mit der Stimme einer hegemonialen Geschichtsschreibung, für die die gerade en detail dargestellte Igbo-Kultur ein kleiner Teil eines primitiven Ganzen ist, scheint dies zu bestätigen. Diese Lesart stellt somit die antikolonialen als auch die postkolonialen Aspekte des Romans in den Vordergrund: nicht nur kritisiert Things Fall Apart den Kolonisierungsprozess, sondern er setzt sich auch mit den diskursiven Strategien der Machtausübung (z.B. durch Geschichtsschreibung) und mit den dominanten Afrikabildern auseinander und sucht sie offenzulegen und zu demontieren. Gerade Letzteres findet nicht nur auf der Inhaltseben statt: zwar wird Achebe durchaus seiner Agenda gerecht, die Igbo-Gesellschaft als komplexe Sozialstruktur mit einer kulturellen Eigenlogik darzustellen und somit den rassistischen Bildern von Afrikanern als sprach- und kulturlos eine differenzierte, nicht-romantisierende Darstellung entgegenzusetzen. Aber er geht noch weiter in dem, was man mit Ashcroft et al. als Writing Back bezeichnen kann: die Sprache und Struktur des Romans versuchen die Geschichte auch anders zu erzählen, orientieren sich nicht so sehr an den Erzählmustern europäischer Literaturen, sondern integrieren Elemente mündlichen Erzählens, sowohl in der Struktur als auch in der Sprache, z.B. durch die umfangreiche Verwendung nicht-übersetzter Igbo-Wörter. Letztere werden zwar zumeist umgehend paraphrasiert, sie erschließen sich kontextuell oder werden je nach Ausgabe des Romans durch ein Glossar verständlich; Emma Dawson und Pierre Larrivée attestieren daher dem Roman einen letztendlichen Anglozentrismus (927). Der Gebrauch von Igbo schafft nichtsdestotrotz einen Verfremdungseffekt für nicht mit der Sprache vertraute Leser, der auf der Eigenständigkeit der Igbo-Kultur und auf der Unübersetzbarkeit und Unübertragbarkeit vieler kultureller Konzepte beharrt. Die Frage der Sprache ist dabei gerade in Afrika hochbrisant für die Auseinandersetzung mit der Kolonisierung und Prozesse der Dekolonisierung, da europäische Sprachen vielfach als Träger nicht nur der politischen, sondern auch der mentalen Kolonisierung gesehen wurden. In Kenia beispielsweise argumentierte der Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o, dass der Gebrauch europäischer Sprachen als afrikanische Literatursprachen die mentale Kolonisierung nur fortsetzen könne und plädierte dafür, dass afrikanische Schriftsteller in afrikanischen Sprachen schrieben; Sprache ist für Ngugi ein unhintergehbarer Ausdruck von Kultur: Every language has two aspects. One aspect is the role as an agent that enables us to communicate with one another in our struggle to find the means for survival. The other is its role as a carrier of the history and the culture built into the process of that communication over time. [...] The two aspects are inseparable; they form a dialectical unity. (30) Chinua Achebe Things Fall Apart 253 Nach fünf Romanen und zwei Theaterstücken in englischer Sprache wechselte Ngugi in seiner literarischen Produktion ab 1980 in seine Muttersprache, Giguyu (Innes 2007, 26). Achebe hingegen gehört in dieser Debatte (die es auch in anderen postkolonialen Kontexten, bspw. in Indien, gibt) zu denjenigen, für die der mentale Dekolonisierungsprozess, den Ngugi einfordert, auch in einer Aneignung der Kolonialsprache bestehen kann; gerade in Nigeria, so Achebe und auch der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka, kann Englisch als Ethnien-übergreifende Sprache die Versuche nationaler Einigung unterstützen (Innes 2007, 27); denn, so die Vertreter dieser Position, in einem Land mit mehreren hundert ethnischen Gruppen Sprachen, von denen Igbo, Yoruba und Hausa nur die größten sind, ist die Indienstnahme der ehemaligen Kolonialsprache und ihre Anpassung an die eigenen kulturellen und politischen Bedürfnisse Teil des Dekolonisierungsprozesses in einer Konstellation, in der keine Rückkehr mehr zu präkolonialen Verhältnissen möglich oder wünschenswert ist. Writing Back ist somit ein Prozess der kulturellen Hybridisierung, nicht der Versuch der Herstellung einer imaginären kulturellen Authentizität. IV Things Fall Apart und kulturelle Transformationsprozesse In der eben diskutierten postkolonialen Lesart steht zum einen also die Auseinandersetzung mit europäischen Denk- und Erzählmustern, zum anderen die Auseinandersetzung zwischen den Briten und den Igbo im Vordergrund. Beides ist zweifelsohne zentral für den Roman, aber diese Auseinandersetzungen sind nicht das einzige Thema. Vielmehr, so möchte ich argumentieren, geht es um kulturelle Auseinandersetzungen, die nicht nur zwischen Europäern und Igbo verlaufen, sondern auch innerhalb der Igbo Gemeinschaft; es geht um die Frage, wie kultureller Wandel zustande kommt und sich unter Druck fortsetzt, wie und ob gesellschaftlicher Wandel - von religiösen Riten über Geschlechter- und andere Hierarchien bis zu Rechtsinstitutionen - in kolonialen Verhältnissen von den Kolonisierten überhaupt gestaltet werden kann. Und schließlich geht es um die Frage, wie dieser Prozess erzählt werden kann. Ich möchte daher die postkoloniale Lesart des Romans ergänzen durch einen Fokus, der den Roman breiter angelegt als kulturelle Dynamiken und Auseinandersetzungen thematisierend versteht und der gleichzeitig nach Wegen sucht, die die neuen Formen des community buildings zu fassen vermögen. Wie bereits eingangs erwähnt, kommen im ersten und längsten Teil von Things Fall Apart die europäischen Eindringlinge nur indirekt vor. Die Igbo-Gesellschaft Umuofias erscheint als eine Gesellschaft, die weder ihre eigene Vergangenheit schriftlich bewahrt noch eine Vorstellung von Entwicklung zu haben scheint. Stattdessen, so argumentiert z.B. ten Koonvar, erscheint die Zeit zyklisch, die Gegenwart ist Teil einer endlosen Wiederholung mythischer Strukturen (ten Kortenaar 137). Man kann die hier repräsentierte Gesellschaft als eine ‚traditionelle‘ im Sinne des britischen Soziologen Anthony Giddens verstehen: „‚Tradition‘ [...] is bound up with memory, specifically with what Maurice Halbwachs calls ‚collective memory‘; involves ritual; is connected with what I shall call a formulaic notion of truth; has guardians; and, unlike custom, has binding force which has a combined moral and emotional content“ (63). All dies trifft klar Katja Sarkowsky 254 auf die Gesellschaft Umuofias bzw. ihre Darstellung im ersten Teil des Romans zu; darüber hinaus erscheint hier das Gesellschaftsportrait als in einer erzählerische Form präsentiert, die sprachlich und strukturell dem mündlichen Erzählen angelehnt ist. Somit wäre es nun verführerisch, den ‚traditionellen‘ ersten Teil den beiden anderen Teilen gegenüberzustellen, denn nicht nur beginnt mit Okonkwos Verbannung am Ende des ersten Teils so etwas wie ein nacherzählbarer, zeitlich geordneter Handlungsstrang, sondern im zweiten Teil beginnt auch die Veränderung der Igbo- Kultur durch die Auseinandersetzung mit den Missionaren und der britischen Kolonialmacht in den Vordergrund der Erzählung zu rücken. Mit dieser Gegenüberstellung wäre man bei einer klassischen Zweiteilung von (zeitloser) Tradition einerseits und (aufgezwungener und historisierender) Modernisierung andererseits. Aber die Transformationsprozesse, wie sie im Roman dargestellt werden sind ebenso wie die Erzählweise wesentlich komplexer. Denn zwar wird die Gemeinschaft von Umuofia in vielerlei Hinsicht als eine traditionelle dargestellt, deren Strukturen und Praktiken mythologisch gerechtfertigt sind, die weitgehend unhinterfragt bleiben - auch und gerade von denen, die am wenigsten davon profitieren, wie z.B. Frauen, diejenigen Männer, denen aus welchem Grund auch immer der landwirtschaftliche Erfolg nicht vergönnt ist und die damit relativ einflusslos in der Gesellschaft bleiben, oder den ozu, den ‚Unberührbaren‘. Aber eine auf eine solch dichotome Gegenüberstellung angelegte Interpretation würde zum einen die enge Verzahnung von Tradition und Moderne gerade in frühen Phasen der Modernisierung, wie sie auch von Giddens hervorgehoben wird (91), übersehen; zum anderen - und damit zusammenhängend - würde sie außer Acht lassen, dass das Ringen um Traditionen und ihre gesellschaftliche Bedeutung nicht nur von außen induziert wird, sondern dass sich bereits innerhalb der Gemeinschaft kulturelle Konfliktlinien aufzeigen lassen. Hier lassen sich zwei Arten von kultureller Reflektion aufzeigen, die jeweils von einzelnen Charakteren verkörpert werden: eine Reflektion, die Widersprüche thematisiert und sie in den bestehenden Kulturhorizont einzupassen sucht und eine Reflektion, die mit der Tradition bricht. Beide Formen tragen maßgeblich zu einer Veränderung dessen bei, was als ‚Igbo‘ im Kontext fundamentaler kultureller und politischer Transformationsprozesse zu verstehen ist. So finden sich bereits im ersten Teil Diskussionen über unterschiedliche Ausprägungen von Igbo-Kultur. Die Praktiken der Nachbardörfer Abame und Aninta sind beispielsweise Ziel von Kritik: „‚All their customs are upside down. They do not decide bride-price as we do, with sticks. They haggle and bargain as if they were buying a goat or a cow in the market.‘ ‚That is very bad,‘ said Obierika’s eldest brother. ‚But what is good in one place is bad in another place‘“ (69). Nichtsdestotrotz sind diese ‚anderen‘ Igbo-Bräuche Teil eines gemeinsamen Kulturhorizontes und können entsprechend eingeordnet und bewertet werden; dabei werden immer auch die Grenzen dieses Horizontes neu ausgelotet. Die folgende Passage findet sich am Ende des ersten Teils, Okonkwo ist gerade aus Umuofia verbannt, nachdem er versehentlich jemanden umgebracht hat, sein Haus und seine Felder wurden zerstört, um das Land von seiner Schuld zu reinigen. Okonkwos enger Freund Obierika ist an diesen Zerstörungen beteiligt - nicht aus Hass auf Okonkwo, sondern weil das spirituelle Gleichgewicht wieder hergestellt werden muss. Obierika Chinua Achebe Things Fall Apart 255 wird im Text immer wieder als jemand dargestellt, der die kulturellen und spirituellen Praktiken seiner Gemeinschaft kritisch reflektiert. Obierika was a man who thought about things. When the will of the goddess had been done, he sat down in his obi and mourned his friend’s calamity. Why should a man suffer so grievously for an offence he had committed inadvertently? But although he thought for a long time he found no answer. He was merely led into greater complexities. He remembered his wife’s twin children, whom he had thrown away. What crime had they committed? The Earth had decreed that they were an offence to the land and must be destroyed. And if the clan did not exact punishment for an offence against the great goddesss, her wrath was loosed on all the land and not just the offender. As the elders said, if one finger brought oil, it soiled the others. (117-118) Dies ist, wie gesagt, das Ende des ersten Teils, und trotz Obierikas kritischer Fragen stellt diese Passage eine Bestätigung der Ordnung, wie die Igbo von Umuofia sie verstehen, dar. Obierika ist, wie auch andere elders, also in der Lage zu fragen, aber er verbleibt in der eigenen kulturellen Logik und sucht nach deren Rechtfertigung (Irele 461). Dass diese durchaus Raum für individuelle Entscheidungen lässt wird deutlich, als sich Okonkwo gegen die Mahnung eines Stammesältesten an der rituellen Tötung seines Pflegesohns Ikemefuna aktiv beteiligt. Obierika hingegen bleibt dieser Opferung fern. In der hitzigen Diskussion mit Okonkwo über dessen Rolle und Obierikas Entscheidung formuliert letzterer seinen Weg mit den Anweisungen des Orakels umzugehen: „But if the Oracle said that my son should be killed I would neither dispute it nor be the one to do it“ (63). Okonkwo tötet seinen Pflegesohn um sich und den anderen seine ‚Stärke‘ zu beweisen; er überfüllt somit die kulturelle Erwartung an Männlichkeit bis zur tragischen Karikatur und leidet anschließend unter seiner Handlung - ein Leid, das wiederum keinen Ausdruck finden kann, wird es doch von ihm als Ausdruck der Schwäche interpretiert. Im Gegensatz dazu sucht Obierika nach einer individuellen Positionierung innerhalb seiner Gemeinschaft, die einerseits deren kulturelle Logik respektiert und mitträgt, die aber auch andererseits die Grenzen dessen erforscht, was dem Individuum durch die Gemeinschaft zugemutet werden kann. Was die hier manifesten Konflikte und deren Reflexion auszeichnet ist, dass sie nicht nur für die Individuen im Kontext ihrer Kultur verständlich sind, sondern auch dass sie die Handlungsspielräume des Individuums nachvollziehbar umreißen. Damit wird, im Rückgriff auf Rechtfertigungserzählungen, die Gemeinschaft nicht nur bestätigt, sondern muss immer wieder narrativ neu hergestellt werden. Im Kontrast zu diesen kulturinternen Konfliktlinien verkörpert das Christentum eine eigene, den meisten Igbo nicht nachvollziehbare kulturelle Logik, beispielsweise durch seine Betonung des Individuums als von Familie, Clan oder Ahnen unabhängig, oder durch das Prinzip des Monotheismus. Dies hat - im Gegensatz zu den abweichenden Praktiken anderer Igbo-Gemeinschaften - Auswirkungen auf die Rechtfertigung und Aufrechterhaltung von Gesellschaftsstrukturen und ihrer spezifischen Hierarchien; und in der Tat führt die zunehmende Anzahl christlicher Igbo zu einer Spaltung der Gesellschaft, denn die Christen sind nicht mehr in die etablierte Gemeinschaftsstruktur integrierbar (und wollen dies auch nicht sein). Zweifelsohne Katja Sarkowsky 256 stellt das Christentum somit eine fundamentale Herausforderung an die Igbo- Mythologie und ihre Umsetzung in Alltagspraktiken dar. Hieraus jedoch den eigentlichen Bruch zu schließen wäre zu kurz gegriffen, denn der Erfolg der neuen, das Individuum betonenden Logik gründet in Achebes Darstellung zumindest teilweise in vorausgehenden innergesellschaftlichen Konflikten, die nun ein Ventil finden. Schon im ersten Teil des Romans werden traditionelle Praktiken von manchen Charakteren kritisch reflektiert und die Entfremdung Einzelner von traditionellen Strukturen wird bereits vor der direkten Begegnung mit Missionaren und Kolonialverwaltung erzählt. Dies stellt eine wichtige Basis für spätere Auseinandersetzungen dar und auch für den Erfolg, den das Christentum bei vielen - vor allem aber nicht ausschließlich den marginalisierten - Bewohnern Umofias hat. Ein Beispiel dafür ist der bereits erwähnte Sohn Okonkwos, Nwoye, der für seinen Vater eine ständige Erinnerung an dessen verachteten Vater darstellt. Nwoye liebt Geschichten eher als den Kampf, und in seiner Sensibilität erscheint Nwoye Okonkwo als zu weich, zu unmännlich. Nwoye im Gegenzug leidet unter den Erwartungen und der Gewalttätigkeit seines Vaters, der ihm als die Verkörperung der Igbo-Kultur erscheint. Diese Kultur lehnt er entsprechend zunehmend ab, ohne zunächst einen Ausdruck für diese Ablehnung zu finden. Als Okonkwo und die anderen Männer des Dorfes die Ikemefuna getötet haben, realisiert Nwoye eine zunehmende Distanzierung von seiner Kultur, die bereits vorher begonnen hatte und die nicht rückgängig zu machen ist: „As soon as his father walked in, that night, Nwoye knew that Ikemefuna had been killed, and something seemed to give way inside him.“ (58) Dieses Gefühl, so erinnert er sich, hatte er bereits zuvor, als er, von der Ernte zurückkehrend, ausgesetzte Zwillinge (die, wie bereits oben zitiert, für die Igbo eine zu zerstörende Missgeburt darstellen) im Wald weinen hörte. Nwoye had heard that twins were put in earthenware pots and thrown away in the forest, but he had never yet come across them. A vague chill had decended on him and his head had seemed to swell, like a solitary walker at night who passes an evil spirit on the way. Then something had given way inside him. It decended on him again, this feeling, when his father walked in, that night after killing Ikemefuna. (58) Nwoyes Distanzierung von Okonkwo wird somit bereits im ersten Teil zu einer Entfremdung auch von der Kultur, in die er hineinsozialisiert ist und in der er für sich und seine Zweifel zunehmend keinen Platz sieht. Im Gegensatz zu Obierika, der auch an vielen Gebräuchen leidet und über sie nachdenkt, dabei aber immer wieder die Grenzen der kulturinternen Rechtfertigungslogik akzeptiert, stellt für Nwoye das Christentum eine Möglichkeit des Ausbruchs dar. Dabei geht es nicht darum, dass ihn das Christentum überzeugt, sondern darum, dass es ihm in seiner kulturellen Distanzierung und in seiner Abgrenzung gegenüber dem Vater eine Alternative anzubieten scheint. So schreibt Achebe: It was not the mad logic of the Trinity that captivated him, he did not understand it. It was the poetry of the new religion, something felt in the marrow. The hymn about brothers who sat in darkness and in fear seemed to answer a vague and persistent question that haunted his young soul - the question of the twins crying in the bush and the question of Ikemefuna who was killed. (139) Chinua Achebe Things Fall Apart 257 Obierika und Nwoye stellen in gewisser Hinsicht Gegenmodelle zu Okonkwo und seiner starren Auffassung von gesellschaftlicher Ordnung dar, deren Beispiele individuelle Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigen, von kritischer Reflektion bis zum Bruch mit der Herkunftskultur. Gerade Nwoyes Übertritt zum Christentum im zweiten Teil des Romans ist gleichzeitig ein gutes Beispiel für die Verknüpfung der von innen bereits unter Druck geratenen Strukturen und Hierarchien der Igbo-Gesellschaft mit der erfolgreichen Christianisierung. Die ersten Konvertiten sind Mitglieder benachteiligter Gruppen innerhalb der Igbo-Sozialstruktur: wirtschaftlich wenig erfolgreiche Männer, Frauen, die Zwillingen geboren haben und sie aussetzen mussten, oder die bereits genannten ozu. Der Christianisierungsprozess lässt, auch erzählerisch, die sozialen Hierarchien und auch Konfliktlinien der Igbo- Gesellschaft deutlich hervor treten, denn viele marginalisierte Gruppen, insbesondere die ozu, werden in diesem Kontext das erste Mal überhaupt erwähnt. Dabei bemüht sich Achebe offensichtlich, das Ringen um gesellschaftliche und spirituelle Deutungshoheit möglichst offen darzustellen; hier geht es wieder um die Frage, wie ein solch dramatischer Transformationsprozess erzählt werden kann ohne auf dichotome Muster zurückzugreifen. Als ein fanatischer Konvertit eine heilige Schlange tötet und isst, unternimmt niemand etwas: die Götter, so die Annahme, können sich gegen einen solchen Frevel selbst zur Wehr setzen. Und tatsächlich: der Mann stirbt nach wenigen Tagen. Die Erzählstimme kommentiert dies nicht, sondern gibt stattdessen die Interpretation der Igbo wieder: „His death showed that the gods were still able to fight their own battles. The clan saw no reason for molesting the Christians“ (152). Die klare Fokalisierung in dieser und anderen Szenen überlassen es, wie ten Kortenaar hervorgehoben hat, der Leserin, sich hier ggf. zu distanzieren und andere Deutungen an den Text heranzutragen (Ten Kortenaar 127-130) oder aber die Fokalisierung als eine Herausforderung des eigenen Weltbildes im Rahmen der Lektüre zu akzeptieren. Somit führen der Christianisierungs- und der Kolonisierungsprozess zunehmend zur Demontage etablierter Hierarchien und Strukturen nicht so sehr weil sie von außen kommen, sondern weil sie die bereits vorhandenen inneren Konflikte verstärken und die Gemeinschaft auseinanderbrechen lassen. Wenn auch Verantwortlichkeiten und Profitierung klar bei den Europäern liegen, so geschieht die Kolonisierung Afrikas dennoch auch mit Hilfe von Afrikanern. Obierika erkennt gegen Ende des Romans: Our own men and our sons have joined the ranks of the stranger. They have joined his religion and they help to uphold his government. [...] How do you think we can fight when our own brothers have turned against us? The white man is very clever. He came quietly and peaceably with his religion. We were amused at his foolishness and allowed him to stay. Now he has won our brothers, and our clan can no longer act like one. He has put a knife on the things that held us together and we have fallen apart. (165, 166) In der Tat zerfällt alles, wie es der Titel mit Bezug auf Yeats nahelegt; mit Okonkwos Tod stirbt einer der hartnäckigsten Verfechter der Igbo-Kultur als einer vermeintlich unveränderlichen Kultur, sein Selbstmord erscheint als ein Scheitern sowohl an den sich drastisch verändernden Umständen als auch an sich und seiner Unfähigkeit zu irgendeiner Form von Kompromiss. Achebes Betonung der inneren kulturellen Katja Sarkowsky 258 Dynamiken der Igbo-Gesellschaft bereits im ersten Teil des Buches lässt diese im Nachhinein als die Basis für jede spätere Veränderung erscheinen. Dies bedeutet keine Relativierung des Kolonisierungsprozesses oder der Machtasymmetrien, die ihn erst möglich machten. In diesem Lichte erscheinen die Veränderungen, die Umuofia durch die Begegnung mit den Engländern durchläuft deswegen nicht weniger gravierend; jedoch rückt diese Lesart stärker die Binnenauseinandersetzungen in den Vordergrund, die dann dazu führen, dass die Veränderungen durch das Christentum so tiefgreifend sein konnten und betont neben dem Zwangscharakter der neuen Strukturen, wie sie z.B. in der Gefangennahme der Dorfältesten deutlich wird, auch die Kooperation vieler Igbo - und stellt diese Gesellschaft somit als eine von Interessengegensätzen geprägte dar, in der einzelne und Gruppen auch gegenüber der Kolonialmacht Handlungsfähigkeit an den Tag legen. Das bereits eingangs zitierte Ende des Romans verschiebt zwar die Perspektive hin zur Kolonialverwaltung und ihrer Diskursmacht: Geschichte, so scheint hier Walter Benjamin anzuklingen, wird vom Sieger geschrieben. Achebes Roman kann somit als eine Art der ‚Gegengeschichte‘ gelesen werden, ganz im Sinne des Writing Back; Sofia Samatar hat auf die Bedeutung dieser ‚Antwort‘ hingewiesen wenn sie schreibt: „Writing history is not a mere recitation of facts, but a revolutionary act with meaning for the present. Things Fall Apart was both written and received by its first readers as such an act“ (Samatar 62). Der Roman kann aber darüber hinaus, trotz der kritischen Perspektive des Endes, als ein Versuch verstanden werden, Gegengeschichte jenseits einer Manichäischen Logik zu schreiben. Diese Logik prägt vermutlich das geplante Buch des Commissioners The Pacification of the Primitive Tribes of the Lower Niger. Sie prägt nicht Achebes ersten und seine folgenden Romane. Literaturverzeichnis Primärliteratur Achebe, Chinua: Things Fall Apart. London 2006 [1958]. - „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2002. 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Beiträgerinnen und Beiträger Hanno Ehrlicher studierte Neuere Deutsche Literatur sowie spanische und katalanische Philologie in Würzburg, Salamanca und Berlin. Er promovierte an der Freien Universität Berlin im Fach Komparatistik und habilitierte sich an der Universität Heidelberg in romanischer Literaturwissenschaft. Seit 2011 ist er Professor für Romanische Literaturwissenschaft (Iberoromania) an der Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit, des spanischsprachigen Films (Buñuel, Saura, Almodóvar, u.a.) und der Avantgardeliteraturen in Europa und Lateinamerika. Christoph Henke ist seit 2012 Akademischer Oberrat an der Universität Augsburg. Er studierte Anglistik, Germanistik und Philosophie an der Universität Paderborn und der University of Wales, College of Cardiff. Er promovierte über das Erzählwerk von Julian Barnes (Vergangenheitsobsessionen, 2001) und veröffentlichte seine Habilitationsschrift zu Common Sense im 18. Jahrhundert (2014). Zu seinen Forschungsinteressen zählen unter anderem das britische Gegenwartsdrama, Literatur und Holocaust, die Geschichte des Romans (18. bis 21. Jahrhundert) sowie Fiktions- und Virtualitätstheorien. Dennis Mahoney ist Professor of German an der University of Vermont, USA, und Präsident der Internationalen Novalis-Gesellschaft. Seine Forschungsinteressen umfassen die deutsche Literatur von der Aufklärung bis zur Romantik, deutsche Kulturgeschichte, Komparatistik und Filmstudien. Mahoney publizierte zahlreiche Aufsätze zu Lessing, Goethe, Schiller, Novalis, Thomas Mann und Wim Wenders. Katja Sarkowsky studierte American Studies, the New English Literatures und Medieval German Studies und wurde an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. im Fach Amerikanistik promoviert. Bis 2013 war sie Juniorprofessorin für Neue Englische Literaturen und Kulturwissenschaft an der Universität Augsburg; seit Oktober 2013 ist sie Inhaberin des Amerikanistiklehrstuhls an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Literaturen ethnischer Minoritäten in Kanada und den USA, Kulturtheorie, Postkoloniale Theorie, und Citizenship Studies. Kaspar H. Spinner studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Pädagogik an der Universität Zürich und der FU Berlin. Von 1988 bis 2006 war er Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. Wichtige Publikationen sind unter anderem: Kreativer Deutschunterricht: Identität - Imagination - Kognition; Kurzgeschichten, kurze Prosa: Grundlagen, Methoden, Anregungen für den Unterricht; Erziehung oder Lust am Ausleben von Fantasien? Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Didaktik; Hrsg. SynÄsthetische Bildung in der Grundschule; Hrsg. Lesekompetenz erwerben, Literatur erfahren. 262 Hubert Zapf ist seit 1991 Inhaber des Lehrstuhls für Amerikanistik an der Universität Augsburg. Er studierte Englisch und Geschichte an der Universität Regensburg und der University of Dayton, Ohio, USA. Seine Forschungsschwerpunkte liegen besonders auf den Gebieten der Literatur- und Kulturökologie, des Ecocriticism, der Neueren Amerikanischen Literatur, der Literaturgeschichte, und der Literatur- und Kulturtheorie. Stephanie Waldow studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Soziologie und Psychologie an den Universitäten Gießen und Erlangen. Seit 2012 ist Sie Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ethik an der Universität Augsburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in der Ethik und Narration, Literatur und Mythos, Intertextualität, Literaturvermittlung, Literatur und Theorie der Gegenwart und Moderne, Literatur und Kunst, Gattungsgeschichte der Novelle und der Reportage, Literatur und Wissen (hier insbesondere Literatur und Astronomie/ Astrologie). Rotraud von Kulessa studierte Deutsch und Französisch auf Lehramt in Freiburg, Paris und Berlin. Promotion und Habilitation in Freiburg. Seit 2011 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Literaturwissenschaft (Französisch/ Italienisch) an der Universität Augsburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Kanonbildung, weibliche Genealogien (von der Renaissance bis zum 19. Jahrhundert), Spieltheorie, das Konzept der sensibilité in der französischen Literatur des 18. Jahrhundert, Immigrationsliteratur, und das literarische Feld in Italien und Frankreich um 1900. Mathias Mayer ist seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg und seit 2006 Sprecher des Masterstudiengangs „Ethik der Textkulturen“ (Universität Augsburg/ Erlangen) im Rahmen des Elitenetzwerkes Bayern e. V. Er studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in Freiburg/ Br. und Wien. Seine Arbeitsgebiete umfassen unter anderem die Literatur um 1800 (hier besonders Goethe), Literatur und Musik (hier besonders das Musiktheater), die österreichische Literatur (insbesondere Hugo von Hofmannsthal), Eduard Mörike, und Literaturwissenschaft und Ethik (besonders im Hinblick auf die Autobiographie). Martin Middeke lehrt als Ordentlicher Professor seit 2001 Englische Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Er studierte Anglistik, Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaften an der Universität Paderborn. Zu seinen Forschungsinteressen zählen unter anderem die Literatur der Englischen Romantik, Roman und Lyrik des 19. Jahrhunderts, Fin de Siècle, James Joyce Samuel Beckett, der postmoderne Roman, das zeitgenössische englischsprachige Drama (insbesondere England/ Irland/ Kanada), die Interrelationen zwischen Literatur und Histo- - 263 riographie, Biographie - Fiktionale Biographie, und intermediale Bezüge zwischen Literatur und Malerei. Hans Vilmar Geppert. Studium, Promotion und Habilitation in Tübingen. Von 1984 bis 2006 war er Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Vergleichende Literaturwissenschaft in Augsburg. Wichtige Publikationen sind unter anderem: Der „andere“ historische Roman; Achim von Arnims Romanfragment „Die Kronenwächter“; Der realistische Weg; Literatur im Mediendialog; Der historische Roman: Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart; Hrsg. Große Werke der Literatur Bd. 1ff; Hg. Theorien der Literatur Bd. 1ff. Thomas Schmidt. Studium der Germanistik und Philosophie in Jena und Göttingen. Er promovierte 1998 an der Universität Göttingen. 1997-2003 dozierte er an den Universitäten Göttingen, Gießen und Jena. Seit 2008 doziert er am der Universität Freiburg im Fachbereich Germanistik und ist seit 2006 Leiter der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg (Deutsches Literaturarchiv Marbach). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der deutschen Kulturgeschichte, Ethnologie, Literaturpräsentation und vermittlung, Museen und Gedenkstätten. Helmut Koopmann. Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie an den Universitäten Bonn und Münster. Von 1969 bis 1974 war er Ordentlicher Professor für Neuere Deutsche Philologie an der Universität Bonn, ab 1974 Ordentlicher Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Mehrere Gastprofessuren in den USA und in Südafrika, abgelehnte Berufungen an die Harvard University, USA, und an die Freie Universität Berlin. Seine Hauptarbeitsgebiete sind: Literatur des 18. Jahrhunderts, Schiller, Junges Deutschland (insbesondere Heine und Börne), Literatur der Jahrhundertwende, Thomas und Heinrich Mann, Broch, Döblin, Literatur der Nachkriegszeit. - Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! VERSATZ 190 MM/ 30 MM Benedikt Jeßing Neuere deutsche Literaturgeschichte bachelor-wissen 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2014 VIII, 272 Seiten, zahlreiche Abb. und Tab., €[D] 19,99 / SFr 28,00 ISBN 978-3-8233-6859-5 Jeßings bewährter Einführungsband bietet neben der „Erzählung“ der Geschichte der deutschen Literatur von der Reformation bis zur Gegenwart eine Reflexion von Literaturgeschichtsschreibung. Den Hauptteil bildet ein genauer und reichhaltig illustrierter Durchgang durch die deutsche Literaturgeschichte seit Luther, der zentrale Texte der deutschen Literaturgeschichte hervorhebt, die traditionellen Epochenbegriffe erläutert und im Einzelfall diskutiert bzw. problematisiert. Damit liefert der Band sowohl auf der Ebene literaturgeschichtlichen Wissens als auch im Blick auf die methodologische bzw. historiographietheoretische Reflexion eine Vielzahl von Anschlussmöglichkeiten für die unterschiedlichen Master-Studiengänge und Master- Module in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft und vergleichbaren Studiengängen. Für die zweite Auflage wurden die einzelnen Kapitel mit Leseempfehlungen von Schlüsselwerken versehen, die Studienanfängern eine gute Orientierung bei der Erschließung der Epochen bieten. Der Abschnitt zur Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart wurde stark erweitert. GROS SE WERKE DER LITERATUR XIII Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Die Interpretation der Texte verbindet sich dabei mit der Frage ihres Status im literarischen Kanon, der immer wieder neu zu verhandeln und zu begründen ist. Gerade in einer Zeit intensivierter Kanondebatten und des Aufstiegs neuer Medien stellt sich die Frage nach der ästhetischen, historischen und gesellschaftlichen Relevanz von Texten, die ganz offensichtlich kulturprägende Wirkungen entfalten und der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen. Der Band versammelt Beiträge von Kaspar H. Spinner (Äsop, „Fabeln“), Hanno Ehrlicher (Miguel de Cervantes, „Rinconete y Cortadillo“), Rotraud von Kulessa (Marie Leprince de Beaumont, „Le Magasin des adolescentes“), Helmut Koopmann (Johann Wolfgang von Goethe, „Faust“), Thomas Schmidt (George Gordon Byron, „Written After Swimming from Sestos to Abydos“), Dennis F. Mahoney (Joseph von Eichendorff, „Ahnung und Gegenwart“), Martin Middeke (Emily Brontë, „Wuthering Heights“), Hubert Zapf (Herman Melville, „Bartleby, the Scrivener“), Matthias Mayer (Hugo von Hofmannsthal, „Elektra“), Christoph Henke (James Joyce, „Finnegans Wake“) Hans Vilmar Geppert (Bert Brecht, „Buckower Elegien“), Stephanie Waldow (Ingeborg Bachmann, „Malina“) und Katja Sarkowsky (Chinua Achebe, „Things Fall Apart“). GROSSE WERKE DER LITERATUR BAND XIII 020015 Große Werke der Literatur XIII.qxp_020015 Große Werke der Literatur XIII Umschlag 06.03.15 10: 30 Seite 1