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Argumentstruktur zwischen Valenz und Konstruktion

2015
978-3-8233-7960-7
Gunter Narr Verlag 
Stefan Engelberg
Meike Meliss
Kristel Proost
Edeltraud Winkler

Der valenztheoretischen Behandlung von Argumentstrukturen stehen seit längerer Zeit konstruktionsgrammatische Theorien gegenüber, die die syntaktisch-semantischen Konstruktionen selbst als primäre Objekte der Sprachbeschreibung sehen, welche dann spezifische Lexeme als lexikalische Füllungen selegieren. Die Beiträge dieses Bandes zeigen, dass sich die beiden Ansätze nicht ausschließen müssen, sondern sich bei der theoretischen Modellierung der regelhaften und idiosynkratischen Aspekte von Argumentstrukturen auf fruchtbare Weise ergänzen können. Neben rein theoretisch orientierten Studien enthält der Band Beiträge, deren Gegenstand die Evaluierung von Methoden zur empirischen Fundierung dieser Theorien ist. Zudem wird der Phänomenbereich aus metalexikografischer und aus der Perspektive des Fremd- bzw. Zweitspracherwerbs betrachtet. Zum Teil werden in den Beiträgen kontrastive Analysen vorgenommen, vor allem hinsichtlich des Sprachenpaares Deutsch - Spanisch. Die angewandten Aspekte des Themas werden dabei immer auch an theoretische und empirische Überlegungen rückgebunden. Die Struktur des Bandes reflektiert den Fokus, den die einzelnen Beiträge setzen: Repräsentationen, Konstruktionen, Wortfelder und Methoden.

Stefan Engelberg / Meike Meliss / Kristel Proost / Edeltraud Winkler (Hrsg.) Argumentstruktur zwischen Valenz und Konstruktion STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 68 Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Angelika Wöllstein Band 68 STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Stefan Engelberg / Meike Meliss / Kristel Proost Edeltraud Winkler (Hrsg.) Argumentstruktur zwischen Valenz und Konstruktion Redaktion: Melanie Steinle, Norbert Volz Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 ∙ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 ∙ D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz und Layout: Norbert Volz Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6960-8 INHALT Stefan Engelberg, Meike Meliss, Kristel Proost, Edeltraud Winkler Einleitung: Argumentstruktur - Valenz - Konstruktionen ................... 9 I. Repräsentationen Klaus Welke Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz ............................................................................ 35 Vilmos Ágel Brisante Gegenstände. Zur valenztheoretischen Integrierbarkeit von Konstruktionen ................................................................................... 61 Ludwig M. Eichinger Kookkurrenz und Dependenz. Konkurrierende Prinzipien oder einander ergänzende Beobachtungen? .......................................... 89 María José Domínguez Vázquez Die Form und die Bedeutung der Konstruktion bei der hierarchischen Vernetzung, Verlinkung und Vererbung. Vorschlag zu einem Konstruktionsnetz................................................ 109 Brigitte Handwerker Konstruktionen im L2-Lernformat. Orts- und Zustandsveränderungen in der Rezeption und Produktion des Deutschen als Fremdsprache .......................................................... 127 II. Konstruktionen Kristel Proost Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung oder beides? Zur Bedeutung deutscher Ditransitivstrukturen und ihrer präpositionalen Varianten....................................................................... 157 Irene Rapp Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen. Fragen, Fakten und Faktoren ................................................................. 177 Inhalt 6 Edeltraud Winkler Die beiden Varianten der Material-Produkt-Alternanz im Deutschen ............................................................................................ 201 Carmen Mellado Blanco Phrasem-Konstruktionen und lexikalische Idiom-Varianten. Der Fall der komparativen Phraseme des Deutschen ........................ 217 Nely M. Iglesias Iglesias Konstruktionsgrammatik als Weg zur lexikografischen Erfassung und Bearbeitung von Phraseologismen in zweisprachigen Wörterbüchern. Eine Spurensuche ......................... 237 Clemens Knobloch Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen ............................................................................................ 247 Klaus Fischer Zwischen Valenz und Konstruktion. Argumente im Fokus .............. 271 III. Felder Juan Cuartero Otal Bummel-Verben: Probleme bei der Beschreibung ihres Kombinationspotenzials................................................................ 301 Meike Meliss Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen. Eine korpusbasierte Studie deutscher und spanischer „Geruchsverben“ im Kontrast................................................................ 317 Vanessa González Ribao Das lexikosemantische Paradigma der neuen medialen Kommunikationsverben im Sprachvergleich (Spanisch-Englisch- Deutsch) unter dem Blickwinkel der Argumentstruktur................... 341 Manuel Fernández Méndez Argumentstrukturmuster und valenzgrammatisch orientierte Information im deutsch-spanischen Kontrast. Exemplarische Analyse der Lexikalisierungsmöglichkeiten des Konzepts entfÜhren .............................................................................. 353 Inhalt 7 María Egido Vicente Das konzeptuelle Feld der autoritätsbeziehungen aus kontrastiver Sicht. Eine korpusbasierte Studie des Deutschen und Spanischen ............. 365 Paloma Sánchez Hernández Überlegungen zu der syntagmatischen Information einiger Verben des Teilparadigmas lernen im deutsch-spanischen Vergleich .......................................................... 377 IV. Methoden Anke Holler Grammatik und Integration. Wie fremd ist die Argumentstruktur nicht-nativer Verben? ............................................. 397 Mario Franco Barros Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien..................................................................................... 417 Mónica Mirazo Balsa Zu Konzeption und Aufbau eines kontrastiven Substantivvalenzwörterbuches am Beispiel des Forschungsprojektes CSVEA ................................................................... 439 Arne Zeschel Semiautomatische Identifikation von Argumentstrukturkonstruktionen in großen Korpora........................................................ 451 Stefan Engelberg Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben. Kombinatorische Mustersuchen in Korpora zur Ermittlung von Argumentstrukturverteilungen...................................................... 469 Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes ........................................ 493 STEFAN ENGELBERG, MEIKE MELISS, KRISTEL PROOST, EDELTRAUD WINKLER EINLEITUNG: ARGUMENTSTRUKTUR - VALENZ - KONSTRUKTIONEN 1. Konstruktionen und Valenzen in der Argumentstrukturforschung Verben unterscheiden sich auf vielfältige Weise darin, mit wie vielen und welchen Satzgliedern sie auftreten können und in welchen semantischen Beziehungen diese zum Verb stehen. Traditionell hat man dies als eine Eigenschaft von Verben aufgefasst, so dass jedes Verb dafür spezifiziert wird, in welchen Umgebungen es auftritt. Dieser valenztheoretischen Perspektive treten seit längerer Zeit Theorien gegenüber, die stattdessen die syntaktisch-semantischen Konstruktionen selbst zu primären Objekten der Sprachbeschreibung machen, die wiederum spezifische Lexeme als lexikalische Füllung selegieren. Diese Kontroverse, die ihren Schwerpunkt in der Behandlung der Argumentstruktur von Verben hat, wird mittlerweile auch in Bezug auf Wörter anderer Klassen, wie etwa Substantive, geführt. Der vorliegende Band verfolgt das Ziel, einen Beitrag zu der seit einiger Zeit lebhaft geführten Debatte um die Zukunft der Valenztheorie, insbesondere in der Auseinandersetzung mit konstruktionsgrammatischen Ansätzen, zu leisten. Zum einen enthält er Studien, die die Diskussion um eine angemessene theoretische Modellierung der regelhaften wie der idiosynkratischen Aspekte von Argumentstrukturen reflektieren, wie auch solche, die die Evaluierung der Methoden zur empirischen Fundierung dieser Theorien zum Gegenstand haben. Zum anderen sind in dem Band Arbeiten vertreten, die den Phänomenbereich aus dem Blickwinkel des Fremd-/ Zweitspracherwerbs oder aus metalexikografischer Perspektive betrachten, wobei die aus einzelsprachlicher als auch aus sprachvergleichender Perspektive diskutierten angewandten Aspekte des Themas wiederum an theoretische und empirische Überlegungen angebunden sind. Damit will der Band auch in besonderem Maße zeigen, dass die theoretische, die deskriptive und die angewandte Linguistik sich in ihrer Beschäftigung mit Valenz und Argumentstrukturen gegenseitig befruchten. Bevor in Stefan Engelberg, Meike Meliss, Kristel Proost, Edeltraud Winkler 10 den Abschnitten 2-5 der Inhalt der einzelnen Aufsätze skizziert wird, soll im Folgenden ein knapper Überblick über (i) die theoretischen Positionierungen der Beiträge, (ii) die methodischen Zugänge, (iii) die behandelten Phänomene und (iv) den Bezug zu anwendungsorientierten Fragen gegeben werden. (i) Im Kern der in diesem Band geführten theoretischen Diskussion steht die Frage, ob sich die Argumentstrukturen von Verben angemessener über valenzgrammatische oder über konstruktionsgrammatische Ansätze erklären lassen. Während sich beide Theorien bis vor kurzem noch entschieden voneinander abgrenzten, wird in jüngster Zeit diskutiert, ob Valenz und Konstruktionen möglicherweise in bestimmter Weise bei der Konstituierung der Argumentstruktur zusammenwirken (vgl. etwa Willems/ Coene 2006; Jacobs 2009; Welke 2009; Proost 2009; Winkler 2009; Boas 2010; Engelberg et al. 2011; Herbst 2011; Stefanowitsch 2011; Boas 2014; Proost/ Winkler 2015). Die Beiträgerinnen und Beiträger dieses Bandes positionieren sich dabei allerdings durchaus unterschiedlich in dem Spektrum zwischen valenz- und konstruktionsnahen Ansätzen. Ágel etwa billigt der Valenztheorie das Primat zu und formuliert Konstruktionen als Funktionen über Valenzen. Auch einige der detaillierten kontrastiven Verbstudien (Cuartero Otal, Fernández Méndez) zeigen sich valenznah und plädieren aufgrund der entdeckten idiosynkratischen Eigenschaften von Verben vorrangig eher für valenzbasierte Beschreibungen. Den eher der Valenztheorie nahestehenden Arbeiten ist auch der Beitrag von Eichinger zuzuordnen, der allerdings neben der Valenz auch konstruktionale Effekte vorsieht, wie etwa präformierte Fügungen, in denen Argumentstrukturmuster modifiziert werden können. Knobloch wiederum argumentiert, dass weder Valenznoch Konstruktionsgrammatik die Bezüge inhaltlich zusammenhängender Formen zum Ausdruck von Possession angemessen erfassen können. Konstruktionsgrammatischen Auffassungen näher steht Welke, der für eine Integration valenztheoretischer Projektionen in die Konstruktionsgrammatik plädiert. Einige Studien zu ausgewählten Phänomenen sprechen ebenfalls für ein integratives Vorgehen. So sieht Proost in ihrer Studie zu Ditransitivstrukturen und ihren präpositionalen Pendants ein Zusammenwirken verbsemantischer und konstruktionaler Effekte. Andere Studien heben eher den konstruktionalen Charakter der untersuchten Phänomene hervor, so etwa Meliss in Bezug auf Geruchsverben, Einleitung: Argumentstruktur - Valenz - Konstruktionen 11 Zeschel in seiner Behandlung der präpositionalen Argumentstrukturkonstruktionen mit vor und Winkler hinsichtlich der Material-Produkt-Alternanz. Handwerkers auf den L2-Erwerb ausgerichteter Ansatz zeigt, wie konstruktionsgrammatische und frametheoretische Konzepte lerntheoretisch eingebettet werden können. In einigen der konstruktionsnahen Ansätze (Domínguez Vázquez, Zeschel) werden auch zentrale konstruktionsgrammatische Fragen erörtert, wie die nach der Identität und Abgrenzung von Konstruktionen. (ii) Die Valenztheorie und die Valenzlexikografie nutzen seit geraumer Zeit Korpora als Belegquelle für mögliche Valenzrealisierungen (z.B. Schumacher et al. 2004; Herbst et al. 2004). Korpusmethodische Entwicklungen der letzten Jahre haben ihre Impulse allerdings eher aus konstruktionsgrammatischen Ansätzen bezogen. Hier wird mittlerweile eine Reihe quantitativer Verfahren angewendet, wie etwa die Kollostruktionsanalyse (Stefanowitsch/ Gries 2003) oder die Verbprofilanalyse (z.B. Gries 2010; Engelberg et al. 2012). Auch einige Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf die Entwicklung oder Praxis korpuslinguistischer Methoden ein. Methodische Entwicklungen werden in zwei Beiträgen vorgestellt: Zeschel entwirft ein Verfahren zur Reduktion falscher Positive in großen Belegmengen, und Engelberg erprobt Verfahren der korpusbasierten Mustersuche. Die Erstellung von korpusbasierten Verbprofilen wird in den Beiträgen von Meliss, Engelberg und González Ribao praktiziert; Eichinger zieht zur Valenzanalyse statistische Kookkurrenzprofile heran. Quantitative korpuslinguistische Vorgehensweisen zur Ermittlung von argumentstrukturellen Präferenzen finden sich außerdem auch in den Beiträgen von Holler, r Franco Barros, Fernández Méndez und Sánchez Hernández. Einige der Beiträge ziehen dabei zudem Korpora jenseits der üblichen zeitungs- und literaturbasierten Standardkorpora heran: Franco Barros arbeitet mit einem E-Mail-Korpus, González Ribao mit einem Korpus aus Internettexten, und Mirazo Balsa visiert die Erstellung eines annotierten spanisch-deutschen Übersetzungskorpus für Nomina an. In einigen sprachvergleichenden Beiträgen (Meliss, González Ribao) werden zudem auch methodologische Probleme der Vergleichbarkeit von Korpora unterschiedlicher Sprachen adressiert. (iii) In den Artikeln des Bandes wird eine Vielzahl argumentstruktureller Phänomene zum Teil detailliert diskutiert. Dazu gehören die präpositionalen Argumentstrukturkonstruktionen mit vor (z.B. vor Stefan Engelberg, Meike Meliss, Kristel Proost, Edeltraud Winkler 12 Schmerz schreien; Zeschel), die Material-Produkt-Alternanz (Kohle aus Holz machen vs. Holz zu Kohle machen; Winkler), Fortbewegungskonstruktionen (Cuartero Otal, Handwerker), Resultativkonstruktionen (Handwerker, r Welke), die Ditransitivkonstruktion und ihre Alternanten (Proost, González Ribao), gespaltene Stimuluskonstruktionen (z.B. das ärgert sie an ihm; Engelberg), (freie) Dative (Eichinger, r Welke), Pertinenzdative (Domínguez Vázquez, Knobloch), freie Akkusative (Welke), Weglassungsphänomene (Welke, Ágel, Domínguez Vázquez, Franco Barros), Direktivbzw. Direktionalkonstruktionen (Welke, Handwerker), Geruchswahrnehmungskonstruktionen (Meliss), finite versus infinite Komplementierung (Rapp), Passivkonstruktionen (Ágel) sowie nominale und verbale Possessionskonstruktionen (Knobloch). Dazu kommen Beiträge zu Argumentstrukturen bei nicht-nativen Verben (Holler, González Ribao), zu Fokuskonstruktionen (Fischer) und zu idiomatischen Mehrwortverbindungen (Mellado Blanco, Iglesias Iglesias). Neben der Behandlung von verbzentrierten Phänomenen wird in einem Beitrag auch die Valenz von Substantiven behandelt (Mirazo Balsa). Viele Beiträge diskutieren zudem die syntagmatischen Eigenschaften von Verben bestimmter Verbfelder oder Verbklassen wie Empfindungsverben (Domínguez Vázquez), Kreationsverben (Winkler), Geruchsverben (Meliss), Internetkommunikationsverben (González Ribao), Psychverben (Engelberg), Kommunikationsverben, Einstellungsverben, Vorbereitungsverben sowie implikative und assertive Verben (Rapp), mediale Kommunikationsverben und Transportverben (Proost), Verben des Bummelns (Cuartero Otal), des Entführens (Fernández Méndez), des Aufforderns (Egido Vicente), des Lernens (Sánchez Hernández) und des Gebens (Eichinger, r Proost). (iv) Die Valenztheorie ist traditionell stark im Bereich des Fremdspracherwerbs positioniert, auch und gerade in der Auslandsgermanistik (vgl. etwa Ágel/ Fischer 2010; Fischer/ Mollica 2012). Dass die Valenztheorie vor allem in Bezug auf das Deutsche so floriert hat, dürfte zum einen daran liegen, dass das - verglichen etwa mit dem Englischen, Französischen oder Spanischen - komplexere Kasussystem des Deutschen zu vielfältigen, nicht leicht zu lernenden Mustern in der Verbrektion führt. Insofern hatte die Valenztheorie ebenso wie die Valenzlexikografie von jeher den Anspruch, dass ihre Ergebnisse relevant für den DaF-Bereich seien (Rall/ Engel/ Rall 1977 [1985]; Engel 2004). Zum anderen hat es sich als fruchtbar erwiesen, dass die große Anzahl an Einleitung: Argumentstruktur - Valenz - Konstruktionen 13 mono- und bilingualen Valenzwörterbüchern den theoretischen Arbeiten immer eine anwendungsorientierte Perspektive und ein empirisches Korrektiv geliefert haben (vgl. Schierholz 2008). Dennoch ist einzuräumen, dass Ergebnisse der Wörterbuchbenutzungsforschung darauf hindeuten, dass die klassischen Valenzwörterbücher im DaF- Unterricht selbst eher wenig Verwendung gefunden haben (Bräunling 1989; Domínguez Vázquez et al. 2013). Einen nachhaltigeren Niederschlag haben valenzbasierte Informationen in Form von Strukturmustern in einigen einsprachigen Lernerwörterbüchern des Deutschen gefunden (Dentschewa 2006; Meliss 2015). In jüngerer Zeit werden zudem insbesondere im elektronischen Medium neue lexikografische Präsentationsformen für Valenzinformationen gesucht (vgl. etwa Abel 2008; Dziemianko 2006; Meliss 2014). Die Valenztheorie und -lexikografie wird allerdings auch im Bereich des Fremdspracherwerbs durch lerntheoretische Überlegungen der Konstruktionsgrammatik stark herausgefordert; aus diesen Überlegungen entstehen wiederum Vorschläge zur Entwicklung neuartiger Informationssysteme, die grammatische und lexikologische Eigenschaften miteinander verknüpfen (vgl. Handwerker 2008; Handwerker/ Madlener 2009; Holme 2010; Engelberg 2010; Ellis 2013; Boas/ Dux 2013). Auch der vorliegende Band enthält eine Reihe von Beiträgen, die sich mit Fragen des Fremdspracherwerbs und der in diesem Zusammenhang zu erstellenden, zum Teil kontrastiven lexikografischen/ grammatikografischen Sprachdokumentation auseinandersetzen. So sind Valenz- und lernerlexikografische Arbeiten Gegenstand verschiedener Beiträge. Fernández Méndez befasst sich mit lexikografischen Problemen in Bezug auf fremdsprachige Sprachproduktionssituationen, die Beiträge von Egido Vicente, Sánchez Hernández und Meliss sind einer zweisprachigen, wortfeldorientierten Lernerlexikografie gewidmet, Mirazo Balsa präsentiert die Konzeption eines bidirektionalen Online-Substantivvalenzwörterbuchs und Iglesias Iglesias diskutiert Probleme der zweisprachigen Phraseologismenlexikografie. Gegenüber den lexikografisch ausgerichteten Arbeiten präsentiert Handwerker mit ihrem Chunks-und- Konstruktionen-Ansatz eine konstruktionsgrammatische Alternative zum systematischen Erwerb der Syntagmatik von Verben. Die Beiträge des Bandes sind in vier Abschnitten angeordnet: Repräsentationen, Konstruktionen, Felder und Methoden. Kriterium für die Zuordnung der Beiträge zu den Gruppen war entweder der themati- Stefan Engelberg, Meike Meliss, Kristel Proost, Edeltraud Winkler 14 sche Schwerpunkt des Beitrags oder der Ausgangspunkt der Argumentation. Die meisten Beiträge knüpfen natürlich an mehrere dieser Schwerpunkte an, das heißt, sie befassen sich zum Teil gleichzeitig mit Fragen der theoretischen Modellierung und Repräsentation von Argumentstrukturen, analysieren bestimmte Konstruktionen, betrachten das Konstruktionspotenzial bestimmter Wortfelder und/ oder sprechen empirisch-methodische Verfahren an. 2. Repräsentationen Die erste Gruppe von Beiträgen steckt den Rahmen des Bandes hinsichtlich möglicher Modellierungen und Repräsentationen zwischen valenz- und konstruktionsgrammatischen Konzepten ab. Klaus Welke („Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz“) eröffnet die Diskussion. In seinem Beitrag setzt er sich mit der Wechselwirkung von Valenz (Projektion) und Konstruktion auseinander. Er plädiert für die Integration des valenztheoretischen Projektionsprinzips in die Konstruktionsgrammatik und begründet dies damit, dass der konstruktionsgrammatische Ansatz umfassender als der valenztheoretische sei, da er sowohl projizierte als auch nicht-projizierte Konstruktionen erfasse, während der valenztheoretische Ansatz nur projizierte Konstruktionen erfassen könne. Die Einpassung (coercion) von Köpfen (z.B. Verben) in Konstruktionen, die von diesen Köpfen nicht projiziert werden, erfolgt nach Welke regelgeleitet. Für die Einpassung von Verben in die Objektsprädikativkonstruktion gelten laut Welke beispielsweise die semantischen Bedingungen, dass (i) das Verb ein Tätigkeitsverb ist, und (ii) das Prädikativum als Resultatsausdruck interpretierbar ist (z.B. Er macht den Kaffee [heiß] vs. Er trinkt den Kaffee [schnell]/ [heiß]). Als weitere Bedingungen für die Einpassung nennt Welke die rezeptive Bedingung, dass die von der jeweiligen token-Konstruktion bezeichneten Situationen vorstellbar sind, und die pragmatische Bedingung, dass der Hörer der Äußerung aufgrund der Möglichkeit, sich eine entsprechende Situation vorzustellen, Relevanz beimessen kann. Die Konstruktionsgrammatik könne allerdings nicht auf Valenz verzichten, da sie in der Lage sein muss, zu erklären, dass nicht jeder Kopf in jede Konstruktion passt. Vilmos Ágel („Brisante Gegenstände. Zur valenztheoretischen Integrierbarkeit von Konstruktionen“) liefert in seinem Beitrag Vorschläge dafür, wie Valenztheorie und Konstruktionsgrammatik zu integrieren Einleitung: Argumentstruktur - Valenz - Konstruktionen 15 sind. Antworten auf diese Frage sollen aus der Analyse von Daten gewonnen werden, die für beide Theorien mehr oder weniger Desiderate bzw. Gegenstände darstellen, die sich einer einfachen Analyse zunächst widersetzen. Ágels Überlegungen bewegen sich im Rahmen des Konzepts der Grammatischen Textanalyse (Ágel i.Vorb.). Unter Rückgriff auf die Merkmalspaare ‘Statik/ Dynamik’ und ‘Routine/ Kreativität’ ergeben sich unterschiedliche Typen von Valenzrealisierungsmustern. Auf der Grundlage dieser Typologie werden bevorzugte und problematische Gegenstände für beide Theorieansätze unterschieden und drei für die Valenztheorie brisante Gegenstände, nämlich Kontamination (sie ist ihm dazwischen gestorben aus sie ist gestorben und etwas ist ihm dazwischen gekommen), Substitution (er redet um sein Leben analog zu er bittet um sein Leben) und Umdistribution (an der Ostfront/ Westfront sterben zu an etwas sterben), eingehender untersucht. Ergänzend werden noch Fälle von systemerzeugender Reduktion (das Ruhrgebiet fördert wieder) sowie verschiedene Passivstrukturen untersucht, an deren Analyse der Wert der Unterscheidung von konstruktioneller und kategorialer Valenzdynamik demonstriert wird. Im Ergebnis seiner Untersuchungen führt Ágel syntaktische und semiotische Argumente dafür an, wie eine Integration von Valenztheorie und Konstruktionsgrammatik aussehen kann. Unter dem Primat der Valenztheorie werden Konstruktionen hier als Funktionen über statischen Valenzen aufgefasst. Ludwig M. Eichinger plädiert in seinem Aufsatz („Kookkurrenz und Dependenz. Konkurrierende Prinzipien oder einander ergänzende Beobachtungen? “) für eine minimalistische Auffassung von Valenz. Zur Valenz gehört demnach die Ebene der strukturellen Minima und der generellen semantischen Rollenzuweisungen. Eichinger zeigt, dass das in der Valenzlexikografie gelegentlich praktizierte Verfahren, bei dem Bestimmungen, die nicht offensichtlich vom Verb regiert sind wie z.B. die beiden Komplemente in Er winkt [ihm] [mit einem Umschlag], als fakultative Ergänzungen beschrieben werden, zu einer großen Vervielfältigung der Lesarten der betreffenden Verben führt. Aus diesem Grund involviert er bei Fällen dieser Art präformierte Fügungen, in denen die Argumentstrukturmuster semantisch modifiziert werden können. Im Hinblick auf eine Beschreibung der Verwendung des Dativs argumentiert Eichinger, dass diese sich nur dann angemessen über Valenzbindung erklären lässt, wenn das Dativobjekt mit Verben eines ganz bestimmten semantischen Typs, nämlich mit geben- und nehmen- Stefan Engelberg, Meike Meliss, Kristel Proost, Edeltraud Winkler 16 Verben im engeren Sinn, auftritt, da die Bedeutung dieser Verben und die semantische Rolle des Dativkomplements (Zuwendung zur betroffenen Person) sich gegenseitig evozieren würden. Bei anderen Verben wie etwa anbieten, bei denen das Dativkomplement fakultativ ist, sei es vielmehr die Konstellation der durch Kasus angebundenen Elemente, die es erlaube, bestimmte Handlungen mit Bezug auf Personen zu verstehen, wobei bestimmte lexikalische Besetzungen der regierten Akkusative solche Lesarten nahelegen würden (z.B. Manuskript, das in Verbindung mit anbieten ein Dativkomplement wie dem Verlag nahelegt). Für die Beschreibung solcher Fälle sei daher eine Methodik notwendig, die auf die Systematisierung von Kookkurrenzen zielt. In Bezug auf generelle Verben wie geben stellt Eichinger fest, dass deren strukturell zentrale (rektionale) Valenzmuster in der Verwendung in modernen schriftsprachlichen Kontexten eher eine untergeordnete Rolle spielen. Der generelle Charakter dieser Verben werde vielmehr dazu genutzt, paradigmatisch-syntagmatische Muster zu bilden, in denen das denkbare Dativargument in den Hintergrund tritt (z.B. bekannt geben, Auskunft geben, den Ausschlag geben usw.). Die beiden folgenden Beiträge befassen sich mit der Repräsentation von Konstruktionen. In dem Beitrag von María José Domínguez Vázquez („Die Form und die Bedeutung der Konstruktion bei der hierarchischen Vernetzung, Verlinkung und Vererbung. Vorschlag zu einem Konstruktionsnetz“) stehen dabei Fragen der Beziehungen von Konstruktionen zueinander im Vordergrund. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sind die vielfältigen Konstruktionsmöglichkeiten, die Verben zum Ausdruck der Empfindung aufweisen: mich juckt es, mich juckt es am Arm, mir juckt der Arm, mir juckt es am Arm etc. Domínguez Vázquez setzt sich an Hand solcher Beispiele mit Fragen der Identität von Konstruktionen, ihrer Polysemie/ Homonymie, ihrer Fusionierung und ihrer Vernetzung auseinander. Dabei zeigt sie, dass eine Reihe von Phänomenen, die schon in der klassischen Valenztheorie diskutiert wurden, wie etwa Pertinenzdative, Expletiva oder fakultative Argumente, durchaus problematisch bezüglich ihrer Einbindung in Konstruktionen sind. Ihre Überlegungen resultieren in einem Vorschlag für ein Konstruktionsnetzwerk, in dem Konstruktionen nicht primär durch eine Form definiert sind, der verschiedene semantisch verwandte Bedeutungen zugeordnet werden (etwa im Sinne von Goldbergs konstruktionaler Polysemie), sondern in dem Konstruktionen („Meso- Einleitung: Argumentstruktur - Valenz - Konstruktionen 17 konstruktionen“) durch eine argumentstrukturelle Bedeutungseinheit charakterisiert sind und jeweils mit einer Reihe formaler Ausdrucksmöglichkeiten („Mikrokonstruktionen“) einhergehen. Der Beitrag von Brigitte Handwerker („Konstruktionen im L2-Lernformat. Orts- und Zustandsveränderungen in der Rezeption und Produktion des Deutschen als Fremdsprache“) befasst sich mit der Frage, wie konstruktionsgrammatische Konzepte für den L2-Erwerb genutzt werden können. Handwerkers lerntheoretischer Ansatz verbindet Chunks als holistisch verarbeitete Ausdruckssequenzen mit einer konstruktionsgrammatischen Verallgemeinerung über diese Chunks. Illustriert wird dies am Beispiel direktionaler und resultativer Argumentstrukturen im Bereich der Orts- und Zustandsveränderungen. Die Chunks als Einheiten der Memorierung befördern dabei den induktiven Erwerb grammatischen Wissens und die Abstraktion darüber, die dann wiederum in den zur Instruktion dienenden Konstruktionsbeschreibungen explizit gemacht wird. Handwerker bietet eine lerntheoretische Begründung ihres Ansatzes, in dem Rezeptionsvorgänge des Lerners durch die Vermittlung von abstraktem Konstruktionswissen und erwartbaren lexikalischen Füllungen unterstützt werden, während für Produktionszwecke lexikalische Bedeutungen, Valenzen, Frames und Szenarien verfügbar gemacht werden. Abschließend geht sie im Rahmen einer Akzeptabilitätsstudie der Frage nach, inwiefern die über Akzeptabilitätsurteile von Muttersprachlern erhobene negative Evidenz für die Kombinierbarkeit von Verben mit Argumentstrukturkonstruktionen für Lernerzwecke nutzbar gemacht werden kann. 3. Konstruktionen Eine Reihe von Beiträgen geht die theoretische Kontroverse des Bandes auf der Basis einer eingehenden Analyse einer bestimmten Konstruktion an. Gegenstand des Beitrags von Kristel Proost („Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung oder beides? Zur Bedeutung deutscher Ditransitivstrukturen und ihrer präpositionalen Varianten“) ist die Ditransitivkonstruktion im Verhältnis zu ihren präpositionalen Varianten (jemandem etwas schicken (( versus etwas an jemanden/ zu jemandem schicken) und die Frage, wie die subtilen Bedeutungsunterschiede zustande kommen, die zwischen den beiden Varianten häufig zu beobachten sind. In der Forschungsgeschichte zu dem Phänomen werden Stefan Engelberg, Meike Meliss, Kristel Proost, Edeltraud Winkler 18 zwei Bedeutungen diskutiert, die eines verursachten Besitzwechsels und die einer verursachten Bewegung. Die vorgeschlagenen Erklärungen zum Zustandekommen der Bedeutung fokussieren entweder auf die Konstruktionsbedeutung oder auf die Verbbedeutung. Erstere knüpfen die Besitzwechsellesart an die NP-NP-Variante und die Bewegungslesart an die NP-PP-Variante. Letztere machen im Wesentlichen die Verbsemantik für das Zustandekommen der einen oder der anderen Lesart verantwortlich. Proost zeigt, dass schon die Erfassung der jeweils vorliegenden Satzbedeutung oft sehr ungenau ist. Ein genauerer Blick auf die Bedeutung der Konstruktion, auf die Verbsemantik, die verschiedenen alternierenden Präpositionen und die lexikalische Füllung des Transferzielarguments lässt Proost zu dem Schluss kommen, dass ein auf die Verbbedeutung zielender Ansatz verbunden mit der lexikalischen Belegung der in der PP enthaltenen NP (belebt/ unbelebt) den größten Teil der Phänomene erklären kann. Dennoch zeigen sich - vor allem im Bereich der NP-NP-Muster mit Transportverben und medialen Kommunikationsverben - auch konstruktionale Bedeutungseffekte. Der Beitrag von Irene Rapp („Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen. Fragen, Fakten und Faktoren“) handelt von der Distribution infiniter Komplementsätze im Deutschen. Da zu-Infinitive keine flexivische Spezifizierung im Hinblick auf Tempus, Modus, Person und Numerus aufweisen, geht Rapp davon aus, dass sie umso adäquater sind, je eindeutiger das übergeordnete Prädikat eine bestimmte Ausrichtung in Bezug auf Tempus, Modus und Kontrolleigenschaften vorgibt. Um zu überprüfen, welche Verben in Bezug auf diese Faktoren eindeutig spezifiziert sind, unterscheidet Rapp zunächst zwischen Verben der Einflussnahme und assertiven Verben: während der eingebettete Sachverhalt bei ersteren zur Disposition steht, wird er bei letzteren nur beschrieben. Anschließend zeigt Rapp anhand verschiedener Tests, dass Verben der Einflussnahme sowohl temporal als auch in Bezug auf ihre Kontrolleigenschaften eindeutig ausgerichtet sind und Modusvarianz sich nur bei den Kommissiva und Direktiva zeigt. Sie prognostiziert daher, dass sich Verben der Einflussnahme besonders für eine Verbindung mit zu-Infinitiven eignen. Assertiva verhalten sich uneinheitlich in Bezug auf die Faktoren Tempus, Modus und Kontrolleigenschaften: während Assertiva wie gestehen in Bezug auf die drei Faktoren spezifiziert sind, sind solche wie Einleitung: Argumentstruktur - Valenz - Konstruktionen 19 sagen in Bezug auf keinen der drei Faktoren spezifiziert. Rapps Prognose lautet dementsprechend, dass erstere zu-Infinitive anziehen, während letztere sie zu vermeiden suchen. Gegenstand des Aufsatzes von Edeltraud Winkler („Die beiden Varianten der Material-Produkt-Alternanz im Deutschen“) ist die Material-Produkt-Alternanz, wie sie sich in den beiden Sätzen sie machen Kohle aus Holz (Variante 1) und sie machen Holz zu Kohle (Variante 2) manifestiert. In einer korpusbasierten Untersuchung zeigt sich, dass die beiden Varianten zwar an die gleiche Verbklasse gebunden sind - und zwar an Kreationsverben, insbesondere Verben des Umbildens und Umformens - dass die Verben innerhalb dieser Klasse aber deutlich unterschiedliche Affinitäten zu der einen oder der anderen Variante zeigen. Insgesamt ist die erste Variante variabler. Sie tritt nicht nur mit mehr verschiedenen Verben auf, sondern weist auch präpositionale Alternanz zwischen aus, mit und von auf. Die Untersuchung ergibt zudem Belege für verschiedene mit dem Kernphänomen verwandte Argumentstrukturkonstruktionen: intransitive Material-Produkt-Konstruktionen (etwas entsteht aus Wolle), reine Materialkonstruktionen (etwas besteht aus Altpapier) und Konstruktionen, die ausdrücken, dass etwas durch das Entfernen von etwas hergestellt wird (etwas aus etwas heraussägen). Die gefundenen Phänomene geben Anlass für eine Repräsentation von Argumentstrukturkonstruktionen in einem Netz von Familienähnlichkeiten. Die zwei folgenden Beiträge befassen sich mit Phrasemkonstruktionen, der erste vor allem mit deren Varianz, der zweite mit deren lexikografischer Erfassung. Carmen Mellado Blanco („Phrasem-Konstruktionen und lexikalische Idiom-Varianten. Der Fall der komparativen Phraseme des Deutschen“) zeigt am Beispiel des Idioms von etwas so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag und seiner lexikalischen Varianten (z.B. von etwas so viel verstehen wie die Kuh vom Radfahren/ Brezelbacken), dass sich zumindest bei einigen vermeintlich festen phraseologischen Vergleichen Anzeichen für Produktivität und Serienhaftigkeit feststellen lassen. Diese Beobachtung steht im Widerspruch zu der traditionellen Auffassung von festen Vergleichen als lexikalisch vollspezifizierten Phraseologismen und rückt sie näher an die Gruppe der als Phraseoschablonen oder Phrasemkonstruktionen bekannten Phänomene heran, womit diejenigen Phraseme gemeint sind, deren Bedeutung unabhängig von ihren lexikalischen Füllungen durch eine feste Modellbedeu- Stefan Engelberg, Meike Meliss, Kristel Proost, Edeltraud Winkler 20 tung geprägt ist. Phraseologische Vergleiche, die zunächst noch fest sind, können sich nach Mellado Blanco dadurch zu komparativen Phrasem-Konstruktionen entwickeln, dass zu dem lexikalisch vollspezifizierten Ausgangsphrasem lexikalische Varianten gebildet werden, aus denen sich unter besonderen Voraussetzungen wiederum teilspezifizierte Konstruktionen entwickeln können (z.B. zu dem vollspezifizierten Phrasem von etwas so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag eine Variante mit Kuh als fester Komponente sowie eine Variante, bei der anstelle von Kuh eine beliebige Tierbezeichnung auftreten kann). Nely M. Iglesias Iglesias („Konstruktionsgrammatik als Weg zur lexikografischen Erfassung und Bearbeitung von Phraseologismen in zweisprachigen Wörterbüchern. Eine Spurensuche“) stellt in ihrem Beitrag fest, dass die Erfassung und Bearbeitung von Phraseologismen in allgemeinen ein- und zweisprachigen Wörterbüchern weiterhin eine untergeordnete Rolle spiele, und sie reflektiert, ob ein konstruktionsgrammatisch orientierter Ansatz diesen Defiziten entgegen treten könne. Im Mittelpunkt stehen dabei Überlegungen zu einer verständlichen und benutzerfreundlichen Umsetzung der Erkenntnisse in anwendungsorientierten Disziplinen. Anhand von Beispielen aus der Idiomatik Deutsch-Spanisch von Schemann et al. (2013), in deren phraseografischer Bearbeitung der situativ-kontextuelle, funktionelle Sprachgebrauch im Vordergrund steht, zeigt sie Möglichkeiten auf, ein gemeinsames konstruktionsgrammatisches Grundgerüst für ausgangssprachliche Phraseologismen des Deutschen sowie auch für die entsprechenden zielsprachlichen spanischen Äquivalente zu modellieren. Den Gegenstand des Beitrages von Clemens Knobloch („Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen“) bildet die Argumentbeziehung der Possession und insbesondere die Possessorrealisierung. Knobloch argumentiert, dass sich die Verhältnisse im Bereich der attributiven Possession weder valenznoch konstruktionsgrammatisch befriedigend beschreiben und erklären lassen. Dazu betrachtet er die verschiedenen Formen der attributiven Possession und stellt die zentrale Rolle des Genitivs für die Possession heraus, denn die possessive Genitivkonstruktion ist auf Grund ihres hohen Grammatikalisierungsgrades aus den anderen Konstruktionsbedeutungen des Genitivs herausgehoben und bildet die größte und produktivste Gruppe. Knobloch geht der Frage nach, wie possessive Genitivkonstruktionen von anderen Konstruktionen abzugrenzen sind. Sie stehen einerseits im Paradigma Einleitung: Argumentstruktur - Valenz - Konstruktionen 21 funktional unterschiedlicher adnominaler Genitiva, andererseits gehören sie zu einer Gruppe formal extrem unterschiedlicher Possessivkonstruktionen wie unter anderem Possessivpronomina, Pertinenzdative, und haben-Konstruktionen. Knobloch zeigt, dass sich Possession weder als Familie ausdrucksseitig verwandter Konstruktionen darstellen lässt noch als reines Valenzphänomen. Denn beide Theorien können den inneren Zusammenhang possessiver Verhältnisse, wie ihn Knobloch an unterschiedlichen Fällen erläutert, nicht adäquat erfassen. Klaus Fischer beschäftigt sich in seinem Beitrag („Zwischen Valenz und Konstruktion. Argumente im Fokus“) mit Fokuskonstruktionen. Fischer zeigt zum einen, dass Kontrastfokus in Korrektursituationen einen Effekt auf die Valenz des Prädikats hat. Solche Korrektursituationen liegen etwa vor beim Äußern eines Satzes wie Nein, sie trinkt Tee als Korrektur der Assertion Sie trinkt Kaffee, wenn diese eine Antwort ist auf eine Frage wie Was macht Susanne? Der Effekt auf die Valenz zeige sich nach Fischer darin, dass Kontrastfokus in Korrektursituationen die Füllung der Leerstelle auf konkrete positive Werte einschränkt. Die Kontrastfokuskonstruktion führe unter Rückgriff auf die normale Argumentstruktur des Prädikats eine zweite, zweistellige Prädikation ein. Aus der normalen Argumentstruktur [P(A 1 , …, A n )] wird das kontrastfokussierte Element herausgenommen. Der offene Satz, der dadurch entsteht, wird zum ersten Argument des neuen Prädikats ‘Kontrastfokus’; das zweite Argument dieses neuen Prädikats ist die Zuordnung des kontrastfokussierten Elements als Wert für die Variable im ersten Argument [KF(P(A 1 , ..., X, ... A n ), X=A)]. Zum anderen zeigt Fischer, dass enger Fokus, Kontrast und Präsupposition oft zusammen auftreten, obwohl es sowohl engen Fokus ohne prototypischen Kontrast - z.B. den Fokus auf einen in [EINen] für [MAma], [EI- Nen] für [PApa] ... - als auch Kontrast ohne Präsupposition - z.B. den Fokus auf Mama und Papa im selben Beispiel - gebe. Aus diesem Grund biete sich der Hervorhebungsakzent für die Valenztheorie als (polysemer) Valenzträger für Kontrastfokus an. Eine projektive Beschreibung von Fokuskonstruktionen müsse aber mit einer sehr allgemeinen Konstruktionsbedeutung (Hervorhebung) einhergehen oder sich auf prototypische Zuordnungen von Akzent und Konstruktion sowie auf konstruktionelle Polysemie gründen. Das fokussierte Argument fülle sowohl eine Stelle des lexematischen Valenzträgers als auch eine in der Fokuskonstruktion. Stefan Engelberg, Meike Meliss, Kristel Proost, Edeltraud Winkler 22 4. Felder Eine Gruppe von Beiträgen des Bandes untersucht jeweils ein verbales Wortfeld hinsichtlich der syntagmatischen Eigenschaften der darin auftretenden Verben. Juan Cuartero Otal („Bummel-Verben: Probleme bei der Beschreibung ihres Kombinationspotenzials“) befasst sich in seinem Beitrag mit der Kombinatorik der kleinen Gruppe der ‘ Bummel-Verben’. Dies sind Verben der Eigenfortbewegung, die eine eher ziellose Art der Fortbewegung bezeichnen, wie bummeln, flanieren oder schlendern. Dabei geht er der Frage nach, ob das Kombinationspotenzial der Verben in den einzelnen Lexikoneinträgen der Verben (aus valenzgrammatischer Sicht) oder als semantischer Beitrag einer Konstruktion (aus konstruktionsgrammatischer Sicht) zu verorten ist. Cuartero Otal beobachtet, dass sich die deutschen ‘ Bummel-Verben’ sehr einheitlich verhalten, was allerdings nicht mehr zutrifft, wenn man die dazugehörigen Partikelverben mit in die Betrachtung einbezieht. Er kommt daher zu dem Schluss, dass es notwendig scheint, die lizenzierten Komplemente jedes einzelnen Verbs aufzulisten. Ein solcher lexikalistischer Ansatz sei auch für sprachvergleichende Betrachtungen von Vorteil, weil beispielsweise für spanische und französische Fortbewegungsverben, deren kombinatorisches Verhalten viel inhomogener ist als das der deutschen Verben, ein konstruktionsgrammatischer Ansatz weit weniger beschreibungsadäquat ist. Der Beitrag von Meike Meliss („Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen. Eine korpusbasierte Studie deutscher und spanischer „Geruchsverben“ im Kontrast“) befasst sich mit Fragen der Regelhaftigkeit und Idiosynkrasie in Argumentstrukturen von Geruchsverben unter dem Gesichtspunkt situationsadäquater Sprachproduktion und -rezeption im Umfeld von Deutsch und Spanisch als Fremdsprachen. Die untersuchten „Geruchswahrnehmungsverben“ (z.B. riechen1, schnüffeln, wittern) und „Geruchssinnesempfindungsverben“ (z.B. riechen2, duften, stinken) werden dabei in verschiedenen argumentstrukturell bestimmten Szenarien betrachtet. Diese Szenarien fokussieren entweder auf die Geruchsemission, die Funktion von Gerüchen als Stimuli oder auf das olfaktorische Wahrnehmen. Zu den einschlägigen Verben in letzterem Szenario unternimmt Meliss für beide Sprachen quantitative Verbprofilanalysen, die zeigen, welche Präferenzen Verben für die Realisierung der involvierten Argumente haben. Dies erlaubt schließlich eine detaillierte Subklassifizierung der Geruchswahrnehmungsverben hinsicht- Einleitung: Argumentstruktur - Valenz - Konstruktionen 23 lich ihrer Präferenz für bestimmte Argumentstrukturrealisierungen innerhalb des betrachteten Szenarios, und es werden kontrastiv relevante Besonderheiten aufgedeckt. Meliss versteht ihren Beitrag daher auch als Plädoyer für konzeptuell orientierte lexiko-grammatische Informationssysteme, die es erlauben, auch solche Phänomene im Argumentstrukturbereich in systematischer Form abzubilden, die in Valenzwörterbüchern oft keinen Platz finden. Vanessa González Ribao („Das lexikosemantische Paradigma der neuen medialen Kommunikationsverben im Sprachvergleich (Spanisch-Englisch-Deutsch) unter dem Blickwinkel der Argumentstruktur“) widmet sich in ihrem Aufsatz der Frage, in welche Klassen sich neologistische internet-mediale Kommunikationsverben des Deutschen, Englischen und Spanischen aufgrund der Realisierung ihrer Argumentstruktur einordnen lassen. Sie erhebt dazu zu sieben Verben (bloggen, chatten, facebooken, mailen, posten, skypen, twittern und deren englischen und spanischen Äquivalenten) Belegstichproben aus großen Webkorpora, die sie hinsichtlich der Optionen zur formalen Realisierung der sechs Rollen kommunizierende person , ansprechpartner , r mitteilung , ziel (unbelebter Empfänger, Adresse, Ort), ort (Plattform im Internet) und topik untersucht. Die multiplen Verwendungsmöglichkeiten der internetbezogenen Kommunikationsverben verlangen dabei nach einer Erweiterung der für Kommunikationsverben üblichen Typologie. González Ribao zeigt, dass die untersuchten Verben in unterschiedlichem Maße zur Referenz auf drei Situationstypen neigen und entsprechend klassifiziert werden können: (i) Kontaktaufnahme und Interaktion, (ii) Transfer von Informationen und (iii) Veröffentlichen und Annoncieren. In dem Beitrag von Manuel Fernández Méndez („Argumentstrukturmuster und valenzgrammatisch orientierte Information im deutschspanischen Kontrast. Exemplarische Analyse der Lexikalisierungsmöglichkeiten des Konzepts entfÜhren “) wird am Beispiel einiger Verben zur Lexikalisierung des Konzepts entfÜhren aufgezeigt, dass die herkömmlichen zweisprachigen Wörterbücher im deutsch-spanischen Kontext nicht genügend Informationen für die Produktionssituation in der jeweiligen Fremdsprache anbieten, was zu Fehlern bei der Auswahl und der Anwendung im zweisprachigen Lernerkontext führt. Anhand einer exemplarisch durchgeführten Analyse zu dem Argumentstrukturmusterpotenzial, den morphosyntaktischen Argumentrealisierungs- Stefan Engelberg, Meike Meliss, Kristel Proost, Edeltraud Winkler 24 möglichkeiten und empirisch gewonnenen Frequenzdaten von entführen und secuestrar wird aufgezeigt, dass trotz eines gemeinsamen konzeptuellen und szenischen Bezugsrahmens bedeutungsähnlicher Lexeme interlinguale Divergenzen vorliegen, die morphosyntaktische und semantische Distributionsbeschränkungen bezüglich der Argumentrealisierungsmöglichkeiten offenbaren. Der Autor spricht sich daher für die explizitere lexikografische Behandlung kontrastiv relevanter Aspekte im Bereich der fremdsprachigen Verbalkombinatorik aus. María Egido Vicente („Das konzeptuelle Feld der autoritätsbeziehungen aus kontrastiver Sicht. Eine korpusbasierte Studie des Deutschen und Spanischen“) beschreibt in ihrem Beitrag das Argumentstrukturpotenzial sowie die Argumentrealisierungsmöglichkeiten des Verbs befehlen als repräsentativem Verballexem des Feldes der Verben des Aufforderns und vergleicht die empirisch belegten Ergebnisse mit möglichen Äquivalenten aus dem entsprechenden konzeptuellen Feld für das Spanische. Im Mittelpunkt der exemplarisch angelegten Analyse stehen die syntaktische und semantische Valenzinformation und die mögliche Komplementsatzrealisierung. Aus den aufgezeigten Divergenzen zwischen beiden Sprachen leitet die Autorin die Notwendigkeit ab, verstärkt empirisch abgesicherte, korpusbasierte Studien für beide Sprachen zu erstellen, aus denen umfangreiche kontrastiv relevante Daten gewonnen werden können, die als Grundlage für eine intensivere Berücksichtigung syntagmatischer Information in ein- und zweisprachigen Wörterbüchern für den DaF- und ELE-Benutzer dienen können. Paloma Sánchez Hernández („Überlegungen zu der syntagmatischen Information einiger Verben des Teilparadigmas lernen im deutschspanischen Vergleich“) befasst sich aus kontrastiver Perspektive mit einigen inhalts- und ausdrucksorientierten Fragestellungen im Umfeld von Argumentstrukturen, Argumentrealisierungen und Satzbauplänen. Exemplarisch untersucht sie aus interlingualer Perspektive das Kombinationsverhalten der Lesarten lernen3 und aprender3, die einem Teilparadigma des Feldes kognition zugeordnet werden können. Die empirisch angelegte Studie zu verschiedenen Beschreibungsparametern zeigt neben quantitativen und qualitativen Unterschieden bezüglich der Argumentstrukturen und Argumentrealisierungen des ausgewählten Lexempaares u.a. auf, dass ein Lexem mit einem valenzgrammatisch definierten Satzbauplan auf unterschiedliche Szenarien Einleitung: Argumentstruktur - Valenz - Konstruktionen 25 und damit auf unterschiedliche Bedeutungen referieren kann. Somit erweist sich ein valenztheoretischer Ansatz allein nicht als ausreichend, um interlinguale Divergenzen des verbalen Kombinationspotenzials zu beschreiben. Die Autorin vertritt daher ein multidimensionales Beschreibungsmodell, welches im Rahmen des Forschungsprojekts DICONALE (Meliss 2014) für die bilaterale Beschreibung ausgewählter verbaler Paradigmen entwickelt wurde und welches über konzeptuell- und szenenspezifische Bezugsrahmen, die als tertium comparationis dienen, Elemente eines lexikalischen Paradigmas gegenüberstellen und kontrastieren kann. 5. Methoden In der vierten Gruppe von Aufsätzen befinden sich solche Beiträge, an denen die Relevanz empirischen, korpuslinguistischen Arbeitens deutlich wird und in denen die Entwicklung neuer empirischer Methoden vorgestellt wird. Zunächst thematisiert Anke Holler („Grammatik und Integration. Wie fremd ist die Argumentstruktur nicht-nativer Verben? “) in ihrem Beitrag die Integration nicht-nativer Verben in das Sprachsystem des Gegenwartsdeutschen. Anhand argumentstruktureller Unterschiede zwischen nativen und nicht-nativen Verben sollen einerseits syntaktische und semantische Eigenschaften nicht-nativer Verben genauer beschrieben sowie andererseits die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Theoriebildung diskutiert werden. Die Studie zeigt, wie stichprobenbasierte, hypothesengesteuerte Korpusuntersuchungen zu Generalisierungen über die Verteilung von Argumentstrukturen führen. Die Datengrundlage für die Untersuchung bildet eine korpusbasierte Pilotstudie, bei der für 40 suffigierte und nicht-suffigierte nicht-native Verben jeweils 20 Belege systematisch argumentstrukturell annotiert und analysiert werden. Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen eine der eingangs aufgestellten möglichen Hypothesen, nämlich die, dass nicht-native Verben bezüglich ihrer Argumentstruktur lediglich partiell in die Kerngrammatik des Deutschen integriert sind. Nicht-native Verben unterscheiden sich sowohl in der Kasushierarchie als auch in der Hierarchie der semantischen Rollen systematisch von nativen Verben. So ist der Dativ bei nicht-nativen Verben unterrepräsentiert, stattdessen ist eine Präferenz von Präpositionalkasus feststellbar. Die semantischen Rollen rezipient und benefaktiv kommen bei nicht-nativen Verben deutlich seltener vor als bei Stefan Engelberg, Meike Meliss, Kristel Proost, Edeltraud Winkler 26 nativen. Sowohl für die unterschiedlichen Kasushierarchien als auch für die Unterschiede beim Inventar der semantischen Rollen gibt es verschiedene Erklärungsmöglichkeiten. Es zeigen sich aber Evidenzen dafür, dass der Integrationsprozess nicht-nativer Verben bidirektional bzw. symmetrisch verläuft, d.h. dass grammatische Eigenschaften und Restriktionen der Geber- und der Nehmersprache interagieren. Der Beitrag von Mario Franco Barros („Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien“) illustriert, wie stark argumentstrukturelle Besonderheiten von der Wahl der Korpusgrundlage abhängen. Franco Barros beschäftigt sich vor allem mit Ellipsen als Nähemerkmal privater E-Mail-Kommunikation. Zugrunde gelegt wird eine Auffassung von Ellipsen, die diese zum einen aus pragmatischer, zum anderen aus syntaktischer Perspektive in den Blick nimmt. Dazu werden einzelne Nähemerkmale, wie Adjazenzstrukturen/ -ellipsen, aggregative Strukturen oder Topik-Ellipsen, an einem Korpus von privaten E-Mails untersucht. Die Ergebnisse der Analysen von Franco Barros stützen seine Hypothese, dass die (private) E-Mail-Kommunikation in ihrer Tendenz eher nähesprachlich ist. Das lässt sich unter anderem ablesen an der hohen Frequenz von Topik-Ellipsen und Adjazenzstrukturen, wie Frage-Antwort-Sequenzen, im untersuchten Korpus. Die E-Mails kommen einem turn in der gesprochenen Face-toface-Kommunikation sehr nahe, was nach Ansicht von Franco Barros auch eine Folge der spezifischen pragmatischen und technischen Bedingungen der Neuen Medien ist. Die Ergebnisse des Beitrages zeigen, dass in der Diskussion um valenzoder/ und konstruktionsgrammatische Beschreibungsansätze Merkmale der geschriebenen und gesprochenen Sprache differenzierter mitberücksichtigt werden sollten. Der methodische Zusammenhang zwischen Lexikografie und der Erstellung zweisprachiger Korpora steht im Zentrum des Beitrags von Monica Mirazo Balsa („Zu Konzeption und Aufbau eines kontrastiven Substantivvalenzwörterbuches am Beispiel des Forschungsprojektes CSVEA “). Sie stellt in ihrem Aufsatz das Forschungsprojekt CSVEA vor, dessen Hauptziel die Erstellung eines annotierten spanisch-deutschen kontrastiven Korpus und eines bidirektionalen Online-Valenzwörterbuchs der 200 am häufigsten vorkommenden Substantive des Sprachenpaares ist. Ein kurzer Überblick über die existierende ein- und zweisprachige Valenzlexikografie verweist auf eine Lücke im Bereich der Substantivvalenz, die das geplante Wörterbuch beheben will. Einleitung: Argumentstruktur - Valenz - Konstruktionen 27 Neben den methodologischen Grundlagen werden die fünf Beschreibungsmodule des geplanten semasiologisch konzipierten Wörterbuches exemplarisch an dem spanischen Substantiv amor dargestellt. Die Beschreibung der syntaktischen und semantischen Valenzeigenschaften, die schon in einem vorausgehenden Pilotprojekt für Verben DCVVEA (Domínguez Vázquez et al. 2008) entwickelt wurde, steht dabei im Vordergrund des Informationsangebotes. Die letzten beiden Beiträge befassen sich in unterschiedlicher Weise mit dem Problem, wie angesichts gegebener korpuslinguistischer Zugriffsmöglichkeiten auf sprachliche Strukturen konkrete Realisierungen von Argumentstrukturkonstruktionen in Korpora aufgespürt werden können. Die Arbeit von Arne Zeschel („Semiautomatische Identifikation von Argumentstrukturkonstruktionen in großen Korpora“) beschäftigt sich dabei mit der Frage, wie sich die eigenständigen Instanzen und Varianten einer angenommenen Konstruktion in einem nicht eigens dafür ausgezeichneten Korpus exhaustiv ermitteln lassen. Anhand von Varianten der mit der Präposition vor gebildeten „Zielkonstruktion“ - illustriert durch Beispiele wie er schreit vor Schmerz, sie strotz vor Selbstbewusstsein, das Gelände schwirrt vor Schulklassen - stellt er eine datengeleitete Methode zur möglichst vorannahmenfreien und exhaustiven Identifikation der Instanzen einer gegebenen Konstruktion in großen Korpora vor. Zeschel entwickelt ein Verfahren, durch das eine Stichprobe von 1 Mio. Belegen, die die Präposition vor enthalten, sukzessive und weitgehend automatisch um nicht einschlägige Belege auf 5% der Ausgangsmenge reduziert wird. Aus der verbleibenden Belegmenge kann nun eine Vielzahl von Phänomenen ans Tageslicht gebracht werden, die Übergänge zwischen den verschiedenen Varianten des Musters instantiieren, ebenso wie Phänomene, die außerhalb des schematischen Musters liegen, zu diesem aber in enger semantischer Beziehung stehen. So ergibt sich ein empirisch deutlich differenziertes Bild der „Zielkonstruktion“, ihrer Varianten, der darin auftretenden Verben und der semantisch verwandten Nachbarkonstruktionen. Stefan Engelberg („Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben. Kombinatorische Mustersuchen in Korpora zur Ermittlung von Argumentstrukturverteilungen“) stellt in seinem Beitrag zur quantitativen Verteilung der Argumentstrukturen von Psych-Verben zunächst zwei Methoden zur Erhebung entsprechender Daten vor. Mit der Erstellung und anschließenden statistischen Auswertung von Verbprofilen wird die Stefan Engelberg, Meike Meliss, Kristel Proost, Edeltraud Winkler 28 Häufigkeit von jedem mit einem bestimmten Verb auftretenden Argumentrealisierungsmuster auf der Basis einer Korpusstichprobe erfasst. Bei der kombinatorischen Mustersuche wird eine für das jeweilige Argumentstrukturmuster typische syntagmatische Struktur, z.B. eine Abfolge wie [fasziniert [[ / faszinierte / ihn/ mich/ uns/ euch ... an] für Muster mit einem Psych-Verb und einem gespaltenen Stimulus mit einer durch an eingeleiteten PP (z.B. das faszinierte uns an der Sache), in eine Korpusabfrage übersetzt, die für unterschiedliche Verben und über das ganze Korpus hinweg durchgeführt wird. Das Verfahren erlaubt es, eine größere Menge an Verben und Belegen für ein Argumentstrukturmuster zu ermitteln, als dies mit gleichem Aufwand über detaillierte Verbprofilanalysen möglich ist. Im Anschluss an die beiden Erhebungsverfahren kommen zwei Indices zur Interpretation der erhobenen Daten zur Anwendung: Der Auftretensindex misst, wie oft ein Verb verglichen mit anderen Verben in dem Argumentstrukturmuster vorkommt; der Erwartbarkeitsindex zeigt, wie sehr das angesichts der allgemeinen Häufigkeit des Verbs zu erwarten war. In den beobachteten Verteilungen - wenige häufig mit einem Muster auftretende Lexeme und viele selten mit dem Muster auftretende Lexeme - zeigt sich nach Engelberg das Spannungsverhältnis zwischen den Erfordernissen nach kognitiver Einfachheit einerseits und kreativer Sprachverwendung andererseits. * * * Der Band ist im Zusammenhang mit einer bilateralen Wissenschaftskooperation zwischen dem Institut für Deutsche Sprache und der Germanistischen Abteilung der Universität Santiago de Compostela zum Thema „Argumentstrukturen zwischen Valenz und Konstruktionen: Empirie - Theorie - Anwendung“ entstanden. 1 Die Kooperation beinhaltete eine Tagung gleichen Titels (vgl. Proost/ Winkler 2013) und die Zusammenarbeit in Form einer Reihe empirischer Studien zu Kommunikationsverben und Psych-Verben im deutsch-spanischen Vergleich. Wir danken der DFG, dass sie die Kooperation im Rahmen ihres Programms zur „Unterstützung zum Aufbau internationaler Kooperationen“ gefördert hat. Unseren Hilfskräften Maike Huth und Agata Sokolowski danken wir für ihre Hilfe bei der formalen Durchsicht der Manuskripte. 1 Alle in diesem Band aufgenommenen Beiträge wurden von den Bandherausgebern doppelt begutachtet. Einleitung: Argumentstruktur - Valenz - Konstruktionen 29 Literatur Abel, Andrea (2008): ELDIT (Elektronisches Lernerwörterbuch Deutsch-Italienisch) und elexiko im Vergleich. In: Klosa, Annette (Hg.): Lexikographische Portale im Internet. (= OPAL-Sonderheft 1/ 2008). Mannheim, S. 175-189. Ágel, Vilmos (i.Vorb.): Grammatische Textanalyse: Textglieder, Satzglieder, Wortgruppenglieder. Ágel, Vilmos/ Fischer, Klaus (2010): 50 Jahre Valenztheorie und Dependenzgrammatik. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 38, S. 249-290. Boas, Hans C. (2010): The syntax-lexicon continuum in construction grammar. A case study of English communication verbs. In: Belgian Journal of Linguistics 24, S. 54-82. Boas, Hans C. 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Für Konstruktionsgrammatiken besteht sie in Fusionen und Vererbungen von Konstruktionen. An die Stelle von Regeln scheint in der Konstruktionsgrammatik (KxG) die Konstruktion zu treten. Nun ist Konstruktion zunächst ein statischer Begriff, der das Ergebnis eines Prozesses bezeichnet. Eine prozessuale Sicht (die in dem Begriff der Regel steckt) ergibt sich, wenn man sagt, dass in der KxG an die Stelle von Prozessen der Wortkombination (also der Bildung von Konstruktionen aus Wörtern) Prozesse der Abwandlung von Konstruktionen treten. Der Begriff der Regel ist im Allgemeinen an die Vorstellung von Regeln zur Bildung von Konstruktionen aus Wörtern gebunden. Hinzu kommt, dass der Begriff der Regel an Merkmale wie Invarianz und Widerspruchsfreiheit gekoppelt ist. Letztere sind Forderungen, die in der KxG, zumindest in der Lakoff-Goldberg-Version (Lakoff 1987; Goldberg 1995), nicht gelten. Hier geht es nicht um eine abstrahierte und nach dem Ideal eines mathematischen oder logischen Kalküls geformte langue. Andererseits gehen aber auch Operationen über Konstruktionen nicht willkürlich und beliebig vor sich. Sie sind ebenfalls „regelhaft“, nicht im Sinne von Naturgesetzen oder logischen Kalkülen, aber von sozialen Regeln/ Normen syntaktischer, semantischer und pragmatischer Art. Diese Regeln können sich überschneiden und einander widersprechen, und sie sind durch den Sprachgebrauch veränderbar. Klaus Welke 36 Operationen über Konstruktionen sind Fusionen und Vererbungen. Fusionen sind u.a. Implementierungen von Köpfen in (schematische) Konstruktionen. Es muss aber auch Fusionen von Konstruktionen zu umfassenderen Konstruktionen geben, z.B. Fusionen von Modifikatorkonstruktionen in Argumentkonstruktionen, dem Hinzufügen von Angaben in einer über Argumentstrukturen erweiterten Valenztheorie (VT) entsprechend. Berücksichtigen muss man auch Attribuierungen. Man muss Überblendungen von Konstruktionen vorsehen (vgl. Goldberg 2006, S. 10). Schließlich lässt sich das Feld der Grammatikalisierungen, also der diachronen Abwandlung von Konstruktionen, zwanglos in die KxG inkorporieren. 2. Vom Kopf zur Konstruktion und von der Konstruktion zum Kopf Im engeren Bereich der Argumentstrukturen verhalten sich VT, eine Variante einer Wort-Satz-Grammatik, und KxG spiegelbildlich zueinander. Bei Argumentstrukturen geht die eine vom Kopf (Valenzträger) aus und die andere von der Konstruktion. Ob man vom Verb zur Konstruktion oder von der Konstruktion zum Verb gelangt, ist jedoch - kontextlos - eine Frage nach Henne oder Ei. Beim Produzieren und Verstehen von Sätzen wirken offenbar beide Zugänge zusammen bzw. wechselseitig. So gibt es psycholinguistische und neurolinguistische Evidenz dafür, dass das Satzverständnis inkrementell erfolgt. Bezogen auf verbale Prädikat-Argument-Strukturen geht die Analyse je nach Verbstellung projektionistisch oder konstruktionsbezogen vor sich, beginnend bei Informationen aus dem Verb über die erwartete Konstruktion oder bei Informationen aus der Konstruktion bezüglich des einsetzbaren Verbs (vgl. Bornkessel-Schlesewsky/ Bornkessel 2011; McRae/ Hare/ Elman/ Ferretti 2005). Grundsätzlich kommt jedoch weder die Wort-Satz-Grammatik ohne Konstruktionen aus, noch die KxG ohne Projektionen. Denn in der KxG werden Projektionen benötigt, um erklären zu können, dass nicht jeder Kopf/ jedes Verb in jede Konstruktion passt. Das geschieht in der Kasustheorie Fillmores (1968, S. 26f.) durch die Bezugsetzung auf frame features und bei Goldberg (1995) durch den Abgleich der Argumentrollen der Konstruktion mit den Partizipantenrollen des Verbs. In der VT benötigt man neben Projektionen Konstruktionen als relativ selbst- Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz 37 ständige Instanzen, wenn man einerseits die Entstehung und Veränderung von Projektionen und andererseits die Existenz nicht-projizierter Argumente erklären will. 1 Ich plädiere für die Integration des (valenztheoretischen) Projektionsprinzips in die KxG. Projektionen entstehen und entwickeln sich aus und durch Konstruktionen. Projektionen stabilisieren ihrerseits rückwirkend schematische Konstruktionen. Da die KxG sowohl projizierte als nicht-projizierte Konstruktionen erfasst, ist ihr Zugang der umfassendere (vgl. Stefanowitsch 2011). Durch das Wechselverhältnis von Valenz und Konstruktion erhält man ein Bild von Grammatik zurück, wie es Paul (1975 [1880]) in der vorstrukturalistischen Periode der Sprachwissenschaft entworfen hat. Das ist eine Theorie, die die Grammatik nicht als ein durch Wortkombinationsregeln und Projektionen bis ins letzte determinierte System beschreibt, sondern als ein System, das offen ist für Veränderungen, d.h. offen für Veränderungen der Regeln und Projektionen (vgl. z.B. Paul 1958, S. 8) mit der Stoßrichtung, um die es uns geht: Diesen Bemühungen um konsequente Disposition liegt eben die Verkennung der eigentlich selbstverständlichen Tatsache zugrunde, dass sich geschichtlich gewordene Verhältnisse nicht in ein logisches System einpressen lassen. 3. Nicht-projizierte Argumente Es kommt vor, dass Sprecher neue Instanziierungen von Konstruktionen ausprobieren, indem sie Köpfe (z.B. Verben) an Konstruktionen anpassen (coercion), in die sie zuvor noch nicht fusioniert worden sind. 2 1 Ágel (2000) führt den Begriff der Ad-hoc-Valenz ein. Er kann so erklären, wie ein Verb in eine Konstruktion gelangt, die es nicht projiziert. Denn Konstruktionen existieren von einem projektionistischen Standpunkt aus nur, wenn sie projiziert sind. Für den Fall der betreffenden Konstruktion muss das Verb eine Valenz ad hoc erhalten, die es im Lexikoneintrag nicht besitzt. Der Begriff der Ad-hoc-Valenz setzt also den Begriff der Konstruktion voraus. Ad-hoc-Valenzen entstehen in Hinsicht auf zu bildende Konstruktionen. Denn Ad-hoc-Valenzen werden nicht auf beliebige virtuelle, bislang nicht existierende schematische Konstruktionen bezogen, sondern auf bereits vorhandene (vgl. Welke 2011). 2 Veränderungen gehen nicht in der langue vor sich, sondern in individuellen Sprecher-Hörer-Akten. Die langue (competence) ist aus einer gebrauchsbasierten Sicht eine verallgemeinerte parole (performance). Klaus Welke 38 Diese coercion führt zu einer Ad-hoc-Bedeutungsänderung des betreffenden Verbs, berührt aber die Valenz als Lexikoneintrag (die Projektion) zunächst in keiner Weise. Erst wenn die Neuerung sozial übernommen wird, kann sich im Gebrauch allmählich die Projektion eines einzelnen Verbs und gegebenenfalls einer Verbklasse ändern oder überhaupt herausbilden. 3 Ein Beispiel ist der Rektionswechsel von Verben, wie (1b) versus (1a), (2b) versus (2a), (3b) versus (3a): (1) a. Er ruft ihm. b. Er ruft ihn. (2) a. Er erinnert sich des Vorfalls. b. Er erinnert sich an den Vorfall. (3) a. Er erinnert sich an das Problem. b. Er erinnert das Problem. Neben Entwicklungen wie (1)-(3) gibt es bestimmte Konstruktionstypen, die aus dem Rahmen der (im Deutschen) üblichen verbalen Argumentkonstruktionen herausfallen: (4) a. Er trägt ihm den Koffer nach oben. (freier Dativ) b. Er träumt einen schlimmen Traum. (freier Akkusativ) c. Er isst den Teller leer. (Akkusativ + Objektsprädikativ) d. Er träumte sich aufs Podium. (Akkusativ + Direktivum) In die durch (4d) repräsentierte Gruppe gehört das bekannte Goldberg'sche Beispiel (1995, S. 29): (5) Sam sneezed the napkin off the table. Für diese Problemgruppen sind, soweit sie diskutiert wurden, unterschiedliche Lösungen vorgeschlagen worden. Zum Beispiel behandelt Helbig (vgl. Helbig/ Schenkel 1971, S. 42f.) den freien Dativ im Falle von (6a) als Modifikator (Prädikat) zum Verb und im Falle von (7a) als Modifikator (Prädikat, Attribut) zum Substantiv, entsprechend der Paraphrasierbarkeit (6b) für (6a) und (7b) für (7a): (6) a. Er räumt ihm das Geschirr ab. b. Er räumt das Geschirr für ihn ab. 3 Im Grenzfall kann es sich um die Angewohnheit eines einzelnen Sprechers handeln (um seinen Idiolekt, sein individuelles Lexikon). Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz 39 (7) a. Er wäscht ihr die Haare. b. Er wäscht ihre Haare. Konstruktionsgrammatisch geht es innerhalb von (6) und (7) um unterschiedliche Konstruktionen. Denn (6a) unterscheidet sich von (6b) und (7a) von (7b) sowohl formal als auch semantisch. Voraussetzung ist allerdings, dass man den üblichen extensionalen, allein auf Wahrheitswert orientierten Standpunkt der Semantik verlässt und eine intensionale Semantik zulässt. Analog kann man den nicht-projizierten Akkusativ (Inhaltsakkusativ) entweder als extensional identisch mit einem Modifikator oder als intensional unterschieden einordnen, vgl.: (8) a. Er träumte einen schönen Traum. b. Er träumte schön. (6a) und (6b), (7a) und (7b), (8a) und (8b) sind aus intensional-semantischer Perspektive unterschiedliche, aber synonyme Konstruktionen. Synomymie ist dabei wie in der traditionellen Semasiologie als Bedeutungsähnlichkeit und nicht als Bedeutungsidentität definiert (vgl. auch Welke 2012, Welke ersch.). In Welke (2009a, 2009b, 2011) werden überschüssige Argumente wie (4) analog zu Fällen wie (1)-(3) behandelt, also analog zu Fällen, in denen neue Projektionen entstehen. Nach dieser Rechnung müsste der neue Gebrauch entsprechend der Gebrauchshäufigkeit allmählich lexikalisiert werden, d.h. als Projektion ins Lexikon aufgenommen werden. Nun zeigt Engelberg (2009), dass Fälle, die in Welke (2009a) als nichtprojizierte Argumente angesehen werden, auf Grund ihrer Vorkommenshäufigkeit als lexikalisiert mit der entsprechenden Projektion eingestuft werden müssen. Engelberg (ebd.) verweist auf eine Zufallsauswahl von 200 Belegen der Verben donnern, knattern, knistern, quietschen, rauschen, schwirren und tuckern mit den in (9a) angegebenen Vorkommenshäufigkeiten in zweistelligen Direktivkonstruktionen wie (9b). (9) a. tuckern 173, schwirren 160, rauschen 124, donnern 99, knattern 87, quietschen 8, knistern 1. b. Motorräder tuckerten/ knatterten durchs Dorf. Klaus Welke 40 Je häufiger ein Sprecher ein Verb mit einem Direktivum antrifft, umso größer sollte die Wahrscheinlichkeit sein, dass sich das Vorkommen als Valenz im Lexikon niederschlägt. Dem steht die Aussage in Welke (2009a, 2011) gegenüber, dass nahezu alle Objektsprädikativkonstruktionen, mit Ausnahme eventuell von machen-Konstruktionen, als nichtprojiziert gewertet werden. Bereits die Annahme von nicht-projizierten Argumenten ist ein prototypentheoretisches Aufbrechen eines zuvor angenommenen invarianten Zusammenhanges. Ich rücke nunmehr auch von der Behauptung ab, dass sich Argumente notwendigerweise zu projizierten Argumenten entwickeln. Prototypische Argumente sind projiziert. Es baut sich aber über dieser Schicht von projizierten Konstruktionen eine weitere Schicht von verbalen Argumentkonstruktionen auf, die, weil sie regelhaft vererbt werden, dauerhaft nicht-projiziert bleiben. Ich betrachte daher nach wie vor Geräuschverben wie tuckern, schwirren, rauschen, donnern, knattern als nicht-projizierend. Ein Indiz für den Sonderstatus von (4) ist der Umstand, dass es sich um eine beschränkte Zahl von konstruktionell deutlich abgrenzbaren Beispielgruppen handelt (soweit bislang entdeckt bzw. diskutiert), nämlich von Konstruktionen meist mit ein oder sogar zwei zusätzlichen Argumenten über die im Valenzwörterbuch vorgesehenen Valenzeinträge hinaus: mit einer Dativ-NP als einem dritten und gegebenenfalls vierten Argument (10), einem Direktivum als 2., 3. oder 4. Argument (11), einem resultativen Objektsprädikativum (12a), einem resultativen Objektsprädikativum + Akkusativobjekt (12b) oder einer veränderten semantischen Selektion des Akkusativobjekts (12c) und einem Inhaltsakkusativ (13): (10) a. Er baut ihr ein Haus. b. Er baut ihr ein Haus auf den Hügel. (11) a. Eine Rakete zischte in den Himmel. b. Er baut ein Haus auf den Hügel. c. Er reicht ihr das Geschirr in die Küche. (12) a. Er hämmert das Blech flach. b. Er schnarcht sie munter. c. Er isst den Teller leer. Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz 41 (13) Er träumte einen schlimmen Traum. Der gesonderte Status dieser Argumente wird dadurch berücksichtigt, dass diese Konstruktionstypen in der Regel nicht in Valenzwörterbücher aufgenommen werden. Nicht zufällig sind die „überschüssigen“ Argumente in den Konstruktionstypen (4) bzw. (10)-(13) Gegenstand kontroverser Einordnungen als Argumente oder als Modifikatoren und Gegenstand prototypentheoretischer Wertungen als untypische Argumente bzw. untypische Modifikatoren. 4 Dass es sich bei diesen Dependentien dennoch um Argumente, wenn auch um untypische, handelt, legt die konstruktionelle Analogie zu projizierten Argumenten nahe. Sie stehen wie diese im reinen Kasus (im freien Dativ und freien Akkusativ) oder sind Direktiva. Ferner trifft auf nicht-projizierte Argumente das gleiche formale Kriterium der Regiertheit (Subkategorisierung) zu wie auf projizierte. Ausschlaggebend für den Unterschied zwischen projizierten und nicht-projizierten Argumenten sind die semantischen Kriterien der prädikativen Determiniertheit (Argumenthaftigkeit, Inhaltsspezifik) (vgl. Welke 1988; Jacobs 1994), die mit den formalen Kriterien der Obligatheit und Regiertheit einhergehen. Projiziert sind Argumente, die an eine dauerhafte, lexikalisierte relationale Bedeutung des regierenden Verbs in Hinsicht auf dieses Argument gekoppelt sind. Beispielsweise sind legen und liegen lokale Verben mit entsprechenden Valenzeinträgen über direktive bzw. statisch lokale Argumente, aber nicht schreiben und schlafen. Nicht-projizierte Argumente, z.B. ein Direktivum bei schreiben, erlangen diese Kopplung ad hoc über eine entsprechende (z.B. direktive) Ad-hoc-Bedeutung eines Verbs, die in einer analogischen Verwendung entsteht. Die Argumente, die in der VT bislang betrachtet wurden, sind projizierte Argumente. Die Konstruktionen (4) bzw. (10)-(13) exemplifizieren Fälle, die in diese tradierte Auffassung nicht hineinpassen. Denn 4 Ich glaube nicht, dass ein Verzicht auf die Abgrenzung von Argumenten und Modifikatoren, vorgeschlagen z.B. von Vater (1978) und in der neodavidsonistischen Semantik, syntaktisch adäquat ist. Auch eine prototypentheoretische Abgrenzung von Argumenten und Modifikatoren (vgl. Zifonun et al. 1997; Welke 2002) ist keine Lösung, da am Ende doch jedes Verbdependens entweder als (mehr oder minder typisches) Argument oder als (mehr oder minder typischer) Modifikator strukturell eingeordnet werden muss. Klaus Welke 42 sie enthalten Verben, die die entsprechende schematische Konstruktion/ das entsprechende Konstruktionsmuster nicht projizieren/ lizenzieren. Sie beruhen nur auf etablierten projizierten Konstruktionsmustern bzw. sind Erweiterungen solcher Muster (Erweiterungen auf Vierstelligkeit und Objektsprädikativkonstruktionen). 5 Im engeren Bereich der nicht erweiterten Konstruktionsmuster stehen projizierte Konstruktionen wie (14a) und (15a) nicht-projizierten Konstruktionen wie (14b) und (15b) gegenüber. (14) a. Emil gibt/ schenkt/ schickt Elsa das Buch. b. Emil baut/ schnitzt/ schreibt/ kauft Elsa ein Gedicht. (15) a. Ein Traktor fuhr durchs Dorf. b. Ein Traktor tuckerte durchs Dorf. Die Verben bauen, schnitzen, schreiben, kaufen in (14) sind von ihrem Lexikoneintrag her keine geben-Verben. Sie sind als zweistellige und nicht als dreistellige Relationen im Lexikon eingetragen. Das Verb schreiben bleibt zweiwertig, auch wenn es im Zusammenhang von Brief gehäuft f mit einem Adressaten in einer konventionalisierten Minikonstruktion im Sinne von Boas (2003, 2011) und einer entsprechenden Ad-hoc-Bedeutung vorkommt. Entsprechend bleibt tuckern (15b) lexikalisch ein einwertiges Vorgangsverb, obwohl es hochfrequent und konventionalisiert in Fortbewegungskonstruktionen im Zusammenhang mit Fahrzeugen (vor allem Traktor) vorkommt. Es handelt sich um konventionalisierte Minikonstruktionen, aber nicht um Projektionen. Konstruktionen vom Typ (4) bzw. (10)-(13) erlauben die Einpassung (coercion) von Verben, die diese Konstruktionen nicht projizieren. Sie erlauben diese Einpassungen, weil diese abhängig von regelhaften Bedingungen sind (vgl. unten Abschnitt 4 und 5). Beispielsweise sollte man daher annehmen, dass schreiben (14b) zweiwertig und tuckern (15b) einwertig bleiben, trotz ihrer Häufigkeit in Konstruktionen wie (14b) und (15b). Die Token-Häufigkeit schlägt sich nicht im Valenzeintrag nieder, sondern in der Etablierung einer konventionalisierten Minikonstruktion. Die Annahme einer konventionalisierten Minikonstruktion entspricht dieser spezifischen Kontextabhängigkeit. Es reicht 5 Objektsprädikativkonstruktionen sind relativ junge Erscheinungen. Resultative Objektsprädikativkonstruktionen sind im Wesentlichen (aus unserer Sicht) nicht-projiziert, mit Ausnahme eventuell von Konstruktionen mit machen. Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz 43 aus, anzunehmen, dass die Gebrauchshäufigkeit in bestimmten Kontexten (u.a. Brief bei f schreiben, Traktor bei tuckern) zu konventionalisierten Minikonstruktionen geführt hat. 6 Semantische Bedingungen der Einpassung (Fusionierung) wurden in Welke (2009a, 2011) beschrieben. Zum Beispiel besteht bei resultativen Objektsprädikativkonstruktionen eine Bedingung der Fusionierung darin, dass die fusionierten Verben Tätigkeitsverben - oder als Tätigkeitsverben interpretierbar  sind. Beispielsweise muss essen als patiensloses Tätigkeitsverb interpretiert werden, um erklären zu können, dass es in Konstruktionen wie (16) mit einem so genannten fake object fusionierbar ist. 7 (16) Emil isst den ganzen Teller leer. Bei präfigierten Verben ist eine Zurückführung auf Tätigkeitsverben syntaktisch und semantisch nicht möglich (zur Begründung vgl. Welke 2011, S. 231ff.). Ferner muss in Bezug auf Objektsprädikativkonstruktionen als semantische Bedingung formuliert werden, dass sich das Prädikativum als Resultatsausdruck interpretieren lässt. Zum Beispiel ist (17b) im Unterschied zu (17a) keine Objektsprädikativkonstruktion, sondern eine Agens-Patiens-Konstruktion mit einem einfachen Modifikator, und (17c) ist eine Agens-Patiens-Konstruktion mit einem freien Prädikativ. (17) a. Er macht den Kaffee heiß. b. Er trinkt den Kaffee schnell. c. Er trinkt den Kaffee schwarz. Darüber hinaus gelten zwei Bedingungen, eine perzeptive und eine pragmatische (vgl. Abschnitt 5): Die von den jeweiligen Token-Konstruktionen denotierten Situationen müssen (i) vorstellbar sein, d.h. durch das perzeptive System der Kognition sanktioniert, und sie müssen (ii) der Kommunikationsmaxime der Relation (Relevanz) genügen. 6 Die Annahme von konventionalisierten Minikonstruktionen kann auch erklären, warum sich in Valenzwörterbüchern gelegentlich Einträge für besonders typische Modifikatoren finden, also für Einheiten, die per definitionem eigentlich nicht als Valenzeintrag erscheinen sollten, z.B. im VALBU (Schumacher et al. 2004). 7 Vom Standpunkt der KxG aus ist dieses Objekt ein „richtiges“ Objekt. Es ist ein fake object nur unter der Annahme, dass ein Objekt projiziert sein muss. Klaus Welke 44 Behauptet wird also Regelhaftigkeit. Diese besteht in den aufgezählten semantischen, syntaktischen, perzeptiven und pragmatischen Bedingungen. 4. Regel und Idiosynkrasie Von einem projektionistischen Standpunkt aus geht es bei der Gegenüberstellung von Regel und Idiosynkrasie um die Trennung von Lexikon und Grammatik: Im Lexikon (Wortlexikon) verzeichnet sind die lexemspezifischen idiosynkratischen Abhängigkeiten. Nicht-lexemspezifische Abhängigkeiten sind in einem unabhängigen Regelapparat enthalten (vgl. Engelberg 2007; Proost 2009). Vgl. Engelberg (2007, S. 11): In der deskriptiven Linguistik wie auch in den meisten modernen Grammatiktheorien herrscht die Annahme vor, dass die grammatische Struktur und die Bedeutung von Sätzen auf zwei Quellen zurückgehen, allgemeine semantische und grammatische Regeln einerseits und idiosynkratische semantische und grammatische Eigenschaften einzelner Lexeme andererseits. Allgemeine Regeln legen etwa fest, dass dem finiten Verb im Hauptsatz (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nur eine Konstituente vorangehen kann: [...] Dass das Verb helfen neben der als Subjekt fungierenden obligatorischen Nominativ-NP eine fakultative NP im Dativ, nicht aber eine im Akkusativ erlaubt, wird dagegen als eine spezifische Eigenschaft des Verbs helfen angesehen [...]. Die Aufteilung von Idiosynkrasie und Regel wird in der VT traditionell auf Ergänzungen (Argumente) und Angaben (Modifikatoren) bezogen: Ergänzungen sind „gefordert“. Angaben sind „frei“. Argumente sind vom Verb projiziert. Modifikatoren sind vom Verb nicht projiziert. Diese Abgrenzung trifft jedoch nur typischerweise zu. Sie gilt nicht für alle Argumente und nicht für alle Modifikatoren. Zu den projizierten Modifikatoren gehören einige wenige Ausreißer wie lange in (18a) und schlecht in (18b) (vgl. Welke 1988, 2011). Diese wurden in der VT wegen ihrer Obligatheit als Argumente angesehen. Konstruktionen wie (18) sollten aber konstruktionsgrammatisch als konventionalisierte Minikonstruktionen (vgl. oben) interpretiert werden. (18) a. Die Sitzung dauert lange. b. Er benimmt sich schlecht. Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz 45 Wichtiger ist der Status der Argumente. Argumente sind typischerweise projiziert. Nicht-projizierte Argumente sind Argumente, die wie Modifikatoren nicht über einen Lexikoneintrag, sondern regelgeleitet zugewiesen werden. Daraus folgt, dass es für die Sprecher/ Hörer nicht notwendig ist, ihre Zuweisbarkeit im mentalen Lexikon einzutragen. In Wort-Satz-Grammatiken wird ein Modifikator einer Argumentkonstruktion regelhaft hinzugefügt. Entsprechend kann man sagen, dass in der KxG eine Modifikatorkonstruktion einer Argumentkonstruktion oder einer anderen Modifikatorkonstruktion regelhaft hinzugefügt wird, d.h. mit dieser zu einer globaleren Konstruktion fusioniert wird. 8 Konstruktionsgrammatisch geht es um Regularitäten der Operationen über (schematischen) Konstruktionen. Von (geregelten oder ungeregelten) Weglassungen oder Hinzufügungen von Argumenten kann man unter konstruktionsgrammatischem Aspekt nicht sprechen. Denn das Charakteristikum von Argumentkonstruktionen ist ja gerade, dass Argumente Bestandteile der Konstruktion sind. Allerdings muss man, um weiterhin von Projektion (Idiosynkrasie) versus Regelhaftigkeit sprechen zu können, die Gleichsetzung von Nicht-Projektion und Regelgeleitetheit einerseits und Projektion und Idiosynkrasie andererseits lockern. Zum Beispiel ist der strukturelle Kasus Akkusativ nicht nur regulär, sondern auch idiosynkratisch insofern, als er eben nicht mit Sicherheit vorausgesagt und gegenüber einem Dativ oder einem Präpositionalkasus abgegrenzt werden kann. Andererseits sind der Dativ und die Präpositionalkasus in Präpositionalobjekten nicht nur idiosynkratisch, sondern auch regelhaft, da es semantische Analogien innerhalb der Klasse der Dativobjekte und der Präpositionalkasus (Direktive und Präpositionalobjekte) gibt (vgl. Rostila 2007). Insofern ist die Zuweisung des Dativs durch helfen nicht spezifisch von diesem Verb allein abhängig, sondern hängt von einem prototypisch definierten semantischen Merkmal (Zuwendung zu einer Person) ab, dem alle Dativ-Verben folgen. Es ist jedoch eine Sache subjektiver (nicht individueller) Auffassung, ob die Sprecher des Deutschen ein Geschehen, das sich auf eine Person richtet, als Handlung über einem 8 Ich sehe an dieser Stelle davon ab, dass Gebrauchshäufigkeiten zu konventionalisierten globaleren Konstruktionen (Kollokationen, Phraseologismen) aus beispielsweise einer Argumentkonstruktion und einer Modifikatorkonstruktion führen können. Klaus Welke 46 Patiens oder als Zuwendung zu einer Person interpretieren, der man irgendetwas antut. Folglich ist es nicht sicher voraussagbar, und in diesem Sinne nicht regelhaft, sondern idiosynkratisch, ob Verben (die sich typischerweise auf Personen beziehen) ein Dativ- oder ein Akkusativobjekt regieren, vgl.: (19) a. Emil schmeichelt ihr. b. Emil lobt sie. Projektionen sind also zwar idiosynkratisch, weil nicht regelhaft voraussagbar. Sie enthalten aber auch Regelhaftigkeiten, nämlich den Bezug auf Merkmale, aber unter der Einschränkung, dass es eine Sache der subjektiven, analogisch vermittelten und konventionalisierten Auffassung ist, ob die Sprecher einer Sprache ein Argument nach diesem oder jenem Merkmal kodieren. 5. Perzeptive und pragmatische Bedingungen In Abschnitt 3 wurden semantische und syntaktische Bedingungen für Fusionierungen von Verben in Objektsprädikativkonstruktionen erwähnt. Entsprechende Bedingungen macht Goldberg (1995, S. 193ff.) für englische Resultativkonstruktionen geltend. Sie formuliert damit den Anspruch, dass die Resultativkonstruktion regulär instanziierbar ist. Boas (2003, 2005, 2011) zeigt aber, dass die von Goldberg formulierten semantischen und syntaktischen Regeln Übergeneralisierungen nicht ausschließen, dass sie also nicht ausreichen, um mögliche (akzeptable) Konstruktionen von unmöglichen Konstruktionen zu trennen, also z.B. (20a) von (20b). (20) a. He sneezed the napkin off the table. b. *He whispered the napkin off the table. c. He blew the napkin off the table. Boas fügt einer semantischen Komponente im Engeren eine Komponente ‘Weltwissen’ (world knowledge) hinzu. Dieses Weltwissen, so zeigen seine Interpretationen, vervollständigt die Beschreibung möglicher Resultativkonstruktionen. Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz 47 Ich interpretiere das vom semantischen Wissen unterschiedene Weltwissen als perzeptives Wissen. Die Begründung lautet: Das Weltwissen kann, sofern man seine Existenz anerkennt, kein Wissen über die Welt sein, das sozusagen unvermittelt gegeben ist. Es kann nur ein Wissen sein, das aus Sinneserfahrungen (Empfindungen und Wahrnehmungen) kommt, also aus der Perzeption. Umgekehrt ist das semantische Wissen kein Wissen, das nichts mit der Welt zu tun hat. Es ist, wenn auch vermittelter als das perzeptive Wissen, vermittelt u.a. eben durch das perzeptive Wissen, ebenfalls ein Wissen von der Welt, ein Weltwissen. Dennoch besteht ein Unterschied, der etwas mit Vermittlung, Abstraktion, Verdichtung, Abkürzung, Begrifflichkeit zu tun hat. Wenn man also Weltwissen von sprachlichem Wissen unterscheidet, dann muss man es als perzeptives Wissen vom sprachlichen Wissen unterscheiden. Das ist ein Konzept der Trennung eines im Engeren linguistischen Systems der Kognition von einem perzeptiven. In der traditionellen Psychologie wurde einerseits von einer sinnlichen Stufe der Kognition gesprochen mit Empfindungen als unmittelbaren sinnlichen Widerspiegelungen, Wahrnehmungen als Verallgemeinerungen und Abstraktionen über Empfindungen und Vorstellungen als im Gedächtnis aufbewahrter und gegebenenfalls weiter generalisierter Wahrnehmungen und andererseits von einer abstrakt begrifflichen Kognition auf Grundlage der Sprache (vgl. auch die Begriffe des ersten und zweiten Signalsystems bei Pawlow 1952). Erdmann (1922) sprach von einem begrifflichen Kern und einer Vorstellungskomponente der Wortbedeutung. 9 In heutigen Begriffen ist von zwei Weisen (modes) der Kognition die Rede: einem abstrakt-linguistischen und einem perzeptiven System. Terminologische Varianten sind linguistic mode versus perceptive mode und amodale Repräsentation versus modale Repräsentation. Die Betonung des Perzeptiven hat unter dem Stichwort embodied cognition in der jüngeren Vergangenheit eine Neubelebung vor allem in der kognitiven Psychologie erfahren. Sie klingt aber auch in der Linguistik an (vgl. insbesondere ‘embodiment’ bei Lakoff 1987; Lakoff/ Johnson 1980). 9 Außerdem unterscheidet Erdmann eine emotionale Komponente. Klaus Welke 48 Die beiden Bereiche werden in der Linguistik meist als sprachliches und außersprachliches Wissen bezeichnet. Frame-Semantiker nehmen jedoch an, dass eine Trennung von sprachlicher Bedeutung und außersprachlichem Wissen nicht aufrecht erhalten werden kann, und postulieren, dass es in der Frame-Semantik um das gesamte Wissen geht, das für das vollständige Verständnis eines Textes notwendig ist (Busse 2012). Das bedeutet nicht, dass Frame-Semantiker die Existenz eines Perzeptionssystems in Frage stellen oder stellen müssen. Die Frage, an der die Geister sich scheiden, ist, ob die Speicherung und die Prozession des Wissens über die Welt einheitlich framesemantisch und damit linguistisch erfolgt, oder ob es neben dem linguistischen auch ein evolutionär vorgelagertes, aber relativ selbstständig weiter bestehendes perzeptives System der Kognition gibt, mit relativ eigenständig zu beschreibenden Verallgemeinerungen und kognitiven Prozessen. Lange Zeit ist in der Kognitionswissenschaft frametheoretisch mit Begriffen wie ‘frame ‘ ’, ‘Skript’, ‘Schema’ gearbeitet worden (vgl. z.B. Minsky 1975; Schank/ Abelson 1977). Das aber sind linguistisch bzw. sprachlich motivierte Beschreibungen. Es besteht eine nicht zufällige Übereinstimmung dieser Konzepte mit valenztheoretischen Darstellungen (Satzschemata) und mit Fillmores (1968) Kasustheorie. Für Aebli (1980, S. 61) ist Fillmore daher „nicht nur zu einer der Vatergestalten der Handlungstheorie, sondern der kognitiven Psychologie überhaupt“ geworden. Aber auch abgesehen von einem konkreten bibliografischen Bezug liegt es nahe, anzunehmen, dass Handlungsbzw. Schematheoretiker in ihren Auffassungen von Handlungen und von kognitiven Repräsentationen dieser Handlungen sich von der Sprache (der Struktur von Sätzen) haben leiten lassen. Seit den 1990er Jahren wird jedoch in der Kognitionspsychologie verstärkt nach der eigenständigen Rolle des perzeptiven Systems gefragt. Ein Proponent dieser Neuausrichtung ist Barsalou (1999, 2008, 2009; Barsalou et al. 2008), der ursprünglich (Barsalou 1992) ebenfalls frametheoretisch gearbeitet hat. Er hat dann aber dieses Konzept und den generell linguistisch oder (allgemeiner) sprachlich motivierten Zugang radikal in Frage gestellt und den perzeptiven Zugang tendenziell verabsolutiert. Inzwischen wird ein ausgewogeneres Verhältnis angemahnt, z.B. von Mahon/ Caramazza (2008) und auch von Barsalou selbst. Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz 49 Man kann die Bedingung für die Akzeptabilität von nicht-projizierten Konstruktionen auf der Grundlage dieser Trennung des linguistischen Systems der Kognition vom perzeptiven System der Kognition formulieren. Ich nenne diese Bedingung Vorstellbarkeit. Es geht darum, dass die sprachliche Formulierung dem perzeptiven kognitiven System des Hörers genügend Input geben muss. Der Hörer muss sich eine Situation konkret genug vorstellen können, auf die die Aussage zutreffen könnte, vgl.: (21) a. Emil niest die Serviette vom Tisch. b. *Emil atmet die Serviette vom Tisch. Dass ein Niesen so heftig ausfallen kann, dass eine Serviette vom Tisch gefegt wird, ist vorstellbar. 10 Dass Atmen das gleiche bewirkt, ist nicht im gleichen Maße vorstellbar. 11 Hinzu kommt die Bedingung der Relevanz. Es muss eine kausale Ableitung von Relevanz (von Sinnhaftigkeit) möglich sein. Ein Sprechakt gelingt, wenn der Hörer in einem zweiten Schritt (nicht unbedingt im zeitlichen Sinne) der Äußerung auf Grund der Möglichkeit, sich eine entsprechende Situation vorzustellen, Relevanz zusprechen kann, eben dass der Sprecher diese Situation schildern wollte. Das ist die pragmatische Bedingung. Bei der Darstellung von englischen und deutschen Resultativkonstruktionen formuliert Boas (2003, 2005, 2011) seine Einwände gegen Goldbergs (1995) Analyse von Resultativkonstruktionen. Er zeigt u.a. am Beispiel von sneeze, dass man eine Aufteilung vornehmen muss in konventionalisierte Resultativkonstruktionen 12 wie (22a) und in nichtkonventionalisierte wie (22b). (22) a. Tom blew the napkin off the table. b. Tom sneezed the napkin off the table. 10 Vorstellbar im oben genannten Sinne von Vorstellung. 11 Boas operiert mit den gleichen Argumenten. 12 Boas subsumiert wie Goldberg Direktiv- und resultative Objektsprädikativkonstruktionen unter den Terminus der Resultativkonstruktion. Klaus Welke 50 Den Satz (22a) betrachtet Boas entsprechend der Vorkommenshäufigkeit von blow in dreistelligen Direktivkonstruktionen als eine konventionalisierte Minikonstruktion. Diese Differenzierung gilt auch für das Deutsche, vgl.: (23) a. Tom blies die Krümel vom Tisch. b. Tom nieste die Krümel vom Tisch. Boas macht damit auf eine von Goldberg (1995) und Welke (2009a) übersehene Differenz aufmerksam. Diese Differenz ist wesentlich, weil man auf ihrer Grundlage eine nicht-konventionalisierte Minikonstruktion (22b) als Analogie zu einer konventionalisierten Minikonstruktion (22a) erklären kann. Wenn man aber Analogie annimmt, so stellt sich die Frage nach den Bedingungen der Analogie, also die Frage, durch welche Bedingungen sich akzeptable (20a) von unakzeptablen Analogien (20b) unterscheiden. Das aber sind neben syntaktischen und semantischen Bedingungen Bedingungen des Weltwissens (des perzeptiven Wissens). Boas geht (2003, S. 270ff.) diesen zusätzlichen Bedingungen an Beispielen wie (20) detailliert nach. Es sind Bedingungen des Zutreffens in der Realität, mit anderen Worten: : der Vorstellbarkeit. So bezeichnen Verben wie blow oder sneeze unterschiedliche konkrete Vorgänge: des Ein- und Ausatmens, des Niesens. Jeder Sprecher/ Hörer hat diese Vorgänge unzählige Male erlebt. Sie sind im perzeptiven Gedächtnis gespeichert und vorstellungsmäßig rekonstruierbar, u.a. in dem für die Akzeptabilität entscheidenden Merkmal der Stärke des erzeugten Luftstromes. Dieses Merkmal der Stärke des erzeugten Luftstroms ist m.E. kein sprachliches semantisches Merkmal, d.h. kein in der konventionellen Bedeutung der Konstruktion oder des Verbs enthaltenes Merkmal, sondern ein perzeptives Merkmal. Denn es geht in der Bedeutung von niesen nicht um Luftstromerzeugung. Man muss also Boas darin folgen, dass es die Zwischenetappe der konventionalisierten Minikonstruktionen gibt. Beide Minikonstruktionen, die nicht-konventionalisierte wie die konventionalisierte, sind in ihrer möglichen bzw. faktischen Existenz perzeptiv (durch das ‘Weltwissen’) lizenziert. Der Unterschied besteht darin, dass die eine sprachlich konventionalisiert (aber nicht projiziert) und die andere nicht konventionalisiert (und natürlich nicht projiziert) ist. Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz 51 Im Rückschluss ergibt sich: Zum linguistischen System, d.h. zum sprachlichen Wissen im Engeren, gehören schematische durch Projektionen gestützte Konstruktionen mit Leerstellen für Valenzträger (Verben) in ihrer syntaktischen und semantischen Beschaffenheit (Bilateralität). Als dritter Bestandteil kommen konventionalisierte Minikonstruktionen hinzu, die nicht von Projektionen gestützt werden. Einen Übergang, eine „Schnittstelle“ zum perzeptiven System bildet das sprachliche Wissen (Sprachverarbeitungswissen) um die Bedingungen der Vorstellbarkeit. 6. Grundvalenz Sehr früh ist in der VT mit Blick auf die Problemfälle (4) bzw. (10)-(13) der Vorschlag gemacht worden, eine Grundvalenz anzusetzen, von der bei der Satzbildung nach unten durch Valenzreduktion und nach oben durch Valenzerweiterung abgewichen werden kann. Die Abweichung nach unten war durch Helbigs (1965) Unterscheidung von obligatorischen und fakultativen Ergänzungen etabliert, also seit Beginn der VT. Fakultative Ergänzungen waren Ergänzungen, die von Valenzreduktion betroffen sind. Der Terminus ‘Grundvalenz’ kam ins Spiel, als Korhonen (1977, S. 194) darauf hinwies, dass es auch Ergänzungen gibt, die fakultativ hinzugefügt werden können. Korhonen (ebd.) übernahm den Terminus seinerzeit von Ehnert (1974). Mit Grundvalenz hatte Ehnert begründet, dass er für eine Liste besonders häufiger deutscher Verben eine Auswahl unter möglichen Einträgen vorgenommen hatte. Das ist ein Verfahren, das der Praxis früherer und heutiger Valenzwörterbücher entspricht. Diese tendieren dazu, eine mittlere Ebene zu beschreiben, die Abweichungen nach unten als fakultative Ergänzungen vermerkt und Abweichungen nach oben ignoriert. So finden sich bis heute in Valenzwörterbüchern keine Eintragungen von Fällen wie (4), vgl. etwa den Eintrag zu essen bei Helbig/ Schenkel (1971) oder im VALBU (Schumacher et al. 2004). Der Begriff der Grundvalenz wurde u.a. durch Tarvainen (1981) und Welke (1988) übernommen. Zunächst wurde also versucht, das Verhältnis von Grundvalenz und Reduktionen und Erweiterungen gegenüber der Grundvalenz innerhalb der VT zu beschreiben. Dieser Versuch ist in Bezug auf Valenz- Klaus Welke 52 erweiterungen zum Scheitern verurteilt. Denn es ist zwar technisch möglich, Informationen über die Weglassbarkeit von Ergänzungen ins Valenzlexikon aufzunehmen. Der Eintrag sagt dann, dass die Realisierung im Satz anders ausfallen kann, als im Lexikon vorgesehen. Daraus folgt aber, dass Erhöhungen nicht auf die gleiche Weise behandelt werden können. Denn, wenn man Valenzerhöhungen als Zusatzinformationen über mögliche Erweiterungen ins Lexikon aufnimmt, dann muss man sie auch benennen. Das aber läuft auf den Standpunkt hinaus, dass sie als Projektion bereits in dem betreffenden Verb „angelegt“ sind (Eroms 2012, S. 31). Das heißt, jegliche denkbare heutige und jegliche in Zukunft vielleicht realisierbare Konstruktion ist durch einen Kopf prädisponiert, der sie heute schon projiziert, auch wenn der Kopf das heute realiter noch gar nicht leistet. Das ist ein Verfahren, das de facto auf die Annahme einer schon immer vorhandenen Gesamtvalenz bzw. auf das maximale Argumentpotenzial Wotjaks (1984) zurückführt. Logischerweise gibt es dort nur Reduktionen, aber nicht Erweiterungen. Man muss natürlich einräumen, dass es nicht nur sozusagen absolute Neuheiten gibt, sondern auch relative. Die Sprecher/ Hörer des Deutschen wissen beispielsweise, dass man Konstruktionen durch Dativ- Argumente erweitern kann. Insofern ist diese Erweiterung „angelegt“. Aber das geschieht regelhaft, ist also keine Projektion und gehört nicht ins Lexikon. Das Gleiche gilt für Valenzreduktionen, die traditionelle fakultative Valenz, vgl. Abschnitt 7. Man muss auch bedenken, dass man genau genommen nicht von Reduktionen/ Erweiterungen der Grundvalenz sprechen kann, sondern nur r von Reduktionen/ Erweiterungen gegenüber der Grundvalenz. Denn Var lenz ist als Fügungspotenz etwas im Lexikon Festgeschriebenes. Nicht die Valenz selbst kann reduziert oder erweitert werden. Reduziert oder erweitert werden kann nur die Zahl der Argumente im Vergleich zum Lexikoneintrag. Es werden weniger oder mehr Ergänzungen in einem konkreten Satz realisiert, als im Lexikon eingetragen sind. Daraus folgt: Im Lexikon existiert überhaupt nur die Ebene der sog. Grundvalenz als Valenz. Abweichungen gegenüber dieser Valenz nach unten oder oben, also gegenüber der im Lexikoneintrag verzeichneten Fügungspotenz eines Zeichens (Valenzträgers, Verbs) sind auf regelgeleitete Operationen im oben erläuterten Sinne zurückzuführen. Diese Abweichungen sind keine Projektionen. Sie gehören folglich nicht ins Lexikon. Das, was man bislang Grundvalenz genannt hat, ist nichts Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz 53 anderes als die Valenz selbst. Und das, was man Valenzreduktionen bzw. Valenzerweiterungen genannt hat, sind Reduktionen und Erweiterungen gegenüber der im Lexikon vermerkten Valenz (Projektion). 13 7. Valenzreduktion Es ist, wie gesagt, möglich, Valenzreduktionen im Lexikon zu vermerken, und das geschieht durchgängig seit Helbig/ Schenkel (1971). Das heißt aber nicht, dass das auch notwendig ist und dass es im realen mentalen Lexikon der Sprecher/ Hörer solche Eintragungen gibt. Für die Überflüssigkeit der Einträge sprechen die zahlreichen Fälle, in denen z.B. Helbig/ Schenkel (1971) oder das VALBU (Schumacher et al. 2004) Fakultativität nicht verzeichnen, also streng genommen Obligatheit vorgeben (vgl. Welke 1988, S. 30f.). Man kann fragen, welchen Nutzen die Behauptung einer Unterscheidung bringt, die nur unzureichend eingehalten wird. Gravierender ist, dass es kaum plausibel erscheint, dass die Weglassbarkeit von Argumenten keine allgemeine Regularität ist, sondern ein Lexikoneintrag und zur Projektion gehört. Denn das müsste bedeuten, dass es bei jedem einzelnen Verb den idiosynkratischen Eintrag der Merkmale ‘obligatorisch’ oder ‘fakultativ’ gibt. Das wäre ein nicht zu bewältigender Lernaufwand. Es muss Prinzipien außerhalb des Lexikons geben, die die Weglassbarkeit regeln. Diese Prinzipien sind die gleichen Bedingungen der Vorstellbarkeit und Relevanz, die die so genannte Valenzerweiterung steuern. Daraus folgt, dass man annehmen sollte, dass auch Valenzreduktionen nicht im mentalen Lexikon eingetragen sind. Konstruktionell ausgedrückt geht es darum, dass ein Verb, z.B. essen, das im Lexikon als zweiwertig verzeichnet ist, weil es eine zweistellige Handlungskonstruktion projiziert, unter beschreibbaren allgemeinen Bedingungen in eine einstellige Tätigkeitskonstruktion fusioniert werden kann, vgl.: (24) a. Er isst Gemüse. b. Er isst. 13 Vgl. Goldbergs (1995, S. 11) Annahme: „The verb [...] is associated with one or a few basic senses which must be integrated into the meaning of the construction“, vorgetragen im Zusammenhang mit dem Argument, dass projektionistische Theorien für jede Konstruktion, in der ein gegebenes Verb vorkommt, eine spezifische Projektion voraussetzen müssen. Klaus Welke 54 Es gibt einige zusätzliche Bedingungen. Eine Bedingung betrifft die Realisierung/ Nichtrealisierung des Subjektsnominativs (25). Konstruktionell ausgedrückt geht es im Deutschen um die Möglichkeit von subjektlosen Akkusativkonstruktionen, vgl.: (25) a. Mich friert. b. *Mich fragt. Eine andere Bedingung betrifft idiosynkratische Bedeutungseinschränkungen wie lexikalische Ellipsen. Solche nicht voraussagbaren (idiosynkratischen) Fälle müssen im Lexikon einen Eintrag erhalten. Wir zählen dazu Fälle wie (26): (26) a. Er sitzt (im Gefängnis). Der Anzug sitzt. b. Du gibst (u.a. die Karten beim Kartenspiel, machst den Auf- schlag beim Tischtennis). c. Das geht. Die Uhr geht. d. Das reicht. Projektionistisch formuliert ist Valenzreduktion in diesem Fall keine aktuelle synchrone Operation. Valenzreduktion hat sich hier mit einer semantischen Veränderung (Bedeutungsverengung bzw. Bedeutungsspezialisierung) verbunden, die zu einem dauerhaften Valenzeintrag geführt hat. Beispielsweise setzen Helbig/ Schenkel (1971) eine gesonderte einstellige Variante für gehen für Die Uhr geht an. 14 8. Folgerungen für den DaF - Unterricht und für Valenzwörterbücher Eine Folgerung für den DaF-Unterricht sollte sein, den Lernern zu sagen, dass sie Ergänzungen, die im Valenzlexikon verzeichnet sind, im Prinzip dann weglassen können, wenn ihnen die Aussage auch ohne die Realisierung im gegebenen Kontext ausreichend erscheint. Denn die Nichtrealisierung von Argumenten hängt im Wesentlichen von den Kriterien der Vorstellbarkeit und der Relevanz ab. Das sind Kriterien, die die Lerner unabhängig von einer Einzelsprache anwenden können. Hinzu kommen zusätzliche Bedingungen, wie sie oben erwähnt wurden. Wenn eine solche Strategie umsetzbar ist, ist das ein empirischer Beleg der Stichhaltigkeit unserer Behauptung. 14 Auch die Ungrammatikalität von Valenzreduktionen bei be-Verben gehört zu diesen Bedingungen (zu Gründen vgl. Welke 2009a). Wechselseitigkeit von Valenz und Konstruktion: Valenz als Grundvalenz 55 Entsprechendes gilt für Valenzerweiterungen mit dem Zusatz, dass beschrieben werden muss, in welchen Konstruktionstypen nicht-projizierte Argumente regelhaft auftreten, nämlich in Dativ-, Direktiv-Objektsprädikativkonstruktionen und in Konstruktionen mit Inhaltsakkusativ und möglicherweise in weiteren Argument-Konstruktionen, z.B. Konstruktionen mit an + Dativ: (27) a. Er baut ein Haus. b. Er baut an einem Haus. (28) a. Er arbeitet. b. Er arbeitet an einem Buch. Das muss ergänzt werden durch Informationen zu allgemeinen syntaktischen, semantischen und pragmatischen Bedingungen der Valenzerweiterung und durch gezieltes Lernen konventionalisierter Minikonstruktionen. Die Folgerung für Valenzwörterbücher sollte darin bestehen, dass sie nach wie vor auf die Eintragung nicht-projizierter Argumente verzichten, aber auch auf den Eintrag der Fakultativität (Weglassbarkeit) von Argumenten. Konventionalisierte Minikonstruktionen könnten eventuell beispielhaft gesondert aufgenommen und als solche kommentiert werden. 9. Fazit Valenz (Projektion) und Konstruktion bedingen sich wechselseitig. Die KxG kann auf Valenz (Projektion) nicht verzichten, da sie erklären muss, warum Argumentkonstruktionen nicht durch beliebige Köpfe instanziierbar sind. Die VT muss durch den konstruktionsgrammatischen Ansatz erweitert werden, wenn man erklären will, wie es einerseits zur Entstehung und Veränderung von Projektionen und andererseits zu nicht-projizierten Argumenten kommen kann. Da der KxG-Aspekt der umfassendere ist, sollte die Integration von VT und KxG unter dem Primat der KxG erfolgen. Valenzabweichungen nach unten oder oben (fakultative Valenzen, Valenzreduktionen einerseits und Valenzerweiterungen durch nicht-projizierte Argumente andererseits) ergeben sich aus einer regelgeleiteten Anpassung von Köpfen (Verben) an geringerstellige oder höherstellige Konstruktionen. Klaus Welke 56 Die Folgerung für die Valenztheorie besteht darin, Valenz im Sinne von Grundvalenz zu definieren. Literatur Aebli, Hans (1980): Denken: das Ordnen des Tuns. Bd. 1: Kognitive Aspekte der Handlungstheorie. Stuttgart. Ágel, Vilmos (2000): Valenztheorie. Tübingen. Barsalou, Lawrence W. (1992): Frames, concepts, and conceptual fields. In: Lehrer, Adrienne/ Kittay, Eva F. (Hg.): Frames, fields, and contrasts. Hillsdale, NJ, S. 21-71. Barsalou, Lawrence W. (1999): Perceptual symbol systems. In: Behavioral and Brain Sciences 22, S. 577-660. Barsalou, Lawrence W. (2008): Grounded cognition. In: Annual Review of Psychology 59, S. 617-645. Barsalou, Lawrence. W. (2009): Simulation, situated conceptualization, and prediction. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London: Biological Sciences 364, S. 1281-1289. Barsalou, Lawrence W./ Santos, Ava/ Simmons, W. Kyle/ Wilson, Christine W. (2008): Language and simulation in conceptual processing. 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Valenztheorie und Konstruktionsgrammatik Die empirische und theoretische Schnittmenge von Valenztheorie (im Folgenden: VT) und Konstruktionsgrammatik (KxG) sind grammatische Grundstrukturen, die in der VT Valenz(realisierungs)muster, Kasusrahmen, Satzmodelle oder Satzbaupläne (z.B. Ickler 1990; Welke 1994; Vuillaume 2003; Ágel 2004), in der KxG Argumentstrukturen bzw. Argumentstrukturmuster (z.B. Goldberg 1995; Engelberg/ König/ Proost/ Winkler 2011) genannt werden. Obwohl die Herangehensweisen der beiden Theorien bekanntlich unterschiedlich sind (projektionistisch vs. konstruktionistisch, siehe Jacobs 2008), setzt sich die Auffassung immer mehr durch, dass die Integration von VT und KxG bzw. generell von projektionistischen und konstruktionistischen Modellkomponenten fruchtbar und auch notwendig ist (Ágel 2003, 2004; Coene/ Willems 2006, Willems/ Coene 2006; Jacobs 2009; Welke 2009a, 2009b, 2011; Ágel/ Fischer 2010a, 2010b; Herbst 2011; Stefanowitsch 2011). Nicht - wie gelegentlich irrtümlicherweise angenommen wird - deshalb, weil die VT das Idiosynkratische und die KxG das Reguläre untersuchen würde, sondern, weil es grammatische Grundstrukturen gibt, die die eine Theorie plausibler beschreiben und/ oder erklären kann als die andere und umgekehrt. Des Weiteren liegt insbesondere in den Fällen, in denen beide Theorien gleich plausible Beschreibungen und/ oder Erklärungen liefern, die Vermutung nahe, dass eine integrative Theorie auch Redundanzen enthalten muss, d.h., dass Beschreibungen und/ oder Erklärungen nicht nur kompetitiv, sondern auch komplementär sein können. Es besteht also zunehmend Konsens darüber, dass VT und KxG zu integrieren sind, die Frage, wie eine erfolgreiche Integration aussehen könnte, kann aber zurzeit noch nicht definitiv beantwortet werden. Der vorliegende Aufsatz möchte zu der Beantwortung dieser Frage einen Beitrag leisten, indem Gegenstände und Desiderate von VT und KxG aufgezeigt und Lösungsvorschläge zu brisanten Gegenständen Vilmos Ágel 62 vorgestellt werden. Da die Lösungsvorschläge aus valenztheoretischer Sicht vorgetragen werden, stellen sie zugleich Argumente für das Primat der Valenztheorie in der angestrebten Theorieintegration dar. Diese Argumente werden zum Schluss verallgemeinert (Abschnitt 7.1) und durch ein semiotisches - genauer: semiologisches - Argument ergänzt (Abschnitt 7.2). Die nachfolgenden Überlegungen stehen dabei in einem größeren theoretischen Zusammenhang, sie sind Teil des Konzepts der Grammatischen Textanalyse, mit dem eine deszendente syntaktische Analyse vom Text zur Wortgruppe ermöglicht werden soll (Ágel i.Vorb.). In dieser Monografie werden sowohl für klassische Problembereiche der VT, wie z.B. die freien Dative oder die Präpositionalobjekte, als auch für die ‘Lieblingsthemen’ der KxG, wie z.B. Resultativkonstruktionen (inkl. Caused Motion) oder Geräusch(emissions)verben als Fortbewegungsverben, valenztheoretische Lösungen vorgeschlagen. In dem vorliegenden Beitrag müssen jedoch diese größeren Themenbereiche ausgeklammert bleiben. 2. Funktion, Argument, Wert Die Grundidee des Konzepts der Grammatischen Textanalyse ist, dass sich die Architektur der Grammatik in Analogie zu einer einfachen logischen Formel beschreiben lässt (Allwood/ Andersson/ Dahl 1973, S. 8ff.): F (A) = W Diese Formel besagt, dass die Anwendung einer bestimmten Funktion (= F) auf ein bestimmtes Argument (= A) einen bestimmten Wert (= W) ergibt. Argumente können beliebige Entitäten sein. Wenn man ein bestimmtes Argument unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet, wenn man es in einen bestimmten Zusammenhang stellt, sind das Ergebnis Werte, d.h. funktionale Einordnungen von Argumenten. Einige Beispiele: studieren (Mensch) = Student Blutdruck (Peter Müller) = 120/ 80 Name (Mensch X) = Peter Müller studieren (Peter Müller) = der Student Peter Müller Brisante Gegenstände 63 Entscheidend ist, dass die Argumente unabhängig von den jeweiligen Funktionen betrachtbare Entitäten sind, während die Werte nur relativ zu den Funktionen interpretierbar sind. Beispielsweise kann Peter Müller unabhängig von seinem Blutdruck betrachtet werden, nicht jedoch der Student Peter Müller unabhängig von der Funktion des Studierens oder die Wortkette Peter Müller unabhängig von dem Aspekt, dass es sich um den Namen eines bestimmten Menschen handelt. Entscheidend ist auch, dass die Formel rekursiv ist: 1 Ein bestimmter Wert kann in einem neuen Zusammenhang als Argument eingesetzt werden, z.B. Anzahl der Geschwister (der Student Peter Müller) = 3 3. Statische und dynamische Sätze Die Grundstruktur eines Satzes stellt ein Valenzrealisierungsmuster dar. Dieses besteht aus einem verbalen Valenzträger (VTR) und dessen Komplementen und indiziert einen qua VTR entworfenen und qua VTR und Komplementen realisierten einzelsprachlichen Sachverhalt, den ich in Anlehnung an Fischer (2003, S. 28ff.) Szenario nenne. Jedes Valenzrealisierungsmuster basiert dabei auf der konventionalisierten, im Lexikoneintrag des VTR festgehaltenen Grundvalenz (siehe zuletzt Welke 2011, S. 167ff.). Was heißt aber basiert? Vergleichen wir hierzu die in (1a) realisierte Grundvalenz von vergessen mit einem Beleg mit dem nichtkonventionalisierten VTR vorbeivergessen (VTR (Prädikate) sind fett gedruckt): (1) a. Er hat „mutmaßlich“ etwas vergessen. b. Er hat „mutmaßlich“ ein bißchen Geld an der Steuer vorbei- vergessen. (Hildebrandt: achtzig, S. 42) Beide Sätze basieren auf der Grundvalenz von vergessen, aber sie repräsentieren zwei theoretische Möglichkeiten der Erzeugung eines Valenzrealisierungsmusters: 1 Grammatische Rekursivität wird an einem Passivbeleg in Abschnitt 6.5 veranschaulicht. Vilmos Ágel 64 1) Wenn die Grundvalenz 1: 1 realisiert wird, wenn also das potenzielle, in der Verbvalenz angelegte Szenario ohne Abwandlung, ohne Umszenierung, aktualisiert wird, entstehen statische Sätze wie (1a). 2) Wenn dagegen die Grundvalenz nicht 1: 1 realisiert wird, wenn also das potenzielle, in der Verbvalenz angelegte Szenario abgewandelt, umszeniert, wird, entstehen dynamische Sätze wie (1b). Die Umszenierung des vergessen -Szenarios in ein vorbeivergessen - Szenario erfolgt, indem - im Sinne der Funktion-Argument-Wert-Formel - auf die statische Valenz des statischen VTRs vergessen (= Argument) die Konstruktion {Verbpartikel vorbei + Präpositionalgruppe an+DAT } (= Funktion) angewandt wird. Das Ergebnis ist der (konstruktionell) dynamische VTR vorbeivergessen (= Wert): {Vprt vorbei + PrGr an+DAT } (VTR stat vergessen) = VTR dyn vorbeivergessen Der dynamische VTR vorbeivergessen hat die folgende (dynamische) Valenz: Subjekt - Akkusativobjekt - Präpositional an+DAT -objekt Die ersten beiden Komplemente sind dabei von der statischen Valenz von vergessen vererbt, das dritte Komplement brachte die Konstruktion mit. An dieser Stelle ist es angebracht, darauf hinzuweisen, dass sich der in der Grammatischen Textanalyse verwendete Begriff der Konstruktion in mindestens drei Punkten von dem wohl gängigsten KxG-Begriff von Goldberg (1995, S. 4) unterscheidet: 1) Er umfasst nicht nur nichtprädiktable, sondern auch prädiktable syntaktische Muster. 2 2) Er umfasst nicht nur Muster (mit grammatikografischer Referenz), sondern auch komplexere Techniken der Umszenierung wie Reduktion, Kontamination, Substitution und Umdistribution, die sich mit einem einfachen Schemabegriff nicht erfassen lassen. Auf diese Techniken wird in Abschnitt 6 noch einzugehen sein. 2 Stefanowitsch (2009) unterscheidet Muster und Konstruktion und betrachtet nur die syntaktisch und/ oder semantisch nicht vorhersagbare Teilmenge der Muster als Konstruktionen. Aus valenzdynamischer Perspektive ist diese Unterscheidung weniger zentral. Brisante Gegenstände 65 3) Dagegen umfasst er keine umszenierenden grammatischen Kategorien wie etwa Passiv oder Imperativ, sondern nur syntaktische Muster wie etwa Cleft oder Pseudo-Cleft, die herkömmlicherweise keinen grammatischen Kategorien zugeordnet werden. Aus dieser Restriktion ergibt sich die Möglichkeit, zwischen konstruktioneller und kategorialer Valenzdynamik zu unterscheiden. An dem Beispielpaar (1a)-(1b) wurde die konstruktionelle Valenzdynamik bereits veranschaulicht. Das folgende Satzpaar - (a)-Satz statisch, (b)-Satz dynamisch - zeigt am Beispiel der Umszenierung des heften -Szenarios in ein geheftet-kriegen - Szenario die kategoriale Valenzdynamik: (2) a. Man heftet dir ihr Kreuz auch noch an die Brust. b. [...] ihr Kreuz kriegst du auch noch an die Brust geheftet [...]. (Böll: Dienstfahrt, S. 75) Hier wird - im Sinne der Funktion-Argument-Wert-Formel - auf die statische Valenz des statischen VTRs heften (= Argument) die grammatische Kategorie ‘Dativpassiv’ mit dem Hilfsverb kriegen (= Funktion) angewandt. Das Ergebnis ist der (kategorial) dynamische VTR geheftet kriegen (= Wert): Dativpassiv kriegen (VTR stat heften) = VTR dyn geheftet kriegen Dass die Unterscheidung zwischen konstruktioneller und kategorialer Valenzdynamik einen explanativen Wert hat, soll in Abschnitt 6.5 am Beispiel des Passivs gezeigt werden. Fasst man kategoriale und konstruktionelle Valenzdynamik - in Anlehnung an den Begriff der strukturellen Valenzrealisierung (Ágel 2000, S. 215ff.) - als strukturelle Valenzdynamik zusammen, lässt sich die Valenzdynamik auf die folgenden Funktion-Argument-Wert-Formeln bringen (V(TR) = Valenz(träger)): 3 Struktur (V(TR) stat ) = strukturell V(TR) dyn  3 Die Einklammerung im Kürzel „V(TR)“ deutet an, dass sich die Formeln sowohl valenzbezogen (V stat V , V dyn V ) als auch valenzträgerbezogen (VTR stat , VTR dyn ) interpretieren lassen. Vilmos Ágel 66 (a) Kategorie (V(TR) stat ) = kategorial V(TR) dyn (b) {Konstruktion} (V(TR) stat ) = konstruktionell V(TR) dyn In satzbezogener Notation: Struktur (Satz stat ) = Satz dyn  (a) Kategorie (Satz stat ) = Satz dyn (b) {Konstruktion} (Satz stat ) = Satz dyn Um im nächsten und übernächsten Abschnitt eine kleine Typologie von möglichen Gegenständen von VT und KxG skizzieren zu können, muss an dieser Stelle noch darauf hingewiesen werden, dass Statik und Routine bzw. Kreativität und Dynamik nicht gleichzusetzen sind. Ich verstehe Routine und Kreativität in Anlehnung an Stein (1995, S. 108ff.) als komplementäre strukturelle Optionen, die sich kurz mit den Stichworten ‘Aufgabenbewältigen’ vs. ‘Problemlösen’ charakterisieren lassen. Valenzbezogen bedeutet Routine (a) statische Routine: Realisiert werden statische Sätze - und (b) dynamische Routine: Realisiert werden kategorial dynamische Sätze (siehe (2b)) oder konstruktionell dynamische Sätze, bei denen - im Gegensatz zum Typ (1b) - die Umszenierung ein Routine-Akt ist: (3) a. Er schob das Fahrrad. b. [...] und [er] schob das Fahrrad schräg den wulstigen Deich hinauf. (Lenz: Deutschstunde, S. 10) Das Verhältnis von statischem (a)-Satz und dynamischem (b)-Satz lässt sich im Sinne der Funktion-Argument-Wert-Formel wie folgt darstellen: {Vprt hinauf + NGr akk } (VTR stat schieben) = VTR dyn hinaufschieben Diese Darstellung ist zwar analog zu der von (1a) vs. (1b). Während aber der Fall (das Fahrrad den Deich) hinaufschieben schlichte Aufgabenbewältigung darstellt, ist der Fall (Geld an der Steuer) vorbeivergessen als Problemlösung anzusehen. Routine kann also statisch und (kategorial oder konstruktionell) dynamisch sein. Kreativität ist dagegen immer (konstruktionell) dynamisch. Brisante Gegenstände 67 4. Eine kleine Typologie von Valenzrealisierungsmustern Legt man die Merkmalspaare ‘Statik/ Dynamik’ und ‘Routine/ Kreativität’ an, repräsentieren die Belege (1b), (2b) und (3b) drei Typen von VTRn bzw. Valenzrealisierungsmustern. Weitere - kreativ-dynamische - Muster, die in einer VT und/ oder KxG zu beschreiben sind, repräsentieren die folgenden (b)-Sätze: 4 (4) a. Hanna heiratete. b. Hanna arbeitete als deutsche Sprecherin bei BBC. […] Herr Piper verdankt ihr sein Leben, scheint mir; Hanna heiratete ihn aus einem Lager heraus [...]. 5 (Frisch: Homo, S. 176) (5) a. ? b. Das Ruhrgebiet fördert wieder. (DB-Werbung für das Ruhr- 2010-Ticket) (6) a. ? b. Sie ist ihm dazwischen gestorben. (Hörbeleg, Dieter Hilde- brandt in einer Show) 6 (7) a. Er redet. b. Kaum haben sie [= Klaus und Irene Gysi, die Eltern von Gre- gor Gysi, VÁ] sich gesetzt, geht die Tür auf und sechs SS-Leu- te treten ein. Klaus Gysi erzählt ihnen einen Judenwitz nach dem anderen. Er redet um sein Leben. (Die Zeit 36, 2011, S. 4) (8) a.+b. Mein Großvater starb an der Westfront; mein Vater starb an der Ostfront: an was sterbe ich? (Volker von Törne: Frage. In: bundesdeutsch, S. 119) 4 Genauer: Die Belege (4b) - Caused Motion nach KxG - und (1b) - mit dem VTR vorbeivergessen - gehören nach den hier angelegten Kriterien demselben Typ an. Die Belegnotation „(8) a.+b.“ wird in Abschnitt 6.3 aufgelöst. 5 Gemeint ist: ‘Hanna bewirkte dadurch, dass sie Herrn Piper heiratete, dass er aus dem Lager herauskam’. 6 Gemeint hat Hildebrandt mit dieser Ad-hoc-Bildung, dass, obwohl alle erwartet hatten, dass der Mann früher sterben würde, die Frau früher gestorben ist. Vilmos Ágel 68 Dass diese Typen komplexe valenzdynamische Fälle sind, sieht man auch daran, dass der dem jeweiligen dynamischen (b)-Satz zugrunde liegende statische (a)-Satz keinesfalls immer selbstverständlich ist. In der folgenden Tabelle werden die einzelnen Typen, berechnet mit Hilfe der Funktion-Argument-Wert-Formel, zusammengestellt (V = Valenz; tiefgestelltes 1+2 = ein Verb, zwei VTR; tiefgestelltes 1,2,3 = Reihenfolge der Vorkommen desselben VTRs): Beispiel Funktion Argument Wert Typ (a)-Sätz e - 1) statische Routine Böll Dativpassiv V stat von heften V dyn von geheftet kriegen yy 2) kategorial dynamische Routine Lenz {Vprt hinauf + NGr akk } V stat von schieben V dyn von hinaufschieben y 3) konstruktionell dynamische Routine Frisch {Vprt heraus + Herkunftsdirektivum + NGr akk } V stat von heiraten V dyn von herausheiraten y 4) additive konstruktionell dynamische Kreativität DB-Werbung {Nichtrealisierung des Akkusativobjekts} V stat von fördern 1+2 V dyn von fördern y (Ad-hoc- System-VTR) 5) reduktive konstruktionell dynamische Kreativität Hildebrandt {Kontamination der Verben sterben und dazwischen kommen} V stat von sterben und dazwischen kommen 1+2 V dyn von dazwischen y sterben 6) kontaminative konstruktionell dynamische Kreativität Die Zeit {V stat von VTRn wie kämpfen, flehen usw. mit um+ NGr akk } V stat von reden V dyn von reden yy 7) substitutive konstruktionell dynamische Kreativität von Törne {V stat von sterben 3 } V stat von sterben 1,2 V dyn von sterben y 1,2 8) umdistributionelle konstruktionell dynamische Kreativität Tab. 1: Typen von Valenzrealisierungsmustern nach Statik/ Dynamik und Routine/ Kreativität Brisante Gegenstände 69 Die Typen 1 bis 4 wurden bereits eingeführt. Auf die Typen 5 bis 8 wird in Abschnitt 6 einzugehen sein. Natürlich ist die Liste der kreativdynamischen Typen, die auf eigener Lektüreerfahrung basiert, offen. 5. Bevorzugte Gegenstände von Valenztheorie und Konstruktionsgrammatik Geht man von der kleinen Typologie in Abschnitt 4 aus, besteht die Möglichkeit, die bevorzugten - valenzrealisierungsmusterbezogenen - Arbeitsgebiete von VT und KxG zu sortieren: Typ bevorzugter Gegenstand von 1) statische Routine VT 2) kategorial dynamische Routine VT + KxG 3) konstruktionell dynamische Routine VT (+ KxG) 4) additive konstruktionell dynamische Kreativität (VT +) KxG 5) reduktive konstruktionell dynamische Kreativität VT 6) kontaminative konstruktionell dynamische Kreativität ? 7) substitutive konstruktionell dynamische Kreativität KxG 8) umdistributionelle konstruktionell dynamische Kreativität ? Tab. 2: Bevorzugte Gegenstände von VT und KxG Der bevorzugte Gegenstand der VT ist traditionell die Valenzroutine (Typen 1 bis 3). Häufig untersucht wurden auch die reduktive und die additive Valenzkreativität (Typen 4 und 5). Dies ist der Fragenkomplex der sog. Valenzänderung (Valenzreduktion und -erhöhung) mit traditionellem Übergewicht (und überzeugenderen Lösungsansätzen) im Bereich der Valenzreduktion (sog. fakultative Valenz). Der bevorzugte Gegenstand der KxG ist traditionell die Valenzkreativität, insbesondere Addition und Substitution. Kontamination und Umdistribution sind bisher weder ins Blickfeld der VT noch in das der KxG geraten. Die Chancen für eine Zusammenarbeit stehen also in Anbetracht der tendenziell komplementären Gegenstände nicht schlecht. Denn was des einen Stärke ist, ist des anderen Schwäche (siehe in diesem Sinne auch Stefanowitsch 2011). Vilmos Ágel 70 6. Brisante Gegenstände Aufgrund von Tabelle 2 in Abschnitt 5 stellen eindeutige Desiderate der VT dar: 1) Kontamination (Abschnitt 6.1), 2) Substitution (Abschnitt 6.2) und 3) Umdistribution (Abschnitt 6.3). Ein weiterer, bisher mit relativ wenig Erfolg behandelter Problembereich ist die Addition, d.h. Valenzerhöhung mit oder ohne VTR-Erweiterung. Die dynamischen Partikelverb-Typen 3 und 4 repräsentieren dabei die Valenzerhöhung mit VTR-Erweiterung. Obwohl die Valenzreduktion - im Gegensatz zur Addition - ein etablierter und erfolgreich untersuchter Gegenstandsbereich der VT ist (zusammenfassend siehe Ágel 2000, S. 237ff.), gibt es auch hier, geht man von der schier unendlichen grammatischen Vielfalt der Textwelt aus, noch viel zu tun. Erinnert sei an den Beleg (5b), bei dem die zugrunde liegende statische Valenz in einem ersten Anlauf nicht bestimmt werden konnte. Dieser Typus, den ich systemerzeugende Reduktion nenne, weil die Reduktion zu der Erzeugung eines Ad-hoc- System-VTRs führt, wird in Abschnitt 6.4 behandelt. Schließlich soll, wie in Abschnitt 3 angekündigt, am Beispiel des Passivs gezeigt werden, dass die Unterscheidung zwischen konstruktioneller und kategorialer Valenzdynamik einen explanativen Wert hat. Dies wird in Abschnitt 6.5 anhand der folgenden Belege nachzuweisen sein: (9) Wir Vertriebene sind jetzt mehr, als wir damals waren, als wir gekommen wurden. (Hildebrandt: achtzig, S. 30) (10) Ich fühlte mich von ihm benutzt. (Hein: Freund, S. 104f.) 6.1 Kontamination Hier geht es um den Typus (6) b. Sie ist ihm dazwischen gestorben. (Hörbeleg, Dieter Hilde- brandt in einer Show) Brisante Gegenstände 71 Der dynamische VTR dazwischen sterben stellt im Gegensatz zu den dynamischen VTRn hinaufschieben und herausheiraten keine Addition, sondern eine Kontamination von zwei Verben und drei VTRn dar. Hildebrandt nutzt hier die Grundvalenzen der Verben sterben und dazwischen kommen, Letzteres in zwei Lesarten (Vorgang und Tätigkeit). Die grammatischen und semantischen Grundstrukturen der drei VTR lassen sich wie folgt darstellen (semantische Grundstrukturen in versalien ): 7 (i) Subjekt persÖnlicher vorgangsträger jemand VTR vorgang ist gestorben (ii) Subjekt unpersÖnlicher vorgangsträger etwas VTR vorgang ist dazwischen gekommen Dativobjekt vorgangsbetroffener ihm (iii) Subjekt tätigkeitsträger jemand VTR tätigkeit ist dazwischen gekommen (‘geraten’) 7 In der Grammatischen Textanalyse wird die semantische Struktur signifikativsemantisch interpretiert. Signifikativ-semantisch werden im Gegensatz zu herkömmlichen denotativ-semantischen Beschreibungen keine außersprachlichen Situationen, sondern einzelsprachlich perspektivierte Sachverhalte beschrieben (Welke 2005, S. 95ff.). Entsprechend stellen auch die obigen semantischen Rollen vorgangsträger, r vorgangsbetroffener und tätigkeitsträger signifikativ-semantische Rollen dar. Vilmos Ágel 72 Das Verb sterben ist wie die Lesart (ii) von dazwischen kommen ein Vorgangsverb, während die Lesart (iii) von dazwischen kommen ein Tätigkeitsverb ist. 8 Das Subjekt von sterben und des Tätigkeitsverbs dazwischen kommen kodiert konkrete Personen, das Subjekt des Vorgangsverbs dazwischen kommen dagegen abstrakte Gegenstände. Dies ist die eine Quelle der kreativen Umszenierung. Die andere ist - neben den lexikalischen Bedeutungen der VTR - die Zweiteiligkeit von dazwischen gekommen. Dies ermöglicht dem Hörer eine schnelle Analogiebildung. Strukturell unterstützt wird diese dadurch, dass beide Verben das Perfekt mit sein bilden. Das Ergebnis ist die Einpflanzung der Grundvalenz von sterben in die beiden Grundvalenzen und die morphologische Struktur von dazwischen kommen. Grammatische und semantische Analogie werden dabei auf die Lesarten (ii) und (iii) verteilt. Das Dativobjekt wird von (ii), die Tätigkeitsstruktur von (iii) auf (i) übertragen: (i+ii+iii) Subjekt tätigkeitsträger sie VTR tätigkeit ist dazwischen gestorben Dativobjekt tätigkeitsbetroffener ihm Aus dieser (semantischen) Dreierkontamination ergibt sich also eine Lesart, nach der die Gestorbene dem Mann absichtlich zuvorgekommen ist. Es ist dieser Tätigkeitscharakter des Zuvorgekommenseins, der den wohl zentralen komischen Effekt auslöst. Wie auch der Funktion-Argument-Wert-Formel in Tabelle 1 (Abschnitt 4) zu entnehmen ist, ist für die Kontamination charakteristisch, dass einem kontaminativen konstruktionell dynamischen Satz per definitionem mindestens zwei statische Sätze zugrunde liegen müssen, schließlich setzt die Anwendbarkeit der ‘wortkreuzenden’ Technik mindestens zwei statische Valenzen voraus. 8 Im Unterschied zu (transitiven) Handlungsverben, die ein Tun, durch das etwas bewirkt/ verursacht wird, ausdrücken, beschreiben (intransitive) Tätigkeitsverben ein ‘bloßes’ Tun, ohne etwas bewirken zu wollen (Welke 2005, S. 179ff.). Brisante Gegenstände 73 6.2 Substitution Betrachten wir nun den Typus (7) b. Kaum haben sie [= Klaus und Irene Gysi, die Eltern von Gre- gor Gysi, V.Á.] sich gesetzt, geht die Tür auf und sechs SS-Leu- te treten ein. Klaus Gysi erzählt ihnen einen Judenwitz nach dem anderen. Er redet um sein Leben. (Die Zeit 36, 2011, S. 4) t Rostila (2007, S. 154), der um AKK -Belege mit schreien, fragen, betteln, zittern, bangen, weinen, nachsuchen und beten auflistet, interpretiert die qua um AKK indizierte semantische Nische analog zum bitten-Szenario. Demnach wird durch die analogische Übertragung von um AKK auf einen VTR, in dessen statischer Valenz das Valenzrealisierungsmuster {Subjekt-Präpositional um+AKK -objekt} nicht vorgesehen ist, ausgedrückt, dass „die im Verb näher angegebene Tätigkeit“ der „Beibehaltung von etwas, das einer besitzt“ dient (ebd.). Wer um sein Leben redet, will also durch Reden erreichen, dass er am Leben bleibt. Die Anwendung des Valenzrealisierungsmusters {Subjekt-Präpositional um+AKK -objekt} auf einen intransitiven statischen VTR mit einem Subjekt als tätigkeitsträger kann also zur ‘Erhaltungsbedeutung’ des dynamischen VTR führen. Eine mögliche, konstruktionsgrammatisch leicht konvertierbare Funktion-Argument-Wert-Formel wäre demnach: {Subjekt-Präpositional um+AKK -objekt} (V stat reden) = V dyn reden Wie der Tabelle 1 (Abschnitt 4) zu entnehmen ist, wurde allerdings als Funktion nicht das Valenzrealisierungsmuster, sondern die statische Valenz einer kontextgebunden geschlossenen Liste von Verben eingesetzt: {V stat von VTRn mit um+NGr akk wie kämpfen, flehen usw.} (V stat reden) = V dyn reden Orientiert man sich an Müller (2013), gibt es nämlich ca. eine Handvoll Verben mit dem Valenzrealisierungsmuster {Subjekt-Präpositional um+AKK -objekt}, die im gegebenen Kontext als realistische Alternativen in Frage gekommen wären: (7) b'. Klaus Gysi erzählt ihnen einen Judenwitz nach dem anderen. Er kämpft/ fleht/ bettelt/ bangt/ zittert um sein Leben. Vilmos Ágel 74 Andere Verben mit demselben Valenzrealisierungsmuster hätten - aus unterschiedlichen Gründen - mehr oder weniger gut oder gar nicht gepasst: (7) c. Klaus Gysi erzählt ihnen einen Judenwitz nach dem anderen. ? (? ) Er weint/ trauert/ bittet/ sucht nach/ fragt/ wettet/ kümmert sich/ sorgt sich/ bemüht sich/ streitet sich/ schlägt sich um sein Leben. h Der jeweilige Kontext schränkt also massiv die Anzahl realistischer statischer VTR-Alternativen ein, sodass der Effekt eines Belegs wie (7b) darin besteht, dass der Leser den Eindruck bekommt, als würde reden eins von diesen fünf ‘kontextrealistischen’ Verben ad hoc ersetzen. Dieser Substitutionseindruck muss sich aber nicht konkret auf ein k bestimmtes Verb richten, er kann pauschal auch auf der Texterfahrung mit allen fünf statischen Alternativ-VTRn beruhen. Hier von einer Konstruktion im Sinne der KxG zu sprechen, wäre aus zwei Gründen problematisch: 1) Wenn man die Verben in (7b') und (7c) einer einzigen allgemeinen Konstruktionsbedeutung zuordnen würde (was nicht unplausibel wäre), müsste man erklären, warum der Einsatz von reden in (7b) nicht diese allgemeine Konstruktionsbedeutung, sondern lediglich die weniger allgemeine ‘Erhaltungsbedeutung’ evoziert. 2) Wenn man dagegen die Verben in (7b') und (7c) mehreren Konstruktionen zuordnen oder wenn man sie auf eine stark polyseme Konstruktion verteilen würde, wäre man zwar nahe an der von mir für den Typus (7b) favorisierten analogischen Erklärung. 9 Aber diese Lösung wäre nicht wirklich kontextsensitiv, weil sie neue Gruppenbildungen ‘kontextrealistischer’ Verben nicht zulassen würde. Mit anderen Worten, dieselben Verben, die in einem bestimmten Kontext statische Alternativen eines dynamischen VTRs darstellen würden, müssten auch in allen anderen Kontexten die statischen Alternativen desselben oder eines anderen dynamischen VTRs mit derselben Konstruktionsbedeutung sein. 9 Diese entspricht übrigens auch den drei Plausibilitätskriterien für eine analogische Erklärung nach Stefanowitsch (2011, S. 378f.). Brisante Gegenstände 75 6.3 Umdistribution (8) a.+b. Mein Großvater starb an der Westfront; mein Vater starb an der Ostfront: an was sterbe ich? (Volker von Törne: Frage. In: bundesdeutsch, S. 119) Erinnert sei daran, dass nach klassisch strukturalistischer Auffassung eine Distributionsklasse „eine syntagmatische Beziehung in absentia“ (Coseriu 1988, S. 145) ist. Elemente einer Distributionsklasse lassen sich folglich koordinieren. An einem Beispiel (nach Albrecht 1988, S. 47) veranschaulicht: 10 (11) sit tibi terra levis Hier könnten anstelle von tibi - einzeln oder koordiniert - auch alle anderen dativischen Personalpronomina (mihi, nobis usw.) stehen. Das Element tibi in praesentia und die anderen dativischen Personalpronomina in absentia bilden also in diesem Satz eine Distributionsklasse (vertikal, in eckigen Klammern): [mihi] (11') sit [tibi] terra levis [nobis] [...] Ordnet man nun Volker von Törnes Gedicht nach Distributionsklassen an, bekommt man eine Routine-Distributionsklasse links und eine kreative rechts (tiefgestellte Zahlen = Reihenfolge der Vorkommen von sterben): [Mein Großvater] starb 1 [an der Westfront] Lokaladverbial (> Präpositionalobjekt) [mein Vater] starb 2 [an der Ostfront] Lokaladverbial (> Präpositionalobjekt) [ich] sterbe 3 [an was? ] Präpositionalobjekt 10 S.T.T.L. ‘Sei dir Erde leicht’ (Möge dir die Erde leicht sein - Aufschrift auf Grabsteinen). Vilmos Ágel 76 Bei der kreativen Distributionsreihe wird die formale Ähnlichkeit - drei Präpositional an+DAT -gruppen - der realisierten Satzglieder - zwei Lokaladverbiale und ein Präpositional an+DAT -objekt - ausgenutzt, um bei dem Leser eine rückwirkende funktionale Uminterpretation der Lokaladverbiale an der Westfront und an der Ostfront in Ad-hoc-Präpositional an+DAT -objekte zu bewirken: Weil der nominale Kern des Präpositional an+DAT -objekts, d.h. was, für (beliebige tödliche) Krankheiten steht, und weil was eine lokale und einmalige Distributionsklasse mit Westfront und Ostfront bildet, wird die Krankheitssemantik von was qua okkasioneller Distributionsklassenbildung auf Westfront und Ostfront übertragen. Es ist diese lokale, kontextinduzierte Form der Adhoc-Bildung einer Distributionsklasse, die ich Umdistribution nenne. Expliziter und präziser als in Tabelle 1 (Abschnitt 4) lässt sich die Umdistribution unter Anwendung der Funktion-Argument-Wert-Formel wie folgt darstellen (st = sterben; PO = Präpositionalobjekt; LA = Lokaladverbial) {V stat st 3 mit PO an+DAT } (V stat st 1,2 mit LA an+DAT ) = V dyn st 1,2 mit PO an+DAT Hier wird die eine statische Valenz von sterben mit dem Valenzrealisierungsmuster {Subjekt-Präpositional an+DAT -objekt} (= st 3 ) als Funktion in der Funktion-Argument-Wert-Formel eingesetzt und auf die andere statische Valenz von sterben mit dem Valenzrealisierungsmuster {Subjekt} (= st 1,2 ) + ein Supplement (= LA an+DAT ) als Argument angewandt. Es ist also die statische Valenz eines VTRs, die als {Konstruktion} fungiert: Sie dynamisiert die statische Valenz eines anderen VTRs desselben Verbs. Da die Dynamisierung lokal erfolgt, stellen die Sätze mit den ersten beiden Vorkommen von sterben sowohl statische als auch dynamische Sätze dar (deshalb die Belegnotation „(8 a.+b.)“): Solange der Leser das dritte Vorkommen nicht kennt, sind sie statisch, anschließend werden sie rückwirkend dynamisiert. 6.4 Systemerzeugende Reduktion Ein theoretisch besonders interessanter Fall ist der folgende Beleg: (5) b. Das Ruhrgebiet fördert wieder. (DB-Werbung für das Ruhr- 2010-Ticket) Brisante Gegenstände 77 Die grammatische Voraussetzung für die Pointe ist die semantische Öffnung (‘Ambiguierung’) des in (5b) realisierten VTRs fördert, indem weder das Akkusativobjekt des VTRs fördern 1 ‘(finanziell) unterstützen’ noch das des VTRs fördern 2 ‘(durch Abbau) gewinnen’ realisiert wird. Da hier für ein Beförderungsmittel geworben wird und da der morphologische Zusammenhang zwischen fördern und befördern jedermann transparent sein dürfte, wird die quasi-doppelte valenzreduktive Dynamik durch diesen wortfamiliären Zusammenhang weiter dynamisiert. Der in (5b) realisierte VTR ist also gewissermaßen dreifach offen. Wie lässt sich nun der grammatische Mechanismus der semantischen Öffnung valenztheoretisch interpretieren? Hierzu bieten sich die in Anlehnung an Coserius Unterscheidung zwischen System und Norm (Coseriu 1975) eingeführten Begriffe ‘System- VTR’ und ‘Norm-VTR’ an (Ágel 2000, S. 121f., S. 130ff.). 11 Bezogen auf das Signifié spricht Coseriu (1987, S. 138) auf Systemebene von „Bedeutung“, d.h. der „funktionelle(n) Invariante der langue“, und auf Normebene von „Verwendungstypen“, die „»Sinnbzw. Bezeichnungsvarianten«“, d.h. konventionalisierte Lesarten, darstellen. Betrachten wir hierzu die folgenden Beispiele von ihm mit der „Konstruktion mit x“ (Coseriu 1987, S. 137): (12) Ich schneide das Brot mit dem Messer. (13) Ich fahre mit Ingrid spazieren. Als eine funktionelle Invariante des Sprachsystems hat „die Konstruktion mit x“ nach Coseriu nur eine Bedeutung, nämlich ‘Kopräsenz’, die er mit ‘auch x ist da’ paraphrasiert: (12') ‘Ich schneide das Brot, wobei auch das Messer da ist’ (13') ‘Ich fahre spazieren, wobei auch Ingrid da ist’ Die Varianten ‘Instrumental’ und ‘Komitativ’, wie man sie herkömmlicherweise in (12) bzw. (13) identifizieren würde, stellen konventionalisierte Lesarten der invarianten Bedeutung ‘Kopräsenz’ auf der Normebene dar. 11 Zur Kritik dieses Konzepts siehe Coene (2006, S. 124ff.), zu einer Typologie der VTR siehe Ágel (2000, S. 161ff.). Vilmos Ágel 78 Coserius Vorstellung, dass sich jedes Signifié auf Systemebene beschreiben ließe, ist m.E. überzogen (anders Coene 2006, S. 128), sonst müssten Bedeutungswandel und Lexikalisierung völlig mechanische Prozesse sein. Ein weiteres Argument liefert Belegtyp (5b): Wenn die Norm-VTRn fördern 1 und fördern 2 eine dem Typus mit x analoge Systembedeutung hätten, müsste in (5b) eine vollkommen unauffällige, nichtkreative Technik der grammatischen Aktualisierung des System- VTRs vorliegen. (5b) ist jedoch durchaus auffällig und kreativ, und diese Kreativität basiert auf dem Ad-hoc-Charakter des System-VTRs. Anders gesagt: Durch die quasi-doppelte (und wortfamiliär unterstützte) valenzreduktive Technik wird ein System-VTR grammatisch lediglich vorgetäuscht bzw. okkasionell erst erzeugt. 6.5 Kategorie vs. Konstruktion (am Beispiel des Passivs) An dem Dativpassiv-Beleg (2b) mit dem zugrunde liegenden statischen Satz (2a) wurde in Abschnitt 3 der Typ des kategorial dynamischen VTRs eingeführt: (2) a. Man heftet dir ihr Kreuz auch noch an die Brust. b. [...] ihr Kreuz kriegst du auch noch an die Brust geheftet [...]. (Böll: Dienstfahrt, S. 75) Passiv wurde hier also als kategorialer Wert in der Funktion-Argument-Wert-Formel bestimmt: Dativpassiv kriegen (VTR stat heften) = VTR dyn geheftet kriegen In Abschnitt 6 wurde allerdings auf zwei weitere Belegtypen - (9) und (10) - aufmerksam gemacht, die keine Routine-Fälle sind und sich theoretisch nicht so einfach fassen lassen. Fangen wir mit (9) an, und konzentrieren wir uns auf den Passivbeleg: (9) Wir Vertriebene sind jetzt mehr, als wir damals waren, als wir gekommen wurden. (Hildebrandt: achtzig, S. 30) b. Wir Vertriebene wurden gekommen. Das in (9b) praktizierte Grammatikspiel ist nicht ganz unbekannt, man denke nur an Sätze wie X ist zurückgetreten/ gegangen worden. Entscheidend ist, dass hier gar keine Ad-hoc-Passivierung vorliegt, es geht also nicht darum, dass die Regeln der Akkusativpassivbildung auf einen Brisante Gegenstände 79 statischen VTR angewandt worden wären, der nur peripher akkusativpassivfähig ist. Denn es gibt hier gar keinen zugrunde liegenden transitiven Aktivsatz, der hätte (akkusativ-)passiviert werden können: (9) a. (9) a *Man kam uns Vertriebene. Der zugrunde liegende statische Satz ist vielmehr ein intransitiver Aktivsatz mit sein-Perfekt: (9) a. Wir Vertriebene sind gekommen. Was hier kreativ-dynamisch ausgenutzt wird, ist a) dass sowohl Perfektals auch Passiv-VTR ein Partizip II (gekommen) brauchen, b) dass im Deutschen sowohl das Perfekt als auch das Passiv analytisch gebildet werden, und vor allem c) dass bei denjenigen intransitiven Verben mit sein-Perfekt, die im Normalfall keine labilen rezessiv-kausativen Alternationen (Haspelmath 1993; Ágel 2007) wie z.B. das Auto fährt vs. Peter fährt das Auto bilden, immer die Möglichkeit besteht, eine solche Labilität ad hoc zu erzeugen, d.h. kontextuell vorzutäuschen. In (9b) handelt es sich also um eine konstruktionelle Umszenierung auf der Grundlage eines Aktiv-VTRs mit sein-Perfekt (Argument). Indem das (Akkusativ-)Passivhilfsverb werden (Funktion) auf dieses angewandt wird, entsteht als Wert ein konstruktionell dynamischer VTR im (Akkusativ-)Passiv: Passivhilfsverb werden (Perfekt sein des Aktiv-VTR sta ) = Passiv-VTR dyn Wenden wir uns nun abschließend dem Fall (10) zu: (10) Ich fühlte mich von ihm benutzt. (Hein: Freund, S. 104f.) Außer fühlen gibt es eine ganze Reihe von Wahrnehmungs- und Wissensverben (kurz: WW-Verben), die die Struktur als dynamische VTR- Bestandteile nutzen: (10') Ich glaubte/ wusste/ wähnte/ spürte/ sah/ empfand (usw.) mich von ihm benutzt. Vilmos Ágel 80 Die Struktur erinnert am ehesten an das Zustandspassiv: 12 (10") Ich war von ihm benutzt. Allerdings sind die WW-VTR theoretisch besonders brisant, weil sie sich im Rahmen herkömmlicher, d.h. rein statischer Ansätze wohl nur schwer erklären ließen. Denn rein statisch wären sie alle ‘Sonderformen’ des Zustandspassivs. Dabei hätten diese ‘Sonderformen’ denotativ-semantisch die Eigenschaft, dass ihr Subjekt nicht ( proto -) patiens , sondern ( proto -) agens wäre, was ein statisch unauflösbarer theoretischer Widerspruch ist. Wenn man dagegen davon ausgeht, dass WW-Verben (als Funktionen) das Zustandspassiv (als Argument) dynamisieren, wobei das Zustandspassiv selber bereits einen kategorial dynamischen Wert darstellt, lässt sich das Problem in zwei Schritten - durch rekursive Anwendung der Funktion-Argument-Wert-Formel (siehe Abschnitt 2) - lösen: 1) kategoriale Umszenierung: (10) a 1 . Er benutzte mich. b 1 . Ich war von ihm benutzt. 2) konstruktionelle Umszenierung des kategorialen Werts ((10b 1 ) = (10 a 2 )): (10) a 2 . Ich war von ihm benutzt. b 2 . Ich fühlte mich von ihm benutzt. Die entsprechenden Funktion-Argument-Wert-Formeln sind: 1) Zustandspassiv sein (VTR stat benutzen) = VTR dyn benutzt sein 2) {WW-Verb fühlen b } (VTR dyn benutzt sein) = WW-VTR dyn sich benutzt fühlen Verallgemeinert man die beiden Formeln, wird sichtbar, dass hier eine konstruktionelle ‘Reaktivierung’ der Passivstruktur (als Argument) vorliegt. Das Ergebnis (der Wert) ist ein dynamischer Aktivsatz mit Agenssubjekt, aber mit sonstiger Passivstruktur (PrGr von+DAT + Partizip II), d.h. eine Art Struktur, die in einer rein statischen Theorie ausge- 12 Für die aktuelle Fragestellung ist es irrelevant, ob man die Struktur als Zustandspassiv oder als Kopula-Konstruktion auffasst. Zur Diskussion siehe Ágel (i.Vorb.). Brisante Gegenstände 81 schlossen wäre, aber im theoretischen Rahmen der Grammatischen Textanalyse keinen Widerspruch darstellt: 1) Passiv (Aktivsatz stat ) = Passivsatz dyn 2) {Aktiv} (Passivsatz dyn ) = Aktivsatz dyn mit Passivstruktur Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die drei Passivstrukturen, die im vorliegenden Abschnitt thematisiert wurden, drei verschiedene theoretische Instanzen repräsentieren: 1) Passiv als kategorialen Wert (Beleg (2b)), 2) Passiv als konstruktionellen Wert (9b) und 3) Passiv als rekursives konstruktionelles Argument (10a 2 ). 7. Argumente für die Valenz(theorie) Im abschließenden Teil des Beitrags soll weder eine klassische Zusammenfassung geboten noch ein herkömmliches Fazit gezogen werden. Angesichts der aktuellen Diskussion über die Integrierbarkeit von VT und KxG sollen vielmehr einige allgemeine Argumente für das Primat der VT vorgebracht werden. Denn ich sehe im Bereich grammatischer und semantischer Grundstrukturen keine allgemeinen Argumente für das Primat der KxG. 7.1 Primat der Valenz(theorie) Die Frage der Integration von VT und KxG lässt sich prinzipiell auf zwei unterschiedlichen Ebenen betrachten: 1) lokal, d.h. gegenstandsbezogen, oder 2) global, d.h. gesamttheoriebezogen. Gegenstandsbezogen braucht man für die Modellierung von statischen Sätzen nur die VT, für die von dynamischen Sätzen sowohl die VT als auch die KxG. Dabei gibt es keine Valenzdynamik, die die Valenzstatik ganz außer Kraft setzen würde/ könnte, denn im Sinne der Funktion-Argument-Wert-Formel operieren Konstruktionen als Funktionen auf statischen Valenzen als Argumenten, sodass der valenzdynamische Wert immer auch einen valenzstatischen Anteil enthält. Dies gilt auch für die Flaggschiffe der KxG wie Caused Motion-, Ditransitive-, Resultative- und Intransitive Motion-Konstruktionen. Vilmos Ágel 82 Gesamttheoriebezogen gibt es ebenfalls gute Argumente für das Primat der Valenz(theorie): a) Konstruktionsgrammatische Modellierungen von Routine-Valenzrealisierungen, die selbst in literarischen (Prosa-)Texten dominieren dürften, sind umständlich: Anzunehmen, dass etwa auch im Falle der normalen ditransitiven Realisierung von geben das Verb und die Ditransitive-Konstruktion getrennte Entitäten darstellen würden und dass das Verb mit der Konstruktion fusionieren müsste, um seine Valenzpotenz zu entfalten, ist unplausibel. Denn ohne die Kenntnis der statischen Valenz von geben, d.h., wenn man die Valenz in die Konstruktion verlegt, wüsste man gar nicht, warum der VTR ausgerechnet mit der Ditransitive-Konstruktion fusionieren sollte. Plausibel ist eine Fusionierungsannahme jedoch bei kreativen Realisierungen, bei denen das Verb samt seiner statischen Valenz ein ihm fremdes Valenzrealisierungsmuster ‘aufoktroyiert’ bekommt (Ágel 2000, S. 270). b) Nach Stefanowitsch (2011) spreche die hohe Produktivität von Argumentstrukturmustern für die KxG und die niedrige für die VT. In der Erlangen Valency Patternbank zählt allerdings Stefanowitsch selbst (ebd., S. 384) mehr als 700 niedrig produktive und nur „more than a dozen“ hoch produktive Muster. c) Das m.E. wichtigste gesamttheoriebezogene Argument ist jedoch nicht syntaktischer, sondern semiotischer Natur, siehe Abschnitt 7.2. 7.2 Zur Semiotik der Konstruktion(sgrammatik) Es ist ein oft wiederholtes semiotisches (semiologisches) Postulat der KxG, dass Konstruktionen Zeichen im Saussure'schen Sinne seien. 13 Argumentstrukturen als komplexe und schematische Konstruktionen (Croft 2001, S. 17) haben allerdings im Saussure'schen Sinne keine Formseite. Denn eine Argumentstruktur wie z.B. die Ditransitive-Konstruktion hat keine „lautliche Figur“ (Saussure 2003, S. 107). In der KxG wird deren Formseite rein syntaktisch aufgefasst. Ein zentrales Problem für Saussure ist die Identität(sbildung) des Zeichens (als kognitiver Akt): 13 Zu Saussures Semiologie siehe Jäger (2010, S. 139f.). Brisante Gegenstände 83 Diese - wenn man so will - kognitiven Akte (Identitätsurteile) operieren freilich nicht nur im Binnenraum des sprachlichen Bewusstseins der Sprecher, sondern sie müssen als Zeichenartikulationen immer wieder den sozialen Raum der Zeichenzirkulation durchqueren. (Jäger 2010, S. 203) Mit anderen Worten, „ein jedes Symbol existiert nur, weil es in die Zirkulation hineingeworfen ist“ (Saussure 1997, zit. n. Fehr 1997, S. 107). Es ist „die Zirkulation, die das, was zirkuliert, überhaupt erst zum Symbol macht.“ (Fehr 1997, S. 113 [Hervorh. i. Orig.]). Zirkulation ist also die Grundbedingung für eine soziale Tatsache: „Die Sprache [»langue«] ist sozial oder existiert nicht.“ (Saussures Notiz zur Vorbereitung seiner zweiten Vorlesung über allgemeine Sprachwissenschaft, zit. n. Fehr 1997, S. 111). Daraus, dass Argumentstrukturen keine Formseite im Saussure'schen Sinne haben, ergibt sich eine Kette von Konsequenzen: a) Auch wenn Argumentstrukturen eine Bedeutung/ Funktion haben sollten, sind sie keine Zeichen. Während also Wörter wie Verben semiotisch wenigstens eine formseitige ‘sprachliche Realität’ haben, stellen komplexe und schematische Konstruktionen semiotisch ausschließlich ‘linguistische Realitäten’ dar. b) Da Argumentstrukturen keine Formseite im Saussure’schen Sinne haben, können sie unabhängig von den Wörtern, die ja eine Formseite haben, gar nicht zirkulieren. Sie werden also erst kraft der konkreten Valenzrealisierungen „in die Zirkulation hineingeworfen“. c) Da Argumentstrukturen nicht zirkulieren können, stellen sie (ohne die Wörter, die sie tragen) keine sozialen Tatsachen dar. d) Wenn es stimmt, dass die Langue sozial ist oder nicht existiert, und wenn es stimmt, dass komplexe und schematische Konstruktionen (im semiologischen Sinne) nicht sozial sind, so gibt es zwei mögliche Schlussfolgerungen: Komplexe und schematische Konstruktionen existieren (im Saussure'schen Sinne) nicht, oder sie gehören nicht zur Langue. Das skizzierte semiotische Problem verschärft sich weiter, wenn man bedenkt, dass Konstruktionen als nichtkompositionale Gebilde aufgefasst werden. Wie soll man sich die Zirkulation nichtprädiktabler Teile einer lautlich nicht realisierbaren syntaktischen Konstruktion vorstel- Vilmos Ágel 84 len? Wenn also die KxG weiterhin auf der platonischen Realität komplexer und schematischer Konstruktionen besteht, muss sie wohl nach Theorien für sekundäre Zeichensysteme Ausschau halten. Literatur Quellen bundesdeutsch = Wiemer, Rudolf Otto (Hg.) (1974): bundesdeutsch lyrik zur sache grammatik. Wuppertal. Böll: Dienstfahrt = Böll, Heinrich (1969): Ende einer Dienstfahrt. DTV. (= dtv 380). München. Frisch: Homo = Frisch, Max (1957/ 1972): Homo faber. Ein Bericht. (= BS 87). Frankfurt a.M. Hein: Freund = Hein, Christoph (1982/ 1987): Der fremde Freund. Novelle. 5. Aufl. Berlin/ Weimar. Hildebrandt: achtzig = Hildebrandt, Dieter (2007): Nie wieder achtzig! München. Lenz: Deutschstunde = Lenz, Siegfried (1973): Deutschstunde. DTV. (= dtv 944). München. Sekundärliteratur Ágel, Vilmos (2000): Valenztheorie. Tübingen. Ágel, Vilmos (2003): Wort- und Ausdrucksvalenz(träger). In: Cornell, Alan/ Fischer, Klaus/ Roe, F. Ian (Hg.): Valency in practice / Valenz in der Praxis. 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Überlegungen zum Verhältnis von Konstruktionsgrammatik und Valenztheorie. In: Sprachwissenschaft 31, S. 237-272. LUDWIG M. EICHINGER KOOKKURRENZ UND DEPENDENZ KONKURRIERENDE PRINZIPIEN ODER EINANDER ERGÄNZENDE BEOBACHTUNGEN? 1. Die Verhältnisse und Relationen Dependenz redet vom gemeinsamen Vorkommen von Elementen. Kookkurrenz eigentlich auch. In dependenziellen Beschreibungen geht es darum, die systemorientierten Zusammenhänge auf dieser Ebene zu erfassen und nach der Richtung der Bindungen zu klassifizieren. Eine Analyse der Kookkurrenzen macht statistisch relevante Häufungen im gemeinsamen Gebrauch zur Basis dessen, was beschrieben werden soll - sie generalisiert über den vorfindlichen Gebrauch. Warum sollte es da um Konkurrenz und nicht um Ergänzung, sagen wir, die Betonung unterschiedlicher Sichtweisen gehen? Um dazu etwas sagen zu können, muss man nicht die Gemeinsamkeiten betonen, die offenkundig sind. Vielmehr hilft die Frage nach den Unterschieden weiter. Kookkurrenz ist der induktive, der sozusagen großmütigere Begriff: eigentlich ist er ja auf beliebige Entitäten anzuwenden, und all die Elemente, die sich durch ein auffällig häufiges gemeinsames Vorkommen auszeichnen, sind für ihn gleich gut - und nicht nur gleich gut, sondern zunächst einmal auch gleich. Bei Dependenzen ist das anders, es gibt hier gerichtete Relationen, die gerne auch eine formale - grammatische - Entsprechung haben. Generalisierungen über diese Richtungen sind mit systembezogenen Kategorisierungen verbunden. Der klassische Fall für eine grammatisch folgenreiche Dependenz-Relation ist die Valenz, die mit bestimmten Wortarten und vor allem dem Verb und verbalen Fügungen verbunden wird und von da aus Generalisierungen erlaubt. Diese sind zwar aus Beobachtungen zur Kookkurrenz abgeleitet, abduzieren aber aus der Menge der beobachteten Korrelationen Klassen von Verbkomplementen. Dabei spielt Verschiedenes eine Rolle - und entsprechend gibt es dann auch recht unterschiedliche Modelle, die sich daraus ableiten lassen bzw. mit denen die Daten in Abgleich zu bringen sind. Ludwig M. Eichinger 90 2. Die Gerichtetheit und das Zusammenwirken von Beziehungen Valenz Wie immer man diese Zusammenhänge letztlich ordnen will, man wird nicht umhin können, die Subjektsetzung und rektionale Formzuweisung durch eine Reihe von Verben als den einen Steuerungstyp anzusehen, der gerade in der morphologischen Ausgestaltung einer Sprache wie dem Deutschen einen angemessenen Angriffspunkt findet. In der Tradition Tesnières (1963 [1976]) ist das Valenzkonzept eine eher reduktionistische Theorie, die einen mindestens dann in Probleme bringt, wenn man mit einer Sprache zu tun hat, die eine Mischung aus synthetischen und analytischen Techniken nutzt. Man kann das so entstehende Problem auf verschiedene Weisen angehen. Man kann sich an den Punkt halten, dass mit einer Minimalzahl von Beziehungen interaktionale Grundbestimmungen angedeutet würden und dass alles andere eine sekundäre Erweiterung darstelle. So handhabt das zum Beispiel Harald Weinrich (2004, S. 87 et passim) in seiner Textgrammatik. Daraus ergibt sich ein Valenzmodell, das Argumentkonstellationen als eine Art grundlegende kommunikative Ontologie betrachtet, die in herausgehobenen Mitteln der Kodierung ihren Niederschlag finden - im Deutschen im Wesentlichen in der Kodierung über die drei zentralen auf dieser Ebene wirksamen Kasus: 1 Es ist offenkundig, dass damit Fragen der Obligatorik eine geringe Rolle spielen und Kookkurrenzen einen anderen Platz haben. Nun ist die Hauptentwicklung der Valenzgrammatik aber einen anderen Weg gegangen. Das hatte weniger theoretische Gründe, vielmehr ging es um Fragen einer möglichst vollständigen, kohärenten und unmittelbaren Beschreibung - und auch um Fragen der Anwendbarkeit. Zentral wurde dabei die Frage einer systematischen Obligatorik, deren Ausgang von dem Valenz tragenden Element, dem Verb, die Leitidee darstellt. Dabei ergaben sich auf jeden Fall eine Vervielfältigung der Valenzmuster und eine enorme Zunahme der Aktanten-/ Ergänzungs-/ Komplementklassen. Die große IDS-Grammatik (Zifonun et al., S. 1073ff.) kennt die folgenden: 1 Zur Rolle des Genitivs vgl. neuerdings etwa Nishiwaki (2010), dazu eine Reihe von Beiträgen in Konopka/ Schneider (Hg.) (2012). Kookkurrenz und Dependenz 91 Subjekt(skomplement) (K sub ); Akkusativkomplement (K akk ); Dativkomplement (K dat ); Genitivkomplement (K gen ); Präpositivkomplement (K prp ); Situativkomplement (K sit ); Direktivkomplement (K dir ); Dilativkomplement (K dil ); Prädikativkomplement (K PRD ); AcI-Komplement (K AcI ); Verbativkomplement (K vrb ). Wenn man das so aufzählt, ergibt sich der trügerische Eindruck, hier handle es sich durchgehend um Elemente gleicher Art. Dass das eine zu einfache Sicht der Dinge ist, wird hier nicht zum ersten Mal gesagt. 2 Schon die Auflistung der verschiedenen Realisierungsmöglichkeiten in der IDS-Grammatik legt auf der Basis der formalen Befunde eine Differenzierung in drei Stufen nahe. Es gibt einerseits formal regierte Elemente bis hin zu den Präpositivkomplementen, dann semantisch klassifizierte Klassen bis zu den Dilativkomplementen und letztlich verschiedene spezifische formale Sonderklassen. In einer funktionaleren Sicht - die auch die möglichen Besetzungsklassen für die verschiedenen Kategorien in den Blick nimmt - sieht die Sache noch etwas anders aus. Die Fülle der Optionen für Komplemente wird genutzt bei Subjekts-, Akkusativ- und auch bei Genitivkomplementen, wobei die letzten aus anderen Gründen marginal erscheinen. 3 Ihr Auftreten scheint wenig semantisch beschränkt und die Zuordnung von morphologischem Kasus und syntaktischer (Satzglied-) Funktion ziemlich eindeutig zu sein. 4 3. Grenzen der Rektion - und was dann? 3.1 Überlegungen zum Dativ Zwei Merkmale sprechen dafür, dass das schon bei dem dritten zentralen Kasus-Komplement, dem Dativkomplement, anders ist. Das Inventar der verbhaltigen Komplementrealisierungen ist beschränkt, andererseits gibt es eine Reihe von Verwendungen, deren Komple- 2 Im näheren historischen und theoretischen Zusammenhang dieser Diskussion kann man schon auf die Ausführungen Jean Fourquets (1970 [1977]) verweisen. 3 Vgl. dazu Eichinger (2013). 4 Vgl. dazu etwa auch Engelberg (2010, S. 121ff.). Ludwig M. Eichinger 92 mentcharakter zumindest strittig ist, auch wenn sie durchaus verbgruppenspezifischen Charakter zu haben scheinen. 5 Das alles hat damit zu tun, dass bereits der Dativ wesentlich semantischer lesbar ist 6 und damit für sich geeignete Muster bilden oder überformen kann. Mit welchen Abstufungen hier zu rechnen ist, mögen die folgenden Belege aus literarischen Texten der letzten Jahre belegen. Im ersten Satz zeigt sich, dass bestimmte Mittel verbaler Wortbildung, wie die Partikel {auf-}, dazu dienen, eine Dativ-Rektion zu sichern. ff Hier handelt es sich zweifellos um ein Mittel, genau eine Komplementstruktur mit einem solchen Komplement zu produzieren und inhaltlich die Fokussierung auf diesen Mitspieler zu ermöglichen. (1) Wie tief meiner Zukunft die Spuren dieses Wesens aufgeprägt sein werden. (Walter Kappacher: Der Fliegenpalast, S. 130) In einem nächsten Beispiel sind die Verhältnisse komplexer, obwohl es sich bei dem Verb anbieten um einen klassischen Fall im Umfeld des klassisch dreiwertigen geben-Musters zu handeln scheint. In dem Fall, der aus einem literarischen Text stammt, scheint die Erwartbarkeit des Mitspielers, dem hier ein Sitzplatz angeboten wird, sehr hoch. 7 Ist das 7 aber Obligatorik der Besetzung einer Stelle oder eigentlich eine relativ feste Verbindung lexikalischer Elemente, also eine Art fester Wendung? Auf jeden Fall gibt es offenbar bei den Konstruktionen mit Dativ eine erhöhte Kookkurrenz mit einer bestimmten Menge von Substantiven, die feste Rollen in bestimmten sozialen Kontexten einnehmen. Das erscheint relativ „konstruktionell“ in Kontexten, die quasi-metaphorisch anmuten. (2) Ich kann Ihnen im Moment nicht einmal einen Stuhl anbieten. (Walter Kappacher: Der Fliegenpalast, S. 142) 5 Das ist vielfältig diskutiert, vgl. Pittner/ Berman (2013, S. 54ff.); die Diskussion dort zeigt, dass die Frage der Valenzbindung eine Art Schichtung der Valenz nahelegt. 6 Dazu auch die Ausführungen zur „Salienzordnung der Kasusrollen“ in Zifonun et al. (1997, S. 1323-1326). 7 Das bestätigt sich bei einer Abfrage in den IDS-Korpora; nur unter ganz spezifischen Kontext-Bedingungen sind - ganz selten - Verwendungen nur mit Nominativ und Akkusativ belegt. Kookkurrenz und Dependenz 93 Wie ist das aber in anderen Fällen? Das E-VALBU (s.v. anbieten) nimmt für den folgenden Beleg ein Muster mit obligatorischer Besetzung der Dativ-Stelle an: (3) Er bot dem ungebetenen Gast sofort ein Glas Wein an. (Die Zeit, 18.1.1985) Dagegen gilt in folgendem Fall für das E-VALBU nicht nur der Dativ als fakultativ, sondern auch noch das präpositionale Komplement als obligatorisch: (4) Das Institut hat einem Berliner Verlag das Manuskript der neuen Grammatik zum Druck angeboten. ( E-VALBU , s.v. anbieten) 3.2 Valenz, Handlungsmuster und sprachliche Üblichkeiten Die Frage, die sich hier stellt, ist die, ob sich das alles in konsistenter Weise als Valenz-Variation beschreiben lässt, oder ob nicht vielmehr unterschiedliche Schemata präsentiert werden, die teils von der Kernvalenz gestützt, teils durch lexikalisch-paradigmatische Rahmenbedingungen erzeugt werden. Also, ob nicht eigentlich durch die Konstellation der schematypischen Substantive Verlag und Manuskript in gewisser Weise ein Element vom Typ zum Druck/ k zur Veröffentlichung gefordert wird, was seinerseits Rückschlüsse auf den doch nicht ganz zufälligen Status des Dativkomplements (dem Verlag) zulässt. Diese Art der Musterbildung hängt auch an der semantischen Interpretierbarkeit der Relationen, bei der sich eben doch eine deutliche Grenze zwischen den Nominativen und Akkusativen auf der einen und den Dativen und adverbialen Bestimmungen auf der anderen Seite ergeben. 8 In gewisser Weise ist das ein Fortdenken der eher restriktiven Valenz- Modelle, für die nicht alle Elemente gleich gut sind. Unter diesem Aspekt lassen sich Verben wie anbieten in einer differenzierteren Weise, aber auf einer semantisch minimalistischen Basis erläutern, ohne einerseits in fast beliebige polyseme Unterteilungen zu kommen und ohne die festen Wendungen vom „normalen“ Gebrauch zu trennen: 8 Dass die Genitive als Objekt weithin von festen lexikalischen Mustern getragen werden, ist offenkundig; vgl. dazu Eichinger (2012). Ludwig M. Eichinger 94 Im Kern ist anbieten kein Verb des „Gebens“, sondern eher des „Lieferns“ bzw. vielleicht genauer gesagt, des „Zur-Verfügung-Stellens“, es ist vom Anbietenden her und seiner Ausrichtung auf das Akkusativobjekt organisiert; vgl. auch das folgende Beispiel: (5) Ein Priester in Spanien hat im Internet seine Sexdienste angeboten und deswegen seinen Job verloren. (Die Südostschweiz, 25.2.2010) Das ist anders als bei geben oder nehmen, wo der „Betroffene“ unmittelbar im Vordergrund steht, jemandem wird gegeben und genommen und zwar etwas. Anbieten gehört zu jenen Verben, die zusätzlich zum Objekt die (zunächst implizite) Zuwendung zur betroffenen Person - typische Rolle des Dativs - artikulieren können. Wie mögliche Dativ-Passive zeigen, gehört der Dativ aber zweifellos zur Schema-Erweiterung. (6) Der Besucher muss - wie in Japan üblich - seine Schuhe ausziehen. Er bekommt weiße Socken angeboten, denn es geht auch um Reinheit. (Nürnberger Zeitung, 26.4.2011) Wie aber nicht nur dieses Beispiel zeigt, funktioniert das am problemlosesten, wenn es um direkt auf die Person bezogene Dinge geht. Wenn es um rituelle oder eher „metaphorische“ Fälle einer solchen Anbietens-Handlung geht, wird der Dativ mit immer höherer Wahrscheinlichkeit evoziert. Es gibt ein Paradigma typischer Objekte, die ohne die Nennung der Person kaum angeboten werden; vor allem „gastgeberische“ oder berufliche Kontexte evozieren solche lexikalisch gestützten Muster, bei denen die Dativ-Ergänzung nur mit Mühe und bei starker kontextueller Stützung verzichtbar ist. Die Beispiele (2) und (3) sind von dieser Art. 3.3 Überlagerungen Demgegenüber wäre ein Satz wie (7) nach der Lesart von winken 1 [ K sub , ( K dat ), ( K adv )] zu interpretieren, und das heißt, sowohl das Dativ-, wie auch das Adverbialkomplement hätten als fakultativ zu gelten: (7) Beim Eintreten ins Hotel winkte der Portier ihm mit einem Umschlag. (Walter Kappacher: Der Fliegenpalast, S. 49) Kookkurrenz und Dependenz 95 Was bringt es, hier die beiden inhaltlich gut lesbaren Bestimmungen als vom Verb in gewissem Umfang regiert zu betrachten? Man könnte hier andererseits auch einen Bogen gespannt sehen, der den Bewegungstyp Winken [‘die Hände in bestimmter Weise regelmäßig bewegen’] einerseits allein benennbar und lediglich in einem freien Kontext interpretierbar erscheinen lässt, bis hin zu mehr oder minder präformierten Fügungen, in denen Argumentstrukturmuster in diesem Bewegungssinn modifiziert bzw. realisiert erscheinen. In dem folgenden Beispiel (8) sollte man sicher nicht von einer unterwertigen Verwendung des Verbs winken ausgehen, und man ist auch im Zweifel, ob man für die dort realisierte Variante von rufen ein eigenes Valenzmuster braucht, ob es nicht vielmehr darum geht, die Sätze mit diesen Verben von zwei Seiten her konstruieren zu können - von der reinen Aktion her, und damit vom Verb, und andererseits als kompatibel mit einem direktionalen Rahmen, als potenzieller Modifikator des „Übertragungswegs“. Auf diese Weise würde man die Belege für winken in (8) und (9) ohne eine große Vervielfältigung der Lesarten erklären können. (8) Immer wieder fuhr Franziskus durch die freigelassenen Gassen auf dem menschenüberfüllten Petersplatz, liess anhalten, um auszusteigen und Behinderte oder Kinder zu segnen, er winkte, lächelte, rief Sätze in die Menge, die im Jubel untergingen. (Die Südostschweiz, 20.3.2013) (9) Unter großem Jubel trat der 85-Jährige an das Fenster seines Arbeitszimmers und winkte in die Menge. (Nürnberger Zeitung, 18.2.2013) Ein etwas anderer Fall ist es zweifellos, wenn damit wie bei der ‘Heranholen’-Variante in (10) eine Bedeutungsvariante verbunden ist, die sich nicht wie in (7) auf eine bestimmte Handbewegung o.Ä. beschränkt. (10) Der Fahrer winkte mir und fragte, ob ich eine Stadtführung machen könne. (Nürnberger Zeitung, 22.9.2012) Es gibt hier keine einfache Lösung, da auch die syntaktisch notwendigen Verwendungen des Dativs mit der „freien“ Bedeutung dieses Kasus verträglich sind. Das zeigt sich daran, dass - wie in (11) - Konstruktionen unterschiedlichen Typs innerhalb einer einzigen Struktur Ludwig M. Eichinger 96 auftauchen können. So ist bei schicken der Dativ sicher im Muster des Verbs enthalten, während bei (irgendwohin) legen die Zugewandtheit der Handlung eigenständig kodiert wird. (11) Von den fünfzig oder hundert Euro, die man ihnen aufs Nachtkästchen legt oder von zu Hause [...] noch ein paar Monate lang schickt. (Raoul Schrott: Die fünfte Welt, S. 10) Einen entsprechenden Übergangsbereich findet man zwischen einer fast grammatikalisierten Verwendung im Sinne eines Genus-verbi-Medium und entsprechenden regulären Konstruktionen zu Handlungsverben, die eine solche Deutung erlauben. Sich für sich selbst etwas zu denken, wie das in (12) realisiert ist, ist zweifellos eine solche Konstellation. Ein derartiges Verb ist aber offenbar auch das mitnehmen in dem folgenden Beispiel (13), während es sich mit jemandem verderben eine grammatikalisierte mediale Konstruktion darstellt. (12) Ich denk mir oft, wie glücklich ich mit dir bin. (Walter Kappacher: Der Fliegenpalast, S. 51) (13) Ich hab mir ja den Band mitgenommen, hab in Lenzerheide Verschiedenes noch einmal gelesen. Immer verderb ich es mir mit Leuten, die es gut mit mir und meinen Sachen meinen. (Walter Kappacher: Der Fliegenpalast, S. 52) Wenn die Verbindung weniger naheliegend ist, gewinnt die Hinzufügung an Markiertheitswert, so etwa bei dem Verb sterben. Nicht umsonst finden sich hierzu in den Korpora des IDS eine Reihe historischer Belege, die eine Art volkstümlicher Sprechsprachlichkeit signalisieren und die wir in modernen Reflexen als eine Art Ritualisierung wahrnehmen, auch wenn sie wie in (18) nur dazu dient, eine Meldung zu einer Geschichte zu machen. (14) Seine Frau war ihm gestorben. (Peter Handke: Der Große Fall, S. 67) (15) Ein Edelmann hatte ein schön jung Weib gehabt, die war ihm gestorben und auch begraben worden. (Jacob Grimm, Deutsche Sagen: Johann von Passau, [Erstv. 1816; 1818], 1891, S. 131) (16) Ihr erstes Wort war: „Guter Herr, ach, mein Hans ist mir gestorben! “ - Es war der jüngste ihrer Knaben. (Goethe, Werke: Werther, [Erstv. 1787], 1982, Bd. 6, S. 76) Kookkurrenz und Dependenz 97 (17) Allerdings war der Künstler hier nicht aus malerischem Vergnügen gelandet, sondern aus schierer Not - er hatte zwei Söhne, die Frau war ihm gestorben. (Frankfurter Rundschau, 31.5.1997) (18) Der Bruder war ihr gestorben, Frau Margot M. übernahm die traurige Aufgabe, alle Formalitäten zu erledigen. (Neue Kronen- Zeitung, 8.1.1998) Mit den letzten drei Beispielen ist man in zunehmendem Maße nahe am Pertinenzdativ, wenn man die „Ersetzbarkeit“ durch ein in gewissem Umfang äquivalentes Possessivpronomen als Maß dafür nimmt. (19) ist ein klassischer Fall dafür, ebenso (20), wo das stilistische Spiel zwischen Possessivpronomen und possessivem Dativ den Satz prägt. Einen Schritt näher am Verbkomplement ist das Pronomen in (21), wo das Verb kaufen eher die Bedeutung eines ‘Begünstigten’ evoziert, daher als eine Art ‘geben’-Verb interpretierbar ist. (19) Als er sich nach dem Kern bückte, glitt der ihm [...] durch die Finger. (Peter Handke: Der Große Fall, S. 35) (20) Legte er einen Hut, meinen Hut mir in den Schoß. (Walter Kappacher: Der Fliegenpalast, S. 9) (21) [...] von der Frau eigens für den Abendanlass ihm gekauften Anzug. (Peter Handke: Der Große Fall, S. 47) Diese Reihe von Beispielen hat bestätigt, was man generell schon weiß, dass der Dativ der von den beiden Objektskasus des Deutschen ist, der sich regelhaft semantisch interpretieren lässt. 9 Darum gibt es auch immer schon eine Diskussion um freie Dative. Wenn man aber die Streuung der Beispiele betrachtet, geht eine solche Diskussion nicht weit genug. Sie legt nahe, die Erklärung von Dativen durch Valenzbindung eng auf einen Kern von Verben zu begrenzen, bei denen eine klare gegenseitige Evokation von Verbbedeutung und semantischer Rolle des Dativkomplements besteht. Bei vielen Verben aber, bei denen üblicherweise ein fakultatives Dativkomplement angesetzt wird, erlaubt es die jeweilige Argumentstruktur, bestimmte Handlungen mit einem Personenbezug zu versehen. Hier werden entsprechende lexikalischkonstruktionelle Techniken genutzt. Bei bestimmten lexikalischen Besetzungen der Mitspieler liegen solche Lesarten nahe bzw. sind konventionalisiert. 9 Siehe Zifonun et al. (1997, S. 1336-1346). Ludwig M. Eichinger 98 4. Generelle Verben und das Verhältnis von System und Gebrauch 4.1 Allgemeines Sind wir im letzten Punkt der Interaktion von Komplementmustern und Verben nachgegangen, so wollen wir uns im Folgenden der Frage der Orientierungsleistung genereller Verben im Hinblick auf das Verhältnis von Valenzstatus und Gebrauchspräferenzen widmen. Schon bei einem ganz oberflächlichen Blick sind zwei Dinge auffällig: Einerseits gelten solche Verben als die prototypischen Vertreter zentraler Muster. Andererseits zeigen sie eine hohe Vielfalt von Verwendungsweisen - werden also als hochgradig polysem angesehen. In lexikografischen Darstellungen des Verbwortschatzes ist nicht so klar, wie diese beiden Kriterien zueinander in Beziehung stehen. 10 Von generellen Verben, wie dem hier als Beispiel gewählten Verb geben, kann man also erwarten, dass sie sich ihrer Neutralität versichern, indem sie das Muster, das sie repräsentieren, auch formal gut signalisieren und sich mit spezifischen Selektionsbedingungen zurückhalten. Und so haben wir denn eigentlich eine recht feste Vorstellung, was die Verwendung eines Verbs wie geben angeht. Es sollte, wie bei seinem semantischen Gegenpol nehmen, die unmarkierte Möglichkeit sein, Szenen eines aktiven Objektübergangs sprachlich zu fassen. Und gerade die Verben dieses Bereichs sind (im Deutschen) zudem noch die, von denen die funktionalen Möglichkeiten in der Dreiwertigkeit von Nominativ, Akkusativ und Dativ quasi ikonisch und vollständig repräsentiert werden. Eine weitere zentrale Verwendung zeigt ihre Besonderheit schon in der festen und formalen Subjektzuordnung: Die Formel es gibt mit ihrer Setzung eines leeren Themas, das der Normalpositionierung des dann folgenden Rhemas dient, ist zweifellos als eine Konstruktion abgespeichert, die genau diese aussagenstrukturelle Funktion grammatikalisiert. Wir haben im letzten Punkt dafür argumentiert, dass mit dem Dativ der Punkt im System erreicht ist, an dem die Steuerung formaler Art durch das Verb umkippt in eine Steuerung durch die Konstellationen 10 Zu generelleren Überlegungen zu diesem Verhältnis siehe die Kapitel 1.2 und 1.3 in Engelberg (demn.). Kookkurrenz und Dependenz 99 der Mitspieler. Das betrifft nicht nur dieses sozusagen „mediale“ Zugewandtsein von Handlungen auf das Subjekt, das in einer weiteren Stufe von Konstruktionen noch spezifischer eingeschränkt wird, wie oben in den Belegen (16) bis (19). Das gilt auch für die Muster des Gebens oder Nehmens im weitesten Sinn. (22) Spielerisch wollen die Vogelschützer dem Nachwuchs den richtigen Umgang mit der Natur beibringen. (Mannheimer Morgen, 22.1.2013) (23) Das sind die Stationen unserer Welt, unserer Kultur, unserer Evolutionsgeschichte, die man in der Schule beigebracht bekommt. (Nürnberger Nachrichten, 23.1.2013) 4.2 Valenz: Minimales und Differenzierung Es ist daher vielleicht gar nicht verwunderlich, dass es eher Verben mit spezifischerer Bedeutung - wie z.B. beibringen in den Belegen (22) und (23) - sind, die jenes dreiwertige Muster einigermaßen konsequent wählen, während generellere Verben dieses Typs wie geben oder nehmen eine Vielzahl von anderen Verwendungen zeigen. Nun sieht die geben-Welt zum Beispiel nach den Ausführungen des Valenzwörterbuchs des IDS sehr differenziert aus. Das Verb geben kennt dort 18 Untertypen; im Folgenden sind die Varianten aufgeführt, die auf das dreiwertige Grundmuster rekurrieren: geben 1 K sub , K akk , K dat dat jemand/ etwas verabreicht h jemandem/ etwas j etwas Wenn Kinder erkältet sind, kann man ihnen abends Lindenblütentee mit Honig geben. b geben 2 K sub , K akk , K dat dat jemand hält jemandem/ j etwas etwas hin, damit h d er es erreichen kann; h reichen Er hat der Katz e das Wollknäuel gegeben, sie bb spielt so gerne damit. l geben 3 K sub , K akk , K dat dat , ( K adv ) jemand lässt etwas für f irgendwieviel oder d kostenlos in den Besitz l d oder in den Genuss von jemandem kommen; zur Verfügung stelf len, schenken, leihen „Aber achtz ig, vielleicht neunzig Mark würde d ich Ihnen gerne geben.“ Er verbesserte sich. „Lei- E b hen, pumpen, meine ich.“ Ludwig M. Eichinger 100 geben 6 K sub , K akk , K dat dat jemand bringt g jemanj dem/ etwas etwas entgegen Bist du sicher, dass du einem Hund die Pflege und die Aufmerksamkeit geben b kannst, die er braucht? k d geben 7 K sub , K akk , K dat dat jemand statt et jemanden/ etwas mit jemandem/ etwas aus Wir müssen Ihnen einen Führer und eine Karte geben, sonst werden b d Sie im Moor versinken. geben 8 K sub , K akk , ( K dat dat ) jemand gewährt g jeman- dem etwas ; bieten Der Chef hat mir keinen Urlaub gegeben. b geben 9 K sub , K akk , ( K dat dat ) jemand macht, dass jemand etwas bekommt Der Regierungssprecher wollte ll den wartenden Journalisten keine Auskünfte über den Stand der Verhandlung geben. b geben 10 K sub , K akk , ( K dat dat ) jemand erteilt jeman- dem etwas Heute kann ich keinem Spieler eine gute Note geben. b geben 11 K sub , K akk , ( K dat dat ) jemand/ etwas bewirkt, dass d etwas in jemanj dem oder bei d b etwas entsteht Die Religion gab g den Christen Orientierung unter der Diktatur . geben 13 K sub , K akk , ( K dat dat ), K adv jemand bringt g jemanj dem etwas irgendwozu weg Er gab g ihm ein Buch zum Lesen . geben für 14 K sub , K akk / K adv , ( K dat dat ), K jemand zahlt jeman- dem etwas bzw. irgendwieviel für etwas Oft muss man dem Verlaggg eine Menge Geld für das Drucken einer Dissertation geben. bb geben 18 K sub , K dat dat , KK jemand legt jemandem nahe oder räumt jemanh d dem die Möglichkeit gg ein, etwas zu tun etwas zu tun Auf dem Fest haben sie uns kleine warme kleine warme Häppchen zu essen Häppchen zu essen gegeben, die sehr würzig b d h b d h sind. Tab. 1: geben im E-VALBU Nicht alle hier vorgeschlagenen Differenzierungen liegen auf derselben Ebene, und vor allem nicht auf einer Ebene, die man mit dem Konzept Valenz verbinden sollte. Was die rektionalen Bedingungen und auch was das dazugehörige generelle Konzept angeht, kann man eigentlich keinen rechten Unterschied zwischen den oben aufgeführten Subgruppen bis hin zu geben 7 und dann auch den Varianten 13, 14 prp vrb vr Kookkurrenz und Dependenz 101 und 18 sehen. 11 Gerade bei einem solchen generellen Verb ist eine bedeutungsminimalistische Beschreibung angemessener, die es erlaubt, diesen Ähnlichkeiten und Übergängen Rechnung zu tragen. 4.3 Generalisierung über Muster des Gebrauchs Um etwas anderes geht es an den Stellen, an denen „neue“ Muster aus bestimmten syntagmatisch-paradigmatischen Konstellationen entstehen. 12 Wie eine Kookkurrenzanalyse zeigt, spielen sie im Gebrauch in modernen schriftsprachlichen Kontexten eine so dominante Rolle, die sich in einer systematischen Darstellung wiederfinden sollte. 13 Von der Bedeutung dieser Verhältnisse spricht eine exploratorische Korpusuntersuchung anhand der Belege in den Korpora der Neuakquisitionen des IDS mit etwa 960.000 Belegen für das Verb geben. Wenn man die mehr als die Hälfte ausmachenden es gibt-Belege (ca. 580.000) abzieht, findet man die folgenden präferierten Kookkurrenzen und Kombinationstypen, hier gemäß der Häufigkeit im Korpus aufgeführt: bekannt, Auskunft, zu bedenken, Tipps, Ratschläge, Anregungen, den Ausschlag, in Auftrag, grünes Licht, sich geschlagen, Mühe, Entwarnung, Antworten, Anlass, Interviews, zu Protokoll, Aufschluss, Gas, zum Besten, Einblick, Überblick, Auftrieb, Gefühl, Recht, die Stimme, Anweisungen, zu denken, Impulse, Schuld, Garantie, Autogramm, Nachhilfe, Hilfestellung, Empfehlungen, Zusagen, sich zugeknöpft, die Hand, sich optimistisch, Orientierung, Raum 11 Dabei ist zudem unglücklich, dass 13 und 18 aufgrund der Orientierung an der formalen Basis auseinandergenommen werden, obwohl sie ähnliche Verdichtungstypen darstellen, die mit so etwas wie lassen-Konstruktionen vergleichbar sind. 12 Nur im Vorspann des entsprechenden E-VALBU -Artikels wird auf die Präferenz für bestimmte „Funktionswort“-Verwendungen hingewiesen. 13 Entsprechende Überlegungen führen auch bei Hanks (2011, S. 484-487) zu einer solcherart gestuften Beschreibung. Ludwig M. Eichinger 102 Dabei kann man vielleicht noch jene Verwendungen als einen Sonderfall aussortieren, die ziemlich eindeutig als feste Wendungen mit einer nicht-additiven Bedeutung 14 zu verstehen sind, wie im folgenden Fall vielfacher sprachlicher Farbspiele. (24) Rot-Grün gibt sich grünes Licht (Rhein-Zeitung, 18.2.2013) 15 Allerdings ist diese Fügung in anderer Hinsicht durchaus im Rahmen dessen, was sich hier an Musterprägung erkennen lässt. Sie fügt sich in eine Reihe von geben-Mustern der ‘Entscheidung’ wie den folgenden: zu bedenken, den Ausschlag, in Auftrag, grünes Licht, Entwarnung, Anweisungen, Impulse, Zusagen Ein anderes, bei diesen engsten Kollokatoren gut besetztes Muster stellt das verschiedener, nicht zuletzt offizieller ‘Äußerungen’ dar: bekannt, Auskunft, zu bedenken, Antwort(en), Interview, zu Protokoll, zum Besten, Garantie, Autogramm In diesen Fällen zeigen die Kookkurrenzuntersuchungen das Bild recht erwartbarer syntaktisch-lexikalischer Korrelationen; unter diesem Aspekt erweist sich bekannt geben als typisch offizielles Verlautbarungsmuster - und das betrifft die valenzgebundenen Elemente wie andere Bestandteile, die das Muster prägen. Nicht nur sind die ‘Be- 14 Wobei der als Einzelbeleg in den Korpora vorkommende nicht-metaphorische Beleg zweifellos die markierte Variante darstellt: „Der Lokführer darf erst abfahren, wenn der örtliche Fahrdienstleiter mit seiner Kelle grünes Licht gegeben hat.“ (St. Galler Tagblatt, 31.8.2013); andererseits ist auch der folgende Beleg singulär: „Tags darauf folgte die Veröffentlichung, die Zeit bis zum offiziellen Grünlicht wurde zur Klärung des letzten wichtigen Details genützt.“ (Niederösterreichische Nachrichten, 5.9.2013); Grünlicht kommt sonst eigentlich nur in Bezug auf Verkehrsampeln vor. Letztlich ist offenbar der Ausdruck für das Antonym kaum entsprechend metaphorisch besetzt: „Neue Verletzungssorgen um Jungstar Sebastian Deisler [...] begleiten Hertha BSC beim heutigen Abflug ins Trainingslager nach Portugal. [...] Deisler hat für die Vorbereitung an der Algarve vorerst „rotes Licht“ bekommen.“ (die tageszeitung, 17.1.2000); beim metaphorischen roten Licht ist der Bildspender eher die technische Warnlampe: „Sogar beim IWF, der sich sonst eher um die Schulden der Entwicklungsländer sorgt, geht da ein rotes Licht an.“ (die tageszeitung, 9.9.2004). 15 Vom systematisch prekären Stand dieser Fügung zeugt auch eine Verwendung wie die folgende: „Grünes Licht sieht deren umweltpolitische Sprecherin [...] nur dann gegeben, »wenn wir eine Lösung finden, die nicht zu sozialen Härten führt«.“ (Rhein-Zeitung, 21.6.2013). Kookkurrenz und Dependenz 103 kanntgebenden’ im Hinblick auf ihren institutionellen Charakter festgelegt, auch der Inhalt, der in einem Akkusativkomplement realisiert wird, präferiert Lexeme für bestimmte Ereignistypen; kennzeichnend ist zudem eine zwischen Temporalem und Modalem schwankende Einordnung verschiedener Art. So ergibt sich das Bild eines Musters von geben, dessen Bestandteil bekannt ein Strukturmodell evoziert, das ebenso von der Zweiwertigkeit des Musters wie der paradigmatischen Besetzung dieser Positionen und zudem von einer zeitlich-modalen Prägung gekennzeichnet ist. Institution mod/ temp Inhalt Verein gestern Entscheidung Bundesamt rechtz eitig Termin Unternehmen vorab Details Polizei frühzeitig Einzelheiten Richter öffentlich Verpflichtung Oberbürgermeister zeitnah Ergebnis Vorsitz ende Rücktritt Gewinner Tab. 2: bekannt geben Etwas anders sieht das aus, wenn ein als regiert zu verstehender nominaler Teil in Verbnähe rückt und gemeinsam mit diesem Verb das Muster prägt. Zumindest in einem Korpus wie dem hier befragten, in dem Sachtexte eine erhebliche Rolle spielen, zeigt sich, dass auch in solchen Fällen, wie zum Beispiel Auskunft geben, die möglichen Subjekte durch funktional bezogene Lexeme ausgedrückt sind, dass typische präpositionale Fügungen thematischer Art dazugehören, die den Blick prototypisch in die entsprechenden Paradigmen hinein öffnen und dass vor allem eine Modalisierung des positiven Könnens und Wollens verschiedene paradigmatische Unterkerne ausbildet, während der dativische Adressat stark zurücktritt: Ludwig M. Eichinger 104 „Zuständiger“ Mod Adressat Thema Instr Experte bereitwillig Besuchern Stand/ Zustand telefonisch Fachmann gern Aktivitäten über einen Sprecher Direktor detailliert Planungen Medien Bürgermeister ausgiebig Hintergründe Verwaltung umfassend Umstände Der Auszug des Bauamts kompetent Rentenfragen [konnte] Tab. 3: Auskunft geben Ähnliches ließe sich für die anderen auf diese Weise realisierten Großgruppen sagen, so etwa für die Varianten verschiedener „Entscheidens“- Muster (siehe Tab. 4), wie den Ausschlag geben, wo sich ebenfalls, abgesehen von allem anderen, die Bedeutung der Modalisierung für das Verwendungsmuster zeigt: Kriterien Mod bei/ für/ zugunsten Gründe letz tlich Entscheidung Argumente schließlich Sieg Punkte letz ten Endes Kleinigkeiten am/ zum Schluss Erfahrung manchmal Tab. 4: den Ausschlag geben Hier ist besonders deutlich, dass die prototypischen kategorialen Prägungen subkategorial bzw. peripherer entfaltet werden können, vgl. z.B.: (25) Und was gab letztlich den Ausschlag für Ihren Ungehorsam? (die tageszeitung, 8.2.2013) Ähnliches ließe sich auch für andere Muster-Typen zeigen, so z.B.: ‘Empfehlen’: Tipps, Ratschläge, Anregungen, Hilfestellung, Empfehlungen, Orientierung Kookkurrenz und Dependenz 105 ‘Erkennen lassen’: Aufschluss, Einblick, Überblick, Gefühl ‘emotionale Wendung’: sich geschlagen, sich Mühe, sich zugeknöpft, sich optimistisch; zu denken; Auftrieb Wenn man diese Reihen ansieht, ist es ganz offenkundig, dass der Gebrauch des Verbs geben in durchschnittlichen Texten moderner Sachprosa eher auf solche nominalen Prädikate fokussiert ist. Und es ist eine Reihe von signifikanten paradigmatisch geordnet zusammenspielenden semantisch geprägten Mustern, die sich so ergeben. Typischerweise tritt das denkbare Dativ-Argument in den Hintergrund, dafür finden sich mehr gruppenbildende junktional - mit Präpositionen - angeschlossene Mitspieler, die szenenkonstitutiv sind. Es prägen sich so syntakto-semantische Muster aus, die verschiedene Grade an kontextueller Bindung zeigen. 16 Diese Überlegungen führen dazu, einander ergänzende Ebenen der Beschreibung anzunehmen, die nur zusammen 17 ein adäquates Bild von der Struktur der Konfigurationen ergeben, in denen sich generelle Verben signifikanterweise finden. 5. Schluss Wir haben in diesem Beitrag die Idee der Valenz zum Ausgangspunkt genommen. Das nicht zuletzt aus dem Grund, dass im Deutschen eine recht gute Korrelation zwischen den Grundannahmen valenzorientierter dependenzgrammatischer Beschreibungen und den flexivischen und rektionalen Möglichkeiten besteht. Wenn man das so, nämlich eher minimalistisch sieht, hat Valenz zwar mit Häufigkeit und Kookkurrenz zu tun, ist aber an den strukturellen Kern der grammatischen Realisierungsmöglichkeiten rückgebunden. Es ist die Ebene der strukturellen Minima und genereller semantischer Rollenzuweisungen, die damit gefasst wird. Man sieht, dass Beschreibungen dieses Typs ihre Grenzen da haben, wo einerseits in der Dreiwertigkeit die Konstellation selbst - in der Kombination der Argumente - konstruktionell lesbar wird, und wo andererseits durch die jeweiligen Mittel der Junktion direkter lesbare und daher freier kombinierbare Elemente einbezogen werden. Das geradezu klassische Beispiel für den letzt- 16 Vgl. die Ausführungen zum „Idiomprinzip“ in Hanks (2011, S. 488f.). 17 Zum Status solcher verbonominaler Konstruktionen siehe Proske (2013). Ludwig M. Eichinger 106 genannten Fall stellt der Gebrauch des Dativs dar. Bei dieser Annäherung von der nominalen Seite her zeigt sich, dass lediglich ein relativ eng begrenzter Typ von Verben mit Dreiwertigkeit mit obligatorischem bzw. fakultativem Dativ-Mitspieler angemessen beschrieben ist, dass Verbgruppen übergreifende semantische Verhältnisse, Üblichkeiten der Traditionen des Formulierens und auf eine andere Art von Grammatikalisierung hinauslaufende Bedingungen des Gebrauchs eine stärker auf die Systematisierung von Kookkurrenzen zielende Methodik verlangen, um zu einer kohärenten Beschreibung der Dativ-Verwendung zu kommen. Von der verbalen Seite her kommend gilt gerade bei sehr allgemeinen Verben, dass die als strukturell zentral angesehenen Valenzmuster in der Verwendung in modernen schriftsprachlichen Kontexten nicht die zentrale Rolle spielen. Das mindert nicht den Wert der Beschreibung dieser Muster, ruft aber nach Beschreibungen, die dem Überwiegen von Verwendungen Rechnung tragen, in denen der generelle Charakter dieser Verben zur Ausformung von paradigmatisch-syntagmatischen Mustern genutzt wird. Es reicht, wie man sieht, nicht aus, nur das eine zu sehen, seien es die Valenzbindung, die Konstellation von Argumenten, die Kookkurrenzen oder die Festigung in konstruktionellen Fügungen, wenn man die hier angedeuteten Verhältnisse insgesamt erfassen will. Literatur Quellen DeReKo: Deutsches Referenzkorpus / Archiv der Korpora geschriebener Gegenwartssprache. www.ids-mannheim.de/ DeReKo. E-VALBU : Das elektronische Valenzwörterbuch deutscher Verben. http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ evalbu/ index.html. Peter Handke: Der große Fall. Berlin 2011. Walter Kappacher: Der Fliegenpalast. Salzburg 2009. Raoul Schrott: Die fünfte Welt. Ein Logbuch. Innsbruck/ Wien 2007. Sekundärliteratur Eichinger, Ludwig M. 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Als Hierarchisierungsmechanismen werden z.B. die Polysemie und Homonymie bei Goldberg (1995), die Subklassifikation bei Kay (2003), die Vererbungsrelationen bei Kay/ Fillmore (1999), Goldberg (1995, 2006) und Lakoff (1987), die Verbindung zwischen spezifischen Konstruktionen mit der abstrakteren Konstruktion (Croft 2001) usw. genannt. In Anbetracht der von der Fachliteratur vorgeschlagenen unterschiedlichen Konstruktionstypen mit den jeweiligen Abstraktionsgraden (Boas 2011; Croft 2001; Croft/ Cruse 2004; Fischer/ Stefanowitsch (Hg.) 2006; Jacobs 2008; Traugott 2008; Tomasello 1998) sowie verschiedener Annahmen zur Konstruktionshierarchie und zur granularen Bestim- 1 Diese Untersuchung ist im Rahmen eines Humboldt-Forschungsstipendiums 2012/ 2013 am Institut für Deutsche Sprache entstanden. Mein herzlicher Dank gilt der Humboldt-Stiftung für die Gewährung dieses Stipendiums sowie den Gutachtern und den zahlreichen Kollegen und Gesprächspartnern vor Ort für ihre hilfreichen Hinweise und Kommentare zu einzelnen Aspekten der Arbeit. Die Resultate der Untersuchung stehen im Zusammenhang mit den Forschungsprojekten „Spanisch-deutsche kontrastive Untersuchung der Nominalphrase“ (gefördert von der galicischen Landesregierung, XUNTA : INCITE09 204 074 PR ), das seit 2009 unter meiner Leitung läuft, und dem seit 2012 von mir koordinierten PORTLEX -Projekt ( MINECO , FFI2012-32456 ). 2 Ich beziehe mich hier hauptsächlich auf Goldbergs kognitiv-linguistische Annahmen (Goldberg 1995; vgl. auch Lakoff 1987). Unter die KG lassen sich aber noch andere Varianten subsumieren  eine stark formal angelegte (Construction Grammar von Fillmore (1988); Kay (1997) und die entwickelte Version der Head-driven Phrase Structure Grammar) und eine typologische (Croft 2001)  (vgl. Stefanowitsch/ Fischer 2008, S. 3ff.; Jacobs 2008, S. 4). María José Domínguez Vázquez 110 mung des Konstruktionsbegriffs (Traugott 2008, S. 8ff.; Boas 2011, S. 39ff.; Imo 2011) stellt sich die Vernetzung unterschiedlicher Konstruktionen und die Zuordung von Konstrukten (konkreten Instanzen von Konstruktionen) zu der entsprechenden Konstruktion sowie die Grenzziehung zwischen der eigenständigen Konstruktion und einer von ihr abgeleiteten Konstruktion als keine einfache Aufgabe heraus. Die bereits genannten Schwierigkeiten können die Reichweite der Konstruktion sowie die abgestufte Konstruktionstypologie in Frage stellen, worin dieser Aufsatz Einblicke gewinnen lässt. Im Konkreten setze ich mich in diesem Beitrag mithilfe eines bottom upsowie bottom down-Verfahrens mit netzwerkartigen Verknüpfungsbeziehungen der Konstruktionen und mit den für die Verlinkung und Vernetzung vorgesehenen Verfahrensmechanismen, wie etwa Fusionierung, gg Vererbungshierarchien, konstruktioneller Polysemie u.a. sowie mit ihrer Umsetzung in die Praxis auseinander. 3 Als Ziel strebe ich einen Vorschlag zu einer netzwerkartigen Konstruktionssystematik an, die am Beispiel deutscher Verben zum Ausdruck der Empfindung veranschaulicht wird. Gemeinsamer Nenner aller von mir analysierten Konstrukte ist das Vorhandensein eines Affizierten bzw. Experiencer. 4 2. Wie lassen sich Konstruktionen in der Praxis vernetzen? Der Dschungel der Konstruktion In diesem Abschnitt befasse ich mich mit ausgewählten Schwierigkeiten bei der Vernetzung von Konstruktionen und Konstrukten innerhalb und außerhalb einer Mesokonstruktion. 5 Anliegen dieses Abschnittes ist im Konkreten, eine Auseinandersetzung mit den Vernetzungsmechanismen sowie mit der Bestimmung der Konstruktionsgrenze darzustellen. Diesbezüglich gehe ich der Frage nach, welcher 3 Unterschiedliche Auffassungen über die Vererbungsbeziehungen im Rahmen der KG sind in Kay (2002, S. 20), Goldberg (1995, S. 73ff.; 2006, S. 13f.) und Lakoff (1987, S. 483ff.) auffindbar. 4 Darunter verstehe ich einen Betroffenen, der einen psychischen Vorgang oder Zustand an sich erfährt. 5 Unter Mesokonstruktion verstehe ich eine Form-Bedeutungs-Einheit, die sich aus einer Bedeutung - mit den vorliegenden semantischen Rollen - und diversen verschiedenartigen Mikrokonstruktionen (syntaktischen Frames) zusammensetzt. Schematisch lässt sich eine Mesokonstruktion wie folgt kennzeichnen: Bedeutung1 + F1, Bedeutung1 + F2, Bedeutung1 + F3, Bedeutung1 + Fn („n“ steht für weitere Ausdrucksformen (F)). Form und Bedeutung der Konstruktion bei Vernetzung, Verlinkung und Vererbung 111 Status den Konstruktionsvarianten 6 zuzuschreiben ist. Können bzw. sollten sie in Anbetracht hierarischer Relationen in einigen Fällen als eigenständige Konstruktionen aufgefasst werden? Der semantischen Belegung der Argumente und den Blockaden 7 wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Zur Beschreibung sowie Diskussion der komplexen Interaktionsverhältnisse der Konstruktionsebenen sowie der Verbindungshierarchien werden zunächst Konstrukte und Mikrokonstruktionen im Bereich der Mesokonstruktion „(An einer Stelle Y von X) macht X die im Verb ausgedrückte Erfahrung“ gegenübergestellt. Als Anlass zur Diskussion dienen die nachstehenden Beispiele: (1) Mikrokonstruktionen: Xakk Experiencer vs. Xakk Experiencer Yprp an: Lokation: Körperteil i) frieren 1. Mich friert Xakk: X Experiencer 2. Mich friert an den Füßen Xakk Yprp an : X Experiencer Y Lokation: Körperteil 3. Mich friert es Xakk Experiencer es 4. Ihn friert es an den Füßen Xakk es Yprp an : X Experiencer Y Lokation: Körperteil ii) jucken 5. Es juckt mich Xakk: es X Experiencer 6. Es juckt mich am Arm es Xakk Yprp an : X Experiencer Y Lokation: Körperteil Zu den Konstruktionsvererbungen 8 sowie -änderungen lassen sich folgende Hypothesen aufstellen: 6 Für die Erklärung der Konstruktionsvarianten bzw. der semantischen Extensionen greift Goldberg (2006, S. 170) auf den Prototypenbegriff (vgl. auch Lakoff 1987 und Welke 2009a; siehe dagegen Croft 2001) sowie auf die Verlinkung der Extensionen einer Konstruktion (etwa die Lesarten) in Bezug auf die prototypische schematischabstrakte Konstruktion (etwa zentrale Lesart; Prototyp) zurück. Polysemie-Links (Goldberg 1995, S. 75) werden zwecks der Verlinkung angewandt. 7 Unter Blockade verstehe ich, dass ein Satellit aufgrund der semantischen Füllung eines Valenzträgers sowie seiner Bedeutungsvarianten wie auch aufgrund der Präsenz einer weiteren Ergänzung nicht oder nur in bestimmten Fällen explizit realisiert werden kann (näheres dazu in Domínguez Vázquez 2012). 8 Wenn Konstruktionen in einer inheritance hierarchy zueinander stehen, kann mithilfe eines Verlinkungsprozesses eine Konstruktionsvererbung stattfinden (Goldberg 2006, S. 21). Die Verlinkung erfolgt mittels der Anwendung von sogenannten Poly- María José Domínguez Vázquez 112 Eine Vernetzung zwischen 1 und 2, 3 und 4 sowie 5 und 6 - mit oder ohne Y Lokation: Körperteil - einerseits und andererseits zwischen 1 und 3, 2 und 4 - mit oder ohne es - lässt sich mit Rückgriff auf die Fusionierung 9 bzw. den Konstruktionseinbettungsprozess (Goldberg 1995, S. 76) in Erwägung ziehen. Hervorgehoben werden muss, dass laut Goldberg nur dem Subjekt, dem direkten Objekt und dem indirekten Objekt der Status als profilierte Argumente zukommt (ebd., S. 48). 10 Hinsichtlich der PP-Argumente sind in ihrer Annahme Schwankungen festzustellen. Es kann noch angemerkt werden, dass nur profilierte Partizipantenrollen mit profilierten Rollen der Konstruktion fusioniert werden können. (2) Mikrokonstruktionen: Xakk/ dat Experiencer es Yprp Lokation: Körperteil vs. Xdat Experiencer Ynom Experiencer: Auslöser: Körperteil jucken 1. Mich juckt es jetz t schon am ganzen Körper Xakk Experiencer es Yprp Lokation: Körperteil 2. Mir juckt es an den Füßen Xdat Experiencer es Yprp Lokation: Körperteil semie-Links (Goldberg 1995, S. 75). Unter die Verlinkungen subsumiert Goldberg (ebd.) außerdem „methaporical extension links“, „subpart links“ und „instance links“. 9 Unter Fusionierung (accommodation) versteht man eine Konstruktionseinbettung (Goldberg 1995; 2006, S. 22), die nur bei einer Abgleichung zwischen den Partizipantenrollen und den Argumentrollen zustande kommen kann. Dazu sind zwei Prinzipien zu erfüllen: das Kohärenzprinzip (die semantische Kompatibilität) und das Korrespondenzprinzip (profilierte Partizipantenrollen werden mit profilierten Rollen der Konstruktion fusioniert) (2006, S. 39f.). Sie entwickelt noch einen Zusatz zum Korrespondenzprinzip (1995, S. 50, 53). Der Konstruktionseinbettungsprozess wird weiterhin kritisiert, insofern die Frage nicht beantwortet werden kann, warum ein Vertreter einer Klasse (Valenzträger) mit einer Konstruktion fusioniert werden kann und warum bei anderen mit ihm in Verbindung stehenden bedeutungsverwandten Valenzträgern eine Expansion nicht möglich ist (Boas 2003, 2008, 2011; Willems/ Coene 2006; Imo 2011; Iwata 2005, 2008; Kay 2005; Nemoto 2005; Welke 2012). Für kritische Anmerkungen im Hinblick auf das Korrespondenzprinzip sowie den Zusatz siehe Kay (2005, S. 87), Welke (2002, S. 106) und Rostila (2007, S. 181, 221ff., 316). 10 Goldbergs Theorie liegt die Annahme zugrunde, dass profilierte Rollen obligatorischer Art sind (Goldberg 2006, S. 42). Form und Bedeutung der Konstruktion bei Vernetzung, Verlinkung und Vererbung 113 3. Es juckt mich am Rücken es Xakk Experiencer Yprp Lokation: Körperteil 4. Es juckt mir auf dem Rücken es Xdat Experiencer Yprp Lokation: Körperteil 5. Mich juckt der Fuß Xakk Experiencer Ynom Experiencer: Auslöser: Körperteil 6. Mir juckt der Fuß Xdat Experiencer Ynom Experiencer: Auslöser: Körperteil - Aufgrund der Alternanz Akkusativ/ Dativ bei 1 und 2, 3 und 4 sowie 5 und 6 kann von konstruktioneller Polysemie 11 nicht die Rede sein, weil diese laut Goldberg durch formale Identität der Konstruktionen gekennzeichnet ist. Die Verbindung zwischen den genannten Paarbeispielen lässt sich folglich nicht mit Rückgriff auf die Konstruktionsvarianten (derived forms) erklären (Welche davon ist die zentrale Lesart? Welche ist der Prototyp? Und die Variante? ). Als mögliche Analyse stellt sich ihre Bestimmung als verschiedene semantisch verwandte Konstruktionen heraus. - Im Gegensatz zu den Konstrukten unter frieren (siehe (1) i)) scheint es bei jucken (Beispiele 1-4) obligatorischer Art zu sein. Daher stellte sich jetzt die Frage, ob Beispiele wie Ihn friert es an den Füßen und Mich juckt es jetzt schon am ganzen Körper angesichts der Obligatheit bzw. Fakultativität der es-Form als Vertreter unterschiedlicher Konstruktionen aufzufassen sind. Wenn die Antwort Nein lautet - d.h. wenn beide Konstrukte der gleichen selbstständigen Konstruktion zuzuschreiben sind -, dann muss die Entscheidung über die formale Bestimmung der Konstruktion getroffen werden: Muss ein es obligatorisch beschrieben werden? Und wie sind dann diesbezügliche Konstrukte ohne es obligatorisch wie Ihn friert an den Füßen einzuordnen? - Im Weiteren werden die Beispiele 2 (Mir juckt es an den Füßen) und 6 (Mir juckt der Fuß) einem Vergleich unterzogen: angesichts der Bedingungen bei der konstruktionellen Polysemie (+Formidentität 11 Die konstruktionelle Polysemie stellt sich als ein Organisationsprinzip zwischen mehreren Form-Bedeutungspaaren mit identischer Form und verwandter Bedeutung (Lakoff 1987, S. 463f.; Goldberg 1995, S. 31-39; 161ff.) dar. Von verschiedenen semantisch verwandten Konstruktionen und nicht von konstruktioneller Polysemie spricht man bei Bedeutungsidentität verschiedener Formen (vgl. auch Engelberg et al. 2011, S. 76). Der Begriff der Polysemie ist aber im Rahmen der KG sehr umstritten (vgl. Croft 2001; Kay 2005; Jackendoff 1996). Für eine Diskussion über Widersprüche des Polysemiekonzepts siehe Engelberg et al. (2011). María José Domínguez Vázquez 114 und - Bedeutungsidentität) ist ihre Analyse als solche auszuschließen, folglich lassen sich beide als Vertreter semantisch verwandter Konstruktionen klassifizieren. Diese Annahme lässt sich aber nur rechtfertigen, wenn in beiden Fällen Bedeutungsverwandtschaft bzw. -ähnlichkeit vorliegt, sie knüpft somit an die generelle Frage an, wie dehnbar die Ähnlichkeit in der Bedeutung sein darf. - Weitere Fragen hängen mit den Alternanzen bei der Präpositionsauswahl zusammen: Besteht aufgrund einer anderen realisierten Präposition  wie z.B. bei 3 (am Rücken) und 4 (auf dem Rücken)  , die Notwendigkeit, beide konkreten Konstrukte einer anderen Konstruktion zuzuordnen? (3) Mikrokonstruktionen: Xdat Experiencer Ynom Experiencer: Auslöser: Körperteil vs. Xnom Experiencer Der in (3) gekennzeichnete Xdat Experiencer entspricht dem sog. Pertinenzdativ, dessen Einordnung in den Ergänzungs- oder Angabeninventaren unstrittig ist. Die KG fasst ihn als ein von der Konstruktion zwar nicht perspektiviertes, aber beigesteuertes Argument auf, was mit Goldbergs Annahme „it is not necessary to posit an additional verb sense for each new syntactic configuration in which the verb appears“ (Goldberg 1995, S. 9) in Einklang steht. Anhand der nachstehenden Beispiele werden anschließend weitere Analysemöglichkeiten in Betracht gezogen: i) frieren 1. Ich friere Xnom Experiencer 2. Mir frieren die Füße Xdat Experiencer Ynom Experiencer: Auslöser: Körperteil 3. Meine Füße frieren Xnom Experiencer ii) schwitzen 1. Er schwitz t Xnom Experiencer 2. Ihm schwitz en die Hände Xdat Experiencer Ynom Experiencer: Auslöser: Körperteil 3. Seine Hände schwitz en Xnom Experiencer Form und Bedeutung der Konstruktion bei Vernetzung, Verlinkung und Vererbung 115 iii) jucken 1. Seine Hand juckt. Xnom Experiencer 2. Ihm juckt die Hand. Xdat Experiencer Ynom Experiencer: Auslöser: Körperteil Die Einstufung der Xdat Experiencer bei Xdat Experiencer Ynom Experiencer: Auslöser: Körperteil (z.B. Mir frieren die Füße) als das von der Mesokonstruktion beigesteuerte Argument lässt sich meines Erachtens nicht aufrechterhalten, denn im Fall der Xnom Experiencer bei Meine Füße frieren/ schwitzen, Ich friere/ schwitze lässt sich eigentlich eine Blockade der Dativrealisierung feststellen, nämlich *Meine Füße frieren/ schwitzen mir, r *Ich friere/ schwitze mir. Aus dem Gesagten geht hervor, dass eine Valenzerweiterung oder Fusionierung sich nur im Fall einer Xnom: exp mit äußerst konkreten syntaktisch-semantischen Belegungen als möglich erweist. Der Ansicht, dass Konstrukte wie Mir frieren die Füße/ Mir tut der Kopf weh / / / Mir / / schwitzen die Füße/ Mir brennen die Augen / / / Mir juckt die Nase / / eine eigene abhängige Mesokonstruktion bilden, steht aufgrund der spezifischen Belegung des Y-Arguments sowie der Topikalisierung des X-Arguments 12 nichts entgegen. Liegt hier keine Lizenzierung der Dativergänzung, bzw. keine bloße Erweiterung einer zentralen Lesart, sondern eine Rollen(re-)strukturierung vor, dann muss es sich um Vertreter einer anderen Konstruktion handeln. (4) wehtun: 13 i) Mesokonstruktion: (Mithilfe von M) bewirkt Y, Y dass X die im V ausgedrückte physische Erfahrung macht a. Esub Edat (Eadv instr ); Ynom Xdat Mprp mit Mit den Sozial-Kürzungen tut Schwarz-Grün in erster Linie der eigenen, bürgerlichen Klientel weh. b. Esub Edat; Ynom Xdat Deine Bemerkungen haben mir wehgetan. 12 Für die häufige Topikalisierung des Dativ-/ Akkusativarguments bei den Verben frieren, schwitzen u.a. siehe Welke (2002) und Rostila (2007). 13 Die Beispiele und die Lesarten habe ich VALBU (Schumacher et al. 2004) entnommen. Esub steht für Subjektergänzung, Edat für Dativergänzung, Eadv instr für instrumentale Adverbialergänzung und Eadv loc für situative Adverbialergänzung. María José Domínguez Vázquez 116 ii) Mesokonstruktion: (Mithilfe von M) bewirkt Y, Y dass an einer Stelle W von X X die im V ausgedrückte physische Erfahrung macht a. Esub Edat (Eadv instr ) (Eadv loc ); Ynom Xdat Mprp mit Wprp in Du tust mir mit der starken Lampe in den Augen weh. b. Esub Edat; Ynom Xdat Das grelle Licht tat seinen Augen weh. In Bezug auf i) und ii) gehe ich der Frage nach, ob sich eine Verbindung derartiger Konstruktionen im Hinblick auf die Konstruktionsvererbung, Konstruktionsänderung oder auf ihre Bestimmung als verschiedene homonymische Mesokonstruktionen (Mesokonstruktionen i) geistig und Mesokonstruktionen ii) physisch ) postulieren lässt und, wenn angebracht, in welchem hierarchischen Verhältnis sie zueinander stehen. Die Schwierigkeiten bei der Festlegung eines hierarchischen Verhältnisses zwischen den Konstrukten und darüber hinaus zwischen den möglichen Konstruktionen sowie die bei der Festlegung der Reichweite einer konkreten Konstruktion selbst gehen u.a. auf die semantische Belegung der Argumente und auf die Blockaden zurück, was ich am Beispiel der bereits angeführten wehtun-Muster ausführen möchte. Die Beispiele ii) a und ii) b veranschaulichen in Bezug auf i) a und i) b Kompatibilitäts- und Kombinationsbeschränkungen, und zwar: Im Fall von i) b (Deine Bemerkungen haben mir wehgetan) gibt die Esub einen Sachverhalt wieder, der sich als Auslöser bzw. Mittel kennzeichnen lässt, dementsprechend kann ein M(ittel), wie es bei i) a der Fall ist, nicht explizit in Form einer Präpositionalphrase ausgedrückt werden. Das Beispiel ii) b (Das grelle Licht tat seinen Augen weh) zeigt ebenfalls Kombinationsbeschränkungen anderer Art auf. Die Rolle Lokation (W) ist in diesem Fall dadurch blockiert, dass die Dativergänzung, die in der Form Possessiv + Dativergänzung (Körperteil) realisiert wird, eigentlich die lokative Bedeutung wiedergibt. Solche Fälle wie bei ii) b werden in VALBU als Valenzreduktionen gekennzeichnet. 14 14 Zu Valenzreduktion, Valenzerhöhung, Ad-hoc-Valenzerweiterung siehe Ágel (2000), Welke (2009a, S. 519; 2009b, S. 97-101; 2012). Welke (2009a, S. 519-520) definiert die Valenzänderung im Hinblick auf die KG wie folgt: „Bedingung einer Valenzänderung (einschließlich Valenzreduktion und Valenzerweiterung) ist, dass diese in einer Konstruktion erfolgt, die bereits an anderen Valenzträgern ausgebildet worden ist - für die der betreffende Valenzträger (z.B. das betreffende Verb) syntaktisch nicht Form und Bedeutung der Konstruktion bei Vernetzung, Verlinkung und Vererbung 117 Zieht man zur Analyse dieser Beispiele konstruktionsgrammatische Postulate heran, kommt man aufgrund der konstruktionsausgerichteten Auffassung von M(ittel) und W (Lokation) als nicht perspektivierte Rollen zu der Schlussfolgerung, dass (a) und (b) die gleiche Argumentanzahl aufweisen, folglich kann es sich hier nicht um eine Valenzreduktion handeln, sondern um eine Valenzerhöhung (beim Auftreten der Adverbialia). Zur Erklärung der Interaktion der Satzmitbeteiligten und deren Auswirkung auf die Satzkonstellation und zur Analyse des oben angeführten Beispiels ii) b (Das grelle Licht tat seinen Augen Edat weh) wird es anderen Beispielen gegenübergestellt, darunter (1) Die spitzen Krallen haben dem Kind Edat an den Augen Eloc wehgetan, (2) Der Ball hat dem Kind Edat wehgetan und (3) Der Ball hat dem Kind Edat am Arm Eloc wehgetan. Aus diesen Beispielen, die sich als „Ynom Gegenstand bewirkt, dass Xdat belebt die im V ausgedrückte Erfahrung macht“ abstrahieren lassen, kann Folgendes abgeleitet werden: neben der schon erwähnten Blockade der expliziten Wiedergabe eines Mittels in Form einer Präpositionalphrase (wie bei (1), (2), (3) und ii) b) sowie neben der unmöglichen Realisierung einer Lokativergänzung beim Vorhandensein einer Edat Körperteil (wie bei ii) b) ist noch eine weitere Restriktion hinsichtlich der Subjektergänzung und der Dativergänzung zu nennen, und zwar, dass die Aktualisierung einer Dativergänzung mit der kategoriellen Bedeutung [Körperteil] im Zusammenhang mit einer Esub Gegenstand: Körperteil sich als nicht möglich erweist ((4) *Die spitzen Krallen taten seinen Augen Edat[Körperteil] weh gegenüber Die spitzen Krallen taten dem Kind Edat[belebt] am Arm Esit[Körperteil] weh). Diese Restriktion hängt aber hauptsächlich mit der semantischen Ausstattung der Esub zusammen (sie liegt bei (4) vor, nicht aber im Fall von Gegenständen, die einen Sachverhalt implizieren, wie z.B. ii) b (Das grelle Licht tat seinen Augen weh)). Diese Restriktion scheint nicht nur Beispiele mit einer Edat Körperteil zu betreffen, sondern auch weitere Beispiele mit einer Edat belebt , wie ein Vergleich zwischen Die spitzen Krallen haben dem Kind wehgetan (nicht möglich; - Volition) gegenüber Der Ball hat dem Kind wehgetan (möglich; Sachverhalt impliziert, mögliche Volition: Der Ball, den du geworfen hast, hat dem Kind wehgetan) veranschaulicht. lizenziert ist. Man kann daher Valenzänderungen auch als Konstruktionsvererbung bezeichnen und Valenzvererbung als Konstruktionsänderung.“ María José Domínguez Vázquez 118 Aus diesen Beispielen dürfte sich hinreichend erhellen, dass aufgrund von mehreren ineinander greifenden syntaktischen und semantischen Phänomenen eine Restrukturierung der Argumente erfolgt. Nicht adäquat scheint mir demzufolge eine Erklärung der bereits beschriebenen Phänomene im Rahmen eines Vererbungsprozesses bzw. als bloße semantische Extensionen einer zentralen Mesokonstruktion zu sein. Mitunter wird deutlich, dass die Berücksichtigung der grammatischsemantischen Rollenbelegung (jucken (( , schwitzen u.a.), der Topikalisierung (frieren (( ), des Agentivitätsgrades/ der Intentionalitätsskala (+/ −Volition) (wehtun) u.a. zu einer Überdehnung des Konstruktionsbegriffs führt, bei der eine Grenze zwischen der Konstruktionsvererbung und der Konstruktionsänderung sowie zwischen den homonymischen und polysemischen Konstruktionen schwer zu ziehen ist. 3. Der umgekehrte Weg: Das Sammelsurium der Konstruktionen? Wie aus meinen bisherigen Ausführungen hervorgeht, kann m.E. eine Vernetzung von unterschiedlichen Mesokonstruktionen und weiterhin ihre netzwerkartige Zuordnung zu einer selbstständigen semantisch-konzeptuellen Konstruktion (Bedeutung1 +LF) 15 nur bei einer sehr weiten und abstrakten Auffassung zustande kommen. Zu diesem Zweck ist eine Verallgemeinerung vonnöten, die zum einem auf eine Beschreibung der im Abschnitt 2 behandelten Kombinationsrestriktionen verzichtet, und die zum anderen auf den Prototypenbegriff zurückgehen könnte. Ein mögliches Verfahren, das keine Vollständigkeit und Genauigkeit anstrebt, könnte wie folgt aussehen: - Veranschaulicht wird dieses Verfahren mit den folgenden Konstrukten: (1) Ich küsse ihn Eakk auf den Mund Edir , (2) Ich küsse ihn Eakk mit meinen roten Lippen, (3) Ich küsste ihr Edat die Hand Eakk , (4) Ich schlage 15 In der von mir vorgeschlagenen Konstruktionstypologie steht in der Hierarchie oberhalb der Mesokonstruktion eine selbstständige semantisch-konzeptuelle Konstruktion (Bedeutung1 + LF (Leere Form) und eine abstrakte Konstruktion (Bedeutung + LF). Die zuerst genannte, die selbstständige semantisch-konzeptuelle Konstruktion, setzt sich aus a) Bedeutung1 und b) Ausdrucksformen, die auf dieser Ebene noch nicht festgelegt worden sind (LF = Leere Form), zusammen. Bei der selbstständigen semantisch-konzeptuellen Konstruktion findet im Gegensatz zu der abstrakten Konstruktion eine Konkretisierung der Bedeutung statt. Beiden Typen ist gemeinsam, dass die Form noch festzulegen ist. Form und Bedeutung der Konstruktion bei Vernetzung, Verlinkung und Vererbung 119 ihm Edat ins Gesicht Eadvdir , (5) rr Ich klopfe ihm Edat auf die Schulter Eadvdir , rr (6) Ich klopfe ans Fenster Eadvdir . Schenkte man dem Kasusunterschied (z.B. bei (1) und (4)) sowie den unterschiedlichen aktualisierten Präpositionen (z.B. bei (4) und (5)) keine Aufmerksamkeit, könnten diese Konstrukte derselben Konstruktion zugeschrieben werden. 16 Schwieriger scheint mir die Bestimmung von (1) und (3) als Konstrukte derselben Mikrokonstruktion, jedoch möglich als Vertreter verschiedener Mikrokonstruktionen der gleichen Mesokonstruktion. Als problematisch stellt sich m.E. die Auffassung von (5) und (6) als hierarchisch gleichrangige Vertreter der gleichen Mikrokonstruktion heraus. - Eine Aufhebung der semantischen Unterschiede in Hinblick auf den Relator Affektiv (AFF) sowie die Unterklassen AFFeffektiv (AFFeff) und AFFmutativ (AFFmut) (vgl. Engel 1996) bei den Akkusativergänzungen ließe Konstrukte wie die folgenden semantisch vernetzen: (1) Sie streicht die Türen AFFmut mit Ölfarbe, (2) Ich male ein Haus AFFeff mit Farben, (3) Ich male das Haus AFFmut mit Farben an, (4) Ich zeichne einen Kreis AFFeff auf den Boden f , (5) Ich belade den Wagen g AFFmut mit bunten Sachen. Einige könnten wiederum als Vertreter einer mit- Konstruktion analysiert werden. - Die Nicht-Berücksichtigung der relationalen und kategoriellen Rollenbelegung (belebter Agens (AGT belebt )/ Auslöser (AGTaus) = Instrument/ Mittel, [belebt], [objekt]) und der Unterschied zwischen der Direktion (Eadvdir) und der Lokation (Eadvsit) ist auch eine Bedingung zur erfolgreichen Vernetzung von Konstrukten wie den folgenden: 17 (1) 7 Ich AGT: belebt verletze ihn AFF: belebt am Hals Eadvloc : Körperteil , (2) Der Schuss AGT: aus hat ihn AFF: belebt verletzt, (3) Fischers Brief AGT: ff aus hat mich AFF: belebt erschreckt, (4) Er AGT: belebt hat mich AFF: belebt mit dem Geräusch 16 Geht man nicht so vor, sollte man aufgrund des Kasusunterschieds zwei unterschiedliche Mikrokonstruktionen voneinander abgrenzen. Es gäbe dann so viele Konstruktionen wie mögliche kasusmarkierte NPs und Präpositionen. 17 Diesbezüglich sollte vieles außer Acht gelassen werden: a) beim Vorhandensein einer Subjektergänzung AGT: belebt (vgl. (1)) ist der Ausdruck eines Instruments oder Mittels möglich, hingegen bei Konstrukten mit einer Subjektergänzung AGT: aus (wie z.B. (2) oder (3)); b) bei (1) ist die Eadvloc Körperteil fakultativ, während bei (3) die Eakk nicht weggelassen werden kann und c) bei (5) oder (6) sollte die Realisierung des von der Handlung betroffenen Körperteils als Eadvdir oder Eadvsit nicht in Betracht gezogen werden. Geht man nicht so vor, müssten dann verschiedene Mikrokonstruktionen eingesetzt werden. María José Domínguez Vázquez 120 erschreckt, (5) Er AGT: belebt verwundete ihn AFF: belebt mit einem Stoß auf die Brust Eadvdir und (6) Du AGT: belebt tust mir AFF: belebt an den Haaren Eadvloc weh. Die bisherigen Ergebnisse deuten insgesamt auf ein Hauptdilemma bei der empirischen Beschreibung hin, das in der Akzeptanz von Verallgemeinerungen oder Generalisierungen oder genau genommen in ihrem jeweiligen Gegenteil liegt: Bei der Übergeneralisierung gerät man in die Aspezifizität, und die Konstruktion kann sich zu einem Sammelsurium entwickeln, in das alles Eingang finden kann. Wird eine Abstraktion und Aufhebung der spezifischen Merkmale der Valenzträger nicht durchgeführt, fände eine maximale Konkretisierung der Konstruktion statt, indem fast so viele ranghöchste abstrakte Konstruktionen wie konkrete Konstrukte einzusetzen wären. 4. Ein Vorschlag, der als Schlussfolgerung dient Zwecks einer Konstruktionssystematik bietet dieser Beitrag Einblicke in die hierarchische Konstruktionsvernetzung und in die dafür vorgesehenen Ordnungsmechanismen. Nach einem Gesamtüberblick über die festgestellten Schwierigkeiten bei den Vernetzungsprozessen zur Gewährleistung der abgestuften Konstruktionsverlinkung (a) sowie über die Ergebnisse bei den beiden von mir vorgeschlagenen Beschreibungsverfahren (b) wird ein Vorschlag zur netzwerkartigen Verbindung von Konstruktionen gemacht (c): a) Vernetzungsmechanismen: Die Anwendung des Fusionierungsprozesses, einschließlich der ihm zugrunde liegenden Prinzipien (Kohärenz- und Korrespondenzprinzip), kann zu einer beliebigen Übergenerierung und Konstruktionsgenerierung (Boas 2003, 2011) bzw. zu einer (fast) beliebigen Erweiterbarkeit (Kay 2005, S. 1975) führen, die darüber hinaus die Reichweite der Konstruktion sowie die abgestufte Konstruktionstypologie in Frage stellen kann. Aus der Bezugnahme auf den Vererbungsprozess und auf die Polysemie-Links zwecks der Grenzfestlegung der Konstruktionsvarianten gegenüber der eigenständigen Konstruktion resultieren keine zufriedenstellenden Zuordnungsanalysen (Kay 2005; Boas 2011; Engelberg et al. 2011). Widersprüche in Goldbergs Analyse (Goldberg 1995, S. 76), ein fehlendes konkretes Vererbungsinventar sowie die wenig ausführlich ausgearbeiteten Hierarchisierungsmechanismen erschweren die Beantwortung der Frage hinsichtlich der Grenze Form und Bedeutung der Konstruktion bei Vernetzung, Verlinkung und Vererbung 121 zwischen der eigenständigen Konstruktion und einer von ihr abgeleiteten Konstruktion. 18 Wann Konstruktionsvererbung oder Konstruktionsänderung vorliegt, ist bei den konkreten Beispielen nicht einfach zu begründen. Wegen der mangelnden Vernetzungsmechanismen im Hinblick auf die Form der Konstruktion - die vorliegenden sind semantischer Art - kann man zu einem Wirrwarr an Konstruktionen, Subkonstruktionen, Extensionen gelangen, die dem Vorteil des Konstruktionsansatzes entgegenstehen, nämlich einer Reduzierung der Lexikoneinträge durch Abstraktion (Goldberg 1995, S. 28ff.). b) Verfahren: Die Ergebnisse aus dem von mir vorgeschlagenen Spezifisch-zu-generell-Verfahren deuten darauf hin, dass sich bei der praktischen Analyse eines Konstrukts sowohl die Einsetzung von vielen sehr konkreten semantisch verwandten Mesokonstruktionen als auch die Berücksichtigung von verschiedenen Mesokonstruktionen rechtfertigen lässt. 19 Bei dem umgekehrten Verfahren („generell zu spezifisch“), im Konkreten bei der Festlegung der selbstständigen semantisch-konzeptuellen Konstruktionen (Bedeutung1 + LF) und der abstrakten Konstruktion (Bedeutung + LF), 20 müssen viele syntaktischsemantische Eigenschaften der Kopfträger unabdingbar außer Acht gelassen werden. Diese Verallgemeinerungen und Übergeneralisierungen bringen die Gefahr mit sich, dass sich die Konstruktion als eine bloße Verbindung zwischen einer Form und einer Bedeutung herausstellt. Mit dieser Definition kann man sich aber nicht zufrieden geben, wenn man die Konstruktion als Steuerungsfaktor jeglicher Strukturen aus Form und Bedeutung auffasst. 21 18 Dazu äußern sich Engelberg et al. (2011, S. 76) wie folgt: „Damit werden Form-Bedeutungs-Paare wie [F, B 2 ] und [F, B 3 ] nun gleichzeitig als Varianten eines einzelnen polysemen konstruktionellen Zeichens behandelt wie auch als zwei homonyme konstruktionelle Zeichen.“ 19 Semantisch verwandte Mesokonstruktionen verfügen über dieselbe Bedeutung, aber sie weisen unterschiedliche Formen auf (Bedeutung1 + F1, Bedeutung1 + F2, Bedeutung1 + F3). Handelt es sich um verschiedene Mesokonstruktionen, müssen sie folglich unterschiedliche Bedeutungen wiedergeben. 20 Siehe Fußnote 15. 21 Laut der KG lizenziert (projiziert) Köpfe weder der Kasusrahmen (Fillmore 1968; vgl. Boas 2003; Fellbaum 2011) noch ein Valenzträger, sondern vielmehr die Konstruktion (und nicht umgekehrt! ), denn alles wird ‘done via constructions’. In Bezug auf die Annahme der Konstruktion als lizenzierendes Steuerungsmittel gibt es María José Domínguez Vázquez 122 c) Vorschlag zu netzwerkartigen Vernetzungen: Bei der praktischen Analyse möglicher Konstruktionsvernetzungen und -verbindungen sieht man sich damit konfrontiert, dass der Form der Konstruktion ein übergeordneter Status gegenüber der Bedeutung zugeschrieben wird. 22 Demzufolge scheint die Konstruktion eine Zusammensetzung aus einer Form und einer (fast) beliebig erweiterbaren Liste von bedeutungsverwandten Konstrukten zu sein. Zwecks der Bildung eines netzwerkartigen Konstruktionssystems möchte ich im Weiteren den umgekehrten Weg beschreiten, und zwar, dass bedeutungsverwandte Konstrukte mit einer (fast) beliebig erweitbaren Liste von Formen einhergehen. Meines Wissens ist das möglich, wenn man die Konstruktion als eine Form-Bedeutungs-Paarung beschreibt. Meine Annahme geht darauf zurück, dass Bedeutungen an bestimmte Szenen gekoppelt und in Wissensrahmen eingebettet sind (Heringer 1984; Welke 1988; Storrer 1992), die sprachlich kodiert werden (frame (( ). Zu einem konkreten konzeptuellen Netzszenario, das verschiedenartige sprachliche Konstrukte - mehr oder weniger spezifische Abbildungen von Ergebnissen/ Prozessen/ Situationen - abdeckt, gehört eine abstrakte Konstruktion (Bedeutung + LF), die sich aus selbstständigen semantisch-konzeptuellen Konstruktionen (Bedeutung1 + LF) und aus Mesokonstruktionen (Bedeutung1 + Fn (verschiedene Formen)) zusammensetzen lässt. Dieses Szenario stellt dann den Bezugsrahmen für die Vernetzung von semantisch-konzeptuell kompatiblen sprachlichen Konstrukten dar, die als verwandte sprachliche Konstrukte ähnliche Konstrukt-Elemente (Frame-Elemente) evozieren. Im Konkreten gehören zu dem von mir dargestellten „Empfindungsnetz“ alle sprachlichen Konstrukte mit einem Affizierten bzw. Experiencer. Den Konstruktionsformen wird nur auf der Ebene der Mikrokonstruktion besonderes Gewicht zukommen, denn für die Netzbildung ist nur das Vorhandensein eines Experiencers ausschlaggebend, davon unabhängig, wie er syntaktisch materialisiert wird. eine ausgiebige Diskussion (vgl. Boas 2008, 2011; Eroms 2012; Willems/ Coene 2006; Welke 2009a, 2009b, 2011; Fellbaum 2011). In der Fachliteratur wird auch für eine komplementäre Verbindung beider Ansätze plädiert (Jacobs 2008; Müller 2006; Engelberg et al. 2011; Welke 2009b). 22 Diese Feststellung geht auf die Darlegungen von Konstruktionstypen in Goldbergs Auffassung (1995) und auch auf die Diskussion im Rahmen der Tagung zurück. Form und Bedeutung der Konstruktion bei Vernetzung, Verlinkung und Vererbung 123 Literatur Ágel, Vilmos (2000): Valenztheorie. Tübingen. Boas, Hans C. (2003): A constructional approach to resultatives. Stanford. Boas, Hans C. (2008): Determining the structure of lexical entries and grammatical constructions in construction grammar. In: Annual Review of Cognitive Linguistics 6, S. 113-144. Boas, Hans C. (2011): Zum Abstraktionsgrad von Resultativkonstruktionen. In: Engelberg/ Holler/ Proost (Hg.), S. 37-69. Croft, William (2001): Radical construction grammar. Syntactic theory in typological perspective. Oxford. Croft, William/ Cruse, David A. (2004): Cognitive linguistics. 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BRIGITTE HANDWERKER KONSTRUKTIONEN IM L2 - LERNFORMAT ORTS - UND ZUSTANDSVERÄNDERUNGEN IN DER REZEPTION UND PRODUKTION DES DEUTSCHEN ALS FREMDSPRACHE 1. Einleitung Dieser Beitrag behandelt aus der Perspektive des Verarbeitens und des Lernens von Deutsch als Fremdsprache die Frage nach dem Umgang mit Zwischenräumen, die sich zwischen einem Pol rein lexikalischen Wissens und einem Pol lexikonunabhängiger grammatischer Regeln ansiedeln lassen. Dabei wird unterschieden zwischen dem Wissen um abstrakte Konstruktionen, über das Lernende verfügen müssen, um adäquate Erwartungen in der Rezeption fremdsprachlichen Inputs aufzubauen, und dem valenz- und framebasierten Wissen, das an spezifische lexikalische Einheiten angedockt werden muss, um die lernersprachliche Produktion anzuleiten. Zwischenräume im hier gemeinten Sinn werden aus der Sicht der lernersprachlichen Verarbeitung als ein Bereich konzipiert, der Memorierungs- und Gebrauchsfaktoren einbringt und der für die Modellierung von Steuerungsinstrumenten beim Lernen unterschiedliche Abstraktheitsgrade in der Erfassung formal und/ oder inhaltlich komplexer sprachlicher Phänomene vorsieht. 1 Unter Konstruktionen im L2-Lernformat werden in Anlehnung an konstruktionsgrammatische Ansätze (Goldberg 1995, 2006; Boas 2003) Form-Bedeutungsverbindungen verstanden, die für das Lernen einer zweiten oder weiteren Sprache (abgekürzt als L2) als Beschreibungseinheiten aufbereitet sind und die je nach Fokussierung auf Perzeption oder Produktion unterschiedliche Abstraktionsgrade aufweisen. Die Anwendung auf den Bereich des gesteuerten Sprachenlernens vollzieht sich (i) durch das Zusammenführen von Chunks als strategischen Einheiten der Memorierung mit Konstruktionen als Einheiten expliziter Instruktion, (ii) durch das Explizieren der Bezüge zwischen versprachlichten Szenarien und lexikalischen sowie Konstruktionsbedeutungen. Zur Illustration dienen exemplarisch komplexe Ausdrucksmittel aus dem Bereich der Orts- und Zustandsveränderungen wie über den Lauf- 1 Man vergleiche die Diskussion verschieden konzipierter Zwischenräume im Bereich von Lexikon und Grammatik in Engelberg/ Holler/ Proost (2011). Brigitte Handwerker 128 steg schweben und sich schön lächeln. Im Einzelnen werden die folgenden Aspekte behandelt: Abschnitt 2 zeichnet den lerntheoretischen Hintergrund für ein Einbringen von Konstruktionen als Beschreibungseinheiten für Form-Bedeutungsverbindungen in die L2-Steuerung nach und präsentiert einen Ansatz für das Lernen und Lehren, dessen Kern die Parallelität von lernersprachlichem Chunking mit der Entwicklung von Konstruktions-, Valenz- und Regelwissen ist. Das Format von perzeptionssteuernden Chunks und Konstruktionen und das Format von sprachlernrelevanten Informationen zu verwendungstypischen Szenarien, Frames und Valenzen werden in Abschnitt 3 herausgearbeitet. Abschnitt 4 behandelt die Besonderheit dichter Konstruktionen im Deutschen, die L1-abhängig zu Konzeptualisierungsschwierigkeiten bei der Inputverarbeitung führen. Beispiele sind Ortsveränderungskonstruktionen mit Manner-Bewegungsverben und einem Direktional wie in in die Schule schlurfen sowie Resultativkonstruktionen, die den resultierenden Zustand durch eine Präpositional- oder Adjektivphrase ausdrücken wie etwas in Scherben schlagen oder etwas randvoll gießen. Exemplarisch für das Lernen und Lehren ausbuchstabiert wird der Ansatz in Abschnitt 5 anhand des Romantitels Ich koch dich tot. Abschnitt 6 diskutiert anhand einer Fragebogenaktion zur Akzeptabilität die Frage, ob Urteile von Muttersprachlern eine Grundlage für negative Evidenz in der Fremdsprachenvermittlung bieten, und präsentiert Vorschläge zum Einbringen von Beschränkungen in Produktivität und Interpretierbarkeit bei Konstruktionen der Orts- und Zustandsveränderung in die L2-Steuerung. Abschnitt 7 zieht das Fazit im Hinblick auf einen für Rezeption und Produktion, sozusagen doppelt bespielten Lerner, den Chunks und abstrakte Konstruktionen einerseits und lexikalische Füllkandidaten mit ihren Valenzen andererseits zu einem Mitglied im Sprachorchester machen, das sowohl Versatzstücke reproduzieren als auch kreativ variieren und improvisieren kann. 2. Warum Konstruktionen im L2 - Lernformat? 2.1 Ausgangspunkt: Sprachenlernen via Chunks Den Hintergrund zur Anwendung konstruktionsgrammatischer Modelle im Bereich des gesteuerten L2-Erwerbs bilden lerntheoretische und empirische Arbeiten zu Chunks als Mitteln der Optimierung von Konstruktionen im L2 - Lernformat 129 Inputverarbeitung und Grammatikerwerb (Handwerker 2008a; Handwerker/ Madlener 2009). Der hier verwendete Chunk-Begriff ist verwandt mit dem bei Miller (1956) eingeführten: Durch Chunking werden Informationen bei der Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis gebündelt, was zu einer Erhöhung der Arbeitskapazität führt. Chunks im sprachlichen Bereich werden verstanden als Ausdruckssequenzen, die zusammen mit ihrer Bedeutung/ Funktion im Kontext holistisch, als Ganzes verarbeitet werden. Hier verfolgtes Ziel ist es, eine Verbindung herzustellen zwischen linguistisch-lerntheoretisch fundierten Chunk-Angeboten mit „gefrorener“ grammatischer Information und einer konstruktionsgrammatischen Erfassung der als Chunks verarbeiteten Strukturen durch Konstruktionen im L2-Lernformat. Die zentralen Annahmen eines Chunks-und-Konstruktionen-Ansatzes (von nun an: C&K-Ansatz, vgl. Handwerker 2008a) bestehen darin, dass (i) implizites grammatisches Wissen auf dem Weg des Speicherns von Chunks erworben wird (wie breit diskutiert bei Ellis 2003, 2013), dass (ii) massenhafter Input mit situationseingebetteten Chunk-Angeboten gleicher Struktur die grammatische Abstraktion befördert (vgl. Handwerker/ Madlener 2009), dass (iii) erst eine explizite Grammatikinstruktion das Aufbrechen der Chunks bei erwachsenen Fremdsprachenlernern garantiert und damit die gefrorene Grammatik in den Chunks für die Entwicklung der Lernergrammatik verfügbar macht. Diese Grammatikinstruktion ist aber ineffizient, wenn das verwendete Beschreibungsmodell dem holistischen Verarbeiten von komplexen Einheiten entgegenläuft und mit Regeln über atomaren Einheiten operiert. Die Rolle der Eignung eines Grammatikmodells wird in empirischen Arbeiten zum Einfluss expliziter Instruktion in inputorientierten Studien üblicherweise nicht einmal thematisiert (vgl. etwa Fernández 2008). In den folgenden Abschnitten wird mit dem Ziel der Behebung dieser Lücke dafür plädiert, die Abstraktion, für die eine Chunk- Datenbasis im Lernerkopf bereit gestellt wird, auf lernkompatible Weise zu fördern: durch die explizite Vermittlung von abstrakten Konstruktionen und erwartbaren lexikalischen Füllungen für die Rezeption und durch die Bereitstellung von lexikalischen Einheiten mit ihren Valenzen und lexemaffinen Konstruktionen für die Produktion. Durch die Verbindung von konkret gefüllten Chunks, abstrakten Konstruktionen und lexikalischen Kandidaten, die sich bei hinreichender Eignung in diese einstöpseln lassen (vgl. Abschnitt 3.1), bedient man Brigitte Handwerker 130 mit neuen Instrumenten eine alte Forderung: Es geht darum, die Annahme aufzugeben, dass Lexikon und Grammatik klar distinkte Organisationssysteme seien (vgl. Helbig 1997, S. 8; Schaeder 1981, S. 69). Für die Perspektive des Sprachenlernens verlagern wir die Problematik der Zwischenräume zunächst von der Ebene der Beschreibung auf die Ebene der Verarbeitung, um dann zu den Beschreibungsinstrumenten für die Steuerung zurückzukehren: Fremdsprachenlerner bringen kein Gefühl mit für Idiomatizität, Fixiertheit, Kollokationsstärken und Gebrauchspräferenzen im Sinne der Affinität von Konstruktionen und lexikalischen Füllungen. Verarbeitungsoptimierung setzt voraus, dass der Lerner bewusst mit wiederkehrenden Form- Bedeutungsverbindungen umgeht. Einer natürlichen Strategie folgend richten Lerner ihre Aufmerksamkeit auf Form-Bedeutungsverbindungen bei Inhaltswörtern oder idiomatischen Wendungen; im hier vertretenen Ansatz sind Lerner angehalten, konventionelle Form- Bedeutungsverbindungen unabhängig vom Kriterium des Idiomatizitätsgrads holistisch zu lernen. Für den Lerner ist die Verfügbarkeit auch kompositionaler Konstruktionen unerlässlich, um komplexen Input in angemessener Zeit verarbeitbar und interpretierbar zu machen. Abbildung 1 fasst die bis hierher besprochenen Komponenten aus Lerntheorie und Beschreibungsmodell für die explizite Instruktion im C&K-Ansatz zusammen, fügt Beispiele zu Resultativkonstruktionen und Manner-offf Motion-Verb-Konstruktionen ein, die in den folgenden Abschnitten besprochen werden, und nennt Vermittlungsverfahren wie Tuning, Input-Flut und Formfokussierung (vgl. Madlener/ Handwerker 2009, S. 31ff.), die den C&K-Ansatz in der Praxis komplettieren. Konstruktionen im L2 - Lernformat 131 Lerntheorie Grammatikmodell C Chunk-Angebote für den Lerner: K Konstruktionen als Form-Bedeutungspaare: C1 Strukturierter Input mit salienten Ausdruckssequenzen gleicher Struktur und im Kontext herleitbarer Bedeutung Einzelbeispiele • Er läuft seine Schuhe schief • Sie hungert sich krank • Sie schwebt über den Laufsteg • Er stolpert auf das Fußballfeld K1 Präsentation von Mustern und Konstruktionsbedeutungen Exemplarisch • Typen von Resultativkonstruktionen im L2-Lernformat • Manner-of-Motion-Verb-Konstruktionen im L2-Lernformat C2 • Tuning durch Input-Flut: Aufbau von Erwartungen an den Input • Training mit bedeutungsbasierter Formfokussierung K2 • Instruktion zur Identifikation von Konstruktionen • Instruktion zur gefrorenen grammatischen Information C3 Lernersprachliche Produktion durch • die Kombination von Vorgefertigtem und die Variation lexikalischer Füllungen von Chunks • die parallele Nutzung von Wissen zu syntaktischer und semantischer Valenz lexikalischer Einheiten K3 Unterstützung der lernersprachlichen Produktion durch • die Instruktion zu Lexem-Konstruktion-Affinitäten und zu regelhaften und gebrauchsbedingten Beschränkungen • die Instruktion zur parallelen Anwendung syntaktischer Regeln Abb. 1: Komponenten des C&K-Ansatzes 2.2 Die Disposition des Sprachenlerners für Konstruktionen Der Frage, ob Fremdsprachenlerner sensibel für Konstruktionen sind, ist mit verschiedenen experimentellen Untersuchungen nachgegangen worden. Gries/ Wulff (2005) belegten bei Englischlernern mit L1 Deutsch einerseits syntaktische Priming-Effekte bei Ditransitivkonstruktionen und Konstruktionen mit präpositionalem Dativ in der L2, die trotz geringeren Inputs denen von nativen Sprechern entsprachen. Zum anderen wurde durch Sortierexperimente nachgewiesen, dass Lerner sich bei Sätzen mit Ditransitiv-, Resultativ- und Caused-Motion- Konstruktionen, die nach Bedeutungsähnlichkeit gruppiert werden Brigitte Handwerker 132 sollten, mit starker Tendenz an der Identität der Konstruktion und nicht am Auftreten ein und desselben Verbs in verschiedenen Konstruktionen orientierten. Ähnliche Untersuchungen wurden inzwischen für unterschiedliche Sprachenpaare durchgeführt, so z.B. von Valenzuela Manzares/ Rojo López (2008) für L1 Spanisch/ L2 Englisch. Die Untersuchungen zeigten gleichzeitig deutliche Inputfrequenzeffekte: Bestimmte Konfigurationen sprachlichen Materials waren für ein und dasselbe Verb stärker verankert als andere und bestimmte Verben wurden in einer bestimmten Konstruktion bevorzugt. Die Variation im Input und ihre Auswirkungen auf Kategorisierungs- und Generalisierungsprozesse waren Gegenstand der Experimente von Goldberg/ Casenhiser (2008), in denen 6-Jährigen und Erwachsenen eine neue Konstruktion ihrer L1 mit unterschiedlichen Type/ Token-Verteilungen präsentiert wurde. Es erwies sich, dass eine Skewed- Frequency-Bedingung, bei der z.B. ein und dasselbe Verb zunächst mit einer erhöhten Token-Frequenz in der neuen Konstruktion auftauchte, lernerleichternd wirkte im Vergleich zu einem Input mit ausgewogener Type/ Token-Verteilung. Diese Beobachtungen werden gestützt durch Studien mit verfeinertem Untersuchungsdesign (vgl. z.B. Boyd/ Goldberg 2009); ihre Relevanz für die Strukturierung fremdsprachlichen Inputs ist offensichtlich: Häufig auftretende Typen von Konstruktion/ Lexem-Kombinationen in kleiner Auswahl eignen sich für einen massiven, vorstrukturierten Input, dem viele verschiedene seltene Typen nachgeschoben werden sollten. Wie bei allen Optimierungsansätzen zum gesteuerten L2-Erwerb werden auch Ergebnisse zum natürlichen L2-Erwerb mit einbezogen, in diesem Fall solche, die aufzeigen, dass die Verfügbarkeit von Konstruktionen von ihrer Frequenz im Input, der Type/ Token-Verteilung und der Prototypizität ihrer Bedeutung abhängig ist (vgl. Ellis/ Ferreira-Junior 2009; Bybee 2013). 2.3 Fremdsprachlicher Input und seine Verarbeitung Es ist inzwischen unbestritten, dass Erwartungshaltungen eine entscheidende Rolle in der rezeptiven Sprachverarbeitung spielen. Neuere Untersuchungen belegen sogar, dass Erwartungen an den Input, die aus der Erfahrung von L1-Sprechern mit konkreten lexikalischen Einheiten in syntaktischen Konstellationen resultieren, zur Reanalyse von grammatischen Relationen führen können. So zeigen Brown/ Rivas (2012) anhand von Korpora zum gesprochenen puertoricanischen Spa- Konstruktionen im L2 - Lernformat 133 nisch, dass Nomina, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Subjektposition eines Satzes auftreten, in der Präsentativkonstruktion [hay + NP] die Kongruenz von haber auslösen. Die entsprechenden Phrasen werden in einer Konstruktion, die ursprünglich eine unpersönliche Verwendung von haber (dt. haben) mit der Möglichkeit der Objekt-Klitisierung der NP beinhaltet, als Subjekt reanalysiert, was als Niederschlag lexikalisierten Wissens zu Gebrauchsmustern grammatischer Relationen gedeutet wird. Bezogen auf den Sprachlernbereich heißt das, dass einerseits L2-angemessene Erwartungen an den Input aufgebaut werden müssen, um die Verarbeitung zu optimieren, dass andererseits aber auch durch Lernervorwissen fehlgeleitete Erwartungen einkalkuliert werden müssen, die die Verarbeitung erschweren. 3. L2 - Lernformate für Rezeption und Produktion: Abstrakte Konstruktionen, Füllungen, Beschränkungen, Frames und Valenzen Dieser Abschnitt behandelt die Unterschiede zwischen (i) den Erfordernissen der rezeptiven Verarbeitung des fremdsprachlichen Inputs durch den L2-Lerner und (ii) den Erfordernissen, die die lernersprachliche Produktion ausgehend von einer konkreten Redeabsicht mit ausgewählten lexikalischen Mitteln mit sich bringt. Im Sinne eines geeigneten L2-Lernformats werden Abstraktionsgrade von Konstruktionen als Faktor einer Grammatikinstruktion angesetzt, die sowohl dem C&K-Ansatz mit dem Ziel einer Abstraktion für die Inputverarbeitung verpflichtet ist, als auch den Notwendigkeiten der kreativen Produktion mit dem Ausgangspunkt Lexikon gerecht werden soll. 3.1 Abstraktheitsgrade Welches Format bietet sich an, wenn wir den Lerner in der Herausbildung abstrakten Wissens unterstützen wollen, damit er flexibel auf komplexen fremdsprachlichen Input reagieren kann? Eine Ausbuchstabierung unterschiedlicher Typen von Konstruktionsinformationen, die für den Bereich des L2-Lernens und -Lehrens adaptiert werden kann, findet sich in Boas (2011): In einem einheitlichen Netzwerk werden sowohl abstrakt-schematische Konstruktionsinformationen erfasst, die für das Dekodieren relevant sind, als auch Konstruktionsinformationen zur lexikalischen Spezifizierung; als Beispiel dient ein Brigitte Handwerker 134 Ausschnitt eines Resultativkonstruktionsnetzwerks zur Lizenzierung der Sätze (a) Joe paints the house red, (b) Joe paints the brush to pieces und (c) Joe paints the house a light shade of blue mit unterschiedlichen Abstraktionsgraden. Das Netzwerk sieht auf der obersten Ebene ein syntaktisches Muster [[NP][V][NP][XP]] mit einer Semantik vor, für die lediglich verzeichnet ist, dass die erste NP eine Agens-Rolle trägt. Diese Ebene würde auch andere Typen von Prädikationskonstruktionen abdecken. Die zweithöchste Ebene bringt die cause-become -Bedeutung, die patiens -Rolle der zweiten NP und die result-goal -Rolle der XP ein. Ebene III spezifiziert die syntaktischen Kategorien der Resultativphrasen als AP, PP oder NP. Diesen drei abstrakt-schematischen Ebenen folgt auf der untersten Ebene IV des Netzwerks ein konkretes Verb, das in eine Resultativkonstruktion eingehen kann. Boas (2011, S. 51, 58) illustriert seinen Ansatz am Beispiel / paint / / / (‘malen’, ‘bemalen’) mit einem Ereignis-Frame, der die prototypische Bedeutung des Verbs inklusive einer Komponente „Weltwissen“ präsentiert. Als Frame-Elemente treten auf: ein Agens mit der Spezifizierung „Person, die Farbe auf eine Oberfläche aufträgt“, ein Patiens mit der Spezifizierung „Oberfläche oder Objekt, welches so interpretiert werden kann, als ob es eine Oberfläche hätte“, Weltwissen W über mögliche Resultatszustände, die durch eine paint-Aktivität verursacht werden können, sowie die syntaktische Spezifizierung zum Ausdruck des Resultatszustands des Patiens: NP (z.B. a light shade of blue) oder AP (z.B. red). Die Komponenten W und die Resultatszustandskomponenten sind durch Klammerung als optional gekennzeichnet; die Relevanz der Komponente W sieht Boas in der Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks „nichtprototypischer Endresultatszustände von Malaktivitäten“ wie in Joe painted the brush to pieces oder Miriam painted herself tired. Im Frame ablesbar ist zudem, dass das Ereignis sich über eine Zeitspanne hinzieht, bis das Ziel ( goal ) des Malens erreicht ist. Zwischen diesem Ereignis-Frame zu / paint / / / auf Ebene IV und den abstraktschematischen Konstruktionsschemata darüber - also am Treffpunkt von abstrakter Konstruktion und konkreter Verbinformation - findet sich im Netzwerk die so genannte Satzebene, durch die z.B. Joe paints the house red lizenziert wird (vgl. Boas 2011, S. 58): cause-become [[NP][V][NP][AP]] [[Agent][V][Patient][red]] Konstruktionen im L2 - Lernformat 135 Im Netzwerk werden - von unten gelesen - einem konkreten Verb mögliche Konstruktionen zugeordnet und - von oben gelesen - einer Konstruktion lexikalische Füllungen beigegeben. Hinsichtlich der Hörerperspektive und des Verstehens von Resultativen geht Boas davon aus, dass sich für das Dekodieren keine Probleme ergeben und dass das Evozieren minimaler Lexikoneinträge zusammen mit der abstrakten Resultativkonstruktion ausreichend ist. Dies muss für die hier behandelte L2-Problematik in Abschnitt 4 vor allem bezüglich eines Lernkontextes mit verschiedenen Erstsprachen differenziert werden. Ein bereits den L1-Sprachgebrauch betreffendes Problem stellt die Rolle dar, die den lexikalisch spezifizierten Konstruktionen im Konstruktionsnetzwerk zugewiesen wird: Sie sollen Übergeneralisierungen ausschließen. So wird z.B. Fritz inhaliert das Buch vom Regal zu den Sätzen gezählt, die „im tatsächlichen Sprachgebrauch nicht vorkommen oder nicht zulässig sind“ (Boas 2011, S. 39). Boas bedient sich hier eines Zulässigkeitsbegriffs, der von gängiger Erfahrung in der realen Welt geprägt ist und noch restriktiver erscheint als z.B. der Begriff der „Vorstellbarkeit“, den Welke (in diesem Band) hinsichtlich möglicher Abweichungen von der Valenz eines Verbs benutzt. Gerade das Bereitstellen von Konstruktionen unterschiedlichen Abstraktionsgrads in einem einheitlichen Netzwerk bietet aber die Möglichkeit, Gebrauchspräferenzen und -frequenzen von innersprachlicher negativer Evidenz abzusetzen, wie sie etwa durch *jmdn. tot ermorden * gegeben ist (vgl. dazu Abschnitt 3.2). Ein einheitliches Netzwerk ist bei entsprechender Adaption ohne Zweifel eine attraktive Quelle für eine L2-Instruktion, die auf eine effiziente Steuerung der Inputverarbeitung und auf eine Lexikon und Grammatik integrierende, gebrauchsorientierte Steuerung der lernersprachlichen Produktion abzielt. Die von Boas (2011) vorgeschlagene „Arbeitsteilung“ von abstrakt-schematischen und lexikalisch spezifizierten Konstruktionen teilt einige Komponenten mit dem Instrumentarium, das im C&K-Ansatz für das Lernen fremdsprachlicher Konstruktionen zum Einsatz kommt. Gemeinsam ist beiden Ansätzen die Trennung zwischen (a) den Eigenschaften einer Konstruktion, die für ihre Identifikation im Input, für ihre Rezeption und für ihr Verstehen im Situationskontext entscheidend sind, und (b) den Produktionsbedingungen, die von den lexikalischen Eigenschaften der Füllelemente und den Kollokationsgegebenheiten innerhalb einer Konstruktion Brigitte Handwerker 136 mitbestimmt werden. Eine spezifische Behandlung kommt im C&K- Ansatz aber einerseits den Konstruktionen zu, die für den Lerner „nicht normal“ sind, wohl aber für den Muttersprachler, und andererseits denen, die zwar grammatisch wohlgeformt, aber für manche Muttersprachler „nicht normal genug“ sind. Lerner mögen voneinander abweichende muttersprachliche Urteile nicht, sie begegnen jedoch entsprechenden Konstruktionsexemplaren häufig im Alltagsinput, auch wenn diese in vielen konstruktionsgrammatischen Arbeiten ausgesondert werden, wenn sie in Korpora nicht aufzufinden sind (vgl. dazu Abschnitt 6). Einfacher ist es für L2-Lerner und -Lehrer, wenn sich Gebrauchspräferenzen in Korpora niederschlagen. Nützlich sind dabei die so genannten Kollostruktionsanalysen, die wohl erstmals in Stefanowitsch/ Gries (2003) expliziert wurden: Mit quantitativen Verfahren wird die Assoziationsstärke zwischen Konstruktionen und lexikalischen Instanzen untersucht. Durch eine Kollostruktion wird angegeben, wie stark z.B. das Kollexem give im Vergleich zu pay und anderen „passenden“ Verben mit der englischen Ditransitivkonstruktion assoziiert ist bzw. wie stark innerhalb einer Konstruktion lexikalische Füllungen verschiedener Leerstellen miteinander korrespondieren. Voraussetzung für das Verfahren ist die Existenz entsprechend annotierter Korpora, damit man von einer Konstruktion zum guten lexikalischen Kandidaten gelangen kann. 3.2 Lernerlizenzen: Das Gefühl für Grenzen und Gebrauch In einer C&K-Lernumgebung weisen wir den Weg von Chunk-Angeboten, die in einer Situation prototypische Ausdruckssequenzen präsentieren, zu einem Inventar abstrakter Konstruktionen. Für die Zwecke der Produktion benötigen wir Angaben zu Beschränkungen der konkreten Füllungen, die aus den sicheren, „normalen“ Ausdrucksweisen in den Chunk-Angeboten nicht abzulesen sind. Auch wenn, wie weiter begründet in Abschnitt 6, die negative Evidenz aufgrund der Vielfalt der L1-Urteile eng eingegrenzt wird, verbleiben Beschränkungen bei gewissen lexikalischen Füllungen, die dem Lerner einsichtig gemacht werden müssen. Einhellig abgelehnt werden von Muttersprachlern z.B. Resultativphrasen in Verbindung mit Verben, deren Bedeutung bereits selbst eine Resultatskomponente enthält, wie in *jmdn. * tot ermorden, *jmdn. wach wecken und bei den „psychischen Wirkungs- Konstruktionen im L2 - Lernformat 137 verben“ wie in *jmdn. ängstlich erschrecken * . Ein Befund zum L1-Erwerb in Richter/ van Hout (2013), dass nämlich Kinder derlei Resultativkonstruktionen produzieren, passt zu den Untersuchungen von Wittek (1999), die gezeigt haben, dass Kinder genau die Bedeutungskomponente der Zustandsveränderung des Verbs spät erwerben bzw. als Implikatur missdeuten. Ein viel diskutierter Befund ist aber auch die unterschiedliche Lizenzierung von semantisch eng verwandten oder der Konstruktionsbedeutung nach erwartbaren Verben in einer Konstruktion. Für die Präsentation des fremdsprachlichen Inputs heißt das, dass wir negative Evidenz liefern müssen, da selbst eine Massenflutung des Lerners mit entsprechend vorstrukturiertem Input nicht an das heranreicht, was der Muttersprachler seiner sprachlichen Umgebung entnehmen kann. Einschlägige Überlegungen stellen Engelberg/ König/ Proost/ Winkler (2011) z.B. zur konstruktionellen Erfassung von Argumentstrukturmustern an; sie zeigen, dass letztere vielfach idiosynkratische formale oder inhaltliche Eigenschaften aufweisen, die sich zum einen auf Präferenzen in der Realisierung von Argumentstellen, zum anderen auf das unterschiedlich belegte Auftreten von Verben bestimmter Bedeutungsklassen in ein und demselben Muster beziehen. Ein Beispiel ist das Nicht-Vorkommen in Korpora von durchaus erwartbaren Verbfüllungen in einem der so genannten Such-Argumentstrukturmuster mit dem zentralen Muster nach etwas suchen: Form: X NPnom V Y PPnach Bedeutung: X versucht, X Y durch Ausführen der Handlung V zu fin- den, zu erlangen, zu ermitteln. In Korpora finden sich zwar Belege für z.B. Verben körperlicher Aktivität wie graben und Wahrnehmungsverben wie schauen, aber keine für z.B. lesen; die Schlussfolgerung ist, dass „der Konstruktionsgedanke vor allem auf einer sehr ausdrucksnahen, konkreten Ebene greift“ (Engelberg/ König/ Proost/ Winkler 2011, S. 105). Es gilt also in der Tat, dem Muttersprachler vertraute Füllungen aufzuzeigen, die Affinität von Lexemen und Konstruktionen und die Affinität zwischen den einzelnen Füllungen einer Konstruktion, also konstruktionsabhängige Kollokationen, aufzubereiten. Doch scheint es so zu sein, dass die Konventionalisierung bestimmter lexikalisch gefüllter Konstruktionen mit dem Ausschluss anderer Füllungen unterschiedlich stark greift. Wird die Interpretierbarkeit durch eine Konstellation von lexikalisch evo- Brigitte Handwerker 138 zierten Ereignisbezügen gestützt wie bei den Resultativkonstruktionen und den Manner-offf Motion-Konstruktionen, ist die Lizenz zur Füllung im Deutschen bei weitem weniger eingeschränkt. Die Verbindung zwischen verursachendem Ereignis und resultierender Zustandsveränderung wie in sich schön lächeln ist auf der Basis vertrauter Resultativkonstruktionen wie sich schlank/ k krank hungern und der machen-Konstruktion sich schön machen für einen Muttersprachler wohl leichter herstellbar als die Interpretation von z.B. nach einer schönen Stelle lesen mit Bezug auf die Such-Konstruktion; das Gleiche gilt für die nahe liegende Verbindung von Bewegung, einem Begleitumstand einer Bewegung und dem Ziel einer Bewegung wie in um die Ecke knattern. Dass die Such-Konstruktion mit einer unüblichen Füllung schwer interpretierbar ist, lässt sich nachvollziehen. Aber wie lässt sich erklären, dass gewisse unübliche Füllungen nicht üblich werden, wenn sich leicht Situationen denken lassen, in denen sie ein geeignetes Ausdrucksmittel wären? Es bedarf zweifellos sehr feiner Untersuchungen in der Folge von Boyd/ Goldberg (2009), die dem Phänomen mit dem Prinzip der statistischen Präemption beizukommen versuchen: Muttersprachler vermeiden bestimmte Formulierungen u.a. dann, wenn eine alternative Formulierung im angemessenen Kontext systematisch verwendet wird; die Konstruktion mit der unüblichen Füllung wird in der Folge besonders stark unterdrückt, wenn sie im Situationskontext der alternativen Konstruktion mit aktiviert war (Goldberg 2013). 3.3 Wortsemantik und Lernerwissen: Frames, Szenen, Szenarien und das Füllpotenzial von Konstruktionen In ein L2-Lernformat von Konstruktionen müssen die Ereignisbzw. Situationsbezüge einfließen, die die Selektion von Konstruktionen und lexikalischen Füllungen in der Produktion steuern und die das Erschließen der Gesamtbedeutung einer lexikalisch gefüllten Konstruktion im Kontext ermöglichen. Anwendungsbezogene Projekte wie die elektronischen Online-Wörterbücher „Berkeley FrameNet“ und „German FrameNet“ nutzen die Instrumente der Frame-Semantik (vgl. Fillmore 1982), für die der Begriff des verstehensrelevanten Wissens zentral ist. Das Problem einer strikten Unterscheidung zwischen sprachlichem und Welt-/ Erfahrungswissen wird dabei durch eine holistische Auffassung von Bedeutungsstrukturen umgangen. Boas (2013) sieht die Vorteile der Framesemantik darin, dass sie prototypische Bedeutungen Konstruktionen im L2 - Lernformat 139 und „unsichtbares“ Wissen in Wörterbücher einbringt, was, wie in Abschnitt 3.1 ausgeführt, für die „ereignisbasierten framesemantischen Repräsentationen prototypischer Bedeutungen“ der untersten Ebene in Konstruktionsnetzwerken genutzt wird (vgl. Boas 2003, 2011). Frames werden als konzeptuelle Strukturen aufgefasst, durch die Wissenselemente organisiert werden, die aus Perzeptionsdaten durch die menschliche Kognition entstehen. Fillmore selbst beschreibt vor allem verbale Lexeme; die Frame-Elemente umfassen z.B. Informationen zu Verbkomplementen/ Ergänzungen und Adjunkten/ Angaben, zu thematischen Rollen, zu Charakteristika der von den Verben bezeichneten Handlungen, Prozesse und Zustände und zu Verwendungsweisen des Verbs in seinen Kontexten. Korpusdaten werden dabei zur Illustration in einer Weise aufbereitet, die es erlaubt, durch Kontextinformation auf die Frames zu schließen, die den Bedeutungen zugrunde liegen und die das Verstehen steuern. So zeigen z.B. Fillmore/ Atkins (2000) am Beispiel des englischen Verbs crawl auf, welche Instrumente Lernern geboten werden können, um Verwendungsweisen und Bedeutungserweiterungen im Kontext deutlich zu machen, die nur zum Teil den Pendants in anderen Sprachen wie z.B. ramper im Französischen entsprechen. Die Untersuchung zu crawl und ramper zeigt, dass in ihren übertragenen Verwendungsweisen crawl dazu tendiert, die Bedeutungskomponente der sich bewegenden oder etwas transportierenden Gliedmaßen einzubringen (a branch of ivy may be said to crawl up a wall), während ramper den Aspekt fokussiert, dass etwas sich ausbreitet und eine Oberfläche bedeckt (des flaques de boue rampaient sous les tables). In Frames lassen sich auf der Basis von Verwendungsdaten auch die Komponenten sichtbar machen, die verantwortlich sind für die unterschiedliche Anziehungskraft zwischen gewissen Konstruktionen und bedeutungsnahen Verben ein und derselben Sprache, so zum Beispiel die Feinunterscheidungen in der Ereignisstruktur, auf die Folli/ Ramchand (2005) die Kombinationsmöglichkeiten von Manner-of-Motion-Verben mit telischen Direktionalen im Italienischen zurückführen: (1) Gianni è corso in spiaggia. [‘Hans ist zum Strand gelaufen.’] (2) *Gianni è camminato in spiaggia. [‘Hans ist zum Strand spaziert.’] Brigitte Handwerker 140 Exemplarisch aufgezeigt wurde die Eignung der Frame-Darstellung bereits für die unterschiedlichen Besetzungen von Konstruktionsslots bei Sprachen mit kontextabhängigen Übersetzungspendants (vgl. die Polysemie-Diskussion zu engl. drive, dt. treiben/ fahren / / ... in Boas 2003, S. 295ff.): (3) He drove the car into the ditch. / Er fuhr das Auto in den Graben. (4) He drove the ball into the goal. / Er trat den Ball in das Tor. Dem Konzept des Frames wird bei Fillmore (1977) und anderen Frame- Semantikern das Konzept von Szenen und Szenarien an die Seite gestellt. Szenen entsprechen mehr oder weniger detaillierten Konstellationen von Elementen in einer Situation, während sich ein Frame auf die sprachliche Kodierung bezieht. Der Aufbau einer Szene hängt von Erfahrungen und von Vorwissen ab; eine Szene im hier gemeinten Sinn entspricht der Vorstellung eines sich wiederholenden, vertrauten Realitätsausschnitts (für eine eingehende Diskussion vgl. Busse 2012, S. 55ff.), der Vorstellung eines „Standard-Szenarios“ in der realen Welt, die von einem Verb evoziert wird. Ein beliebtes Beispiel ist das der Szene, die dem Szenario eines kommerziellen Ereignisses entspricht, mit den beteiligten Elementen Käufer, r Verkäufer, r Ware, Geld und den sprachlichen Realisierungen durch die Frames von kaufen, verkaufen, kosten, bezahlen etc. Prototypische Szenen sind kulturabhängig und die Dichte ihrer Versprachlichung sowie die unterschiedliche Verpackung der Informationen bringen die im nächsten Abschnitt besprochenen Probleme bei der fremdsprachlichen Verarbeitung ein. In Frames, wie sie die elektronischen Wörterbücher bieten, stecken Valenzangaben im traditionellen Sinn, wobei jeder Lesart eines Verbs ein eigener Eintrag mit eigener Valenzangabe zukommt und die Lesarten verschiedenen Frames zugeordnet sind. Abbildung 2 in Abschnitt 4 illustriert die Relevanz der Verbvalenz für die Verarbeitung von Konstruktionen; zuvor werfen wir einen Blick auf die zwischensprachlichen Gegebenheiten und ihre Konsequenzen für die Verarbeitung im Bereich der Orts- und Zustandsveränderungen. Konstruktionen im L2 - Lernformat 141 4. Dichte Verpackungen im Deutschen und das Problem der L2 - Konzeptualisierung Die Option einer Instruktion zur Inputverarbeitung durch Konstruktionen im L2-Lernformat wird im Folgenden durch Beispiele aus dem Bereich der Orts- und Zustandsveränderungen illustriert (für sprachvergleichende Ausführungen vgl. Handwerker 2006): (5) Das Model schwebt über den Laufsteg. (6) Der Schiedsrichter pfeift Paul vom Platz. (7) Ich koch dich tot (Romantitel, vgl. Abb. 2). Beispiel (5) steht für Bewegungsereignisse, für deren Versprachlichung im Deutschen eine Konstruktion zur Verfügung steht, bei der die Art und Weise der Bewegung im Verb (Manner-of-Motion-Verb) und die Information zu Pfad/ Ziel/ Ausgangspunkt in einer Präpositionalphrase kodiert sind. Ausgelöst durch die typologische Einteilung in verbframed und satellite-framed languages in Talmy (1985, 1991) wurden seither zahlreiche Untersuchungen angestellt, die die lexikalischen Verbinventare und die Gebrauchspräferenzen einzelner Sprachen miteinander verglichen und so die Grundlage für empirische Studien zu L2-Erwerb und Bilingualismus und für die Erklärung beobachteter Konzeptualisierungsprobleme lieferten (vgl. z.B. Slobin 1996, 1997, 2000; Berthele 2006). Konkrete Hilfen für den Lerner, die den vagen Rat, in der fremden Sprache denken zu lernen, umsetzbar machen sollen, werden vor allem in „bodily experiences“ in der Form von Aktivitäten und visuellen Repräsentationen in Verbindung mit Formfokussierung im Unterricht gesucht (Cadierno 2008, S. 284; de Knop/ Dirven 2008, S. 319). Beispiel (6) steht für Caused-Motion-Konstruktionen, die vom Lerner die Loslösung von Valenzerwartungen verlangen und in dichter Verpackung zwei unabhängig voneinander konzipierbare Ereignisse (Schiedsrichter pfeift/ Paul geht vom Platz) evozieren: Die Ortsveränderung des zweiten Partizipanten wird als Resultat einer Aktivität des Subjektsreferenten beschrieben. Der Titel des Romans von Ellen Berg (2013) in Beispiel (7) vertritt hier einen Konstruktionstyp, der sich in den Medien unglaublicher Beliebtheit erfreut, und erfahrungsgemäß Deutschlernern mit romanischer Brigitte Handwerker 142 L1 erhebliche Interpretationsschwierigkeiten bereitet, da kurz und knapp zwei Ereignisse zusammengepresst werden, die nicht unbedingt in einem sehr direkten Zusammenhang stehen. Beispiele einer Konstruktion mit Resultatsadjektiv finden sich zuhauf in der reflexiven Verwendung im Imperativ. Hier angeführt seien nur einige Fundstücke mit dem Adjektiv glücklich (vgl. dazu auch Möller 2012): (8) Deal/ frag/ kauf/ lach/ lauf/ lutsch/ näh/ pflanz/ putz/ schluck/ schmück/ shop/ spar/ wisch/ wohne ... ... dich glücklich! Das Muster ist so stark, dass inzwischen sogar Partikelverben mit Resultatsadjektiven auftreten, wie in (9) Einkauf dich glücklich! 2 Abbildung 2 stellt die Verarbeitungsprobleme bei den drei dichten Konstruktionen zusammen und Abbildung 3 liefert Einzelbeispiele für mögliche Chunk-Angebote, versehen mit Angaben zur inneren Struktur, deren Darstellung sich problemlos adressatengerecht anpassen lässt. Die vertikale Anordnung in Abbildung 3 ist wiederkehrenden Erfahrungen in der L2-Vermittlung geschuldet. Beispiele wie (10) Der Gärtner streicht den Zaun grün. beinhalten ein kanonisches Resultat und werden auch von Lernern mit romanischer L1 problemlos verstanden, wenn auch nicht widerstandslos produziert. Die Beispiele (5), (6), (7) und (11) präsentieren aber keine „übliche Besetzung“ und Beispiel (11) bringt zusätzlich das Problem fehlender Direktheit in der Verursachungsrelation ein: (11) Er trinkt seine Familie in den Ruin. 2 Für eifriges Belegsammeln danke ich Ingo Fehrmann und Irina Zhuchkova. Konstruktionen im L2 - Lernformat 143 Dichte Konstruktion Verarbeitungsproblem Das Model schwebt über den Laufsteg Manner-of-Motion-Konstruktion mit Verb der Bewegung und Weg/ Pfad Der Schiedsrichter pfeift Paul vom Platz Caused-Motion-Konstruktion mit intransitivem Verb, Akkusativ-NP und Source-PP Ich koch dich tot* Resultativ-Konstruktion mit transitivem Verb, aber nicht vom Verb selegierter Akkusativ-NP und einem Resultatsadjektiv, das nicht einem kanonischen Resultat entspricht. * Ellen Berg: Ich koch dich tot. (K)ein Liebesroman. Berlin: Aufbau-Verlag, 2013. Abb. 2: Dichte Konstruktionen im Deutschen Konkretes Exemplar Struktur Der Gärtner streicht den Zaun grün NP V NP Adjektiv Ich koch dich tot NP V NP Adjektiv Das Model schwebt über den Laufsteg NP V Präpositionalphrase Der Schiedsrichter pfeift Paul vom Platz NP V NP Präpositionalphrase Er trinkt seine Familie in den Ruin NP V NP Präpositionalphrase Abb. 3: Chunk-Angebote zur Abstraktion Für die Verbindung einer abstrakten Konstruktionsform mit einer Konstruktionsbedeutung (vgl. die Ebene 3 im Konstruktionsnetzwerk von Boas 2011, S. 58) werden den strukturellen Einheiten in den Abbildungen 4 und 5 Angaben zu semantischen Rollen und zu Verbklasseneigenschaften beigegeben. Ich koch dich tot NP 1 V NP 2 Adjektiv     Handelnder Handlungsverb von der Handlung Betroffenes Resultat kochen  ereignisbezogene Repräsentation der prototypischen Bedeutung Abb. 4: Resultativkonstruktion im L2 - Lernformat Brigitte Handwerker 144 Das Model schwebt über den Laufsteg NP V Präpositionalphrase    sich bewegende Entität Bewegungsverb der Art und Weise Pfad/ Weg-Angabe schweben  ereignisbezogene Repräsentation der prototypischen Bedeutung Abb. 5: Manner-of-Motion-Konstruktion im L2 - Lernformat Die unterste Ebene ist ein Platzhalter für eine Präsentation der prototypischen Bedeutung eines Kandidaten für den Verbslot. Hier erfolgt im Sinne einer parallelen Entwicklung von Konstruktions- und Wortbedeutungs-/ Valenzwissen der Einbezug von Informationen aus dem Lexikon, der z.B. in der Goldberg'schen Terminologie ein Abgleichen der Partizipantenrollen des Verbs und der Argumentrollen der Konstruktion erlaubt (Goldberg 1995, S. 43ff.). Einen konkreten Vorschlag für eine lerngerechte Erfassung von wortbezogenem Wissen stellt die „Lernbasis Lexikon“ (Handwerker 2008b) dar, in der Informationen zu Verbvalenz und affinen Konstruktionen an einem Verb angedockt werden. Abbildung 6 präsentiert den „Zoom“ des Muttersprachlers, der Komponenten aus Ereigniskonstellationen für die Verpackung in einer dichten Konstruktion „heranholt“. Für das Verstehen müssen einige der nicht-ausgewählten Komponenten aktiviert und die zwei Ereignisse zusammengeführt werden, was für Lernende gewisser Erstsprachen schwer nachvollziehbar ist. Damit wird übergeleitet zum nächsten Abschnitt, in dem exemplarisch Szenarien für eine Resultativkonstruktion zusammengeführt werden. Wir kehren zurück zum Romantitel „Ich koch dich tot“, der dafür steht, dass eine Ehefrau zunächst ihren Mann versehentlich dadurch ins Jenseits befördert, dass sie einen Pfefferstreuer als Behälter für Rattengift nutzt. Später entdeckt sie die Vorzüge des geplanten Kochens zum Zweck der Zustandsveränderung des jeweils Bekochten. Konstruktionen im L2 - Lernformat 145 Ehefrau kocht Ehemann tot Verursachendes Ereignis Zustandsveränderung 1. Ereignis: Ehefrau kocht 2. Ereignis: Ehemann geht in den Zustand „tot“ über Die Konstruktion Abb. 6: Der Zoom des Muttersprachlers 5. Exemplarisch: „Ich koch dich tot“ Abschnitt 5 skizziert exemplarisch die Zusammenführung von Szenarien für das Verstehen einer dichten Konstruktion. In Abbildung 7 werden zwei Ereignisse in einer Verursachungsrelation zusammengeführt und durch die Konstruktionsfüllungen kochen und tot zwei Szenarien aktiviert. Gewisse Elemente der Szenarien, zu denen die entsprechenden Frames ihre sprachlichen Realisierungen beisteuern, spielen in beiden Ereignissen eine bedeutungsrelevante Rolle: Der Träger der Rolle Rezipient/ Benefaktiv im kochen -Szenario wird identifiziert mit dem Opfer des Szenarios eines verursachten Todes, die Zutaten im kochen -Szenario werden identifiziert mit dem Instrument des Tötens. Der erste Partizipant des Verbs kochen in der ereignisbezogenen prototypischen Bedeutung (etwa: Eintrag für kochen 8 in VALBU (Schumacher et al. 2004, S. 489) „irgendwie Mahlzeiten herstellen“) trägt die Rolle des Handelnden und der Partizipant einer Zustandszuschreibung tot die Rolle des Themas oder hier speziell des Opfers, was kompatibel mit den Argumentstrukturrollen der Konstruktion ist und eine unmittelbare Interpretation erlaubt. Brigitte Handwerker 146 Verursachung 1. Ereignis 2. Ereignis Ein erstes Ereignis verursacht ein zweites Ereignis Erstes Ereignis: Ehefrau kocht  Zweites Ereignis: Ehemann geht in den Zustand „tot“ über Elemente des „ KOCHEN “-Szenarios: Elemente des „ VERURSACHTER TOD “-Szenarios: Handelnder = Koch Produkt Zutaten Behälter Instrument Rezipient/ Benefaktiv ... Handelnder = Tötender Opfer oder Protagonist Instrument Grund Zweck ... + Zweck   + Ursache: Ereignis Abb. 7: Szenarien für den Lerner Der folgende Abschnitt geht anhand von Ergebnissen einer Fragebogenstudie der Frage nach, ob sich anhand von Akzeptabilitätsurteilen von Muttersprachlern Voraussagen für die (Un-)Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Konstruktion/ Lexem-Konstellationen machen lassen, aus denen sich auch eine Art Leitfaden für die lernersprachliche Produktion bei Orts- und Zustandswechseln ergäbe. 6. Beschränkungen in Interpretierbarkeit und Verwendung: Richtlinie muttersprachliche Akzeptanz? Ein etabliertes Verfahren, um die Konventionalitätsgrade bei Konstruktionen zu erfassen, ist die Unterscheidung zwischen lexikalisch gefüllten Konstruktionen mit z.B. einem Verb wie blasen in (12), das häufig in dreistelligen Direktivkonstruktionen vorkommt, und solchen mit einem Verb wie husten in (13), das als eine zum konventionalisierten Resultativ in (12) analoge, nicht-konventionalisierte Konstruktion erklärt wird (vgl. Boas 2011, S. 53f.): (12) Joe blies die Serviette vom Tisch. (13) Joe hustete die Serviette vom Tisch.     Konstruktionen im L2 - Lernformat 147 Die normale Situation im Sprachkontakt ist aber, dass Urteile von Muttersprachlern gefordert sind, wenn L2-Lerner sich im Ausdruck der native-like selection anpassen wollen oder wenn sie eruieren wollen, was für L1-Rezipienten auf welche Weise interpretierbar ist. Was eignet sich im Lernkontext als negative Evidenz z.B. bei Resultativkonstruktionen? Erwähnt wurden bereits die Verben, die inhärent einen Resultatszustand ausdrücken wie in *jmdn. tot ermorden * . Eine zweite Kandidatengruppe bilden die Verben, bei denen das Objekt nur schwach affiziert ist wie bei betrachten im Beispiel (14) aus Richter/ van Hout (2013), das dort mit einem Asterisk für Ungrammatikalität versehen ist: (14) Die Kinder betrachten die Oma rot. Gerade im Sprachlernkontext ist es wichtig, unter formalen Aspekten ungrammatische Ausdrücke zu unterscheiden von solchen, die zwar die Bedingungen der Formseite einer Konstruktion erfüllen, aber aus semantischen oder pragmatischen Gründen nicht wohlgeformt erscheinen. Ein Versuch, die Unterscheidung greifbar zu machen, besteht in der Suche nach einem Kontext, in dem der betreffende Ausdruck auftreten könnte. Unter der Annahme, dass das atelische, sein Objekt nur schwach affizierende betrachten in (14) durch ein Resultatsadjektiv rot in eine Gesamtbedeutung einer telischen Resultativkonstruktion eingerechnet werden kann, fällt (14) in die Gruppe der latenten Konstruktionen, die zwar von der Grammatik bereitgestellt werden, aber von den Sprechern einer Sprache normalerweise nicht genutzt werden (vgl. dazu Adli 2011). Beispiel (14) ist sicherlich ein Extremfall, aber die Festlegung klarer Beschränkungen in Sachen Grammatikalität ist bekanntlich ein heikles Unterfangen. Eingehend erörtert werden z.B. konzeptuelle Restriktionen bei Bewegungskonstruktionen mit Geräuschemissionsverb, die Faktoren wie Telizität und Verursachungsrelation zwischen Bewegung und Geräusch betreffen (um die Ecke knattern vs. ? ? ? um die Ecke hupen) in Goschler (2011). Um die Nutzbarkeit muttersprachlicher Urteile für den Bereich des Sprachenlernens und -lehrens einschätzen zu können, wurde im Sommersemester 2012 an der Humboldt-Universität eine Vorstudie mit 59 Bachelor-Studierenden (Fach Germanistische Linguistik, aber ohne einschlägige Vorkenntnisse zu Resultativkonstruktionen, L1 Deutsch) durchgeführt. Der Fragebogen enthielt 55 Sätze zur Bewertung; die Aufgabe bestand darin, sich eine Situation vorzustellen, in der der be- Brigitte Handwerker 148 treffende Satz interpretierbar wäre und dann eine von vier Optionen anzukreuzen: 1 Klingt gut im Deutschen / 2 Kommt mir nicht ganz so gut vor / 3 Ist grammatisch, klingt aber nicht nach deutschem Gebrauch / 4 Ist nicht möglich im Deutschen. Vertreten waren die Typen: Konstruktionen mit Resultativadjektiv, Konstruktionen mit Resultativ-PP, Konstruktionen mit Manner-of-Motion-Verb und PP, Konstruktionen mit Geräuschemissionsverb und PP sowie Distraktoren verschiedener Art. Unter den Probanden waren weder „notorische Nörgler“ noch „professionell Liberale“ zu verzeichnen; die Überprüfung erfolgte in dieser ersten Erhebung „per Hand“. Es soll hier nur die Bewertung mit 4 („Ist nicht möglich im Deutschen “) präsentiert werden; für die Feinauswertung vgl. Handwerker (2015, S. 35ff.). Dort werden die Urteile im Hinblick auf die Effekte bestimmter Faktoren gesichtet und Satzgruppen mit den folgenden Gruppierungskriterien verglichen: (i) Unterscheidung resultativ mit Adjektiv/ mit PP (ii) Faktor reflexiv (iii) Faktor „Resultatsphrase weglassbar“ (iv) Verb machen (v) kanonisches Resultat bei direkter Beziehung der Teilereignisse (vi) kanonisches Resultat bei nicht direkter Beziehung der Teilereignisse (vii) nicht erwartbares Resultat Die Option 4 „Ist nicht möglich im Deutschen“, die für unsere Zwecke einen ersten Leitfaden ableitbar machen würde, wurde für keinen der Sätze von allen Probanden angekreuzt. Für die folgenden Sätze geben die Zahlen in Klammern jeweils an, wieviele Probanden unter den 59 teilnehmenden die Option 4 wählten: Satz 1: Der Wecker klingelt den Mann wach (0 von 59), aber: Satz 17: Die Arbeiter arbeiten ihren Chef reich (16 von 59). Satz 18: Die Arbeiter trinken sich glücklich (0 von 59), aber: Satz 15: Das Model träumt sich reich (6 von 59). Konstruktionen im L2 - Lernformat 149 Satz 19: Das Kind schreit seine Mutter wach (0 von 59), aber: Satz 20: Das Kind schreit seine Mutter ins Kinderzimmer (19 von 59). Satz 40: Der Schiedsrichter pfeift Paul vom Platz (2 von 59), aber: Satz 41: Damit pfeift der Schiedsrichter das Stadion leer (20 von 59). Die Auswahl soll genügen; sie zeigt bereits, dass ein einhelliges Urteil gefällt wird, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind wie in Satz 1: Es handelt sich um ein konventionalisiertes Szenario mit einem direkten Zusammenhang zwischen den beiden Teilereignissen: Je ein Element der Teilereignisse ist in der Konstruktion realisiert, die Rollen der Partizipanten sind mit der semantischen Rolle der Konstruktionsargumente verträglich und das Resultat ist erwartbar (zu weiteren Faktoren vgl. Felfe 2012). Dass es sich hierbei aber nicht um harte Prinzipien handelt, zeigen die Beispiele in Abschnitt 4 und die weiteren Akzeptabilitätsurteile in der Studie. Festzuhalten bleibt, dass alles, was für den nativen Sprecher interpretierbar ist, auch dem fortgeschrittenen Lerner verfügbar gemacht werden sollte, denn einzelne strikte Urteile der Nicht-Akzeptabilität haben keinen Einfluss auf das, was den Lerner im fremdsprachlichen Input erwartet. Die Hoffnung, einen Produktionsleitfaden auf einfache Weise ableiten zu können, zerschlägt sich aber angesichts der Faktorenvielfalt, die die Lizenzierung lexikalischer Füllungen steuert. 7. Fazit und Ausblick im L2 - Lernformat: Plädoyer für den doppelt bespielten Lerner Den Lerner doppelt zu bespielen soll hier heißen, dass im Rahmen des C&K-Ansatzes Chunk-Angebote und abstrakte Konstruktionen mitsamt der Konstruktionsbedeutung für die Optimierung der Rezeptionsbedingungen verfügbar gemacht werden und dass anhand von lexikalischen Bedeutungen, Valenzen, Frames und Szenarien die Berechnung der Gesamtbedeutung von komplexen Ausdrücken im Kontext nachvollziehbar gemacht wird. Damit wird ein Weg gewiesen, L1-bedingte Konzeptualisierungsschwierigkeiten zu mindern und den Status von muttersprachlichen Urteilen sowie von Präferenzen und Vorkommensrestriktionen, die aus Korpora zu entnehmen sind, für den Bereich des fremdsprachlichen Lernens und Lehrens zu explizieren. Die Anwendung der Konstruktionsgrammatik auf den Bereich der Brigitte Handwerker 150 L2-Steuerung wird inzwischen aus verschiedenen Perspektiven gefordert (vgl. Holme 2010; Rostila 2012). Empirische Untersuchungen zu den Effekten von Konstruktionen im L2-Lernformat im Vergleich zur traditionellen Vermittlung werden folgen, doch die Adaption konstruktionsgrammatischer Instrumente an ein L2-Lernformat muss der erste Schritt sein. Literatur Adli, Aria (2011): On the relation between acceptability and frequency. In: Rinke, Esther/ Kupisch, Tanja (Hg.): The development of grammar: language acquisition and diachronic change. Amsterdam/ New York, S. 383-404. Berg, Ellen (2013): Ich koch dich tot. (K)ein Liebesroman. Berlin. Berkeley FrameNet. https: / / framenet.icsi.berkeley.edu/ fndrupal/ (Stand: April 2014). Berthele, Raphael (2006): Ort und Weg. Die sprachliche Raumreferenz in Varietäten des Deutschen, Rätoromanischen und Französischen. Berlin. Boas, Hans C. 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In: Meibauer, Jörg/ Rothweiler, Monika (Hg.): Das Lexikon im Spracherwerb. Tübingen/ Basel, S. 278-295. II. KONSTRUKTIONEN KRISTEL PROOST VERBBEDEUTUNG, KONSTRUKTIONSBEDEUTUNG ODER BEIDES? ZUR BEDEUTUNG DEUTSCHER DITRANSITIVSTRUKTUREN UND IHRER PRÄPOSITIONALEN VARIANTEN 1 1. Deutsche Ditransitivstrukturen und ihre präpositionalen Varianten Thema dieses Beitrags ist der echte oder vermeintliche Unterschied zwischen der Bedeutung deutscher Ditransitivstrukturen und der ihrer präpositionalen Varianten. Als Ditransitivstrukturen - kurz: NP- NP-Strukturen - werden im Folgenden all diejenigen Strukturen betrachtet, die im Deutschen die Form NP nom V NP dat NP akk haben und entweder die Bedeutung ‘tatsächlicher momentaner Besitzwechsel’ oder die Bedeutung ‘intendierter zukünftiger Besitzwechsel’ haben. Erstere kann als ‘x bewirkt, dass y z in der durch v ausgedrückten Weise bekommt’ paraphrasiert werden, letztere als ‘x versucht, durch Ausführen der Handlung v zu bewirken, dass y z zu einem späteren Zeitpunkt bekommt’. In beiden Paraphrasen steht x für das Argument der Entität, die den Besitzwechsel bewirkt, y für das Argument des (zukünftigen) Rezipienten und z für das Argument der Entität, die durch die vom Verb bezeichnete Handlung (zu einem späteren Zeitpunkt) in den Besitz von y gelangt. Beide Bedeutungen werden im Folgenden unter ‘caused possession’ subsumiert. Diese Bedeutung haben beispielsweise die Ditransitivstrukturen in den folgenden Beispielen aus DeReKo (Release 2014-I): (1) [Er] X [gab] V [den Millionen Armen] Y [eine erschwingliche Gesundheitsversorgung und Kleinkredite] Z , [...] (dpa, 26.11.2008) (2) [Die Firma Mercedes] X [stiftete] V [dem Verein] Y [einen Wagen] Z , [...] (Rhein-Zeitung, 6.1.2001) 1 Für wertvolle Kommentare zu diesem Beitrag und/ oder anregende Diskussionen zum Thema danke ich dem Mitherausgeber und den Mitherausgeberinnen dieses Bandes sowie Maike Huth und Sascha Wolfer. Kristel Proost 158 Ditransitivstrukturen mit ‘caused possession’-Bedeutung treten auf mit geben-Verben, d.h. mit Verben, die die Bedeutung ‘geben’ haben oder diese Bedeutung implizieren wie etwa geben, aushändigen, bescheren, reichen, schenken, überreichen, verteilen usw., mit Transportverben (schicken, senden, ...), Verben des Vererbens (vererben, vermachen, ...) und medialen Kommunikationsverben (schreiben, faxen, simsen, ...). Als metaphorische Erweiterungen der ‘caused possession’-Bedeutung werden beispielsweise von Goldberg (1992, S. 63-66; 1995, S. 148-151) die Bedeutungen von NP-NP-Strukturen mit Informationsverben (z.B. jemandem etwas sagen/ mitteilen/ übermitteln/ verraten usw.) betrachtet, da sprachliche Äußerungen gemäß der Conduit-Metapher (vgl. Reddy 1979) als Entitäten gesehen werden, die von einem Sprecher an einen Hörer übermittelt werden, der die sprachliche Äußerung „empfängt“. 2 Ditransitivstrukturen mit Kommissiva (versprechen, versichern, zusichern, ...), Verben des Erlaubens und Verbietens (erlauben, gestatten; verbieten, verweigern, ...), Produktionsverben (backen, stricken, malen, ...), Verben des Beschaffens (beschaffen, besorgen, kaufen, ...) und Verben des Bereitstellens (bereitstellen, reservieren, ...) haben eine der ‘caused possession’-Bedeutung nahe verwandte Bedeutung und werden hier nicht weiter berücksichtigt. Ditransitivstrukturen mit der Bedeutung ‘caused possession’ haben häufig formale Varianten, bei denen das Argument des (zukünftigen) Rezipienten als Präpositionalphrase (PP) mit an, auf, ff in, nach oder zu realisiert wird (jemand übergibt/ stiftet/ spendet etwas (( an jemanden; jemand schickt/ sendet/ mailt etwas an jemanden/ zu jemandem; jemand vererbt etwas auf jemanden f ; jemand schickt etwas nach Paris/ in die Schweiz). Die entsprechenden NP-PP-Strukturen haben dann die Form NP nom V NP akk PP an/ auf/ ff in/ nach/ zu . Informationsverben und das Verb geben werden im Deutschen nur selten mit dem NP-PP-Muster verwendet. In einer Zufallsauswahl von 100 Belegen aus DeReKo (Archiv aller Korpora geschriebener Sprache), in denen das Verb geben entweder mit dem NP-NP-Muster oder mit dem NP-PP-Muster vorkam, wurde nur ein Beleg gefunden, in dem das Argument des Rezipienten durch eine PP, und zwar durch eine mit an eingeleitete PP, realisiert war (vgl. Proost 2 Wenn Ditransitivstrukturen mit medialen Kommunikationsverben vorkommen, ist die Entität, die in den Besitz von y gelangt, eine physische Entität mit sprachlichen Äußerungen als Inhalt (z.B. jemandem einen Brief/ eine Nachricht schreiben/ faxen/ simsen). Insofern liegt bei diesen NP-NP-Strukturen keine metaphorische Erweiterung der Bedeutung ‘intendierter zukünftiger Besitzwechsel’ vor. Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung oder beides? 159 2014, S. 43). Zur Fähigkeit einzelner Verben/ Verbklassen zur Dativalternation im Deutschen vgl. Wegener (1985, S. 216-233) und Zifonun et al. (1997, S. 1320-1323), im Vergleich Deutsch/ Rumänisch vgl. Proost (2014) und bei internetmedialen Kommunikationsverben im Deutschen und Spanischen vgl. González Ribao (in diesem Band). Wie in diesem Abschnitt bereits angedeutet, wird im Folgenden für NP-NP-Strukturen nur die Bedeutung ‘caused possession’ angenommen. Für NP-PP-Strukturen wird sowohl eine ‘caused possession’-Bedeutung als auch eine Bedeutung ‘caused motion’ postuliert. Diese kann als ‘x bewirkt, dass z zu y hin bewegt wird’ paraphrasiert werden und unterscheidet sich somit in erster Linie dadurch von der ‘caused possession’-Bedeutung, dass y die Rolle ziel hat, was auch das Vorhandensein eines pfad -Arguments impliziert. Inwiefern die ‘caused possession’-Bedeutung ebenfalls einen Pfad impliziert, nämlich einen Pfad von einem „Geber“ zu einem Rezipienten, wird in Abschnitt 3.2 diskutiert. Durch die Annahme einer ‘caused possession’-Bedeutung zusätzlich zu einer ‘caused motion’-Bedeutung für das NP-PP-Muster unterscheidet sich die hier vertretene Position zur Bedeutung von Ditransitivstrukturen und ihren präpositionalen Varianten wesentlich von den Auffassungen zur Bedeutung dieser Muster, die in der Literatur zur Dativalternation fast durchgängig vertreten worden sind. Diese werden zunächst im Überblick dargestellt. 2. Theoretische Ansätze zur Bedeutung von Ditransitiv - strukturen und ihren präpositionalen Varianten Insgesamt können die unterschiedlichen theoretischen Ansätze zur Bedeutung des NP-NPbzw. des NP-PP-Musters in zwei große Gruppen eingeteilt werden, die von Rappaport Hovav/ Levin (2008, S. 130) als single meaning bzw. g multiple meaning approaches bezeichnet worden sind. 2.1 Single - meaning - - Ansätze Im Rahmen von Single-meaning-Ansätzen wird angenommen, dass das NP-NP- und das NP-PP-Muster die gleiche Bedeutung haben. Das ergibt sich daraus, dass z.B. nach Baker (1988, S. 46) die Uniformity of Theta Assignment Hypothesis ( UTAH ) verlangt, dass den an einer Alternation beteiligten thematischen Paraphrasen die gleiche syntaktische Kristel Proost 160 Struktur zugrunde liegt. 3 Als Auslöser für die Alternation wird die Inkorporation einer Präposition gesehen, deren Komplement die Rolle ziel hat (vgl. Baker 1988; Larson 1988). Kritisiert wurde der Preposition-incorporation-Ansatz u.a. deswegen, weil er nicht erklären könne (i) warum preposition incorporation nur bestimmte Verben betrifft (vgl. Rappaport Hovav/ Levin 2008, S. 131) und (ii) warum bei bestimmten lexikalischen Besetzungen der Argumentstellen nur eine Variante möglich ist (vgl. The noise gave Terry a headache vs. *The noise gave a headache to Terry, Beispiel aus Rappaport Hovav/ Levin ebd.). 2.2 Multiple - meaning - - Ansätze Multiple-meaning-Ansätze unterscheiden sich nach Rappaport Hovav/ Levin (2008, S. 130f.) dadurch von Single-meaning-Ansätzen, dass ihre Vertreter insgesamt zwei Bedeutungen, nämlich eine ‘caused possession’- und eine ‘caused motion’-Bedeutung, für das NP-NP- und das NP-PP-Muster annehmen, wobei manchmal einem der Muster jeweils eine dieser Bedeutungen zugeordnet wird, manchmal aber auch für ein einziges Muster die beiden Bedeutungen postuliert werden. Innerhalb der Gruppe der Multiple-meaning-Ansätze unterscheiden Rappaport Hovav/ Levin (2008) weiterhin zwischen Uniform-multiple-meaning- Ansätzen und dem von ihnen selbst vertretenen Ansatz der Verb-Sensitivität. 2.2.1 Uniform - multiple - - meaning - - Ansätze Uniform-multiple-meaning-Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass für jedes der beiden Muster nur eine Bedeutung postuliert wird, nämlich die ‘caused possession’-Bedeutung für das NP-NP-Muster und die Bedeutung ‘caused motion’ für das NP-PP-Muster (vgl. Rappaport Hovav/ Levin 2008, S. 130). Typisch für Uniform-multiple-meaning-Ansätze ist, dass die ‘caused possession’-Bedeutung des NP-NP-Musters mit dem Entailment eines gelungenen Besitzwechsels verknüpft wird. So behauptet Green (1974, S. 157), dass der Satz Mary taught John linguis- 3 Als thematische Paraphrasen betrachtet Baker formal unterschiedliche Strukturen (z.B. Sätze), deren Phrasen die gleiche thematische/ semantische Relation zueinander aufweisen wie z.B. Rover bit Linda und Linda was bitten by Rover. Bakers Formulierung des UTAH -Prinzips lautet: „Identical thematic relationships between items are represented by identical structural relationships between those items at the level of D-structure.“ (Baker 1988, S. 46). Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung oder beides? 161 tics impliziere, dass John tatsächlich Linguistik gelernt habe, während Mary taught linguistics to John keinerlei Schlussfolgerungen in Bezug auf den Erfolg von Marys Anstrengungen erlaube. Ähnlich hat Goldberg (1992, S. 51f.; 1995, S. 33) in Bezug auf das Satzpaar Mary showed her mother the picture / Mary showed the picture to her mother behauptet, dass der erste Satz, nicht aber der zweite implizieren würde, dass Marys Mutter das Foto tatsächlich gesehen habe. Dies sei laut Goldberg der Grund dafür, dass der zweite Satz, nicht aber der erste durch einen Nebensatz wie but her near-sighted mother couldn’t see it vervollständigt werden könne. Uniform-multiple-meaning-Ansätze unterscheiden sich in erster Linie dadurch von dem von Rappaport Hovav/ Levin vorgeschlagenen Ansatz der Verb-Sensitivität, dass sie Aussagen über alle Verben machen, die die Dativalternation erlauben. Dies bedeutet konkret, dass das NP- NP-Muster und das NP-PP-Muster grundsätzlich, d.h. unabhängig von der Bedeutung der Verben, die in ihnen auftreten, die Bedeutung ‘caused possession’ bzw. ‘caused motion’ haben. Nach Rappaport Hovav/ Levin (2008, S. 131) gehören weitaus die meisten theoretischen Ansätze, die zur Bedeutung von ditransitiven Mustern und ihren präpositionalen Pendants formuliert worden sind, zur Gruppe der Uniform-multiple-meaning-Ansätze. Für das Englische ist diese Position u.a. von Pinker (1989) und Krifka (1999, 2004) sowie im Rahmen der Konstruktionsgrammatik von Goldberg (1992, 1995, 1998) und Gries/ Stefanowitsch (2004) und für das Deutsche von Wegener (1985, S. 224) vertreten worden. Einschränkend sollte hier jedoch hinzugefügt werden, dass nach Goldberg (1995, S. 89-95) Sätze, in denen das NP-PP-Muster keine Bewegung in einem physischen Sinn ausdrückt, wie etwa in Bill gave his house to the Moonies (ebd., S. 89), Instanziierungen der ‘transfer caused motion construction’ sind, einer durch metaphorische Erweiterung der ‘caused-motion construction’ entstandene, eigenständige Konstruktion, die nach Goldberg die gleiche Bedeutung wie die Ditransitivkonstruktion hat. Sätze, in denen das NP- PP-Muster eine Bewegung im physischen Sinn ausdrückt, wie etwa in Sally handed a scented letter to him (ebd., S. 92) basieren nach Goldberg auf der ‘literal caused motion construction’. Einschränkungen in Bezug auf Sätze mit dem NP-PP-Muster machen auch Pinker (1989, S. 83) und Krifka (2004, S. 11f.). Ersterer stimmt Oehrle (1977, S. 205ff.) darin zu, dass die Intuition eines semantischen Unterschieds zwischen dem Kristel Proost 162 NP-NP- und dem NP-PP-Muster in manchen Fällen eher schwach ist, und behauptet, dass dies besonders dann der Fall ist, wenn das NP- PP-Muster mit Verben wie give und tell auftritt. Letzterer merkt an, dass NP-NP- und NP-PP-Strukturen mit Verben wie give, sell, lend und promise zwar auf der Ebene der semantischen Form, nicht aber auf der der konzeptuellen Struktur äquivalent sind (vgl. Krifka 2004, S. 11). Tabelle 1 stellt die wesentlichen Aussagen von Uniform-multiplemeaning-Ansätzen im Überblick dar: Uniform-multiple-meaning-Ansätz e gg Verben NP-NP-Muster NP-PP-Muster alle alternationsfähigen Verben caused possession caused motion Gelingen des Besitz wechsels impliziert keine Inferenz des gelungenen Transfers Tab. 1: Bedeutung des NP-NP- und des NP-PP-Musters im Rahmen von Uniform-multiple-meaning-Ansätzen (nach Rappaport Hovav/ Levin 2008, S. 132) 2.2.2 Der Ansatz der Verb - Sensitivität Rappaport Hovav/ Levin unterscheiden zunächst folgende zwei Gruppen von Verben: give-Verben und throw-/ send-Verben. Allen give-Verben ist nach Rappaport Hovav/ Levin (2008, S. 134f.) gemeinsam, dass sie einen Besitzwechsel, aber keinen Ortswechsel lexikalisieren. Als Besitzwechselverben werden somit solche Verben betrachtet, deren Bedeutung einen Besitzwechsel impliziert, und zwar unabhängig davon, ob mit ihnen zusätzlich zu einem Besitzwechsel ein Ortswechsel ausgedrückt werden kann, was beispielsweise auf sell zutrifft. Zur Gruppe der give-Verben zählen nach diesen Autorinnen nicht nur Verben des Gebens im engeren Sinn (give, lend, sell, ...), sondern auch Verben, mit denen auf einen zukünftigen Besitzwechsel Bezug genommen wird, wie bequeath, offer und promise, sowie Kommunikationsverben wie tell, teach und write. Die Behauptung, dass geben-Verben keinen Ortswechsel lexikalisieren, ist allerdings zumindest insofern angreifbar, als Handlungen, auf die mit diesen Verben Bezug genommen wird, immer auch einen Pfad von einem „Geber“ zu einem Rezipienten beinhalten, der bei manchen Verben auch realisiert werden kann (z.B. ‘jemandem etwas über den Tisch reichen/ geben/ ? ? verteilen’; zum Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung oder beides? 163 (Nicht-)Vorhandensein eines pfad -Arguments bei unterschiedlichen Verben vgl. Abschnitt 3.2). Gegen die Einordnung von lend als Besitzwechselverb könnte man einwenden, dass diese insofern fraglich ist, als der geliehene Gegenstand in Situationen, auf die mit lend Bezug genommen wird, gerade nicht den Besitz, sondern den temporären Benutzer und damit vielmehr den Ort als den Besitzer wechselt. Von den give-Verben unterscheiden sich throw- und send-Verben nach Rappaport Hovav/ Levin dadurch, dass sie notwendigerweise einen Ortswechsel ausdrücken, auch wenn sie zusätzlich zu einem Ortswechsel noch einen Besitzwechsel ausdrücken können, was beispielsweise auf Verben wie schicken und senden zutrifft. Zu dieser Gruppe von Verben rechnen Rappaport Hovav/ Levin Verben des Sendens (send, forward, mail, ...), Verben, die eine unmittelbar verursachte ballistische Bewegung ausdrücken (throw, kick, k shoot, ...), die Verben bring und take sowie mediale Kommunikationsverben (e-mail, fax, telephone, ...). Angesichts der Tatsache, dass Kommunikationsverben wie tell, teach und write als Besitzwechselverben eingeordnet werden, erscheint zumindest die Klassifikation von medialen Kommunikationsverben als Ortswechselverben fragwürdig. Wenn man wie Rappaport Hovav/ Levin davon ausgeht, dass ein Gegenstand nicht gemailt werden kann, ohne dass er auch den Ort wechselt, zieht dies die Frage nach sich, warum dies nicht gleichermaßen auf sprachliche Äußerungen zutrifft, die von einem Sprecher zu einem Hörer übermittelt werden, wie es gerade etwa in Situationen der Fall ist, auf die mit Verben wie tell, teach und write Bezug genommen wird. Im Gegensatz zu den Vertretern von Uniform-multiple-meaning-Ansätzen behaupten Rappaport Hovav/ Levin, dass give-Verben immer, d.h. unabhängig davon, ob sie mit dem NP-NP- oder dem NP-PP-Muster vorkommen, die Bedeutung ‘caused possession’ haben. Throw- oder send-Verben könnten hingegen sowohl die Bedeutung ‘caused possession’ als auch die Bedeutung ‘caused motion’ haben. Die Bedeutung ‘caused possession’ hätten diese Verben immer dann, wenn sie (i) mit dem NP-NP-Muster auftreten wie in Smith threw the first baseman the ball und sie (ii) mit dem NP-PP-Muster auftreten und die in der PP eingebettete NP eine belebte Entität bezeichnet wie in Smith threw the ball to the first baseman. Eine ‘caused motion’-Bedeutung hätten throw- und send-Verben nur dann, wenn sie mit dem NP-PP-Muster auftreten und der Referent der in der PP eingebetteten NP eine unbelebte Entität Kristel Proost 164 ist wie in Smith threw the ball to first base. Bezogen auf die Muster laufen die Behauptungen von Rappaport Hovav/ Levin darauf hinaus, dass für das NP-NP-Muster nur die Bedeutung ‘caused possession’ angesetzt wird, während für das NP-PP-Muster sowohl eine ‘caused possession’als auch eine ‘caused motion’-Bedeutung angenommen werden (vgl. Tab. 2). Eine Inferenz, dass der Besitzwechsel erfolgreich war, zeige sich nach Rappaport Hovav/ Levin (2008, S. 145) zum einen bei give-Verben, und zwar unabhängig davon, ob diese mit dem NP-NP- oder dem NP-PP- Muster auftreten. Da die Inferenz des gelungenen Besitzwechsels in Mustern mit give-Verben nicht aufgehoben werden könne, habe sie in diesen Fällen den Status eines Entailments. Zum anderen käme die Inferenz des gelungenen Transfers in NP-NP-Mustern mit throw- oder send-Verben zustande; in diesen Fällen hätte sie aber nur den Status einer schwachen Implikatur. Bei NP-PP-Mustern mit throw- oder send- Verben käme die Inferenz grundsätzlich nicht zustande, was allerdings fragwürdig erscheint, da eine Äußerung wie Mein Onkel hat mir 100 Euro geschickt im Normalfall wohl so interpretiert wird, dass der Referent der Dativ-NP die genannte Summe auch bekommen hat. In Tabelle 2 sind die wesentlichen Aussagen des Ansatzes der Verb-Sensitivität im Überblick zusammengefasst: Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung oder beides? 165 Verben NP-NP-Muster NP-PP-Muster give-Verben caused possession caused possession Gelingen des Besitz wechsels impliziert (‘entailed’) throw-/ send-Verben caused possession intended possession Smith threw the first baseman the ball. Er schickte seinem Kollegen das Paket. Paris schickt St. Petersburg ein Kriegsschiff . ffffcaused possession wenn Ziel = [+belebt] Smith threw the ball to the first baseman. Er schickte das Paket an seinen Kollegen. caused motion wenn Ziel = [−belebt] Smith threw the ball to first base. Paris schickt ein Kriegsschiffnach St. Petersburg. Gelingen des Besitz wechsels implikatiert keine Inferenz des gelungenen TransfersK Tab. 2: Bedeutung des NP-NP- und des NP-PP-Musters im Rahmen des Verb-Sensitivitäts-Ansatzes (nach Rappaport Hovav/ Levin 2008, S. 132; englische Beispiele von R.H./ L.; deutsche Beispiele von der Autorin) Im nächsten Abschnitt werden die Behauptungen, die im Rahmen von Uniform-multiple-meaning-Ansätzen bzw. dem Ansatz der Verb-Sensitivität aufgestellt worden sind, getestet. Überprüft wird, (i) ob das NP- NP-Muster das Gelingen des Besitzwechsels impliziert (Abschnitt 3.1) und, damit verbunden, (ii) ob das NP-NP-Muster immer die Bedeutung ‘caused possession’ und das NP-PP-Muster immer die Bedeutung ‘caused motion’ hat (Abschnitt 3.2). Getestet werden NP-NP- und NP-PP-Muster mit den in Abschnitt 1 erwähnten Verben. Kristel Proost 166 3. Testverfahren zur Überprüfung der Annahmen zur Bedeutung von NP - NP - und NP - PP - Mustern 3.1 Die Inferenz des gelungenen Besitzwechsels/ Transfers Ob ein gegebenes NP-NPbzw. NP-PP-Muster eine Schlussfolgerung auf das Gelingen des Besitzwechsels bzw. des Transfers ermöglicht, kann anhand von Satzergänzungen überprüft werden, mit denen das Gelingen des Besitzwechsels/ Transfers aufgehoben wird: (i) geben-Verben wie übergeben, überreichen, aushändigen, …: (3) a. ? Der Bürgermeister hat dem Künstler eine Urkunde übergeben/ überreicht/ ausgehändigt, aber dieser hat sie nicht bekommen. b. ? Der Bürgermeister hat eine Urkunde an den Künstler überge- ben/ überreicht/ ausgehändigt, aber dieser hat sie nicht be- kommen. Dass beide Sätze in (3) als semantisch abweichend beurteilt werden, liegt daran, dass die geben-Verben in diesen Beispielen das Gelingen des Besitzwechsels implizieren. Das erklärt sich daraus, dass diese Verben eine Art des Besitzwechsels bezeichnen, bei der „Geber“ und Rezipient sich am gleichen Ort, typischerweise sogar in Reichweite voneinander befinden. Ob eine Satzergänzung, mit der der Erhalt einer Entität aufgehoben wird, auch ein geeigneter Test für das Gelingen des Besitzwechsels bei NP-NPbzw. NP-PP-Strukturen mit geben-Verben wie schenken, verschenken, spenden und stiften usw. darstellt, ist allerdings fraglich, da ein physischer Erhalt der „gegebenen“ Entität für den Erfolg der mit diesen Verben bezeichneten Art der Besitzübertragung nicht unbedingt erforderlich ist: (ii) geben-Verben wie leihen, spenden, stiften, ...: (4) a. Die Firma hat dem Verein einen Wagen gestiftet/ gespendet/ verschenkt, aber er hat ihn nicht bekommen. 4 4 Die Verwendung von verschenken mit dem NP-NP-Muster ist ungewöhnlich, aber z.B. in DeReKo belegt, vgl.: „[...], der schwedische Botschafter in Berlin verschenkt seinen Gästen ohne Scham ein Kochbuch mit den 50 Klassikern aus Schweden.“ (Mannheimer Morgen, 14.1.2006); „Auch Glücksschweinchen verschenkt man den Liebsten zur Jahreswende nach wie vor gerne.“ (Rhein-Zeitung, 31.12.2007). Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung oder beides? 167 b. Die Firma hat einen Wagen an den Verein gestiftet/ gespendet/ verschenkt, aber er hat ihn nicht bekommen. Auch wenn beispielsweise der Wagen in (4) unterwegs verloren geht, gilt er immer noch als gestiftet, gespendet, verschenkt und damit als im Besitz des Rezipienten. Nicht impliziert, sondern allenfalls implikatiert ist das Gelingen des Besitzwechsels/ Transfers in NP-NP- und NP-PP-Strukturen mit Transportverben wie in (5), medialen Kommunikationsverben wie in (6) und Verben des Vererbens wie in (7) - warum die Inferenz in den b-Beispielen nach Rappaport Hovav/ Levin (2008) nicht einmal als Implikatur zustande kommt, ist allerdings unklar: (5) a. Die Firma hat dem Verein Lebensmittelpakete geschickt, aber sie sind nicht angekommen. b. Die Firma hat Lebensmittelpakete an den Verein geschickt, aber sie sind nicht angekommen. (6) a. Die Firma hat dem Verein eine Nachricht gemailt/ gefaxt/ ge- schrieben, aber sie ist nicht angekommen. b. Die Firma hat eine Nachricht an den Verein gemailt/ gefaxt/ ge- schrieben, aber sie ist nicht angekommen. (7) a. Der Firmenchef hat sein ganzes Vermögen seinem Neffen ver- macht, aber dieser hat es nicht bekommen. b. Der Firmenchef hat sein ganzes Vermögen an seinen Neffen vermacht, aber dieser hat es nicht bekommen. Insgesamt zeigen die Beispiele in (3)-(7): (i) Wenn das Gelingen des Transfers impliziert ist, ist es sowohl in der NP-NP-Variante als auch in der NP-PP-Variante impliziert wie in (3), und (ii) Wenn das Gelingen des Transfers nicht impliziert ist, ist es in keiner der beiden Varianten impliziert wie in (4)-(7). Diese Beobachtungen suggerieren, dass nicht das jeweilige Muster, sondern die Bedeutung des jeweiligen Verbs bestimmt, ob das Gelingen des Besitzwechsels/ Transfers impliziert ist. Die Beispiele zeigen allerdings auch, dass unter den Begriff der Possession in der lexikalischen Semantik viele unterschiedliche Arten von Besitzrelationen subsumiert werden. Dementsprechend divers sind auch die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Besitzwechsel als Kristel Proost 168 gelungen gelten kann. Für unterschiedliche Arten von Besitzrelationen müssten daher auch unterschiedliche Arten von Entailment-Tests entworfen werden. Dabei wäre auch zu berücksichtigen, was das Gelingen des Transfers aus der Sicht des Gebers/ Senders bzw. aus der Perspektive des Adressaten/ Empfängers beinhalten würde. 3.2 Das (Nicht - )Vorhandensein eines PFAD - Arguments Die Annahme einer ‘caused motion‘-Bedeutung für das NP-PP-Muster in Verbindung mit Verben wie geben wird im Rahmen von Uniformmultiple-meaning-Ansätzen damit begründet, dass die PP in Verbindung mit diesen Verben das Ziel eines Transfers und nicht wie in NP- NP-Mustern den Rezipienten eines Besitzwechsels bezeichnen würde. Rappaport Hovav/ Levin (2008, S. 138) argumentieren aber, dass das Ziel eines Besitzwechsels (ein sog. possessional goal) etwas fundamental Anderes als ein räumliches Ziel sei. Das zeige sich z.B. darin, dass ein räumliches Ziel, nicht aber das Ziel eines Besitzwechsels, mit dem Fragepronomen where erfragt werden kann (vgl. Where did you throw/ *give the ball? ; ebd., S. 137). Im Besitzwechselbeispiel mit throw in Tabelle 2 - Smith threw the first baseman the ball - kann the first baseman beispielsweise nicht mit where erfragt werden, sondern nur mit to whom, d.h. He threw the first baseman the ball kann zwar die Antwort auf die Frage To whom did Smith throw the ball? sein, nicht aber die Antwort auf die Frage Where did Smith throw the ball? Tatsächlich kann auch im Deutschen das Fragepronomen wohin durchgängig mit Transportverben und medialen Kommunikationsverben auftreten. Die Verwendung von wohin mit Besitzwechselverben ist zwar grundsätzlich möglich, aber stärker restringiert als mit Transportverben: (8) a. Wohin hast Du das Paket gesendet/ geschickt? b. Wohin hast Du die Nachricht gemailt/ gefaxt? c. Wohin hast du das Paket ? gegeben/ verschenkt/ ? gestiftet/ ? ge- spendet/ ? ? übergeben/ ? ? überreicht? Nach Rappaport Hovav/ Levin unterscheidet sich auch der Pfad eines Besitzwechsels von dem mit einem Ortswechsel assoziierten Pfad. Es ist verschiedentlich, auch von Vertretern der Uniform-multiple-meaning-Ansätze wie Krifka (2004, S. 11), darauf hingewiesen worden, dass der Pfad eines Besitzwechsels nur einen Anfangs- und Endpunkt, nämlich den Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung oder beides? 169 ursprünglichen Besitzer und den Rezipienten, und - im Gegensatz zu einem rein lokalen Pfad - keine interne Struktur hat. Nach Rappaport Hovav/ Levin ist dies auch der Grund dafür, dass Besitzwechselverben nicht mit Adverbien kombiniert werden können, die den Umfang eines Pfads modifizieren, während dies bei Transportverben ohne weiteres möglich ist (Beispiele aus Rappaport Hovav/ Levin 2008, S. 138): 5 (9) a. Jake threw/ kicked the ball all the way/ halfway to Bill. b. I sent/ shipped the package halfway/ all the way around the world to the Antarctic. c. *Susan gave the ball all the way/ halfway to Bill. Aus der Sicht der funktionalen Grammatik könnte man gegen die Anwendung der Tests in (8)-(9) einwenden, dass sich mit diesen nur denotativ-semantische, d.h. extensionale Rollen erfassen lassen und keine signifikativ-semantischen, d.h. intensionalen. Letztere geben nach Welke (2012, S. 61) wieder, „[...] wie die Sprecher einer Sprache etwas sehen (indem sie aus einer Szene einen Frame herausgreifen)“ (vgl. dazu auch Welke 2005, S. 95-98). Damit erhebt sich aber zugleich auch die Frage, wie sich die Existenz solcher signifikativ-semantischen Rollen empirisch nachweisen ließe. Das unterschiedliche Verhalten von geben-Verben einerseits und Verben wie schicken (sowie Verben wie throw im Englischen) andererseits führen Rappaport Hovav/ Levin (2008, S. 140) darauf zurück, dass erstere im Gegensatz zu letzteren kein pfad -Argument hätten. Den Grund dafür sehen sie darin, dass die Bedeutung von geben-Verben im Gegensatz zu der von Verben wie schicken nicht notwendigerweise einen Transfer impliziert. Ein Transfer sei nur dann in der Bedeutung dieser Verben impliziert, wenn das Possessum eine physische Entität und die über es ausgeübte Kontrolle ebenfalls physischer Natur sei. Beide Bedingungen sind beispielsweise erfüllt in Die Firma gab ihm ein neues Auto und Er gab ihr einen Apfel, nicht aber in Beispielen wie Das Gericht gab der Mutter das Besuchsrecht. Das Fehlen eines pfad -Arguments erklärt nach Rappaport Hovav/ Levin die beobachteten Asymmetrien in der Akzeptabilität der a- und b-Sätze einerseits und des c-Satzes ande- 5 Für die Anwendung des Tests im Deutschen kämen evtl. die Ausdrücke den halben/ ganzen Weg in Frage (vgl. Er verschickte das Paket den halben Weg / den ganzen Weg um die Erde zur Antarktis). Kristel Proost 170 rerseits in (8) und (9). Wie oben erwähnt, spricht aber die Tatsache, dass manche geben-Verben (z.B. reichen) ein pfad -Argument realisieren können, gegen die Behauptung, dass geben-Verben generell kein pfad - Argument hätten. Für das Deutsche ist zunächst anzumerken, dass die Frage, ob ein NP- PP-Muster die Bedeutung ‘caused possession’ oder ‘caused motion’ hat, in Abhängigkeit von der jeweiligen Präposition zu beantworten ist, die die PP einleitet. In dieser Hinsicht unterscheiden sich deutsche NP-PP-Muster von ihren englischen Äquivalenten, da die vielen Lesarten der Präposition to im Deutschen auf unterschiedliche Präpositionen (an, auf, ff in, nach und zu) verteilt sind: (i) Wenn die PP eines NP-PP-Musters durch die Präposition nach, in, an oder zu eingeleitet ist, hat das Muster abhängig von der Bedeutung der Verben, mit denen es auftritt, und abhängig davon, ob der Referent der in der PP eingebetteten NP eine belebte oder unbelebte Entität ist, entweder die Bedeutung ‘caused possession’ oder ‘caused motion’ oder ist diesbezüglich ambig. Welche der beiden Bedeutungen das Muster im Einzelfall erhält, ist in Tabelle 3 (siehe Anhang) im Überblick dargestellt. Wenn der Referent der in der PP eingebetteten NP eine belebte Entität ist (vgl. Er faxt die Nachricht an seinen/ zu seinem Kollegen), kann das NP-PP-Muster mit einem NP-NP-Muster alternieren (vgl. Er faxt seinem Kollegen die Nachricht vs. *Er faxt der Postadresse die Nachricht). Die NP-NP-Alternante erzwingt aber immer eine ‘caused possession’-Interpretation, da der Referent der Dativ-NP nicht nur bei geben-Verben, sondern auch bei Transportverben und medialen Kommunikationsverben als intendierter zukünftiger Possessor interpretiert wird. Dass die ‘caused motion’-Bedeutung nur im NP-PP-Muster, nicht aber im NP-NP-Muster zustande kommt, führen Rappaport Hovav/ Levin (2008, S. 142ff.) darauf zurück, dass die erste Objekt-NP des NP-NP-Musters stärker restringiert sei als das Objekt der Präposition to. Eine to-PP könne viele unterschiedliche Argumenttypen bezeichnen, die sich semantischen Kategorien wie etwa ‘Rezipient’, ‘räumliches Ziel’, ‘Ort’ und ‘Possessor, aber nicht Rezipient’ zuordnen ließen. Die erste Objekt-NP eines NP-NP-Musters könne hingegen nur einen Possessor oder einen zukünftigen Possessor Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung oder beides? 171 bezeichnen. Obwohl diese Erklärung an sich plausibel erscheint, läuft sie letztendlich doch darauf hinaus, dass die Tatsache, dass die erste Objekt-NP bzw. die Dativ-NP eines NP-NP-Musters nur eine belebte Entität bezeichnen kann, auf Eigenschaften des Musters und nicht auf Eigenschaften der Verben zurückgeführt wird, die in diesem Muster auftreten. Insofern passt die Erklärung, die Rappaport Hovav/ Levin (2008) für diese Fälle vorschlagen, eher zu Uniform-multiple-meaning-Ansätzen als zu dem von ihnen selbst vorgeschlagenen Ansatz der Verb-Sensitivität. (ii) Wenn die PP eines NP-PP-Musters durch die Präposition auf einf geleitet wird, hat das Muster nur die Bedeutung ‘caused possession’. Das hat den trivialen Grund, dass nur Verben wie vererben das Argument des Rezipienten in dieser Weise realisieren und diese Verben kein ziel -Argument (im Sinn eines räumlichen Ziels), sondern das Argument rezipient haben (vgl. Der Baron vererbte den Adelstitel auf seinen Neffen). 4. Fazit: Das Zusammenspiel von Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung und lexikalischer Besetzung von Argumentstellen Die Inferenz des gelungenen Transfers: Die Entailment-Tests haben gezeigt, dass der Ansatz der Verb-Sensitivität teilweise die richtigen Voraussagen über das Zustandekommen der Inferenz des gelungenen Besitzwechsels/ Transfers macht. Impliziert - und zwar sowohl in der NP-NPals auch in der NP-PP-Variante - ist die Inferenz nur in Mustern mit geben-Verben, deren Bedeutung beinhaltet, dass „Geber“ und Rezipient sich am gleichen Ort befinden. In Mustern mit anderen geben-Verben ist das Gelingen des Besitzwechsels nur implikatiert. Der Ansatz der Verb-Sensitivität macht somit zu generelle Aussagen über das Zustandekommen der Inferenz des gelungenen Transfers in Mustern mit geben-Verben. Richtig ist aber die Aussage, dass die Inferenz in NP-NP-Mustern mit Transportverben, medialen Kommunikationsverben und Verben des Vererbens implikatiert ist, wobei wiederum nicht klar ist, warum sie in NP-PP-Mustern mit diesen Verben gar nicht zustande kommen soll. Uniform-multiple-meaning-Ansätze machen in Bezug auf das Zustandekommen der Inferenz des gelungenen Transfers die falschen Voraussagen: Es ist weder der Fall, dass das NP-NP-Mus- Kristel Proost 172 ter die Inferenz durchgängig implizieren würde, noch trifft es zu, dass das NP-PP-Muster grundsätzlich nicht mit der Inferenz verknüpft wäre. Angesichts der Diversität der zur Domäne der Possession gehörenden Besitzrelationen müssten spezifischere Tests zur Überprüfung des (Nicht-)Zustandekommens der Inferenz des gelungenen Besitzwechsels/ Transfers entworfen werden. Wann die Inferenz zustande kommt, dass der Besitzwechsel/ Transfer erfolgreich war, und ob dies immer dann der Fall ist, wenn ein NP-NP-Muster vorliegt, bzw. dies systematisch gerade nicht der Fall ist, wenn ein NP-PP-Muster vorliegt, könnte evtl. auch anhand von psycholinguistischen Tests überprüft werden. Das (Nicht-)Vorhandensein eines pfad -Arguments: Der Ansatz der Verb- Sensitivität macht teilweise die richtigen Voraussagen zum Vorhandensein bzw. dem Fehlen eines pfad -Arguments bei unterschiedlichen Verben. Einerseits hat der Test in (8) - Kompatibilität mit Fragepronomen wie wohin - gezeigt, dass geben-Verben im Gegensatz zu Transportverben und medialen Kommunikationsverben kein ziel -Argument haben. Andererseits ist nicht klar, ob dies auch bedeutet, dass diese Verben, wie von Rappaport Hovav/ Levin (2008) behauptet, generell kein pfad -Argument haben. Dies wäre für unterschiedliche geben-Verben spezifisch zu untersuchen. Da für manche Verben (z.B. für reichen) doch ein pfad -Argument nachweisbar ist, wäre außerdem zu klären, ob dieser possessional path eine interne Struktur hat. Die Bedeutung des NP-NP- und des NP-PP-Musters: Der Ansatz der Verb- Sensitivität macht insofern die richtigen Voraussagen in Bezug auf die Bedeutungen der Gesamtstrukturen (V NP dat NP akk und V NP akk PP), als die Tests zeigen, dass es nicht der Fall ist, dass das NP-NP-Muster immer nur mit der Bedeutung ‘caused possession’ und das NP-PP-Muster immer nur mit der Bedeutung ‘caused motion’ einhergehen würde. Welche Bedeutung sich im Einzelfall ergibt, wird durch die Verbbedeutung sowie durch die Belebtheit vs. Unbelebtheit des Referenten der in der PP eingebetteten NP bestimmt. Mit der Erklärung der Verb-Sensitivität nicht leicht zu vereinbaren ist die Tatsache, dass NP-NP-Muster mit Transportverben und medialen Kommunikationsverben nur die Bedeutung ‘caused possession’ haben können. Die Beobachtung, dass diese Verben im NP-PP-Muster auch die ‘caused motion’-Lesart haben können, legt den Schluss nahe, dass Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung oder beides? 173 das NP-NP-Muster selbst verhindert, dass die ‘caused motion’-Bedeutung zustande kommt. Eine solche Erklärung setzt voraus, dass das Muster an sich, d.h. unabhängig von den darin vorkommenden Verben, eine Bedeutung hat, was eher für einen konstruktionsgrammatischen oder anderen Uniform-multiple-meaning-Ansatz und gegen einen auf Verb-Sensitivität basierenden Ansatz sprechen würde. Insgesamt hat der Vergleich der auf Verb-Sensitivität bzw. Musterbedeutung basierenden Ansätze gezeigt, dass sich die Bedeutung von deutschen Ditransitivstrukturen und ihren präpositionalen Varianten nur aus einem komplexen Zusammenspiel der Bedeutung der involvierten Verben, der Bedeutung des NP-NP-Musters, das bei manchen Verben die ‘caused possession’-Bedeutung erzwingt, und der lexikalischen Besetzung der in der PP eingebetteten NP im NP-PP-Muster erklären lässt (zur Interaktion dieser Faktoren in dreistelligen Mustern mit geben-Verben vgl. auch Eichinger (in diesem Band)). Literatur Baker, Mark C. (1988): Incorporation: a theory of grammatical function changing. Chicago. DeReKo = Institut für Deutsche Sprache (2014): Deutsches Referenzkorpus / Archiv der Korpora geschriebener Gegenwartssprache 2014-I (Release vom 15.4.2014). Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. www.idsmannheim.de/ DeReKo. Goldberg, Adele E. (1992): The inherent semantics of argument structure: the case of the English ditransitive construction. 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Verbbedeutung, Konstruktionsbedeutung oder beides? 175 Anhang NP-PP- NP-PP- Muster Muster Verben Beispiel Bedeutung NP-PP nach/ in Mediale Kommunikationsverben Er faxt die Nachricht nach Paris/ in die Schweiz. caused possession (PP: intendierter Empfänger: Gruppe von Personen, die sich am genannten Ort befinden) Transportverben Er schickt ein Paket in die Schweiz. caused possession (PP: intendierter Empfänger) Paris schickt ein Kriegsschiff nach St. Petersburg. caused possession (PP: Empfänger)/ caused motion (PP: räumliches Ziel; Lesart ‘entsenden’) geben-Verben Die Firma verschenkte ein neues Auto nach Paris/ in die Schweiz. caused possession Bewegungsverben Er fährt die Kinder nach Paris/ in die Schweiz. caused motion NP-PP an Mediale Kommunikationsverben Er faxte die Nachricht an seinen Kollegen. caused possession Er faxte die Nachricht an die falsche Adresse. caused motion Transportverben Er schickt das Paket an seinen Kollegen. caused possession Er schickt das Paket an die falsche Adresse. caused motion geben-Verben Der Hausmeister übergab den Schlüssel an die Sanitäter. caused possession Kristel Proost 176 NP-PP zu Mediale Kommunikationsverben Er faxte die Nachricht zu seinem Kollegen. caused possession Er faxte die Nachricht zur falschen Adresse. caused motion Transportverben Er schickt das Paket zu seinem Kollegen. caused possession Er schickt das Paket zur falschen Adresse. caused motion Modale Kommunikationsverben Er flüstert etwas zu seinem Nachbarn. caused possession (metaphorisch, vgl. Abschnitt 1) sagen Er sagt etwas zu seinem Nachbarn. caused possession (metaphorisch, vgl. Abschnitt 1) NP-PP auf Verben des Vererbens Der Baron vererbte den Adelstitel auf seinen Neffen. caused possession Tab. 3: Das Zusammenspiel von Verbbedeutung und semantischen Eigenschaften der in der PP eingebetteten NP bei NP-PP-Mustern mit unterschiedlichen Präpositionen. IRENE RAPP ZUR DISTRIBUTION VON INFINITEN KOMPLEMENTSÄTZEN IM DEUTSCHEN 1 FRAGEN, FAKTEN UND FAKTOREN 1. Einleitung Propositionale Objekte weisen im Deutschen häufig eine Alternation zwischen der Realisierung als dass-Satz und derjenigen als zu-Infinitiv auf: (1) a. Paula verspricht, dass sie nach Berlin fährt / nach Berlin zu fahren. b. Paula sagt, dass sie nach Berlin fährt / ? nach Berlin zu fahren. c. Paula versucht, ? dass sie den Ball fängt / den Ball zu fangen. Beispiel (1) zeigt, dass bestimmte Matrixverben gleichermaßen beide Komplementformen zulassen (versprechen), andere dagegen stark zum dass-Satz (sagen) bzw. zum zu-Infinitiv (versuchen) tendieren. Dieses Papier wirft die Frage auf, ob sich derartige (Dis-)Präferenzen in systematischer Weise beschreiben lassen. Ausgangspunkt der Argumentation sind die spezifischen Charakteristika der Infinitive. Diese haben gegenüber dass-Sätzen gewisse funktionale Vorteile: sie sind morphosyntaktisch einfacher aufgebaut und positionell weniger restringiert. 2 Andererseits sind sie jedoch - aufgrund der infiniten Flexion! - in mehrfacher Hinsicht weniger spezifiziert als dass-Sätze: zum einen bzgl. ihrer temporalen und modalen Interpretation, zum anderen bzgl. der Identifikation ihres impliziten Subjekts. Meine These ist, dass zu- 1 Für wertvolle Kommentare bedanke ich mich bei Aleksandar Dimitrov, Stefan Engelberg, Christian Fortmann, Katja Laptieva, Anja Lübbe, Meike Meliss und Kristel Proost. Danken möchte ich auch den Teilnehmern meines Hauptseminars Infinitstrukturen (Universität Tübingen, Sommersemester 2013), insbesondere Jochen Rehm, der durch kritisches Nachfragen die Anregung für diesen Aufsatz gab. 2 Ein dass-Satz ist morpho-syntaktisch komplexer als ein zu-Infinitiv, da er die finiten Flexionskategorien ausdrückt, die Subjektposition füllt und nicht zu einer Verbalphrase reduziert werden kann. Aufgrund der obligatorischen Satzwertigkeit ist der dass-Satz zudem topologisch stärker beschränkt als der Infinitiv und kann z.B. nicht im Mittelfeld auftreten. Irene Rapp 178 Infinitive vor allem dann als Satzkomplemente auftreten, wenn das Matrixprädikat durch seine lexikalisch-semantischen Eigenschaften Eindeutigkeit bezüglich dieser Faktoren herstellt. Thema des Beitrags ist folglich die Schnittstelle zwischen Semantik und (syntaktischer) Valenz; dabei wird die Position vertreten, dass Valenz keine idiosynkratische Eigenschaft ist, sondern sich weitgehend aus der Bedeutung eines Lexems ableiten lässt. 3 Im Folgenden werde ich die hier relevanten Bedeutungsfaktoren exemplarisch darstellen (Abschnitt 2) und im Anschluss zeigen, welche Verbgruppen das Auftreten eines zu-Infinitivs durch ihre Semantik besonders begünstigen (Abschnitt 3). Betonen möchte ich vorweg, dass die präsentierten Daten durchweg introspektiv sind. In Abschnitt 4 wird angedeutet, in welcher Weise die Thesen des Papiers durch eine Korpusuntersuchung überprüft werden könnten. Dies betrifft sowohl die semantische Klassifikation der Verben wie auch die Relevanz, Gewichtung und eventuelle Interdependenz der verschiedenen Faktoren für die präferierte Komplementselektion. 2. Infinitive: Defizienz bzgl. Tempus, Modus, Person, Numerus Zu-Infinitive weisen mangels Finitheit keine flexivische Spezifizierung bzgl. Tempus, Modus, Person und Numerus auf. Das Fehlen von Person und Numerus korreliert damit, dass das Subjekt nicht phonologisch realisiert wird. 4 Je leichter die semantischen Korrelate der fehlenden Flexionsmerkmale erschließbar sind, desto adäquater ist der zu-Infinitiv. 2.1 Tempusdefizienz Der zu-Infinitiv kann temporale Relationen bzgl. des Matrixprädikats morpho-syntaktisch ausdrücken, jedoch nur in eingeschränkter Weise. Anterioriät (2a) wird in eindeutiger Weise durch den Infinitiv Perfekt markiert; die Vorzeitigkeit ergibt sich hier kompositional aus der Per- 3 Nicht berücksichtigt wird hier die Rolle genuin syntaktischer Faktoren (Alternation des Komplementsatzes mit einem Akkusativ-, Dativ- oder Präpositionalobjekt, Auftreten von Korrelaten u.Ä.) für die auftretenden Präferenzen. 4 AcI-Strukturen (Sie hörte ihn singen) zeigen, dass ein phonologisch realisiertes Subjekt bei infiniten Strukturen dann auftritt, wenn Kasus von außen zugewiesen wird. Der zu-Infinitiv kann kein Subjekt realisieren, weil einerseits keine Kasuszuweisung von außen vorliegt, andererseits aber - aufgrund mangelnder Person- und Numerusmerkmale - kein Nominativ durch das infinite Verb selbst zugewiesen wird. Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen 179 fektsemantik. Dagegen sind Simultanität (2b) und Prospektivität (2c) nicht formal getrennt - für beide Relationen wird der Infinitiv Präsens verwendet: 5 (2) a. Sie gesteht/ bereut, ihn getroffen zu haben. b. Sie versucht zu schwimmen. c. Sie verspricht/ empfiehlt ihm, in die Uni zu gehen. Grund für diese Doppelfunktion des Infinitiv Präsens ist, dass im Deutschen kein Infinitiv Futur existiert, der die prospektive Lesart ausdrücken könnte: (3) *Sie verspricht/ empfiehlt ihm, in die Uni gehen zu werden. Während ein Infinitivsatz also Anteriorität in eindeutiger Weise formal ausdrücken kann, grenzt er Simultanität nicht durch grammatische Mittel gegen Prospektivität ab. Es ist zu erwarten, dass Verben, die diese Abgrenzung auf lexikalische Weise vornehmen, stärker zu infiniter Komplementation neigen als temporal neutrale Verben: 6 (4) a. Er verspricht, die Küche aufzuräumen.  eindeutig prospektiv b. ? Er sagt, die Küche aufzuräumen.  simultan oder prospektiv Prognose: zu-Infinitive sind besonders adäquat, wenn sich durch die Kombination mit dem Matrixprädikat eine eindeutige Tempusausrichtung ergibt. 2.2 Modusdefizienz Mangels finiter Flexion kann der zu-Infinitiv nicht zwischen den verschiedenen Verbmodi differenzieren. In welchen Fällen ist eine solche Differenzierung innerhalb von Komplementsätzen jedoch überhaupt von Bedeutung? Bekanntermaßen vor allem bei der sprachlichen Sig- 5 Im Gegensatz zu Wurmbrand (2001) und Wöllstein (2008) betrachte ich zu nicht als Marker für Prospektivität, sondern nehme an, dass der zu-Infinitiv simultan oder prospektiv interpretiert werden kann. 6 Vgl. zu einer detaillierten Darstellung der Temporalität von Infinitiven Tkatschuk (2011). Irene Rapp 180 nalisierung von Indirektheit. 7 Hier kann der Sprecher durch Konjunktivgebrauch eine neutrale Position zur eingebetteten Proposition einnehmen: (5) Sie denkt, dass sie diesen Mann nicht einschätzen kann/ könne. Die Modusdifferenzierung entfällt bei faktiven Prädikaten, da die Komplementproposition hier als wahr präsupponiert wird und daher nur der Indikativ möglich ist: (6) Sie bereut, dass sie diesen Mann getroffen hat/ *habe. Es ist folglich zu erwarten, dass das faktive bereuen stärker zu infiniter Komplementation neigt als das nicht-faktive denken: (7) a. Sie bereut, diesen Mann getroffen zu haben. b. ? Sie denkt, diesen Mann nicht einschätzen zu können. Prognose: zu-Infinitive sind besonders adäquat, wenn das übergeordnete Prädikat eine eindeutige Modusausrichtung vorgibt. 2.3 Person- und Numerusdefizienz: Leeres Subjekt Die fehlende Person- und Numerusmarkierung ist dafür verantwortlich, dass zu-Infinitive kein phonologisch realisiertes Subjekt im Nominativ erlauben (vgl. hierzu auch Rapp/ Wöllstein 2009, 2013). Ein implizites Subjekt wird aber stets mitverstanden. Im Falle von zu-Infinitiven in Komplementposition ist dieses referenzidentisch mit einem Matrixsatzglied. 8 Ich gehe nun davon aus, dass ein zu-Infinitiv besonders adäquat ist, wenn der Kontrolleur des impliziten Subjekts eindeutig festgelegt ist. Dies ist bei den inhärenten Kontrollverben der Fall (vgl. Stiebels 2010). Inhärente Kontrollverben fixieren lexikalisch, dass der Referent eines spezifischen Matrixsatzglieds in die Komplementproposition verwickelt ist - unabhängig davon, ob diese durch einen finiten oder infiniten Satz ausgedrückt wird. Dieses Phänomen sei im Fol- 7 Zu einer genauen Beschreibung des Konjunktivgebrauchs in Indirektheitskontexten, insbesondere zu Unterschieden zwischen dass-Sätzen und V2-Sätzen sowie zu text- und diskursspezifischen Aspekten vgl. Zifonun et al. (1997, S. 1767ff.) und Duden (2005, S. 538ff.). 8 Vgl. zu verschiedenen Kontrollarten Wurmbrand (2001); Jackendoff/ Culicover (2003). Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen 181 genden thematische Verflechtung genannt. Während z.B. bedauern nur ausdrückt, dass der Referent des Matrixsubjekts eine negative Emotion bzgl. der Komplementproposition empfindet, beinhaltet das inhärente Kontrollverb bereuen, dass er sich zudem (zumeist durch sein Handeln) für diese verantwortlich fühlt. Folglich kann ein dass-Satz bei bedauern, nicht aber bei bereuen einen vom Handeln des Subjektreferenten unabhängigen Sachverhalt beschreiben: (8) Tom i bedauert, dass er i/ j der Dame nicht geholfen hat. (9) a. Tom i bereut, dass er i/ *j der Dame nicht geholfen hat. b. Peter Behrens i bereut es nicht, daß aus ihm i/ *j kein hochdotier- ter Rechtsanwalt geworden ist. (DWDS BZ 1998, zit. nach Stiebels (2010), S. 397  c. Sie i bereut, dass ihre i/ *j Worte so beleidigend waren. (9) zeigt, dass thematische Verflechtung bei finitem Komplement neben dem Subjekt (9a) auch andere syntaktische Positionen betreffen kann, z.B. ein Objekt (9b) oder Possessivpronomen (9c). Bei infinitem Komplement ist dagegen immer das phonologisch nicht realisierte Subjekt betroffen - die Kontrollrelation wird also strukturell „festgefroren“. Entscheidend ist nun, dass bei den inhärenten Kontrollverben der Kontrolleur dieses impliziten Subjekts invariabel ist: (10) Sie i bereut (*für ihn j n / ihn j n / ihm j ), _ i/ *j den Mord begangen zu haben. Dagegen ist die Interpretation eines impliziten Subjekts durch Verben ohne inhärente Kontrolle nicht lexikalisch fixiert. Bei bedauern variiert sie je nach Konstruktion, 9 bei mitteilen sogar innerhalb ein und derselben Konstruktion: (11) a. Sie i bedauert, _ i/ *j noch nie im Ausland gewesen zu sein. b. Sie i bedauert ihn j n (dafür), _ *i/ j noch nie im Ausland gewesen zu sein. c. Sie i teilte ihm j mit, _ i/ j morgen entlassen zu werden. Prognose: zu-Infinitive sind umso adäquater, je eindeutiger das übergeordnete Prädikat die Kontrolleigenschaften determiniert. 9 Bei zweiwertigem Gebrauch von bedauern entspricht der zu-Infinitiv einem Akkusativobjekt (11a), bei dreiwertigem Gebrauch einem Präpositionalobjekt (11b). Irene Rapp 182 Im Folgenden wird untersucht, in welcher Weise die drei Kriterien (eindeutige Markierung von Tempus, Modus und Kontrolleur) bei verschiedenen Verbgruppen Anwendung finden. 3. Komplementpräferenzen bei propositionseinbettenden Prädikaten 10 Ich unterteile die propositionseinbettenden Prädikate in zwei große Gruppen: A) Verben, die die Einflussnahme auf einen Sachverhalt ausdrücken B) Verben, die die Assertion eines Sachverhalts ausdrücken Bei den Verben der Einflussnahme steht der eingebettete Sachverhalt zur Disposition, d.h. er soll z.B. erreicht, begünstigt oder verhindert werden. Hier treten Kommunikationsverben (versprechen, auffordern), Einstellungsverben (planen) und Handlungsverben (versuchen, zwingen) auf. Im Falle der Assertiva wird der eingebettete Sachverhalt dagegen lediglich beschrieben. Der Assertierende ist zumeist der Subjektreferent, in seltenen Fällen der Referent des Dativobjekts (einfallen, entfahren); die Assertion kann entweder eine äußere oder innere Feststellung sein (sagen vs. denken). Assertive Verben weisen keinerlei semantische Restriktionen bzgl. ihres Komplements auf, wohingegen Verben der Einflussnahme im Allgemeinen nur aktionale Komplemente zulassen - nur diese lassen sich ja in direkter Weise beeinflussen. Jackendoff/ Culicover (2003) nennen als einschlägige Tests für Aktionalität u.a. die Imperativprobe und die Verwendung spezifischer Adverbiale: (12) a. Lauf nach Hause! - *Werde größer! b. Peter lief freiwillig nach Hause. - *Peter wurde freiwillig größer. 10 Die Einteilung orientiert sich in wesentlichen Punkten an Jackendoff/ Culicover (2003) und Stiebels (2010). Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen 183 3.1 Verben der Einflussnahme Tabelle 1 veranschaulicht die wichtigsten Gruppierungen durch einige Beispiele: Sprechaktverben (prospektiv) Einstellungsverben (prospektiv, Ind) Vorbereitungsverben (prospektiv, Ind) Implikative Verben (Ind) Subjektkontrolle (= Kommissiva) versprechen zusagen sich weigern (an)drohen Subjektkontrolle planen p beabsichtigen g beschließen ß Subjektkontrolle sich vorbereiten sich bereitmachen sich anschicken Subjektkontrolle (simultan) schaffen ffversäumen versuchen zögern g vergessen g Objektkontrolle (= Direktiva) auffordern bitt en überreden anflehen -------------befehlen verbieten empfehlen erlauben Objektkontrolle auserwählen Objektkontrolle 10 anregen g ermutigen g -------------helfen f Objektkontrolle (prospektiv) abbringen g zwingen g hindern Tab. 1: Verben der Einflussnahme („Ind.“ steht für Indikativ) Einflussnehmend ist stets der Subjektreferent des Matrixsatzes; bei Subjektkontrollverben ist dieser zudem an der geplanten Handlung beteiligt. Bei Objektkontrollverben ist dagegen ein Objektreferent thematisch involviert; die gestrichelte Linie trennt zwischen Akkusativ- und Dativobjektkontrolle (vgl. 3.1.3). Alle Verben der Einflussnahme sind tempusspezifisch (angezeigt durch Kursivierung), wobei die implikativen Verben mit Subjektbezug simultan ausgerichtet sind, die übrigen Gruppen dagegen prospektiv (vgl. 3.1.1). Nur die Sprechaktverben variieren beim dass-Satz zwischen Indikativ und Konjunktiv, während alle anderen Verben modusspezifisch sind (angezeigt durch Unterstreichung) - sie wählen immer den Indikativ (vgl. 3.1.2). 11 Bestimmte Handlungsverben (anregen, ermutigen) können sich sowohl auf einen Sprechakt als auch auf einen non-verbalen Akt beziehen. Hier werden in die Gruppe der Sprechaktverben nur Verben wie überreden eingeordnet, die keinen non-verbalen Gebrauch erlauben. Irene Rapp 184 3.1.1 Temporale Eigenschaften Betrachten wir die temporale Ausrichtung (vgl. Tkatschuk 2011). Einflussverben richten sich nie auf einen vergangenen Sachverhalt: (13) a. *Sie schafft es, das Brot gekauft zu haben / dass sie das Brot gekauft hat. b. *Sie verspricht ihm, Peter getroffen zu haben / dass sie Peter getroffen hat. c. *Er überredet Tom, das Brot gekauft zu haben / dass er das Brot gekauft hat. Für die Angemessenheit eines zu-Infinitivs ist es jedoch von größerer Bedeutung, ob das Matrixverb in eindeutiger Weise simultan oder prospektiv ausgerichtet ist. Dies ist bei Verben der Einflussnahme stets der Fall. Sprechakt-, Einstellungs- und Vorbereitungsverben weisen eine prospektive Orientierung auf. (14), (15) und (16) zeigen, dass eine Dissoziierung der Ereigniszeiten stets möglich ist; dabei folgt das eingebettete Ereignis immer dem Matrixereignis: 12 (14) Sprechaktverben: a. Maria hat gestern versprochen, heute die Tickets zu besorgen. b. Er hat sie gestern gebeten/ überredet, sich heute die Tickets zu besorgen. (15) Einstellungsverben: a. Maria hat gestern geplant, heute die Tickets zu besorgen. b. Er hat sie gestern dazu auserwählt, heute für das Amt zu kandidieren. (16) Vorbereitungsverben: a. Maria hat sich gestern darauf vorbereitet, heute die Tickets zu besorgen. b. Peter half Tom gestern, heute seine Prüfung zu bestehen. Ebenso wie der zu-Infinitiv wird auch ein dass-Satz hier stets als prospektiv interpretiert, und zwar unabhängig von seiner Tempusspezifikation: 12 In (14), (15), (16), (23) und (24) haben die (a)-Beispiele Subjekt-, die (b)-Beispiele dagegen Objektkontrolle: Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen 185 (17) a. Ich verspreche dir, dass ich die Küche aufräumen werde.  prospektiv b. Ich verspreche dir, dass ich die Küche aufräume.  prospektiv Grundsätzlich anders verhalten sich die implikativen Verben mit Subjektbezug (vgl. Karttunen 1971). Zwar steht wie bei den übrigen Verben der Einflussnahme der eingebettete Sachverhalt zur Disposition; während ansonsten das übergeordnete Verb aber ein eigenständiges Ereignis bezeichnet (18), ist dies bei den implikativen Verben mit Subjektbezug nicht der Fall. Die Einbettung drückt hier aus, ob das eingebettete Ereignis stattfindet oder nicht (19): (18) Sie versprach, zu lernen.  zwei getrennte Ereignisse (19) a. Sie schaffte es, zu lernen.  ein Ereignis (Lernen) findet statt b. Sie versäumte es, zu lernen.  ein Ereignis (Lernen) findet nicht statt In Anlehnung an Stiebels (2010) möchte ich hier von ereigniskohärenten Verben sprechen. Diesen inhäriert eine simultane Ausrichtung; besser gesagt: da das übergeordnete Verb kein eigenständiges Ereignis bezeichnet, ist eine unterschiedliche temporale oder lokale Spezifikation generell ausgeschlossen: (20) a. *Peter versuchte heute / im Garten, morgen / im Haus zu gewinnen. b. *Peter schaffte es heute / im Garten, morgen / im Haus zu gewinnen. (Stiebels 2010, S. 414, Beispiel (46a, b)) Betonen möchte ich, dass Ereigniskohärenz auf implikative Verben mit Subjektbezug beschränkt ist. Verben mit Objektbezug sind niemals ereigniskohärent. Sie beschreiben immer zwei distinkte Ereignisse mit notwendigerweise verschiedenen Agenten. Die folgenden Beispiele zeigen, dass eine Ereignisdissoziierung bei Objektkontrolle immer möglich ist - auch wenn das einbettende Verb implikativ ist: Irene Rapp 186 (21) a. Peter zwang Tom heute dazu, morgen vor Gericht auszusagen. 13 b. Peter hinderte Tom heute daran, morgen vor Gericht auszusagen. Verben mit Objektbezug haben also immer eine - wenn auch bisweilen nur minimal - prospektive Lesart: Der Subjektreferent nimmt Einfluss darauf, dass eine Handlung des Objektreferenten zu späterer Zeit durchgeführt wird. Fazit: Verben der Einflussnahme sind temporal immer in eindeutiger Weise ausgerichtet. Bei ereigniskohärenten Verben ist das im Komplement ausgedrückte Ereignis simultan zum Matrixereignis, bei den anderen Verben der Einflussnahme prospektiv. 3.1.2 Moduseigenschaften Kommen wir zur modalen Ausrichtung von Verben der Einflussnahme. Alle ereigniskohärenten Verben erlauben in dass-Sätzen nur den Indikativ: (22) a. Sie schafft/ versäumt es, dass sie das Ziel erreicht/ *erreiche. b. Sie versucht, dass sie rechtzeitig kommt/ *komme. Ebenso verhalten sich Planungsverben (23), Vorbereitungsverben (24) und die implikativen Verben mit Objektbezug (25): (23) a. Sie plant, dass sie nach Hawaii fährt/ *fahre. b. Sie sieht für ihn vor, dass er nach Hawaii fährt/ *fahre. (24) a. Sie bereitet sich darauf vor, dass sie nach Hawaii fährt/ *fahre. b. Sie ermutigt ihn dazu, dass er nach Hawaii fährt/ *fahre. (25) Sie zwingt ihn dazu, dass er nach Hawaii fährt/ *fahre. 13 Im Gegensatz zu Stiebels (2010), die manipulative Verben wie ermutigen, anregen sowie implikative Verben wie zwingen zu den ereigniskohärenten Prädikaten zählt, halte ich folgendes Beispiel nicht für abweichend: (i) Otmar zwang Oliver gestern, sich heute bei seinen Mitspielern für seine Kritik zu entschuldigen (ebd., S. 417, Beispiel (51c)). Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen 187 Modusspezifikation ist hier offenbar nicht nötig - nichts spricht also gegen die Selektion eines zu-Infinitivs. Man kann sich natürlich fragen, warum Verben wie versuchen oder planen keinen Konjunktiv selegieren; scheinen sie doch aufgrund ihrer modalen Semantik hierfür geradezu prädestiniert zu sein. Der Grund dafür liegt offenbar darin, dass das einbettende Verb selbst die modale Komponente ausdrückt und eine Kenntlichmachung durch den Konjunktiv redundant wäre. Der Konjunktiv findet in Komplementstrukturen nur dann Anwendung, wenn er selbst eine Differenzierung bzgl. der Realitätsnähe der Proposition ermöglicht - dies ist bei den bisher behandelten aktionseinbettenden Prädikaten nicht der Fall. Kommen wir zu den aktionseinbettenden verba dicendi, zunächst zu den Kommissiva. Wie bei allen Kommunikationsverben kann der Konjunktiv im dass-Satz hier auftreten, um eine Distanzierung des Sprechers zur eingebetteten Proposition zu signalisieren: (26) a. Sie verspricht, dass sie morgen mitkommt/ mitkomme. b. Sie verspricht, dass sie morgen mitkommen wird/ werde. Bei V2-Satz-Einbettung wird - zumindest in formalen Kontexten - dagegen generell der Konjunktiv bevorzugt, um Indirektheit zu signalisieren (vgl. Zifonun et al. 1997, S. 1767): (27) a. Paula verspricht, sie ? kommt/ komme morgen auch. b. Paula verspricht, sie ? wird/ werde morgen auch kommen. Direktiva zeigen ein anderes Verhalten. Der dass-Satz ist hier allenfalls randständig; er gewinnt jedoch erheblich an Akzeptabilität, wenn das Modalverb sollen eingefügt wird (vgl. Rau 2009): (28) a. Sie fordert ihn auf, dass er ? hinausgeht/ ? hinausgehe. b. Sie fordert ihn auf, dass er hinausgehen soll/ solle. Der Grund dafür ergibt sich aus einer Lücke im System der Komplementsatzarten. Bei Einbettung unter ein Kommunikationsverb wird der jeweilige zugrundeliegende Hauptsatz-Typ in spezifischer Weise umgeformt: so wird ein Deklarativsatz bei Einbettung unter ein assertives oder kommissives Verb in der Regel zu einem dass-Satz, ein Interrogativsatz bei Einbettung unter ein interrogatives Verb dagegen zu einem interrogativen Nebensatz. Direktive Verben wie befehlen, auffordern, bit- Irene Rapp 188 ten müssten nun einen Imperativsatz in spezifischer Weise umformen - es gibt im Deutschen aber, da der Verbmodus Imperativ auf Hauptsätze beschränkt ist, keinen finiten Nebensatztyp, der diese Umformung in wirklich adäquater Weise leisten könnte. Eine Art Notlösung besteht offenbar darin, einen dass-Satz zu wählen. Dessen Akzeptabilität verbessert sich, wenn die imperativtypische deontische Modalität durch ein geeignetes Modalverb ausgedrückt wird. Interessant ist es, den Blick auch hier auf eingebettete V2-Sätze zu richten. Unter einem Direktivum sind diese ohne Modalverb klar ungrammatisch (29a): Noch weniger als der dass-Satz ist der V2-Satz geeignet, einen Imperativ in indirekter Rede wiederzugeben. Möglich ist es dagegen auch hier, die Deontik duch ein Modalverb auszudrücken. Wie bei V2-Sätzen generell wird als Verbmodus bevorzugt der Konjunktiv gewählt (29b): (29) a. Sie fordert ihn auf, er *geht/ *gehe hinaus. b. Sie fordert ihn auf, er ? soll/ solle hinausgehen. Ein zu-Infinitiv - der ja überhaupt keinen Verbmodus anzeigt - ist dagegen bei direktiven Verben völlig unproblematisch: (30) Sie forderte ihn auf, hinauszugehen. Fazit: Handlungseinbettende Verben erlauben im Allgemeinen keine Modusdifferenzierung im Komplementsatz. Folglich hat der finite dass-Satz hier keinen Vorteil gegenüber dem zu-Infinitiv. Nur die kommissiven und direktiven Kommunikationsverben lassen eine Modusdifferenzierung zu. Die Direktiva benötigen jedoch bei der finiten Komplementation eine Modalverbkonstruktion, um die deontische Komponente auszudrücken. Da dieses Verfahren umständlich ist, wird der dass-Satz hier gemieden. 14 14 Etwas anders als auffordern, bitten verhalten sich die permissiven Direktiva erlauben, verbieten. Auch ein permissiver Imperativ (Benutz ruhig die Küche! ) kann durch einen dass-Satz und einen zu-Infinitiv, nicht aber durch einen V2-Satz ausgedrückt werden: (i) Er erlaubt seiner Schwester, dass sie die Küche benutzt/ benutze. (ii) Er erlaubt seiner Schwester, die Küche zu benutzen. (iii) *Er erlaubt seiner Schwester, sie benutzt/ benutze die Küche. Erklärungsbedürftig bleibt jedoch, warum der V2-Satz auch bei geeigneten Modalverben nicht möglich ist: (iv) *Er erlaubt seiner Schwester, sie kann/ könne/ darf/ dürfe die Küche benutzen. Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen 189 3.1.3 Kontrolleigenschaften Verben der Einflussnahme haben bei infinitem Komplement eindeutige Kontrolleigenschaften (vgl. Jackendoff/ Culicover 2003): 15 (31) a. Er i versprach ihr j , _ i/ *j morgen ein Lied zu singen. b. Er i bat sie j , _ *i/ j morgen ein Lied zu singen. 16 Stiebels (2010) zufolge ist dies semantisch begründet - sie stuft Verben der Einflussnahme generell als inhärente Kontrollverben ein. Meines Erachtens muss allerdings zwischen bloßer Verantwortlichkeit und tatsächlicher thematischer Verflechtung klar unterschieden werden. Verantwortlich für die Einflussnahme ist immer der Subjektreferent; dies impliziert jedoch nicht, dass er tatsächlich als Agens auftritt. Bei Subjektkontrollverben kann er dies zwar, muss es aber nicht (32a); weiterhin kann das Komplement hier sogar nicht-aktional sein (32b): (32) a. Sie i verspricht, dass sie i/ k die Küche aufräumt. b. Sie verspricht, dass die Küche bald sauber ist. Auch im Falle von Objektkontrollverben wie auffordern, zwingen ist der Subjektreferent der Einflussnehmende. Zusätzlich wird hier jedoch ausgedrückt, dass der Objektreferent in die eingebettete Proposition thematisch tatsächlich als Handelnder verwickelt ist (33a). Nicht-aktionale Komplemente sind hier kaum akzeptabel (33b): (33) a. Paul i fordert Erich j h auf, dass er *i/ j/ *k die Küche aufräumen soll. b. ? ? Paul i fordert Erich j h auf, dass die Küche k morgen sauber ist. Fazit: Objektkontrollverben erzwingen bei jeder Komplementation (finit oder infinit! ) eine thematische Verflechtung; folglich sind sie prädestiniert für die Verbindung mit zu-Infinitiven. Subjektkontrollverben implizieren dagegen lediglich eine Verantwortlichkeit des Subjektrefe- 15 Problemfälle sind vorschlagen, anbieten: Sie haben variable Kontrolle (vgl. Wurmbrand 2001), ohne dass dies der Wahl eines zu-Komplements abträglich ist: (i) Ich i schlage dir j vor/ biete dir j an, _ i/ j mich zu erschießen. 16 Auf systematischen Kontrollwechsel kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden, vgl. dazu Zifonun et al. (1997), Bd. 2, S. 1392-1407; Jackendoff/ Culicover (2003). Irene Rapp 190 renten für die eingebettete Proposition. Ein zu-Infinitiv ist hier seltener zu erwarten. 17 3.1.4 Gesamtprognose Verben der Einflussnahme sind für die Verbindung mit zu-Infinitiven prädestiniert. So sind sie eindeutig bzgl. Temporalität und Kontrolle; Modusvarianz zeigt sich nur bei den Kommissiva und Direktiva. Für direktive Objektkontrollverben ist die infinite Satzkomplementation in besonderem Maße geeignet, da einerseits der erforderliche Verbmodus (Imperativ! ) im finiten Nebensatz nicht verfügbar ist, andererseits stets eine thematische Verflechtung vorliegt. 3.2 Assertive Verben Wie in Tabelle 2 veranschaulicht, drücken assertive Verben aus, dass der Referent des Matrixsubjekts eine äußere (sagen) oder aber innere (denken) Feststellung über einen unabhängig bestehenden Sachverhalt macht: 18 Äußere Assertion Innere Assertion Subjektkontrolle gestehen g (ant-sim, Ind) leugnen g (ant-sim, Ind) Subjektkontrolle bereuen (ant-sim, Ind) sich erinnern (ant-sim, Ind) Objektkontrolle bezichtigen (ant-sim) beschuldigen (ant-sim) -----------------------------------------vorwerfen (ant-sim) Objektkontrolle verdächtigen (ant-sim) beneiden (ant-sim) ----------------------------------------unterstellen (ant-sim) Keine inhärente Kontrolle: berichten (ant-sim) ankündigen g (prosp, Ind) prophezeien (prosp) vorhersagen (prosp) sagen rufen schreien flüstern mitt eilen Keine inhärente Kontolle: bedauern (ant-sim, Ind) wünschen (prosp) ersehnen (prosp) hoffen glauben denken Tab. 2: Assertive Verben 17 Bei implizitem Objekt ist in manchen Fällen ein zu-Infinitiv mit Objektkontrolle möglich, in anderen dagegen nicht: (i) Lisa ordnete an/ *erzwang/ *verhinderte, den Schlüssel herauszugeben. 18 Eine äußere Feststellung liegt bei den verba dicendi vor, eine innere Feststellung bei den verba sentiendi und cogitandi. Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen 191 Assertive Verben können Subjekt- oder Objektkontrolle haben; die gestrichelte Linie trennt dabei zwischen Dativ- und Akkusativobjektkontrolle. Zudem existieren assertive Verben, deren Kontrollverhalten nicht lexikalisch fixiert ist (vgl. 3.2.3). Tempusspezifische Verben sind kursiv gesetzt, modusspezifische Verben unterstrichen. Im Gegensatz zu den Verben der Einflussnahme ist die jeweilige Spezifizierung hier nicht gruppen-, sondern einzelverbabhängig; folglich wird sie nach jedem Verb in Klammern angegeben (vgl. 3.2.1 und 3.2.2). Die Aufstellung verdeutlicht, dass viele assertive Verben unspezifisch bzgl. Tempus, Modus und/ oder Kontrolle sind; insbesondere gibt es eine Reihe von Verben, die für keinen der drei Parameter spezifiziert sind (sagen, rufen, denken etc.). 19 3.2.1 Temporale Eigenschaften Betrachten wir wiederum zunächst die temporale Spezifizierung. Verben wie ankündigen werden generell nur prospektiv verwendet (34), Verben wie berichten dagegen im Allgemeinen anterior oder simultan (35): (34) a. *Er kündigt an, abgereist zu sein / dass er abgereist ist.  nicht anterior b. Er kündigt an, abzureisen / dass er abreist.  prospektiv (analog: prophezeien, vorhersagen, erhoffen, wünschen, sich sehnen) (35) a. Sie berichtet, gegessen zu haben/ dass sie gegessen hat.  anterior b. Sie berichtet, hier zu wohnen/ dass sie hier wohnt.  simultan (analog: gestehen, leugnen, bereuen, erzählen) 19 Tabelle 2 suggeriert, dass bestimmte Merkmalskombinationen bei den Assertiva nicht auftreten, z.B. faktive Objektkontrollverben. Es ist zu überprüfen, ob dies zutrifft. Ferner ist zu überlegen, ob zwischen den Merkmalen Implikationsbeziehungen bestehen: Impliziert Kontrolleindeutigkeit z.B. immer auch Tempuseindeutigkeit - und wenn ja: warum? Irene Rapp 192 (36) ist ungrammatisch, da einerseits das Matrixverb eine prospektive Ausrichtung des Infinitivs ausschließt, andererseits stehlen - aufgrund seiner Punktualität - eine simultane Interpretation unmöglich macht: (36) a. *Ich berichte/ gestehe, den Pokal zu stehlen / dass ich den Pokal stehle. b. *Sie unterstellt ihm, den Pokal zu stehlen / dass er den Pokal stiehlt. Wann immer das eingebettete Verb es zulässt, erfolgt in derartigen Fällen die Uminterpretation zu einem simultanen, habituellen Vorgang: (37) a. Ich gestehe, meinen Vater zu bestehlen / dass ich meinen Vater bestehle. b. Ich unterstelle ihm, seine Oma zu bestehlen / dass er seine Oma bestiehlt. Es ist allerdings nicht ganz unmöglich, eine prospektive Interpretation durch entsprechende Zeitadverbiale zu erzwingen (38, 39), im Falle des finiten dass-Satzes kann außerdem das Futur eingesetzt werden (40): (38) ? Sie gesteht/ berichtet/ unterstellt ihm, morgen zu heiraten.  prospektiv (39) a. Sie gesteht/ berichtet, dass sie morgen heiratet.  prospektiv b. Sie unterstellt ihm, dass er morgen heiratet.  prospektiv (40) a. Sie gesteht/ berichtet, dass sie (morgen) heiraten wird.  prospektiv b. Sie unterstellt ihm, dass er (morgen) heiraten wird.  prospektiv In diesen Fällen wird nicht der Sachverhalt assertiert, sondern eine bestehende Tendenz zu diesem. Eine solche Uminterpretation ist jedoch zumindest beim zu-Infinitiv recht fragwürdig; vor allem aber kann sie nicht ohne expliziten Indikator (hier: Temporaladverb) erfolgen (vgl. Tkatschuk 2009). Sie stellt daher die Nichtprospektivität von berichten, unterstellen nicht grundsätzlich in Frage. Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen 193 Eine Reihe von assertiven Verben sind nun temporal ganz unspezifisch (sagen, rufen, flüstern, schreien, mailen, telegrafieren, schreiben, mitteilen - denken, glauben, meinen): (41) a. Sie sagt, dass sie nach Ulm gefahren ist.  anterior b. Sie sagt, dass sie nach Ulm fährt.  simultan/ prospektiv c. Sie sagt, dass sie nach Ulm fahren wird.  prospektiv Man beachte, dass ein Komplement im Präsens hier sowohl simultan als auch prospektiv interpretiert werden kann. Dies entspricht den üblichen Interpretationen des Präsens; im eingebetteten Satz zeigt es, dass das Matrixverb selbst sowohl die prospektive als auch die simultane Ausrichtung erlaubt - folglich temporal neutral ist. Ich nehme an, dass dies einer der Gründe dafür ist, warum ein infinites Komplement markiert wirkt: (42) ? Sie sagt, nach Ulm zu fahren. Gegen diese Argumentation könnte man einwenden, dass es prinzipiell durchaus möglich ist, die verschiedenen temporalen Interpretationen des infiniten Komplements deutlich zu machen - Anteriorität durch den Infinitiv Perfekt, Simultanität bzw. Prospektivität durch adäquate Zeitadverbiale. Dieser Einwand zielt auf die Frage ab, ob die präferente Satzkomplementation eines Verbs von Fall zu Fall entschieden wird oder aber ob das Verb - auf der Basis seiner semantischen Eigenschaften - insgesamt zu einem bestimmten Muster tendiert. Die Frage ist also, ob Beispiele wie (43) häufig auftreten oder ob die tempusneutralen Assertiva Infinitive generell vermeiden: (43) a. Sie sagt/ schreibt, morgen ihren Vater zu besuchen. b. Sie sagt/ schreibt, ihren Vater besucht zu haben. Es scheint nun einige Evidenz dafür zu geben, dass Verben dazu neigen, sich auf bestimmte Konstruktionsmuster festzulegen (vgl. Engelberg demn.). Ich nehme daher an, dass sagen als temporal neutrales Verb generell - d.h. ohne Betrachtung des Einzelfalls und somit unabhängig vom Vorhandensein vereindeutigender Faktoren (Zeitadverbi- Irene Rapp 194 ale, Aktionsart des Verbs, Kontext) - dass-Sätze bevorzugt. Einer der Gründe für diese Komplementwahl ist sicherlich, dass finite Sätze alle Tempora ausdrücken können. Fazit: Es ist zu erwarten, dass ein zu-Infinitiv bei den temporal neutralen Assertiva markierter ist als bei den temporal eindeutigen. 3.2.2 Moduseigenschaften Bezüglich der Moduseindeutigkeit ist zu überlegen, welche assertiven Verben innerhalb eines finiten Komplements eine Differenzierung zwischen Indikativ und Konjunktiv zulassen. Hier ist das Kriterium Faktivität relevant. Ist das Verb faktiv, so legt sich der Sprecher auf die Wahrheit der eingebetteten Proposition fest; folglich wird immer der Indikativ verwendet: (44) anterior-simultan, faktiv: a. Sie gesteht/ gibt zu, dass sie ihn kennt/ ? kenne. 20 b. Sie bereut/ erinnert sich, dass sie ihn geschlagen hat/ *habe. prospektiv, faktiv: c. Sie kündigt an, dass die Vorlesung morgen stattfindet/ ? stattfinde. Erwartungsgemäß sind zu-Infinitive hier völlig unmarkiert: (45) a. Sie gesteht/ gibt zu, ihn zu kennen. b. Sie bereut/ erinnert sich, ihn geschlagen zu haben. c. Sie kündigt an, eine Vorlesung zu halten. Ist das Verb nicht-faktiv, so kann der Sprecher dagegen den Konjunktiv verwenden, um sich von der eingebetteten Proposition zu distanzieren: (46) anterior-simultan, nicht-faktiv: a. Sie berichtet/ erzählt, dass sie ihn kennt/ kenne. 20 Faktive Kommunikationsverben wie gestehen verlieren ihre Faktivität, wenn sie mit Konjunktiv verwendet werden (44a). V2-Einbettung erzwingt hier Konjunktivgebrauch und Nichtfaktivität: (i) Sie gesteht, sie könne/ *kann diesen Mann nicht einschätzen. Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen 195 prospektiv, nicht-faktiv: b. Sie prophezeit, dass der Meister morgen erscheint/ erscheine. Ein zu-Infinitiv ist hier deutlich markierter als bei den faktiven Verben: (47) a. ? Sie berichtet/ erzählt, ihn zu kennen. b. ? Sie prophezeit, eine Vorlesung zu halten. Stets nicht-faktiv sind die tempusunspezifischen Verben (sagen, rufen, flüstern, schreien, mailen, telegrafieren, schreiben, mitteilen - denken, glauben, meinen). Sie lassen im finiten Satz immer eine Differenzierung durch den Modus zu: (48) Sie sagt/ schreibt/ flüstert/ glaubt, dass sie in Italien gewesen ist/ sei. Auch vom Standpunkt der Moduseindeutigkeit sollten sich diese Verben also einer Komplementation durch den zu-Infinitiv widersetzen. Fazit: Faktive Assertiva sind moduseindeutig; in einem finiten Komplement lassen sie nur den Indikativ zu. Nichtfaktive Assertiva erlauben dagegen eine Modusdifferenzierung im finiten Satz. Zu erwarten ist, dass ein infinites Komplement bei ersteren adäquater ist als bei letzteren. 3.2.3 Kontrolleigenschaften Wie steht es mit der Kontrolleindeutigkeit assertiver Verben? Es gibt hier eine Reihe von inhärenten Objektkontrollverben, die - ganz analog zu den Direktiva - thematische Verflechtung aufweisen: 21 (49) a. Otto i beschuldigt/ verdächtigt ihn j n , dass er *i/ j/ *k das Geld gestohlen hat. b. Otto i unterstellt ihm j , dass er *i/ j/ *k das Geld gestohlen hat. c. Otto i traut ihm j zu, dass er *i/ j/ *k das Geld stiehlt. Der Subjektreferent schreibt dem Objektreferenten zu, in die eingebettete Proposition direkt involviert zu sein. Hier ist eine starke Tendenz zum zu-Infinitiv zu erwarten: 21 Allenfalls peripher akzeptabel sind Fälle, bei denen ein Objektreferent nur verantwortlich für die Komplementproposition ist: (i) ? ? Sie beschuldigt ihn, dass das Geld weg ist. Irene Rapp 196 (50) a. Otto i beschuldigt/ verdächtigt ihn j n , _ *i / j das Geld gestohlen zu haben. b. Otto i unterstellt ihm j , _ *i / j das Geld gestohlen zu haben. c. Otto i traut ihm j zu, _ *i / j das Geld zu stehlen. Weiterhin gibt es assertive Verben, die sich bzgl. der Kontrolle analog zu den Kommissiva verhalten. Sie zeigen Subjektkontrolle; allerdings muss keine echte thematische Verflechtung wie in (51a) vorliegen. Vielmehr ist es ausreichend, wenn sich der Subjektreferent für die eingebettete Proposition eine Relation der Verantwortlichkeit zuschreibt (51b): 22 (51) a. Sie i gesteht/ bereut, dass sie i das Geld gestohlen hat. b. Sie gesteht/ bereut, dass das Geld weg ist. Es ist folglich auch bei den Assertiva zu erwarten, dass Verben mit inhärenter Objektkontrolle stark zur infiniten Komplementation neigen, Verben mit inhärenter Subjektkontrolle dagegen in etwas geringerem Maße. Ein großer Teil der Assertiva hat nun überhaupt keine inhärente, d.h. lexikalisch fixierte Kontrolle. Bei finiter Komplementation ist hier immer ein thematischer freier Komplementsatz möglich (52a). Dies korrespondiert bei infiniter Komplementation interessanterweise häufig mit der Möglichkeit von Subjekt- und Objektbezug. (52b) weist Subjektkontrolle auf, während der Dativ in (52c) Objektkontrolle möglich macht und die Präpositionalphrase in (52d) einen Kontrollwechsel sogar erzwingt: 23 (52) a. Sie sagt/ schreibt/ erzählt/ berichtet, dass die Sonne scheint. b. Sie i sagt/ schreibt/ erzählt/ berichtet, _ i gefeuert worden zu sein. c. Sie i sagt/ schreibt/ erzählt/ berichtet ihm j , _ i/ j gefeuert worden zu sein. d. Paula i sagt/ erzählt/ berichtet von Susanne j , _ *i/ j gefeuert worden zu sein. 22 Vgl. das Statement eines Tierbefreiungsaktivisten vor Gericht: „Ich bin heute hier, um für meine Teilnahme an der Befreiung von Nerzen aus 6 Pelztierfarmen verurteilt zu werden. Ich bereue, dass es nur 6 waren. [...] Soviel ich über die 6 Pelztierfarmen weiss, wurden nur 2 von ihnen seitdem geschlossen. Ich bereue, dass es nur 2 waren.“ (http: / / de.indymedia.org/ 2011/ 05/ 307729.shtml, abgerufen am 6. 7. 2014) 23 Im Falle von prophezeien erzwingt ein Dativ den Kontrollwechsel: (i) Paula i prophezeit, _ i gefeuert zu werden. (ii) Paula i prophezeit Susanne j , _ *i/ j gefeuert zu werden. Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen 197 Zudem werden temporal neutrale Assertiva oft als Direktiva verwendet (vgl. Bech 1955/ 1957 [1983]). In (53) geht die assertive Lesart mit Subjektkontrolle einher, die direktive Lesart mit Dativobjektkontrolle: 24 (53) a. Sie i sagt/ schreibt ihm j _ i/ j keine Angst zu haben. b. Sie i ruft/ schreit/ flüstert ihm j zu _ i/ j keine Angst zu haben. (54) verdeutlicht nochmals, dass derartige Objektkontrollmöglichkeiten bei den inhärenten Subjektkontrollverben dagegen strikt ausgeschlossen sind: (54) a. Sie i gesteht (*von ihm j ), _ i/ *j den Mord begangen zu haben. b. Sie i gesteht ihm j , _ i/ *j den Mord begangen zu haben. Fazit: Bei den Assertiva ohne inhärente Kontrolle bestehen für ein implizites Subjekt oft verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, während Assertiva mit inhärenter Kontrolle hier eindeutig sind. Es ist zu erwarten, dass letztere stärker zur infiniten Komplementation neigen als erstere. 3.2.4 Gesamtprognose Ein zu-Infinitiv ist umso adäquater, je eindeutiger ein assertives Verb bzgl. der drei relevanten Faktoren spezifiziert ist. Oftmals klaffen diese jedoch auseinander; hier muss also überprüft werden, welcher Faktor größeres Gewicht hat. Eindeutig lässt sich jedoch prognostizieren, dass Assertiva wie gestehen Infinitive anziehen, während Assertiva wie sagen Infinitive meiden, sind doch erstere spezifiziert und letztere unspezifiziert bzgl. aller Faktoren. 24 Zu den verschiedenen Kontrollmöglichkeiten bei Kommunikationswiedergabeverben vgl. auch Zifonun et al. (1997, S. 1407-1410). Hier wird zwischen Mitteilungsverben in reiner Mitteilungsfunktion (also: assertiven Verben) und Mitteilungsverben in handlungssteuernder Funktion (also: direktiven Verben) und ihren diversen Kontrollmöglichkeiten unterschieden. Irene Rapp 198 4. Zusammenfassung, Ausblick - und offene Fragen Tabelle 3 fasst die Merkmalsspezifizierung bei den behandelten Verbgruppen zusammen: tempuseindeutig moduseindeutig kontrolleindeutig Verben der Einflussnahme: schaffen, versuchen + [sim] + [ind] + [subj] zwingen, anregen + [prosp] + [ind] + [obj] versprechen, drohen + [prosp] − + [subj] auffordern, bitt en, empfehlen + [prosp] − + [obj] Assertive Verben: bereuen, gestehen + [ant-sim] + [ind] + [subj] bedauern, beschweren + [ant-sim] + [ind] − berichten, erzählen + [ant-sim] − − unterstellen, vorwerfen + [ant-sim] − + [obj] sagen, schreiben − − − Tab. 3: Merkmalsspezifizierung bzgl. Tempus, Modus und Kontrolle Je eindeutiger ein Verb bzgl. der drei Merkmale spezifiziert ist, desto stärker sollte seine Präferenz für zu-Infinitive sein. Ob bzw. in welcher Weise sich diese Gesamtprognose tatsächlich bestätigt, muss durch umfassende Korpusuntersuchungen geklärt werden. Dabei sind folgende Fragen von besonderem Interesse: 1) Haben die verschiedenen Verbgruppen tatsächlich die semantischen Ausrichtungen, die ihnen hier zugeordnet wurden? Gibt es dabei wirklich eindeutige Ausrichtungen bzgl. Temporalität, Modus und Kontrolle - oder aber lediglich (mehr oder weniger starke) Tendenzen? 2) Sind bestimmte Merkmale von größerer Relevanz für das Auftreten von zu-Infinitiven als andere? Neigt ein modusunspezifisches, aber kontrollspezifisches Verb wie unterstellen beispielsweise stärker zu zu-Infinitiven als ein modusspezifisches, aber kontrollunspezifisches Verb wie bedauern? Zur Distribution von infiniten Komplementsätzen im Deutschen 199 3) Tendieren bestimmte Verben generell zur Verwendung bzw. Vermeidung von zu-Infinitiven oder wird der Gebrauch von Fall zu Fall entschieden? Konkret am Beispiel von sagen: Ist ein Perfekt Infinitiv bedeutend häufiger als ein Infinitiv Präsens, da bei ersterem die Temporalität geklärt ist? Wird der Infinitiv vor allem dann vermieden, wenn ein zweiter möglicher Kontrolleur (z.B. ein Dativobjekt) auftritt? Oder aber neigt sagen, unabhängig vom Einzelfall, zu einer einheitlichen finiten Komplementation? 4) Last but not least: Was bedeutet es eigentlich, dass ein zu-Infinitiv besonders adäquat ist? Ist er einfach prozentual häufiger als bei anderen - unspezifischeren - Verben oder ist er dann beim gleichen Verb auch häufiger als der morpho-syntaktisch komplexere und weniger flexible dass-Satz? Funktionalistisch gefragt: Wird der kürzere, einfachere und flexiblere zu-Infinitiv vorgezogen, wenn die finite Flexion des dass-Satzes keinen interpretatorischen Mehrwert bietet? Literatur Bech, Gunnar (1955/ 1957 [1983]): Studien über das deutsche Verbum infinitum. (= Linguistische Arbeiten 139). Tübingen.  2. unveränd. Aufl. 1983, m. e. Vorw. von Cathrine Fabricius-Hansen  . Duden (2005): Der Duden in zwölf Bänden. Bd. 4: Die Grammatik. 7., völlig neu erarb. und erw. Aufl. Mannheim u.a. Engelberg, Stefan (demn.): The argument structure of psych-verbs: a quantitative corpus study on cognitive entrenchment. In: Boas, Hans C./ Ziem, Alexander (Hg): Constructional approaches to argument structure in German. Boston/ Berlin. Jackendoff, Ray/ Culicover, Peter (2003): The semantic basis of control in English. In: Language 79, S. 517-556. Karttunen, Lauri (1971): Implicative verbs. In: Language 47, S. 340-358. Rapp, Irene/ Wöllstein, Angelika (2009): Infinite Strukturen: selbständig, koordiniert und subordiniert. In: Ehrich, Veronika/ Fortmann, Christian/ Reich, Ingo/ Reis, Marga (Hg.): Koordination und Subordination im Deutschen. (= Linguistische Berichte, Sonderheft 16). Hamburg, S. 159-179. Rapp, Irene/ Wöllstein, Angelika (2013): Satzwertige zu-Infinitivkonstruktionen. In: Meibauer, Jörg/ Steinbach, Markus/ Altmann, Hans (Hg.): Satztypen des Deutschen. Berlin/ Boston, S. 338-355. Rau, Jennifer (2009): Modalverben in Komplementsätzen von Einflussprädikaten. In: Linguistische Berichte 219, S. 271-290. Irene Rapp 200 Reis, Marga (1997): Zum syntaktischen Status unselbständiger Verbzweit- Sätze. In: Dürscheid, Christa/ Ramers, Karl-Heinz/ Schwarz Monika (Hg.): Sprache im Fokus. Festschrift für Heinz Vater zum 65. Geburtstag. Tübingen, S. 121-144. Stiebels, Barbara (2010): Inhärente Kontrollprädikate. In: Linguistische Berichte 224, S. 391-440. Tkatschuk, Natalia (2011): Zeit ohne Tempus. (= Studien zur deutschen Grammatik 80). Tübingen. Wöllstein, Angelika (2008): Konzepte der Satzkonnexion. (= Studien zur deutschen Grammatik 70). Tübingen. Wurmbrand, Susanne (2001): Infinitives: restructuring and clause structure. Berlin/ New York. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 7.1-7.3). Berlin/ New York. EDELTRAUD WINKLER DIE BEIDEN VARIANTEN DER MATERIAL - PRODUKT - ALTERNANZ IM DEUTSCHEN 1. Einleitung Unter Material-Produkt-Alternanz werden gemeinhin Satzpaare verstanden, bei denen einmal das Argument, das ein Material bezeichnet, und einmal das Argument, das das daraus hergestellte Produkt bezeichnet, entweder in Form einer Präpositionalphrase bzw. als direktes Objekt realisiert werden können und in diesen Positionen alternieren. Solche Alternanzen treten bei Kreationsverben oder bei Verben des Umformens/ Umbildens auf. Die zur Material-Produkt-Alternanz gehörenden Sätze werden im Folgenden entweder als Varianten oder als Alternanten bezeichnet. Dabei geht es um Satzpaare wie das Folgende: (1) Die Kinder falten Schiffchen aus alten Zeitungen. (2) Die Kinder falten alte Zeitungen zu Schiffchen. Für die Betrachtung und Untersuchung solcher Sätze ist zunächst die Frage von Interesse, welche Verben im Einzelnen in den beiden alternierenden Argumentstrukturmustern 1 auftreten können. Untersucht werden soll auch, ob die vorkommenden Verben bestimmten Verbklassen angehören und ob es Präferenzen für bestimmte Verben gibt, d.h. ob einzelne Verben besonders häufig mit einem der Argumentstrukturmuster vorkommen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob in den beiden alternierenden Mustern tatsächlich die gleichen Verben in einer ähnlichen Verteilung vorkommen. Das könnte man aufgrund der Tatsache, dass die beiden Alternanten eine sehr ähnliche Bedeutung mit lediglich unterschiedlicher Perspektivierung haben, sehr wohl vermuten. Im Englischen ist das beispielsweise auch der Fall, wie an den Beispielen von Levin (1993) weiter unten zu sehen 1 Auf den Begriff des Argumentstrukturmusters kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden; solche Muster sind Form-Bedeutungs-Paare, die bestimmten Bedingungen genügen müssen. Der Begriff wird hier in Anlehnung an die Bestimmungen verwendet, die in Engelberg et al. (2011, S. 71ff.) gegeben sind. Vgl. dazu auch Proost/ Winkler (2015). Edeltraud Winkler 202 ist. Weiterhin wird man sich die Frage stellen, ob die beiden betrachteten Argumentstrukturmuster eine gewisse Varianz, beispielsweise bei der lexikalischen Belegung der die Präpositionalphrase einleitenden Präposition, erlauben. Recherchiert man in DeReKo nach solchen Satzpaaren, fällt zunächst auf, dass in der Alternante unter (1), in der das Material-Argument in Form einer Präpositionalphrase realisiert wird, tatsächlich eine gewisse Varianz bei den phraseneinleitenden Präpositionen zu beobachten ist (neben aus sind auch mit und von möglich), worauf in Abschnitt 2.2 näher eingegangen wird. Wenn, wie in (2), das Produkt-Argument als Präpositionalphrase realisiert wird, ist eine solche Varianz nicht möglich, vgl. Abschnitt 2.3. Im Folgenden werden die beiden Alternanten gesondert betrachtet, weil man natürlich im Korpus auch nur getrennt nach beiden Alternanten suchen kann. Levin (1993) hat die Material-Produkt-Alternanz für das Englische ausführlicher beschrieben und ordnet sie in eine Reihe von „Creation and Transformation Alternations“ ein, die bei Verben des Erschaffens und Umbildens/ Umformens 2 vorkommen und jeweils mit einer transitiven und einer intransitiven Form auftreten. Die transitiven Formen der Material-Produkt-Alternanz enthalten ein Agens-Argument (vgl. die Beispiele unter A.), das bei den intransitiven Formen fehlt (vgl. die Beispiele unter B.). Das Subjekt der intransitiven Formen hat dieselbe Rolle inne wie das Objekt der transitiven Formen. Folgende Alternanzen listet Levin in dieser Gruppe auf: A. Material/ Product Alternation (transitive) Martha carved a toy out of the piece of wood. Martha carved the piece of wood into a toy. 2 Auch Dixon (2005, S. 117f.) nennt fürs Englische Verben wie build, knit, tie, make, weave, sew, shape, form, stir, r mix, knead, fry, bake oder cook, die in der Material-Prok dukt-Alternanz vorkommen können, wobei er das Material-Argument als manipuliertes Objekt bezeichnet. Als Präpositionen führt er into, with und from auf. Port (2010) unterscheidet zwischen Kreationsverben, die von activity-Verben abgeleitet sind (wie sculpt, carve oder cook), und solchen, bei denen das nicht der Fall ist (wie build, create oder make). Die letzten erlaubten auch keine activity-Lesart. Der Frage, ob eine solche Unterscheidung auch für deutsche Kreationsverben sinnvoll ist und welche Folgen sie hat, konnte hier nicht nachgegangen werden. Die beiden Varianten der Material ll Produkt - Alternanz im Deutschen - 203 B. Material/ Product Alternation (intransitive) That acorn will grow into an oak tree. An oak tree will grow from that acorn. C. Total Transformation Alternation (transitive) The witch turned him into a frog. The witch turned him from a prince into a frog D. Total Transformation Alternation (intransitive) He turned into a frog. He turned from a prince into a frog. (vgl. Levin 1993, S. 55-58) Im Folgenden soll es im Wesentlichen um die unter A. aufgelisteten Alternanzen gehen, auf die intransitive Material-Produkt-Alternanz wird allenfalls ein kurzer Seitenblick geworfen (vgl. Abschnitt 3). Neben einer ausführlichen Beschreibung der beiden Alternanten der transitiven Material-Produkt-Alternanz in den Abschnitten 2.2 und 2.3 soll kurz etwas zum methodischen Vorgehen bei dieser Untersuchung gesagt werden (Abschnitt 2.1). Schließlich werden noch die Randbereiche der Material-Produkt-Alternanz sowie die Übergänge in andere Phänomenbereiche betrachtet (Abschnitt 3). 2. Die beiden Varianten der (transitiven) Material-Produkt-Alternanz 2.1 Zum empirischen Vorgehen beim Auffinden der Alternanten im Korpus Insgesamt gesehen ist die Material-Produkt-Alternanz ein sprachliches Phänomen, das in den Korpora eher selten anzutreffen ist. Um einen ersten Eindruck von der Vorkommenshäufigkeit der beiden Alternanten zu gewinnen, wurde in DeReKo (W-gesamt) für alle in den Alternanten vorkommenden Präpositionen jeweils eine zufallsgenerierte Stichprobe von 1.000 Treffern gezogen und diese nach Belegen für eine der beiden Alternanten durchgesehen. Als Suchwort wurde lediglich die Präposition (groß- und kleingeschrieben) eingegeben, da sie das einzige stabile Element in allen Belegen der Material-Produkt- Alternanz ist. Für die erste Variante der Alternanz mit der Präposition aus in dem Argument, das das Material bezeichnet, wurden in dem 1.000er-Sample sechs Treffer gefunden. Für die alternativ auftretenden Edeltraud Winkler 204 Präpositionen mit und von gab es in den entsprechenden Samples gar keine Treffer. Für die zweite Variante der Alternanz mit der Präposition zu in dem Argument, das das Produkt bezeichnet, wurde ein Treffer in den 1.000 zufällig gezogenen Belegen gefunden. Rechnet man diese Trefferzahlen auf die Treffermenge für die einzelnen Präpositionen im Gesamtkorpus hoch, so ergibt sich eine Vorkommenswahrscheinlichkeit von 133.684 Treffern innerhalb der Treffermenge für aus und von 44.791 Treffern innerhalb der Treffermenge für zu. Das klingt zunächst nicht wenig, es handelt sich aber nur um knapp 0,6% aller Treffer für aus und sogar lediglich um 0,1% aller Treffer für zu, die Instanzen einer der Alternanten der Material-Produkt-Alternanz wären. Gezielte Suchen, bei denen außer der Präposition entweder ein bestimmtes Material oder Produkt oder auch ein spezielles Verb mit einbezogen wurden, erbrachten auch für die Präpositionen mit und von einzelne Treffer. Man kann aber aufgrund der Auszählung in dem 1.000er-Sample davon ausgehen, dass der prozentuale Anteil an der Gesamttreffermenge für mit und von in W-gesamt noch viel geringer ist als bei den anderen beiden Präpositionen. Deshalb wurde auf genauere Berechnungen hier verzichtet, für einen ersten Eindruck von der Häufigkeit des Phänomens sind die erhobenen Zahlen durchaus ausreichend. Auf diese Weise, also mit manueller Durchsicht, konnten die Belege für die Material-Produkt-Alternanz im gesamten DeReKo allerdings nicht ermittelt werden, da sich für die einzelnen Präpositionen zwischen 22 Mio. und 53 Mio. Treffer im Korpus finden. Hier kann man nur entweder versuchen, die Belegmenge teilautomatisch zu reduzieren und die verbleibende Restmenge manuell durchzusehen, oder man geht eher intuitiv vor und sucht nach vermuteten Verben + Präposition bzw. nach vermuteten Belegungen für das Material- oder das Produkt-Argument + Präposition. Da ich mich zunächst für die zweite Vorgehensweise entschieden habe, um einen Überblick über das Phänomen und die dabei auftretende Varianz zu bekommen, sind belastbare Aussagen quantitativer Art hier nicht möglich. Es lassen sich lediglich bestimmte Tendenzen als wahrscheinlich vermuten. Ebenso können auf diese Weise natürlich die in den Varianten der Material-Produkt-Alternanz vorkommenden Verben nicht vollständig erfasst werden, da entweder schon in der Suchanfrage einzelne Verben bestimmter Klassen als vermutlich vorkommend eingegeben werden bzw. nur die Verben erfasst werden, die gemeinsam mit bestimmten Material- oder Produkt-Argumenten gefunden Die beiden Varianten der Material ll Produkt - Alternanz im Deutschen - 205 werden. Ausgehend von diesen Funden habe ich auch bei bedeutungsähnlichen Verben nach Belegen für die beiden Alternanten gesucht, was aber aus naheliegenden Gründen ebenfalls keine exhaustiven Ergebnisse erbringen kann. Aufgrund der Beobachtung, dass in der zweiten Alternante häufig präfigierte Verben vorkommen, habe ich bei der Suche nach Belegen für diese Alternante auch die präfigierten Formen der in der ersten Alternante vorkommenden Verben als Suchbegriffe verwendet. Viele der hier verwendeten Formen der Suche ergaben oft noch eine Trefferzahl, die so hoch war, dass sie manuell nicht vollständig durchgesehen werden konnte. In solchen Fällen wurde eine zufällig ausgewählte größere Belegmenge durchgesehen. Trotzdem können die Ergebnisse lediglich einen gewissen Überblick über den Phänomenbereich und die darin auftretende Variation bieten. Deswegen kann beispielsweise auch die Frage, welche Verben in diesen Argumentstrukturmustern nicht auftreten, obwohl sie von ihrer Bedeutung her dafür in Frage kämen, mit der hier verwendeten Methode nicht beantwortet werden. Ebenso wie keine lückenlose Erfassung aller vorkommenden Verben und keine quantitativen Aussagen möglich sind. All das lässt sich nur unter Rückgriff auf die Methode der semiautomatischen Belegreduktion bewerkstelligen, die sich aber zum Zeitpunkt der Untersuchung noch in der Test- und Entwicklungsphase befand. Im Rahmen der Arbeiten am IDS- Projekt „Verben und Argumentstrukturen“ lassen sich die hier mit einer eher introspektiven Vorgehensweise gewonnenen Erkenntnisse zu einem späteren Zeitpunkt sicher mit der verfeinerten Methode der semiautomatischen Belegreduktion validieren. 2.2 Variante 1: etwas aus etwas V en Die erste Variante der Material-Produkt-Alternanz bildet ein dreivalentes Argumentstrukturmuster, in dem das Produkt-Argument durch das direkte Objekt realisiert wird und das Material-Argument durch eine Präpositionalphrase, meist eingeleitet mit der Präposition aus. Diese Alternante ist instanziiert durch die folgenden Belege: (3) Trommeln und Bongos aller Größen können aus Kartonringen und Folie gebastelt werden. (Mannheimer Morgen, 22.5.1996) (4) Hannelore und Jutta bauen ein Kartenhaus aus Bierdeckeln. (Schoof, Renate: In ganz naher Ferne. 2003, S. 79) (5) Aus dem Rohstoff Tageszeitungspapier werden heute Zellulose- Dämmstoffe hergestellt. (Mannheimer Morgen, 31.5.1995) Edeltraud Winkler 206 (6) Um aus einem Stück Messingblech Schallstücke für Trompeten oder Becken formen zu können, braucht der Metallblasinstrumentenmacher ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen. (Frankfurter Rundschau, 13.9.1997) Man findet eine relativ große Anzahl von Verben, die mit dieser Argumentstrukturmustervariante gebraucht werden können, allerdings werden nur wenige und eher allgemeine Kreationsverben häufig verwendet. Das sind bauen, herstellen, machen, fertigen und basteln. Diese Verben decken mit ihrer Bedeutung in etwa auch die Bedeutung des Argumentstrukturmusters ab, die man für die erste Variante der Material-Produkt-Alternanz folgendermaßen umschreiben könnte: jemand stellt aus einem bestimmten Material ein bestimmtes Produkt her. Das ist eine Beobachtung, die als ganz ähnliche Hypothese beispielsweise in einer Arbeit von Stefanowitsch/ Gries (2003) bezüglich der Ditransitiv-/ Transfer-Konstruktion mit give als dominierendem Verb formuliert wurde. Die Verbverteilungen in der zweiten Variante der Material- Produkt-Alternanz stärken eine solche Hypothese ebenfalls. Alle anderen Verben, die meist eine spezifischere Bedeutung haben, kommen in der ersten Variante nur selten vor. Diese spezifischeren Verben gehen oft einher mit einem speziellen Material-Argument oder einem spezifischen Subjekt (vgl. die folgenden Belege (7)-(10)). Allerdings sind solche Verben in den allermeisten Fällen ersetzbar durch eines der allgemeinen Kreationsverben. Belege für die häufig verwendeten allgemeineren Kreationsverben sind unter (3)-(6) aufgeführt, die eher selten vorkommenden, spezifischeren Kreationsverben sind in den folgenden Belegen realisiert: (7) Schmiede hämmern Öfen aus Artilleriegranaten. (Der Spiegel, 17.10.1994) (8) Das dürre Roß Rosinante des Don Quichotte wurde aus Brettern und einem bleichen Pferdeschädel zurechtgezimmert. (Mannheimer Morgen, 8.1.1991) (9) Eiserne Ungetüme fräsen aus Stahl-, Titan- und Aluminiumplatten Werkstücke für Landeklappen. (Der Spiegel, 8.8.1994) (10) Konzentrierte Stille herrschte in einem Gartenpavillon, wo Kinder Modellflugzeuge aus Holzteilen zusammenklebten. (Mannheimer Morgen, 26.9.1995) Die beiden Varianten der Material ll Produkt - Alternanz im Deutschen - 207 Obwohl die Belege (7) und (8) ziemlich spezielle Belegungen für das Material-Argument enthalten und in Beleg (9) ein auffällig belegtes Subjekt realisiert wird, können in allen drei Belegen die hier verwendeten spezifischeren Verben durch sehr allgemeine Kreationsverben wie herstellen, fertigen oder machen ersetzt werden. Umgekehrt ist das nicht immer möglich. In den Belegen (3) oder (5) sind beispielsweise jeweils mehrere verschiedene spezifische Arbeitsgänge zur Herstellung des Produkts nötig. Würde man als Verb nun die Bezeichnung eines dieser spezifischen Arbeitsgänge wählen, dann entstünde ein sachlich nicht korrekter Satz (Trommeln und Bongos können aus Kartonringen und Folie *ausgeschnitten/ *geklebt werden.). In den Belegen für die erste Alternante der Material-Produkt-Alternanz wurden u.a. folgende Verben 3 gelistet, wobei die fünf oben bereits genannten besonders häufig auftraten: bauen, herstellen, machen, fertigen, basteln, anfertigen, errichten, erbauen, erstellen, produzieren, erschaffen, aufbauen, nachbilden, formen, schnitzen, schreinern, drehen, sägen, fräsen, zimmern, gießen, mauern, schneidern, nähen, spinnen, stricken, flechten, kochen, backen, arbeiten, kleben, falten, binden, verfertigen, gestalten, aufschichten, zusammenkleben ... Wie eingangs erwähnt, kann die Präposition, die die Material-PP einleitet, in dieser Alternante auch variieren. Im Regelfall kommt aus vor, es finden sich aber auch einzelne Belege mit von und mit. Die unterschiedliche Vorkommenshäufigkeit der Präpositionen hängt sicher mit ihrer Bedeutung zusammen. Aus wird neben seiner Bedeutung als lokale bzw. temporale Präposition häufig zur Bezeichnung eines Materials verwendet. Für mit oder von wird eine solche Bedeutung in einschlägigen Wörterbüchern gar nicht oder nur an sehr marginaler Stelle angegeben. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie auch in dieser Variante der Material-Produkt-Alternanz nur in geringem Ausmaß auftreten. In einigen Kontexten sind sie jedoch problemlos möglich, vgl.: (11) Übrigens wurde das erste Kreuz mit dem Holz aus dem Chor der alten Kirche gezimmert. (Rhein-Zeitung, 10.5.2002) 3 Sicher werden bei systematischerer Suche noch weitere Verben hinzukommen, es ist aber weder davon auszugehen, dass auch Verben völlig anderer semantischer Verbklassen auftreten, noch dürften sich die quantitativen Verhältnisse grundlegend ändern. Edeltraud Winkler 208 (12) Vom Schloss selbst zeugt nur noch ein Rasengeviert dahinter, denn die SED ließ es abtragen, um mit den Ziegeln Häuser für Heimatvertriebene zu errichten. (Hannoversche Allgemeine, 17.1.2009) (13) Levine, der hauptsächlich mit Sperrholz (plus Styropor und Schaumstoff) großformatige Objekte formt, zählt zu den wichtigen Bildhauern der jüngeren Generation. (Rhein-Zeitung, 12.9.1998) (14) [...] wie beim Campingausflug, wenn auf einsamer Kocherflamme von den Resten aus dem Rucksack ein schmackhaftes Mahl kreiert wird. (Nürnberger Nachrichten, 13.5.1996) (15) Man kann nicht von altem Flachs feine Seide spinnen. (Tiroler Tageszeitung, 28.5.1999) 2.3 Variante 2: etwas zu etwas V en Die zweite Variante der Material-Produkt-Alternanz bildet ein dreivalentes Argumentstrukturmuster, in dem das Material-Argument durch das direkte Objekt realisiert wird und das Produkt-Argument durch eine Präpositionalphrase, die mit der Präposition zu eingeleitet wird. In gewisser Weise betrachtet die zweite Variante der Material-Produkt- Alternanz den gleichen Sachverhalt aus einer anderen Perspektive, wie das bereits die eingangs konstruierten Beispiele unter (1) und (2) deutlich machen. Die Bedeutung dieser zweiten Variante der Alternanz ließe sich etwa folgendermaßen paraphrasieren: jemand verarbeitet ein bestimmtes Material zu einem bestimmten Produkt. Die folgenden Belege illustrieren diese Alternante: (16) Das Holz soll zu Treppen verarbeitet werden. (Berliner Zeitung, 17.1.2008) (17) Kleine Schuldsklaven schneiden Zuckerrohr, das Brasiliens staatlicher Energiekonzern Petrobras zu Treibstoff verarbeitet. (Der Spiegel, 22.11.1993) (18) Lange Schlangen gab's bei Clown Ingo: Der formte Luftballons zu lustigen Figuren. (Braunschweiger Zeitung, 11.9.2010) (19) Gemeinsam geht die Kindergruppe dann auch die Tiere füttern und lernt, wie Wolle zu einem Faden gesponnen wird. (Rhein- Zeitung, 27.5.2009) Die beiden Varianten der Material ll Produkt - Alternanz im Deutschen - 209 (20) Plutonium- und Uranoxid werden zu neuen Brennstäben verbacken, sogenannten Mox-Brennelementen [...]. (Der Spiegel, 22.8.1994) Sucht man nach Belegen für diese Alternante, so fällt als Erstes auf, dass hier viel weniger verschiedene Verblexeme vorkommen als in Variante 1. Dazu kommt noch, dass die meisten von ihnen nur einige Male auftreten, während in der Überzahl aller Belege ein einziges Verb - verarbeiten - vorkommt. Diese Auffälligkeit bestätigt, wie bereits angedeutet, ziemlich klar die von Stefanowitsch/ Gries (2003) aufgestellte Hypothese, dass zwischen einem Argumentstrukturmuster (einer Konstruktion) und dem mit ihm am stärksten assoziierten Verb eine semantische Affinität dergestalt besteht, dass die Bedeutung des Musters bereits in der Verbbedeutung gespiegelt wird. Generell treten in Variante 2 häufig präfigierte Verbformen auf, meist mit dem Präfix ver-, gelegentlich auch mit zer-. Strikt parallele Verbformen, wie sie im Englischen in den beiden Varianten der Material-Produkt-Alternanz anzutreffen sind, kommen im Deutschen nur sehr selten vor, z.B. sind die Beispiele (1) und (2) in Anlehnung an tatsächliche Korpusbelege, nur mit identischer lexikalischer Belegung, konstruiert worden, und im folgenden Beleg sind sogar beide Alternanten in einem Satz unter Verwendung des gleichen Verbs vereint: (21) Mit einer Zange formt er Eisendraht zu Ringen und aus den Ringen ein Kettenhemd. (Rhein-Zeitung, 15.8.2011) Die mit verpräfigierten Verben kommen ausschließlich in dieser zweiten Variante der Material-Produkt-Alternanz vor. Eine Ausnahme bildet das Verb verfertigen, das nur in der ersten Alternante auftreten kann. Der Grund dafür ist sowohl in der Bedeutung des Verbs als auch in seiner Valenz zu suchen. Verfertigen verlangt obligatorisch (auch außerhalb der Material-Produkt-Alternanz) eine Akkusativergänzung, die ein Produkt bezeichnet und in Passivsätzen die Subjektsposition einnimmt. In der zweiten Alternante bezeichnet das Akkusativobjekt aber das Material-Argument (was im Widerspruch zu den semantischen Forderungen von verfertigen steht), und das Produkt kann nur in Form einer Präpositionalphrase realisiert werden. Daher ist verfertigen auf die erste Variante der Material-Produkt-Alternanz beschränkt, vgl. Sätze wie Für Ochsen werden diese Sattelgerippe aus Eichen- oder Buchenholz roh verfertigt (Mannheimer Morgen, 26.6.1991). Edeltraud Winkler 210 In den Belegen für die zweite Alternante der Material-Produkt-Alternanz werden u.a. die folgenden Verben realisiert: verarbeiten, (ver)spinnen, aufschichten, (ver)backen, stecken, falten, türmen, formen, machen, verstricken, verknoten, zerreiben, zusammenschweißen, verschmelzen, verknüpfen, anrühren ... Einige der belegten Verben treten in beiden Alternanten auf, so z.B. ein sehr allgemeines Verb wie machen (vgl. die Beispiele (22) und (23)), aber auch spezifischere Verben wie spinnen (wie in Großmutter saß an diesen Abenden am Spinnrad und spann aus dem festen Flachs des Jahres einen feinen Faden. (Rhein-Zeitung, 14.12.1996) und den Beispielen (19) und (24)), formen (vgl. die Beispiele (6), (13), (18) und (21)), falten (wie in (1) und (2)), anrühren oder aufschichten: (22) Und dann brachten sie mir bei, wie man aus Kartoffelschalen Kartoffelmehl machen kann [...]. (Griesebach, Agnes-Marie: Eine Frau Jahrgang 13. 2000) (23) [...] Holz wird zu Kohle gemacht. (St. Galler Tagblatt, 1.10.1999) In einzelnen Fällen ist es möglich, dass sowohl die unpräfigierte als auch die präfigierte Variante desselben Verbs in der zweiten Alternante vorkommen. Das ist beispielsweise der Fall für spinnen und verspinnen. (24) Die Handlung wurde erweitert und etwas umgeschrieben: Hier heiratet der Prinz die arme Müllerstochter Marie nicht, weil sie angeblich Stroh zu Gold spinnen kann [...]. (Die Rheinpfalz, 11.12.2009) (25) Die Lieferanten von Elsbeth Simmen sind aber ihre Hunde [...], deren Haare sie zu aussergewöhnlicher Wolle verspinnt. (Die Südostschweiz, 22.4.2012) Diese Art von Auffälligkeiten mag darin begründet sein, dass die semantische Besetzung des Arguments, das durch eine Akkusativ-NP realisiert wird, sowohl bei spinnen als auch bei machen nicht in gleicher Weise festgelegt ist wie beispielsweise bei verfertigen. Beide Verben erlauben in dieser Position sowohl ein Material-Argument als auch ein Produkt-Argument. Deshalb kann spinnen in beiden Alternanten auftreten und eben auch alternativ zu verspinnen in der zweiten Variante der Material-Produkt-Alternanz verwendet werden. Die beiden Varianten der Material ll Produkt - Alternanz im Deutschen - 211 Für die zweite Alternante konnte keine Varianz bei der Präposition festgestellt werden, in dieser Variante der Material-Produkt-Alternanz kommt ausschließlich zu vor. Möglicherweise ist die Variation hier auch durch das häufige Vorkommen präfigierter Verben eingeschränkt. 3. Randbereichs- und Übergangsphänomene Sucht man gezielt nach Belegen für die beiden Alternanten der Material-Produkt-Alternanz, trifft man auf eine ganze Reihe von Beispielen, die die Randbereiche dieser Alternanz bzw. die intransitive Variante dieser Alternanz illustrieren, und auf Belege, die Übergänge zu anderen Argumentstrukturmustern bzw. anderen Familien von Argumentstrukturmustern 4 darstellen. Einige dieser Phänomene sollen hier kurz angesprochen werden. (i) Relativ viele Belege sind im Korpus vertreten, die das illustrieren, was Levin (1993) als intransitive Material-Produkt-Alternanz beschreibt (in Abschnitt 1 unter B. zitiert). Die relative Häufigkeit solcher Belege (besonders mit aus) hängt sicher mit der Bedeutung der Präposition zusammen. In einer der Kernbedeutungen wird mit PPn mit aus ein Material, eine Beschaffenheit oder auch ein früheres Entwicklungsstadium bezeichnet. Das sind genau die Bedeutungen, die in der intransitiven (wie auch der transitiven) Material-Produkt-Alternanz zum Ausdruck gebracht werden. Belege wie die folgenden sind Instanzen der intransitiven Variante der Material-Produkt-Alternanz: (26) Das Ozon im erdnahen Bereich [...] entsteht unter Wärmeeinwirkung aus Kohlenwasserstoffen und Stickoxiden. (Mannheimer Morgen, 1.7.1995) (27) Mit Hilfe einer Form entstehen aus gekardeter Wolle und Seife wetterfeste Kleidungsstücke. (St. Galler Tagblatt, 21.8.1998) (28) IG-Metall-Chef Zwickel hat [...] gezeigt, wie aus Worten Taten erwachsen können. (Mannheimer Morgen, 15.1.1996) 4 Es wird hier auf einen Begriff von Familienähnlichkeit zurückgegriffen, wie er in Engelberg et al. (2011), Winkler/ Boldojar (2014) und Proost/ Winkler (2015) erläutert wird. Familienähnlichkeit wird dabei im Wittgenstein'schen Sinne gebraucht und nicht als hierarchisch geordnete Beziehung verstanden. Edeltraud Winkler 212 Belege wie diese weisen eine starke Ähnlichkeit zu der oben behandelten transitiven Material-Produkt-Alternanz auf. Sie haben lediglich kein Agens-Argument, und das Subjekt bezeichnet das Produkt, was in der transitiven Variante durch das Akkusativobjekt realisiert wird. In Sätzen der ersten Alternante der intransitiven Material-Produkt- Alternanz, also solchen mit aus-PPn, treten Verben wie entstehen, bilden, erwachsen oder werden auf. (ii) Eine andere Art von Sätzen, die häufiger belegt sind und die ebenfalls eine gewisse Ähnlichkeit mit der Material-Produkt-Alternanz, insbesondere mit ihrer intransitiven Variante, aufweisen, sind solche, deren Satzbedeutung lediglich zum Ausdruck bringt, dass etwas aus einem bestimmten Material besteht, eine bestimmte Beschaffenheit hat. Das sind Sätze, in denen vorwiegend die Verben bestehen oder sein verwendet werden, wie z.B. die folgenden: (29) Dann gibt man das Dressing darüber. Es besteht aus Olivenöl, Essig, vielleicht etwas Zitrone, Salz, Pfeffer und Senf. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 8.8.2013) (30) Das Fernsehmagazin „tele“, das wöchentlich auch den SN beiliegt, wird ab sofort auf Umweltschutzpapier gedruckt. Es besteht zu 80 Prozent aus Altpapier und wird gleichzeitig chlorfrei gebleicht. (Salzburger Nachrichten, 30.1.1993) (31) Spielgeräte und Bänke sind aus Robinienholz. (Berliner Zeitung, 22.6.1998) (32) Die Mosaikplatte war in Messing gefaßt. Selbst die Tischbeine waren aus Messing. (Walser, Martin: Ehen in Philippsburg. 1985) Sätze wie diese enthalten Präpositionalphrasen mit aus in einer ihrer typischen Verwendungsweisen und Bedeutungen. Die Präposition aus wird typischerweise benutzt, um ein Material anzugeben; das wird in den Wörterbüchern als eine ihrer Standardbedeutungen aufgeführt. Und genau in diesem Sinne wird die Präposition hier verwendet. 5 5 In der Duden-Grammatik (Duden 2006, S. 612) wird aus, wenn es wie in den Beispielen (31) und (32) verwendet wird, den modalen Präpositionen zur Bezeichnung der Art und Weise zugerechnet. Die beiden Varianten der Material ll Produkt - Alternanz im Deutschen - 213 (iii) Schließlich finden sich auch Belege, die gewissermaßen eine andere Blickrichtung beschreiben. Dabei handelt es sich oft um Sätze, in denen es darum geht, dass ein Produkt hergestellt wird, indem etwas aus etwas Anderem (das eigentlich selbst schon ein Produkt ist, aber in diesem Fall als Material benutzt wird) entfernt wird. Solche Sätze kann man aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Unter dem Gesichtspunkt, dass aus einem „manipulierten Objekt“ ein neues Produkt entsteht, hat dieses Muster Ähnlichkeit mit den oben beschriebenen Argumentstrukturmustern der Material-Produkt-Alternanz. 6 Unter dem Aspekt, dass etwas aus etwas entfernt wird, weist es Ähnlichkeiten mit bestimmten Ausprägungen deutscher Doppel-Objekt-Konstruktionen auf. (Für eine genauere Beschreibung dieser Varianten der Doppel-Objekt-Konstruktion vgl. Proost (2014).) Es handelt sich um Sätze wie die folgenden: (33) Sie [Silicium-Mesadioden, E.W.] waren aus diffundierten und mit Kontaktierungsschichten versehenen Wafern mit Ultraschall herausgesägt worden. (Wissenschaftliche Berichte, 1971) (34) Die Phantasie der Kubaner kennt kaum Grenzen, wenn es darum geht, ein Fluchtgefährt zu bauen. Ruderblätter schneiden sie aus Blechtabletts. (Der Spiegel, 29.8.1994) Belege wie diese weisen nur noch eine sehr schwache Ähnlichkeit mit den Argumentstrukturmustern der Material-Produkt-Alternanz auf, sie bilden aber das Bindeglied zu anderen Familien von Argumentstrukturmustern, in diesem Fall zu den deutschen Doppel-Objekt- Konstruktionen. 4. Fazit Auf Grund der hier gewählten Vorgehensweise und der nicht-exhaustiven Suche nach Belegen lassen sich für die beiden Varianten der transitiven Material-Produkt-Alternanz nur einzelne tendenzielle Aussagen treffen. Das Spektrum der Verben, die in den beiden Alternanten vorkommen, ist auf Verben des Umbildens und Umformens bzw. auf Kreationsverben ganz allgemeiner Art beschränkt. Allerdings waren 6 Wobei man sich natürlich fragen kann, ob in Sätzen wie den hier angeführten tatsächlich die Materiallesart für die aus-PP im Vordergrund steht oder ob diese sich nicht mit einer eher lokalen Lesart von aus überlappt. Edeltraud Winkler 214 es in den meisten Fällen unterschiedliche Verben dieser semantischen Klassen, die in der einen bzw. der anderen Alternante vorkommen. Nur wenige Vertreter dieser semantischen Verbklassen sind in beiden Alternanten belegt. Das mag zum Teil mit den Valenzforderungen der einzelnen Verben zusammenhängen, es ist aber nicht ausgeschlossen, dass sich nach systematischerer und exhaustiver Recherche ein etwas anderes Bild ergibt. Belege mit den untersuchten Argumentstrukturmustern, die Verben anderer semantischer Verbklassen enthalten, konnten nicht ermittelt werden. In der zweiten Variante der Alternanz kamen deutlich weniger Verben vor als in der ersten, dafür traten in der zweiten Variante mehr präfigierte Verben auf (hauptsächlich mit ver-). Varianz gibt es bei der Belegung der Präposition, allerdings nur in der ersten Alternante. Hier kommen neben aus auch mit und von vor. Die fehlende Varianz in der zweiten Alternante hängt möglicherweise mit der Dominanz des Verbs verarbeiten zusammen, das die Präposition zu verlangt. Die Belegungen für das Material- und das Produkt-Argument wurden nicht im Einzelnen analysiert; wenn man sich die extrahierten Belege aber einmal daraufhin anschaut, lässt sich sagen, dass sie unterschiedlich komplexer Natur sein können - vom einfachen Rohstoff bis zum eigentlich schon produkthaft komplexen „Material“, vom simplen Halbfertigprodukt bis zum hochkomplexen, aus vielen Teilen bestehenden und in vielen Arbeitsgängen hergestellten Endprodukt. Der Blick auf die Randbereiche dieser Alternanz und auf bestimmte Übergangsphänomene hat gezeigt, dass die untersuchten Argumentstrukturmuster in mehr oder weniger engen Beziehungen zu anderen, ähnlichen Argumentstrukturmustern stehen, was sich sehr gut über Beziehungen der Familienähnlichkeit erfassen und zu netzartigen Strukturen zusammenfassen lässt, aber an dieser Stelle aus Platzgründen nicht mehr dargestellt werden konnte. Innerhalb eines solchen Netzes bilden sich verschiedene Cluster, die sich teilweise überlappen können, und es gibt einzelne Argumentstrukturmuster, die Ähnlichkeitsbeziehungen zu Argumentstrukturmustern verschiedener Cluster aufweisen. Die beiden Varianten der Material ll Produkt - Alternanz im Deutschen - 215 Literatur Cosma, Ruxandra/ Engelberg, Stefan/ Schlotthauer, Susan/ Stănescu, Speranţa/ Zifonun, Gisela (Hg.) (2014): Komplexe Argumentstrukturen. Kontrastive Untersuchungen zum Deutschen, Rumänischen und Englischen. (= Konvergenz und Divergenz 3). Berlin/ Boston. DeReKo: Deutsches Referenzkorpus / Archiv der Korpora geschriebener Gegenwartssprache. www.ids-mannheim.de/ DeReKo. Dixon, Robert Malcom Ward (2005): A semantic approach to English grammar. 2. Aufl. Oxford. Duden (2006): Der Duden in zwölf Bänden. Bd. 4: Die Grammatik. Mannheim. [Den neuen Rechtschreibregeln angepasster Neudruck der 7. Aufl. 2005]. Engelberg, Stefan/ König, Svenja/ Proost, Kristel/ Winkler, Edeltraud (2011): Argumentstrukturmuster als Konstruktionen? Identität - Verwandtschaft - Idiosynkrasien. In: Engelberg, Stefan/ Holler, Anke/ Proost, Kristel (Hg.): Sprachliches Wissen zwischen Lexikon und Grammatik. (= Jahrbuch 2010 des Instituts für Deutsche Sprache). Berlin/ Boston, S. 71-112. Levin, Beth (1993): English verb classes and alternations. A preliminary investigation. Chicago/ London. Port, Martin (2010): Omitted arguments and complexity of predication. Diss., The City University of New York. 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CARMEN MELLADO BLANCO PHRASEM - KONSTRUKTIONEN UND LEXIKALISCHE IDIOM - VARIANTEN DER FALL DER KOMPARATIVEN PHRASEME DES DEUTSCHEN 1 Untersuchungsgegenstand der Studie sind die Phrasem-Konstruktionen (Ph-K) ‒ in der Phraseologieforschung auch „Phraseoschablonen“ genannt, wobei ich konkret auf die phraseologische Klasse der festen Vergleiche und auf das Thema der phraseologischen Derivation durch lexikalische Substitution eingehen werde. Nach einer Einführung in die Beziehung zwischen Konstruktionsgrammatik (KG) und Phraseologie soll im darauffolgenden Abschnitt anhand des Idioms von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag und dessen lexikalischen Varianten die Grenzunschärfe zwischen festen lexikalisierten Phraseologismen und freien Idiomvarianten veranschaulicht werden. Die Produktivität und Serienhaftigkeit der dem Idiom zugrunde liegenden Struktur „X versteht von Y (ungefähr) so viel wie Z von W“ führt zur Postulierung der Ph-K [von N1 so viel V [KOGN] wie die Kuh von (DET Dat ) N2/ N Inf ] und ihrer Variante [von N1 so viel V [KOGN] wie DER X TIER von (DER Dat ) N2] als Form-Bedeutungspaare mit der pragmatisierten Bedeutung ‘von etw. absolut nichts verstehen’. 1. Konstruktionsgrammatik und Phraseologie Es steht fest, dass sowohl in der neuen Valenztheorie (vgl. Ágel 2004) als auch in der Konstruktionsgrammatikforschung der Ausgangspunkt zur Beschreibung der Sprache die Annahme ist, dass alles in der Sprache mehr oder weniger „fest“ oder „schematisiert“ ist. Einige Linguisten der KG plädieren sogar in diesem Zusammenhang für eine Forschungsrichtung auf der Basis von Phraseologismen (vgl. Feilke 2004, S. 64). Es ist also eine Entwicklung des konstruktionsgrammatischen Modells in Richtung phraseologischer Forschung zu beobachten, die den Anfang einer lexikalischen Wende zu signalisieren scheint (Foolen 2008, S. 8f.). 1 Diese Arbeit ist im Rahmen des von mir geleiteten Forschungsprojekts FFI2013- 45769-P Combinaciones fraseológicas del alemán de estructura [ PREP . + SUST .]: patrones sintagmáticos, descripción lexicográfica y correspondencias en español entstanden. Carmen Mellado Blanco 218 Diese Ansicht hat den Vorteil, dass Forschungsergebnisse aus der Phraseologie und der KG unter einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können, wie z.B. jene bezüglich der Phraseoschablonen oder Ph-K (siehe Abschitt 3). Darüber hinaus bieten die theoretischen Prinzipien der KG der Phraseologieforschung einen fruchtbaren Boden zur Klärung der gegenseitigen Dependenz von Syntax und Bedeutung und sind in diesem Sinne nützlicher als die Valenztheorie. Im Vergleich zu den traditionellen Postulaten der Valenztheorie und ihrer Präferenz für morphosyntaktische Fragen bietet die KG aufgrund der von ihr verteidigten zentralen Rolle der Semantik 2 und Pragmatik einen günstigeren Rahmen zur semantischen Beschreibung der Phraseme. Weitere Ansichten der Vertreter der KG, die den Fortschritt der Phraseologieforschung begünstigen können, lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1) Die KG strebt ‒ im Gegensatz zur Valenztheorie ‒ nicht die Formulierung von allgemein gültigen Grammatikregeln an, sondern sie zielt eher auf die individualisierte Beschreibung jeder einzelnen Konstruktion. 2) Sowohl bei der KG als auch bei der Phraseologieforschung spielt die Schematisierung im Sinne von Frequenz und Reproduzierbarkeit eine wichtige Rolle. 3 Das Definitionsmerkmal der Schematisierung steht im engen Zusammenhang mit dem der Lexikalisierung der Phraseme. 4 3) Der kreative Umgang mit der Sprache („die kreative Syntax“ nach Foolen 2008, S. 5), der in den Prinzipien der Valenztheorie kaum Platz hatte, wird in der KG als „normal“ angesehen und deskriptiv erfasst. 4) Phraseme (PH) liegen im Grenzbereich zwischen Lexikon und Grammatik: Einerseits verhalten sie sich lexikalisch und semantisch 2 Für Lasch/ Ziem (2007, S. 7) sind Konstruktionsgrammatiken „im Kern Bedeutungstheorien“. 3 In diesem Sinne behauptet Schneider (2011): „Sprachliche Schemata entstehen durch Iteration von Zeichen im sozialen Gebrauch. Ein Unterschied zwischen einer Konstruktion (= einer schematisierten Einheit) und einem reinen Performanzphänomen besteht also [...] in der Rekurrenz, der Frequenz der betreffenden syntaktischen Struktur.“ 4 Nach Fleischer (1997, S. 63) bedeutet die Lexikalisierung der syntaktischen Konstruktion, dass ein Phrasem in der Äußerung nicht nach einem syntaktischen Strukturmodell „produziert“ sondern als „fertige lexikalische Einheit reproduziert“ wird. Phrasem - Konstruktionen und lexikalische Idiom - Varianten 219 aufgrund ihrer nicht summativen Bedeutung wie Lexikoneinheiten, andererseits weisen sie als mehrgliedrige Strukturen morphosyntaktische Merkmale und Rektionseigenschaften wie die freien Wortverbindungen auf. Die Aufhebung der Grenzen zwischen Lexikon und Grammatik, für die die KG im Rahmen des Lexikon- Grammatik-Kontinuums plädiert, bietet sich für die Beschreibung von PH geradezu an und kann ebenso einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der Beziehung zwischen lexikalisierten Varianten und festen Idiomen leisten (siehe Abschnitt 2). 5) In der Konstruktionsgrammatik besitzen PH keinen marginalen Status (Günthner/ Imo 2006), d.h. idiomatische Phraseme gelten nicht als Sonderphänomene, sondern als „normale Erscheinungen“ der Sprache, auch wenn sie nicht immer auf Satzbaupläne reduziert werden können. Nicht alle Phrasemtypen eignen sich allerdings in gleichem Maße für die konstruktionsgrammatische Analyse. In einigen Bereichen der Phraseologie (z.B. bei Idiomen oder Routineformeln) scheinen die traditionellen lexikonbasierten Herangehensweisen akzeptabel zu sein (Dobrovol'skij 2012, S. 302), weil solche Einheiten einen hohen Grad an lexikalischer Spezifizierung und einen niedrigen Grad an Modellhaftigkeit aufweisen. Demgegenüber bilden Parömien 5 (z.B. Lieber Vorsorge als Nachsorge) und Phraseoschablonen (z.B. Raus mit dir/ euch/ ...! ) wegen ihrer Schematisierung und ihrer vorgeprägten pragmatischen Bedeutung einen interessanten Untersuchungsgegenstand für die KG. Nach Dobrovol'skij (ebd., S. 303) sind die Methoden der KG besonders in den Fällen erfolgversprechend, in denen das syntaktische Pattern selbst eine Bedeutung hat, so dass auch außerhalb des Lexikons in der traditionellen Auffassung Form- Bedeutungspaare zu verzeichnen sind, die gleichzeitig syntaktische Patterns und Elemente des Lexikons darstellen. Bei Phraseoschablonen oder Ph-K handelt es sich, im Gegensatz zu den Parömien, um Phraseme, die nicht lexikalisch fest „eingefroren“ sind, was sie in einem Grenzbereich zwischen Phraseologie und KG 5 Man denke im Falle der Parömien an rekurrente Strukturen wie „lieber X als Y“ (z.B. Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach; Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende) oder „X ist gut, Y ist besser“ (z.B. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser). Zum Thema der Grammatik und Modelle der deutschen Parömien siehe Grzybek (2000, S. 22). Carmen Mellado Blanco 220 platziert (vgl. Mellado Blanco 2015a, 2015b). Aus einer lexikografischen Perspektive stellt gerade die partielle Unspezifizität der lexikalischen Komponenten der Ph-K ein großes Hindernis für ihre Lemmatisierung in den Wörterbüchern dar, wie wir bei der Erstellung des Lexikons (Schemann et al. 2013) konstatieren konnten. 2. Was sind Phrasem - Konstruktionen? Was man heute unter dem Terminus „Phrasem-Konstruktion“ (Dobrovol'skij 2011b, S. 114) versteht, ist seit den 1970er Jahren unter folgenden Termini bekannt: „Phraseoschablonen“ (Fleischer 1997; Donalies 2009), „modellierte Bildungen“ (Černyševa 1975), „phraseologische syntaktische Schemata“ (Schindler 1996, S. 238f.), „Modellbildungen“ (Häusermann 1997, S. 30; Burger 2010, S. 45), „lexikalisch offene Idiome“ („lexically open idioms“, Fillmore/ Kay/ O'Connor 1988), „Konstruktionsidiome“ („constructional idioms“, Taylor 2002), und „idiomatische Konstruktionsmuster“ (Finkbeiner 2008, S. 218). Bereits 1975 postulierte die russische Germanistin I. Černyševa die Existenz von „modellierten Bildungen“ in der Phraseologie, unter denen sich z.B. Funktionsverbgefüge und formale Strukturen vom Typ [EIN Nom N von (EIN Dat ) N] (z.B. ein Baum von (einem) Kerl) oder [A V SEIN A] (z.B. Sicher ist sicher) befinden sollten. Diese Vorstellung der Modellierbarkeit war für die ersten Phraseologieforscher eng mit dem Konzept der Marginalität verbunden, so dass Modellbildungen aufgrund ihrer Serienhaftigkeit im Gegensatz zu den Idiomen als peripher ‒ also nicht als zum Kernbestand der Phraseologie gehörend ‒ betrachtet wurden. Möglicherweise ist „Phraseoschablone“ der bis jetzt am weitesten verbreitete Begriff, um Bezug auf syntaktische Strukturen zu nehmen, „deren lexikalische Füllung variabel ist, die aber eine Art »syntaktische Idiomatizität« aufweisen“ (Fleischer 1997, S. 131). Konstruktionen dieser Art kennzeichnen sich durch eine festgeprägte Modellbedeutung, d.h. dass die allgemeine Bedeutung der Strukturen, unabhängig von ihrer lexikalischen Ausfüllung in der Rede, durch die Bedeutung des Modells in groben Zügen vorbestimmt ist. Wie auch der Rest der Konstruktionen und der PH ist eine Ph-K ein „konventionalisiertes Form- Bedeutungspaar“ (vgl. Fischer 2006, S. 343), dessen Bedeutung sich nicht aus den Bedeutungen seiner Teile ergibt. Als Form-Bedeutungspaare besitzen Ph-K darüber hinaus eine verallgemeinernde Bedeutung, die in der Regel stark pragmatisiert erscheint (vgl. die „syntakti- Phrasem - Konstruktionen und lexikalische Idiom - Varianten 221 schen Ausdrucksmodelle mit pragmatischer Prägung“ von Feilke 1996, S. 240ff.), wie z.B. bei [aus welchen N <Pl>U R S A C H E / M O T I V auch immer]. 6 Auf die starke Bindung zwischen Pragmatik, Semantik und Grammatik bei Konstruktionen nimmt Fischer (2006, S. 344) im folgenden Zitat Bezug: [...] gibt es zunehmend Studien aus dem Bereich der Interaktionalen Linguistik, die zeigen, dass die Verwendungsbedingungen von Konstruktionen sowie ihre Bedeutungsanteile in hohem Maße interaktiv definiert sind und dieses interaktionale Verwendungswissen Teil des grammatischen Wissens ist. Nach der Definition von Dobrovol'skij (2011, S. 114) haben Ph-K als Ganzes außerdem eine lexikalische Bedeutung, wobei bestimmte Stellen in ihrer syntaktischen Struktur „lexikalisch besetzt sind, während andere Slots darstellen, die gefüllt werden müssen, indem ihre Besetzung lexikalisch frei ist und nur bestimmten semantischen Restriktionen unterliegt“. Wie oben bereits angemerkt, werden solche Konstruktionen durch die Flexibilität bei der Aktualisierung von bestimmten Leerstellen sowie durch die Produktivität 7 ihrer Struktur in den Grenzbereich zwischen freien lexikalischen Ketten (Syntax) und Lexikoneinheiten (Lexikon) eingeordnet. Aus diesem Grund rücken Ph-K oder Modellbildungen im Sinne von Černyševa (1975, siehe oben) sowie feste Vergleiche und Zwillingsformeln (z.B. fix und fertig) an den Rand der Phraseologie und gelten diese PH heute noch als „spezielle Klassen“ (Burger 2010, S. 44-47) des Phraseologiebestandes, während Idiome aufgrund der „Unikalität“, Idiomatizität und Unvorhersagbarkeit ihrer Bedeutung die Zentralkategorie der phraseologischen Einheiten darstellen (vgl. Fleischer 1997, S. 193; Mellado Blanco 2004, S. 21f.). Einige Beispiele für Phraseoschablonen bzw. Ph-K sind folgende: 8 6 Steyer (2013) spricht in diesem Fall von einem „kausalen WV[Wortverbindungs]- Muster“ mit der Bedeutung ‘Ein Sachverhalt ist gegeben, obwohl die Ursachen oder Motive nicht bekannt oder nachvollziehbar sind’. Mit diesem bewussten Offenlassen drückt der Sprecher als kommunikative Funktion eine gewisse distanz , einen zweifel bzw. sogar eine zurÜckweisung aus. Mögliche lexikalische N-Füller des WV-Musters sind nach der Korpusanalyse von Steyer: Grund, Absicht, Anlass, Bedingung, Beweggrund, Erwägung, Motiv, Quelle (zum pragmatischen Charakter der Wortverbindungsmuster vgl. auch Steyer 2009). 7 Fleischer (1997, S. 194) spricht dabei von „produktiven Modellen der Synthese“. 8 Über die Satzgrenze hinaus können Phraseoschablonen zum „formelhaften Text“ (Gülich 1997, S. 148) werden: Todesanzeigen, Glückwünsche, Einladungen, Koch- Carmen Mellado Blanco 222 - [EIN Nom N1 von (EIN Dat ) N2]: ein Baum von (einem) Kerl 9 - [A V SEIN A]: Sicher ist sicher - [N1 Sg der N1 Pl ]: Buch der Bücher - [so EIN N1! ]: So eine Überraschung! - [N1 an N1]: Schulter an Schulter, r Seite an Seite - [Was SUBJ nicht alles V! ]: Was du nicht alles weißt! Aus einer terminologischen Perspektive können Ph-K im Rahmen der KG in die Gruppe der „lexikalisch teilspezifizierten Konstruktionen“ eingeordnet werden. In der von Deppermann (2006, S. 48) erstellten Typologie nach dem Grad der Schematisierung der Konstruktionen würden Ph-K eine mittlere Position zwischen festen Idiomen und grammatischen Konstruktionen ohne lexikalische Spezifizität (Typ 2) einnehmen: 1) Lexikalisch vollspezifizierte Konstruktionen (lexikalisch fixierte und invariable Phraseologismen). Auf der Lexikon-Grammatik- Achse befinden sie sich am Pol des Lexikons. Ein Beispiel ist das Phrasem ins Gras beißen. 2) Lexikalisch teilspezifizierte Konstruktionen (z.B. typisch N). 3) Voll schematisierte Konstruktionen (z.B. ditransitive Konstruktionen). Aufgrund ihrer fehlenden lexikalischen Spezifizität zählen diese Konstruktionen nicht zum Untersuchungsgegenstand der Phraseologie. Diese Strukturen mit dem höchsten Abstraktions- und Produktivitätsgrad befinden sich am grammatischen Pol auf der Lexikon-Grammatik-Achse (vgl. Dobrovol'skij 2011, S. 113). rezepte, Slogans, Horoskope, Buchrezensionen etc. Gülich (ebd.) versteht die Phraseoschablonen ‒ als syntaktische Schemata mit einer typisierten Semantik ‒ im weiteren Sinne und unternimmt den Versuch, den Beschreibungsrahmen der Phraseologie auf die Textebene auszuweiten. 9 Zum Wert der Präposition dt. von / engl. of bei der Konstruktion dt. f ein Baum von (einem) Kerl / engl. a bear of a man vgl. Leys (1997, S. 30ff.) und Foolen (2004, S. 90ff.). Bei der Idiomatisierung von Ph-K kommt sowohl den Präpositionen als auch anderen Synsemantika eine wichtige Rolle zu, indem sie den Ph-K eine Modellbedeutung verleihen: von Jahr zu Jahr, r von Tag zu Tag (von S TEMP zu S TEMP  ‘immer mehr’); mit Kind und Kegel, mit Ach und Krach (Addition durch und = Intensivierung der Bedeutung). Phrasem - Konstruktionen und lexikalische Idiom - Varianten 223 3. Feste Vergleiche als Phrasem-Konstruktionen: der feste Vergleich von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag 3.1 Der feste Vergleich von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag und seine lexikalischen Varianten g Feste Vergleiche besitzen anhand ihrer komparativen Struktur (Partikel wie + N) eine intensivierende Modellbedeutung. Die Vergleichsstruktur als „Modellform“ weist auf die Verstärkung der referenziellen Bedeutung des tertium comparationis hin. In diesem Sinne könnte man behaupten, dass die Vergleichspartikel in den phraseologischen Vergleichen als Ikon für die expressive Bedeutung fungiert (vgl. Mellado Blanco 2010) und dass der Ausdruck des höchsten Grades schon in der reinen Form des Vergleichs liegt (vgl. Moreira Flores 2004, S. 231). In der Strukturformel des Vergleichs (z.B. bei: Peter wird oft so rot wie eine Tomate) deuten das Adverb so und die Konjunktion wie gern die verstärkende Funktion an (vgl. Schemann 2003, S. 116); es liegt also eine strukturell-semantische Invariante <X ist so (Z) wie Y>, die auf die Bedeutungskomponente ‘sehr’ hindeutet, vor. Wie bei den übrigen Phrasem-Konstruktionsmustern bezieht sich bei festen Vergleichen die Modellbedeutung hauptsächlich auf „die Bedeutung der Intensivierung, die ihnen aufgeprägt ist“ (Fleischer 1997, S. 131). Der Modellcharakter der komparativen Phraseme zeichnet sich also durch ihre verstärkende Bedeutung aus, die in einem gewissen Grade durch die Struktur vorgegeben ist. Der Unterschied zwischen festen und freien Vergleichen liegt m.E. gerade in der Bedeutung: Während freie Vergleiche unter einem logischsemantischen Gesichtspunkt relationale Strukturen darstellen (z.B. in der Äußerung Peter ist so groß wie Martina) und bei ihnen die Vergleichsgröße comparandum (auch Vergleichsobjekt: Peter) und comparatum (auch Vergleichsmaß: Martina) hinsichtlich eines gemeinsamen Merkmals (Tertium Comparationis, hier: Größe) tatsächlich verglichen werden, liegt bei festen Vergleichen kein wirklicher Vergleich des Propositionsinhaltes vor. Es handelt sich dabei vielmehr, wie oben bereits erwähnt, um eine Intensivierung des Tertium Comparationis (z.B. bei Deine Schwester ist dumm wie Bohnenstroh = ‘sehr dumm’). Carmen Mellado Blanco 224 Wenngleich traditionellerweise die Sonderklasse der phraseologischen Vergleiche aufgrund ihrer lexikalischen Vollspezifizität nicht als Subklasse der Gruppe der Phraseoschablonen angesehen wird, 10 finden sich bei einigen festen Vergleichen Anzeichen von Produktivität und Serienhaftigkeit, die größtenteils durch lexikalische Variation bzw. Substitution bedingt sind. So erscheinen in den Lexika neben dem komparativen PH von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag 11 (durch 821.200 Internettreffer (I.) belegt) 12 weitere lexikalisierte Varianten wie von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Radfahren (773 I.) / wie die Kuh vom Brezelbacken (314 I.). Das Phänomen der Zerlegbarkeit der phraseologischen Konstituenten und der darauf basierenden Variantenbildung scheint in der Phraseologie nicht ungewöhnlich zu sein. So behauptete Häusermann (1977, S. 83) bereits in den ersten Jahren der deutschen Phraseologieforschung „[e]s muss [...] von jedem Frasmus, 13 der heute noch unteilbar ist, erwartet werden, dass er morgen zu zerfallen anfängt“, was m.E. schon damals die These eines Lexikon-Grammatik-Kontinuums in der Phraseologie andeutete. Die Reduzierung der Idiomatizität und somit der lexikalischen Vollspezifizität ist in diesem Sinne in der Tat mit der Fähigkeit der Variantenbildung eng verbunden. Der Entstehungsprozess der Varianten des phraseologischen Vergleichs von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag beruht wie das Originalphrasem selbst auf dem semantischen Prinzip der Antiphrase, 14 die bei allen Varianten als eine Art von logisch-semantischer Invariante mit 10 Eine Ausnahme bilden Häusermann (1977, S. 33) und Hundt (2005, S. 128). Hundt erkennt den festen Vergleichen den Status von „strukturell-semantischen Modellen“ zu: „Das strukturell-semantische Modell wird vom Sprecher als Schablone reproduziert.“ 11 Lemmatisierte Form aus der Idiomatik Deutsch-Spanisch (Schemann et al. 2013, S. 524). Ebenso in Duden (2002), Röhrich (2004) und Schemann (2011, 2012) kodifiziert. 12 Die lexikalischen Realisierungen der im vorliegenden Beitrag behandelten Konstruktion erscheinen vorwiegend in der mündlichen Sprache. Aus diesem Grund wurden für die Studie hauptsächlich Internetbelege aus Foren und Chats berücksichtigt. Zum Nutzen von Internetbelegen aus Foren und Chats für die Untersuchung der konzeptionellen Mündlichkeit vgl. Kleinberger Günther (2006) und Mellado Blanco (2012, S. 180). 13 Mit Frasmus ist bei Häusermann Phrasem/ Phraseologismus gemeint. Phrasem - Konstruktionen und lexikalische Idiom - Varianten 225 fester Struktur angesehen werden darf. Nach dieser logisch-semantischen Invariante werden neue lexikalische Einheiten 15 (z.B. sich in etw. auskennen wie das Schwein in den Apfelsinen, von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Seiltanzen ...) geschaffen, von denen wohl nur wenige den kompletten Lexikalisierungsgrad erreichen bzw. Eingang in die Wörterbücher finden. Die Struktur des Vergleichsmaßes (wie die Kuh von/ vom ...) ist im Grunde genommen ein verkürzter Vergleichssatz, dessen Bedeutung einen impliziten Widerspruch mit der Bedeutung der verbalen Konstituenten des Vergleichs aufweist: Kuh + eine Fähigkeit, die die Kuh per definitionem nicht hat. Der Widerspruch wirkt sich auf die gesamte Bedeutung des Vergleichs unter der Form einer semantischen Verstärkung der negativen Polarität aus. Diese Lexikoneinheit kann anhand ihrer verstärkenden Bedeutung als mehrgliedriger lexikalischer „Lückenfüller“ (vgl. Proost 2006, S. 66 zum Idiom schreien wie am Spieß) angesehen werden, da im Deutschen kein monolexematisches Verb mit der Bedeutung ‘von etw. absolut nichts verstehen’ vorhanden ist. Nicht alle Varianten des Vergleichs von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag erscheinen in den deutschen Wörterbüchern. Durch eine schnelle Internetrecherche kann man allerdings unmittelbar zu zahlreichen durch Derivation 16 entstandenen Varianten des PHs gelangen, 14 Fleischer (1997, S. 106) nennt solche antiphrasischen PH, wie z.B. so gut passen wie dem Ochsen ein Sattel, „Vergleiche in der Funktion einer indirekten Verneinung“, Glovňa (1992, S. 51) „ironische phraseologische Vergleiche“ und Hessky (1987, S. 199) „nichtstimmige Vergleiche“. Antiphrasische Vergleiche zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Eigenschaft einer Vergleichsgröße suggerieren, die diese de facto nicht hat (im Beispiel: die vermeintliche Klugheit einer Kuh). Durch Antiphrase - als besonderen Ironietypus ‒ wird genau das Gegenteil von dem gemeint, was die Äußerung wörtlich bedeutet (in den phraseologischen Vergleichen z.B. zu etw. gut passen, sich in etw. gut auskennen, von etw. viel verstehen usw.) (vgl. Mellado Blanco 2010). 15 Ebenfalls in diese Gruppe gehört der lexikalisierte Vergleich von etw. reden wie der Blinde von der Farbe. 16 Die Feststellung von phraseologischen Varianten bei den komparativen PH scheint der Ansicht einiger Phraseologen zu widersprechen, dass phraseologische Vergleiche ganz fest lexikalisierte Einheiten seien. So behauptet Hundt (2005, S. 128): „Der Komponentenbestand kompPHR weist ‒ wie der anderer Phraseologismen ‒ eine relative lexikalisch-semantische und syntaktische Stabilität auf [...]: Die Austauschbarkeit der Komponenten ist restringiert, sonst geht die phraseologische Lesart verloren, und zwar auch bei Vergleichen, die auf objektiven semantischen Beziehungsverhältnissen zwischen dem Vergleichsobjekt bzw. dem angenommenen Tertium Comparationis und dem Vergleichsmaß beruhen. Inusuell und verfremdend ist z.B. der Vergleich »rot wie Paprika«.“ Systemlinguistische Festigkeit und Entwicklung Carmen Mellado Blanco 226 die trotz der relativ hohen Trefferzahlen in keinem Lexikon anzutreffen sind, 17 wie es bei den folgenden Varianten der Fall ist: von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Eierlegen (40.770 I.) / wie die Kuh vom Fliegen (8.060 I.) / wie die Kuh vom Rückenschwimmen (4.060 I.) / wie die Kuh vom Tanzen (4.000 I.) / wie die Kuh vom Tauchen (806 I.) / wie die Kuh vom Seiltanzen 18 (201 I.) / wie die Kuh vom Stricken (178 I.). Sowohl etablierte als auch nicht lexikalisierte Vergleichsvarianten verdanken ihre Bildung dem Bestreben der Sprecher nach Kreativität und Bedeutungsverstärkung, die bei emotional envolvierten Äußerungen wichtige Faktoren sind, wie Fleischer (1997, S. 105) feststellt: „Wörter für Begriffe, die eng mit Emotionen verbunden sind, eignen sich besonders gut zur Verwendung in expressiv-verstärkenden Vergleichskonstruktionen.“ Der kreative Umgang mit den Phrasemen kann anhand von absurden Bildern (siehe die obigen Beispiele) zu humorvollen Bildungen führen: Je ungewöhlicher und absurder das Bild, desto stärker die Expressivität der Konstruktion und die Wirkung des höchsten Grades (vgl. Moreira Flores 2004, S. 229). 19 Auf diese Art und Weise werden in der Sprache expressive Alternativen zu den lexikalisierten Vergleichen begünstigt, die selbst ebenfalls expressiv sind. Es gibt bestimmte semantische Felder, die eine besondere Neigung zur Variantenbildung zeigen. In unserer Studie wurde nachgewiesen, dass sich die Referenzdomänen ‘nicht wissen’ (z.B. von etw. so viel verstehen von lexikalischen Varianten auf der Textebene durch lexematische Substitution dürften aber nicht als widersprüchliche Eigenschaften sondern als komplementär im Sinne von „langue“ und „parole“ aufgefasst werden (vgl. Mellado Blanco 2004). 17 Korpuslinguistische Methoden erweisen sich als sehr hilfreich, um lexikalische Phrasemvarianten aufzudecken. Nach Engelberg/ Holler/ Proost (2011, S. 5) spüren diese Methoden „eine ungeahnte Vielfalt an Mehrwortausdrücken auf, die nicht kompositionelle Eigenschaften oder doch zumindest einen hohen Grad an Usualisierung aufweisen, und die ihren Platz im Lexikon (oder Konstruktikon) zu beanspruchen scheinen“. Im Sinne von Stefanowitsch (2011, S. 17) haben Konstruktionen „eine eigene mentale Repräsentation“, die sich primär durch ihre Gebrauchsfrequenz z.B. anhand von Internetbelegen nachweisen lässt. 18 Im Wörterbuch kodifiziert ist der Vergleich mit der verbalen Konstituente taugen: dazu taugen wie die Kuh zum Seiltanzen (im Internet durch nur 16 Treffer belegt). 19 Moreira Flores (2004, S. 229) vermerkt in diesem Zusammenhang: „Die hyperbolische Überschreitung der Glaubwürdigkeitsgrenze führt in die Welt des Fiktiven, des Absurden und Widersinnigen; damit nimmt sie dem Ausgesagten die real-inhaltliche Bedeutung, sodass das Gemeinte (als ‘X im höchsten Grad’) um so deutlicher zum Ausdruck kommt.“ Phrasem - Konstruktionen und lexikalische Idiom - Varianten 227 wie die Kuh vom Sonntag), ‘nicht taugen’ (z.B. zu etw. taugen wie der Ochs zum Seiltanzen) und ‘nicht passen’ (z.B. so gut passen wie dem Ochsen ein Sattel) für die Bildung von expressiv-verstärkenden Vergleichskonstruktionen gut eignen, bei denen der Sprecher im geäußerten Sachverhalt emotional involviert ist (vgl. die Arbeit von Foolen 2012, S. 359 zum Wert der Metaphern und des expressiven Diskurses in den Aussagen über Emotionen; vgl. auch Mellado Blanco 2010). Eng verbunden mit den oben erwähnten Referenzdomänen ist die Konstruktion [SUBJ V STEHEN da wie DER/ EIN X T I E R LokErg], mit der Bedeutung ‘ratlos sein’ und den lexikalisierten Vertretern da stehen wie ein Esel/ Ochs am/ vorm/ vor dem Berg und da stehen wie der Ochse vor dem Scheunentor. 3.2 Der Übergang von Varianten zu Phrasem-Konstruktionen: [von etw. so viel V l [KOGN] wie die Kuh von (DER Dat ) N/ N Inf ] und [von N1 so viel V l [KOGN] wie DER X TIER von (DER Dat ) N2] Phraseologische Vergleiche wie von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag können Ausgangspunkt für komparative Ph-K werden, indem bestimmte Konstituenten sich in frei zu besetzende Slots verwandeln. So erhält das zuerst lexikalisch vollspezifizierte Vergleichsphrasem durch phraseologische Derivation gleich strukturierte lexikalische Varianten, so dass jene in bestimmten Fällen unter besonderen Voraussetzungen ‒ wie bei von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag ‒ zu lexikalisch teilspezifizierten Konstruktionen werden können. Das bedeutet, dass lexikalisch vollspezifizierte Phraseme „produktiv“ und dadurch zu Ph-K werden. Aus den im Internet belegten Varianten lässt sich durch einen Abstraktionsprozess die Ph-K [von etw. so viel V [KOGN] wie die Kuh von (DER Dat ) N/ N Inf ] ableiten, bei der sich das Lexem Kuh als feste Konstituente erweist. Die Produktivität der Struktur begünstigt das Zustandekommen von Okkasionalismen, d.h. von Phrasemvarianten mit niedriger Rekurrenz, die durch einen Derivationsprozess ad hoc gebildet worden sind und (noch) keinen Sprachsystem-Status besitzen, weil sie (noch) nicht lexikalisiert sind. Bei unserer Google-Recherche konnten folgende Okkasionalismen des Phrasems von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag aufgefunden werden: von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Häkeln (2 I.) / vom Eiskunstlaufen (2 I.) / vom Gedichteschreiben (1 I.) / vom Heuwenden (1 I.) / vom Weitspringen (7 I.) / von Astronomie (3 I.) / vom Erdbeerjoghurt (2 I.) / von der Kunst (1 I.) / vom Kunstdünger (1 I.). Carmen Mellado Blanco 228 Durch die weitere Substituierung der Phrasemkonstituente Kuh 20 durch einen beliebigen Tiernamen wie z.B. Hahn, Huhn, Katze oder Nilpferd ergibt sich die ebenso auf Antiphrase basierende Ph-K [von N1 so viel V [KOGN] wie DER X TIER von (DER R Dat ) N2]. 21 In den konsultierten Wörterbüchern (siehe Literaturverzeichnis) befinden sich etliche komparative Phraseologismen, die dieser Struktur entsprechen, wie z.B. von etw. so viel verstehen wie der Hahn vom Eierlegen (u.a. in den Wörterbüchern Duden (2002), Friederich (1976) und Schemann (2011) erfasst und im Internet durch 4.960 I. gut vertreten) oder von etw. so viel verstehen wie der Ochs[e] vom Klavierspielen (in Schemann (2011, 2012) kodifiziert, allerdings durch lediglich fünf Internettreffer belegt). Neue (noch) nicht lexikalisierte Vergleiche wären z.B. die Internetbelege von etw. so viel verstehen wie die Katze vom Bellen / wie die Katze vom Klavierspielen. Die oben erwähnten Varianten können durch Kontamination zustande kommen. So ergibt z.B. die Verschmelzung von von etw. so viel verstehen wie der Hahn vom Eierlegen und von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag die neue lexikalische Variante von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Eierlegen (40.700 I., aber nicht im Wörterbuch belegt). Wenngleich die Variation besonders das Vergleichsmaß und nicht so sehr die verbale Komponente betrifft, werden neue Varianten nicht selten auch durch die Autonomisierung des Vergleichsmaßes und dessen reihenhafter Kombination mit unterschiedlichen Verben geschaffen. Das geschieht z.B. durch die Autonomisierung des Vergleichsmaßes wie die Kuh vom Seiltanzen bei den Varianten: zu etw. taugen / zu etw. Lust haben / von etw. reden / von etw. sprechen / von etw. so viel halten wie die Kuh zum/ vom Seiltanzen. Gelegentlich begegnet uns die Autonomisierung sowohl von verbalen Komponenten als auch von Vergleichsmaßen: zu etw. Lust haben wie der Hahn zum Eierlegen / wie der Bär zum Tan- 20 Der Symbolwert der Kuh weist in der Phraseologie nach Röhrich (2004, S. 902) entweder auf „wertvollen Besitz“ oder „Dummheit“ hin. Der Volksglaube, nach dem eine Kuh ein dummes Tier ist, erklärt die Produktivität dieses Tiernamens in der Ph-K mit Kuh, die mit der phraseologischen Bedeutung ‘von etw. absolut nichts verstehen’ versehen ist. 21 Die Ph-K wird ohne Negation verwendet. Strukturen, die formal ähnlich sind, aber ein negierendes Element enthalten, haben keine idiomatische Bedeutung, wie aus folgendem nur wörtlich zu deutenden Internetbeleg ersichtlich wird: Mag sein, dass ich von Linux nicht so viel verstehe wie Du: meine Erfahrungen beschränken sich auf meine Freizeitaktivitäten in dem Bereich. (www.rivaforum.de). Die Antiphrase scheint also nur bei affirmativen Propositionen zu funktionieren. Phrasem - Konstruktionen und lexikalische Idiom - Varianten 229 zen / wie eine Kuh zum Rückenschwimmen; von etw. so viel wissen/ verstehen/ Ahnung haben wie der Hahn vom Eierlegen / wie der Bär vom Tanzen / wie eine Kuh vom Rückenschwimmen. Nicht alle syntaktischen Strukturen eignen sich in der Phraseologie in gleichem Maße zur Variantenbildung. Nach Finkbeiner (2008, S. 224) kann sich „die syntaktische Überspezifizierung bzw. zu starke Markierung negativ auf die produktive Nutzung auswirken“. Im Falle der komparativen Phraseme vom Typ ‘von etw. so viel wissen wie X von Y ’ ist die Struktur aufgrund ihrer formalen Einfachheit und ihrer semantischen Linearität nicht überspezifiziert, so dass im Prinzip die syntaktischen Voraussetzungen für die Variation vorhanden sind. Außerdem sind Ph-K, die prägnante lexikalische Klassen wie z.B. Tierbezeichnungen enthalten, besonders produktiv. Nach Finkbeiner (ebd.) sind diese leichter zu variieren als „Muster, die lexikalisch weniger prägnant bzw. offener sind“. Die implizite Verwendungsinformation (ironische Einstellung des Sprechers) über diese Ph-K ist bedeutungskonstitutiv. Sie ist ein wesentlicher Bedeutungsbestandteil, denn sie stellt genau das differenzierende semantische Merkmal den nicht-idiomatischen Wendungen (von etw. absolut nichts verstehen) gegenüber dar. In diesem Sinne können wir bei solchen Ph-K von „Pragmatisierung“ der Bedeutung (vgl. Staffeldt 2011, S. 113) und somit von Aufhebung der strikten Unterscheidung zwischen Semantik und Pragmatik (vgl. Stathi 2011, S. 159) sprechen. Die Fixiertheit dieser Strukturen wäre dementsprechend nicht semantisch, sondern primär pragmatisch zu interpretieren. Die illokutiven Komponenten der Ph-K, die uns hier beschäftigen, sind kritik und bewertung : ‘Der Sprecher kritisiert / bewertet ganz negativ oder widerlegt einen Sachverhalt oder eine Annahme, der/ die auf eine dritte Person bezogen ist’. Der Sprecher selbst stellt sich dabei als situationsüberlegen dar. In den von uns untersuchten Belegen wird die Konstruktion häufig als Erwiderung zu einem fremden Kommentar verwendet, wie es folgendes Internetbeispiel veranschaulicht: (1) Keiner ist vom Fach. Die verstehen von Pharma so viel wie ein Nilpferd vom Hochsprung, nämlich gar nichts. (www.wallstreetonline.de) Carmen Mellado Blanco 230 Die Ph-K kann ebenfalls als Nebenbedeutung den illokutiven Wert humorvolle selbstkritik aufweisen. Sprecher und Subjekt des Vergleichs stimmen dabei überein: (2) Ich muss jetzt allerdings gestehen, ich verstehe von PHP so viel wie ein Nilpferd vom Ballett. (www.typo3.net/ forum/ beitraege/ / 65450/ seite/ 1) Die Tatsache, dass der oben beschriebenen Ph-K eine ziemlich homogene Bedeutung bzw. einheitliche Illokutionspotenziale zugeordnet werden, erhöht nach Finkbeiner (2008, S. 224) die Produktivität der idiomatischen Muster. 22 Aus der Studie des phraseologischen Vergleichs von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag lässt sich Folgendes schlussfolgern: 1) Feste Vergleiche können durch Derivation Varianten mit der gleichen Struktur und ähnlicher Bedeutung entwickeln. 2) In einer Reihe von lexikalischen Varianten des Vergleichs von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag ändert sich nur der zweite Bestandteil des Vergleichsmaßes. Fest bleibt dabei die Konstituente Kuh [von etw. so viel V [KOGN] wie die Kuh von (DER Dat ) N/ N Inf ]. 3) Parallel dazu lässt sich eine weitere Ph-K mit der Leerstelle X TIER feststellen: [von N1 so viel V [KOGN] wie DER X TIER von (DER R Dat ) N2] und der Bedeutung ‘absolut nichts V’. 23 22 Semantische bzw. pragmatische Heterogenität hingegen macht nach Finkbeiner (2008, S. 224f.) die Interpretation syntaktischer Konstruktionsmuster uneindeutig und „beeinträchtigt so die Wiedererkennbarkeit eines Musters, die eine zentrale Voraussetzung für produktive Nutzung darstellt“. 23 Eine weitere Variante dieses Modells ist: [SUBJ V PräpErg wie DET EIN/ DER N R TIER PräpErg], mit der Bedeutung ‘absolut nichts V’, wie bei den Phrasemen sich in etw. auskennen wie das Schwein in den Apfelsinen; von etw. reden wie der Blinde von der Farbe zu konstatieren ist. Eine weitere auf Antiphrase beruhende Ph-K wäre: [SUBJ 2./ 3.P V [KOGN] von (DER Dat ) N1 so viel wie ich von (DER Dat ) N2]. Das Internetbeispiel Der hat so viel Ahnung von Musik wie ich von Quantenphysik! (www.twitwheel.com/ loudestplace) belegt diese Ph-K optimal (zur Analyse der äquivalenten auf Antiphrase basierten Ph-K im Spanischen [SUBJ V [COGN] de S1 como/ lo que yo de S2] vgl. Mellado Blanco 2015a). Phrasem - Konstruktionen und lexikalische Idiom - Varianten 231 4. Schlusswort Der Grenzbereich der Ph-K, der sich an der Schnittstelle zwischen Lexikon und Grammatik befindet und dem in der Linguistik bis jetzt kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde, sollte aufgrund seiner Spezifizität Untersuchungsgegenstand sowohl der Phraseologie als auch der Konstruktionsgrammatik sein. Komplexe feste Vergleiche werden zu Ph-K, indem sie durch partielle lexikalische Flexibilität vom Lexikon in den Bereich der Grammatik übertreten. Neue lexikalische Vergleichsvarianten können durch Autonomisierung von Konstituenten und/ oder Kontamination von festen Vergleichen erfolgen. Anhand der Beschreibung der Ph-K [von N1 so viel V [KOGN] wie DER X TIER von (DER R Dat ) N2] sollten in dieser Studie die Wechselbeziehungen zwischen Phraseologie/ Lexikon und Grammatik, die den übrigen Phrasem-Konstruktionen ebenso eigen sind, veranschaulicht werden. Die Untersuchung der Varianten des Phrasems von etw. so viel verstehen wie die Kuh vom Sonntag hat darüber hinaus die Unzulänglichkeiten der Printwörterbücher in der Aufnahme der usuellen Vergleiche gezeigt: Viele von den lexikografisch erfassten Vergleichen sind heute bereits obsolet, während andere, deren Usus und Aktualität zwar durch zahlreiche Internetbelege dokumentiert sind, dennoch nicht in den Wörterbüchern registriert werden. Literatur Wörterbücher Duden (2002): Der Duden in zwölf Bänden. Bd. 11: Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Mannheim u.a. Friederich, Wolf (1976): Moderne deutsche Idiomatik. München. Röhrich, Lutz (2004): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 7. Aufl. Freiburg/ Wien. 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In Redes geht es also in erster Linie darum, gebräuchliche Wortverbindungen lexikografisch zu erfassen, wobei nicht nur semasiologische, sondern auch onomasiologische Aspekte miteinbezogen werden (vgl. Bosque 2004, S. XXXVII). Die zugrundeliegende Methodologie ist die Kookkurrenzanalyse, das Endprodukt ein Wörterbuch, das Wortverbindungen, d.h. die Kombinatorik in den Mittelpunkt der praktischen Wörterbucharbeit stellt, und somit einen bedeutenden Beitrag zur syntagmatischen Lexikografie leistet. Wörter bzw. lexikalische Einheiten werden im Sprachgebrauch nach bestimmten syntaktischen und semantischpragmatischen Regeln kombiniert (vgl. ebd., S. XXII, XXXI, XXXVII, LXV). Demzufolge stehen Bedeutung und Gebrauch in einer wechselseitigen Beziehung zueinander: Erst durch den sprachlichen Usus werden Bedeutungen in einer gegebenen Sprachgemeinschaft gefestigt; Bedeutungen müssen aber im Gebrauch, in jeder einzelnen Sprachhandlung - im weitesten Sinne -, auch immer wieder aufs Neue seitens der Sprecher ausgehandelt und bestätigt werden. Im Rahmen der Konstruktionsgrammatik - wie auch der systemisch-funktionalen und der kognitiven Linguistik - wird der Sprachgebrauch nämlich als „Quelle [sprachlicher] Kompetenz, deren Qualitäten - Funktionalität 1 Diese Arbeit ist im Rahmen des interuniversitären Forschungsprojekts zu usuellen Wortverbindungen FFI2013-45769-P entstanden, das vom spanischen Kulturministerium finanziert wird. Nely M. Iglesias Iglesias 238 von Formen, Frequenzdistribution im natürlichen Input, [...] - den Aufbau der Kompetenz erleichter[n]“ (Rostila 2012, S. 221) betrachtet. Es handelt sich also um Form-Funktionspaare, um Sprache in realen Kommunikationssituationen, oder besser gesagt, in sich situativ entwickelnden Kommunikationsprozessen. Dieses gebrauchsbasierte Modell gilt in erster Linie für den natürlichen, also ungesteuerten und zweckmäßigen (Erst- und Zweit-)Spracherwerb. Der Ansatz findet aber auch immer mehr Befürworter im gesteuerten Fremdsprachenkontext (siehe u.a. Aguado 2002; Handwerker 2008; Behrens 2009). Ziemlich genau zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung von Redes war ich damit beschäftigt, meine Dissertation fertigzustellen. Im empirischen Teil hatte ich ausgewählte Großwörterbücher des Sprachenpaares Deutsch-Spanisch in Bezug auf die Erfassung und Bearbeitung (idiomatischer) phraseologischer Einheiten analysiert. Dabei stellte sich heraus, dass Wörterbuchbenutzer erst dann tatsächlich in der Lage sind, feste (phraseologische) Wortverbindungen gegenüber freien Wortverbindungen in realen Gebrauchssituationen zu verwenden, wenn sie schon vorher über die betreffenden metalinguistischen Informationen verfügen, d.h., wenn sie bereits im Voraus feste (phraseologische) von freien Wortverbindungen unterscheiden können und auch schon wissen, wie sich solche Wortverbindungen im sprachlichen Usus verhalten (vgl. Iglesias Iglesias 2007, S. 260). Folglich erwiesen sich die in den untersuchten zweisprachigen Wörterbüchern enthaltenen lexikografischen Angaben und Informationen sowohl für die Produktion fremdsprachiger Texte als auch zur Aufhebung der doch häufig anzutreffenden phraseologischen Polysemie als unzulänglich. Deshalb müssen sich Wörterbuchautoren - unabhängig davon, ob es sich um einsprachige kombinatorische, wie Redes, oder um zweisprachige Wörterbücher handelt - zum absoluten Ziel setzen, vom realen, allgemeingültigen Sprachgebrauch auszugehen. Da fließende Übergänge zwischen einem systematischen und einem eher individuellstilistischen Sprachgebrauch herrschen (vgl. Bosque 2004, S. LXXII), kommt dem Lexikografen heutzutage u.a. die Aufgabe zu, aus den ihm zur Verfügung stehenden Korpusdaten und frequenzbasierten Primärdaten eine zielgerichtete Auswahl zu treffen. Zu fließenden Übergängen kommt es in der Sprachpraxis auch zwischen nicht-phraseologischen und phraseologischen Wortverbindungen - oder, um auf Coserius Terminologie zurückzugreifen, zwi- Konstruktionsgrammatik als Weg zur Erfassung und Bearbeitung von Phraseologismen 239 schen freier Sprachtechnik und wiederholter Rede (vgl. Coseriu 1977, S. 83ff.) -, was wohl als charakteristisches Merkmal jeder natürlichen und lebenden Sprache anzusehen ist. Einen klaren Nachweis hierfür liefert zweifelsohne die sog. Delexikalisierung bzw. Dephraseologierung, durch die nicht nur bei kreativen Sprachbildungen - damit meine ich vordergründig (phraseologische) Wortspiele -, sondern genauso bei phraseologischen Kontaminationsprozessen „die Bestandteile der Idiome mehr Autonomie erhalten und dadurch die Integrität der Idiome aufgebrochen wird“ (Stathi 2011, S. 155; vgl. auch Dobrovol'skij 1997, S. 74), so dass diese konsequenterweise an Kompositionaliät gewinnen. Auch interlinguale Versprecher und Wortund/ oder Bildbzw. sogar Symbolverdrehungen, die ggf. bei bilingualen Sprechern zu beobachten sind (vgl. Iglesias Iglesias 2010, 2013), stellen kognitive Kontaminationsprozesse dar und gelten somit als nicht-intendierte phraseologische Variationen. Dadurch, dass solche Variationen von dem standardbzw. gemeinsprachlichen Gebrauch abweichen, liefern sie einen weiteren Beweis für die eher als relativ einzustufende strukturelle Stabilität - Integrität laut Stathi (s.o.) - von idiomatischen Phraseologismen. Tatsache bleibt, dass die Erfassung und Bearbeitung von Phraseologismen in allgemeinen zweisprachigen Wörterbüchern weiterhin eine untergeordnete Rolle spielt. Diese Situation hat sich in den letzten Jahren zwar gebessert, doch finden nicht alle von der phraseologischen und metaphraseografischen Forschung geforderten Verbesserungsvorschläge gleich ihren Niederschlag in der praktischen Wörterbucharbeit. Vor allem allgemeinsprachliche, zweisprachige Wörterbücher weisen noch stark ins Gewicht fallende metalexikografische Defizite auf. 2 Im Normalfall werden Wörterbuchbenutzer nämlich nicht unbedingt dazu befähigt, die Selbstständigkeit zu erlangen, lexikogrammatische, abstrakte Nennformen oder feste, phraseologische Wortkombinationen von konkreten Gebrauchsbeispielen oder -belegen zu unterscheiden. 2 Vgl. die Untersuchungsergebnisse in Iglesias Iglesias (2007) sowie Mellado Blanco (2009) u.a. (Die von mir in meiner Dissertation detailliert untersuchten Großwörterbücher sind folgende: Diccionario Grande Alemán, Español-Alemán / Alemán-Español (Langenscheidt, 2001) sowie das Diccionario Avanzado Alemán, Español-Alemán / Deutsch-Spanisch (Klett, 1997). Siehe z.B. auch das einige Jahre später erschienene Diccionario Moderno Alemán (Langenscheidt, 2005).) Nely M. Iglesias Iglesias 240 Könnte die Konstruktionsgrammatik, die ein gebrauchsbasiertes Sprachmodell darstellt (vgl. u.a. Lasch/ Ziem 2011, S. 1), unter Berücksichtigung ihrer bedeutungstheoretischen Erkenntnisse diesen Defiziten entgegenwirken? Wenn ja, wie könnten dann diese Erkenntnisse in die angewandten Bezugswissenschaften wie Lexikografie und/ oder Phraseografie oder Fremdsprachenunterricht Eingang finden? Um dieser Frage auf die Spur zu kommen, werden im Anschluss ausgewählte phraseografische Beispiele näher untersucht. Dabei bilden nicht zweisprachige, allgemeinsprachliche Wörterbücher den Ausgangspunkt, sondern ein phraseologisches, zweisprachiges Spezialwörterbuch, und zwar konkret Schemanns Idiomatik in der Sprachkombination Deutsch-Spanisch (Schemann et al. 2013). 3 Die Wahl lässt sich u.a. dadurch rechtfertigen, dass in diesem Nachschlagewerk die Bedeutung bzw. die Bedeutungen jedes Idioms bzw. jedes Phraseologismus durch ein Kontextbeispiel wiedergegeben wird. Der situativkontextuelle, funktionelle Sprachgebrauch steht demnach im Vordergrund der gesamtphraseografischen Bearbeitung. Schemann begründet dies im Vorwort seines Wörterbuchs (ebd., S. VI) 4 wie folgt: - Ein gutes idiomatisches Wörterbuch verweist so viel wie möglich auf bedeutungsgleiche und bedeutungsähnliche Ausdrücke, so daß der Benutzer lernt, auf sprachliche Bezüge zu achten, Nuancen zu erkennen, Variationen zu entdecken und auch selber zu bilden - kurz: seine sprachliche Gewandtheit in der Mutterbzw. Ausgangssowie in der Fremdbzw. Zielsprache zu entwickeln. - Ein solcher Beispielkontext ermuntert den Benutzer, selbst Kontexte zu bilden, in die die jeweiligen Ausdrücke passen, und bei Texten, die er hört oder liest, genauer auf die Äußerungsform zu achten, so daß er seine aktiven und passiven Sprachfähigkeiten schärft. 3 Der spanische Teil wurde von einem fünfköpfigen Team (siehe bibliografische Angaben), dessen Mitautorin ich bin, bearbeitet. 4 Beim Wörterbuchbenutzer werden gute bis sehr gute Sprachkenntnisse des Deutschen sowie des Spanischen vorausgesetzt; Wörterbuchadressaten sind demnach u.a. fortgeschrittene Spanisch und/ oder Deutsch (als Fremdsprache) Lernende sowie Übersetzer und/ oder Dolmetscher. (Zur Unterscheidung dieser lexikografischen Termini siehe u.a. Iglesias Iglesias 2007, S. 36.) Konstruktionsgrammatik als Weg zur Erfassung und Bearbeitung von Phraseologismen 241 In Redes nehmen Beispiele ebenfalls eine wichtige Stellung ein. Die Lemmata werden in usuellen Wortverbindungen 5 mit authentischen, prototypischen Belegen aus der Pressesprache versehen. Laut Bosque wird dadurch die Repräsentativität bezüglich der Gemeinbzw. Standardsprache viel eher gewährleistet als dies bei literarischen Textbelegen der Fall ist (vgl. Bosque 2004, S. LXXI). Auch wenn es sich bei Schemann nicht um Korpusbelege handelt, so muss doch zu dieser bewusst getroffenen lexikografischen Entscheidung rechtfertigend gesagt werden, dass es sich in den meisten Fällen um dialogische Kontextbeispiele handelt, die mitunter den entsprechenden Mehrwort-Ausdruck definieren, paraphrasieren, periphrasieren (vgl. Model 2010, S. 44). - Auf der einen Seite wäre es sicher zu zeitaufwändig, ähnliche authentische Belegbeispiele zu suchen und zu finden, auf der anderen Seite sollte man aus (fremdsprachen-)didaktischer Perspektive nicht vergessen, dass es gar nicht möglich ist, jeden sprachlichen Beleg in ein Wörterbuch aufzunehmen. Es muss also notwendigerweise eine Auswahl getroffen werden, und zwar nach Kriterien, die auf makrostruktureller Ebene u.a. die Frequenz und die Repräsentativität (bzw. die Gebräuchlichkeit und Natürlichkeit) der im Wörterbuch bearbeiteten sprachlichen Einheit mitberücksichtigen. Auf mikrostruktureller Ebene nimmt dabei die didaktische Anschaulichkeit der ausgewählten Beispiele eine besondere Stellung ein. Schemann zufolge soll ein lexikografisches Beispiel folgende Funktionen erfüllen: „eine Situierung des Idioms in seine gesamte Kontextkonstellation, in der seine semantische, seine pragmatische und seine stilistische Funktion als Einheit anschaulich greifbar wird“ (Schemann et al. 2013, S. XXIV). - Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Bedeutungsparaphrasen in realen Kommunikationssituationen redundant erscheinen. In der Sprachpraxis zeigt sich aber, dass sich der Sprecher - besonders beim Einsatz von Idiomen - zusätzlich in Bezug auf die von ihm intendierte Lesart absichert. Gerade aus diesem Grund kommt es in solchen Texten, in denen Idiome eingesetzt werden, seien sie mündlicher oder schriftlicher Natur, gehäuft zu Paraphrasen unterschiedlichster Art (vgl. Olza/ Losada 2011, S. 44 sowie Iglesias Iglesias 2012, S. 135): „los fraseologismos suelen ir acompañados en su contexto o, más bien, en su ‘cotexto’ linguístico cercano por otras expresiones que ‘apoyan’, ‘orientan’ y ‘especifi- 5 Zu diesem Terminus siehe das von Kathrin Steyer am IDS geleitete Lexik-Projekt unter www1.ids-mannheim.de/ lexik/ uwv/ (Stand: Juni 2013, vgl. u.a. auch Steyer 2010). Nely M. Iglesias Iglesias 242 can’ su interpretación“ (Olza/ Losada 2011, S. 44). 6 Dieser Umstand ist noch signifikativer bei idiomatischen Einheiten, die an sich polysem sind und zu originellem, kreativem Sprachgebrauch neigen, was die Textrezeption unter Umständen komplizieren kann. Wie oben aufgezeigt werden konnte, erleichtern kontextuell eingebundene Beispiele zum einen die Bedeutungserschließung auf der rezeptiven Ebene und stellen zum anderen einen sprachlichen Input dar, dem bei der freien Produktion fremdsprachiger Texte als Sprachmuster eine modellhafte Geltung zukommt. Dem Wörterbuchbenutzer wird aus interlingualer Sicht ein funktional-kommunikativ adäquates - und demzufolge auch gebräuchliches - Zieläquivalent angeboten; in der Ausgangssprache Deutsch steht ihm ein prototypisches Gebrauchsbeispiel zur Verfügung, das ggf. seine (fremd-)sprachliche Kompetenz rezeptiv und produktiv fördert und steuert und ihm somit auch ermöglicht, ein größeres Fingerspitzengefühl für die (fremdsprachigen) Idiome zu entwickeln, wodurch seine idiomatische Kompetenz als solche erweitert wird (vgl. Schemann et al. 2013, S. VI). In einem zweisprachigen Wörterbuch gehört das (Ausgangs-)Lemma zur Metasprache, während das (Ziel-)Äquivalent die Objektsprache darstellt (vgl. Model 2010, S. 44), so dass es „die gleiche Funktion wie eine Definition in einem einsprachigen Wörterbuch [erfüllt]“ (ebd.; vgl. auch Iglesias Iglesias 2010, S. 37ff.). Äquivalentangaben, die nebst dem Ausgangslemma die lexikografische Minimaleinheit im zweisprachigen Wörterbuch bilden, dienen nicht ausschließlich, aber doch vornehmlich der Textproduktion und der Übersetzungstätigkeit. Besonderes Augenmerk ist dabei auf diejenigen Äquivalentangaben zu richten, die interlingual abweichende, d.h. nicht-isomorphische Valenzen aufweisen. Es ist zu vermuten, dass der Wörterbuchbenutzer während des komplexen Vorgangs der Äquivalenzfindung und -bestimmung kognitiv gesehen wesentlich auf solche semantisch-syntaktischen Strukturen zurückgreifen wird, die er in seiner dominierenden Sprache systematisiert und infolgedessen verinnerlicht hat. Um diesem interlingualen Phänomen lexikografisch gerecht werden zu können, werden in unserem deutsch-spanischen Wörterbuch (Schemann et al. 2013) die Struk- 6 „Phraseologismen kommen üblicherweise in einem Kontext, oder besser gesagt, in einem sprachlichen ‘Kotext’, zusammen mit anderen Ausdrücken vor, welche zu deren Interpretation ‘beitragen’, sie ‘lenken’ und ‘spezifizieren’.“ [Übersetzung der Autorin]. Konstruktionsgrammatik als Weg zur Erfassung und Bearbeitung von Phraseologismen 243 turen, deren zielsprachliche Valenzen von den ausgangssprachlichen abweichen, prinzipiell durch ein Kreuz markiert - beispielsweise wenn dem ausgangssprachlichen Subjekt ein zielsprachliches Objekt entspricht. Somit kann valenzbedingten „falschen Freunden“ aktiv und vorbeugend entgegengewirkt werden. 7 Im Folgenden werde ich meine bisherigen Überlegungen anhand des somatischen Idioms eine Gänsehaut kriegen/ (bekommen) (Schemann et al. 2013, S. 262) illustrieren. Dabei handelt es sich interlingual gesehen um nicht-isomorphische Äquivalente, da das Subjekt im Deutschen dem Objekt im Spanischen entspricht. 8 Wörterbucheintrag (1) eine Gänsehaut kriegen/ (bekommen) + ponérsele a alg. (la) carne/ piel de gallina / col (1, 2); + ponérsele a alg. los pelos de punta col (1, 2) 1. Was war das eine Kälte! Selten habe ich eine solche Gänsehaut bekommen wie an jenem Abend! 2. Der Film war stellenweise so grausig, daß wir eine Gänsehaut kriegten. (Schemann et al. 2013, S. 262) Es stellt sich u.a. heraus, dass es sich bei den deutschen Somatismen mit den Verben kriegen/ bekommen um ein produktives Schema handelt, wie die folgenden, alphabetisch geordneten Wörterbucheinträge zeigen. Wörterbucheintrag (2) Eisbeine kriegen/ (bekommen) ugs sp. + congelársele las piernas a alg. (ebd., S. 186) Wörterbucheintrag (3) ein dickes Fell kriegen/ (bekommen) ugs sp. criar/ echar callo; + salirle a alg. callo; hacerse duro (ebd., S. 222) 7 Auch bei intralingualen Versprechern sind solche formalsprachlichen Überlappungen keine Einzelerscheinung und lassen - sowohl aus intrawie aus interlingualer Perspektive - auf bestimmte kognitiv vorgefertigte Strukturen rückschließen. 8 Die ausgewählten Wörterbucheinträge werden originalgetreu wiedergegeben, auch was die Schreibung und die typografische Gestaltung betrifft. Nely M. Iglesias Iglesias 244 Wörterbucheintrag (4) kalte Füße kriegen/ (bekommen) ugs + entrarle (el) miedo/ cague vulg/ canguelo pop/ canguele pop a alg. (1, 2); empezar a cagarse de miedo pop (1, 2) (Schemann et al. 2013, S. 257) Wörterbucheintrag (5) weiche Knie kriegen/ (bekommen) ugs sp. + temblarle/ flaquearle a alg. las piernas / (ebd., S. 487) Wie aus den oben angeführten Beispielen aus Schemann et al. (2013) ersichtlich wird, bietet es sich geradezu an, ein gemeinsames konstruktionsgrammatisches Grundgerüst für die ausgangssprachlichen somatischen Phraseologismen sowie auch für die entsprechenden zielsprachlichen Äquivalente (1), (2), (4) und (5) zu modellieren, da interlinguale, sowohl formale wie auch funktionale, Übereinstimmungen vorliegen. Beispielhaft ließe sich das Idiom (1) und die entsprechenden Zieläquivalente wie folgt konstruktionsgrammatisch beschreiben: 9 Dt.: [ subjekt + verb kriegen/ (bekommen) + eine Gänsehaut] Sp. 1: [ objekt Pertinenzdativ + se + ponen + los pelos de punta] Sp. 2: [ objekt Pertinenzdativ + se + pone + (la) carne/ piel de gallina / / ] Schlussbemerkung Abschließend kann festgehalten werden, dass die Konstruktionsgrammatik sicher einen Schritt weiter geht als andere grammatische Theorien, vor allem, was die Beschreibung von phraseologischen Einheiten betrifft. Es stellt sich jedoch die Frage, wie dies in den angewandten sprachwissenschaftlichen Disziplinen in der Praxis benutzerfreundlich umgesetzt werden kann, sodass es nicht nur für Linguisten sondern auch für Laien, im mutter- und im fremdsprachlichen Bereich, von Nutzen ist. Konstruktionsgrammatische Darstellungsformen sind formelhaft und abstrakt und stellen wohl eine zusätzliche Herausforderung für einen Großteil der potenziellen Wörterbuchbenutzer dar, weil sie nicht immer leicht zu interpretieren sind. Im Vergleich dazu können gut ausgewählte Beispiele oder Belege einen sehr guten Ein- 9 Aus Platzgründen kann leider nicht auf jedes Idiom im Einzelnen eingegangen werden. Konstruktionsgrammatik als Weg zur Erfassung und Bearbeitung von Phraseologismen 245 blick in die prototypische(n) Verwendungsweise(n) von Mehrworteinheiten geben. Es ist anzunehmen, dass erfahrene und fachmännische Wörterbuchbenutzer bei der kognitiven Verarbeitung der Beispiel- oder Belegsätze konstruktionsgrammatische bzw. konstruktionsgrammatikähnliche Schemata herausbilden. Letztendlich geht es ja darum, diese Form-Funktionspaare zu verinnerlichen und mit anderen intra- und interlingualen, auf irgendeine Art miteinander verwandten Form- und Funktionspaaren in Beziehung zu setzen, damit überhaupt assoziatives, signifikatives Wissen konstruiert werden kann. Was die KxG aber sicher schon erreicht hat, ist, die oft noch bestehende Hürde zwischen Semantik und Pragmatik zu überwinden, sowie auch die meines Erachtens zu rigide Trennung bei der lexikogrammatikalischen Beschreibung von Einzelwort- und Mehrworteinheiten. Literatur Aguado, Karin (2002): Imitation als Erwerbsstrategie. Interaktive und kognitive Dimensionen des Fremdsprachenerwerbs. Habilitationsschrift, Universität Bielefeld. http: / / karin.aguado.de/ publikationen/ downloads/ imitationalserwerbsstrategie-pdf (Stand: 13.6.2013]. f Behrens, Heike (2009): Konstruktionen im Spracherwerb. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 37, S. 427-444. Bosque Muñoz, Ignacio (2004): Redes. Diccionario combinatorio del español contemporáneo. Madrid. Coseriu, Eugenio (1977): Principios de semántica estructural. Madrid. Dobrovol'skij, Dmitrij (1997): Idiome im mentalen Lexikon. Ziele und Methoden der kognitivbasierten Phraseologieforschung. Trier. Handwerker, Brigitte (2008): Chunks und Konstruktionen. - Zur Integration von lerntheoretischem und grammatischem Ansatz. In: Estudios Filológicos Alemanes 15, S. 49-64. Iglesias Iglesias, Nely M. (2007): El tratamiento de las unidades fraseológicas en los diccionarios bilingües español/ alemán y sus implicaciones didácticas en el aula de alemán como lengua extranjera. Salamanca. Iglesias Iglesias, Nely M. (2010): Algunas reflexiones en torno a la equivalencia fraseológica interlingüística. In: Mellado et al. (Hg.), S. 37-44. Iglesias Iglesias, Nely M. (2012): Korpusgestützte semantisch-pragmatische Beschreibung der Emotion Schadenfreude. In: Torrent-Lenzen, Aina/ Uría, Lucía/ Eberwein, Petra (Hg.): Kontrastive Emotionsforschung Spanisch- Deutsch. Aachen, S. 119-140. Nely M. Iglesias Iglesias 246 Iglesias Iglesias, Nely M. (2013): Neuere kognitive Ansätze in der Vermittlung von Phraseologismen im Fremdsprachenunterricht. In: González Rey, Isabel (Hg.): Phraseodidactic studies on German as a foreign language / Phraseodidaktische Studien zu Deutsch als Fremdsprache. Hamburg, S. 31-43. Lasch, Alexander/ Ziem, Alexander (2011): Aktuelle Fragen und Forschungsansätze der Konstruktionsgrammatik. In: Lasch/ Ziem (Hg.), S. 1-9. Lasch, Alexander/ Ziem, Alexander (Hg.) (2011): Konstruktionsgrammatik III. Aktuelle Fragen und Lösungsansätze. (= Stauffenburg Linguistik 58). Tübingen. Mellado Blanco, Carmen (2009): Einführung. Idiomatische Wörterbücher und Metaphraseographie: zwei Realitäten, eine Herausforderung. In: Mellado Blanco, Carmen (Hg.): Theorie und Praxis der idiomatischen Wörterbücher. (= Lexicographica. Series Maior 135). Tübingen, S. 1-20. Mellado, Carmen/ Buján, Patricia/ Herrero, Claudia/ Iglesias, Nely/ Mansilla, Ana (Hg.) (2010): La fraseografía del S. XXI. Nuevas propuestas para el alemán y el español. Berlin. Model, Benedikt A. (2010): Syntagmatik im zweisprachigen Wörterbuch. (= Lexicographica. Series Maior 137). Berlin/ New York. Olza, Inés/ Losada, M. Carmen (2011): Apoyos co(n)textuales en el empleo discursivo de las unidades fraseológicas. In: Revista Signos 44, 76, S. 132-144. Rostila, Jouni (2012): Konstruktionsgrammatik: innovative Wege für den DaF- Unterricht, insbesondere den Grammatikunterricht? In: gfl-journal 2/ 3, S. 216-237. Schemann, Hans/ Mellado Blanco, Carmen/ Buján, Patricia/ Iglesias, Nely/ Larreta, Juan P./ Mansilla, Ana (2013): Idiomatik Deutsch-Spanisch. Hamburg. Steyer, Kathrin (2010): Korpuslinguistische Phraseographie - Neue empirische Methoden und Beschreibungsformen. In: Mellado et al. (Hg.), S. 249-277. Stathi, Katerina (2011): Idiome in der Konstruktionsgrammatik: im Spannungsfeld zwischen Lexikon und Grammatik. In: Lasch/ Ziem (Hg.), S. 149-163. CLEMENS KNOBLOCH GENITIVKONSTRUKTIONEN UND POSSESSORREALISIERUNG IM DEUTSCHEN Die Haselmaus hatte inzwischen schon die Augen geschlossen. [...] „und hackt ihm doch draußen den Kopf ab“, setzte f die Königin hinzu. (Alice im Wunderland) 1. Präliminarien über Possession und über die Genitivkonstruktion Ich gehe (mit Seiler 1983) davon aus, dass Possession die einzige genuine (d.h. nicht abgeleitete, sekundäre) Argumentbeziehung zwischen substantivischen Größen ist. Dass deprädikative Substantive Argumentbeziehungen des relationalen Prädikats „erben“ (aber auch reduzieren oder umwandeln) können, von dem sie abgeleitet sind, bleibt davon ebenso unberührt wie die Tatsache, dass es vereinzelt auch andere Arten relationaler Substantive gibt, z.B. partitive wie Hälfte etc. Die possessive Argumentbeziehung ist asymmetrisch und geht vom Possessum-Substantiv aus. Sie ist prototypisch Possessum-inhärent und wird bei Bedarf attributiv realisiert. Unterschieden werden kann zunächst zwischen Possessorimplikation (der Chef kommt = Chef des Sprechers und/ oder des Hörers), Possessorindikation, in der Hauptsache durch Possessivpronomina (mein, dein, sein Chef ist faul) und Possessorexplikation, in der Hauptsache durch Genitivattribute (der Chef meiner Frau), umgangssprachlich aber auch durch possessive Dativkonstruktionen (dem Manni sein Auto) oder durch einen possessiv lesbaren Konnektor (der Chef von meiner Frau). Der prototypische Possessor ist bestimmt und menschlich. Possession kann auch prädikativ etabliert werden: vom (meist bestimmten) Possessor aus mit haben plus Akkusativ, vom (meist ebenfalls bestimmten) Possessum aus mit gehören (oder umgangssprachlich sein) plus Dativ (das gehört mir, r das ist mir). In der Regel wird zwischen inhärenten oder inalienablen Possessum-Substantiven (= in der Regel eine Untermenge der relationalen Substantive mit Verwandtschaftsnamen, Körperteilen, sozialen Rollen etc. als Prototypen) und alienablen Substantiven unter- Clemens Knobloch 248 schieden, ohne dass es erkennbare bzw. in der deutschen Grammatiktradition übliche Kriterien für eine Grenzziehung gäbe. Eine skalierte Darstellung der Übergänge zwischen inalienablen und alienablen Possessum-Substantiven sähe ungefähr so aus: Verwandtschaft, soziale Rollen (Vater, r Mann, Chef, ff Nachbar) > Körperteile (Kopf, ff Hand, Arm) > Persönliche Objekte, Kleidungsstücke (Haus, Auto, Mantel, Hut) > Neutrale Personen und Objektbezeichnungen (Metzger, r Briefträger, r Wald, Stein, Straße) [...] > Eigennamen So gesehen bilden possessionsbezogene Konstruktionen im Deutschen einen Verband, der auf den ersten Blick durch ausdrucksseitige „Familienähnlichkeiten“ nicht zusammengeschlossen wird, sondern nur inhaltsseitig dadurch, dass eine Argumentbeziehung zwischen Possessum und Possessor beteiligt ist. Von den drei Possessum-Substantiven aus der eingangs zitierten Alice im Wunderland-Passage verweist das erste auf das Satzsubjekt als Possessor, das zweite auf einen Pertinenzdativ, der dritte Possessor kann lediglich aus dem Textzusammenhang spezifiziert werden. Im Umfeld der attributiven Genitivkonstruktionen gilt gemeinhin der „possessive“ Genitiv als größte und produktivste Gruppe, aber auch andere grammatisch-semantische Verhältnisse zwischen Nukleus und Genitivattribut sind abundant und werden in den Grammatiken traditionell unterschieden. Ich werde argumentieren, dass die Verhältnisse im Bereich der attributiven Possession weder mit den Mitteln der Valenzgrammatik noch mit den Mitteln der Konstruktionsgrammatik befriedigend beschrieben und erklärt werden können, weil beide Ansätze den inneren Zusammenhang zwischen possessiven Argumentverhältnissen und den Konstruktionen, an denen sie beteiligt sind, nicht zu fassen bekommen. Am Beispiel Possession - so meine These - lässt sich zeigen, dass sich der innere Zusammenhang einer universalen darstellungstechnischen Dimension nicht gut auf der Ebene von (zusammenhängenden) Konstruktionsbedeutungen abbilden lässt. Possessive Konstruktionen bilden keine ausdrucksseitige Familie. Die Alternativfrage, ob Argumentstrukturen lexikalisch (und ergo valenzanalog) verankert und fundiert seien oder aber erst in der Ebene der (morphosyntaktischen) Konstruktionen aufgebaut und realisiert werden können, erweist sich im Feld der Possession als falsch gestellt. Auch in der angestammten Sphäre des Valenzgedankens, im Verhält- Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen 249 nis zwischen der (mehr oder weniger) geordneten Relationalität der Verblexeme auf der einen und der Sphäre der „Satzbaupläne“ oder Satzstrukturmuster auf der anderen Seite, führt eine strikte Binarisierung zu nichts, weil lexikalische Fundierung und konstruktionale Realisierung keinen wirklichen Gegensatz bilden. Gewiss lag (der kanonische) Saussure nicht ganz richtig, als er die Minimalzeichen und die elementaren Konstruktionsschemata der Phrasen dem System, den Satz aber dem Verlauf oder der parole zurechnete, aber man liegt wohl auch nicht ganz falsch, wenn man zwischen Minimalzeichen und Satz ein Kontinuum annimmt, das Konstruktionsgrammatiker mit Blick auf seine mittleren Lagen konzeptualisieren, während Valenzgrammatiker den lexikalischen Rand (und Satzsyntaktiker eben die - semantisch weitgehend neutralisierten - weitaus höheren Freiheitsgrade des Satzes) als modellbildend ansehen. In Sachen Possession liegt eine erhebliche Schwierigkeit des laufenden Unternehmens in den höchst unterschiedlichen Begrenzungspraktiken der grammatischen Literatur (vgl. Seiler 1973). Was qualifiziert eine Konstruktion als „possessiv“? Die Bezeichnungen für Körperteile gelten vielen Autoren für prototypisch possessiv, aber sie sind zugleich auch meronymische Teil-Ganzes-Beziehungen, die zahlreiche Autoren eben von der Possession deutlich unterschieden wissen wollen. Sind Ast, Zweig, Blatt, Stamm inhärent „Teil“ des Ganzen mit Namen „Baum“ oder inalienable Possessum-Nomina? Und Dach, Tür, r Fenster, r Schornstein etc.? Ebenso uneinheitlich ist die klassifikatorische Praxis bei deprädikativen Nuklei. Bei den attributiven Genitiven hängt es einzig vom Differenzierungsgrad des jeweiligen Beschreibungsmodells ab, ob man neben dem possessiven Genitiv etwa noch einen „Genitiv des Eigenschaftsträgers“ o.Ä. ansetzt (wie z.B. Engelen 1984, S. 135ff.), in welcher Schublade ein Ausdruck wie die Größe des Grundstücks zu liegen kommt. Analoges gilt für den „Genitivus auctoris“ (also Ausdrücke wie die Dramen Schillers, die Milch dieses Bauernhofes etc.), der entweder extra gefasst oder einer weit verstandenen Possessivität zugerechnet wird. Während eine Mehrzahl der Grammatiker Ausdrücke wie das Verschwinden der Dinosaurier dem „Subjektsgenitiv“ zuordnen (und damit vom Possessivus unterscheiden) würde, liegen die Dinge bei den Possessivpronomina durchaus nicht so klar. Sind Ausdrücke wie meine Befürchtungen (haben sich bewahrheitet) oder mein Verschwinden in Providence (Alfred Andersch) possessiv oder kann man, wie es Clemens Knobloch 250 Hansjakob Seiler verschiedentlich formuliert hat, eine „Handlung“ nicht besitzen? Oder verkennt die Feststellung, dass man eine Handlung nicht besitzen könne, den darstellungstechnischen Charakter grammatischer Kategorien? Viele Verbalabstrakta haben aber auch eine „dingliche“ Nomen-acti-Lesart, was sie prototypischen Possessum-Nomina semantisch annähert, und warum sollte der Satz: Ich habe meine Beteiligungen an der Firma verkauft keine reguläre Possessor-Indikation mit Possessivpronomen darstellen? Seiler (1983, S. 52) weist darauf hin, dass die drei Lesarten von Karls Beteiligung am Geschäft genau den drei Varianten (reflexiv, aktiv-transitiv, passiv) des Verbs beteiligen entsprechen. Aber eine Nomen-acti-Lesart ist ebenfalls möglich. Und müssen wir für Sprachen wie das Türkische, in der die Nominalisierung von Sätzen so grammatikalisiert ist, dass das Satzsubjekt mit einer Possessor-Marke, das (nominalisierte) Prädikat mit einer passenden Possessum-Marke versehen wird, ein ganz anderes Konzept von „Possession“ zugrunde legen? Quer zur (eher konstruktionsgrammatisch konzipierten) traditionellen Einteilung der attributiven Genitive liegt dann wiederum die Distinktion, die alle semantisch im Nukleus angelegten Argumentbeziehungen in die eine (rektive) Schublade steckt, die nicht angelegten, sondern qua Konstruktion, sagen wir, angebauten in die andere (modifikative) Schublade. 1 Wenn es sich bei dem grammatischen Begriff „Possession“ überhaupt um eine „verständige Abstraktion“ handelt, dann muss man sich die Dinge wohl so zurechtlegen, dass die asymmetrische Zuordnung von Objekten und Personen, die sie kontrollieren, über sie verfügen, ein kognitives Primitiv bildet (Tomasello 1998), das darstellungstechnisch in allen natürlichen Sprachen eingesetzt wird, aber mit jeweils anderen Grenzen, Verwendungsschwerpunkten, metaphorischen Expansionslogiken und Konstruktionstypen. Grammatiktheoretisch wird eine solche Position von Langacker (2008, S. 83ff., 505ff.) vertreten. Langacker rechnet Possession zu den „reference point relations“. Charakteristisch für diesen Typ von Beziehungen ist, dass ein für die geteilte Aufmerksamkeit verfügbarer „reference point“ als Pfad zur Auffindung und Identifikation des (ultimativen) „target“ eingesetzt wird. Im Falle der indizierten Possession sind es die deiktisch (oder phorisch) adressierten Sprechrollen, die den Weg zur Identifizierung des target- 1 Darauf komme ich in Abschnitt 3 zurück. Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen 251 Referenten bilden. In der Genitivkonstruktion ist es der eigenständig konzeptualisierte Possessor-Referent. Possessive Relationen gelten als doppelt verankert, einmal in Possessum-inhärenten prototypischen semantischen Relationen. Neben Besitz/ Eigentum/ Verfügung nennt Langacker hier noch Verwandtschaft und Teil-Ganzes-Beziehungen. Dann aber auch auf der Ebene der Konstruktion selbst, wo die prototypischen Relationen analogisch verallgemeinert und expandiert werden. Auf dieser Ebene gilt die Beschreibung, „that the p'or functions as a reference point providing mental access to the entity possessed, its target“ (Langacker 2008, S. 505). Die Relation ist in der Regel irreversibel (das Dach des Hauses, aber *das Haus des Daches), sie kann aber im Einzelfall, etwa wenn beide Positionen inhärent relational sind, auch umkehrbar werden (Der Chef meines Freundes vs. der Freund meines Chefs). Infolge dieser doppelten Fixierung gilt der Satz, eine allgemeine Definition von Possession „can hardly be based on specific conceptual content“ (ebd.). Wichtig für meine These ist weiterhin der Umstand, dass die darstellungstechnische Schema- oder Konstruktionsbedeutung und die fallweise lexikalische Spezifizierung durch das Possessum-Substantiv zwar deskriptiv auseinanderfallen, aber in jeder textuellen Instanziierung einer Possessivkonstruktion durch den Sprachbenutzer beide ‘in Rechnung gestellt werden’. Prozessual relevant ist nicht entweder das eine oder das andere, sondern stets beides. Dabei gilt tendenziell, was Stefanowitsch (2003) für die Genitivkonstruktionen des Englischen argumentiert: Die lexikalische Spezifität der besetzten Schemaposition überlagert oder präzisiert fallweise die Bedeutung des darstellungstechnischen Schemas. Es dominieren die lexikalisch etablierten Beziehbarkeiten. 2. Thesen 2.1 Zentralität des Genitivs für Possession Die darstellungstechnische Realisierung von ‘Possession’ ist nicht der Morphologie oder der Syntax oder der Semantik oder der Situation allein zuzurechnen. Sie umfasst im Gegenteil ein Bündel von Konstruktionen, die von den darstellungstechnischen Ressourcen aller sprachlichen Systemebenen Gebrauch machen können. Um hierfür Clemens Knobloch 252 gleich ein Beispiel zu geben: Bei inhärenten Possessum-Nomina selegiert die Konstruktion, wenn kein expliziter Possessor-Index gegeben ist, den Sprecher oder das Satzsubjekt oder ein anderes Argument (meist einen Pertinenzdativ) als Possessor. Possessor-Indikation kann, qua adjektivische Possessivpronomina, innerhalb der Possessum-Phrase realisiert sein (mein Haus, dein Buch, sein Schnupfen), bei prädikativer Etablierung der Relation aber auch in einer eigenen Phrase (das Buch ist mir, r ist meines). Die Genitivkonstruktion ist insofern zentral für die Dimension der Possession im Deutschen, als sie zwischen den markierten Extremen der Inhärenz und der (prädikativen) Etablierung die Mitte hält und an beiden Seiten partizipiert. Die Possessorrealisierung bleibt einerseits innerhalb der Phrasengrenze des Possessums, eröffnet andererseits eine neue NP, in der das gesamte Repertoire von Determination, Spezifizierung, Charakterisierung etc. neu aufgerufen werden kann. Zwischen den entgegengesetzten Tendenzen der Dimension - dem Zug hin zu mehr Inhärenz, Sprecher- und Situationsbezug einerseits, mehr Explizitheit, Etablierung, Prädikativität andererseits (vgl. Seiler 1983, S. 14) - hält der possessive Genitiv die Mitte, d.h. er steht für eine Konstruktion, deren Geltungsbereich sich in die beiden entgegengesetzten Pole des Kontinuums zwischen Inhärenz und Etablierung hinein erstreckt. Ein Ausdruck wie der Anwalt des Angeklagten etabliert und realisiert eine Possessor-Possessum-Beziehung, die im Textfortgang indiziert (sein Anwalt) oder sogar impliziert werden kann (der Anwalt). Dabei gilt, dass die Relation Possessor-inhärent angelegt ist: Das Lexem Anwalt hat sowohl eine nicht-relationale Lesart als Berufsbezeichnung als auch eine relationale Lesart, nach welcher ein Anwalt immer der Anwalt „von jemandem“ ist, aber die Relation ist auch durch die per Genitivkonstruktion etablierten Beziehbarkeiten gegeben. Stünde da ein Anwalt der besonderen Art, könnte die Relation nicht possessiv interpretiert werden. Betrachten wir nun ganz kursorisch die möglichen situativen und syntaktischen Ankerpunkte für den indizierten oder implizierten „reference point“ Possessor: (1) Vater ist krank. (Possessor = Sprecher) (2) Er hat den Vater verloren. (Possessor = Subjekt) (3) Ich schau dir in die Augen. (Possessor = Dativphrase, Pertinenzdativ) Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen 253 (4) Sie küsst ihn auf den Mund. (Possessor = Akkusativobjekt) Die Affinitäten zwischen Dativ und Possessor-Rolle im Deutschen sind ja weithin bekannt, nicht nur aus den alltagssprachlichen Konstruktionen des Typs dem Kevin sein Auto, aus dem umgangssprachlich sich etablierenden das ist mir für das gehört mir sowie aus der Konstruktionsfamilie, die gewöhnlich unter dem Dach des Pertinenzdativs vereinigt wird (und die wohl durch den Umstand zu kennzeichnen wäre, dass die vom Verb auf das Dativargument projizierte Rolle die eines „Experiencer“ ist, der zugleich von einem „anwesenden“ inhärenten Possessum-Substantiv als Possessor selegiert wird; das Possessum kann Subjekt, Objekt oder substantivischer Kern eines Direktionalausdrucks sein, wie in (5)): (5) Er hat mir die Haare geschnitten/ ihm den Mantel versaut/ seinem Freund die Frau ausgespannt. Die Details sind hier von beträchtlicher Unübersichtlichkeit, besonders wenn man sie auf den Valenzstatus der Pertinenzdative zuspitzt (vgl. Wegener 1985), wenn man scharfe Grenzen zu anderen Typen des freien Dativs (commodi) ziehen möchte, wenn man direktionale und andere Präpositionalkonstruktionen einbezieht und wenn man auch die Verben berücksichtigt, die Dativ- oder Akkusativ-Possessoren zulassen (vgl. Lee-Schoenfeld 2012): (6) Sie beißt ihn/ ihm in die Nase/ tritt ihn/ ihm ans Schienbein. Hier findet man die widersprüchlichsten (und oft pseudosemantischen) Argumentationen. Manchmal heißt es, der Akkusativ-Possessor sei „more affected“ (Lee-Schoenfeld 2012, S. 402), manchmal gilt aber auch der Dativ-Possessor als stärker emotional beteiligt (Mellado Blanco 2012), wobei in der Regel nicht ganz klar ist, ob damit eine Aussage über syntaktische Bindungen oder über die an der Situation beteiligten Referenten intendiert ist. Die Grammatikalitätsurteile verwischen sich rasch bei längerer Beschäftigung mit dem Thema. Mellado Blanco (ebd., S. 29) führt den zweifellos abweichenden Satz *Er küsst sie auf der Hand als grammatisch korrekt. Starke Generalisierungen sind hier kaum möglich. Direktionale Präpositionalphrasen vertragen sich grundsätzlich mit Possessor-Dativ oder mit Possessor-Akkusativ. Gleichermaßen möglich sind beide aber nur bei den Verben, die man so- Clemens Knobloch 254 wohl mit direktem Objekt als auch mit Direktionalergänzung allein konstruieren kann (wie beißen, treten, schlagen): (7) Du beißt mich vs. Er beißt in den Teppich. Das lässt es zumindest sinnvoll erscheinen, die Konstruktion mit Akkusativ-Possessor als Transitivkonstruktion mit direktiver (oder lokaler) Erweiterungsoption für ein passendes Possessum zu beschreiben, während der Pertinenzdativ eher als allgemeine Erweiterungsoption im Umfeld inhärenter Possessum-Substantive gelten kann. Die Übergänge sind freilich fließend, wie gerade die Unsicherheit der Grammatikalitätsurteile belegt. Die fallweise verfügbaren Optionen werden wohl in der Hauptsache dadurch beschränkt, dass manche Verben ein Akkusativobjekt zwingend erfordern, andere nicht. Aber es gibt durchaus Verben mit zwingendem Akkusativobjekt, die einen Pertinenzdativ ausschließen: (8) Der Schuss traf ihn am Arm/ in den Arm/ traf seinen Arm - aber *Der Schuss traf ihm den Arm. Weiterhin gibt es zahllose Verben, bei denen die Konstruktion mit Pertinenzdativ einfach default ist (jemandem die Hand drücken (( , um den Hals fallen, die Füße küssen etc.). Selten wird auch bei der Diskussion der Pertinenzdative hinreichend deutlich gemacht, wie viel bei der Interpretation von der perspektivierenden Projektion des Verbs abhängt: Bei Ich drücke, schüttele dir die Hand ist der Dativ Possessor, bei Ich reiche, gebe dir die Hand ist das Subjekt Possessor. Mir scheint, für ein genaueres Verständnis der Einzelheiten fehlt es vor allem an Erkenntnissen über die Besonderheit direktiver (oder direktionaler) Konstruktionen. Für diese - so meine Vermutung - gilt ebenfalls, dass sie in dynamischen grammatisch-semantischen Merkmalen des Verbs verankert sein, anderenfalls solche Merkmale aber auch selbst auf das Verb projizieren können. Ich breche diesen Gedankengang hier aus Platzgründen ab und schlage vor, die Possessivkonstruktionen des Deutschen auf einem Kontinuum anzuordnen, das vier Felder umfasst: [implizierter Possessor  indizierter Possessor  explizierter Possessor  (prädikativ) etablierte Possessor-Possessum-Relation] Dabei geht Implikation systematisch nur bei inhärenten und inalienablen Possessum-Substantiven. Die (soeben skizzierten) Konstruktionen, bei denen die Possessivbeziehung in das adverbale Rollengefüge Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen 255 mit eingebaut ist, kann man von zwei Seiten betrachten, einmal als phrasenexterne Realisierungsoptionen für Possessor-Rollen, die auch phrasenintern als Genitiv oder Possessivpronomina realisiert werden können, dann aber auch als (ansatzweise) Grammatikalisierung der Possessor-Indikation im adverbalen Feld. Die Genitivkonstruktion, in welcher der Possessor lexikalisch expliziert wird, kann im Possessum- Substantiv angelegt oder qua Konstruktion angelagert sein. Prädikative Etablierung von Possession: haben-, kriegen-, behalten-Konstruktionen sind hoch abstrakt und decken ein ähnlich breites Gebiet von Sachbeziehungen ab wie Genitiv und Possessivpronomen. Mit gehören verhält sich die Sache ganz anders. Hier kommt nur Possession im engen (prototypischen) Sinne von Besitz, Eigentum in Frage, ähnlich wie bei den possessiven Dativkonstruktionen. Allerdings erweitert gehören seinen Radius radikal, wenn es als [gehören zu + Dativ] konstruiert wird. Haben, kriegen, behalten sind verblüffend analog zu prädikativen Kopulakonstruktionen, bei denen sein, werden, bleiben just die gleichen aspektuellen Varianten abdecken: neutral, inchoativ, durativ. In der haben-Konstruktion - so ließe sich mit Seiler (1983) argumentieren - beruht die Besetzung der beiden Leerstellen für Possessor und Possessum nicht auf Selektionsbeschränkungen des Verbs haben, sondern auf Kombinationsbeschränkungen zwischen den beiden (nominalen) Aktantenrollen. Was in eine haben-Relation kodiert werden kann, das kann die Argumentbeziehung der Possession erfüllen. Prädikativ etablierte Possession macht (für inalienable wie für alienable Verhältnisse) Ressourcen verfügbar wie Assertion, Negation, Temporalisierung etc., die an Verbalität der Beziehung gebunden sind: (9) Ich hatte nie einen Chef. Die possessiven haben-Konstruktionen bilden insofern einen (qua possessiver Argumentbeziehung) begrenzten Ausschnitt aus der Gesamtheit der haben-Syntagmen. Dass der Kern der possessiven haben-Sätze just die semantischen Relationen umfasst, die für inhärente Possessum-Substantive charakteristisch sind (Besitz/ Eigentum, Teil/ Ganzes, Verwandtschaft, Träger/ Merkmal), ist wohl kein Zufall. Ebenso wenig, dass es im weiteren Umkreis der haben-Konstruktionen auch noch Anderes von possessiver Relevanz gibt, so z.B. den (manchmal) so genannten „Haben-Konfigurativ“ (Hole 2001), der aus einem zweistelligen possessiven haben-Ausdruck und einem Partizip II besteht: Clemens Knobloch 256 (10) Paul hat den Arm verbunden/ das Bein gebrochen. Ausdrucksseitig ist hier relevant, dass die possessive Beziehung lokal stärker sein muss als die (viel tiefer grammatikalisierte) konkurrierende Perfekt-Lesart, die [haben + Part. II] dominiert (und die sofort einrastet, wenn man in (10) einen Pertinenzdativ einfügt und damit das Possessum anderweitig verankert). Der diachrone Nexus von possessivem haben und haben-Perfekt ist ja bekannt. Wo die Perfekt- Lesart ausscheidet, geht die Konstruktion ohne Weiteres auch mit unbelebtem Possessor: (11) Das Haus hat das Dach neu gedeckt. Das Café hat die Fassade eingerüstet. Viel wichtiger ist aber der Umstand, dass die Konstruktionsbedeutung in keiner Weise an der Beteiligung des Partizips II hängt. Das kann vielmehr leicht und ohne semantische Folgen ersetzt werden durch Adjektive, Präpositionalgruppen und andere Formate: (12) Er hat die Haare kurz/ den Arm in Gips/ die Schuhe voller Sand. Konstruktionsnotwendig ist allein ein qualifizierender Zusatz zum Possessum. Eine weitere infinite Verbform ist dagegen nicht immer zwingend: (13) Wir haben Blumenkübel vor der Eingangstür (stehen). Holes (2001, S. 8) These, das zweite Argument müsse „im Manipulationsbereich“ des Subjekts sein, scheint daher nicht schlüssig und geht am possessiven Bestandteil der Konstruktion vorbei. Kommen wir mit diesen Vorinformationen zurück zum Genitiv. Im Kontinuum der possessiven Konstruktionen nimmt der possessive Genitiv eine zentrale Position ein. Er kann sowohl im Possessum angelegte Possessoren explizieren als auch nicht angelegte Possessoren etablieren. Die possessive Genitivkonstruktion ist herausgehoben aus den anderen Konstruktionsbedeutungen des Genitivs, weil sie hoch grammatikalisiert ist, bei fast allen Unterklassen substantivischer Nuklei zur Verfügung steht, auch dann, wenn „eigentlich“ eine andere Argumentbeziehung im Nukleus angelegt ist: Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen 257 (14) Das ist Hannahs Hälfte (des Kuchens). [partitiv]; Hannahs Laster ist das Rauchen. [Definitivus]. 2 Umgangssprachlich geht sogar unter bestimmten Bedingungen ein possessiver Genitiv mit einem Eigennamen als Possessum: Meinst Du die Hannah (aus) der Klasse 5b? Am Pol der abstrakten, darstellungstechnischen Schemabedeutung „heißt“ die Konstruktion einfach nur, dass der target-Nukleus über den „reference point“ der Possessor-Position mental adressiert werden kann. In den operationalen Verfahren der konventionellen und traditionellen Grammatik spiegelt sich die zentrale Stellung des possessiven Genitivs darin, dass Einigkeit herrscht: - über die Ersetzbarkeit eines possessiven Genitivs durch ein Possessivpronomen; - über die bloß teilweise Ersetzbarkeit eines possessiven Genitivs durch das Bestimmungswort eines Kompositums (nur dann nämlich, wenn der Possessor nicht menschlich ist, sondern ein unbelebtes Konzept); - über die - zumindest partielle - Ersetzbarkeit eines possessiven Genitivs durch eine prädikative haben-Paraphrase (hierzu näher Engelen 1984, S. 131ff.). Seilers (1983) Argumentation zum Genitiv geht ungefähr folgendermaßen: Nur bei inhärent possessiven Nuklei ist die Genitivbeziehung klar und eindeutig, d.h. reiner Ausdruck einer possessiven Argumentbeziehung zwischen den beiden beteiligten Nominalgruppen. In allen anderen Fällen, also bei der Mehrzahl der übrigen traditionell unterschiedenen Genitivkonstruktionen, ist immer eine textuell oder allgemein implizierte, prädikativ (bzw. verbal) zu präzisierende Beziehung zwischen Nukleus und Genitivattribut aufgerufen. Das Bild des Meisters kann ein Bild sein, das ihn darstellt, das von ihm gemalt worden ist - und dann eben auch ein Bild, das ihm gehört etc. Veronikas Schule kann die Schule sein und meinen, die sie besucht hat, an der sie unterrichtet, die bei ihr um die Ecke liegt, und vieles andere mehr. Die Beispiele sind vertraut, die Argumentation ist geläufig. Sie zieht eine klare 2 Engelen (1984, S. 132) weist darauf hin, dass ein Syntagma wie die Idee des Vaters sowohl possessiv als auch definitiv interpretiert werden kann. Näher liegt aber wohl die possessive Lesart. Clemens Knobloch 258 Linie zwischen dem Genitiv, der ein inalienables Possessum mit einem expliziten Possessor versieht, und allen anderen Genitivkonstruktionen. Dieses Merkmal einer im Nukleus angelegten Argumentbeziehung verbindet den echten possessiven Genitiv mit denjenigen Genitivkonstruktionen, die ebenfalls einen inhärent relationalen, aber deprädikativen (deverbalen oder deadjektivischen) Nukleus haben. Lexikalisch fundierte Argumentbeziehungen und konstruktional etablierte analogische Expansion derselben bilden gemeinsam das Schema des attributiven Genitivs. Alles andere hängt von der fallweisen Besetzung der beiden Schemapositionen (und eventuell auch noch von der textuellen oder kommunikativen Einbettung derselben) ab. Die traditionell als „objectivus“ und „subjectivus“ geführten Genitivattribute (vor allem) bei deverbalen Nuklei gehören insofern in den ganz normalen Funktionsbereich des Genitivs. Einmal verfügen sie über einen inhärent relationalen (weil deprädikativen) Nukleus, zum anderen brauchen sie keine verbal präzisierbare Relation zu implizieren, da ihr Nukleus bereits ein Verb (nebst Argumentbeziehungen) expliziert. Uneindeutigkeit gibt es allein da, wo Subjectivus und Objectivus beide als Deutungsoption in Frage kommen - was dann die Interpretation auf die Textebene verlagert. Die Verfolgung der Feinde und die Regierung des Volkes sind Standardbeispiele. Die Genitivkonstruktion - so ließe sich dieser Komplex resümieren - bildet ein höchst heterogenes Konglomerat von „innerlich determinierten“ Konzept- und Referentenverhältnissen. Der Ausdruck „innerlich determiniert“ stammt aus Wilhelm Wundts Logik. Bühler (1934, S. 240-251) diskutiert ihn u.a. mit Bezug auf Kasuslehre und Genitivkonstruktion. Er besagt im Kern, dass es sich um lexikalisch oder textuell angelegte Beziehbarkeiten zwischen den verbundenen Größen handeln muss, die keiner expliziten lexikalischen Präzisierung bedürfen. Im Falle des Genitivs kann es sich zum einen um Argumentverhältnisse handeln, die im Nukleus angelegt sind. Das ist das eine Extrem, wovon die inalienablen Possessum-Nuklei eine Unterart sind. Es kann sich weiterhin um argumentähnliche, jedenfalls grammatischsemantisch schematisierbare Verhältnisse handeln, wie im Definitionsgenitiv zwischen Hyperonym (Nukleus) und Hyponym (Satellit): das Laster der Trunksucht, oder im partitiven Genitiv. Es kann sich um grammatisch-semantische Beziehbarkeiten handeln, die insofern hoch markiert sind, als sie das prototypische Inhärenzschema umkehren Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen 259 (wie der so genannte Qualitätsgenitiv vom Typ ein Mann mittleren Alters, ein Mann der Tat) und die inhärente Relationalität im Satellit präsentieren. 3 Es kann sich aber auch um kontrahierte textuelle (und ergo strikt lokale) Verhältnisse handeln. Um einen (literarischen) Extremfall zu nennen: die Kraniche des Ibykus hängen mit diesem letzteren auf eine Art und Weise zusammen, die allein die Kenntnis der Ballade vermittelt, und ob wir den Ibykus als Possessor der Kraniche ansehen wollen, lassen wir vorsichtshalber offen. Der von Seiler (1983) unterstellte Normalfall bei nichtalienablen Nuklei, wonach die fallweise kontrahierte Beziehung mehrdeutig sei und durch eine Prädikation zu präzisieren, umreißt jedenfalls eine buntscheckige Menge von Phänomenen, die teils im Text, teils in konzeptueller Beziehbarkeit, teils in Referenzverhältnissen verankert sind. Und der Versuch, diese buntscheckige Menge unter diskrete Konstruktionsbedeutungen zu bringen, bleibt, wie die Geschichte der einschlägigen grammatikografischen Versuche belegt, immer ein wenig unbefriedigend und willkürlich. 2.2 Unmöglichkeit, Possession als Valenzphänomen oder als Familie ausdrucksseitig verwandter Konstruktionen darzustellen Auch mit einer solchen „Lösung“ bleibt selbstverständlich das Problem der Grenzziehung bestehen: Wann wollen wir (nicht mehr) von einer possessiven Genitivkonstruktion sprechen? Nehmen wir, da wir einmal bei literarischen Beispielen sind, erneut Alice im Wunderland. Möglicherweise hat Lewis Carroll ja die Lösung: Was unterscheidet das Lächeln der Cheshire Cat vom Schwanz derselben? Beide „gehören“ in gewissem Sinne zu ihrem Träger, und beide Nuklei können, obwohl Lächeln natürlich deverbal ist, als inalienable Possessum-Nomina gelten. Selbst haben-Umformung geht: Sie hat ein nettes Lächeln. 4 Und obwohl (s.o.) Sprachen wie das Türkische in nominalisierten Sätzen deren Subjekt als Possessor (und deren substantiviertes Prädikat als Possessum) behandeln, gilt, dass man nicht Possessor einer Handlung sein kann. Prototypisch impliziert Possession eine Beziehung zwischen zwei selbstständigen Referenten. Das Lächeln, der Schlaf, ff das Wandern (kurz alle Prädikate) eines Subjekts sind aber unselbstständige Features, die ihrem Träger „inhärieren“ und von diesem nicht sepa- 3 Was dem darstellungstechnischen Schema der adjektivisch-kongruenten Attribute entspricht. 4 Und zwar in beiden Fällen nur mit einer zusätzlichen Qualifikation des Possessum! Clemens Knobloch 260 riert werden können. Das darstellungstechnische Bild besteht hier aus Akteur und Aktion, und Lewis Carroll spielt in der bekannten Szene, in der die Katze selbst verschwunden und nur noch ihr Lächeln im Baum zu sehen ist, eben damit, dass eine Aktion nicht mehr „da“ sein kann, wenn der Akteur nicht mehr „da“ ist. Das sprachliche Analyseverfahren trennt beide Seiten, aber ontologisch sind sie nicht trennbar. Das unterscheidet das Akteur-Aktion-Schema vom Possessor-Possessum-Schema. Ottos Hut/ Frau/ Chef/ ff Wagen stehen dagegen für selbstständige Objekte, Ottos Mut/ Kopfschmerz/ Illusionen/ Lust/ Energie etc. hat er zwar auch, aber sie „gehören“ ihm nicht im possessiv engen Sinne. So wenig wie das Lächeln der Cheshire Cat gehört! Aber nichts ist alltäglicher als die analogische Expansion eines Schemas auf darstellungstechnisch „ähnliche“ Fallgruppen, in diesem Falle wohl auch gestiftet durch die doppelte Inhärenz des Nukleus im Bereich des Satelliten und vice versa. Worin besteht weiterhin die Analogie, die Familienähnlichkeit zwischen den beiden Fallgruppen? Nun, vor allem in der Nominalität und der Referenzialität der beiden Schemapositionen. Sobald man (so argumentiert auch Langacker 2008) ein Prädikat substantiviert, werden dessen Aktanten beinahe von selbst zu „reference points“, über die die ebenfalls referenzialisierte Aktion mental adressiert werden kann. Die Analogie ist also sogar eine doppelte, der so genannte Subjekts- und Objektsgenitiv ist mit beiden Polen des Genitivschemas bestens kompatibel. Zu diesem Befund passen auch weitere Einzelheiten. Interessanterweise geht die verbale Umformung mit gehören an beiden extremen Enden des Possessivitätskontinuums nicht, auch nicht bei den inhärenten: Der Chef/ ff Vater/ Kopf gehört mir (nicht) ist zumindest markiert und bedeutet mehr als bloß die Etablierung der Relation. Die Tatsache, dass hier (wie in der Parole für die gesetzliche Freigabe der Abtreibung: Mein Bauch gehört mir! ) ein Possessor sowohl pronominal indiziert als auch prädikativ etabliert wird, verweist auf den Umstand, dass hier zweierlei, einander nicht ausschließende Beziehungen betroffen sind. Die indizierte Possession präzisiert lediglich den Bezugspunkt für das inalienable Possessum, die prädizierte etabliert eine darüber hinaus gehende Eigentums- oder Besitzrelation. Haben verträgt die Inhärenzumkehr, benötigt aber außerhalb des freien Zwischenbereichs (Paul hat Streichhölzer/ Mut / / / Husten) für inhärente Possessum-Substantive eine (rhematische) Qualifizierung des Posses- Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen 261 sums: Maria hat ein entzückendes Lächeln und nette Eltern, aber *Maria hat Lächeln und Eltern. Im Gegenzug geht gehören wohl bei die Streichhölzer gehören Paul, aber nicht bei Possessum-Inhärenz: *das entzückende Lächeln gehört Maria bzw. *die netten Eltern gehören Maria. Beide Male geht aber gehören zu. 5 Und wie so oft in solchen Fällen ist es gar nicht schwer, sich textuelle Zusammenhänge auszumalen, in denen auch die hier als ungrammatisch qualifizierten Beispiele als stilistisch markiert durchgehen würden. Was ja angesichts des stets aktiven analogischen Sprachwandels auch kein Wunder ist. Zur haben-Relation ist freilich Detailforschung erforderlich. Clasen (1981) hat Beobachtungen vor allem über menschliche Eigenschaften gemacht, die mit haben prädiziert werden können, und solche, die das nicht können: er hat Angst/ Pech/ Glück/ k Hunger/ Wut vs. *er hat Fleiß/ Intelligenz/ Schönheit/ Reichtum. Inkompatibilität mit haben nimmt Clasen als Indikator für Inhärenz. Allerdings kann man auch seine Grammatikalitätsurteile bezweifeln. Möglicherweise müsste man hier auch stärker einbeziehen, dass nicht nur seinvs. haben-Prädikation, sondern auch adjektivische und substantivische Konzeptualisierung von Akteurseigenschaften sich überlappen. Für das Deutsche mit seiner systemisch praktisch unbegrenzten Determinativkomposition (Klos 2011) sind weiterhin die grammatischsemantischen Grenzen (und Überlappungen) zwischen dieser und der Genitivkonstruktion von Interesse. Seit Kay/ Zimmer (1976) die Opposition für das Englische zu bestimmen versuchten, gibt es da eine reiche Literatur. Der prototypische Possessor ist ein „reference point“, ein Referent, das prototypische Bestimmungselement in der Determinativkomposition ist ein entreferenzialisiertes und entkategorisiertes Konzept. Prototypisch restringiert der Possessor-Genitiv die Referenz des Possessum-Nukleus, während das Kompositum das Konzept des Grundwortes modifiziert, was natürlich ebenfalls eine referenzielle Einschränkung zur Folge haben kann, woraus sich die (s.o.) oft bemühte relative Austauschbarkeit der Konstruktionen ergibt: Türschloss vs. Schloss der Tür = ihr Schloss = die Tür hat ein Schloss. Der typische Possessor-Genitiv ist ein Eigenname, das typische Bestimmungswort ein Appellativum. Seiler (1983, S. 28) notiert, dass die „Ausnahmen“ diesbezüglich in der Hauptsache die Regel bestätigen: ein Wittgenstein- 5 Allerdings bewegt die gehört zu-Konstruktion den Sinn weg von der Possession zur Charakterisierung. Clemens Knobloch 262 Argument ist (im Unterschied zu einem Argument von Wittgenstein) ein Ausdruck, in dem der Eigenname konzeptuell ins Typisierende gewendet ist, und Greisengesicht, Kindermund, Frauenarm illustrieren, dass die Bestimmungswörter inalienabler Grundwörter gerade nicht den Possessor angeben, sondern das Possessum konzeptuell modifizieren. Ein Lieblingsonkel ist eben nicht der Onkel eines Lieblings, in allen Fällen bleibt die Possessor-Position durch Kompositumsbildung unbesetzt. Das Englische (und in gewissen Grenzen auch das Deutsche) erzielt den komplementären Effekt der „Depossessivierung“ des Genitivs durch die Verbindung mit dem unbestimmten Artikel: a child's face bzw. (er hat) das Gesicht eines Kindes. „Entdeterminierung“ des genitivischen Possessors nähert offenbar das Schema dem etablierend-prädikativen Pol an und zugleich dem der konzeptuellen Modifikation, für die im Deutschen in der Hauptsache das Kompositum steht. (Er hat) das Gesicht eines Kindes ist äquivalent mit (Er hat) ein Kindergesicht, während Kindergesicht allein, kontextlos und außerhalb der Prädikatsposition beides bedeuten kann, Possession und konzeptuelle Typisierung. Und der Vater eines Mörders ist eigentlich ein Typus, keine Possessor- Angabe. „Entdeterminierung“ des Possessums löscht tendenziell die Argumentstelle des Possessors: er ist ein guter Vater; Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr etc. Im Übrigen gibt es bekanntlich in der Debatte um die Determinativkomposition eine ganz analoge Konstellation der Argumente und Deutungsmuster wie bei den attributiven Genitivkonstruktionen. Auch hier wollen viele die Rektionskomposita mit im Nukleus angelegten Argumentbeziehungen unterschieden wissen vom anderen Extrempol der (bloß im Nenn- oder Textzusammenhang interpretierbaren) Augenblickskomposita. Und auch hier ließe sich sehr wohl eine Perspektive implementieren, bei der lexikalisch angelegte Argumente und abstrakte Konstruktionsbedeutung die beiden komplementären Ressourcen einer prozessrealistischen Modellierung bilden. 3. Ergänzungen Es ist eine altbekannte Tatsache, dass der adnominale Genitiv grammatikografisch konventionell zu recht vielen Konstruktionen gerechnet wird. Es gibt, je nachdem, welche Grammatik man aufschlägt, den possessiven, den partitiven, den subjektiven und den objektiven, den explikativen, den Definitionsgenitiv und noch einige mehr. Gut Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen 263 begründete Einteilungen gibt es von Blatz (1896) bis Engelen (1984). Freilich werden die Grenzen zwischen den Konstruktionstypen en détail überall ein wenig anders gezogen. Eine hier nicht im Detail begründbare, aber sicher anfangsplausible These müsste beinhalten, dass der Genitiv alle Beziehungen zwischen Nomina bzw. Nominalphrasen zu kontrahieren vermag, die sich aus systemischen, textuellen oder lokalen online-Beziehbarkeiten der beiden Nominalgruppen ohne weitere Relatoren erschließen oder konstruieren lassen. Das ist Wilhelm Wundts oben skizziertes „logisches“ Prinzip der „innerlich determinierten“ Beziehungen. Es reserviert die hoch grammatikalisierten und entsemantisierten „grammatischen Kasus“ (oder auch reine Positionsschemata wie das der Determinativkomposition) für deren Ausdruck - ganz im Unterschied zum Grenz- und Randkasus Dativ, der an innerlicher wie an äußerlicher Determination partizipiert, sowie im Unterschied zu den in der Hauptsache 6 äußerlich determinierten präpositionalen Relatoren. Ich betrachte die tradierte Praxis der grammatischen Beschreibung des attributiven Genitivs als „konstruktionsgrammatisch“ in dem Sinne, dass ein kategorial-ausdrucksseitiges Muster [NP + NPgen] subklassifiziert wird nach den Konstruktionsbedeutungen, welche die gesamte komplexe Nominalgruppe annimmt. Sie ist es, die einmal „possessiv“, einmal „partitiv“, einmal „definitorisch“ etc. gelesen wird. Insofern spiegelt die traditionelle grammatikografische Praxis hier den Umstand, dass auch Konstruktionen so etwas wie eine Bedeutung haben. Und, so wäre hinzuzufügen, die traditionelle Praxis spiegelt auch den Umstand, dass die Grenzen zwischen „Konstruktionen“ nur mehr oder minder willkürlich gezogen werden können. Dabei lassen sich auch unterschiedliche Expansionslogiken unterscheiden. Im Englischen können (unter angebbaren Bedingungen) Nukleus und Relator der Genitivkonstruktion mit of separiert und lexikalisiert werden: sort of, ff kind of, ff bit of ... und sie werden dann zu quasi-adjektivischen Modifikatoren uminterpretiert, während der Satellit dann als neuer Nukleus reanalysiert wird. Im Deutschen steht für diesen Typ von Wandel eher die enge Apposition. Wir sagen: Das ist so eine Art (von) Kooperative und etablieren damit auch ausdrucksseitig eine Grenz- und Übergangszone zwischen Genitivkonstruktion und enger 6 In verbregierten Präpositionalobjekten sinken auch Präpositionen auf den Status des Ausdrucks innerlich determinierter Beziehung. Clemens Knobloch 264 Apposition, anstatt einfach die Deutungs- und Reanalyseoptionen der [N of N]-Konstruktion zu erweitern, wie im Englischen. Nun ist es, angesichts der definitorischen und konzeptuellen Vagheit von Possession, wenig überraschend, dass es in der Literatur sehr eng und sehr weit gefasste Versionen des possessiven Genitivs gibt. Es gibt kaum objektivierbare Kriterien dafür, wann man von einer metaphorisch-analogischen Extension einer bestehenden Konstruktion sprechen soll, und wann von einer neuen und anderen Konstruktion. Blatz (1896) rechnet zum Possessivgenitiv, was andere Autoren als Genitivus auctoris abzugrenzen wünschen, und auch die (meronymischen) Teil-Ganzes-Beziehungen vom Typ das Dach des Hauses betrachtet er als Teil der Possessivsphäre. Selbst den Subjektsgenitiv bringt er teilweise mit der Possessivbeziehung zur Deckung. Ich habe oben zu argumentieren versucht, dass auch verschiedene Prototypen lexikalisch angelegter Argumentbeziehungen zum Ausgangspunkt für die Generalisierung und Ausbreitung einer abstrakten darstellungstechnischen Konstruktionsbedeutung (im Sinne von Langacker 2008) werden können. Man kann sich also durchaus auf den Standpunkt stellen, dass jeder Versuch der genuin konzeptuellen Begrenzung einer Konstruktionsbedeutung die Grammatiker in ein paradoxes Scheinproblem führt: Eine synchronisch beschreibbare, aber diachronisch en détail unvorhersagbare Variations- und Expansionslogik gehört zu jedem darstellungstechnischen Schema, sie gehört gewissermaßen schon zum definitorischen Kern von „Grammatik“. Ich möchte (im Anschluss an das oben referierte Argument von Seiler 1983) vorschlagen, die Besonderheiten der Genitivkonstruktion etwas genauer auf die Argumentkonstellationen zu beziehen. Ist der Nukleus der Konstruktion ein inalienables Possessum, so ist die gesamte asymmetrische Argumentkonstellation mit dem Nukleus bereits gegeben und der genitivisch explizierte Possessor füllt eine bereits vorhandene Argumentposition. Insofern besteht hier in der Tat eine Analogie oder Ähnlichkeit mit Valenzbeziehungen, allerdings eine durchaus begrenzte. Dass der attributive Genitiv bei inhärent relationalen Nuklei „regiert“ sei, bei nicht-relationalen Nuklei dagegen „modifizierend“ (Lehmann 1985), markiert sicher einen wichtigen Unterschied. 7 „Regiert“ heißt hier aber nicht, dass die Genitivkonstruktion gefordert 7 In der deutschen Grammatik hat bereits Sütterlin (1900) eine ganz ähnliche Unterscheidung empfohlen. Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen 265 ist, es heißt nur, dass irgendeine Form der Possessor-Identifikation gegeben sein muss. Ist der Nukleus der Konstruktion hingegen alienabel (und somit ohne inhärenten Verweis auf einen Possessor), so ändert sich die Lage grundsätzlich. Beide Argumentrollen werden dann nämlich erst durch das Konstruktionsschema selbst vergeben. Ein Ausdruck wie der Kirschbaum meines Nachbarn konstituiert den Nukleus erst als Possessum, indem es ihm per Schema einen Possessor beigibt, der seinerseits dem Nukleus der Konstruktion den Charakter eines Possessums erst verleiht. Und insofern könnte man bei dieser (alienablen) Variante in der Tat ganz konstruktionsgrammatisch von einer Konstruktionsbedeutung „Possessivgenitiv“ sprechen. Eine heuristische Alternative bestünde darin, analog zu Stefanowitschs (2003) Vorschlag für das Englische, die Trenn- und Schnittmengen des pränuklearen -s-Genitivs und des postnuklearen Genitivs genauer auszuleuchten. Zweifellos gilt auch für das Deutsche, dass der pränukleare Genitiv (mit seiner relativen Begrenzung auf Eigennamen oder namensähnlich gebrauchte Appellativa - also auf typische Possessor- Ausdrücke - sowie mit seiner morphologischen Sonderstellung) „possessiver“ ausfällt und eine begrenztere Expansionslogik aufweist als der postnukleare. Allerdings wäre wohl auch bei einem solchen Vorgehen zu erwarten, dass die Expansionslogik alles „Geeignete“ erfasst, und also empirisch geprüft und begrenzt werden muss, was den Sprechern als „geeignet“ erscheint. Der pränukleare Genitiv eignet sich z.B. vorzüglich auch für Subjekts- und Objektsgenitive - unter der Voraussetzung, dass die Eigennamen-Restriktion eingehalten wird. Was man wiederum auch als Argument dafür verwenden kann, die Polarisierung beider Konstruktionen nicht zu übertreiben, aber auch als Argument für die konstruktionsgrammatische Gleichbehandlung genuin possessiver und deverbaler Argumentbeziehungen. Was die Konstruktionsgrammatik als „Konstruktion“ konzeptualisiert und verdinglicht, das ist und bleibt ein ontologisch ziemlich vertracktes Objekt, zusammengehalten durch ein Geflecht von (Wittgenstein'schen) Familienähnlichkeiten, das jedenfalls den heutzutage szientifisch unentbehrlichen Formalisierungsbedürfnissen der modernen Linguistik Hohn spricht. Clemens Knobloch 266 4. Zusammenfassung (und Weiterungen) Als kategoriales Schema betrachtet bietet die attributive Genitivkonstruktion eine Option, eine Nominalgruppe (unter Erhaltung ihrer Determinations- und Ausbaufähigkeit und ihrer Referenzialität) zum „reference point“ (Langacker 2008) einer anderen Nominalgruppe zu machen. Das unterscheidet die Genitivkonstruktion von „benachbarten“ Schemata wie z.B. dem (possessiven) Relationsadjektiv der slawischen Sprachen, das Possessor-Nomina umkategorisiert, oder dem Bestimmungswort einer Determinativkomposition, dessen syntaktische Position ihren Inhaber dekategorisiert, entreferenzialisiert und jeder weiteren Bestimmung entzieht. Der possessive Genitiv wäre dann eine im Detail schwer abzugrenzende Konstruktion innerhalb dieser kategorialen Familie. Ausgezeichnet wäre er gegen die vielen anderen Genitivtypen allein durch die Konstruktionsbedeutung der Possessor-Possessum-Argumentkonstellation. Eine hinreichend abstrakte Formel für die Schemabedeutung, die der possessive Genitiv mit anderen Possessivkonstruktionen teilt, gibt Langacker (ebd., S. 538): Possessiv ist „the conceptual operation of involving a reference point to mentally access a target“. Strukturell gilt, dass jedes lexikalische N (weitgehend ausgeschlossen sind Eigennamen und pronominale Ausdrücke) fähig ist, der Nukleus zu einem Genitivattribut zu sein oder zu werden. Der possessive Genitiv ist aber nicht nur ein Mitglied der Familie „Genitivkonstruktionen“, er ist zugleich auch ein Mitglied der Familie „Possessivkonstruktionen“ und muss in eine Reihe gestellt werden mit ausdrucksseitig so unähnlichen Formaten wie Possessivpronomina, Pertinenzdativen, Possessivkomposita, haben-Konstruktionen und lexikalisch fundierter inhärenter Possession. Sie bilden eine darstellungstechnisch fundierte Gruppe von Konstruktionen, deren Definiens die Argumentkonstellation von Possessor und Possessum bildet. Kategorial betrachtet ist der attributive Genitiv abzugrenzen durch den Umstand innerlich determinierter, d.h. keines semantischen Relators bedürftiger Beziehungen zwischen Nominalen. Neben dem regierten und dem modifizierenden Possessivgenitiv stehen da auch andere innerlich determinierte Konstellationen: vererbte adverbale Argumentbeziehungen bei Subjectivus und Objectivus, der „Genitiv des Merkmalsträgers“ bei anderen, besonders deadjektivischen sekun- Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen 267 dären Nomina, idiosynkratische Argumente wie bei Bild - [Abgebildetes], partitive Rollen bei Zähl- und Messgrößen etc. In dieser janusköpfigen Konstellation erscheinen die Paradoxien der Grammatikalisierung, die einesteils (durch konstruktionale Schematisierung, wie beim Genitiv) Funktionslast umlegt auf pragmatischsemantische Beziehbarkeiten, anderenteils lexikalisch fundierte prototypische Argumentbeziehungen verwässert und desemantisiert. Je offener (und das heißt: je „grammatischer“) die Expansionslogik eines Schemas, desto schwieriger (und auch unsinniger) wird es, begrenzte Konstruktionsbedeutungen anzusetzen. Noch einmal anders gesagt: Die Grammatikalisierung eines Schemas zerstückelt nicht nur dessen semantische Konsistenz, sie bewegt es auch immer ein Stück weit in Richtung auf eine „innerlich determinierte“ Beziehung. Kategorialregelhafte, rein syntaktische Interpretationen, wie sie die Konstruktionsgrammatik (aus gutem Grund und langer Erfahrung) mit Misstrauen beäugt, liegen umso näher, je allgemeiner das Schema grammatikalisiert ist. Attributive Genitive sind da ebenso gute Kandidaten wie z.B. die Determinativkomposition. Ganz ohne Einschränkung und Relativierung von konstruktionsgrammatischen Axiomen bezüglich der ausdrucksseitigen Bindungen von Formaten wird es also nicht gehen, auch wenn man akzeptiert, dass eine komplett kategorial planierte und nivellierte Grammatik ein chimärisches Unding ist. Perspektivisch demonstriert die ausdrucksseitige Grammatikalisierung einer Konstruktion wie der des attributiven Genitivs, dass Grammatikalisierung den Grad der (unterstellbaren! ) kommunikativen Integration einer Kommunikationsgemeinschaft steigert, weil eine Vielfalt von sachlichen Beziehbarkeiten unter einem ausdrucksseitigen Muster zusammengefasst werden (und im Verstehen gleichwohl auseinander gehalten werden können und müssen). Die zahlreichen, ausdrucksseitig kaum verknüpften Optionen der Kodierung von Possession zeigen aber umgekehrt auch, dass die für Grammatiken relevante Ebene der Integration weder rein kategorial noch rein lexikalisch ist, sondern eine konzeptuell-darstellungstechnische Komponente hat. Für die Argumentkonstellation Possession gibt es, je nach der Art und Weise, wie der Possessor ins Spiel gebracht wird, eine ganze Reihe verschiedener ausdrucksseitiger „Ankerplätze“: inalienable Possessum-Substantive, Possessivpronomina, possessive Genitive, haben/ gehören / / / sein + Dativ-Konstruktionen mit possessiver lexikalischer Färbung etc. Es ist das Prinzip Clemens Knobloch 268 der doppelten Absicherung, durch in semantischen Prototypen fundierte Argumentrelationen auf der einen und darstellungstechnische Schemabedeutungen auf der anderen Seite, das die Grammatik zugleich hinreichend flexibel und hinreichend präzise hält. Was nun die Argumentbeziehung zwischen Possessum und Possessor selbst betrifft, so sind einige Besonderheiten zu notieren. Zum einen zeigen die in das Satzfeld eingebetteten Possessivkonstruktionen, dass die Rollen von Possessor und Possessum mit adverbalen Argumentrollen einigermaßen friedlich koexistieren. Darüber hinaus kann ein und dieselbe Substantivgruppe zugleich Possessum gegenüber einer Possessor-Substantivgruppe und Possessor gegenüber einer anderen sein. Im folgenden Satz (aus Vanity Fair) ist die Phrase seine Schwiegermutter zugleich Possessum gegenüber dem Hauptsatzsubjekt Herr Pitt und Possessor gegenüber dem Objekt ihre Autorität im Objektsatz: (15) Herr Pitt [...] hatte nichts dagegen einzuwenden, dass seine Schwiegermutter in diesem Punkte ihre Autorität geltend machte. Das unterstreicht die relative Autonomie internominaler Argumentbeziehungen gegenüber dem Verbalfeld und legt es nahe, Possession insgesamt den „reference tracking“-Mechanismen zuzuordnen. Geordnete Possessor-Implikation und Possessor-Indikation stehen dabei oft in freiem Wechsel: (16) Die Briggs machte den Versuch, bei ihren ländlichen Verwandten zu leben. (17) Die jungen Leute, denen sie in allen Nöten beisteht, [...] In (16) könnte ihren auch entfallen, und in (17) würde der Zusatz in allen ihren Nöten nichts daran ändern, dass von Text, Sache und Formel her die jungen Leute die wahrscheinliche Possessor-Nominalphrase bilden. Wenigstens am äußersten Rand der prädikativ etablierenden Possessivkonstruktion ist auch noch der (freilich stark beschränkte) prädikative Genitiv zu erwähnen: (18) Peggy O'Dowd ist vorschnellen Temperaments. Genitivkonstruktionen und Possessorrealisierung im Deutschen 269 Er entspricht ungefähr einer haben-Konstruktion mit inalienablem Possessum und dem damit einhergehenden Druck, dieses zusätzlich zu charakterisieren. Seiler (1983, S. 4) weist darauf hin, dass der primär internominale Charakter der Possession deren verbale Etablierung zu einer metalinguistischen Prädikation macht. Da es im prototypischen Kern der Relation keinen lexikalisch fundierten inhärenten Possessor gibt, kann diese Rolle nur durch das Possessum oder durch das Schema erteilt werden. Literatur Blatz, Friedrich (1896): Neuhochdeutsche Grammatik. Bd. 2: Satzlehre. 3. Aufl. Karlsruhe. Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena. Clasen, Bernd (1981): Inhärenz und Etablierung. (= akup 41). Köln. Engelen, Bernhard (1984): Einführung in die Syntax der deutschen Sprache. Bd. 1: Vorfragen und Grundlagen. Baltmannsweiler. Hole, Daniel (2001): Er hat den Arm verbunden. Valenzreduktion und Argumentvermehrung im Haben-Konfigurativ. In: Japanische Gesellschaft für Germanistik (Hg.): Grammatische Kategorien aus sprachtheoretischer und typologischer Perspektive. Akten des 29. Linguistik-Seminars (Kyoto 2001). München, S. 167-186. Kay, Paul/ Zimmer, Karl (1976): On the semantics of compounds and genitives in English. 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Der Ausgangspunkt passt gut zur strukturalistischen Idee der weitgehend freien Kombinierbarkeit von Zeichen, die nach wahrheitsfunktionalen Regeln die Gesamtbedeutung des Satzes aufbauen. Er kann selbstverständlich auch gut gerechtfertigt werden: Einfache Aussagesätze stellen nach Kennzeichnungsaufwand, Distribution und Frequenz den unmarkierten Fall dar. Allerdings bergen Vereinfachungen immer die Gefahr, dass das theoretische Potenzial von nicht unter die Vereinfachung fallenden Phänomenen nicht erkannt wird. So wurde in der Valenztheorie anderen Satztypen bzw. Satzmodi 2 erst im Rahmen der dynamischen Valenz stärkere Beachtung geschenkt (Sadziński 1989; Ágel 2000). Zum Beispiel wird im Imperativsatz das Subjekt makrovalenziell im neutralen Fall nicht realisiert, semantisch durch den Angesprochenen gefüllt. Im Ergänzungsfragesatz wird eine Argumentstelle (Ergänzung oder Angabe) von einem Fragewort gefüllt, semantisch ist eine Füllung der Argumentstelle durch einen Wert präsupponiert (siehe Äußerung (2) unten). 1 Ich danke den Teilnehmern der Fachtagung sowie zwei anonymen Gutachtern für wertvolle Anregungen und Kritik. 2 Satztypen, -arten oder -formen beziehen sich auf die Formseite, Satzmodi beziehen die Semantik mit ein. Vgl. Meibauer (2013, S. 712), der auch Bezüge zwischen Satztyp und Informationsstruktur sieht (ebd., S. 731). Klaus Fischer 272 Nach kurzen Begriffsklärungen (siehe Abschnitt 2) werde ich in meinem Beitrag zeigen, dass nicht nur der Satztyp, sondern auch die Informationsstruktur einen Effekt auf die Argumentstruktur hat, der im Rahmen der dynamischen Valenz zu erfassen ist (siehe Abschnitt 3). Außerdem werde ich einige Überlegungen zum Verhältnis von Fokus, Prosodie und Kontrast anstellen und dabei kurz die Frage der projektiven Beschreibung von Konstruktionen mit engem Fokus ansprechen (siehe Abschnitt 4). Auch ungeachtet ihrer theoretischen Relevanz mag die ausführliche Diskussion einzelner Beispiele von Interesse sein. In Abschnitt 5 werde ich z.B. Fokuskonstruktionen aus den Druckmedien einschließlich ihrer Diskurseinbettung besprechen. 2. Begriffsklärungen Vorab soll kurz ein möglicher Einwand besprochen werden: Satztypen betreffen das weitgehend invariante, formale Inventar, das Sprechern zur Verfügung steht, also die Systemebene, die Informationsstruktur aber Äußerungen, also den Gebrauch. Zunächst einmal ist anzumerken, dass sich die dynamische Valenz natürlich auch, oder besser gerade, für die Veränderung der Valenz im Gebrauch interessiert, z.B. dafür, wie das Ergänzungspotenzial von Lexemen bzw. Lexemlesarten im Gebrauch verändert wird. Sodann ist die Sortierung in System- und Gebrauchsphänomene bekanntlich problematisch: Ergänzungsfragesätze z.B. haben aufgrund ihrer Systemeigenschaften eine bestimmte Informationsstruktur, letztere kann also nicht pauschal dem Gebrauch zugeschlagen werden. Des Weiteren gibt es Variabilität bei der Realisierung von Satztypen unter bestimmten Gebrauchsbedingungen, z.B. Realisierung eines makrovalenziellen Subjekts bei nachdrücklicher Aufforderung (Komm du jetzt endlich! ). Wir werden diese Permeabilität zwischen System- und Gebrauchsebene im Folgenden im Auge behalten. Auch bei Fokuskonstruktionen ist es eine Frage der Feinjustierung bzw. der Perspektive, was als konstruktionsbedingte und was als kontextuelle Bedeutung gesehen wird. Betrachten wir nun ein konstruiertes Beispiel, an dem sich die hier interessierenden informationstheoretischen Begriffe erläutern lassen: (2) Was macht Susanne? (3) Sie trinkt Kaffee. (4) Nein, sie trinkt Tee. Zwischen Valenz und Konstruktion 273 In der Assertion (3) ist sie Thema, während trinkt Kaffee die Neuinformation enthält, die insgesamt fokussiert ist (weiter Fokus), den Haupt- oder Äußerungsakzent 3 enthält und die offene Valenzstelle von Frage (2) füllt. Trinkt Susanne keinen Kaffee, sondern beantwortet E-Mails, dann ist Assertion (3) falsch. Äußerung (4) stellt eine Korrektur dar. Diese Korrektur betrifft aber nur einen Teil der Neuinformation von Äußerung (3), nämlich das Getränk, während der Trinken-Teil akzeptiert wird und in den Hintergrund tritt (und ggf. deakzentuiert wird). Tee dagegen ist fokussiert (enger Fokus), 4 erhält möglicherweise einen Hervorhebungsakzent, der im Gegensatz zum Äußerungsakzent stärker ist, länger andauert und meist steigend realisiert wird: 5 (3') Sie [trinkt KAffee] F . (4') Nein, sie trinkt [TEE] KF . Als Konsequenz des Kontrastfokus im gegebenen Kontext enthält Äußerung (4) die Präsupposition, dass Susanne etwas trinkt. Zur Diskussion steht nur, was. Die Äußerung assertiert nicht, dass Susanne Tee trinkt, sondern spezifiziert einen Wert für den vorausgesetzten offenen Satz ‘Susanne trinkt etwas’. Trinkt sie etwas anderes als Tee, dann ist Äußerung (4) falsch, trinkt sie gar nichts, dann ist der Äußerung die Grundlage (der Hintergrund) entzogen, ein Wahrheitswert kann eigentlich nicht zugeordnet werden. Fälle wie (4), in denen mit engem Fokus nach traditioneller Auffassung eine Präsupposition verbunden ist, spreche ich als „prototypischen Kontrastfokus“ an. Ich lasse die Frage beiseite, ob Präsuppositionen konstruktions- oder äußerungsbedingt sind. Dazu einige Bemerkungen weiter unten. Was ist eine Präsupposition? Es ist eine Hintergrundannahme, die erfüllt sein muss, damit eine Äußerung ein sinnvoller Zug im Sprachspiel ist, im Falle einer Spezifikation wie (4) schließt das Wahrheitsfähigkeit ein. Spezifikation (4) präsupponiert, dass es eine Person namens Susanne gibt, dass es ein Getränk namens Tee gibt, und eben dass Susanne in der zur Diskussion stehenden Situation etwas trinkt, und evtl. 3 Ich benutze hier die Terminologie von Kehrein (2002). 4 Siehe Féry (2011a, b). ‘Enger Fokus’ ist ein relativer Begriff, den ich im Folgenden nur auf durch Hervorhebungsakzent gekennzeichnete Foki anwende, also enger fasse als Féry. 5 Im Folgenden bezeichnet F weiten Fokus, EF engen Fokus, KF engen Fokus, der einen prototypischen Kontrast realisiert. KF ist also eine Subklasse von EF. Klaus Fischer 274 auch, dass dies etwas Bestimmtes ist, was den Ausschluss anderer möglicher Getränke bedeutet (Exhaustivität; starker Kontrast, vgl. Lang/ Umbach 2002, S. 170f.). All dies kann man aus der Spezifikation (4) folgern, aber als Präsupposition vorausgesetzt ist das Gefolgerte dadurch, dass es auch für die Akzeptabilität der Negation von (4) eine Rolle spielt: (5) Sie trinkt [keinen TEE / KEInen Tee] KF . Die Zurückweisung des Wertes ‘Tee’ in dem gegebenen Kontext lässt einen Hörer erwarten, dass ein anderer Wert für das Getränk zutrifft, der noch nicht genannt ist, nicht etwa, dass Susanne nichts trinkt. Ich habe vorsichtig formuliert und vermieden, von einer Folgerung aus Äußerung (5) auf Susannes Trinken zu sprechen. Eine Symmetrie der Folgerungen aus positivem und negativem Satz führt zu einem logischen Präsuppositionsbegriff, der mit den bekannten Schwierigkeiten verbunden ist (siehe Levinson 1983, S. 175ff.). Tatsächlich scheint die Beziehung zwischen negativer Äußerung und Präsupposition schwächer - vor allen Dingen ist sie leicht aufhebbar, wie wir unten sehen werden. Ich operiere hier also mit einem pragmatischen Präsuppositionsbegriff, der sich auf die vom Sprecher angenommenen Hintergrundannahmen für eine Äußerung bezieht, 6 interessiere mich aber gerade für die semantischen Konsequenzen von Präsuppositionen. Vorgreifend soll kurz angemerkt werden, dass die drei Begriffspaare Präsupposition/ Assertion (bzw. Frage, Aufforderung etc.), Hinter-/ Vordergrund (Fokus) und diskursalt (vorerwähnt)/ diskursneu nicht deckungsgleich sind: Nicht jedem Hintergrund einer Äußerung entspricht eine Präsupposition, fokussierte Elemente besitzen in der Regel eine Existenzpräsupposition, sie können auch diskursalt sein, sowohl Hintergrund als auch Präsupposition können diskursalt oder diskursneu sein. Es ist deshalb ungenau, zu sagen, dass der Fokus assertiert wird: Dies trifft nur zu, wenn eine ganze Äußerung fokussiert ist. In allen anderen Fällen ist es die Beziehung des Fokus zum Hintergrund, worin die Assertion besteht. 6 Meist wird der Sprecher so operieren, dass der Hörer die Präsuppositionen teilt. Dies muss aber nicht der Fall sein, weshalb Hintergrundannahmen des Hörers m.E. nicht in die Begriffsbestimmung von Präsupposition eingehen sollten. Zwischen Valenz und Konstruktion 275 Nehmen wir nun an, ein Sprecher führt eine weitere Korrektur durch: (6) Nein, sie trinkt [NICHTS] KF . Äußerung (6) weist die Präsupposition von Äußerung (4) zurück anstatt nur einen Wert zu ersetzen. So geht die orthodoxe Auffassung. Die Frage ist aber, ob mit Äußerung (4) wirklich die behauptete Präsupposition verbunden ist: Wer nämlich Äußerung (6) für einen gleichstark erwartbaren Zug im Sprachspiel wie etwa Äußerung (5) hält, wendet sich gegen den eben formulierten Präsuppositionsbegriff, lehnt die Existenz der Präsupposition von Äußerung (4), dass Susanne etwas trinkt, ab. Tatsächlich enthält Äußerung (6) m.E. ein Überraschungsmoment, die Korrektur würde wohl eingeleitet, etwa: (7) Nein, sie trinkt [WEder KAffee NOCH TEE] KF , sie trinkt nämlich FF [GAR NICHTS] KF . Die Korrekturen (6) bzw. (7) sind insofern interessant, als sie zeigen, dass Präsuppositionen leicht im Diskurs aufgehoben werden können, was nicht bedeutet, dass sie nicht vor ihrer Aufhebung von Sprecher und ggf. auch Hörer geteilte Hintergrundannahmen darstellen. Präsuppositionen spielen eine große Rolle in der Textorganisation, die vom Hörer (noch) nicht geteilten auch im Herstellen eines Diskursgefälles (Demonstration von Sprecherwissen), z.B. in der politischen Kommunikation. Text- und Diskursfunktionen von Präsuppositionen können hier nur erwähnt werden, sie werden in Abschnitt 5 wieder aufgegriffen. 3. Kontrastfokus in Korrektursituationen und Valenz Ich wende mich nun den durch Kontrastfokus in Korrektursituationen bewirkten Valenzeffekten zu. Dieser klar definierte Ausgangspunkt wurde gewählt, weil er einen „starken“ und deshalb auch stark gekennzeichneten Fall von engem Fokus darstellt (vgl. die Skala der Foki in Féry 2011a, S. 16f.), dessen valenzielle Relevanz unabweisbar ist. Kontrastfokus in Korrektursituationen schränkt nämlich die Füllung der Leerstelle auf konkrete positive Werte ein, negative oder auch indefinite Füllungen (nichts, etwas, wenig) stellen einen Bruch mit der Erwartung dar. Außerdem ist die Rolle der Leerstellen eine andere als in assertivem Gebrauch: Die Kontrastfokuskonstruktion führt - unter Rückgriff auf die normale Argumentstruktur - eine zweite, zweistellige Prädikationsstruktur ein. Aus der normalen Argumentstruktur Klaus Fischer 276 wird das kontrastfokussierte Element herausgenommen. Übrig bleibt ein offener Satz, der als erstes Argument des neuen Prädikats ‘Kontrastfokus’ dient. Das zweite Argument ist die Zuordnung (Spezifizierung) des kontrastfokussierten Elements als Wert für die Variable im ersten Argument, dem offenen Satz. Die Zuordnung erfolgt aus einer Menge von kontextuell gegebenen Alternativen, die u.a. durch das erste Argument, den offenen Satz, begrenzt wird. Diese soeben beschriebene zweite Prädikationsstruktur kann als zweistelliger Kontrastfokusoperator modelliert werden, der die Assertion einer Spezifizierung anzeigt (siehe die relationale Fokus-Hintergrund- Auffassung in Jacobs 1988, S. 92ff.): 7 Assertion: P(A 1 , ..., A n ) Kontrastfokus: KF(P(A 1 , ..., X, ... A n ), X=A) P: Prädikat; A: Argument; X: Variable; KF: Kontrastfokusoperator Mit dieser Modellierung ist noch nichts darüber gesagt, ob Kontrastfokus als Konstruktionsmerkmal aufzufassen ist (top down) oder ob es einen Valenzträger für Kontrastfokus gibt, ob also die der traditionellen Valenztheorie eigene projektive Sichtweise (bottom up) sich bewährt (siehe Jacobs 2008, 2009). Festzuhalten ist, dass die Informationsstruktur ähnlich wie der Satztyp einen Effekt auf die erwartete Besetzung der Leerstellen hat. Dieser Effekt schlägt auf die semantische Verrechnung durch: (8) Sie [trinkt TEE] F (9) Sie trinkt [TEE] KF Die Wahrheitsbedingungen für Äußerungen mit weitem (8) und engem Fokus (9) sind, wie wir gesehen haben, nicht identisch. Dieses an sich nicht neue Ergebnis steht im Gegensatz zur immer wieder geäußerten Sicht, dass die Propositionen in einander entsprechenden Äußerungen mit weitem und engem Fokus identisch seien. Eine extreme Position nehmen z.B. Huddleston/ Pullum (2002, S. 36f.) ein, die sogar den Effekt von Fokuspartikeln aus der Proposition heraushalten wollen. Aber die folgenden Äußerungen haben keine identischen Wahrheitsbedingungen: 7 Selbstverständlich kann auch ein Prädikat engen Fokus erhalten, entsprechend wäre die Formel für den Kontrastfokusoperator zu ergänzen. Zwischen Valenz und Konstruktion 277 (10) Max hat Schweineohren gegessen. (11) Sogar Max hat Schweineohren gegessen. Hat nur Max Schweineohren gegessen oder hat Max Schweineohren gegessen und es ist bekannt, dass er sie mit Vorliebe isst, dann ist (10) wahr, aber (11) so unangemessen, dass man die Zuordnung eines Wahrheitswertes entweder verweigert oder die Äußerung als falsch bezeichnen müsste (oder man wertet sie als ironisch). Auch Jacobs (1988, S. 93) stellt fest: Es gibt Sätze, bei denen [...] die FHG [Fokus-Hintergrund-Gliederung] in die Wahrheitsbedingungen, allgemeiner: in den propositionalen Gehalt, eingreift [...]. Allerdings gilt diese Feststellung nicht für Äußerungspaare wie (8) und (9), die Jacobs (ebd., S. 91) als intensional, aber nicht extensional verschieden betrachtet. In diesem Beitrag wird dagegen eine weite Auffassung des propositionalen Inhalts vertreten, die auch die Bedeutungsunterschiede in dem genannten Äußerungspaar erfasst. Will man den Unterschied zwischen weitem (8) und engem Fokus (9) in syntaktische Valenzdarstellungen integrieren, so bietet sich Kontrastfokus als Wortäquivalent an - in Anlehnung an Eroms’ (2000, S. 97ff.) Integration von Satzarten (Satztypen) in Dependenzdarstellungen. Zusätzlich muss die Argumentstelle des fokussierten Elements durch eine Variable (x) gefüllt werden. Man vergleiche Abbildung 1 und 2: trinkt sie Tee Abb. 1: Valenzdarstellung für unmarkierten, weiten Fokus Kontrastfokus trinkt Tee sie x Abb. 2: Valenzdarstellung für markierten, engen Kontrastfokus auf Tee Klaus Fischer 278 Dies mag einigermaßen aufwändig anmuten, aber wir werden in Abschnitt 5 sehen, dass für den es-Spaltsatz in allen Positionen im Stemma tatsächliche Wörter zugeordnet werden können. Wie regulär ist die Beziehung zwischen engem Fokus, Kontrast und Präsupposition? Sehr eng nach Geurts/ van der Sandt (2004), die die Hintergrund-Präsuppositionsregel (Background-Presupposition Rule) aufstellen: Whenever focusing gives rise to a background λx.φ(x), there is a presupposition to the effect that λx.φ(x) holds of some individual. (ebd., S. 2) Die Regel besagt, dass immer, wenn der enge Fokus eine Äußerung in einen Vorder- und Hintergrund aufteilt, der Hintergrund für ein Individuum gelte, wie es die Formel für den Kontrastfokusoperator oben anzeigt. Wir werden im nächsten Abschnitt in der Diskussion von Prosodie sehen, dass die Hintergrund-Präsuppositionsregel so nicht haltbar ist, wie auch Jacobs (2004) gezeigt hat. 4. Kontrastfokus, Präsupposition und Prosodie Oben wurde angedeutet, dass Kontrastfokus regelmäßig durch einen vom Äußerungsakzent unterschiedenen Hervorhebungsakzent realisiert wird. Ist letzterer ein Zeichen für Kontrast und sollte als Kontrastakzent angesprochen werden? So argumentieren Steube/ Sudhoff (2010), die aufgrund einer Produktions- (Leseexperiment) und Perzeptionsstudie zu dem Schluss kommen, dass sich Kontrastakzente und Neuinformationsakzente [Äußerungsakzente] im Deutschen sowohl in kategorialen (phonologischen) Merkmalen wie Akzenttyp und Downstep als auch in graduellen (phonetischen) Parametern wie Grundfrequenz und Intensität voneinander unterscheiden. (ebd., S. 22) Der Neuinformationsbzw. Äußerungsakzent werde prototypisch fallend (H*L, HL*), der Kontrastbzw. Hervorhebungsakzent prototypisch steigend (LH*, L*H) realisiert. Kontrast sei eine grammatische Kategorie, da sie syntaktische (Stellung kontrastfokussierter im Vergleich mit fokussierten Phrasen), semantische und prosodische Eigenheiten aufweise. Skeptisch sind dagegen Féry (2011a) und Kehrein (2002). In Bezug auf ein konkretes Beispiel bemerkt Kehrein: Zwischen Valenz und Konstruktion 279 Hervorhebungsakzente haben dagegen die Funktion, einzelne Konstituenten von Äußerungen als besonders wichtig zu markieren. (ebd., S. 209) Der Hervorhebungsakzent bedeute genau das: Hervorhebung. Eine Kontrastinterpretation sei dagegen von Kontextinformation abhängig: Der Eindruck der Kontrastierung einzelner Aspekte kommt nicht durch die Akzentstärke zustande, sondern durch das Zusammenspiel von lexikalisch(-syntaktisch)er Information und der Akzentstruktur im sprachlichen und situativen Kontext. (ebd., S. 210; Hervorhebung im Original) Tatsächlich lassen sich leicht Hervorhebungsakzente finden, ohne dass Kontrast vorzuliegen scheint, etwa in Aufzählungen oder in direktiven Kontexten. Ich werde jetzt mehrere derartige enge Fokussierungen diskutieren. Dabei wird sich zeigen, dass sich eine Reihe von einander überschneidenden Klassifizierungen anbieten, die jeweils auch Bezüge zum Kontrastfokus aufweisen. Man betrachte z.B. die folgende Füttersituation: (12) [EINen] EF für [MAma] EF , [EINen] FF EF für [PApa] EF , [...] FF EF: enger Fokus Äußerung (12) schlägt spielerisch vor, unerwünschtes Essen als eine Reihe altruistischer Akte aufzufassen. Für die Äußerung existieren zwar Voraussetzungen - hörerseitig ein Nicht-Essen-Wollen, sprecherseitig der Wunsch, dass der Adressat essen soll -, aber es gibt keine an der Äußerung festmachbare Präsupposition. Für das (möglicherweise) mit einem Hervorhebungsakzent realisierte Zahlwort gibt es gerade keine positive Alternative, nur die situativ gegebene Wahl, „keinen“ zu essen. Die Wiederholung dient der Ritualisierung (was ironische Abwandlung: keinen für Onkel Kurt, zwei für Tante Päule nicht ausschließt). Es liegt enger, aber kein Kontrastfokus vor. Wenden wir uns dem zweiten engen Fokus in Äußerung (12) zu: Zwar stellen die „Benefizienten der Nahrungsaufnahme“ Alternativen aus der Domäne ‘Familienmitglieder und Freunde’ dar, aber eine andere Werte ausschließende Auswahl ist vom Sprecher nicht vorgesehen. Die Auswahl gilt jeweils nur für einen Moment, schließlich soll für alle Benefizienten Nahrung aufgenommen werden. (Wie oft bei hierarchischer Kommunikation gibt es aber hörerseitig Spielräume.) Es liegt eine Art von Kontrastfokus vor, da eine momentane Auswahl getrof- Klaus Fischer 280 fen wird, aber keine Präsupposition, für die ein über die Teiläußerung hinaus gültiger Wert spezifiziert wird. Man könnte dies mit Lang/ Umbach (2002, S. 170f.) als „schwachen Kontrast“ ansprechen. Auf jeden Fall können beide Foki in (12) im Sinne einer emotional gefärbten Hervorhebung als „emphatisch“ bezeichnet werden. Unten wird eine genauere Rechtfertigung dieser Einordnung geleistet. Man beachte, dass die engen Fokussierungen durchaus einen Hintergrund definieren, nämlich ‘(Iss) für’. Anzumerken ist auch, dass eine Definition des von engem Fokus unterschiedenen Hintergrundes über Vorerwähntheit (Jacobs 2004, S. 100; Büring 2006, S. 145) hier an Grenzen stößt. Dieser muss hier und in anderen Fällen auf Situatives ausgeweitet werden: Gegeben ist wie gesagt lediglich die Situation des Nicht-Essen-Wollens („keinen für sich“), zu der die rituelle Aufforderung einen Kontrast bildet. Auf diese Weise kann wohl immer ein Bezug auf vorher Geschehenes gefunden werden, zu dem eng fokussierte Elemente im Kontrast stehen. Man könnte hier von Kontrastfokussierung in einem sehr losen Sinn sprechen. Weitere Hervorhebungen ohne Kontrast relativ zu einer beschränkten Auswahlmenge in einer Domäne scheinen z.B. die folgenden Äußerungen zu enthalten: (13) Was [MACHST] EF du denn da? (14) Was machst [DU] EF denn da? In beiden Äußerungen bewirkt der Hervorhebungsakzent, dass auf der Folie einer w-Frage eine zweite Ebene eingeführt wird, in der die erfragte Handlung bereits identifiziert ist und kritisiert wird. Vom Angesprochenen wird eine Rechtfertigung verlangt, die die Form der Beantwortung der w-Frage annehmen kann, aber nicht muss. In Äußerung (13) gibt es keine Alternativen zu dem hervorgehobenen Verb. In Äußerung (14) sind Alternativen zwar denkbar (du im Gegensatz zu anderen), müssen aber nicht kontextuell vorhanden sein. Auch wird kein Wert für einen offenen Sachverhalt gesucht. Es ist klar, wem der Sachverhalt zuzuordnen ist; der Hervorhebungsakzent bewirkt einen emphatischen Fokus oder „Exklamativfokus“ (Höhle 1992) 8 und 8 Exklamativfokus kann als Teilklasse des emphatischen Fokus aufgefasst werden. Der enge Fokus in (13) erfüllt auch die in Meibauer (2013, S. 731f.) gegebene Definition für Verum-Fokus. Zwischen Valenz und Konstruktion 281 unterstreicht die Verantwortung für die vom Sprecher als problematisch gesehene Handlung. In (13) steht die Kritik an der Handlung im Vordergrund. Beide Äußerungen erheischen eine Erklärung. Wieder gibt es eine situative Voraussetzung (Verhalten, das vernünftig bzw. wünschenswert ist). Können die engen Foki in (13) und (14) trotzdem als Kontrastfoki betrachtet werden? Ich stütze mich im Folgenden auf die Interpretation von emphatic focus in Titov (2013, S. 425ff.). Der enge Fokus in (13) bewirkt, dass der Referent des vom generischen Verb machst regierten Satzes als Extremwert auf einer kontextuell gegebenen Skala aufgefasst wird, in diesem Fall als niedriger Wert (‘unerwartet’) im Gegensatz zur erwarteten Handlung des Angesprochenen. In (14) ist es der Angesprochene, dem vom Sprecher ein niedriger Wert in Bezug auf die kritisierte Handlung zugewiesen wird. Es entsteht jeweils ein Kontrast zu hypothetischen Alternativen, auch wenn diese kontextuell nicht gegeben sind. Titov erreicht mit ihrer Interpretation, dass emphatische Foki wie in (13) und (14) als kontrastive Foki mit Spezifizierung eines Wertes aus einer kontextuellen oder durch die Äußerung selbst evozierten Alternativmenge gesehen werden können, die evtl. nur aus zwei Werten besteht (‘erwartet’ vs. ‘unerwartet’). Allerdings sind die Unterschiede zum prototypischen Kontrastfokus (z.B. in Äußerung (4)) nicht zu übersehen: Eine Korrektur etwa würde nicht einen anderen Wert für die eng fokussierten Phrasen in (13) und (14) bedeuten, sondern eine andere Einschätzung des Referenten aufgrund einer Rechtfertigung des Angesprochenen. Möglicherweise kann Titovs Interpretation auch für die emphatischen Foki in (12) fruchtbar gemacht werden: Beide Foki stellen hohe (‘erwartete’) Werte auf einer impliziten Skala dar. Für den ersten Fokus gibt es den niedrigen Wert ‘keinen’, für den zweiten Fokus bezieht sich die Opposition auf die theoretische Möglichkeit einer Auswahl von außerhalb der erwarteten Menge (Freunde und Verwandte): Eine solche Auswahl stellt den niedrigen Wert dar. Widersprechen Äußerungen wie (12)-(14) der Hintergrund-Präsuppositionsregel von Geurts/ van der Sandt (siehe Abschnitt 3)? Wenn man in den Äußerungen eine Trennung in Hinter- und Vordergrund erkennt, muss die Frage bejaht werden. Rein technisch gesehen ergibt Klaus Fischer 282 sich bei engem Fokus immer eine Vorder-Hintergrund-Gliederung, aber festzuhalten ist auch, dass (12)-(14) einerseits vom prototypischen Kontrastfokus deutlich unterschiedene Verwendungen darstellen, die deshalb als nicht einschlägig ausgeschlossen werden können. Andererseits lässt sich trotzdem jeweils ein Bezug auf prototypischen Kontrastfokus konstruieren, wodurch für die Hintergrund-Präsuppositionsregel sozusagen eine Hintertür offen gehalten wird. Jacobs (2004, S. 104) verwendet den folgenden Dialog als Gegenbeispiel gegen die Hintergrund-Präsuppositionsregel: (15) Hat irgendjemand Gerda eingeladen? [PEter] EF hat sie eingeladen. Das Beispiel zeigt eine größere Affinität zu prototypischem Kontrastfokus als (12)-(14), auch gibt es Alternativen zu dem hervorgehobenen Element (Domäne: alle, die Gerda eingeladen haben könnten). Es liegt also wie beim zweiten Fokus in (12) eine Art Kontrastfokussierung (schwacher Kontrast) vor, aber keine Präsupposition ‘x hat Gerda eingeladen’. Diese wird durch die Entscheidungsfrage verhindert. Allerdings könnte man hier einwenden, dass die Antwort zweierlei tut: die Frage positiv beantworten (Einsetzung der Präsupposition) und für diese einen Wert angeben (starker Kontrast). In dieser Sicht schafft sich die Antwort ihre eigene Präsupposition. Problematisch für diese Interpretation ist aber, dass sich ein verneinter Satz nur mit zusätzlichem lexikalischen Material und zweitem Hervorhebungsakzent einfügen lässt: (16) Hat irgendjemand Gerda eingeladen? Ja, [PEter] KF hat sie aber [NICHT] EF eingeladen (sondern [...]). Hier zeigt sich die oben angesprochene fehlende Symmetrie im Verhältnis von positivem und negativem Satz zur Präsupposition. Einschlägig für Jacobs’ Beispiel ist deshalb die bloße negative Antwort: (17) Hat irgendjemand Gerda eingeladen? [PEter] EF hat sie [NICHT] EF eingeladen. Wieder bewirkt der Hervorhebungsakzent, dass ein kontextuelles Menü aufklappt (alle, die Gerda eingeladen haben könnten). Er verhindert auch, dass Peter der einzige ist, der Gerda eingeladen haben könnte. Aber aus genau diesem Grunde wird die Entscheidungsfrage Zwischen Valenz und Konstruktion 283 nicht beantwortet - jemand anderes oder niemand könnte Gerda eingeladen haben - und keine Präsupposition entsteht. Dialog (17) ist also ein Beispiel für einen Hervorhebungsakzent mit Kontrastfunktion, ohne dass eine Präsupposition vorhanden ist oder durch die Äußerung entsteht und damit ein klares Gegenbeispiel gegen die Hintergrund-Präsuppositionsregel. Eine weitere Kategorie von Äußerungen, deren Kontraststatus kurz angesprochen werden soll, sind metasprachliche Korrekturen: (18) Susanne trinkt nicht [KAffee] KF , Susanne trinkt [KaFFEE] FF KF . Äußerung (18) korrigiert nicht den Wert für die Präsupposition ‘Susanne trinkt etwas’, sondern die Aussprache des Wortes Kaffee. Derartige metasprachliche Korrekturen in objektsprachlichem Gewand sind m.E. von der prototypischen Kontrastinterpretation leicht zu erfassen. Die durch (18) konstruierte Präsupposition lautet: ‘x ist die korrekte Aussprache von Kaffee’, der Wert KAffee wird zugunsten des Werts KaFFEE zurückgewiesen. Äußerung (18) ist in Bezug auf die genannte Präsupposition wahrheitsfunktional. Auch in anderen Fällen trägt die prototypische Kontrastinterpretation: (19) Komm [soFORT] KF ! Äußerung (19) präsupponiert, dass der Angesprochene kommen soll, die Auswahldomäne sind mögliche Zeitpunkte. Durch sein Verhalten hat der Angesprochene einen späteren Zeitpunkt „vorgeschlagen“, den der Sprecher durch den Wert ‘sofort’ zurückweist. M.E. reicht die prototypische Kontrastinterpretation weiter, als es gelegentlich vorgeschlagen wird, aber wie ist damit umzugehen, dass nicht alle Hervorhebungsakzente eine Kontrastfunktion bzw. eine Kontrastfunktion ein und derselben Art haben und nicht alle Hervorhebungsakzente mit Kontrastfunktion eine Korrektur auf der Folie eines präsupponierten Hintergrundes bilden? Die Antwort hängt davon ab, wie man zu auf Prototypik gründenden Definitionen steht, 9 und ob man auch prosodischen Phänomenen Polysemie zugesteht. Auf diesem Hintergrund scheinen die unterschiedlichen Perspektiven von Steube/ Sudhoff (2010) einerseits und Féry (2011a) und Kehrein (2002) andererseits evtl. miteinander vereinbar. Es geht schließlich nur dar- 9 Zur Rolle von Prototypik in der Kategorienbildung vgl. Welke (2011). Klaus Fischer 284 um, ob der Hervorhebungsakzent als Anzeichen oder Zeichen für (prototypischen) Kontrast gelten kann. Für die Hörer genügt ein Anzeichen, um eine Erwartungshaltung aufzubauen. Die genaue Ausgestaltung oder Aufhebung von Kontrast geschieht dann kontextuell. Festzuhalten ist, dass es engen Fokus ohne prototypischen Kontrast (Äußerungen (12)-(14)) und Kontrast ohne Präsupposition gibt (zweiter Fokus in (12), Antwort in (15)), aber enger Fokus, Kontrast und Präsupposition oft zusammen auftreten. Für die Valenztheorie bietet sich deshalb der Hervorhebungsakzent als (polysemer) Valenzträger für Kontrastfokus an (siehe Fischer 2012). Die so gesicherte Projektivität ist an Protoypik gebunden und muss durch den Ko- und Kontext der Äußerung ergänzt werden. Wenn ich im Folgenden von Projektivität spreche, meine ich Projektivität und Kompositionalität in diesem schwachen Sinne einer Motivierung der Konstruktionsbedeutung aus den Bestandteilen (siehe Croft/ Cruse 2004, S. 104ff.). Das fokussierte Argument hat eine Doppelrolle: Es füllt sowohl eine Stelle des lexematischen Valenzträgers als auch eine in der Fokuskonstruktion; es steht zwischen Valenz und Konstruktion. Allerdings kann letztere an einem materiellen Zeichen festgemacht und auch als Valenzträger konstruiert werden. In der Valenzdarstellung wird das Wortäquivalent Kontrastfokus durch das suprasegmentale Zeichen Hervorhebungsakzent ersetzt: Hervorhebungsakzent trinkt Tee sie x Abb. 3: Valenzdarstellung mit Hervorhebungsakzent auf Tee Zu beachten ist, dass Abbildung 3 kein Muster für alle Vorkommnisse des Hervorhebungsakzents liefert, aber dieselbe Einschränkung ist für Valenzbäume mit polysemen Lexemen stillschweigend vorausgesetzt. Zwischen Valenz und Konstruktion 285 5. Beispiele aus den Druckmedien Büring (2006) bezeichnet Informationsstruktur-Markierung, insbesondere Prosodie, als „reaktiv“ oder redundant, wenn sie aus dem Diskurs ableitbar ist: Wer gut aufgepasst hat, was bisher gesagt worden ist und welche Einstellung dazu der Gesprächspartner hat, kann sehr oft voraussagen, was in einer Äußerung fokussiert oder topikmarkiert sein wird. (ebd., S. 145) Aus diesem Grund eigneten sich auch schriftliche Texte zur Diskussion von Prosodie (vgl. auch Féry 2006 zur Funktion von „stiller Prosodie“ beim Lesen). Auch ich werde Prosodie in die Diskussion von schriftlichen Textbeispielen einbeziehen, halte die Charakterisierung von Prosodie als meist „reaktiv“ aber für problematisch, da sie der Prosodie einen Sonderstatus einzuräumen scheint. Tatsächlich könnten alle grammatischen Mittel als weitgehend reaktiv bezeichnet werden: Kasuskennzeichnung, Numeruskennzeichnung, Kongruenz, Wortstellung sind meist prädiktabel und in diesem Sinn reaktiv. In der Komplexitätsforschung fragt Gil (2009, S. 19) provokativ „How much grammar does it take to sail a boat? “ und stellt fest, dass much of the observable complexity of contemporary human grammar has no obvious function pertaining to the development and maintenance of modern human civilization. (ebd.) Mit anderen Worten: Komplexe Mitteilungen sind mit erheblich grammatikreduzierter Sprache möglich. Eine funktionale Erklärung von Grammatik stoße an Grenzen, die auch Büring (2006) für die Prosodie beobachtet, fruchtbarer sei eine Sicht von Grammatik als evolutionäres Produkt (Gil 2009, S. 30). Während dem zuzustimmen ist, ist der funktionale Erklärungsansatz für Prosodie eher günstig: Sie kann bedeutungsunterscheidende Funktion haben (wie Büring auch an mehreren Beispielen zeigt), ist aber auch Bedeutungsträger: Zumindest ein Akzent hat in einem monosemischen Ansatz eine allgemeine Bedeutung (siehe Kehrein 2002), bei einer polysemen Vorgehensweise gibt es auch konkretere Bedeutungen (verschiedene Formen von Kontrast, Korrektur mit Präsupposition). Es werden nun einige Beispiele aus den Druckmedien besprochen, die die eingeführten Unterscheidungen vertiefen. Zuerst geht es um folgende Szene aus dem „Nordkurier“: Klaus Fischer 286 Abb. 4: „Mittendrin im Yachthafen der Lagunenstadt: Der Mannschaftswagen“ (www.nordkurier.de, 23.8.2012; Foto: Facebook Lagunenstadt) In dem zugehörigen Artikel heißt es: (20) Till ist sich sicher: Nicht seine Kameraden, sondern die Technik hat versagt. „Die Handbremse war angezogen“, versichert er. (Nordkurier, 23.8.2012) Liest man den uns interessierenden Satz, der übrigens einen Kongruenzkonflikt enthält, vor, so ergibt sich eine „Hutakzentuierung“ mit zwei Hervorhebungen: (21) Nicht [seine KamerADen] KF , sondern [die TECHnik] FF KF hat versagt. Der zweite Teilsatz die Technik hat versagt informiert uns nicht, dass ein Versagen vorliegt. Das ist durch den ersten, elliptischen Teilsatz vorausgesetzt: Nicht schließt nicht nur einen Wert für ein Argument aus, sondern führt auch eine Kontrastfokussierung durch, die einen alternativen Wert erwarten lässt. Mit dieser Kontrastfokussierung ist das Prädikat für einen Wert assertiert, wir wissen nur nicht, für welchen, und wegen der Ellipse auch noch nicht, um welches Prädikat es sich handelt. Die Funktionen des ersten Halbsatzes sind also folgende (der Übersicht halber ist die Ellipse ergänzt): (21a) Nicht seine KamerADen (haben versagt) Präsupposition: ‘jemand/ etwas hat versagt’ Assertion: Ausschluss eines Wertes (‘seine Kameraden’) Zwischen Valenz und Konstruktion 287 Im zweiten Teilsatz wird dann ein Wert aus dem kontextuellen Auswahlmenü von Alternativen - Feuerwehrleute, Fahrer, Handbremse, Technik - spezifiziert: (21b) sondern die TECHnik hat versagt Assertion: ein Wert wird spezifiziert (‘die Technik’) Die Existenz der Präsupposition ‘x hat versagt’ zeigt sich, wenn man eine nicht-referenzielle Fortführung wählt: (22) ? Nicht seine [KamerADen] KF , sondern [NIEmand] FF KF hat versagt. Die Fortführung ist merkwürdig, da der zweite Teilsatz die Präsupposition des ersten aufhebt. Wenn niemand bzw. nichts versagt hat, läuft Äußerung (21) leer. Valenztheoretisch bestätigt sich, was oben ausgeführt wurde: Das Prädikat ist durch die kontrastive Fokuskonstruktion auf referenzielle Argumente beschränkt, der Subjektstelle im zweiten Teilsatz wird eine Existenzpräsupposition zugewiesen. Stellen wir uns eine Unterschrift zu dem Bild vor: (23) Die Technik hat versagt Wenn wir sie vorlesen, kann der Äußerungsakzent auf Technik fallen: (23') [Die TECHnik hat versagt] F Die Unterschrift enthält in Bezug auf das Bild als Kontext Neuinformation, es ist nicht präsupponiert, dass jemand versagt hat. Zum Beispiel könnte das Bild während einer Filmszene oder einer besonders dramatischen Übung der Feuerwehr entstanden sein. Hat niemand versagt, dann ist Unterschrift (23) falsch, d.h. niemand ist eine mögliche Belegung für das Prädikat hat versagt im Kontext der Unterschrift, im Gegensatz zu Äußerung (21), wie mit (22) gezeigt wurde. Da die Wahrheitsbedingungen für (23) und den zweiten Teilsatz in (21) nicht identisch sind, haben sie nicht denselben propositionalen Gehalt. Das Beispiel aus dem Nordkurier bestätigt nicht nur ganz deutlich die Relevanz von Kontrastfokus für die dynamische Valenz, sondern ist auch in prosodischer Hinsicht interessant. Der Äußerungsakzent in (23) kann auf dieselbe Silbe fallen wie der zweite Hervorhebungsakzent in (21). Da der Äußerungsakzent in (23) ganz früh realisiert werden kann, kann er als steigender Akzent realisiert werden, möglicher- Klaus Fischer 288 weise in der Qualität ganz ähnlich wie eine Realisierungsmöglichkeit des zweiten Akzents in (21). Das Äußerungspaar ist ein Beispiel dafür, dass nicht immer die Akzentqualität zwischen weitem und engem Fokus unterscheidet, sondern der Kontext. Zu bemerken ist, dass bei einer Reihe von „unakkusativischen Verben“ (zu denen versagen nicht gehört) unmarkiert ein früher Äußerungsakzent realisiert wird, z.B. Die KANZlerin ist gekommen, ihr WAgen ist stehen geblieben (siehe Féry 2011b, S. 34f.), mit entsprechenden Konsequenzen für eine mögliche parallele qualitative Realisierung von Äußerungs- und Hervorhebungsakzent. Schauen wir uns noch zwei Beispiele aus der überregionalen Presse an. Der Spiegel beginnt seine Hausmitteilung vom 22. November 2010 folgendermaßen: (24) Betr.: Andenpakt Es war [der SPIEGEL] KF , der im Sommer 2003 das Geheimnis des FF Andenpakts lüftete, eines Geheimbundes, dem führende CDU- Politiker wie Roland Koch, Christian Wulff oder Friedrich Merz angehörten. Der Satz ist ein im Deutschen relativ seltener Spaltsatz, genauer ein es- Spaltsatz (24). Zur Erklärung seiner Struktur gibt es eine Reihe von Ansätzen (siehe z.B. Lambrecht 2001), ich stelle nur kurz den von mir favorisierten vor: Spaltsätze sind besonders explizite Fokuskonstruktionen (nicht Thematisierungskonstruktionen), die der oben ausgeführten semantischen Analyse von Kontrastfokuskonstruktionen syntaktische Korrelate geben: Die Präsupposition ist sozusagen ikonisch in einem Nebensatz, hier einem Relativsatz, realisiert, der als offener Satz für diese Funktion prädestiniert ist: ‘x lüftete das Geheimnis des Andenpakts’. Im Matrixsatz, einem Prädikativsatz mit dem kontrastfokussierten Element (Fokusphrase) als Prädikativum (hier: der Spiegel), erfolgt die Spezifikation eines Wertes für den offenen Satz. Im unmarkierten Fall erhält die Fokusphrase einen Hervorhebungsakzent (in (24) nicht gekennzeichnet, da Kapitale bereits im Original). Kopula und Hervorhebungsakzent können als formale Realisierung des kontrastiven Fokusoperators betrachtet werden, es im Matrixsatz bezieht sich kataphorisch auf den Relativsatz, vermittelt über das Relativpronomen, das für den Bezug die richtige Kategorie hat, nämlich dieselbe Kategorie wie das Fokuselement. So entsteht im Matrixsatz eine Zwischen Valenz und Konstruktion 289 „Gleichsetzung“, die Spezifizierung des Wertes (Fokuselement) für den offenen Satz. Man beachte, dass der Relativsatz mit seinem formalsyntaktischen Bezugselement, dem Fokuselement, keine Phrase bildet, was in der Identifikation von Spaltsätzen oft übersehen wird. Obwohl Spaltsätze in vielen Kontexten als Äquivalente anderer Fokuskonstruktionen betrachtet werden können, gibt es Unterschiede in den möglichen Diskurspositionen, 10 in der Aufhebbarkeit der „Präsuppositionsannahme“ für den Hintergrund 11 und in der Kombinierbarkeit mit Fokuspartikeln, mit denen die Ausschließlichkeitsannahme für den Wert aufgehoben werden kann, wie unten gezeigt wird. Beispiel (24) ist insofern interessant, als der Spaltsatz textinitial ist. Der Spiegel simuliert hier einen Kontext, in dem zur Frage steht, wer diese journalistische Leistung erbracht hat. 12 Mit dem Thema der Hausmitteilung wird zwar auf den Andenpakt verwiesen, aber der Spaltsatz ist keine Korrektur einer anderweitigen Behauptung zu dem Thema. Die Präsupposition wird im Spaltsatz erst geschaffen, ist also diskursneu. Der Leser, dem die Geschichte des Andenpakts und damit die Präsupposition, dass es zum Andenpakt eine Enthüllungsveröffentlichung gab, vielleicht nicht mehr so gegenwärtig ist, gerät sofort in die Defensive und muss die Präsupposition akkommodieren, aber im Falle, dass er nicht mehr weiß, was es mit dem Andenpakt auf sich hatte, hilft der Spiegel dann doch noch nach, indem er in die Präsupposition evtl. leserneue Information einfügt. Ein Spiel mit der Konstruktion. Spaltsätze eignen sich zum Aufbau von Spannung, wenn die Präsupposition im unmittelbaren Diskurs neu ist, da die „Lösung“ (das Fokuselement) vor ihr genannt wird. Jede Assertion schließt Alternativen aus, aber in Kontrastfokuskonstruktionen ist der Ausschluss von Alternativen in unterschiedlichem Ausmaß mitthematisiert, besonders stark in Spaltsätzen: Es war der Spiegel (nicht einer der Konkurrenten), der [...]. Deshalb 10 Nicht diskursinitial verwendet werden könnte: Der SPIEgel lüftete im Sommer des Jahres 2003 das Geheimnis des Andenpakts [...], wo enger Fokus nur durch einen Hervorhebungsakzent gekennzeichnet ist. 11 Auch die Präsupposition von Spaltsätzen kann aufgehoben werden, siehe Levinson (1983, S. 189). 12 Gestützt wird die Möglichkeit diskursinitialer Spaltsätze auch durch die präsentierende Funktion von Es ist/ war, vgl. r Es war einmal [...], die für die Genese von Spaltsätzen einschlägig ist (siehe Durrell 2002, S. 60; Fischer 2012, S. 157ff.). Klaus Fischer 290 ist eine Aufhebung der Exhaustivität schwieriger als in anderen Fokuskonstruktionen (siehe Jacobs 1988, S. 112): 13 (25) ? ? Es war auch [der SPIEgel] KF , der im Sommer 2003 das Geheim- FF nis des Andenpakts lüftete [...] Man vergleiche: (26) Auch [der SPIEgel] KF lüftete im Sommer 2003 das Geheimnis des Andenpakts […] Beispiel (24) ist gut verträglich mit Geurts’ und van der Sandts Hintergrund-Präsuppositionsregel, aber weniger mit Jacobs’ (2004, S. 100) Hintergrund-Diskurs-Regel, die besagt, dass der Hintergrund einer freien Vordergrund-Hintergrund-Struktur, d.h. einer ohne Fokuspartikel, im vorangehenden Diskurs vorbereitet sein muss. Jacobs (2004) diskutiert keine Spaltsätze, vielleicht hätte er sie als konstruktionell gebundene Vordergrund-Hintergrund-Strukturen von der Hintergrund-Diskurs- Regel ausgenommen. Jacobs (1988, S. 112) gibt Spaltsätzen in verschiedener Hinsicht einen Sonderstatus, auch, indem er ihren Hintergrund als konstruktions-, nicht kontextbedingte Präsupposition auffasst. Erwähnenswert ist, dass die Diskursvorbereitung von einem Leser von (24) ergänzt werden muss. Auch Büring (2006) sieht sich gezwungen, im Rahmen seiner einheitlichen, weiten und engen Fokus einbeziehenden Modellierung die „salienten Antezedenten“ von Gegebenheit auf Nichtsprachliches auszuweiten: Vermutlich muss man also den Begri ff ‘Antezedent’ durch einen ersetffzen, der es grundsätzlich erlaubt, auch Konzepte aus dem allgemeinen, nicht notwendigerweise verbalen Redehintergrund zur Befriedigung von Gegebenheit heranzuziehen. (ebd., S. 155) Der Spiegel hätte die Hausmitteilung auch einfach so beginnen können: (27) [Im Sommer des Jahres 2003 lüftete der Spiegel das Geheimnis des Andenpakts [...]] F 13 Die Unterschiede zwischen Spaltsätzen und anderen Fokuskonstruktionen sind in einer Sprachtypologie, die Textrealisierung einbezieht, zu berücksichtigen. Etwa werden englische Spaltsätze regelmäßig durch flache deutsche Konstruktionen (Fokus und Nicht-Fokus) wiedergegeben. Deutsche Textgestaltungspräferenzen können hier zur Abschwächung der Diskursfunktion, d.h. zu geringerer informationsstruktureller Transparenz führen. Vgl. dazu Fischer (2009, 2013). Zwischen Valenz und Konstruktion 291 Satz (27) ist eine Assertion mit weitem Fokus, die Proposition lautet ‘dass der Spiegel im Sommer des Jahres 2003 das Geheimnis des Andenpakts lüftete’. Trifft dies nicht zu, so ist nicht behauptet, dass jemand anderes das Geheimnis lüftete: Vielleicht hat sich der Andenpakt selbst geoutet oder das Geheimnis wurde zu einem anderen Zeitpunkt gelüftet. Zur Verdeutlichung wird (27) als partieller syntaktisch-semantischer Valenzbaum gezeigt: lüftete der Spiegel das Geheimnis des Andenpakts im Sommer des Jahres 2003 Abb. 5: Einfacher Satz mit weitem Fokus: Assertion des Sachverhalts, ‘dass der Spiegel im Sommer des l Jahres 2003 das Geheimnis des Andenpakts lüftete‘ Anders verhält es sich beim Spaltsatz: Das Gros des propositionalen Materials von (24) ist jetzt in der Präsupposition. Das Relativpronomen fungiert als Variable und zeigt an, welchem Argument ein Wert zuzuordnen ist. Der offene Satz lautet folglich: ‘dass jemand im Sommer des Jahres 2003 das Geheimnis des Andenpakts lüftete’. Die Assertion, die mit dem Spaltsatz durchgeführt wird, erfolgt sozusagen eine Stufe höher: der Variablen wird ‘der Spiegel’ als Wert zugeordnet. Im Gegensatz zur einfachen Äußerung (9) oben findet die Zuordnung Ausdruck in einer Prädikativkonstruktion. Dass diese eine Spezifizierung durchführt, wird durch den Hervorhebungsakzent 14 auf Spiegel angezeigt. 15 Ich fasse deshalb die Kopula und den Hervorhebungsakzent als komplexes Zeichen auf, das als Valenzträger der Fokuskonstruktion fungiert. Parallel zur Valenzdarstellung von Äußerung (9) in Abschnitt 4 (Abb. 3) wird die Struktur von (24) als Valenzbaum gezeigt (Abb. 6). Die Korrelatbeziehung ist als waagerechte gestrichelte Linie angedeutet, das Relativpronomen ist in seine Subjunktor- und Pronominalfunktion aufgespalten (siehe Eroms 2000, S. 291): 14 Alternativ kann auch lediglich ein Äußerungsakzent gesetzt werden. Es gibt hier eine Arbeitsteilung zwischen Konstruktion und Prosodie, die die Weiterentwicklung zum Spaltsatz mit „informativer Präsupposition“ (Prince 1978) erlaubt, in dem das Fokuselement deakzentuiert ist und der Äußerungsakzent im abhängigen Satz realisiert wird. Auf diese Spaltsätze gehe ich hier nicht ein. 15 Ohne prosodische Kennzeichnung ist der isolierte Satz syntaktisch ambig, da auch eine Identifizierung vorliegen könnte: A: Welcher Spiegel war es? B: Es war [der Spiegel, der ...]. Klaus Fischer 292 war + Hervorhebungsakzent auf Prädikativ es d- (Subjunktor) der Spiegel lüftete der (Variable) das Geheimnis des Andenpakts im Sommer des Jahres 2003 Abb. 6: Valenzdarstellung eines es-Spaltsatzes: Assertion der Spezifierung von ‘der Spiegel’ als Wert für die ll Präsupposition ‘jemand lüftete das Geheimnis des Andenpakts im Sommer des Jahres 2003’ Betrachten wir noch ein Beispiel eines nicht textinitialen Spaltsatzes, um zu sehen, wie eine Präsupposition im vorangegangenen Text verankert ist. Das Beispiel ist aus dem Artikel zum Andenpakt (Der Spiegel 47/ 2010), zu seinem Verständnis muss ein längeres Textstück zitiert werden. Die Hervorhebungsakzente stellen eine Interpretationsmöglichkeit der stillen Prosodie dar: (28) „Die Kathedrale da drüben [...]“, Huck zeigt auf den Turm, „[...] die Wäscheleine, das orange Licht der Straßenlaterne: Das ist Ambiente.“ Er ruft den Kellner und bestellt einen Kaffee. „So ein Cortado übrigens auch.“ Huck schmeckt seinen Worten nach, er ist zufrieden mit ihnen. „Wenn man in der DDR groß geworden ist, wo es kein Ambiente gab, dann hat man da natürlich kein Gespür für.“ Er nimmt einen Schluck Cortado. „Ich kann ja Ambiente nicht studieren, ich kann‘s nur erleben.“ Es gehört zum Wesen der Andenpaktler, dass fast alles, was sie schmecken, fühlen und sehen, gleich in Kontrast zu Angela Merkel gesetzt wird, auch wenn sie gar nicht danach gefragt werden. Es ist nicht nur [ÜberHEBlichkeit] KF , die sie so denken lässt, es ist auch [der Frust, dass JEne Frau, die WEnig Gespür für Ambiente hat und SELten Cortado trinkt, an ihnen vorbeigezogen ist. Dass EIne, die Politik nicht in der Jungen UniON, sondern in der FDJ lernte, nun schon seit JAHren den Kurs IHRer CDU bestimmen darf] KF . Die im Relativsatz die sie so denken lässt realisierte Präsupposition lautet ‘etwas lässt sie [die Andenpaktler] so denken’. Damit wird als vage Domäne ‘Gründe, warum die Andenpaktler so denken’ geschaffen. Im Zwischen Valenz und Konstruktion 293 Obersatz wird zunächst der Wert ‘Überheblichkeit’ als erwarteter Wert angegeben, der zusammenfasst, wie die Andenpaktler in dem Artikel dargestellt werden. Die Fokuspartikelphrase nicht nur hebt die Ausschließlichkeit des Wertes auf, ‘Frust’ samt näheren Bestimmungen wird als zweiter Wert eingeführt. Die Präsupposition ist nicht explizit vorher eingeführt, vielmehr bezieht sie sich auf die vorangegangenen Inhalte, dass Angela Merkel laut Huck wenig Gespür fürs Ambiente habe und dass die Andenpaktler alles gleich in Kontrast zu Angela Merkel setzen. Man beachte, dass ein Teil des durch anaphorischen Verweis (so) präsupponierten Inhalts in den dass-Sätzen des zweiten Werts wiederholt wird. Steube/ Sudhoff (2010, S. 8) bemerken, dass Korrektursätze den Diskurs nicht voranbringen, sondern „verhindern, dass die Diskurspartner einen falschen Wissenshintergrund aufbauen“. Dies gilt für einfache Korrekturen (z.B. Äußerung (4)), aber häufig erbringen sie auch eine zusätzliche Leistung: Evtl. nur implizit vorhandene Information wird begrifflich auf den Nenner gebracht, wie in (28) (Überheblichkeit, Frust), oder alte, aber im unmittelbaren Diskurs neue Information wird in Erinnerung gerufen. Dies sind häufige diskursorganisierende Funktionen von Spaltsätzen, die über die rückwärtsgewandte Korrektur hinausgehen. 16 6. Fazit In diesem Beitrag wurde gezeigt, dass die Informationsstruktur ähnlich wie der Satztyp zur Dynamisierung der Valenz beiträgt. Kontrastfokus in Korrektursituationen hat folgenden Valenzeffekt: Über der Argumentstruktur des Valenzträgers wird eine zweite Prädikation eröffnet. Der nichtfokussierte Hintergrund bildet eine Präsupposition mit einer offenen Stelle (die dem fokussierten Element entspricht). Diese offene Stelle wird mit dem Referenten des fokussierten Elements als Wert gefüllt. Konkret bedeutet dies, dass eine Argumentposition des Valenzträgers (das fokussierte Argument) durch einen referenziellen Ausdruck zu füllen ist, also in seiner Belegbarkeit eingeschränkt ist. Kontrastfokus in Korrektursituationen ist semantisch relevant, er ändert die Wahrheitsbedingungen. Die durch Kontrastfokus in Kor- 16 Vgl. dazu Doherty (1999, 2001). Spaltsätze mit „informativer Präsupposition“ (Prince 1978) können als expliziter Ausdruck dieser Doppelfunktion gelten. Klaus Fischer 294 rektursituationen induzierte Valenzstruktur kann durch einen zweistelligen informationsstrukturellen Operator modelliert werden. Die Diskussion von scheinbar nichtkontrastivem engen Fokus zeigte, dass häufig eine Kontrastinterpretation mit Auswahl aus einer Alternativmenge und Ausschluss alternativer Werte möglich ist, wenn bei den Referenten der begriffsdefinierenden Merkmale Variation in Kauf genommen wird. Fokussierte Argumente stehen zwischen Valenz und Konstruktion, nicht nur, weil die Konstruktion dem Argument zusätzliche semantische Restriktionen auferlegt, sondern auch, was ihre theoretische Erfassung betrifft. Zur Frage, ob Fokuskonstruktionen kompositionell aufgebaut sind oder eine konstruktionsgrammatische Sicht angemessener ist, wurden einige Vorüberlegungen angestellt, die das Verhältnis von Konstruktions- und Äußerungsbedeutung betreffen. Eine projektive Analyse von Fokuskonstruktionen muss mit einer sehr allgemeinen Konstruktionsbedeutung (Hervorhebung) vorlieb nehmen oder sich auf Prototypik, etwa prototypische Zuordnungen von Akzent und Konstruktion, und auf konstruktionelle Polysemie gründen. Mit dem Hervorhebungsakzent besitzt Kontrastfokus ein prototypisches materielles Korrelat, in Spaltsätzen ergibt sich eine Arbeitsteilung zwischen Matrixsatzkopula und Akzent: Die projektive Sicht der traditionellen Valenztheorie erweist sich also mit Einschränkungen als relevant für die Analyse von kontrastivem Fokus. Valenz und Konstruktion teilen Gemeinsamkeiten, da Fokuskonstruktionen nach dem Leerstellenprinzip gestrickt und einer Analyse im Rahmen der dynamischen Valenz zugänglich sind. Besonderes Gewicht wurde in diesem Beitrag auch auf die Analyse von Beispielen gelegt, in denen sich die Vielfalt der Verwendung von Fokuskonstruktionen zeigt, wobei auf die Chancen und Grenzen verschiedener Erklärungsansätze hingewiesen wurde. Anhand von journalistischen Beispielen wurde die Diskursleistung von Fokuskonstruktionen, insbesondere Spaltsätzen, aufgezeigt. Zwischen Valenz und Konstruktion 295 Literatur Quellen www.nordkurier.de (Stand: 23.8.2012) www.nordkurier.de/ cmlink/ nordkurier/ lokales/ ueckermuende/ feuerwehr -robur-taucht-ab-1.474364 (Stand: Juli 2013) Der Spiegel 47/ 2010 Sekundärliteratur Ágel, Vilmos (2000): Valenztheorie. Tübingen. Blühdorn, Hardarik/ Breindl, Eva/ Waßner, Ulrich H. (Hg.) (2006): Text - Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. (= Jahrbuch 2005 des Instituts für Deutsche Sprache). Berlin/ New York. Büring, Daniel (2006): Intonation und Informationsstruktur. In: Blühdorn/ Breindl/ Waßner (Hg.), S. 144-163. Croft, William/ Cruse, D. Alan (2004): Cognitive linguistics. Cambridge. Doherty, Monica (1999): Clefts in translations between English and German. In: Target 11, 2, S. 289-315. Doherty, Monica (2001): Cleft-like sentences. In: Linguistics 39, 3, S. 607-638. Durrell, Martin (2002): Hammer’s German grammar and usage. 4. Aufl. London. Eroms, Hans-Werner (2000): Syntax der deutschen Sprache. Berlin. 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Einleitung 1.1 Die Ausgangsfrage Im Rahmen der Debatte über Valenz- und Konstruktionsgrammatik habe ich mir die möglichst konkrete Aufgabe gestellt, anhand einer kleinen Gruppe von Verben zu vergleichen, wie diese nach dem valenzgrammatischen bzw. dem konstruktionsgrammatischen Modell lexiko- oder grammatikografisch darzustellen wären: - seitens der Valenzgrammatik als ein Lexikon mit sehr detailreichen Informationen - u.a. zu deren Kombinationspotenzial - in den einzelnen Lexikoneinträgen; - seitens der Konstruktionsgrammatik als ein Lexikon mit unspezifizierten Lexikoneinträgen; d.h. die Informationen zum Kombinationspotenzial verteilen sich in diesem Modell auf verschiedene Ebenen. Diese Gegenüberstellung möchte ich mit Daten zur Kombinatorik einiger deutscher Verben der Fortbewegung erläutern. Um die Darstellung zu vereinfachen, werde ich mich im Rahmen dieses Aufsatzes auf einige der so genannten Verben der Eigenfortbewegung (insbesondere Simplizia) konzentrieren. Für den angestrebten Vergleich soll uns die folgende Fragestellung als Leitfaden dienen: Wo ist es methodologisch günstiger, bestimmte Informationen zum Kombinationspotenzial der Fortbewegungsverben zu speichern? Im Lexikon oder außerhalb des Lexikons, nämlich als semantischer Beitrag der Konstruktionen? 1 Hiermit möchte ich mich bei allen Tagungsteilnehmern bedanken, die mit ihren Kommentaren und Anregungen zu meiner Arbeit beigetragen haben. Juan Cuartero Otal 302 1.2 Die Daten Was ich hier zeigen möchte, ist ein relativ einfaches kombinatorisches Phänomen, welches meines Erachtens genug Raum zu methodologischen Spekulationen offen lässt: In Anlehnung an die Arbeiten von Barbara Wotjak (1982) und Gerd Wotjak (1971 und 1997) wird hier vorausgesetzt, dass alle Verben der aktiven Fortbewegung (oder Eigenfortbewegung) vierstellige Valenzträger sind, die zusammen mit dem Subjekt drei weitere adverbiale Ergänzungen lokaler Art zu sich nehmen können. Diese Lokalergänzungen beschreiben die drei Bezugspunkte der zurückzulegenden Strecke: Ausgangspunkt, Ziel und Strecke. Daraus kann man in Anlehnung an die Notation des VALBU (Schumacher et al. 2004) folgenden Satzbauplan annehmen: NomE (AdvE-A) (AdvE-S) (AdvE-Z). Die erste adverbiale Ergänzung bezeichnet den Ausgangspunkt der Fortbewegung (AdvE-A), die dritte das Ziel bzw. die Richtung der Bewegung (AdvE-Z) und die zweite die Strecke zwischen diesen beiden Punkten bzw. den Ort, an dem die Fortbewegung stattfindet (AdvE-S). Die Kombinationsmöglichkeiten der Fortbewegungsverben mit diesen drei Arten von Lokalergänzungen sind in der Regel uneingeschränkt, d.h. ein Fortbewegungsverb kann sich frei mit einer, zwei oder drei dieser Lokalergänzungen verbinden. Zur Verdeutlichung möchte ich hier einige Beispiele aus Gerling/ Orthen (1979, S. 110) zitieren: (1) a. Peter geht aus der Messe. b. Klaus geht über die Straße. c. Frank geht in ein Café. d. Er geht über die Hintertreppe aus dem Spielsalon. e. Der Arzt geht von Patient zu Patient. f. Monika geht über die Straße zum Bäcker. g. Herr Müller geht von Deutz über die Brücke nach Köln. Bummel - ll Verben: Probleme bei der Beschreibung ihres Kombinationspotenzials 303 Dieses syntaktisch und semantisch homogene Verhalten entspricht dem Ideal jeder grammatikalischen Beschreibung. Was selten besondere Erwähnung in der Literatur findet, ist die Tatsache, dass nicht alle Fortbewegungsverben in gleicher Weise mit diesen Lokalergänzungen kombinierbar sind, sondern dass vielmehr einige unter ihnen gewisse Kompatibilitätseinschränkungen aufweisen. Deutsche Verben wie z.B. bummeln, flanieren usw., die eine relativ plan- und ziellose Fortbewegung bezeichnen, scheinen für einige dieser Kombinationen ungeeignet zu sein: (2) a. ? ? Hanni flaniert aus ihrem Haus. b. Micha flaniert durch die menschenleeren Straßen. c. Fabian flaniert zum Café. d. ? ? Elio flaniert durch die Passage aus der Fußgängerzone. e. Anton flaniert vom Markplatz zum Schloss. f. Ilka flaniert durch Leipzig zum Bahnhof. g. Frau Müller flaniert von Deutz über die Brücke nach Köln. Verben mit diesem Verhalten werden hier vereinfacht als „Bummel- Verben“ bezeichnet. 2 2. Bummel - Verben in der Literatur Meiner Kenntnis nach wurde das Phänomen der unterschiedlichen Kombinatorik der Fortbewegungsverben bisher in der Literatur kaum behandelt. Bevorzugt werden die Bewegungsverben als semantisch und syntaktisch überwiegend homogene Gruppe mit genauso homogenen Subkategorien (Verben der Eigenfortbewegung, Verben des Beförderns usw.) behandelt. Ebenso werden die Fortbewegungsverben  z.B. in den Ausführungen von Tesnière (1959) und später in denen 2 In DUDEN Online (www.duden.de) wurden folgende 27 Synonyme gefunden: bummeln, flanieren, gondeln, hatschen, lustwandeln, pilgern, promenieren, schleichen, schleifen, schlendern, schlenkern, schlunzen, sich auslüften, spazieren [gehen], streifen, stromern, tappen, trödeln, trollen, trotten, trudeln, wackeln, wandeln, ziehen, zockeln, zotteln und zuckeln. Außerdem waren folgende zehn Komposita explizit angegeben: herumflanieren, herumgehen, herumlaufen, herumschlendern, herumstreichen, herumstreifen, umherflanieren, umhergehen, umherschlendern und umherstreifen. Letztlich waren auch sechs bedeutungserklärende Umschreibungen (wie z.B. gemächlich/ lässig gehen oder einen Streifzug machen/ unternehmen) zu finden. Juan Cuartero Otal 304 von Jackendoff (1990) oder Talmy (2000)  in zwei homogene Klassen gegliedert, die weiter unten diskutiert werden. Demgegenüber sahen sich größere valenzgrammatische Beschreibungen des Wortschatzes mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass man im Bereich der Verben zwischen zahlenmäßig umfangreichen oder detaillierten Beschreibungen wählen musste, und Bummel-Verben nicht repräsentativ oder nicht häufig genug waren, um z.B. Platz zwischen den 638 semantisch und syntaktisch beschriebenen Verben im VALBU (Schumacher et al. 2004) zu finden . Im „Wörterbuch zur Valenz und Distribution deutscher Verben“ (Helbig/ Schenkel 1991) findet man jedoch die zwei Einträge irren und wandern. 3 Dies sind zwei gute Beispiele für die Schwierigkeiten bei der Beschreibung der Kombinatorik von Verben, die auf keine konkret zielgerichtete Fortbewegung Bezug nehmen: I. irren 2+(1)=3 (V1= umherschweifen) II. irren  Sn, p 1 S (p 2 S) III. Sn  Hum (Der Flüchtling irrte durch die Lande) p 1 = durch, von Wenn p = durch, p 1 Sa  ₋ Anim (Er irrte durch das Gebirge) Wenn p 1 = von, p 1 Sd  ₋ Anim (Er irrte von einem Land zum anderen) p 2 = zu, in p 2 S  ₋ Anim (Er irrte von einem Stadtviertel in ein anderes Stadtviertel) Anmerkung: Wenn bei V1 p 1 = von, dann wird das Verb dreiwertig: Er irrte von einem Land zum anderen. (Helbig/ Schenkel 1991, S. 220, Hervorh. i. Orig.) 3 In den folgenden Tabellen werden die Kombinationsmöglichkeiten für diese zwei Verben dargestellt. Dabei stehen die Abkürzungen S für ‘Substantiv’, p für ‘Präposition’ und pS für ‘präpositionales Substantiv’. Der Kasus wird weiter durch die Abkürzungen n, a oder d (jeweils für Nominativ, Akkusativ und Dativ) angegeben. Zu weiteren Erklärungen siehe „Abkürzungsverzeichnis“ und „Hinweise zur Benutzung“ in Helbig/ Schenkel (1991, S. 93-96 und 97-99). Bummel - ll Verben: Probleme bei der Beschreibung ihres Kombinationspotenzials 305 I. wandern 1+(1)=2 II. wandern  Sn, pS III. Sn  +Anim (Der Mann wandert. Die Tiere wandern zu neuen Weideplätz en) p = durch, zu, in ... pS  1. Dir (Sie wandern zu einer Jugendherberge) 2. Loc (Sie wandern durch die Stadt) (Helbig/ Schenkel 1991, S. 245f., Hervorh. i. Orig.) In den beiden genannten Lexika sowie auch in anderen Werken (darunter Engel 1991) besteht die Tendenz, Fortbewegungsverben als zweistellig darzustellen, anstatt, wie erwähnt, vierstellig, was meiner Meinung nach eine viel vollständigere Beschreibung ihres syntaktischen Verhaltens wäre. Bisher ist mir nur eine einzige Arbeit bekannt, die eine repräsentative Zahl an Fortbewegungsverben nach ihrem Kombinationspotenzial klassifiziert hat: „Deutsche Zustands- und Bewegungsverben“ von Gerling/ Orthen (1979). Die Autoren kommen sogar auf eine siebengliedrige Klassifizierung der Bewegungsverben, 4 in der auch einige Bummel- Verben auftauchen, nämlich in den drei Gruppen mit den Valenzmerkmalen / +_ PATH / , -/ +_ SOURCE ( PATH )/ und -/ +_ SOURCE , PATH / (ebd., S. 111). Die Ergebnisse ihrer Klassifizierung stimmen jedoch nicht mit meinen Beobachtungen überein. Vielmehr lässt sich feststellen, dass alle Bummel-Verben das gleiche Kombinationspotenzial aufweisen. Die Autoren erwähnen allerdings selbst, dass sie kaum Beispiele gefunden hätten, die konkretere Daten für ihre Analyse liefern könnten (ebd., S. 109). Meiner Meinung nach bietet bisher keines der beiden Modelle eine zufriedenstellende Beschreibung des kombinatorischen Verhaltens der Bummel-Verben. Die Valenztheorie bietet jedoch einen günstigeren Rahmen für die detaillierte Beschreibung, die nötig ist, wenn wir ihren Eigenschaften gerecht werden wollen. In den folgenden Teilen dieses Beitrags werde ich meine Kritik an drei unterschiedlichen Analyseansätzen skizzieren, die mit einem konstruktionsgrammatischen Modell à la Goldberg (1995) kompatibel sein könnten. 4 Es wird jedoch nicht vollständig erklärt, wie die Autoren zu dieser Klassifizierung gekommen sind. Juan Cuartero Otal 306 3. Drei Erklärungsversuche im Sinne der Konstruktionsgrammatik 3.1 Zwei Arten von Fortbewegungsverben Innerhalb der Gruppe der Fortbewegungsverben wurde von einigen Autoren eine deutliche Trennung vorgeschlagen: Zwischen solchen Verben, die strikt eine Fortbewegung des Subjektes bezeichnen, und anderen, die in erster Linie die Art und Weise der Fortbewegung des Subjektes bezeichnen. Diese Unterscheidung, die in der Version von Jackendoff (1990) auf breite Akzeptanz stößt, schreibt diesen Verben jeweils eine ‘Lexikalisch-Konzeptuelle Struktur’ (LKS) mit dem Funktor go und daher mit implizitem Traject bzw. Path zu oder aber eine LKS mit dem Funktor move und ohne dieses Argument. fortbewegung : LKS: [ Event go ([ Object ],[ Traject ])] art und weise der fortbewegung : LKS: [ Event move ([ Object ])] Nach Jackendoffs These unterscheiden sich go -Verben und move -Verben in ihrer Basisbedeutung und daher in ihrer Kombinatorik: Erstere sind nicht mit statischen Lokalbestimmungen kombinierbar (*Ich gehe im Wald/ *Ich komme in Madrid), letztere aber schon (Ich schwimme im Meer/ Ich bummle im Wald). Zudem können move -Verben auf Deutsch ihre Perfekt-Formen sowohl mit dem Hilfsverb haben als auch mit sein bilden. go -Verben sind immer mit den Ergänzungen kombinierbar, die Ausgangspunkt, Verlauf oder Ziel der Strecke bezeichnen. Für die move - Verben schlägt Jackendoff (1990) aber vor, dass diese, immer wenn sie von Ausgangspunkt-, Verlaufs- oder Zielbestimmungen begleitet sind, durch eine extra Regel, die so genannte Adjunctgo Rule, „umgedeutet“ werden, damit sie eine go -Lesart bekommen: (3) a. Ich schwimme von einem Ufer zum anderen. b. Ich bummle in die Stadt. Nach der kognitiven Konstruktionsgrammatik von Goldberg (1995) ist dieses Phänomen leicht zu erklären, weil die Semantik dieser move - Verben und die Semantik der go -Konstruktion in Einklang gebracht werden können. Die Konstruktion schafft die Umdeutung, indem die verbalen Ereignistypen das Mittel bzw. die Methode (means) bezeich- Bummel - ll Verben: Probleme bei der Beschreibung ihres Kombinationspotenzials 307 nen, um die konstruktionalen Ereignistypen zu realisieren. In solchen Fällen bieten sich folgende Umschreibungen an: (4) a. Man bewegt sich durch Schwimmen von einem Ufer zum an- deren fort. b. Man bewegt sich beim Bummeln in die Stadt fort. Das Prädikat schwimmen in der move -Konstruktion eingebettet: 5 Sem move <Agt loc > schwimmen <Schwimmer Medium> Syn v subj obl Das Prädikat schwimmen in der GO -Konstruktion eingebettet: Sem go <Agt source path goal > R: means schwimmen <Schwimmer > Syn v subj obl obl obl Diese letzte Einbettung kann das syntaktische bzw. kombinatorische Verhalten von vielen (vermeintlichen) Verben der Art und Weise der Fortbewegung (schwimmen, rennen, hüpfen, ...) erklären, würde jedoch zu falschen Schlussfolgerungen führen, wie z.B. dass die Sätze unter (5) genauso akzeptabel für die Sprecher seien wie die Beispiele unter (6), die auch aus Konstruktionen mit move -Verben bestehen: (5) a. ? ? Ich streifte aus dem Haus. b. ? ? Wir bummeln aus dem Park. c. ? ? Sie schlendern aus der Stadt. 5 Hier handelt es sich um Darstellungen des Mechanismus „Fusion“ nach Goldberg (vgl. Goldberg 1995, S. 50ff. und 59-66). In der ersten Zeile werden die semantischen Argumente der Konstruktion dargestellt und in der mittleren die Argumente des Verbs schwimmen. R bedeutet hier ‘Relation’, d.h. es gibt an, welche Art von semantischer Beziehung die Integrierung des Verbs in die Konstruktion ermöglicht (in diesem Fall means ‘Methode/ Art und Weise’). Durch solche Darstellungen wird gezeigt, welche Argumente das Verb beiträgt und wie die Konstruktion seine Argumentstruktur erweitern kann. Argumentrollen, die von der Konstruktion beigesteuert werden, sind durch eine gestrichelte Linie gekennzeichnet (ebd., S. 51). Juan Cuartero Otal 308 (6) a. Ich renne aus dem Haus. b. Wir latschen aus dem Park. c. Sie sausen aus der Stadt. Bummel-Verben, die eine plan- und ziellose Fortbewegung bezeichnen, würden eine alternative Konstruktion sowie zusätzliche semantische Markierungen benötigen, die auf diese Beschränkungen hinweisen. Ebenso verwirrend ist die Tatsache, dass Bummel-Verben offensichtlich doch mit adverbialen Ergänzungen kombinierbar sind, die das Ziel dieser angeblich ziellosen Fortbewegungen bezeichnen. Falls die Bedeutung solcher Verben ihre Kombinatorik entscheidend beeinflussen würde, wäre zu erwarten, dass sowohl die Kombination mit Ausgangspunkt-, als auch die mit Zielbestimmungen beschränkt wäre. Interessante Daten ergeben sich aus dem Vergleich mit Bummel-Verben in anderen Sprachen. Während englische und deutsche Bummel- Verben mit Ausgangspunkt- oder Ziel-Lokalbestimmungen auftreten können (vgl. (7)), können weder spanische noch französische Bummel- Verben mit solchen Bestimmungen kombiniert werden: Die Beispiele unter (7) können (so wie in Slobin 1996 sehr gut beschrieben) in diesen Sprachen nur durch andere Strukturen (unter (8) und (9)) ausgedrückt werden: (7) I stroll into town. [‘Ich bummle in die Stadt.’] (8) Je me promene jusqu’en ville./ Je vais en ville en me promenant. [‘Ich bummle bis zur Stadt./ Ich gehe in die Stadt bummelnd.’] (9) Voy a la ciudad dando un paseo./ Voy paseando para la ciudad. [‘Ich gehe in die Stadt bummelnd./ Ich gehe bummelnd Richtung Stadt.’] Ein entscheidendes Argument gegen den vermeintlichen Unterschied zwischen den go -Verben und den move -Verben ist, dass beide im Grunde immer eine Fortbewegung ausdrücken, egal, ob die Art und Weise dieser Fortbewegung besonders hervorgehoben wird oder nicht. Bummel - ll Verben: Probleme bei der Beschreibung ihres Kombinationspotenzials 309 3.2 Aktionsarten der Fortbewegungsverben In einem Aufsatz von Aske (1989) zu den Unterschieden von Konstruktionen mit Fortbewegungsverben im Spanischen und Englischen wird die Hypothese aufgestellt, dass die Kombination dieser Verben mit den verschiedenen Lokalergänzungen durch Einschränkungen aspektueller Natur bestimmt wird. Der Autor klassifiziert die Ausgangspunkt- und Zielergänzungen dieser Verben als Komplemente telischer Natur und ihre Streckenergänzungen als Komplemente atelischer Natur. Telische Verben seien mit allen drei Ergänzungen kombinierbar, während atelische Verben nur mit atelischen Komplementen kombinierbar seien. In Cuartero Otal (2010) habe ich festgestellt, dass diese Hypothese weder für die germanischen noch für die romanischen Sprachen zutrifft. Interessant bleibt aber die Fragestellung, ob die bloße Aktionsart einen irgendwie gearteten Einfluss auf das Kombinationspotenzial der Fortbewegungsverben ausübt. Nach der Aktionsarten-Klassifizierung von Vendler (1957) kann man die meisten Fortbewegungsverben den ‘accomplishments’ (d.h. den durativen telischen Ereignissen) zuordnen: Sie bezeichnen das vollendete Durchmessen einer Strecke von einem Punkt zu einem anderen in einer mehr oder weniger konkreten Zeitspanne. Dagegen sind die Bummel-Verben den ‘activities’ (d.h. den durativen atelischen Ereignissen) zuzurechnen: Sie bezeichnen eine eher unsystematische Fortbewegung durch einen Raum in keiner konkreten oder konkretisierbaren Zeitspanne. Schließlich finden wir auch einige ‘achievements’ 6 (punktuelle telische Ereignisse), die genau den Zeitpunkt bezeichnen, an dem die Fortbewegung endet, wie ankommen, eintreffen, landen, gelangen oder geraten (vgl. Cuartero Otal 2010). Im Sinne der Konstruktionsgrammatik könnte man zwei verschiedene Konstruktionen vorschlagen, auf die diese aspektuelle Unterscheidung zurückzuführen ist: 6 Natürlich können Fortbewegungsverben keine Zustände ausdrücken, da jede Form der Bewegung eine Veränderung involviert. Juan Cuartero Otal 310 Konstruktion für atelische go -Verben: Sem (atelic) go <Agt source path goal > R: pred < > Syn v subj obl obl obl Konstruktion für telische go -Verben: Sem (telic) go <Agt source path goal > R: pred < > Syn v subj obl obl obl Jedoch stellt sich das Problem, dass die zweite Konstruktion für einige telische Fortbewegungsverben nicht zutrifft: Die freie Kombination mit Ausgangspunkt bzw. mit Ausgangspunkt und Strecke ist für einige ‘accomplishments’ wie reisen oder pilgern, die Handlungen bezeichnen, die sehr stark zielgerichtet sind, sehr fraglich: (10) a. ? ? Hanni reist von Marokko. b. Micha reist über das Mittelmeer. c. Falk reist nach London. d. ? ? Elio reist von Marokko über das Mittelmeer. e. Anton reist von Marokko nach Tunesien. f. Ilka reist über das Mittelmeer nach Marokko. g. Frau Müller reist von Marokko über das Mittelmeer nach Italien. Beide Subklassen von Fortbewegungsverben zeigen dieselben syntaktischen Kompatibilitäten, wie ein Vergleich zwischen den Beispielen unter (1) einerseits und (2) und (10) andererseits zeigt, sind aber verschiedenen Aktionsarten zuzuordnen. Daher kann man die Hypothese ausschließen, dass ihre Kombinatorik durch aspektuelle Unterschiede zu erklären sei. Bummel - ll Verben: Probleme bei der Beschreibung ihres Kombinationspotenzials 311 3.3 Muss jede Kombination auf irgendeine Art möglich sein? Ein großer Vorteil der Konstruktionsgrammatik gegenüber der Valenzgrammatik sei die einfachere Erklärungsmöglichkeit für Verbstrukturen mit „unerwarteten“ Argumenten (vgl. Goldberg 1995, S. 9f.). Beispiele dafür wären Sätze wie Franz backt uns einen Kuchen/ Franz putzt den Tisch sauber/ Franz quatschte sich aus dieser Situation heraus, bei denen mehr Argumente als vorgesehen realisiert werden. Aber was zeigen uns Strukturen, die im Prinzip im System der Sprache zu erwarten, aber tatsächlich in den Realisierungen dieser Sprache gar nicht zu finden sind? Angesichts der Diskussion um die Akzeptabilitätskriterien aufgrund des reinen Vorhandenseins einer Struktur in Korpora (Sampson 2007) wurde auch behauptet, dass die reine Intuition der Sprecher ein weiteres Kriterium für die Akzeptabilität sein soll (Pullum 2007 und Mehlberg 2010). Das Urteil über die Kombinierbarkeit von Bummel-Verben mit bestimmten Ergänzungen beruht auf der Auftretenswahrscheinlichkeit der mit ihnen gebildeten Strukturen, die hier nicht unbeachtet bleiben sollte. Man kann immerhin behaupten, dass das Vorhandensein einer Struktur in einem linguistischen Korpus ein Argument für ihre Existenz ist, ihre Abwesenheit kann jedoch kein wirkliches Argument für ihre absolute Unrealisierbarkeit sein. In diesem Sinne stellen einige Informanten fest, dass „ungewöhnliche“ Konstruktionen wie ? ? Sie bummelte aus ihrem Haus komisch, aber durchaus möglich wären. Somit wären sie trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit im Diskurs vom Empfänger logisch und einfach zu interpretieren. Dies ist offensichtlich, wenn ihre Bedeutung durch eine Verbpartikel akzentuiert wird (Sie bummelte aus ihrem Haus heraus). Die deutsche Sprache zeigt darüber hinaus die Möglichkeit, einige dieser Kombinationen zusammen mit einer Verbpartikel zuzulassen, wenn eine solche Verbpartikel den kommunikativ relevanten Teil der Strecke hervorhebt. Obwohl an dieser Stelle weder auf Komposita noch auf den Zusammenhang zwischen Fortbewegungsverben und Verbpartikeln adverbialer Natur eingegangen wird, soll die folgende Beobachtung, die die sprachliche Darstellung der ziellosen Bewegungsformen betrifft, nicht unerwähnt bleiben: Nämlich, dass die bloße Anwesenheit von Verbpartikeln wie herum/ umher (die dem Ausdruck von Ziellosigkeit dienen) in der Verbalphrase dazu beiträgt, die Kombinatorik der Verben entscheidend zu beeinflussen. Juan Cuartero Otal 312 Wird die offensichtliche Ziellosigkeit der Fortbewegung durch die Doppelpartikeln herum- oder umherbetont, dann sind die möglichen Kombinationen deutlich eingeschränkt, da die Kombinationen mit Ausgangspunkt-, genauso wie die mit Ziel-Lokalbestimmungen verhindert werden und die Kombination mit statischen Lokalbestimmungen favorisiert wird, wie in Beispiel (11h): (11) a. *Hanni läuft aus ihrem Haus herum. b. ? ? Micha läuft durch die Stadt (he)rum. c. *Falk läuft ins Café herum. d. *Elio läuft durch den Flur aus dem Haus herum. e. *Anton läuft vom Marktplatz zum Schloss herum. f. *Ilka läuft durch den Flur zum Ausgang herum. g. *Frau Müller läuft von Deutz über die Brücke nach Köln herum. h. Micha läuft in den menschenleeren Straßen herum. Wird jedoch die konkrete Direktionalität einer (eigentlich ziellosen) Fortbewegung durch Doppelpartikeln wie hinaus-, hereino.Ä. betont, stellen sich die möglichen Kombinationen ganz anders dar: (12) a. Hanni bummelt aus ihrem Haus heraus. b. Micha bummelt durch die menschenleeren Straßen davon. c. Falk bummelt ins Café hinein. d. Elio bummelt durch den Flur aus dem Haus heraus. e. Anton bummelt vom Markplatz zum Schloss hinauf. f. Ilka bummelt durch den Flur zum Ausgang hin. g. Frau Müller bummelt von Deutz über die Brücke nach Köln hinüber. Allein diese Daten legen den Schluss nahe, dass eine Beschreibung und Erklärung der Kombinatorik von Fortbewegungsverben nicht auf ihrer alleinigen Unterteilung in zwei Typen im Sinne Jackendoffs (1990) basieren kann. Allerdings würden einige dieser Verben nach dieser Beschreibung nur eine Fortbewegung im Allgemeinen, andere aber eine bestimmte Art und Weise der Fortbewegung bezeichnen. Bummel - ll Verben: Probleme bei der Beschreibung ihres Kombinationspotenzials 313 Eine Beschreibung und Erklärung der Kombinatorik von Fortbewegungsverben kann aber auch nicht durch eine semantisch-lexikalische Ausgrenzung von Bummel-Verben erfolgen, da diese je nach Vorhandensein von Verbpartikeln eine komplett unterschiedliche Kombinatorik aufweisen, wie aus den Beispielen unter (2), (11) und (12) hervorgeht. 4. Kurze Schlussfolgerung: Ein vierter Lösungsversuch Kommen wir nun zu der ursprünglichen Fragestellung zurück: Wo ist es methodologisch günstiger, bestimmte Informationen zum Kombinationspotenzial der Fortbewegungsverben zu speichern: im Lexikon oder außerhalb des Lexikons, nämlich in den Konstruktionseinträgen? Was durch das Problem der Bummel-Verben gezeigt werden sollte, ist in erster Linie, dass die Kombinatorik von gewissen Verben Besonderheiten aufweist, welche in der syntaktischen Beschreibung tendenziell verallgemeinert werden. Die Besonderheiten u.a. der Bummel-Verben, die auf Einschränkungen des „normalen“ Kombinationspotenzials basieren, sind offenbar nicht als semantischer Beitrag von Konstruktionen zu erklären. Um das Verhalten dieser Verben zu beschreiben und zu analysieren, scheint es vielmehr notwendig zu sein, die lizenzierten Komplemente jedes einzelnen Verbs detailliert aufzulisten. Natürlich besteht die axiomatische Annahme zu Recht, dass Verben ähnlicher Bedeutung eine ähnliche Kombinatorik aufweisen. Ebenfalls gilt, dass diese Annahme gleichzeitig mehrere Nuancen hat, wie man anhand der hier aufgezeigten Daten feststellen kann. Zum Schluss soll noch ein Versuch unternommen werden, die Kombinatorik der Bummel-Verben im Sinne der Valenztheorie darzustellen: SBP bummeln K sub , (K adv ) (K adv [K adv ]) I. bummeln 1 + (1) + (1+ (1)) = 4 II. bummeln  Sn, p 1 S (p 2 S [p 3 S]) III. Sn  p 1 = durch, über, in, loc ... p 2 = nach, zu, in ... p 3 = von, aus ... Juan Cuartero Otal 314 SBP herum+bummeln K sub , (K adv ) I. herum+bummeln 1 + (1) = 2 II. herum+bummeln  Sn, p 1 S III. Sn  p 1 = durch, über, in, loc ... SBP bummeln NomE (AdvE S ) (AdvE Z [AdvE A ]) SBP herum+bummeln NomE (AdvE S ) Diese Satzbaupläne berücksichtigen die Besonderheiten der Kombinatorik von Bummel-Verben sowohl als Simplizia als auch in Präsenz von Verbpartikeln, die den Traject der Fortbewegung bestimmen, um gewisse Kombinationsmöglichkeiten zu begünstigen oder zu blockieren. Wie zuvor gesagt, ist das Kombinationspotenzial der deutschen Bummel-Verben wenig eingeschränkt und sogar offen für einige seltene Kombinationsmöglichkeiten, solange die Sprecher solche Strukturen in Analogie zu anderen Strukturen mit Bewegungsverben für logisch und interpretierbar halten. Tatsache ist, dass es in der deutschen Sprache wesentlich mehr kombinatorische Regelmäßigkeit von Fortbewegungsverben mit Lokalbestimmungen gibt als dies in den romanischen Sprachen der Fall ist. Nur die Präsenz der Verbpartikeln herum- und umherträgt entscheidend zur Beschränkung der Kombinationsmöglichkeiten von Fortbewegungsverben bei. Im Spanischen wie im Französischen gibt es so gut wie keine unerwarteten, seltenen Kombinationsmöglichkeiten, und das inhomogene kombinatorische Verhalten der Fortbewegungsverben ist eher die Regel und nicht die Ausnahme (siehe Cuartero Otal 2005 und 2010). Dies ist von größter kontrastiver Bedeutung, weil es zeigt, dass Analogie bzw. Regelmäßigkeit in der Syntax der Bewegungsverben für Sprachen wie Deutsch oder Englisch eine wichtigere Rolle spielen als für andere Sprachen wie Spanisch oder Französisch. Es ist auch von theoretischer Bedeutung, weil die Konstruktionsgrammatik im Bereich der „regelmäßigen“ Kombinatorik der Bewegungsverben im Deutschen oder Englischen eine genauere Beschreibung bieten kann als für das Spanische oder das Französische, wo die Kombinationsmöglichkeiten je nach Verb sehr unterschiedlich und vor allem oft sehr eingeschränkt sind. Im Gegensatz dazu liefert ein lexikalistischer Bummel - ll Verben: Probleme bei der Beschreibung ihres Kombinationspotenzials 315 Ansatz wie die Valenzgrammatik sowohl für den einen wie für den anderen Sprachtyp eine genaue Darstellung der Kombinatorik von Bewegungsverben mit Lokalbestimmungen, was wiederum für kontrastive Zwecke von Vorteil ist. Literatur Aske, Jon (1989): Path predicates in English and Spanish: a closer look. In: Proceedings of the Berkeley Linguistics Society 15, S. 1-14. Cuartero Otal, Juan (2005): Gibt es im Spanischen und Französischen zwei Klassen von Fortbewegungsverben? In: Schmitt, Christian/ Wotjak, Barbara (Hg.): Beiträge zum romanisch-deutschen und innerromanischen Sprachvergleich. Bonn, S. 23-34. Cuartero Otal, Juan (2010): Estructuras argumentales de los verbos de desplazamiento del sujeto: una descripción del español frente a una descripción del inglés. In: Bulletin of Hispanic Studies 87, 2, S. 149-168. Engel, Ulrich (1991): Deutsche Grammatik. 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Einleitung Die vorliegende Studie 1 befasst sich auf der Grundlage von Ergebnissen einer empirisch angelegten Pilotstudie zu dem Phänomenbereich deutscher und spanischer olfaktorischer Wahrnehmungsverben mit Fragen, die sowohl mit der Auswahl und dem situationsadäquaten Gebrauch lexikalischer Einheiten in fremdsprachigen Produktionssituationen als auch mit der Bedeutungsdisambiguierung in L2-Rezeptionssituationen im Umfeld von Deutsch und Spanisch als Fremdsprachen (DaF, Ele) in Verbindung stehen. 2 Im Zentrum der hauptsächlich anwendungsorientierten Perspektivierung stehen die Untersuchungen des Kombinationspotenzials der verbalen Lexeme des lexikalischsemantischen Paradigmas der „Geruchsverben“ des Deutschen und Spanischen im Vergleich und ein Strukturierungsvorschlag des besagten Wortschatzausschnittes. Die Ergebnisse sollen uns in der Forderung bestärken, für das Sprachenpaar Deutsch-Spanisch in besonderem Maße kontrastiv relevante Information zu dem verbalen Konstruktionspotenzial explizit zu machen (Wotjak 2013; Fuentes Morán 2013; Meliss 2013, 2014a, 2014b) und den L2-Lernenden in strukturierter Form, z.B. in neuartig konzipierten zweisprachigen Wörterkonsultationssystemen, zur Verfügung zu stellen und dabei neben dem Häufigen auch das Seltene anzubieten (vgl. Engelberg 2014, S. 249), da im fortgeschrittenen fremdsprachigen Lerner- und Übersetzungskontext auch ein Umgang mit weniger übli- 1 Für wertvolle Hinweise danke ich Edeltraud Winkler und Stefan Engelberg. 2 Der Beitrag steht im Rahmen einiger Pilotstudien, die in Verbindung mit dem lexikografischen Forschungsnetzwerk RELEX (Xunta de Galicia: CN2012/ 290 und R/ 2014/ 042) und dem Forschungsprojekt DICONALE durchgeführt werden. DICO- NALE (= Diccionario conceptual del alemán y del español) ist ein von dem spanischen Ministerium gefördertes Forschungsprojekt zur Erstellung eines onomasiologisch-konzeptuell orientierten, zweisprachig-bilateralen Verbwörterbuches für das Sprachenpaar Deutsch-Spanisch ( MINECO - FEDER: FFI2012-32658: 2013-2015), welches von der Autorin dieses Beitrages an der USC geleitet wird. Meike Meliss 318 chen und kreativeren sprachlichen Ausdrucksformen gefördert werden muss. Im Mittelpunkt des Interesses stehen verschiedene geruchs-szenarien , für die es gilt, die entsprechenden verbalen Lexikalisierungsmöglichkeiten in beiden Sprachen zu untersuchen und zu kontrastieren. Die Beschreibung der einzelnen Rollen und der auf sie referierenden Argumente und deren Kombination zu Argumentstrukturmustern (ASTM) sowie ihrer morphosyntaktisch-funktionalen Realisierungsmöglichkeiten (= Argumentrealisierungsmuster: ARM) 3 und der entsprechenden semantischen Füllungen bilden den Kern der Untersuchung. In Abschnitt 2 wird der zu untersuchende Wortschatzausschnitt, das „Feld der Geruchsverben“, mit Hilfe eines konzeptuell orientierten und szenentypischen Bezugsrahmens definiert und abgegrenzt. Die Auswertung der Ergebnisse der empirisch angelegten Studie zu qualitativen und quantitativen Besonderheiten der entsprechenden Argumentstrukturmuster und zu den Argumentrealisierungsmöglichkeiten einiger „Geruchsverben“ beider Sprachen bildet den thematischen Schwerpunkt von Abschnitt 3. Auf der Grundlage der gewonnenen Daten wird in Abschnitt 4 ein Strukturierungsvorschlag vorgestellt sowie ein Ausblick angeboten. 2. Ausgangspunkt: Untersuchungsgegenstand Zu den „Geruchsverben“ (GV) werden in dieser Studie sowohl die „Geruchswahrnehmungsverben“ (= GWV: dt.: riechen1, schnüffeln, schnuppern, wittern ...; sp.: oler1, olisquear, r olfatear ...) als auch die „Geruchssinnesempfindungsverben“ (= GSEV: dt.: riechen2, duften, stinken, miefen, müffeln ...; sp.: oler2, apestar, r atufar, r heder ...) gezählt. 4 Die besagten Verben bilden verschiedene lexikalisch-semantische Subparadigmen, die sich jeweils durch einen gemeinsamen, konzeptuell- und szenenorientierten Bezugsrahmen definieren lassen, der gleichzeitig als tertium comparationis (Wotjak 2013) für den Sprachvergleich dienen soll. 3 Zu den hier verwendeten Begriffen: Argument, Argumentstrukturmuster, Argumentrealisierungsmuster siehe Cosma/ Engelberg (2014), Engelberg et al. (2011), Engelberg (in diesem Band) und Engelberg (demn.). 4 In dieser Studie können keine präfigierten Geruchsverben, wie z.B. abschnüffeln, beschnüffeln etc. berücksichtigt werden. Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen 319 Die GWV (Subparadigma 1) (vgl. Levin 1993, S. 186) referieren auf die konzeptuellen Einheiten sinne + wahrnehmung + geruch und ein riechen-als-wahrnehmungs-szenarium , an dem folgende Rollen (R) beteiligt sein können: der Wahrnehmende (experiencer) = R1, der Geruch = R2 und der Geruchsträger = R3 (vgl. Beispiele unter (1)). Die auf diese Rollen referierenden Argumente 5 verbinden sich auf verschiedene Weisen miteinander zu Argumentstrukturmustern (= ASTM) und bilden die Grundlage für mögliche Bedeutungsvarianten, die in Abschnitt 3 näher untersucht werden. (1) a. „Es gibt Sachen, bei denen genügt es nicht, sie im Fernsehen zu sehen. Man (A1) muss sie (A3) sehen, riechen, schmecken und anfassen“ [...] (Braunschweiger Zeitung, 29.10.2005) b. In einem Babytuch vor den Bauch der Braumeisterin ge- schnallt, schnupperte und roch die Kleine (A1) das Aroma von Hopfen und Malz (A2). (Nürnberger Nachrichten, 27.3.2012) c. Cuando finaliza el documental paso mis dedos por las gasta- das carpetas de los viejos discos de los autores de Aftermath [...], los (A3) huelo (A1), quito el polvo acumulado en sus cas- tigados surcos, [...] (El Mundo, 15.1.1996) [‘Als der Dokumentarfilm zu Ende ist, streiche ich meine Finger über die verschlissenen Plattenhüllen der Interpreten von Aftermath [...], ich rieche an ihnen, wische den angesammelten Staub aus den ausgefahrenen Rillen [...]’] d. Podías (A1) oler el humo (A2). Era terrible. (El Nuevo Herald, 12.5.1997) [‘Man konnte den Rauch riechen. Es war fürchterlich.’] Eine Modifikation dieses Grundszenarios durch die Beteiligung anderer Rollen, wie z.B.: Wahrnehmungsort (R4), Bewegungsrichtung (R8) und Fortbewegungsdirektion (R9) führt zu einer Bedeutungsvariation und zu einer Valenzerhöhung, die in Abschnitt 4 genauer erörtert wird. 5 Die im Laufe der Analyse auftretenden Argumente werden nummeriert. Dieser Zahlenindex referiert auf die entsprechende Rolle, die in dem jeweiligen Szenarium durch die einzelnen Argumente versprachlicht wird (z.B.: Rolle 1: der Wahrnehmende  Argument 1). Meike Meliss 320 Das lexikalisch-semantische Subparadigma 2 umfasst die „Verben der Geruchssinnesempfindung“ (GSEV). Sie referieren auf folgende konzeptuelle Einheiten: sinne + empfindung + geruch und zwei unterschiedliche Szenarien. (i) Die „Geruchsstimulussubjektverben“ (GSTSV) referieren auf ein geruchs-stimulus-szenarium . Bei diesen intransitiven „Stimulus Subject Perception Verbs“ (vgl. Levin 1993, S. 187f.) nimmt nicht der Wahrnehmende, sondern der Geruchsträger oder Stimulus (R3) in Aktivsätzen die Subjektfunktion ein (2a, b). Die Geruchsrolle (R2) wird in beiden Sprachen durch ein Präpositivargument realisiert (A2 pr ). (2) a. Die kleinen Energiebündel aus naturbelassenem Restholz (A3) verbrennen COx-neutral und duften wunderbar nach frischem Holz (A2). (Rhein-Zeitung, 2.5.2012) b. El barco de Jan Odin Olavsen (A3) huele a pintura fresca (A2). (La Vanguardia, 30.5.1995) [‘Das Schiffvon J.O.O. riecht nach frischer Farbe.’] (ii) Die „Geruchsemissionsverben“ (GEV) (vgl. „Verbs of Smell Emission“: Levin 1993, S. 236f.) referieren auf ein geruchs-emissionsszenarium , in dem der Emissionsbereich (R7) durch ein lokales Argument (A7) (vgl. (3a), (3c)) bzw. die Emissionsquelle (R6) durch ein Herkunftsargument (A6) (vgl. (3b)) realisiert wird. In beiden Sprachen liegt eine unpersönliche Konstruktion vor und die Geruchsträgerrolle (R3) wird im Gegensatz zu den „Geruchsstimulussubjektverben“ nicht verbalisiert. (3) a. Da hat es im Lift (A7) plötz lich fürchterlich gestunken. (Salzburger Nachrichten, 29.11.2000) b. Aus dem neuen elektrischen Herd der Schulküche (A6) wird es bald nach Brot, Plätz chen und anderen Leckereien (A2) duften, die im Projektunterricht hergestellt werden. (Rhein Zeitung, 18.5.2007) c. En este sitio en que estamos los dos (A7) huele a gas (A2) [...] (La Prensa, 20.5.1997) [‘Hier an diesem Ort, an dem wir beide sind, riecht es nach Gas.’] Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen 321 Exemplarisch werden in den folgenden Untersuchungen nur die Elemente des Subparadigmas 1 der „Geruchswahrnehmungsverben“ (GWV) im inter- und intralingualen Kontrast beschrieben. Dabei soll aufgezeigt werden, dass es sich nicht um eine homogene Verbklasse handelt. 3. Argumentstrukturmuster und Argumentrealisierungsmuster im Sprachvergleich In Anlehnung an die von Engelberg (Engelberg et al. 2011, 2012; Engelberg in diesem Band, Engelberg demn.; Cosma/ Engelberg 2014) vorgeschlagene Methode wurde für die Analyse der empirisch gewonnenen Daten aus den Referenzkorpora DeReKo (für das Deutsche) und CREA (für das Spanische) 6 für jedes der hier zu untersuchenden Verben ein Verbprofil 7 erstellt, welches sich aus der Summe der belegten Argumentstrukturmuster (ASTM) und Argumentrealisierungsmuster (ARM) 8 ergibt. 9 6 Um eine möglichst große Vergleichbarkeit der Ergebnisse beider Korpora zu gewährleisten, wurde CREA auf Pressetexte vordefiniert, ansonsten aber keine temporale bzw. lokale Einschränkung vorgenommen. 7 Für die Kodierung der deutschen Verben wurden aus einem Sample mit 200 Zufallsbelegen die ersten 50 einschlägigen Belege zu jedem der für die Pilotstudie ausgewählten Lexeme analysiert. Da riechen und oler sowohl als GW-Verben als auch als GSE-Verben fungieren können, wurde hier als Grundlage ein Sample von 400 Zufallsbelegen herangezogen und daraus jeweils die ersten 50 Belege für jede Lesart analysiert. Für die Analyse der spanischen „Geruchsverben“ konnte dieses Verfahren nicht konsequent angewendet werden, da das gesamte Korpus zu den entsprechenden Anfragen − außer zu oler - weniger als 50 Treffer ergab. Die Analyseergebnisse stellen daher nur Tendenzen dar und müssen durch umfangreichere Korpusstudien validiert werden. 8 Zur Beschreibung der funktionalen und morphosyntaktischen Parameter wurde hier nur ein sehr reduziertes Merkmalsinventar für beide Sprachen verwendet: Subjekt = suj/ sub, Akkusativkomplement = akk, complemento directo = cd, Präpositivkomplement = pr, unpersönliches Pronomen (z.B.: man/ se) = imp, verschiedene passivische Konstruktion (z.B.: dt.: sein + zu + inf., sp.: „pasiva refleja“ mit se) = pas. 9 Es hat sich erwiesen, dass gerade bezüglich der Information zu dem Kombinationspotenzial die ein- und zweisprachigen Wörterbücher erhebliche Lücken aufweisen (Engelberg 2010; Meliss 2013, 2014a, 2014b, 2015). Meike Meliss 322 Die Analyse, die zunächst von den einzelnen Argumentstruktur- und Argumentrealisierungsmustern ausgeht (vgl. Abb. 1), 10 soll dazu dienen, die Information zu strukturieren und bezüglich einiger Faktoren wie u.a. Häufigkeit, Vielfalt und Bedeutung inter- und intrasprachlich zu interpretieren, um letztendlich in einem Vorschlag für eine detaillierte Strukturierung des Geruchswahrnehmungs-Paradigmas (siehe Abschnitt 4) zu münden. 11 Die Versprachlichung der Geruchsrolle (R2) bzw. der Geruchsträgerrolle (R3) zusammen mit der Wahrnehmerrolle (R1) ermöglicht eine erste Klassifizierung der Argumentstrukturmuster in drei Gruppen: (i) Muster ohne Versprachlichung der Rollen R2 und R3, (ii) Muster mit Versprachlichung von R2 und (iii) Muster mit Versprachlichung von R3. Eine Erweiterung durch andere Argumente führt zu weiteren Bedeutungsspezifizierungen. Abb. 1: Argumentrealisierungsmuster bei Geruchswahrnehmungsverben: Deutsch-Spanisch: relative Werte 3.1 Muster ohne Versprachlichung der Geruchs- und Geruchsträgerrolle (i) Zu dem einwertigen Muster mit der Wahrnehmerrolle in Subjektfunktion A1 sub/ suj (vgl. (4a)) kann bei schnüffeln und olisquear ein lokal-situierendes Argument A4 loc-sit (Wahrnehmungsort) hinzutreten (vgl. (4b-c)). In diesem Fall wird gleichzeitig sowohl auf das riechen- 10 Die Relevanz der hohen Frequenzwerte bei den Verben wittern, olisquear und olfatear muss relativiert werden, da für diese Verben nur wenige Belege vorlagen. Erst eine umfangreichere empirische Untersuchung erlaubt hier zuverlässige Schlüsse. 11 Übertragene und metaphorisch gebrauchte Bedeutungsvarianten, die nicht in den Bereich der Sinneswahrnehmung einzuordnen sind, werden an dieser Stelle nicht weiter berücksichtigt. Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen 323 als-wahrnehmungs-szenarium als auch auf ein such-szenarium (vgl. Levin 1993, S. 198) angespielt, indem allerdings nur Bezug genommen wird auf den Ort (R4), an dem die olfaktorische Wahrnehmung zwecks Suche nach etwas stattfindet, nicht aber auf „das Gesuchte“. In der Wertigkeit der „Such-Verben“ mit der Bedeutung von „sich bemühen, etwas zu finden“ ist ein adverbialer Aktant vorgesehen, der hier in gewissem Sinne auf die GWV übertragen/ projiziert wird. Da ein L2-Lerner nicht zwischen projizierten und nicht-projizierten Argumenten unterscheiden kann, scheint es sinnvoll, neben der Grundvalenz (vgl. Welke in diesem Band, S. 51f.) auch Information zu Erweiterungen anzugeben, wenn sie mit einer Bedeutungsspezifizierung einhergehen. Dies erweist sich als eine besonders relevante Information, wenn, wie hier, nicht für alle Verben eines lexikalisch-semantischen Paradigmas die besagte Erweiterung möglich ist. 12 (4) a. Kramer wunderte sich, daß er (A1) überhaupt riechen konnte. Auch seine Nase zu berühren wagte er nicht. (Denkel: Ja. Nein. Ja, 2008) ► riechen-als-wahrnehmungs-szenarium  „Riech-Bedeutung“ b. Der Abfall wird direkt vor dem Zelt getrennt, die Kartons sind gut gefüllt. Hunde (A1) schnüffeln zwischen den Zelten (A4) [...] (Südostschweiz, 30.7.2007) ► riechen-als-wahr- nehmungs-szenarium + such-szenarium  „Riech-Such- Bedeutung“ c. Allí, cuando olisqueaba (A1) por todos los rincones (A4), se tro pezó con una bolsa de mimbre deshilachada y polvorienta. (ABC, 3.12.1983) ► riechen-als-wahrnehmungs-szenari- um + such-szenarium  „Riech-Such-Bedeutung“ [‘Dort fand er, als er in allen Ecken (herum)schnüffelte, eine kaputt e und staubige Korbtasche.’] (ii) Einige „Geruchswahrnehmungsverben“ weisen außerdem die Möglichkeit zu einer Erweiterung des Musters mit einem direktiven Argument A8 auf, durch das die „Grundbedeutung“ der entsprechenden Verben mit einer „zielgerichteten Bewegungsbedeutung“ erweitert wird. Das Argument A8 referiert auf die Rolle „Bewegungsrich- 12 Aus den empirisch gewonnenen Daten ergaben sich keine weiteren Verben mit dem ASTM A1 A4 in Verbindung mit dem riechen-als-wahrnehmungs-szenarium und dem such-szenarium . Meike Meliss 324 tung“ (R8), d.h. in diesen Fällen auf die Körperbewegung des Wahrnehmenden bzw. auf die Gerichtetheit des Wahrnehmungsorgans auf das Wahrnehmungsziel. Die Bedeutung des Musters A1 sub/ suj A8 ziel ist demnach folgende: „jemand (A1) richtet/ orientiert sich (seinen Körper) zwecks olfaktorischer Wahrnehmung in eine bestimmte Richtung (A8)“ (vgl. (5a-b)). Aus der hier vorliegenden Verbindung des riechen-als-wahrnehmungs-szenariums mit einem zielgerichteten bewegungs-szenarium 13 resultiert vereinzelt auch eine Bedeutungsspezifizierung des involvierten Wahrnehmungsverbs, die sich als „Such-Kontroll-Bedeutung“ 14 umschreiben lassen kann. Mittels einer umfangreicheren empirischen Untersuchung müssten die genaueren inhalts- und ausdrucksrelevanten Konditionen für diese Bedeutungsvariante herausgearbeitet werden. (5) a. „Komm Bolko, bei Fuß! “ Der Hund (A1) war stehengeblieben und witt erte zum Berg hinauf (A8 ziel ). (Mannheimer Morgen, 13.7.1996) ► riechen-als-wahrnehmungs-szenarium + zielgerichtetes bewegungs-szenarium  ? „Such-Kon- troll-Bedeutung“ b. Beim Nichteingeweihten (oder Vegetarier) mögen die schim- melüberwucherten, fett enden und schwärzlichen Stücke durchaus einen Anflug von Ekel auslösen. Der Kenner (A1) riecht über den Anteil Moder hinweg (A8) und sieht an der hässlichen Hülle vorbei. (Zeit, 28.5.2003) ► riechen-als- wahrnehmungs-szenarium + zielgerichtetes bewegungs- szenarium  ? „Such-Kontroll-Bedeutung“ c. Niesen muss er nicht, obwohl er (A1), die Nase fast am Boden, in jede Ritz e (A8) schnüffelt, unter Dielen scharrt, an Mörtel kratz t. (Rhein-Zeitung, 6.8.2002) ► riechen-als-wahrneh- mungs-szenarium + zielgerichtetes bewegungs-szena- rium  ? „Such-Kontroll-Bedeutung“ d. Bajo escombros, en el cauce del río o en las cavidades for- madas tras el derrumbamiento de puentes y casas, por todos 13 An einem zielgerichteten bewegungs-szenarium sind folgende Rollen beteiligt: Agens und Bewegungsrichtung (vgl. sich wenden/ richten an etc.). 14 Unter „Such-Kontroll-Bedeutung“ soll hier verstanden werden, dass aufgrund der zielgerichteten Geruchswahrnehmung etwas nicht nur gesucht, sondern genauer kontrolliert/ untersucht/ analysiert wird. Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen 325 los rincones (A4) se (A1) rastrea, buscando algún indicio del paradero de estas personas. (ABC Electrónico, 9.11.1997)  ? „Such-Kontroll-Bedeutung“ [‘Unter dem Schutt [...] durchforstet man alle Winkel auf der Suche nach einem Hinweis zu dem Verbleib dieser Personen.’] In keinem konsultierten Wörterbuch ist diese Realisierungsmöglichkeit und diese Bedeutungsvariante verzeichnet. Für Welke handelt es sich hier um ein nicht prototypisches, untypisches, daher nicht-projiziertes Argument. Da die Valenzgrammatik bislang hauptsächlich projizierte Argumente betrachtet habe, passen diese Fälle nicht in die tradierte Auffassung (vgl. Welke in diesem Band, S. 41f.). Aus konstruktionsgrammatischer Sicht liege hier eine „konventionalisierte Minikonstruktion“ vor, die trotz ihrer Häufigkeit 15 keine Valenzerhöhung rechtfertige, da es sich um eine Einpassung (coercion) oder Fusionierung (Welke 2009) handle, die bestimmten Bedingungen unterliegt. Als „nicht-projizierte Argumente“ seien sie Argumente, die regelgeleitet zugewiesen werden. Daraus folgert Welke, dass es für die Sprecher/ Hörer nicht notwendig sei, ihre Zuweisbarkeit im mentalen Lexikon einzutragen (vgl. Welke in diesem Band, S. 44f.). Diese Fälle, in denen es sich um die Verbindung des riechen-als-wahrnehmungs-szenariums mit einem zielgerichteten bewegungs-szenarium handelt und sich dadurch auch eine Bedeutungsspezifizierung ergibt, sind für einen L2-Lerner nicht zugänglich, wenn sie nicht in einem „lexikologischen Informationssystem“ festgehalten und abgefragt werden können, denn das Spanische verfügt über eine derartige Möglichkeit der Fusionierung kaum und muss daher beide Szenarien getrennt verbalisieren (z.B. durch ein Richtungsverb und ein Wahrnehmungsverb im Gerundium). Wenn die „Such-Kontroll-Bedeutung“ im Vordergrund stehen sollte, erfolgt die Versprachlichung durch die Verwendung eines Kontroll- oder Suchverbs (z.B. controlar, r comprobar, r rastrear etc.) und die entsprechende Verbalisierung des einen oder anderen Szena- 15 Aus der durchgeführten Korpusanalyse ergaben sich für schnuppern keine Belege mit diesem Muster, aber die folgenden zwei Belege aus DeReKo zeigen, dass es diese durchaus gibt: (i) „Wie gut das riecht, das frische Korn! “ Gertraud Switalski schnuppert in das kleine Weidenkörbchen. (Nürnberger Zeitung, 23.8.2007) (ii) „Oh“, sagt Frohnweiler und schnuppert in die milde Luft, „hier riecht es nach Fuchs [...]“ (Rhein-Zeitung, 3.5.1999). Meike Meliss 326 rios durch andere sprachliche Ressourcen, wobei dann häufig die olfaktorische Wahrnehmung in den Hintergrund tritt (vgl. (5d)). (iii) Der schon für andere Wahrnehmungsverben beschriebene spezielle Gebrauch zum Ausdruck von fortbewegung durch ein adverbial-direktives Argument (A9 dir ) konnte auch für die deutschen, nicht aber für die spanischen „Geruchswahrnehmungsverben“ vereinzelt belegt werden (6a-c). Die Verbindung zwischen einem riechen-als-wahrnehmungs-szenarium und einem fortbewegungs-szenarium erfolgt im Deutschen durch das Muster A1 sub/ suj A9 dir : „jemand (A1) bewegt sich riechend irgendwohin/ irgendwoher/ irgendwo entlang (A9)“, welches für die reflexiv gebrauchten Verben sich schnuppern und sich schnüffeln belegt werden konnte. Sowohl das Ziel (6b) und die Herkunft (6c) als auch die Strecke (6a) können hier ausgedrückt werden. Wie das Spanische - neben dem Gebrauch eines Gerundiums (6c) - in diesen Fällen fortbewegung in Verbindung mit der geruchswahrnehmung versprachlicht, bedarf einer ausführlicheren empirischen Analyse. (6) a. „Such und hilf, Aika! “, schon läuft die siebenjährige Labra- dor-Hündin (A1) los und schnuppert sich durch den Trümmer- haufen (A9). (Mannheimer Morgen, 12.8.2000) ► riechen- als-wahrnehmungs-szenarium + fortbewegungs-szena- rium  „Riech-Fortbewegungs-Bedeutung“ b. Von ihren Führern geleitet, schnüffeln sie (A1) sich von einem Quadratmeter zum anderen (A9). Die Polizei rechnet damit, daß die Tiere noch etwa eine Woche brauchen, bis sie das ganze Gebiet durchsucht haben. (Mannheimer Morgen, 21.10.1995) ► riechen-als-wahrnehmungs-szenarium + fortbewegungs-szenarium  „Riech-Fortbewegungs-Be- deutung“ c. Pero la gente había aprendido a quererle y, lo que es mejor, a obsequiarle, de manera que le ahorraban el esfuerzo de ir (A1) olisqueando de puesto en puesto (A9), con riesgo de tropezar entre sacos y cestas. (El arpista ciego. 2002)  ir (gehen) und olisquear (schnuppern) ► riechen-als-wahrnehmungs-sze- narium + fortbewegungs-szenarium  „Riech-Fortbewe- gungs-Bedeutung“ [‘Aber die Leute hatt en gelernt, ihn gern zu haben und, was noch besser war, ihm Geschenke zu machen, so dass ihm die Mühe erspart blieb, sich von Stand zu Stand durchschnuppern zu müssen [...].’] Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen 327 3.2 Muster mit Versprachlichung der Geruchsrolle (i) Das am häufigsten belegte ASTM A1 sub/ suj A2 akk/ cd mit akkusativischer bzw. direkter Komplementrealisierung der Geruchsrolle (R2) tritt bei allen Verben - außer bei schnüffeln und olisquear auf (7a-b) (vgl. riechen1 70%, oler1 62%). Das Muster weist auch vereinzelt eine Erweiterung durch ein lokal-situierendes Argument zur Bezeichnung des Wahrnehmungsortes (R4) auf A1 sub/ suj A2 akk/ cd A4 lok-sit (dt.: riechen1, wittern; sp.: olfatear (7c-d)). Während eine Erweiterung des Musters A1 durch A4 eine Verschmelzung mit einem such-szenarium herstellen konnte (vgl. Abschnitt 3.1), führt eine Erweiterung mit A4 hier zu der Verbindung mit einem finden-szenarium , wobei A2 einerseits auf die Geruchsrolle (R2) und andererseits auf die Rolle des „Gefundenen“ referiert. 16 In den Belegen (7c) und (7d) wird deutlich, dass eine entsprechende Interpretation in Verbindung mit der „Finden-Bedeutung“ zu einer ganz anderen Tatsache in der Berichterstattung führt. Im fremdsprachigen Kontext muss daher besonders auf diese Bedeutungsvariation hingewiesen werden. (7) a. Hinter mir blieb sie stehen, und ich (A1) konnte die Wolke aus süßem Parfüm und Knoblauch (A2) riechen, die sie wie gewohnt umgab. (Rhein-Zeitung, 21.3.2012) ► riechen-als- wahrnehmungs-szenarium  „Riech-Bedeutung“ b. El viento cierra violentamente las puertas de la casa y huelo (A1) la lluvia (A2) varios minutos antes de que empiece a caer sobre la tierra. (El Mundo, 5.3.1994) ► riechen-als-wahr- nehmungs-szenarium [‘Der Wind schlägt die Haustüren gewaltvoll zu, und ich rieche den Re- gen einige Minuten, bevor er auf die Erde fällt.’] c. Ein Suchhund (A1) witt erte den kleinen Körper (A2) unter der Schneedecke (A4). (Rhein-Zeitung, 26.2.1999) ► riechen- als-wahrnehmungs-szenarium + finden-szenarium  „Riech-Finden-Bedeutung“ d. Un perro (A1) especialmente entrenado olfateó la droga (A2) en una autocaravana con matrícula de Holanda (A4) [...] (El País, 30.8.1997) ► riechen-als-wahrnehmungs-szena- 16 Das Muster kann auch in unpersönlicher Form (dt.: man, sp.: se: als ‘pasiva refleja’) und passivischem Gebrauch auftreten. Meike Meliss 328 rium + finden-szenarium  „Riech-Finden-Bedeutung” [‘Ein speziell trainierter Hund witt erte die Drogen in einem Wohnwa- gen mit holländischem Kennzeichen.’] (ii) Die häufige Besetzung von A2 durch „Luft“ bei schnuppern impliziert in den meisten belegten Fällen eine Bedeutungsvariation zu schnuppern als „Verb der Einatmung“ (vgl. (8a, 8b)) 17 (vgl. „Breathe Verbs“: Levin 1993, S. 218). Das Argument 2 bezieht sich meistens gleichzeitig auf den Geruch (R2), den man wahrnimmt, und die Luft, die man einatmet. Das Spanische weist diese Bedeutungsvariation bei den Geruchswahrnehmungsverben weniger deutlich auf (8b) und bevorzugt bei Spezifizierung der „(Ein-)Atmungs-Bedeutung“ eher ein einfaches Atmungsverb (z.B. respirar). (8) a. Der erst jetz t wieder zugänglich gemachte Besucherstollen „Wolfstaller Rösche“ lässt alle Teilnehmer (A1) auf einer be- gehbaren Länge von 160 Metern Stollenluft (A2) schnuppern. (Rhein-Zeitung, 23.4.2002) ► riechen-als-wahrnehmungs- szenarium + atmungs-szenarium  „Riech-Atmen-Bedeu- tung“ b. Sin levantarse espabiló levemente las aletas de la nariz olisque- ando (A1) el aire (A2). (Invierno sin pretexto 1992) ► riechen- als-wahrnehmungs-szenarium + ? atmungs-szenarium  ? „Riech-Atmen-Bedeutung“ [[...] ohne aufzustehen, spannte er die Nasenflügel leicht, um die Luft einzuschnuppern / zu schnuppern.’] (iii) Die Versprachlichung des Geruchsemissionsbereichs (R7) und der Emissionsquelle (R6) durch Argumente in adverbialer Funktion in Verbindung mit den Wahrnehmer- und Geruchsrollen (R1 und R2) und die damit hergestellte Bedeutungsähnlichkeit zu den „Geruchsemissionsverben“ (vgl. Abschnitt 2: Subparadigma 2 (ii)) konnte in beiden Sprachen vereinzelt durch entsprechende Argumentstrukturmuster pas A2 A6/ A7 mit einer passivischen bzw. passivähnlichen Bedeutung bei riechen1 und oler1 belegt werden (vgl. (9a-c)). 17 Es lässt sich hier keine klare Trennung vornehmen, da die Riechaktivität natürlich auch das Einatmen mit der Nase impliziert. Erst der jeweilige Kontext kann aufzeigen, ob eher das R I E C H E N -A L S -WA H R N E H M U N G S -S Z E N A R I U M oder ein AT M U N G S - S Z E N A R I U M im Vordergrund steht. Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen 329 (9) a. Brotdunst (A2) war aus einer Zementbude (A6) zu riechen. (Zeit, 19.8.2004) 18 ► riechen-als-wahrnehmungs-szena- rium  ? „Geruchs-Emissions-Bedeutung“ b. A ello hay que añadir un aliento tan repugnante e infecto (A2) que uno no se puede ni acercar, ya que se huele de una punta a la otra del barco (A7). (Odiseo Revista de Historia, Nr. 1, 22.4.2001) ► riechen-als-wahrnehmungs-szenarium  ? „Geruchs-Emissions-Bedeutung“ [‘[...] hinzu kommt ein Atem, [...] der von einem zum anderen Ende des Schiffes zu riechen war.’] c. A pesar de que pocos reconocieron sus intenciones, algo les delataba: iban cargados con mochilas y grandes bolsas reple- tas de comida, que (A2) podía olerse a metros de distancia (A6). (El Mundo, 28.11.1996) ► riechen-als-wahrneh- mungs-szenarium  ? „Geruchs-Emissions-Bedeutung“ [‘Obwohl wenige ihre Absichten kannten, gab es etwas, was sie verriet: sie schleppten Rucksäcke und große Tüten, gefüllt mit Essen, das aus me- terweiter Entfernung zu riechen war.’] 3.3 Muster mit Versprachlichung der Geruchsträgerrolle (i) A1 A3 ist in beiden Sprachen ein häufiges Argumentstrukturmuster, und konnte für alle Verben in beiden Sprachen (außer bei wittern) - auch vereinzelt durch einen unpersönlich-passivischen Gebrauch - belegt werden. Während das Muster bei riechen1 zu 12% und oler1 zu 26% belegt ist, weist es weit höhere Werte für schnüffeln (58%), schnuppern (33%), olisquear (67%) und olfatear (55%) auf. (ii) Die häufig belegte semantische Spezifizierung von A3 in Verbindung mit Substanzen (Klebstoff, Benzin etc.) bei schnüffeln führt zu der Bedeutungsvariante „den Geruch bzw. die Substanz eines Stoffes durch die Nase (riechend) aufnehmen/ einatmen“ 19 (10a) und damit 18 Es handelt sich hier um sein als Modalitätsverb mit einem regierten zu-Infinitiv. „Sein verlangt ein passivfähiges Vollverb und bildet eine dem werdenbzw. sein- Passiv entsprechende Konverse dazu.“ (Duden 2005, S. 586)  Man (A1 imp ) konnte Brotdunst (A2) aus einer Zementbude (A6) riechen./ Brotdunst (A2) konnte aus einer Zementbude (A6) gerochen werden. 19 Die Aufnahme der besagten Substanzen erfolgt hier durch die Nase. Daher ist das riechen-als-wahrnehmungs-szenarium automatisch involviert, auch wenn die „Riech-Bedeutung“ in den besagten Fällen nicht im Vordergrund steht. Meike Meliss 330 auch zu einer Ähnlichkeit mit Verben mit der Bedeutung „Aufnehmen/ Konsumieren“ (vgl. „Verbs of Ingesting“: Levin 1993, S. 42) „ . Diese Bedeutungsvariante, die eine Verschmelzung mit dem konsumszenarium aufweist, realisiert die Geruchsträgerrolle (R3) zusammen mit der sekundären Geruchsrolle (R2) gleichzeitig in einem einzigen Argument. Der Geruchsträger sondert eine Substanz ab, die durch die Nase riechend und einatmend aufgenommen wird. Eine derartige Bedeutungsvariante liegt bei den spanischen „Geruchswahrnehmungsverben“ nicht vor. Eine entsprechende Versprachlichung erfolgt vielmehr durch eine Präferenz für „Verben der Einatmung“ bzw. „Verben der Aufnahme/ des Konsumierens“ (inhalar, r esnifar) mit dem entsprechenden zweiwertigen transitiven ASTM. Eine gleichzeitige Versprachlichung von geruch tritt dann völlig in den Hintergrund (vgl. (10b, c)). (10) a. Das macht der Klebstoff , den (A2) sie (A1) schnüffelt. (Nürn- berger Zeitung, 25.5.2012) b. A su corta edad inhalan (A1) pegamento (A3), fuman hachís [...]. (El País, 25.8.1997) ► riechen-als-wahrnehmungs- szenarium + konsum-szenarium  „Aufnahme/ Konsum- Bedeutung“ [‘Schon ganz jung schnüffeln sie Klebstoff , rauchen Haschisch [...]’] c. Los niños de las calles guatemaltecas (A1) „esnifan“ pegamen- to (A3) [...]. (El Mundo, 22.11.1994) konsum-szenarium  „Aufnahme/ Konsum-Bedeutung“ [‘Die Straßenkinder von Guatemala schnüffeln Klebstoff [...].’] (iii) Das Argument A3 (Geruchsträger) erfährt im Deutschen - nicht aber im Spanischen - unterschiedliche morphosyntaktische Realisierungsmöglichkeiten. Diese Tatsache verdient besondere Aufmerksamkeit, da hier ein wichtiger interlingualer Unterschied bemerkbar wird. Während im Deutschen hauptsächlich eine Präpositionalphrase mit an (A3 pr_an ) (und bei schnüffeln auch mit nach: A3 pr_nach ) in Komplementfunktion vorliegt, erscheint im Spanischen nur die transitive Realisierungsmöglichkeit mit einem direkten Komplement. Auf diese Besonderheiten soll im Folgenden genauer (vgl. a) und b)) eingegangen werden. a) Die „nach-Konstruktion“ mit schnüffeln (vgl. (11a, b)) lässt sich den „Such-Konstruktionen“ zuordnen (vgl. Levin 1993, S. 70ff., S. 197ff.; Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen 331 Proost 2009) und bildet eine Variante zu der „Such-Konstruktion“ von schnüffeln, die oben (vgl. Abschnitt 3.2 (i)) bezüglich des Musters A1 A4 behandelt wurde. Entsprechende spanische Verben mit dem Muster A1 A3 cd können nur vereinzelt durch den Kontext - nicht aber durch das Muster selbst − mit einer „Riech-Such-Bedeutung“ bzw. sogar „Riech-Kontroll-/ (Unter-)Such-Bedeutung“ in Verbindung gebracht werden (vgl. (11c)). (11) a. 20 Doppelzäune und Hunderte von Fernsehkameras schüt- zen alle wichtigen Anlagen. Spürhunde (A1) schnüffeln nach Sprengstoff (A3). (Nürnberger Nachrichten, 22.7.1992) ► riechen-als-wahrnehmungs-szenarium + such-szenari- um  „Riech-Such-Bedeutung“ b. Fachleute einer Krefelder Firma und der Stadtwerke (A1) ge- hen gegenwärtig die Leitungen ab und „schnüffeln“ nach dem flüchtigen Stoff (A3). (Rhein-Zeitung, 16.4.2011) ► riechen- als-wahrnehmungs-szenarium + such-szenarium  „Riech-Such-Bedeutung“ c. Salvador Jiménez (A1) huele o acaricia un libro (A3) y en se- guida le encuentra el perfume más escondido y raro, hallazgo que a otros les cuesta horas o días, o una existencia entera. (ABC Electrónico, 26.5.1997) ► riechen-als-wahrneh- mungs-szenarium  „Riech-Bedeutung“ [‘S.J. (A1) riecht oder streichelt ein Buch (A3) und findet/ entdeckt sofort das versteckteste und seltenste Parfüm; es ist ein Fund, für den Andere Stunden oder Tage oder sogar eine Ewigkeit brauchen.’] b) Die deutsche Konstruktion mit der „an-Phrase“ referiert zwar auf das riechen-als-wahrnehmungs-szenarium , stellt aber auch eine Verbindung zu dem such-szenarium her, da die Geruchsträgerrolle (R3) als A3 mit der Realisierung als PP an gleichzeitig auf den Wahrnehmungsort bzw. Suchort referiert. Damit verbunden ist auch eine Bedeutungserweiterung zu der „Riech-Kontroll-/ Such- Bedeutung“. Außerdem liegt in den meisten Fällen auch eine implizite „zielgerichtete Bewegungsbedeutung“ vor (vgl. Abschnitt 3.2 (ii)), die zwar nicht versprachlicht wird, die aber vorausgesetzt werden muss, denn das Riechen an einem Geruchsträger erfordert normalerweise eine zielgerichtete Bewegung des Wahrnehmenden in die Richtung des Geruchsträgers. Die Bedeutung des Musters ist Meike Meliss 332 daher folgende: „jemand (A1) will den Geruch, der an einem Geruchsträger (A3) haftet, zwecks Suche/ Kontrolle (zielgerichtet) wahrnehmen.“ Das Spanische referiert zwar mit einer direkten Komplementrealisierung des zweiten Aktanten auch auf die Geruchsträgerrolle, die in bestimmten Fällen mit dem Wahrnehmungsort (R4) zusammenfällt, aber die entsprechende Bedeutungserweiterung bzw. -veränderung kann nur über den Kontext und das Weltwissen und nicht über sprachlich kodierte Mittel, wie es durch die an-Phrase im Deutschen möglich ist, erfasst werden. (vgl. (12a-d)). (12) a. Ein herrenloser Koffer am Oberweseler Bahnhof hat gestern einen Polizeieinsatz ausgelöst. Ein Spürhund (A1) schnüffelte am Gepäckstück (A3 pr_an ). (Rhein-Zeitung, 14.12.2012) ► rie- chen-als-wahrnehmungs-szenarium + such-szenarium  „Riech-Such- / Kontroll-Bedeutung“ b. Ich (A1) schnüffl e manchmal an meiner Haut (A3 pr_an ), ob die schon nach Denkmal riecht.“ (Oberösterreichische Nachrich- ten, 17.5.1996) ► riechen-als-wahrnehmungs-szenarium + such-szenarium  „Riech-Such-/ Kontroll-Bedeutung“ c. Mit den Fingern pult, wischt und kratz t er (A1) in allen Ritz en der Wurstküche, öffnet Kanister, schnüffelt an Gewürzdosen (A3) und misst die Temperatur der Wurstt heke. (Nürnberger Nachrichten, 25.2.2012) ► riechen-als-wahrnehmungsszenarium + such-szenarium  „Riech-Such-/ Kontroll- Bedeutung“ d. Un perro (A1) de la unidad canina de la Guardia de Hacienda, olfatea en el aeropuerto La Aurora 20 el equipaje de un viajero (A3 cd ), en busca de drogas. (Prensa Libre, 10.7.1996) ► rie- chen-als-wahrnehmungs-szenarium + such-szenarium  ? „Riech-Such-/ Kontroll-Bedeutung“ [‘[...] bei der Suche nach Drogen schnüffelte ein Hund [...] auf dem Flugha- fen La Aurora an dem Gepäck eines Fluggastes.’] 20 „en el aeropuerto La Aurora“ versteht sich hier als lokal-situierendes Supplement. Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen 333 e. Realicé mi suave aterrizaje en la bodega de Nuriootpa [...] donde 21 olfateé (A1) y caté 22 caldos (A3 é cd ) (El Mundo - Vino, 3.1.2003) ► riechen-als-wahrnehmungs-szenarium  ? „Riech-Such-/ Kontroll-Bedeutung“ [‘Mein seichter Einstieg erfolgte in dem Weinkeller in Nuriootpa, wo ich 22 Weine schnuppern und probieren konnte.’] (iv) Das deutsche Verb riechen referiert in einigen Fällen durch die transitive vs. präpositionale Realisierung des zweiten Arguments auf die eine oder andere Rolle und damit verweist es auf unterschiedliche Szenarien und letztendlich unterschiedliche Bedeutungen (vgl. (13a), (13c)). Während in (13a) mit dem zweiten, akkusativisch realisierten Argument auf den Geruchsträger (R3) neben dem riechen-als-wahrnehmungs-szenarium durch den Kontext und unser Weltwissen eine Verbindung zu einem such-szenarium und zu einer „Riech-Such-/ Kontroll-Bedeutung“ hergestellt werden kann (vgl. Abschnitt 3.4 (iii)), ergibt sich diese Verbindung in (13c) nicht. Das als Akkusativkomplement realisierte zweite Argument referiert hier auf die Geruchsrolle (R2). Andererseits referiert das zweite Argument in (13c) als PP _an ebenso auf die Geruchsträgerrolle (R3) wie das zweite Argument in (13a) als NP akk . Die Belege (13a) und (13b) zeigen also, dass für riechen die Realisierungsalternanz (PP _an / NP akk ) nicht immer mit einem Rollen- und Bedeutungswechsel verbunden sein muss. (13) a. Beim Bio-Griechen am Hauptplatz können Kinder (A1) am Mitt woch, 10. Juli, von 10 bis 11 Uhr verschiedene Kräuter (A3) riechen und basteln. (Niederösterreichische Nachrichten, 11.7.2013)  an den Kräutern riechen, um sie kennenzulernen ► riechen-als-wahrnehmungs-szenarium + such-sze- narium  „Riech-Such-Kontroll-Bedeutung“ b. Die Besucher (A1) durften an zahlreichen Kräutern (A3)) rie- chen und diese auch probieren (Rhein-Zeitung, 24.8.2007)  an den Kräutern riechen, um sie kennenzulernen ► riechen- als-wahrnehmungs-szenarium + such-szenarium  „Riech-Such-/ Kontroll-Bedeutung“ c. Braust man durch die Landschaft, nimmt man manche Ein- drücke viel intensiver wahr. Man (A1) kann beispielsweise wildwachsende Kräuter oder Blumen (A2) riechen, während 21 „en la bodega de Nuriootpa“ versteht sich hier als lokal-situierendes Supplement. Meike Meliss 334 der Fahrwind durch die Haare bläst. (Kleine Zeitung, 22.4.1998)  den Duft der Kräuter und Blumen wahrnehmen ► riechen-als-wahrnehmungs-szenarium Es gilt für dieses Phänomen genauere Bedingungen herauszuarbeiten und für den zweisprachigen Kontext nutzbar zu machen. Der Bedeutungsunterschied zwischen „(an) Kräutern riechen“ (= sich zu Kräutern hinwenden und dort - an ihnen - einen Geruch - versuchen wahrzunehmen) beinhaltet eine zusätzliche zielgerichtete Bewegungsinterpretation, die im Spanischen nicht durch unterschiedliche morphosyntaktische Realisierungsmöglichkeiten (PP cd / PP prp ) verdeutlicht werden kann. Verbunden mit der transitiven Ausdrucksmöglichkeit bleibt eine gewisse Ambiguität zwischen der Bewegungs- und der reinen Wahrnehmungsinterpretation (13d), bei der nur der Kontext und das Weltwissen Klarheit schafft. d. Al regresar el grupo, se encontraba en el parque; olía (A1) las flores carnosas de un laurel (A3 cd ). (Juegos florales, 1985)  an den Lorbeerblüten riechen, um den Duft aufzuneh- men ► riechen-als-wahrnehmungs-szenarium  „Riech- Such-/ Kontroll-Bedeutung“ [‘Als die Gruppe zurückkam, war er im Park; er roch die fleischfarbenen Lorbeerblüten / an den fleischfarbenen Lorbeerblüten.’] 4. Fazit und Ausblick Die Wechselwirkung von Information zu verbalen Argumentstrukturmustern, den morphosyntaktischen Argumentrealisierungsmöglichkeiten und dem semantischen Füllpotenzial der einzelnen Argumente in Verbindung mit der entsprechenden Bedeutungsinformation ermöglicht eine detaillierte Subklassifizierung der Verben des riechenals-wahrnehmungs-szenariums , die in Tabelle 1 (vgl. Anhang) dargestellt wird. Neben einzelsprachlicher Variation konnten auch kontrastiv relevante Divergenzen aufgedeckt werden. Die Informationsauswahl in lexikografischen Nachschlagewerken erfolgt hauptsächlich nach dem Prinzip der Häufigkeit. Somit bleiben seltene Phänomene meist unkodiert. Regelgeleitete, also nichtlexemspezifische Abhängigkeiten werden normalerweise in Regelapparaten (Grammatiken) festgehalten. Die oben ausgeführten Analysen konnten aber aufzeigen, dass im Sprachkontakt neben einzelsprachli- Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen 335 chen Besonderheiten auch kontrastiv relevante Aspekte auftreten, die nicht allein nach regelgeleiteten vs. idiosynkratischen Aspekten beschrieben werden können. Das führt dazu, dass viele kontrastiv relevante Phänomene, besonders, wenn sie selten vorkommen, weder in zweisprachigen Wörterbüchern noch in kontrastiven Grammatikbeschreibungen Beachtung finden. Wenn Wörterbücher auf die Eintragung von nicht-projizierten Argumenten im Sinne von Welke (in diesem Band) verzichten, dann stellt sich daher die Frage, wo und wie ein L2-Lerner Information über spezifische, sowohl regelgeleitete als auch idiosynkratische Besonderheiten, die außerdem in vielen Fällen eher seltene Phänomene darstellen, konsultieren kann. In dem Sinne soll der Beitrag als Plädoyer für die Erstellung eines konzeptuell orientierten lexiko-grammatischen Informationssystems verstanden werden, in dem unter Berücksichtigung der Textsortenspezifik und unter Einbeziehung von empirischen Frequenzdaten aus vergleichbaren Korpora und auch aus parallelen Übersetzungskorpora für den Sprachkontakt Idiosynkratisches und Regelhaftes sowie Häufiges und Seltenes gleichermaßen berücksichtigt werden. Literatur Cosma, Ruxandra/ Engelberg, Stefan (2014): Subjektsätze als alternative Valenzen im Deutschen und Rumänischen. Eine kontrastive quantitative Korpusstudie zu Psych-Verben. In: Cosma, Ruxandra/ Engelberg, Stefan/ Schlotthauer, Susan/ Stănescu, Speranţa/ Zifonun, Gisela (Hg.): Komplexe Argumentstrukturen. Kontrastive Untersuchungen zum Deutschen, Rumänischen und Englischen. (= Konvergenz und Divergenz 3). Berlin/ Boston, S. 339-420. CREA: Corpus de referencia del español actual. 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Meike Meliss 338 Anhang „Geruchsverben“ - riechen-als-wahrnehmungs-szenarium : Deutsch-Spanisch: olfaktorische Wahrnehmungsbedeutung ASTM ARM Bedeutung: Erweiterung / Spezifizierung A1 A1 „Riech-Bedeutung“ A1 A4 A1 A4 „Riech-Such-Bedeutung“ A1 A8 A1 A8 ? „Riech-Such-/ Kontroll-Bedeutung A1 A9 A1 A9 „Riech-Fortbewegungs-Bedeutung” A1 A2 A1 A2akk/ cd „Riech-Bedeutung“ A2 = Luft ? „Riech-Atmen-Bedeutung“ A1imp A2 akk/ cd „Riech-Bedeutung“ pas A2 „Riech-Bedeutung“ A1 A2 A4 A1 A2akk/ cd A4 „Riech-Finden-Bedeutung“ A1imp A2akk/ cd A4 „Riech-Finden-Bedeutung“ pas A2 A4 „Riech-Finden-Bedeutung“ Pas A2 A7 pas A2 A7 ? „Geruchs-Emissions-Bedeutung“ Pas A2 A6 pas A2 A6 ? „Geruchs-Emissions-Bedeutung“ A1 A3 A1 A3akk/ cd ? „Riech-Such-/ Kontroll-Bedeutung“ A3 = Substanzen „Aufnahme-/ Konsum-Bedeutung“ pas A3 ? „Riech-Such-/ Kontroll-Bedeutung“ A1 A3pr_an „Riech-Such-/ Kontroll-Bedeutung“ A1imp A3pr_an „Riech-Such-/ Kontroll-Bedeutung“ pas A3prp_an „Riech-Such-/ Kontroll-Bedeutung“ A1 A3pr_nach „Riech-Such-Bedeutung“ Gesamt: absolut Tab. 1: Quantitative und qualitative Information zu den einzelnen ASTM und ARM (relative Werte) und Bedeutungsspezifizierung Argumentstrukturen, Valenz und Konstruktionen 339 riechen1 schnüffeln schnuppern witt ern oler1 olisquear olfatear 16% 24% 14% 10% 9% 12% 33% 2% 9% 2% 6% 13% 18% 42% 27% 9% 12% 33% 9% 40% 27% 64% 34% 27% A2 = Luft 16% 4% 2% 12% 6% 27% 9% 4% 6,5% 6,5% 4% 4% 2% 4% 70% 0% 40% 9191%% 62% 0% 36% 6% 12% 26% 67% 55% A3 = Substanzen 2% 4% 32% 33% 2% 2% 10% 12% 58% 33% 0% 26% 67% 55% 50 50 15 11 50 3 11 VANESSA GONZÁLEZ RIBAO DAS LEXIKOSEMANTISCHE PARADIGMA DER NEUEN MEDIALEN KOMMUNIKATIONSVERBEN IM SPRACHVERGLEICH (SPANISCH - ENGLISCH - DEUTSCH) UNTER DEM BLICKWINKEL DER ARGUMENTSTRUKTUR 1. Einleitung Der Bereich der sprachlichen Kommunikation hat durch die Entwicklung neuer Technologien in den letzten 15 Jahren viele Veränderungen und Neuerungen erfahren. Dementsprechend hat sich der Wortschatzausschnitt der Internet-medialen Kommunikationsverben (im Folgenden: IMKV ) in diesem Zeitraum erheblich vergrößert. Den zum Wortschatzbereich der IMKV gehörenden Neologismen sind einige etymologische und semantische Eigenschaften gemeinsam, durch die sie sich von anderen Typen von medialen Kommunikationsverben ( MKV ) abgrenzen lassen. Zum einen wird mit ihnen auf Situationen Bezug genommen, in denen die Kommunikation über das Internet und mithilfe einer Anwendungssoftware oder Webseite erfolgt. Zum anderen sind sie meist auf Anhieb als aus dem Englischen entlehnte Wörter erkennbar, da entweder ihre Form in den meisten Fällen von einem englischsprachigen Eigennamen, d.h. dem Produkt- oder Protokollnamen einer bestimmten Anwendungssoftware zur Massenkommunikation, abgeleitet ist (z.B. facebooken und skypen) oder sie die Form bereits existierender englischer Wörter haben, deren Bedeutung neu geprägt wurde (z.B. chatten). In diesem Beitrag wird gezeigt, dass die semantische Klasse der MKV sich nicht mehr als eine homogene Verbklasse erweist, wenn (i) sie um die Subklasse der IMKV erweitert wird und (ii) die IMKV nicht nur in Bezug auf ihre Bedeutung, sondern auch unter Berücksichtigung ihrer argumentstrukturellen Eigenschaften untersucht werden. Als eine homogene Klasse wurden die MKV im Deutschen von Harras et al. (2004) und Proost (2007) dargestellt, die diese Verben allerdings nur unter semantischen Aspekten klassifizierten und dabei lediglich die wenigen damals bereits existierenden IMKV berücksichtigten. Die englischen MKV wurden von Levin (1993) aufgrund ihrer Fähigkeit, im Zu- Vanessa González Ribao 342 sammenhang mit einem Satzkomplement die Dativalternation zu erlauben, syntaktisch als Klasse abgegrenzt. Allerdings konnte festgestellt werden, dass nicht alle MKV (z.B. chatten oder bloggen) Levins Beschreibung entsprechen (vgl. De Clerck et al. 2011, S. 57-86). Bereits in den Studien von Barðdal (2008) zur Untersuchung der syntaktischen Produktivität von Argumentstrukturkonstruktionen bei neuen Verben im Isländischen und in der Studie von De Clerck et al. (2011) für das Englische wurden die MKV im Hinblick auf ihre Syntax und Semantik als eine heterogene Gruppe angesehen. Ziel dieses Beitrags ist es, auf der Basis einer Pilotstudie (vgl. Abschnitt 2) zu zeigen, dass die Berücksichtigung der argumentstrukturellen Eigenschaften von IMKV dazu führt, dass diese Verben sowohl in syntaktischer als auch in semantischer Hinsicht in drei große Gruppen, die jeweils mit bestimmten Konstruktionen einhergehen, eingeteilt werden können (vgl. Abschnitt 3). 1 2. Konstruktionen mit IMKV Die Betrachtung obiger Fragestellungen bedarf aktueller Daten zu den IMKV . Zu diesem Zweck wurde für die in Tabelle 1 aufgeführten englischen, deutschen und spanischen Verben 2 eine Pilotstudie durchgeführt. Für jedes dieser Verben wurden aus den entsprechenden COW - Korpora ( ENCOW , ESCOW und DECOW, vgl. Schaefer/ Bildhauer 2012) 200 Belege 3 syntaktisch (nach Phrasentyp und Kasus) und semantisch (nach den semantischen Rollen der Argumente) kodiert. Insgesamt wurden die folgenden Argumente für die Kodierung herangezogen: K (= die kommunizierende Person), A (= der Ansprechpartner), M (= die 1 Dieser Beitrag stellt eine Voruntersuchung zu meiner Dissertation zur Argumentstruktur und zur Bedeutung der MKV im Spanischen und Deutschen dar, die mithilfe eines DAAD -LaCaixa-Stipendiums zurzeit am IDS in Mannheim erarbeitet wird. Außerdem steht dieser Beitrag in Verbindung mit dem drittmittelgeförderten Forschungsprojekt DICONALE (Ref.: FFI-2012-32658) und dem lexikografischen Forschungsnetzwerk RELEX (Ref.: CN2012/ 209). 2 Präfigierte Verben (z.B. anskypen) und Verben, für die es in den Korpora nicht genügend Belege gab (z.B. whatsappen), wurden in dieser Studie nicht berücksichtigt. 3 Nur bei facebook, k facebooken, facebookear, r skype, skypear, r blogear, r mailear und chat konnten nach der Bereinigung der Samples weniger als 100 gültige Belege zusammengetragen werden. Die ausführlichen quantitativen Daten der Pilotstudie können hier aus Platzgründen nicht eingehend präsentiert werden. Wenn relevant, werden kurze Angaben dazu als Fußnote hinzugefügt. Das lexikosemantische Paradigma der neuen medialen Kommunikationsverben 343 Mitteilung), 4 Z (= das Ziel als unbelebter Empfänger bzw. Adresse/ Ort), LOC (= der Ort als Plattform im Internet) und T (= das Topik). Im Folgenden wird zunächst gezeigt, mit welchen syntaktischen Mustern die Verben in Tabelle 1 am häufigsten 5 auftreten. Anschließend wird diskutiert, was dies über die Bedeutung der jeweiligen Verben aussagt. Englisch Deutsch Spanisch blog chat facebook mail post skype twitt er / tweet bloggen chatt en facebooken mailen posten skypen twitt ern blogear chatear facebookear mailear postear skypear tuitear / twitear Tab. 1: Die untersuchten IMKV im Englischen, Deutschen und Spanischen 2.1 Konstruktionen mit Fokus auf den Argumenten K und A 2.1.1 Variante 1 Die Verben chat, chatten, chatear; mail, mailen, mailear; twitter/ tweet, twittern, tuitear/ twittear und skype, skypen, skypear können beide Argumente (K und A) in einer pluralischen Subjekt-NP realisieren. Wenn diese Verben mit diesem hier als „Reziproke Konstruktion“ bezeichneten Muster vorkommen, wird mit ihnen typischerweise auf Situationen Bezug genommen, in denen die Kommunikation zwischen K und A interaktiv ist. 6 Das heißt, dass beide Partizipanten gleichberechtigt an der kommunikativen Handlung beteiligt sind und ihre Beziehung auf Gegenseitigkeit beruht. Die Gegenseitigkeit der Beziehung zwischen beiden Partizipanten wird immer durch ein Reziprokpronomen ge- 4 M umfasst hier sowohl den Inhalt der Mitteilung (das, was mitgeteilt wird) wie in Kommentare posten / mailen, dass er später kommt, als auch das Format bzw. die Art der Mitteilung, wie in Texte/ Fotos mailen/ posten / / . 5 Das heißt, dass die beschriebenen Muster in ca. der Hälfte der analysierten Belege bei den Verben auftreten. Hier werden nur diejenigen Muster erwähnt, die sich auf der r Grundlage der im Rahmen dieser Pilotstudie untersuchten Belege betrachten ließen. 6 Zum Auftreten dieser Konstruktion mit anderen KV vgl. Levin (1993, S. 58-65). Vanessa González Ribao 344 kennzeichnet und eventuell zusätzlich durch eine Adverbialphrase betont, wie in den Beispielen (1)-(3): 7 (1) Now we’ ve tweeted each other five times by the time the night bus from our first date rumbles home. (2) Am Abend haben wir uns nochmal gegenseitig gemailt. (3) No se conocían personalmente, aunque se habían chateado por internet. [‘Sie kannten sich nicht persönlich, obwohl sie miteinander übers Internet gechattet hatten.’] 8 Darüber hinaus können die Verben skypear und chatear im Spanischen, skypen und chatten im Deutschen und das Verb chat im Englischen das K-Argument als Subjekt-NP und das A-Argument als Oblique-Objekt- PP mit with/ con/ mit realisieren. 9 Damit wird ebenfalls auf die oben beschriebenen Situationen Bezug genommen. Dieser Typ von Reziproker Konstruktion wird hier als „Kooperative Konstruktion“ bezeichnet (vgl. (4)-(5)). (4) Hello folks i’ m new to this site.[...] Anyway, i look forward to chatting with you all in the not too distant future about diabetic things and [...]. (5) Ich hab mit vicky schon bis in die puppen geskypet (aber nur geschrieben). Wenn die Verben chat/ chatten/ chatear mit der Kooperativen Konstruktion auftreten, können sie außerdem das Argument des Topiks durch ein PP-Komplement mit about/ über/ sobre realisieren (vgl. (4)). 7 Alle verwendeten Beispiele sind Originalbelege aus Korpora. Dementsprechend werden sie in der Originalschreibweise wiedergegeben. 8 Die Übersetzungen der spanischen Belege stammen von der Autorin des Beitrages. 9 Andere IMKV, die diese Struktur ebenfalls, aber mit geringerer Frequenz (weniger als 10%) aufweisen, sind tweet im Englischen, tuitear bzw. twittear im Spanischen und twittern, mailen und bloggen im Deutschen. Dieses Muster registriert auch das Neologismenwörterbuch in OWID bei den deutschen Verben twittern und bloggen. Das lexikosemantische Paradigma der neuen medialen Kommunikationsverben 345 2.1.2 Variante 2 Die Verben mailen, chatten, posten und twittern im Deutschen, tweet/ twitter, r mail, post und skype im Englischen sowie twittear/ tuitear, r mailear und chatear im Spanischen können das K-Argument als Subjekt-NP und das A-Argument als Objekt-NP (Deutsch und Englisch, vgl. (8)) bzw. im Spanischen als PP mit a oder als Personalpronomen realisieren (vgl. (9)). Zusätzlich erlauben sowohl das deutsche Verb mailen als auch das englische Verb mail die Konstruktion mit der Form NP+PPto/ an, während das englische Verb chat als einziges Verb ausschließlich mit dem Muster NP+PPto vorkommt (vgl. (6)). Die Verben, die mit diesem, hier als „Kontakt-Konstruktion“ bezeichneten Muster auftreten, werden mit Bezug auf Situationen verwendet, in denen die Kommunikation zwischen K und A nicht wechselseitig, sondern unidirektional verläuft, da es um die Anfangsphase einer kommunikativen Handlung geht, in der K A kontaktiert. K ist somit Initiator bzw. Ausgangspunkt der Handlung und A ein Ansprechpartner in prototypischem Sinne. In diesem syntaktischen Muster können die englischen Verben twitter, r mail und chat außerdem das Topik der Kontaktaufnahme thematisieren. Die Realisierung des T-Arguments erfolgt durch eine PP mit about (vgl. (7)). (6) Whether you love getting online [...] or sitting back and chatting to friends you’ll do it with serious speed. (7) Thanks to the readers who mailed me about it. (8) Ich mailte einem neuen Geschäftspartner. (9) Si puedes por favor, mailear a todos tus amigos, conocidos, para [...]. [‘Kannst Du bitte an all deine Freunde, Bekannten mailen, damit [...].’] 2.2 Konstruktionen mit Fokus auf den Argumenten K und A bzw. Z und M 2.2.1 Variante 1 Im Spanischen realisieren die Verben tuitear/ twittear, r mailear und postear die Argumente K und M als Subjekt-NP bzw. Objekt-NP, während die Rolle von A als PP mit a oder als Personalpronomen (vgl. Vanessa González Ribao 346 Goldberg 2006, S. 198-201) ausgedrückt wird. Die englischen Verben tweet und post kommen nur mit einem NP+NP+PPto-Muster vor (vgl. (10)), während die deutschen Verben twittern, skypen, posten und facebooken ausschließlich die Doppelobjekt-Konstruktion aufweisen. 10 Darüber hinaus erlauben sowohl das englische Verb mail als auch das deutsche Verb mailen eine Alternanz zwischen der Doppelobjekt-Konstruktion und der Präpositionalvariante NP+NP+PPto/ an. Außerdem kann das M-Argument bei allen bereits erwähnten IMKV als Satzobjekt (SO) in der direkten und indirekten Rede realisiert werden (vgl. (11)). Mit all diesen Verben wird auf Situationen Bezug genommen, in denen K A bestimmte Informationen (M) mitteilen will. Die Informationen werden von K zu A transferiert. Für A wird sowohl im Doppelobjekt- Muster als auch im NP+NP+PP-Muster die Bedeutung ‘Rezipient’ der M angesetzt, da A hier eine belebte und dementsprechend besitzfähige Entität (auch in übertragenem Sinne, z.B. Institutionen) ist. Insofern und in Übereinstimmung mit Rappaport Hovav/ Levin (2008, S. 142ff.) wird auch hier für das NP+NP+PP-Muster eine ‘cause-receive-’ bzw. ‘caused possession’-Bedeutung angenommen (zur Bedeutung dieser Muster mit deutschen Verben vgl. Proost 2014 sowie Proost in diesem Band; zur ‘cause-receive construction’ vgl. Goldberg 1995, S. 74-78). (10) I ‘m bookmarking and will be tweeting this to my followers! (11) Da mailte sie mir ich muss mein Privatleben ordnen. 2.2.2 Variante 2 Die in 2.2.1 genannten Verben können auch das K-Argument als NP, das Z-Argument als Direktiv-Objekt-PP und das M-Argument als Objekt-NP bzw. SO realisieren. Die Verben, die mit diesem als ‘caused motion’-Konstruktion bezeichneten Muster (vgl. Goldberg 1995, S. 89- 98) auftreten, dienen der Bezugnahme auf Situationen, in denen es keine belebte und folglich besitzfähige Entität gibt, die M empfangen kann, sondern ein Ziel (Ort/ Adresse), das M erreichen sollte. Da hier der Transferprozess bzw. die von den Informationen zurückgelegte 10 Hier muss aber betont werden, dass für die Doppelobjekt-Konstruktion im Deutschen nur zwischen einem und drei Beleg(en) pro Verb gefunden wurden. Eine Ausnahme ist das Verb mailen. Dieser Befund stimmt mit den Ergebnissen der Studie von Holler (in diesem Band) überein, die ebenfalls eine Tendenz zur Unterrepräsentation dieses Musters bei nicht-nativen Verben festgestellt hat. Das lexikosemantische Paradigma der neuen medialen Kommunikationsverben 347 Strecke im Mittelpunkt steht, kommt eine Auslassung von M bei der Realisierung oft vor, wie in (12): (12) Muss man deswegen extra nach Island mailen... das müsste doch nicht sein. 2.3 Konstruktionen mit einem LOC - Argument 2.3.1 Variante 1 Die IMKV , die im Spanischen, Englischen und Deutschen mit Bezug auf das Medium Twitter, das Format Blog und die Informationseinheit Post verwendet werden, realisieren das K-Argument als Subjekt-NP, während das M-Argument als Objekt-NP oder SO realisiert werden kann. Die Realisierung des LOC-Argumentes erfolgt als PP/ AP. Je nach Sprache sind aquí und dónde im Spanischen, where und here im Englischen sowie wo, da und hier im Deutschen die am häufigsten verwendeten Adverbien und en (sp.), on, in und at (engl.) sowie in, unter, r auf und f bei (dt.) die häufigsten Präpositionen. Diese Verben werden mit Bezug auf Situationen verwendet, in denen K Informationen (M) irgendwo (LOC) öffentlich bekannt geben bzw. zur Verfügung stellen will. Das LOC- Argument liefert präzise Angaben zu dem Medium bzw. dem Kanal, die für die Kommunikation eingesetzt werden. 11 Wenn es beispielsweise um das Posten geht, wird auf das konkrete Forum (Webseite usw.) hingewiesen (vgl. (14)). Wenn die Kommunikation mithilfe eines Weblogs oder über Twitter verläuft, wird ebenso spezifiziert, in welchem Blog oder Twitter-Thread die Kommunikation gerade abläuft (vgl. (13) und (15)). Da die Kommunikationshandlung bei der Realisierung dieser „Lokativen Konstruktion“ im Mittelpunkt steht, während M oft defokussiert wird, kann eine Auslassung von M oft vorkommen. (13) He also blogs extensively (both on the What Goes Around site and on HRZone). (14) Du kannst Dateien in diesem Forum nicht posten. (15) Actualmente tuitea en @pacoperezbes. [‘Zurzeit twittert [er] in @pacoperezbes.’] 11 Bei den IMKV können Angaben zum Medium im Lokativ oder als Instrument bzw. Modus kodiert werden. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Realisierungsmöglichkeiten können hier aus Platzgründen nicht diskutiert werden. Vanessa González Ribao 348 2.3.2 Variante 2 Die in 2.3.1 erwähnten Verben kommen auch mit dem Muster NP+ PP[about/ sobre/ acerca de/ über/ zu]+PP/ AP vor. Mit diesen Verben werden Situationen beschrieben, in denen K Informationen über ein Topik (T) irgendwo (LOC) zur Verfügung stellen will (vgl. (16)): (16) I also blog about bookshelves at Bookshelf and about creative optimism at Thriving Too. 2.4 Konstruktionen mit Fokus auf den Argumenten K und M bzw. T 12 Zusätzlich kann man sagen, dass alle IMKV 13 das K-Argument als Subjekt-NP realisieren können, während das M-Argument als eine Objekt- NP, als ein Hauptsatz in der direkten Rede oder als ein von dem entsprechenden Subjunktor that, dass oder que eingeleiteter Nebensatz in der indirekten Rede (vgl. (17)) kodiert wird, da alle mit Bezug auf Situationen verwendet werden können, in denen K M mitteilt. Außerdem wurde in der Pilotstudie festgestellt, dass die Verben blogear, r tuiterar/ twittear und postear im Spanischen, blog, twitter/ tweet und post im Englischen und bloggen, twittern und posten im Deutschen die Realisierung des A-Arguments als ein zusätzliches und durch eine Präposition (PP: für/ for / / para / ) markiertes Benefaktiv-Argument erlauben (vgl. (18)). (17) Alguien blogeaba que BRD le parecía una instancia magnífica [...]. [‘Jemand bloggte, dass ihm BRD eine ausgezeichnete Instanz zu sein schiene [...].’] (18) Así que tuiteé (para mí sola, claro): „El año que viene más y mejor“. [‘So twitterte ich (für mich selbst, natürlich): „Im nächsten Jahr mehr und besser“.’] 12 Da diese „Transitive Mitteilungskonstruktion“ grundlegend und konstitutiv für die unterschiedlichsten KV ist, wird sie bei der semantischen Einteilung der IMKV nicht berücksichtigt. 13 Das kommt aber bei den Verben chat, chatear, r chatten; skype, skypear und skypen nur selten vor, da diese Verben prinzipiell intransitiv sind. Das lexikosemantische Paradigma der neuen medialen Kommunikationsverben 349 Darüber hinaus können die spanischen Verben blogear, r tuitear/ twittear, r postear und chatear, die englischen Verben r blog, twitter/ tweet, post und chat sowie die deutschen Verben bloggen, twittern, posten, chatten und mailen mit dem Muster NP+PP[on/ in/ about im Englischen, sobre/ a cerca de im Spanischen und zu/ rund um/ über im Deutschen] vorkommen. Diese Verben werden zur Bezugnahme auf Situationen verwendet, in denen K über etwas (T) berichtet. 3. Semantische Einteilung der IMKV Auf der Grundlage des Bezugs der oben präsentierten Muster auf bestimmte Typen von Situationen können die in Tabelle 1 aufgeführten IMKV grob in drei große semantische Subgruppen eingeteilt werden: (i) Verben, die mit Bezug auf Situationen verwendet werden, in denen K und A über die Medien Chat, Skype, Mail und Twitter interagieren, kommen mit einer Reziproken bzw. Kooperativen Konstruktion vor. Außerdem haben sie Bezug auf Kontaktaufnahme-Situationen, wenn sie mit einem der Muster NP+NP bzw. NP+PPan/ to/ a auftreten. In beiden Mustern weisen diese Verben die Bedeutung ‘kontaktieren’ auf (vgl. 2.1). Diese Verben verhalten sich ähnlich wie die sog. Talk- und Chitchat-Verben (vgl. De Clerck et al. 2011, S. 63-66; Levin 1993, S. 207ff.). Ebenfalls verhalten sie sich bezüglich der Reziproken bzw. Kooperativen Konstruktion ähnlich wie die im ‘Handbuch Deutscher Kommunikationsverben’ ( HBDKV ) als medial-schriftliche Kommunikationsverben des Typs ‘korrespondieren’ klassifizierten Verben (vgl. Harras et al. 2004, S. 471f.). Die Konstruktionen selbst werden aber in früheren Darstellungen der MKV teilweise nicht erwähnt. Die Reziproke bzw. Kooperative Konstruktion wurde von Levin (1993, S. 206f.) in ihrer Beschreibung der MKV im Englischen nicht betrachtet, während das Muster NP+PPto als ungrammatisch gekennzeichnet wurde. Obwohl die Verben mailen und chatten im HBDKV aufgeführt sind, wurde dort weder die Kontakt-Konstruktion bei chatten noch die Reziproke Konstruktion bei mailen dokumentiert (vgl. Harras et al. 2004, S. 488ff.). Hingegen wurde die Kooperative Konstruktion bei den Verben chatten, skypen und twittern im Neologismenwörterbuch in OWID registriert. Vanessa González Ribao 350 (ii) Verben, die mit Bezug auf Situationen verwendet werden, in denen Informationen zu einer belebten Entität oder zu einem Ort über die Medien Mail, Twitter oder mit dem Format Post transferiert werden (vgl. 2.2), treten bei der Realisierung der Argumente K, M, A bzw. Z mit einem der Muster NP+NP/ SO+NP oder NP+NP/ SO+PPan/ to/ a bzw. NP+NP/ SO+PP/ AP auf und haben die Bedeutung ‘transferieren’. Diese Verben verhalten sich ähnlich wie die sog. ‘Transfer of Message’-Verben und die klassischen MKV (vgl. De Clerck et al. 2011, S. 62-72 sowie Levin 1993, S. 202f. und 206f.; zu letzteren vgl. Harras et al. 2004, S. 488-492). (iii) Verben, die mit Bezug auf Situationen verwendet werden, in denen K über Twitter, Blog oder mit einem Post irgendwo (LOC) Informationen (M/ T) veröffentlicht (vgl. 2.4), realisieren ein LOC- Argument bzw. das NP+(NP/ SO)+PP/ AP-Muster. Diese Verben zeigen im Hinblick auf ihre Argumentstruktur Ähnlichkeiten mit den Verben des Veröffentlichens, vgl. Beispiel (19) aus dem Birmingham Blog Corpus für das Englische, Beispiel (20) aus E - VAL- BU für das Deutsche und Beispiel (21) aus ADESSE für das Spanische: (19) The bare minimum to self-publish your book on Kindle and other ebook platforms is a manuscript in Microsoft Word. (20) In welcher Zeitschrift wollen Sie Ihren Artikel veröffentlichen? (21) Al comenzar el año de 1980 publiqué en varios diarios de América y de España una serie de comentarios políticos. [‘Anfang 1980 veröffentlichte ich eine Reihe politischer Kommentare in verschiedenen amerikanischen und spanischen Zeitungen.’] Die Bedeutungsparaphrase von posten im HBDKV (‘eine Nachricht im Internet veröffentlichen’) lässt ebenfalls einen Bezug zur Bedeutung ‘veröffentlichen’ erkennen. Die für dieses Verb aufgeführten Beispiele zeigen zudem, dass es häufig mit einem LOC- Argument auftritt (vgl. Harras et al. 2004, S. 491f.). Auch im Neologismenwörterbuch in OWID wurde dieses Muster bei der Beschreibung der syntaktischen Umgebung von posten erwähnt. Darüber hinaus zeigen IMKV mit der Bedeutung ‘veröffentlichen’ bezüglich ihrer Argumentstruktur Ähnlichkeiten mit den MKV des Typs ‘annoncieren’ (vgl. ebd., S. 480f.). Das lexikosemantische Paradigma der neuen medialen Kommunikationsverben 351 Mit den englischen Verben als Stellvertreter stellt Abbildung 1 die Übereinstimmungen zwischen der Bedeutung der Verben der drei erwähnten Klassen und ihren syntaktischen Mustern im Überblick dar. Wie die Abbildung zeigt, gehören die meisten IMKV gleichzeitig zu mehreren Subgruppen, da sie mit Bezug auf unterschiedliche Typen von Situationen verwendet werden können. Die multiple Verwendungsmöglichkeit scheint eine intrinsische Eigenschaft der neuen MKV zu sein, die damit zusammenhängen mag, dass in den entsprechenden Situationen äußerst komplexe Medien eine Rolle spielen. Daher ist das bislang für die Beschreibung der MKV verwendete Inventar für eine vollständige Beschreibung der aktuellen MKV nicht mehr ausreichend. Deshalb und im Einklang mit De Clerck et al. (2011, S. 82) wird hier auf die Notwendigkeit einer neuen Typologie der MKV hingewiesen. Abb. 1: Einordnung der IMKV nach Bedeutung und syntaktischen Mustern 14 Literatur ADESSE : Base de datos de Verbos, Alternancias de Diátesis y Esquemas Sintáctico-Semánticos del Español. http: / / adesse.uvigo.es/ (Stand: Juli 2014). Barðdal, Jóhanna (2008): Productivity: evidence from case and argument structure in Icelandic. 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[NP Nom (NP Akk / SO) PP/ AP] veröffentlichen ’ [K, (M), LOC] kontaktieren ’ [K, A] transferieren ’ [K, M, A/ Z] Vanessa González Ribao 352 E-VALBU : Das elektronische Valenzwörterbuch deutscher Verben. http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ evalbu/ (Stand: Juli 2014). Goldberg, Adele E. (1995): Constructions. A construction grammar approach to argument structure. Chicago/ London. Goldberg, Adele E. (2006): Constructions at work. The nature of generalization in language. Oxford. Harras, Gisela/ Winkler, Edeltraud/ Erb, Sabine/ Proost, Kristel (2004): Handbuch deutscher Kommunikationsverben. Teil 1: Wörterbuch. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 10.1). Berlin/ New York. Levin, Beth (1993): English verb classes and alternations: a preliminary investigation. Chicago. OWID -Neologismenwörterbuch. www.owid.de/ wb/ neo/ start.html (Stand: Juli 2014). Proost, Kristel (2007): Lexikalische Strukturen der medialen und modalen Kommunikationsverben. 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Es soll gezeigt werden, dass die herkömmlichen zweisprachigen Wörterbücher im deutsch-spanischen Kontext nicht genügend Informationen für die Produktionssituation in der jeweiligen Fremdsprache anbieten, da u.a. dort zu wenig Informationen zu der Bedeutungs- und Lesartdisambiguierung angeboten werden (Meliss 2014). Darüber hinaus sollen Vorschläge gemacht werden, die dazu beitragen können, die aufgeführten Probleme zu überwinden. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die folgenden Fragen: (i) Wie wird zwischen den verschiedenen Lesarten der Zielsprache disambiguiert? (ii) Wie kann der Benutzer wissen, welches Lemma in der L2 3 sich am besten für den jeweiligen konkreten Zweck eignet? 1 Diese Arbeit ist im Rahmen der folgenden, durch Drittmittel geförderten Forschungsprojekte der USC DICONALE : DICONALE -estudios (Xunta de Galicia, Consellería de Economía e Industria. Dirección Xeral de I+D: Programa de promoción xeral de investigación básica.10PXIB 204 188 PR), DICONALE -online ( MINECO-FE- DER : FFI012-32658) entstanden und in Verbindung mit dem lexikografischen Netzwerk RELEX -Rede de Lexicografía RELEX (Xunta de Galicia: CN2012/ 290) entwickelt worden. 2 Ich beziehe mich auf die Benutzungssimulationen von Meliss (2011, S. 268ff.) und hauptsächlich auf die freien Produktionssituationen, in denen die Zielsprache die jeweilige Fremdsprache ist. 3 Es werden im Text folgende Abkürzungen verwendet: L1 (Muttersprache), L2 (Fremdsprache), Dt (Deutsch), Sp (Spanisch), DaF (Deutsch als Fremdsprache) und ELE (Spanisch als Fremdsprache). Manuel Fernández Méndez 354 (iii) Werden in den Wörterbüchern genügend Informationen zur Kombinatorik angeboten? (iv) Stimmt die Information aus den zweisprachigen Wörterbüchern mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch, so wie er aus der Korpusanalyse und den entsprechend kodierten Belegbeispielen hervorgeht, überein? (v) Kann die Information aus den konsultierten Wörterbüchern zu Fehlern in der fremdsprachigen Produktion führen? Die erwähnten Fragestellungen werden im Folgenden aus der Perspektive des fremdsprachlichen Produktionsprozesses im deutsch- und spanischsprachigen Kontext betrachtet. Daraus ergeben sich die folgenden zwei möglichen Benutzungssituationen (BS) für die Wörterbuchrecherche: (i) BS1: Ein deutschsprachiger Lerner des Spanischen sucht ein Verballexem für das Konzept entfÜhren auf Spanisch als L2 (Dt  Sp) und (ii) BS2: Ein hispanophoner Lerner des Deutschen braucht Ausdrucksmöglichkeiten für das besagte Konzept im Deutschen als L2 (Sp  Dt). Der Untersuchungsgegenstand dieser exemplarisch angelegten Analyse ist das Konzept entfÜhren und dessen unterschiedliche Lexikalisierungsmöglichkeiten in beiden Sprachen, die ein lexikalisch-semantisches Paradigma bilden (vgl. Abb. 1). Unter dem Konzept entfÜhren wird Folgendes verstanden: „Jemand führt eine Person, ein Tier oder ein Beförderungsmittel, die/ das sich an einem bestimmten Ort befindet, gegen dessen/ deren Willen und häufig unter Anwendung von Gewalt an einen anderen Ort und gibt sie/ ihn/ es nur zu bestimmten Konditionen frei.“ An dieser Szene sind daher folgende Rollen beteiligt: der Entführer (R1), die entführte Person / das entführte Tier (R2/ 1) oder der entführte Gegenstand (R2/ 2), das Ziel (R3), die Herkunft (R4) und der Ort (R5). Die Bedeutungskomponenten und das szenische Wissen bilden den Referenzrahmen für den inter- und intralingualen Vergleich. Argumentstrukturmuster und valenzgrammatisch orientierte Information im Kontrast 355 entfÜhren Deutsch Spanisch entführen, hijacken secuestrar, r raptar kapern, kidnappen verschleppen Abb. 1: Offene Liste von möglichen Lexikalisierungen des Konzeptes ENTFÜHREN in beiden Sprachen Im Mittelpunkt der Arbeit steht eine Analyse der Argumente der Lexeme des besagten lexikalisch-semantischen Paradigmas und deren morphosynktaktischen Realisierungsmöglichkeiten und semantischen Distributionsbeschränkungen im deutsch-spanischen Vergleich. Bei der Analyse soll aufgezeigt werden, dass es Divergenzen in beiden Sprachen gibt, auf die die zweisprachigen Wörterbücher im Allgemeinen nicht hinweisen, deren Kenntnis aber in Situationen der fremdsprachigen Produktion notwendig ist. 2. Ausgangssituation Lehrende im Bereich DaF und ELE machen immer wieder die Beobachtung, dass L2-Lernende in fremdsprachigen Produktionssituationen große Schwierigkeiten mit der Benutzung zweisprachiger Wörterbücher haben. Die unten aufgeführte Fehleranalyse 4 zeigt, dass es sowohl für die deutschsprachigen als auch für die spanischsprachigen Lerner der jeweiligen anderen Fremdsprache kompliziert ist, erstens das passende richtige Wort mit Hilfe des Taschen-, Hand- oder Onlinewörterbuches für die entsprechenden Ausdrucksbedürfnisse zu finden und zweitens das ausgewählte Lexem korrekt in einem Text zu benutzen. Obwohl es sich bei entfÜhren um ein theoretisch problemlos zu verbalisierendes Konzept handelt, für das ein passendes Verb in beiden Sprachen einfach zu finden und zu benutzen scheint, ergeben sich oft Fehler bei der Textproduktion in beide Richtungen, wie die folgenden 4 Den Studierenden wurde folgende Produktionsaufgabe gestellt: Es sollte mit Hilfe von zweisprachigen Wörterbüchern ein Paralleltext zu einer Nachricht geschrieben werden, in dem die Lexeme des entfÜhren -Paradigmas in der passenden BS angewendet werden mussten. Manuel Fernández Méndez 356 Beispiele (1) und (2) aus der beschriebenen realen Produktionssituation zeigen: (1) *Und dann beschlagnahmte der Mann einen Bus und fuhr schnell nach Kanada. (2) *Ella es secuestrada a su país. [ ‘Sie wird in ihre Heimat entführt.’] 5 Folgende Divergenzen zwischen beiden Sprachen haben zu den hier aufgetretenen Fehlern geführt: In (1) liegt eine inadäquate Wortauswahl vor, während in (2) ein Ziel-Argument realisiert wird, welches von dem Verb secuestrar blockiert wird. Die in den konsultierten zweisprachigen Wörterbüchern angebotenen Informationen zu den Einträgen beschlagnahmen bzw. secuestrar scheinen in diesen Fällen nicht immer eindeutig zu sein. Beispiele wie (1) zeigen, dass die lexikografische Konsultation fehlgeschlagen ist, da u.a. in Wörterbüchern wie Langenscheidt (2010) und Slaby/ Grossmann/ Illig (1994) der Richtung Sp  Dt nicht genügend zwischen den deutschen Entsprechungsmöglichkeiten von secuestrar disambiguiert wird. 6 Außerdem verweist keins der erwähnten Nachschlagewerke auf bedeutungsähnliche Wörter wie z.B. kidnappen, hijacken oder kapern, was das Entsprechungsangebot sehr reduziert. Im Gegensatz zu den Print-Wörterbüchern bieten allerdings Online-Wörterbücher durch externe Links Informationen zu bedeutungsähnlichen Lexemen an. 7 Beispiele wie (2) zeigen, dass die Information der konsultierten zweisprachigen Wörterbücher der Richtung Dt  Sp ebenfalls für Produktionszwecke in ELE nur unzulänglich ist. 8 Der deutschsprachige Muttersprachler, der für das Konzept entfÜhren eine Ausdrucksmöglichkeit im Spanischen sucht, findet in den konsultierten Wörterbüchern für die möglichen Entsprechungen kaum synktaktische Distributionsbeschränkungen. Daraus schließt der L2-Benutzer, dass sich die spanischen Entsprechungsmöglichkeiten syntaktisch ähnlich wie das Verb der Ausgangssprache 5 Die Übersetzung der spanischen Beispiele stammt vom Autor des Beitrages. 6 Eine Ausnahme bildet das Wörterbuch von Klett (2002), das dem Benutzer bei der deutschen Entsprechungsauswahl mehr Hilfestellungen anbietet. 7 Nur wenn man auf den relativ versteckten Link zu dem Online-Pons-DaF-Wörterbuch klickt, kann man ein Synonym (kidnappen) und weitere Informationen zur Kombinatorik finden. 8 Ausnahmen bilden hier nur Slaby/ Grossmann/ Illig (1994) und Leo-Online, die die Entsprechungen durch Informationen zu möglichen Kollokationen bzw. üblichen Modifikatoren disambiguieren. Argumentstrukturmuster und valenzgrammatisch orientierte Information im Kontrast 357 Deutsch verhalten. Aus diesem Grunde wird die Argumentstruktur des deutschen Verbs entführen fälschlicherweise auf das spanische Verb secuestrar, in dessen Argumentstruktur das Argument mit der r Rolle R3 blockiert ist, projiziert (vgl. Abb. 2 und Tab. 1). Das Verb secuestrar erlaubt nicht die gleiche Kombinatorik wie entführen. Dazu bieten die konsultierten Wörterbücher keine weiterführende explizit oder auch implizit zu erwartende Information an (vgl. Model 2010; Meliss 2013). Die Frage ist also, welche Informationen Wörterbücher anbieten sollten, damit der Benutzer korrekt und kontextadäquat produzieren kann (Engelberg 2010; Engelberg/ Müller-Spitzer 2013). Zusammenfassend lässt sich folgern, dass die Konsultation eines bilingualen Wörterbuches durch die fehlenden syntagmatischen Informationen für die Zielsprache nicht immer zu einer adäquaten Anwendung in der fremdsprachlichen Produktionssituation führt (Engelberg/ Lemnitzer 2009; Schlaefer 2002). Im Fremdsprachenunterricht werden aber zweisprachige Wörterbücher in Print- und Online-Version als Hilfe für das Schreiben im Unterricht angeboten und als unentbehrliches Werkzeug für die Hausarbeiten empfohlen. Daher ist zu überlegen, welche zusätzlichen Informationen in zweisprachigen lexikografischen Nachschlagewerken für den fremdsprachigen Produktionsprozess angeboten werden sollten. 3. Korpusanalyse und kontrastive Gebrauchsinformation Als Annäherung an die oben erwähnten Überlegungen zu möglichen lexikografischen Verbesserungsvorschlägen soll eine exemplarisch angelegte, korpusbasierte Analyse zu spezifischen Parametern dienen, die Aufschluss über den konkreten Gebrauch der Verben, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, anbietet. Als Analyseparameter werden neben der Bedeutung die morphosyntaktischen, funktionalen und semantischen Informationen zur Kombinatorik (Argumentstruktur, syntaktische Funktion und Möglichkeiten der morphosyntaktischen Realisierung der Argumente, lexikalische Füllung der Aktanten etc.) in Betracht gezogen. Manuel Fernández Méndez 358 Aus 300 Zufallsbelegen 9 wurde ein kleines Arbeitskorpus von 100 Belegen für jedes der ausgewählten Verballexeme zum Ausdruck des Konzepts entfÜhren in beiden Sprachen gebildet. 3.1 Lexikalisierungsmöglichkeiten Das Deutsche verfügt über eine höhere Anzahl von Verballexemen zum Ausdruck des hier relevanten Konzeptes entfÜhren , die sich durch viele semantische und syntaktische Kriterien voneinander unterscheiden lassen (siehe Abb. 1). Prototypische Beispiele zu jedem der hier ausgewählten Verballexeme sind folgende (3-9): (3) Die Frau ist am Montag aus ihrer Wohnung in Duggingen BL entführt worden. (St. Galler Tagblatt, 26.8.1998) (4) Hernach hat die Öffentlichkeit u. a. erfahren, daß er noch nie ein Auto gehijackt hat. (Salzburger Nachrichten, 6.3.1996) (5) Piraten haben vor der somalischen Küste eine französische Luxus-Yacht gekapert und [...]. (St. Galler Tagblatt, 5.4.2008) (6) Kurzerhand kidnappt er die Tochter des Multimillionärs. (St. Galler Tagblatt, 11.4.1998) (7) Thomas F. (30) verschleppte im August seine Angebetete mit vorgehaltener Waffe in seine Wohnung, die [...]. (Hamburger Morgenpost, 29.2.2012) (8) Abre una guardería donde secuestraron a James. (La Vanguardia, 3.4.1995). [‘Ein Kindergarten wird da geöffnet, wo James entführt wurde.’] (9) Condena a un colegio por permitir que un separado raptara a su hijo. (El Norte de Castilla, 6.5.1999). [‘Eine Schule wurde verurteilt, weil sie zuließ, dass dort ein geschiedener Mann seinen Sohn entführen konnte.’] Die Suchanfrage nach den verschiedenen Lexikalisierungsmöglichkeiten ergab klare Unterschiede in der Anzahl der Ergebnisse. Eine Frequenzanalyse einiger Lexikalisierungsmöglichkeiten des Konzepts 9 Es wurden Belege aus den Referenzkorpora des Spanischen CREA (http: / / corpus. rae.es/ creanet.html, Stand 20.5.2014) und des Deutschen DeReKo (www. ids-mannheim.de/ DeReKo, Stand: 9.5.2014) herangezogen und analysiert. Argumentstrukturmuster und valenzgrammatisch orientierte Information im Kontrast 359 entfÜhren zeigte, dass die Lexeme entführen für das Deutsche und secuestrar für das Spanische eine deutlich höhere Vorkommensfrequenz aufweisen als andere Lexeme im Umfeld von entfÜhren . Obwohl entführen viel häufiger mit metaphorischer Bedeutung vorkommt (Beispiel 10), gibt keins der konsultierten Wörterbücher darüber Auskunft. Für die durchgeführte Analyse wurden allerdings die Belegbeispiele mit metaphorischer Bedeutung von entführen nicht berücksichtigt, da sie nicht zu der hier relevanten Lesart gehören. (10) Das Freilandmuseum Bad Windsheim entführt heuer ins Mittelalter und in die 60er Jahre. (Nürnberger Nachrichten, 11.3.2011) Die metaphorische Bedeutung erscheint öfter mit Aktivkonstruktionen im Präsens und Präteritum und in Kookkurrenzen mit „Publikum/ Zuschauer/ Zuhörer“. Passivkonstruktionen gehören hingegen eher zu der im Rahmen dieser Studie relevanten Lesart. 10 Im Rahmen dieser Studie beschränke ich mich nur auf die exemplarisch angelegte, vergleichende Analyse der beiden frequentesten Verballexeme entführen und secuestrar, um die kontrastiv relevanten Dir vergenzen hervorzuheben und die Ergebnisse den entsprechenden Wörterbuchinformationen gegenüberzustellen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Informationen zu den Argumentstrukturmustern und dem damit verbundenen Kombinationspotenzial (vgl. Abb. 2 und Tab. 1). 3.2 Divergenzen zwischen den ausgewählten Verben in beiden Sprachen Die durchgeführte korpusbasierte Analyse ergab, dass sich die beiden genannten Lexeme (entführen und secuestrar) vor allem in den folgenden Aspekten unterscheiden (vgl. Tab. 1): (i) In ihrer Bedeutung: Das erste auffällige Problem ist das Konzept entfÜhren selbst. Im Deutschen wird es überwiegend als eine Bewegung verstanden, im Spanischen wird hingegen vor allem das Konzept einbehalten , halten lexikalisiert. 11 10 Die „lassen-Konstruktionen“ haben stets eine metaphorische Bedeutung (100%) und werden hier nicht analysiert. 11 Das Verb enthält im Deutschen die Bedeutung ‘führen, bewegen’, weil es aus dem Stamm „führ-“ (ahd. fuoren ‘tragen, fahren’) abgeleitet wird. Manuel Fernández Méndez 360 (ii) In ihren lexikalischen Solidaritäten (im Sinne von Coseriu 1967): Das Verb entführen wird im Deutschen oft durch die Anglizismen kidnappen (bes. für Kinderraub) oder hijacken (bes. für Flugzeuge) ersetzt. Für Schiffe wird neben entführen das Wort kapern benutzt. Die Wörterbücher bieten dazu aber wenig spezifische Informationen, und nur selten und unsystematisch führen sie Kollokatoren an, obwohl diese Informationen für die Produktionssituation unentbehrlich sind. (iii) In ihrer Argumentstruktur: Die Verballexeme weisen in beiden Sprachen unterschiedliche Argumenstrukturmuster und damit eine divergierende Kombinatorik auf (vgl. Abb. 2 und Tab. 1). entführen: Aktiv: jemand/ etwas [A1] entführt jemanden/ etwas [A2] irgendwohin/ irgendwoher [A3] irgendwo [A4] Passiv: jemand/ etwas [A2] wird von jemandem [A1] irgendwohin/ irgendwoher [A3] irgendwo [A4] entführt secuestrar: Aktiv: jemand/ etwas [A1] entführt jemanden/ etwas [A2] irgendwo [A4] Passiv: jemand/ etwas [A2] wird von jemandem [A1] irgendwoher [A3] irgendwo [A4] entführt Abb. 2: Argumentstrukturen von entführen und secuestrar im Vergleich r Das Argument mit der Rolle R3 der deutschen Verben ist das Argument ‘Richtung’. Bei den spanischen Verben können nur das Argument ‘Ort’, d.h. R5 (vgl. Beispiel 8), und das Argument ‘Herkunft’, d.h. R4 (vgl. Beispiel 11), realisiert werden; die Realisierung des Ziel-Arguments (R3) ist bei den spanischen Verben blockiert: (11) El banquero, [...], había sido secuestrado de su apartamento en el elegante barrio londinense [...]. (La Vanguardia, 21.4.1994) [‘Der Bankier [...] war aus seinem Apartment in dem eleganten Londoner Stadtviertel entführt worden.’] (12) Ein Mann entführte die eigenen Kinder in seine Heimat nach Bosnien und [...]. (St. Galler Tagblatt, 29.8.1997) (13) Agenten des Dienstes entführten 1960 den Chef des „Reichssicherheitshauptamtes“ [...], Adolf Eichmann, aus Argentinien. (St. Galler Tagblatt, 27.2.1998) Argumentstrukturmuster und valenzgrammatisch orientierte Information im Kontrast 361 (14) Vor den Augen der Mutter ist ein achtjähriges Mädchen in Lyon entführt und später vergewaltigt worden. (St. Galler Tagblatt, 9.7.1997) Argumente und weitere adverbiale Mitspieler Beispiel-Nr. Syntakt. Funktion + Realisierungsmöglichkeiten Semant. Füllung der Aktanten in Prozent Belege, die dieses Argument realisieren Passivbelege mit diesem Argument A1: der Entführer entführen (7) Subjekt: Präp.phrase Agens: Mensch 95% 92% 52% secuestrar (11) Subjekt: Präp.phrase Agens: Mensch 99% 70% 6% A2: das entführte Lebewesen, der entführte Gegenstand entführen (5) Akk belebt Mensch 97% 100% 60% secuestrar (12) Akk belebt Mensch 99% 100% 70% A3/ 1: Direktiv Ziel entführen (13) Eadv: dir Ziel Stadt/ Land 90% 21% 17% secuestrar - - - 0% 0% A3/ 2: Direktiv Herkunft entführen (14) Eadv: dir Herkunft Land/ Ortschaft 15% 20% 20% secuestrar (12) Eadv: dir Herkunft Wohnung 1% 1% 1% A4: Ort entführen (15) Eadv: sit Stadt/ Land 63% 42% 36% secuestrar (10) Eadv: sit Stadt/ Land 12% 15% 2% Tab. 1: Frequenz der Argumente von entführen/ secuestrar und ihrer lexikalischen Füllungen r Welches Informationsangebot sollte man also für die BS1 geben? Die Wörterbücher sollten klarmachen, dass das Richtungsargument der deutschen Verben im Spanischen nicht als Argument des Verbs realisiert werden kann und alternative Ausdrucksmöglichkeiten wie etwa secuestrar y llevar a [‘entführen und an einen Platz bringen’] anbieten. (iv) In der Realisierungsfrequenz der einzelnen Aktanten. (v) In dem semantischen Füllpotenzial: Divergenzen bezüglich der semantischen Distributionsbeschränkungen sind ebenfalls zu erwar- Manuel Fernández Méndez 362 ten, konnten aber in dieser Studie nur ansatzweise bei der semantischen Füllung von A3/ 2 Direktiv/ Herkunft festgestellt werden. Umfangreichere korpusgestützte Untersuchungen lassen aussagekräftigere Daten erhoffen. 4. Schlussfolgerung und Ausblick Trotz eines gemeinsamen konzeptuellen und szenischen Bezugsrahmens, welcher uns im Sprachvergleich als tertium comparationis dient, konnte aufgezeigt werden, dass Divergenzen in beiden Sprachen auftreten, die besonders das Kombinationspotenzial betreffen. In fremdsprachigen Produktionssituationen stehen dem Lerner Lexeme zur Verfügung, die identische Szenen darstellen, die aber häufig mit unterschiedlichen Argumenstrukturmustern auftreten. Auch die Häufigkeitswerte der einzelnen Argumente divergieren im konkreten Gebrauch zum Teil stark. Die deutschen Verben, die z.B. das Konzept entfÜhren lexikalisieren, werden öfter mit Bezug auf lokale und direktive Informationen verwendet, die mit den Argumenten A3, A4 und A5 thematisiert werden (Ort, Herkunft und Ziel), während die spanischen Verben hauptsächlich die lokalen Informationen und nur ausnahmsweise die Informationen zur Herkunft (1%) mit den entsprechenden Argumenten thematisieren. Die aufgeführten Divergenzen und weitere kontrastiv relevante Informationen, u.a. zu dem unterschiedlichen Passivgebrauch in beiden Sprachen, sind für die Produktionssituation im fremdsprachlichen Kontext unentbehrlich. Daher wäre es wünschenswert, wenn sie expliziter in den entsprechenden ein- und zweisprachigen Lernerwörterbüchern aufgenommen würden, um Fehler, wie sie in den Beispielen (1) und (2) aufgezeigt wurden, zu vermeiden. Argumentstrukturmuster und valenzgrammatisch orientierte Information im Kontrast 363 Literatur Coseriu, Eugenio (1967): Lexikalische Solidaritäten. In: Poetica 1, S. 293-303. DeReKo = Institut für Deutsche Sprache (2014): Deutsches Referenzkorpus / Archiv der Korpora geschriebener Gegenwartssprache 2014-I (Release vom 15.4.2014). Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. www.idsmannheim.de/ DeReKo. Engelberg, Stefan (2010): Die lexikographische Behandlung von Argumentstrukturvarianten in Valenz- und Lernerwörterbüchern. In: Schierholz, Stefan J./ Fischer, Klaus/ Fobbe, Elika (Hg.): Valenz und Deutsch als Fremdsprache. (= Deutsche Sprachwissenschaft international 6). Frankfurt a.M. u.a., S. 113-141. Engelberg, Stefan/ Müller-Spitzer, Carolin (2013): Dictionary Portals. 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Überlegungen zu lexikographischen Benutzersituationen im zweisprachigen Kontext: Spanisch-Deutsch. In: Domínguez Vázquez, María José/ González Miranda, Emilio/ Meliss, Meike/ Millet, Victor (Hg.): La palabra en el texto. Festschrift für Carlos Buján. Santiago de Compostela, S. 267-300. Meliss, Meike (2013): Das zweisprachige Wörterbuch im bilateralen deutsch-spanischen Kontext. Alte und neue Wege. In: Domínguez Vázquez, María José (Hg.): Trends in der deutsch-spanischen Lexikographie. (= Spanische Akzente. Studien zur Linguistik des Deutschen 1). Frankfurt a.M. u.a., S. 61-87. Meliss, Meike (2014): Vorüberlegungen zu einem zweisprachigen Produktionslernerwörterbuch für das Sprachenpaar Daf und ELE. In: Reimann, Daniel (Hg.): Kontrastive Linguistik und Fremdsprachendidaktik Iberoromanisch-Deutsch. Studien zu Morphosyntax, Mediensprache, Lexikographie und Mehrsprachigkeitsdidaktik. (= Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 2). Tübingen, S. 113-137. Manuel Fernández Méndez 364 Model, Benedikt A. (2010): Syntagmatik im zweisprachigen Wörterbuch. (= Lexicographica. Series maior 137). Berlin/ New York. PONS.eu. Sprachenportal: www.pons.de/ (Stand: Juli 2014). Schlaefer, Michael (2002): Lexikologie und Lexikographie. (= Grundlagen der Germanistik 40). Berlin. Slaby, Rudolf/ Grossmann, Rudolf/ Illig, Carlos (1994): Wörterbuch der spanischen und deutschen Sprache. Barcelona. MARÍA EGIDO VICENTE DAS KONZEPTUELLE FELD DER ‘AUTORITÄTSBEZIEHUNGEN’ AUS KONTRASTIVER SICHT EINE KORPUSBASIERTE STUDIE DES DEUTSCHEN UND SPANISCHEN 1. Ziel Im folgenden Beitrag wird ein Ausschnitt aus dem im Rahmen des DICONALE -Projekts 1 erarbeiteten konzeptuellen Feld der autoritätsbeziehungen 2 präsentiert. Auf der Grundlage korpusgestützter Daten 3 werden die Argumentstruktur und das Valenz- und Konstruktionspotenzial des Verbs befehlen als repräsentativem Verballexem des Subfeldes: autoritätsausÜbung [AUFFORDERUNG] beschrieben und mit möglichen Entsprechungen aus dem entsprechenden konzeptuellen Feld für das Spanische kontrastiert. 4 1 Durch Drittmittel gefördertes Forschungsprojekt „Estudios para la elaboración de un diccionario conceptual de lexemas verbales del alemán y español“ (Xunta de Galicia: INCITE: 10PXIB 204 18 PR ) und Folgeprojekt „Elaboración de un diccionario conceptual español-alemán con acceso online“ ( MINECO FFI2012-32658: FEDER ). Es handelt sich um die Erstellung eines onomasiologisch-konzeptuell orientierten, zweisprachig-bilateralen Wörterbuches für die deutsche und spanische Sprache mit Onlinezugang, in dessen Mittelpunkt Verballexeme stehen (siehe Meliss 2014). Zur onomasiologischen Perspektive in der Lexikologie siehe Schmidt-Wiegand (2002). Zu allgemeinen Aspekten der Wörterbuchbenutzung siehe Engelberg/ Lemnitzer (2009). 2 Konzepte werden im Folgenden in versalien stehen. 3 Die Korpusrecherche erfolgte in DeReKo (Deutsches Referenzkorpus: www.idsmannheim.de/ DeReKo) über COSMAS II (Corpus Search, Management and Analysis System: www.ids-mannheim.de/ cosmas2/ , Stand: Oktober 2012) und in CREA (Corpus de referencia del español actual: http: / / corpus.rae.es/ creanet.html, Stand: Oktober 2012). 4 Im Einklang mit dem onomasiologischen Zugriffsweg des DICONALE -Wörterbuchs handelt es sich hier nicht um Übersetzungsentsprechungen, sondern um ein Angebot an verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten, aus denen je nach kommunikativer Situation ausgewählt werden kann. María Egido Vicente 366 2. Das Konzept AUTORITÄTSBEZIEHUNGEN : Abgrenzung des Feldes Als erste Annäherung an das konzeptuelle Feld der autoritätsbeziehungen kann die etymologische Entwicklung und Bedeutung des Wortes „Autorität“ dienen. „Autorität“ ist abgeleitet vom lateinischen Substantiv auctoritas, wörtlich ‘Ansehen’, ‘Würde’, ‘Macht’ oder ‘Rat’ u.a., das über das abgeleitete Substantiv auctor auf das Verb augere zurückgeht. Die Grundbedeutung des deutschen Wortes unterscheidet sich kaum von der des ursprünglichen lateinischen Wortes. Einerseits bezieht es sich auf „das große Ansehen od. die Macht, die j-d od. e-e Institution (mst. wegen besonderer Fähigkeiten od. aus Tradition) hat“ (LGWBDaF 2008, S. 148) und andererseits auf die „Persönlichkeit mit maßgeblichem Einfluss u. hohem [fachlichem] Ansehen“ (DUW 2006, S. 235). In unserem Feld beschäftigen wir uns prinzipiell mit der Autorität im Hinblick auf das haben, aber nicht im Sinne von Fromm (1976) als irrationaler Autorität, sondern unter einer partnerorientierten Perspektive (siehe Hindelang 2010 und Engel 2009, S. 35ff.), die beinhaltet, dass eine Person oder Institution das Ansehen (bzw. die Autorität) hat, was andere dazu bringt, sich in ihrem Handeln oder Denken nach deren Wünschen und Vorstellungen zu richten. Die Autorität entfaltet sich zwischen einem Autoritätsträger, der die Autorität ausübt, einsetzt oder zeigt, und einem Autoritätsempfänger, der die Autorität anerkennt oder auch nicht. Die Autorität kann auf unterschiedliche Weise ausgeübt bzw. anerkannt werden. Aus der Sicht des Autoritätsträgers unterscheiden wir in Bezug auf unser Feld zwischen drei Arten der autoritätsausÜbung : aufforderung , bitte und ratschlag (siehe Winkler 2007). Diese Konzepte konstituieren in DICONALE jeweils ein Subfeld. Wenn die Autorität mit einem hohen Verbindlichkeitsgrad gegenüber dem Autoritätsempfänger ausgeübt wird, sprechen wir allgemein von einer strengen Autoritätsausübung und somit von einer aufforderung , ausgedrückt durch Verballexeme wie befehlen, auffordern, eine Anordnung geben, 5 anordnen oder befehligen für das Deutsche und ordenar, r mandar, r exigir, r dar una orden oder capitanear für das Spanische. Setzt der Autoritätsträger die Autorität mit einem gewissen Höflichkeitsgrad gegenüber dem Autoritätsempfänger ein, sprechen wir von einer gemäßigten bzw. 5 Zu der Hauptlemmaliste des DICONALE -Wörterbuchs gehören neben Einwortlemmata auch Mehrwortlemmata (meist Funktionsverbgefüge). AUTORITÄTSBEZIEHUNGEN aus kontrastiver Sicht N 367 höflichen Autoritätsausübung und damit von einer bitte , ausgedrückt durch Verballexeme wie ausbitten, bitten, erbitten, ersuchen oder eine Bitte haben für das Deutsche und pedir, r solicitar, r instar, r requerir, r hacer una petición usw. für das Spanische. Wenn die Autorität als Empfehlung des Autoritätsträgers für den Autoritätsempfänger eingesetzt und von diesem als solche akzeptiert wird, sprechen wir von einem ratschlag . Dieser kann im Deutschen durch Verballexeme wie empfehlen, vorschlagen, raten, anraten oder einen Ratschlag erteilen und im Spanischen durch aconsejar, r recomendar, r sugerir, r dar un consejo oder asesorar ausgedrückt werden. Aus der Sicht des Autoritätsempfängers unterscheiden wir grundsätzlich zwischen zwei Arten von autoritätsanerkennung : akzeptanz und ablehnung , die jeweils einem Subfeld in DICONALE entsprechen. akzeptanz wird als eine positive Autoritätsanerkennung verstanden, ausgedrückt im Deutschen durch Verballexeme wie gehorchen, befolgen, sich beugen, sich richten nach, einen Befehl ausführen usw. und im Spanischen durch Verballexeme wie obedecer, r seguir, r cumplimentar, r cumplir oder acatar órdenes. ablehnung ist im Gegensatz dazu als eine Nicht- Anerkennung der Autorität zu verstehen, ausgedrückt durch Verballexeme wie rebellieren, ablehnen, einen Befehl verweigern, sich widersetzen oder sich auflehnen für das Deutsche und durch rebelarse, alzarse contra, negarse, desacatar órdenes oder incumplir für das Spanische. Im Rahmen des Projekts DICONALE wird das konzeptuelle Feld der autoritätsbeziehungen in die genannten Subfelder ( aufforderung , bitte und ratschlag im Hinblick auf den Autoritätsträger bzw. akzeptanz und ablehnung im Hinblick auf den Autoritätsempfänger) eingeteilt. Im Folgenden wird eines davon, nämlich das Subfeld aufforderung , unter bestimmten Gesichtspunkten genauer betrachtet. 3. Das Subfeld AUTORITÄTSAUSÜBUNG [AUFFORDERUNG] - eine Fallanalyse am Beispiel von befehlen In diesem Abschnitt sollen einige Verballexeme des Subfelds aufforderung zum Ausdruck von autoritätsausÜbung bezüglich ihrer Argumentstruktur und ihres Konstruktionspotenzials im Deutschen und Spanischen untersucht werden. Hier gehen wir von dem deutschen Verb befehlen als prototypischem Verballexem dieses Subfeldes aus. María Egido Vicente 368 3.1 Bedeutungsstruktur und Lesarten: befehlen1 und befehlen2 Anhand der konsultierten Wörterbücher (DUW, LGWBDaF und DWDS) sind bei befehlen zwei feldrelevante Lesarten (L) zu unterscheiden: 6 L 1 : befehlen1: Jmd. gibt jmdm. den Auftrag, etw. zu tun [Jmd. (A 1 ) befiehlt jmdm. (A 2 ) etw. (A 3 )]. 7 (1) Wie ein Diktator befahl [das Staatsoberhaupt] (A1) [den Athleten] (A2) [einen Sieg auf der ganzen Linie zu Ehren des Vaterlandes] (A3) . (Mannheimer Morgen, 7.2.1998) L 2: befehlen2: Jmd. lässt jmdn./ etw. zu einem bestimmten Zweck an einen bestimmten Ort kommen [Jmd. (A 1 ) befiehlt jmdn./ etw. (A 2 ) irgendwohin (A 3 )]. (2) [Margret Thatcher] (A1) habe [ihn] (A2) einmal [zu sich] (A3) befohlen und ihm den ganzen Tag gelauscht. (Zürcher Tagesanzeiger, 24.5.1996) Die jeweils möglichen spanischen Ausdrucksmöglichkeiten fassen wir in der folgenden Tabelle zusammen: befehlen1 befehlen2 ordenar1 8 alguien (A 1 ) ordena a alguien (A 2 ) algo (A 3 ) mandar1 9 alguien (A 1 ) manda a alguien (A 2 ) algo (A 3 ) dar orden1 10 alguien (A 1 ) da orden a alguien (A 2 ) de algo (A 3 ) Tab. 1: Spanische Ausdrucksmöglichkeiten für befehlen1 und befehlen2 6 Die Disambiguierung dieser zwei feldrelevanten Lesarten erfolgt durch die unterschiedlichen Argumentstrukturen von befehlen1 und befehlen2. 7 Bei der Nummerierung handelt es sich hier nicht um die Art, sondern um die Anzahl der Argumente, d.h. A 1 , A 2 , A 3, A x stehen hier für das erste, das zweite, das dritte usw. Argument, und zwar unabhängig von der Rolle dieser Argumente oder von ihrer konkreten syntaktischen und lexikalischen Realisierung. 8 Ordenar hat drei weitere Lesarten: ‘aufräumen’/ ‘in Ordnung bringen’, ‘sich anvertrauen’ und ‘ordinieren’/ ‘zum Kleriker weihen’. 9 Das Verballexem mandar hat noch die feldrelevante Lesart mandar2 im Sinne von ‘regieren’/ ‘kommandieren’ und die nicht feldrelevante Lesart im Sinne von ‘einsenden’/ ‘zuschicken’ 10 dar (una/ la) orden, dar (las) órdenes. Das Funktionsverbgefüge dar orden ist monosem. AUTORITÄTSBEZIEHUNGEN aus kontrastiver Sicht N 369 3.2 Argumentstruktur, Valenz und Realisierungsformen Befehlen1 und befehlen2 haben unterschiedliche Strukturmuster. Befehlen1 wird als maximal dreistelliges Verb <S (D) (A)> 11 (Beispiel (1)), oft als zweistelliges (Beispiel (3)) und nur ganz selten als einstelliges Verb (Beispiel (4)) realisiert. ( 3) Churchill befahl die Bombardierung Dresdens. (Kleine Zeitung, 15.2.2000) (4) Er befahl, die anderen gehorchten. (St. Galler Tagblatt, 5.6.1997) Im Gegensatz dazu verlangt befehlen2 immer die Realisierung von drei Argumenten mit dem syntaktischen Satzbauplan <S A ADVdir> 12 (Beispiel (2)), die aber nicht mit denen von befehlen1 übereinstimmen. In der folgenden Tabelle wird die semantische und morpho-syntaktische Realisierung der Argumente von befehlen1 und befehlen2 dargestellt: A 1 A 2 A 3 befehlen1 Autoritätsträger Autoritätsempfänger Aufforderung S (D) (A) befehlen2 Autoritätsträger Autoritätsempfänger Aufforderung S A ADVdir Tab. 2: Semantische und morpho-syntaktische Beschreibung der Argumente von befehlen1 und befehlen2 Im Spanischen erfolgt die Disambiguierung nicht durch die Form der Argumente (z.B. durch das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein einer ADV dir wie im Deutschen), 13 sondern durch die Kombination der Form der Argumente und der in ihnen auftretenden lexikalischen Aus- 11 Terminologie in Anlehnung an Engel (2009): S (Subjekt), D (Dativergänzung) und A (Akkusativergänzung). Die fakultativen Aktanten werden in Klammern geschrieben. 12 dir = Direktivergänzung. 13 Hier ist es wichtig hervorzuheben, dass die ADV dir im Hinblick auf ihre lexikalische Besetzung variabel ist. Obwohl die betreffende PP am häufigsten durch die Präposition zu eingeleitet ist, kommen auch vor, r nach und auf als Kopf der direktiven PP f vor, vgl. „Sonderbar - der grosse Mann liess mich nicht nur nicht warten, sondern befahl mich sogleich vor sich“. (Berliner Tageblatt, 4.2.1933); „Sie beide sowie Adolf von Schauenburg und Ratzeburgs Befehlshaber Heinrich von Badwide waren vom Herzog gleich nach seiner Rückkehr aus Italien nach Dankwarderode befohlen worden.“ (Braunschweiger Zeitung, 18.1.2006); „Vor einigen Wochen wurde er plötzlich auf das Polizeibureau f befohlen und [...].“ (Vossische Zeitung, 2.3.1905). María Egido Vicente 370 drücke, z.B. durch die Infinitivergänzung mit presentarse (‘sich irgendwo vorstellen’) in (8) oder durch die Infinitivergänzung mit enviar (‘schicken’) in (10). Da die drei spanischen Verben in Tabelle 1 das Konzept autoritätsausÜbung [AUFFORDERUNG] ausdrücken, können sie als Entsprechungen für beide Lesarten von befehlen gelten: (5) befehlen1 {ordenar1}: El primer ministro israelí, Ménajem Beguin, ordenó la apertura de una profunda y rápida investigación. (El País, 3.6.1980) [‘Der israelische Premierminister, Ménajem Beguin, befahl die Einleitung einer umfassenden und schnellen Untersuchung.’] 14 (6) befehlen1 {mandar1}: El Gobierno de Cataluña había mandado bombardear Zaragoza. (Mercedes Salisachs: La gangrena, 1975) [‘Die Regierung von Katalonien befahl die Bombardierung von Zaragoza.’] (7) befehlen1 {dar orden1}: La jefa de policía de Atlanta, Beverly Harvard, dio órdenes de reforzar todo el dispositivo de seguridad dentro del anillo olímpico. (El Mundo, 10.7.1996) [‘Die Polizeichefin von Atlanta, Beverly Harvard, befahl, die gesamten Sicherheitsvorkehrungen innerhalb des Olympischen Rings zu verstärken.’] 15 (8) befehlen2 {ordenar1}: El juez prohíbe a Bravo salir de España y le ordena presentarse cada semana. (El País, 4.10.2008) [‘Der Richter verbietet Bravo, Spanien zu verlassen und befiehlt ihn jede Woche zu sich.’] (9) befehlen2 {mandar1}: El rey mandó llamar a Velázquez y le recibió en su cámara (Eduardo Chamorro: La cruz de Santiago, 1992) [‘Der König befahl Velázquez zu sich und empfing ihn in seinem Gemach.’] (10) befehlen2 {dar orden1}: [...] pues aún no se daba la orden de enviar[les] a la iglesia. (Sergio Ramírez: Un baile de máscaras, 1995) [‘Sie sind noch nicht zur Kirche befohlen worden.’] 14 Die Übersetzung der spanischen Beispiele stammt von der Autorin des Beitrages. 15 Auch: ‘Die Polizeichefin von Atlanta, Beverly Harvard, gab den Befehl, die gesamten Sicherheitsvorkehrungen innerhalb des Olympischen Rings zu verstärken.’ AUTORITÄTSBEZIEHUNGEN aus kontrastiver Sicht N 371 Man kann den Argumenten der o.g. spanischen Lexeme die folgenden semantischen Merkmale und morpho-syntaktischen Realisierungsmöglichkeiten zuordnen: A 1 A 2 A 3 ordenar1 Autoritätsträger Autoritätsempfänger Aufforderung S (CI) 16 CD 17 mandar1 Autoritätsträger Autoritätsempfänger Aufforderung S (CI) CD dar orden1 Autoritätsträger Autoritätsempfänger Aufforderung S (CI) PRP 18 Tab. 3: Semantische und morpho-syntaktische Beschreibung der Argumente von ordenar1, mandar1 und dar orden1 Mit der Beschreibung der Argumentstruktur wird eine syntagmatische Information zu der Anzahl und der Art der Mitspieler geliefert, die der spanisch-muttersprachige Wörterbuchbenutzer bzw. der DaF- Lerner benötigt, um einen grammatikalisch korrekten deutschen Satz bilden zu können. 19 Die nächste berechtigte Frage aus der Sicht des Wörterbuchbenutzers wäre: „Wie werden diese Argumente realisiert? “ In dieser Hinsicht spielt die satzförmige Realisierung (OR) 20 eine besonders wichtige Rolle. Bei der Analyse von befehlen1 ergeben sich nach entsprechenden Korpusrecherchen folgende Möglichkeiten: A 3 : OR: inf+zu (Beispiel (11)), A 3 : OR: dass (Beispiel (12)) und A 3 : OR: HS sub 21 (Beispiel (13)). (11) Ein Soldat befahl mir, die Hände zu heben. (Berliner Morgenpost, 25.5.1998) (12) Die Partei befahl, dass meine Gefangenen getötet werden sollten. (St. Galler Tagblatt, 17.2.2009) (13) Dabei befahl er ihr, sie solle dem Bühelwirt ein Haupt Vieh verderben. (St. Galler Tagblatt, 31.3.1999) 16 CI = complemento indirecto (indirektes Objekt). 17 CD = complemento directo (direktes Objekt). 18 PRP = Präpositivergänzung. 19 Diese Information ist gerade aus kontrastiver Sicht sehr relevant, denn so wird z.B. das Argument 2 von befehlen1 im Dativ realisiert und nicht im Akkusativ wie bei befehlen2. 20 OR steht für „oracional“ (‘satzförmig’). 21 HS sub = subordinierter Hauptsatz mit Verb-Zweit-Position. María Egido Vicente 372 A 1 und A 2 von befehlen1 sowie A 1 , A 2 und A 3 von befehlen2 sind diesbezüglich nicht relevant, weil es für sie keine satzförmigen Realisierungen gibt. Die Analyse einer repräsentativen Zufallsstichprobe von 200 Belegen zeigt, dass die Akkusativergänzung von befehlen1 eher zu der satzförmigen Realisierung tendiert (etwa 65%). Innerhalb der o.g. satzförmigen Realisierungsmöglichkeiten kommen die Beispiele mit Infinitivsatz am häufigsten vor, während der Subjunktorsatz (dass) nur selten auftritt (Tab. 4). A 3 : OR: inf A 3 : OR: dass A 3 : OR: HS sub A 3 : nicht OR 41% 3% 21% 35% Tab. 4: Satzförmige Realisierung des 3. Arguments (A 3 ) von befehlen1 Wie in Tabelle 5 dargestellt wird, zeigt sich im Spanischen eine ähnliche Tendenz bei mandar1 und dar orden1, wo das CD bzw. PRP von beiden Lexemen bzw. Mehrwortlexemen noch deutlicher als im Deutschen zu der satzförmigen Realisierung tendiert, und zwar zum Infinitivsatz. Bei ordenar1 kommt dagegen eine nicht-satzförmige Realisierung am häufigsten vor (siehe Beispiel (5)). 22 A 3 : OR: inf A 3 : OR: que s 23 A 3 : OR: orp sup 24 A 3 : nicht OR ordenar1 17,5% 24,5% 2,5% 55,5% mandar1 79% 17,5% 1,5% 2% dar orden1 25 64% 26% 1% 9% Tab. 5: Satzförmige Realisierung des 3. Arguments (A 3 ) von ordenar1, mandar1 und dar orden1 Wenn ordenar1, mandar1 und dar orden1 als Äquivalente von befehlen2 verwendet werden, ist das 2. Argument obligatorisch und wird das 3. Argument immer in Form einer Satzergänzung realisiert (siehe Beispiele (8), (9) und (10)). 22 Die gängigen zweisprachigen Wörterbücher greifen diese Information nicht auf, die gerade in Situationen sehr wichtig ist, in denen Texte in der Fremdsprache produziert werden sollen. 23 s = Subjuntivo. 24 orp sub = abhängiger Hauptsatz. 25 Aufgrund der geringen Anzahl von Treffern im Korpus müssen wir uns bei dar orden1 auf die Analyse von 100 statt 200 Belegen beschränken. Diese Problematik kommt besonders häufig bei Funktionsverbgefügen vor. AUTORITÄTSBEZIEHUNGEN aus kontrastiver Sicht N 373 3.3 Semantische Valenz und semantische Füllung Genauso wichtig wie die morpho-syntaktische Realisierung der Argumente ist für die Wörterbuchbenutzer die Frage nach der semantischen Valenz und Füllung. Aufgrund der Ergebnisse der Korpusanalyse lassen sich folgende Beobachtungen machen: 26 A 1 : Autoritätsträger A 2 : Autoritätsempfänger A 3 : Aufforderung befehlen1 hum sehr oft MIL./ POL. [Offi zier, r Kommandant, Präsident ...], auch SPORT [Trainer], allg. Autoritätsperson [Mutt er, r Pfarrer ...] inst (als hum) sehr oft MIL./ POL. [Partei, Parlament, Generalstab ...] selten immat oft REL./ JUR./ POL. [Gott , Gesetz ...] hum sehr oft MIL./ POL. [Soldaten, Minister ...], auch SPORT [Spieler], allg. Autoritätsempfänger [Sohn, Frau ...] inst (als hum) sehr oft MIL./ POL. [Armee, Truppen ...] selten zool [Hund] din 27 sehr oft MIL./ POL. [Bombardierung, Angriff , ffff Verteidigung ...], auch allg. Befehle befehlen2 hum sehr oft MIL./ POL. [Offi zier, r Kommandant, Präsident ...], seltener allg. Autoritätsperson inst (als hum) sehr oft MIL./ POL. [Oberkommando, Generalstab ...] hum sehr oft MIL./ POL. [Soldaten, Häftling, Minister ...], seltener allg. Autoritätsperson inst (als hum) sehr oft MIL./ POL. [Armee, Truppen ...] selten zool [Hund] met 28 sehr oft [zu sich, vor sich] ordenar1 hum sehr oft JUR./ POL. [ministro, alcalde, juez, fiscal ...], auch MIL. [almirante, general ...], seltener allg. Autoritätsperson inst (als hum) sehr oft JUR./ POL. [ayuntamiento, ministerio, fiscalía, juzgado ...] immat oft REL./ JUR./ POL. [ley, Dios ...] hum sehr oft JUR./ POL. [ministro, acusado ...], auch MIL. [comandante, general ...], seltener allg. Autoritätsempfänger inst (als hum) sehr oft JUR./ POL. [partido, ministerio, fiscalía ...] selten zool [perro] din sehr oft JUR./ POL. [investigación, ingreso en prisión, captura ...], auch MIL. [ejecución, bombardeo ...], seltener allg. Befehle met sehr oft [presentarse ante/ en, venir ...] 26 Kategorielle Merkmale in Anlehnung an Engel (2009, S. 188f.). 27 Dynamisch: Vorgang, Tätigkeit, Handlung. 28 Meta: Ziel, Richtung. María Egido Vicente 374 A 1 : Autoritätsträger A 2 : Autoritätsempfänger A 3 : Aufforderung mandar1 hum sehr oft JUR./ POL. [dirigente, ministro, juez ...], auch SPORT [entrenador, r árbitro ...], allg. Autoritätsperson [director, r madre, cura ...], seltener MIL. inst (als hum) sehr oft JUR./ POL [ministerio, juzgados ...] immat oft REL./ JUR./ POL. [ley, Dios, decreto ...] hum sehr oft JUR./ POL. [acusado, ministro ...], auch SPORT [jugadores [ ], allg. Autoritätsempfänger [alumnos, hijo ...], seltener MIL. inst (als hum) sehr oft JUR./ POL. [policía, alcaldía, fiscalía ...] din sehr oft JUR./ POL. [capturar, r declarar ...], auch allg. Befehle, seltener MIL. met sehr oft [llamar, r venir] dar orden1 hum sehr oft JUR./ POL. [presidente, juez, dictador ...], seltener MIL. inst (als hum) sehr oft JUR./ POL. [gobierno, Tribunal Supremo, policía ...], seltener MIL. hum sehr oft JUR./ POL. [abogado, ministro ...], seltener MIL. inst (als hum) sehr oft JUR./ POL. [ayuntamiento, partido ...], seltener MIL. din sehr oft JUR./ POL. de busca y captura, de querellarse ...], auch allg. Befehle, seltener MIL. selten met [presentarse ante/ en, venir ...] Tab. 6: Semantische Valenz und Füllung der Argumente von befehlen1, befehlen2, ordenar1, mandar1 und dar orden1 4. Schlussfolgerungen Bei der Disambiguierung von Lesarten hat es sich als sinnvoll erwiesen, auf die Argumentstruktur und die jeweiligen Argumentrealisierungsmöglichkeiten zu achten. Befehlen1 und befehlen2 folgen zwar denselben Argumentstrukturmustern, weisen aber unterschiedliche Argumentrealisierungsmöglichkeiten und divergierende semantische Rollenfüller auf. Aus diesen Beobachtungen leitet sich die Notwendigkeit ab, syntagmatische Information in den ein- und zweisprachigen Wörterbüchern für den DaF- und ELE- Benutzer mit fortgeschrittenen Kenntnissen ab B2 verstärkt zu berücksichtigen. Neben der semantischen und morpho-syntaktischen Beschreibung der einzelnen Argumente und ihres semantischen Füllpotenzials durch kategoriale Merkmale und genauere Deskriptoren ist besonders die Information zu den möglichen satzförmigen Realisierungen der Argumente aus kontrastiver Sicht interessant (siehe Tabellen 4 und 5). Das Zusammenspiel aller aufgezeigten Parameter ist für einen erfolgreichen Nachschlagevorgang im Wörterbuch entscheidend, inbesondere in Situationen, in denen Texte in der Fremdsprache produziert werden sollen. Es ist zu erwarten, dass sich aus umfangreicheren und empirisch abgesicherten, AUTORITÄTSBEZIEHUNGEN aus kontrastiver Sicht N 375 korpusbasierten Studien für beide Sprachen kontrastiv relevante Daten gewinnen lassen, die für die zweisprachige Lexikografie von großem Interesse sein werden. Literatur COSMAS II (Corpus Search, Management and Analysis System): www.idsmannheim.de/ cosmas2/ (Stand: Oktober 2012). CREA: Corpus de referencia del español actual. Real Academia Española. http: / / corpus.rae.es/ creanet.html (Stand: Oktober 2012). DeReKo = Institut für Deutsche Sprache (2012): Deutsches Referenzkorpus / Archiv der Korpora geschriebener Gegenwartssprache 2012-II (Release vom 29.8.2012). Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. www.ids-mannheim. de/ DeReKo. DUW (2006) = Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim. DWDS (2012): Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. www.dwds.de (Stand: Oktober 2012). Engel, Ulrich (2009): Deutsche Grammatik. München. Engelberg, Stefan/ Lemnitzer, Lothar (2009): Lexikographie und Wörterbuchbenutzung. 3. Aufl. (= Stauffenburg Einführungen 13). Tübingen. Fromm, Erich (1976): To have or to be? New York. LGWBDaF (2008): Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache. Berlin/ München. Hindelang, Götz (2010): Einführung in die Sprechakttheorie. 5. Aufl. Berlin/ New York. Meliss, Meike (2014): Vorüberlegungen zu einem zweisprachigen Produktionslernerwörterbuch für das Sprachenpaar DaF und ELE. In: Reimann, Daniel (Hg.): Kontrastive Linguistik und Fremdsprachendidaktik. Iberoromanisch - Deutsch. (= Romanische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 2). Tübingen, S. 113-137. Schmidt-Wiegand, Ruth (2002): Die onomasiologische Sichtweise auf den Wortschatz. In: Cruse, Alan/ Hundsnurscher, Franz/ Job, Michael/ Lutzeier, Peter Rolf (Hg.): Lexikologie / Lexicology. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen / An international handbook on the nature and structure of words and vocabularies. 1. Halbbd. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft / Handbooks of Linguistics and Communication Science (HSK) 21.1). Berlin/ New York, S. 738-751. María Egido Vicente 376 Winkler, Edeltraud (2007): Lexikalische Strukturen der Direktive. In: Harras, Gisela/ Proost, Kristel/ Winkler, Edeltraud: Handbuch deutscher Kommunikationsverben. Teil 2: Lexikalische Strukturen. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 10.2). Berlin/ New York, S. 125-223. PALOMA SÁNCHEZ HERNÁNDEZ ÜBERLEGUNGEN ZU DER SYNTAGMATISCHEN INFORMATION EINIGER VERBEN DES TEILPARADIGMAS ‘LERNEN’ IM DEUTSCH-SPANISCHEN VERGLEICH 1. Einführung Der vorliegende Beitrag ist in das Forschungsprojekt DICONALE 1 eingebettet, welches das Ziel verfolgt, ein onomasiologisch-konzeptuell orientiertes, zweisprachiges Online-Wörterbuch für Verballexeme des Deutschen und Spanischen zu erstellen. Aus der von der traditionellen semasiologisch-alphabetischen Anordnung abweichenden Konzipierung ergeben sich neue Herausforderungen für die zweisprachige Lernerlexikografie im deutsch-spanischen Kontext, denen sich dieses Projekt mit einem integrativ-modularen Beschreibungsmodell stellt, in dem der Beschreibung des Kombinationspotenzials von Verballexemen eine besondere Beachtung zukommt. 2 In dem vorliegenden Beitrag wird einigen Fragestellungen bezüglich des Teilparadigmas lernen , welches dem Paradigma der kognition 3 zugeordnet werden kann, nachgegangen und eine exemplarisch angelegte empirische Analyse zu verschiedenen Beschreibungsparametern angeboten. Dazu werden das Deutsche Referenzkorpus DeReKo und für das Spanische CREA und ‘El Corpus del español de Mark Davies’ herangezogen. 4 Ziel dieses Beitrags ist es, Antworten auf folgende Fragen zu finden: 1 Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Forschungsprojekts DICONALE ONLINE : ‘Erstellung eines onomasiologisch-konzeptuellen zweisprachigen Wörterbuches Deutsch-Spanisch: online Zugang’ ( MINECO-FEDER FFI2012-32658 ) entwickelt. 2 Einige bibliografische Hinweise zu dem Projekt sind: Meliss (2011, 2014, 2015); Sánchez (2013); Meliss/ Sánchez (demn.). 3 Nach DUW (2007): Kognition: „Gesamtheit aller Prozesse, die mit dem Wahrnehmen und Erkennen zusammenhängen.“ Das Verb lernen wird wie folgt definiert: „1. a. sich Wissen, Kenntnisse aneignen; b. sich, seinem Gedächtnis einprägen; c. Fertigkeiten erwerben; d. im Laufe der Zeit [durch Erfahrungen, Einsichten] zu einer bestimmten Einstellung, einem bestimmten Verhalten gelangen; 2. [ein Handwerk] erlernen.“ 4 Das für diese Zwecke zusammengestellte Arbeitskorpus besteht aus 250 Belegen aus Zeitungen: 125 aus DeReKo für das Deutsche und für das Spanische 65 aus CREA und 60 aus „El corpus del español de Mark Davies“. Im Deutschen wurde von einem Sample von 534 Belegen ausgegangen, von denen die ersten 125 ausge- Paloma Sánchez Hernández 378 i) Wie ähnlich sind die Argumentstrukturmuster der einzelnen Lexeme eines Teilparadigmas aus interlingualer Perspektive? ii) Wo liegen genau die Unterschiede in beiden Sprachen in Bezug auf die semantisch-kategorialen Merkmale? iii) Gibt es Divergenzen bezüglich der syntaktisch-funktionalen Information der einzelnen Argumente zwischen bedeutungsähnlichen Lexemen beider Sprachen? iv) Welche Realisierungsmöglichkeiten und semantischen Füllungen sind aus inter- und intralingualer Perspektive häufiger als andere? Existieren quantitative Gemeinsamkeiten oder Unterschiede im Deutschen und im Spanischen? Diese kontrastive Untersuchung soll exemplarisch die wichtigsten semantischen und syntaktischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Bezug auf zwei Bedeutungsvarianten herausfinden und unterschiedliche Arten von Informationen für kontextadäquate Produktionszwecke anbieten. 2. Begrenzung des Teilparadigmas LERNEN Jedes konzeptuell orientierte Paradigma besteht aus verschiedenen Teilparadigmen, die sich zunächst durch unterschiedliche konzeptuelle sowie an Szenen orientierte Bezugsrahmen voneinander abgrenzen lassen. Die lexikalischen Elemente jedes (Teil-)Paradigmas lassen sich u.a. durch bestimmte bedeutungsdifferenzierende semantische Merkmale voneinander unterscheiden (vgl. Sánchez Hernández 2013). Als Beispiel werde ich das Teilparadigma lernen (vgl. Tab. 1) und die dazu gehörenden deutschen und spanischen Verballexeme darstellen: 5 wählt wurden. Im Spanischen musste man anders vorgehen, um ein zufällig generiertes Sample zu erhalten: Nach einer manuellen Beschränkung der Belegzahl wurde von 150 Belegen ausgegangen, von denen die ersten 125 ausgewählt wurden. Die relevanten Parameter für diese Belegauswahl sind folgende: Für die deutschen Belege erfolgte keine zeitliche und räumliche Einschränkung; bei den spanischen Belegen wurde ebenfalls keine temporale Einschränkung vorgenommen, aber es erfolgte eine auf den Sprachraum Spanien vordefinierte Sucheinstellung. 5 Nach Dornseiff (2004), Wehrle Eggers (1961), Casares (2007) und Corripio (1990). Zur syntagmatischen Information einiger Verben des Teilparadigmas LERNEN 379 kognition Teilparadigma: lernen lernen/ aprender Konzeptueller Bezugsrahmen: erwerb + mental + kenntnisse Deutsch anlernen, sich anlesen, auffassen, auslernen, sich beibringen, bimsen, büffeln, einlernen, erlernen, memorieren, lernen … Spanisch adiestrarse, aplicarse, aprender, comprender, cursar, cultivarse, educarse, empollar, estudiar, ilustrarse, memorizar, repasar … Tab. 1: Das Teilparadigma LERNEN/ APRENDER (1. Grades) und Lexikalisierungsmöglichkeiten im Deutschen und Spanischen Jedes Element eines Teilparadigmas (Tab. 1) wird durch einen den deutschen und spanischen Ausdrücken gemeinsamen konzeptuellen Bezugsrahmen gekennzeichnet. Der konzeptuelle Bezugsrahmen des hier zu analysierenden Teilparadigmas ist erwerb + mental + kenntnisse . Dieser Bezugsrahmen dient als tertium comparationis für den Sprachvergleich. In dieser Studie werden zwei Lexeme, die zu dem Teilparadigma lernen/ aprender gehören, exemplarisch untersucht: lernen3/ aprender3 (vgl. Abb. 1 und 2). Diese Bedeutungsvarianten bilden innerhalb des Teilparadigmas lernen eine semantische Subklasse, d.h. ein Teilparadigma 2. Grades, welches zusätzlich auf die konzeptuelle Einheit aneignung referiert. Abb. 1: Mögliche Teilparadigmen (2. Grades) im Deutschen Paloma Sánchez Hernández 380 Abb. 2: Mögliche Teilparadigmen (2. Grades) im Spanischen Das Kombinationspotenzial der einzelnen Lexeme eines jeden lexikalisch-semantischen (Teil-)Paradigmas wird durch die jeweilige Inhaltsstruktur und die Argumentstrukturmuster bestimmt. Argumentstrukturen sind auf Bedeutungsvarianten bezogen: „Das bedeutet, dass in der Regel jede Lesart eines Verbs in einem eigenen Spektrum von Argumentstrukturmustern auftritt, und nicht jedes Argumentstrukturmuster auch mit jeder Lesart eines Verbs möglich ist.“ (Winkler 2009, S. 4). In den Tabellen 2 und 3 werden einige Elemente der Teilparadigmen lernen + aneignung in Zusammenhang mit ihrer über die konzeptuellen Einheiten erwerb + mental + kenntnisse definierten Bedeutungsstruktur dargestellt. Die Bedeutung jedes Lexems bzw. jeder Lesart als Element eines Teilparadigmas ist in Bezug auf die folgenden distinktiv-semantischen Merkmale gekennzeichnet: [+Aneignung] (spezifischer Erwerb von Kenntnissen), [+Gedächtnis] (für den Fall, dass in diesem Prozess memorisiert werden muss), sowie [+sachverhaltsgeleitet] (Erwerb aus der Erfahrung über Sachverhalte) und [+personengeleitet] (Erwerb durch das Vorbild von jemandem). In dieser Studie werden jeweils bestimmte Lesarten von lernen und aprender, die zu dem Teilparadigma r lernen/ aprender gehören, exemplarisch untersucht und verglichen: lernen3/ 4 - aprender3. Die Auswahl gerade dieser sich teilweise entsprechenden Lesarten ist aus kon- Zur syntagmatischen Information einiger Verben des Teilparadigmas LERNEN 381 trastiver Sicht motiviert, da sie bezüglich einiger unterschiedlicher Merkmale in ihren Bedeutungs- und Argumentstrukturen differieren. Teilparadigma „Verben des Lernens durch Kenntnisaneignung“ Konzeptueller Bezugsrahmen lernen + aneignung erwerb + mental + kenntnisse Deutsch  Bedeutungsbeschreibung 6 Mögliche spanische Entsprechungen lernen1 ‘sich ein spezielles Wissen aneignen’ (E-VALBU) aprender1 (MM 2002) Semantisch-distinktive Merkmale lernen2 ‘sich, seinem Gedächtnis einprägen’ (DUW 2007) aprender2 (MM 2002) Semantisch-distinktive Merkmale [+Gedächtnis] [+Gedächtnis] lernen3 ‘jemand leitet aus etwas die Notwendigkeit von etwas ab und verhält sich entsprechend’ (E-VALBU) aprender3 (Seco/ Andrés/ Ramos 1999; MM 2002) Semantisch-distinktive Merkmale [+sachverhaltsgeleitet] [±sachverhaltsgeleitet] [±personengeleitet] lernen4 ‘etwas von jemandem/ etwas übernehmen’ (E-VALBU) Semantische Merkmale [+personengeleitet] Tab. 2: Ausschnitt aus dem Teilparadigma „Verben des Lernens durch Kenntnisaneignung“: Deutsch und mögliche spanische Entsprechungen 6 6 Nach DUW (2007), E-VALBU, MM (2002) und Seco/ Andrés/ Ramos (1999). Paloma Sánchez Hernández 382 Teilparadigma „Verben des Lernens durch Kenntnisaneignung“ Konzeptueller Bezugsrahmen lernen + aneignung erwerb + mental + kenntnisse Spanisch  Bedeutungsbeschreibung Mögliche deutsche Entsprechungen aprender1 ‘adquirir conocimientos o el conocimiento de cierta cosa’ (MM 2002) lernen1 (E-VALBU) Semantische Merkmale [+Aneignung] [+Aneignung] aprender2 ‘fijar algo en la memoria’ (MM 2002) lernen2 (DUW 2007) Semantische Merkmale [+Gedächtnis] [+Gedächtnis] aprender3 ‘aprender de, por ejemplo de su padre’ (MM 2002) ‘grave error sería no aprender de la experiencia’ (Seco/ Andrés/ Ramos 1999) lernen3 (E-VALBU) Semantische Merkmale [±sachverhaltsgeleitet] [±personengeleitet] [+sachverhaltsgeleitet] lernen4 (E-VALBU) [+personengeleitet] Tab. 3: Ausschnitt aus dem Teilparadigma „Verben des Lernens durch Kenntnisaneignung“: Spanisch und mögliche deutsche Entsprechungen Zur syntagmatischen Information einiger Verben des Teilparadigmas LERNEN 383 3. Kontrastive Analyse der syntagmatischen Muster Deutsch-Spanisch Die syntagmatische Information erfolgt in DICONALE hauptsächlich durch die Angabe von Argumentstrukturmustern in Verbindung mit den einzelnen syntaktischen Funktionen und ihren morphosyntaktischen Realisierungsmöglichkeiten und semantischen Füllungen der einzelnen Argumente. Auf der kombinatorisch-semantischen Ebene wird ausgehend von semantisch-kategorialen Merkmalen (vgl. Engel 1977, 1988, 1994, 1996, 2004; Zifonun et al. 1997) eine genauere Information zu der semantischen Füllung der einzelnen Aktanten durch korpusgestützte Information angestrebt (Sánchez 2013, S. 145ff.). Anhand der Argumentstrukturen wird versucht, die wichtigsten syntaktischen Eigenschaften der Lexeme im inter- und intralingualen Vergleich darzustellen. Es existieren in diesem Bereich viele Studien, die darauf aufmerksam machen, wie wichtig die kontrastiven Untersuchungen für Lernende und Lehrende sind (vgl. Cop 1991; Cowie 1989; Meliss 2005, 2011; Model 2006; Sánchez 2010, 2012). Die Notwendigkeit, mehr syntagmatische Information anzubieten, wird besonders in fremdsprachigen Produktionssituationen deutlich. Der szenische Bezugsrahmen der ausgewählten Verben wird durch die semantischen Rollen, die in der Lern-Aneignungs-Szene des Teilparadigmas involviert sind, definiert (Rolle 1: „der Lerner“, Rolle 2: „das Gelernte“, Rolle 3: „Sachverhalt als Lernstimulus“ und Rolle 4: „Person als Lernstimulus“). Die Bezeichnungen der Funktionen und der semantischen Rollen der Argumente werden hier vereinfacht und für beide Sprachen mit der gleichen Abkürzung dargestellt, wobei „S“ für „Subjekt“ steht, „A“ für „Akkusativ/ complemento directo“, „PRP“ für „Präpositionalergänzung/ complemento preposicional“, „fak“ für „fakultativ/ facultativo“ und „A1-A4“ für die Argumente 1-4. In diesem Abschnitt wird die syntagmatische Information wie folgt präsentiert: Zum einen wird das Strukturmuster mit den einzelnen Argumenten aufgeführt, wobei für jedes der Argumente dargestellt wird, wie es morphosyntaktisch realisiert ist, und welche syntaktische Funktion es besitzt. Zum anderen werden die semantischen Merkmale aufgelistet, durch die das jeweilige Verballexem gekennzeichnet ist. Ergänzt werden die Informationen zu den semantischen Merkmalen durch die Angabe von präferierten lexikalischen Füllungen mithilfe eines semantisch-kategorialen Inventars. Die relevanten semantisch- Paloma Sánchez Hernández 384 kategorialen Merkmale für die Beschreibung der einzelnen Argumente von lernen3/ 4 und aprender3 sind: [+hum], [+zool], [+kon], [+kogn], [+Inst], [+Zust]. 7 Sowohl die Information zu den Argumentstrukturmustern und den satzförmigen Realisierungen als auch die zu der semantischen Füllung sind den Originalbelegen, 8 die aus den oben erwähnten Korpora stammen, entnommen. lernen3/ aprender3 Deutsch Spanisch [+sachverhaltsorientiert] [−personenorientiert] [+sachverhaltsorientiert]/ [+personenorientiert] Bedeutungsbeschreibung ‘jemand leitet aus etwas die Notwendigkeit von etwas ab und verhält sich entsprechend’ (E-VALBU) ‘aprender de, por ejemplo de su padre’ (MM 2002); ‘grave error sería no aprender de la experiencia’ (Seco/ Andrés/ Ramos 1999) Szenario jmd. (R1) lernt (etwas) (R2) aus etwas (R3) R1 = der Lernende R2 = das Gelernte R3 = Sachverhalt als Lernstimulus A1: S A2: A A3: PRP aus+Dat alguien (R1) aprende (R2) algo de algo (R3) o de alguien (R4) R1 = der Lernende R2 = das Gelernte R3 = Sachverhalt als Lernstimulus R4 = Person als Lernstimulus A1: S A2: A A3: PRP de A4: PRP de Argumentstruktur A1 A2 A3 A1: S A2: A fak. (7) A3: PRP aus+Dat A1 A2 A3/ A4 A1: S A2: A fak. (g) A3: PRP de A4: PRP de 7 Die semantisch-kategorialen Merkmale sind: [hum] (Mensch), [+zool] (Tier), [+kon] (Konkreta), [+kogn] (kognitiv), [+Inst] (Institution), [+Zust] (Zustände). 8 Die Belege aus diesem Korpus werden im Anhang aufgelistet. Sie wurden aus dem Korpus ausgewählt, um diese Information exemplarisch aufzuzeigen (Deutsch: Belege 1-12; Spanisch: Belege a-m). Zur syntagmatischen Information einiger Verben des Teilparadigmas LERNEN 385 Satz bauplan Satz förmige Realisierungen <S (A) PRP> A1: w-Satz : (1) A2: dass-Satz : (2)/ Inf-Satz mit zu: (3) <S (A) PRP> A2: lo-que-Satz : 9 (a)/ que-Satz : (b) A2: Inf-Satz : (c) Semantische Valenz kategoriale Merkmale A1: [+hum] [+Inst] A2: [−hum] [−kon] [+kogn] A3: [−hum] [+kogn] [+Zust] A1: ellipt. [+hum] [+Inst] A2: [−hum] [+kon] [+kogn] A3: [−hum] [+kogn] [+Zust] A4: [+hum] [+zool] [−Zust] Semantische Füllpräferenzen, pronominale Realisierungen und Hinweis auf Belegbeispiel A1: [+hum] (4) [+Inst] (5) Indefinitpronomen (6) A2: Indefinitpronomen (8) [-kon] (9) A3: [+kogn] (10) [+Zust] (11) auch mit Pronominaladverb (12) A1: [+hum] ellipt. (d) [+Inst] (e) [+zool] (f) A2: [+kogn] (h) [+kon] (i) A3: [+kogn] (j) [+Zust] (k) A4: [+hum] (a) (d) (h) (i) (m) [+zool] (l) Tab. 4: Bedeutungsvarianten: lernen3 / aprender3 rr Besonders auffällig bezüglich der hier untersuchten Lexeme sind aus kontrastiver Perspektive u.a. folgende Beobachtungen: i) Elemente eines lexikalisch-semantischen Paradigmas weisen nicht immer die gleichen Argumentstrukturen bzw. Argumentrealisierungsmuster auf: lernen3 referiert nur auf das Szenarium „jmd. (R1) lernt (etwas) (R2) aus etwas (R3)“. Eine PP_von führt zu einem anderen Szenarium („jmd. (A1) lernt (etwas) (A2) von jemandem (A4)“), in dem nicht auf R3 sondern auf R4 referiert wird (lernen4). Der entsprechende lexikalische Bedeutungsunterschied wird durch die Merkmale [+sachverhaltsgeleitet]/ [+personengeleitet] beschrieben. Das spanische Verb aprender3 hingegen bezieht sich auf das Szenarium: „alguien (R1) aprende algo (R2) de algo (R3) o de alguien (R4)“. Da aprender3 durch das Argument in Form einer PP_de sowohl auf R3 als auch auf R4 referieren kann, kann erst durch die semantischkategoriale Füllung ein Bezug zu R3 oder R4 hergestellt werden. 9 Im Spanischen heißen sie „subordinadas de relativo sin antecedente expreso“. Paloma Sánchez Hernández 386 ii) Sowohl im Deutschen (7) als auch im Spanischen (g) kann das Argument 2 fakultativ sein. In Bezug auf die satzförmigen Realisierungen der Argumente werden laut den Ergebnissen der exemplarisch angelegten empirischen Studie sowohl im Deutschen als auch im Spanischen die gleichen Satztypen registriert: w-Sätze bzw. lo-que-Sätze (1, a) für A1, dass-Sätze bzw. que-Sätze (2, b) und Infinitivsätze (3, c) für A2. iii) Wie die Analyse der Belege zeigt, kann sich das Argument 1 bei lernen3/ aprender3 auf Personen (4), (d) und Institutionen (5), (e) beziehen. Im Deutschen kann das Argument 1 auch als Indefinitpronomen erscheinen (6). Diese Realisierung von A1 ist für das Spanische nicht belegt. Im Spanischen kann das Argument 1 elidiert sein (vgl. (d), (g), (i) und (j)) oder durch einen Ausdruck mit dem Merkmal [+zool] (auf Tiere bezogen) realisiert sein. Im Deutschen gibt es keinen entsprechenden Beleg. iv) Im Deutschen kann das Argument 2 durch ein Indefinitpronomen wie in (8) oder einen Ausdruck mit dem semantisch-kategorialen Merkmal [−kon] wie in (9) realisiert sein; der Ausdruck, der das Argument 2 realisiert, hat im Spanischen aber das Merkmal [+kon] (vgl. (i)). v) Das Argument 3 wird im Deutschen durch einen Ausdruck mit den semantisch-kategorialen Merkmalen [+kogn] (10), und [+Zust] (11) realisiert. Die Realisierung von A3 durch ein Pronominaladverb (12) ist im Deutschen ebenfalls möglich. Das Argument 3 wird im Spanischen durch einen Ausdruck mit den semantischkategorialen Merkmalen [+kogn] (j) oder [+Zust] (k) realisiert. vi) Obwohl es sich im Spanischen bei A3 und A4 um Argumente handelt, die unterschiedliche Rollen haben und somit unterschiedliche Szenarien repräsentieren, ist die PP, durch die diese beiden Argumente realisiert werden, immer durch de eingeleitet - es existiert also keine formal-funktionale Differenzierung zwischen beiden Argumenten, so dass der Satzbauplan für beide Szenarien identisch erscheint (vgl.: <S (A) PRP>). Das ist im Vergleich zum Deutschen interessant, denn die unterschiedliche Präposition der PP (aus/ von) verweist schon auf die eine oder andere Rollenbeteiligung und damit auf die unterschiedlichen Szenarien. Zur syntagmatischen Information einiger Verben des Teilparadigmas LERNEN 387 In fünf der spanischen Belege (vgl. (a), (d), (h), (i) und (m)) war A4 durch einen Ausdruck mit dem Merkmal [+hum] realisiert, in einem Beleg (l) durch einen Ausdruck mit dem Merkmal [+zool]. 4. Häufigkeit In Tabelle 5 werden Angaben zur Häufigkeit der morphosyntaktischen Realisierungen der einzelnen Argumente von lernen3 und aprender3 und deren lexikalischen Füllungen aufgeführt, wobei die Zahlen sich auf das ganze Korpus beziehen (vgl. Fußnote 4): Satz förmige Realisierungen A1: w-Satz  2: 1,6% A2: dass-Satz  9: 7,2% A2: Inf-Satz  1: 0,8% A2: lo-que-Satz  3: 2,4% A2: que-Satz  3: 2,4% A2: Inf-Satz  4: 3,2% Semantische Füllung A1: [+hum]  69: 55,2% [+ Inst]  13: 10,4% Indefinitpronomen: man  42: 33,6 %, niemand  1: 0,8% A2: fak.  78: 62,4% (A2 erscheint nicht) Indefinitpronomen: nichts  22: 17,6%, viel  8: 6,4%, etwas  1: 0,8%, alles  1: 0,8% [−kon]  2: 1,6% A3: [+kogn]  25: 20% (Erfahrung  16: 12,8%) [+Zustand]  72: 57,6% (Fehler  23: 18,4%) Pronominaladverb  29: 23,2% A1: [+hum]  117: 93,6%, ellipt.  (47: 37,6%) [+Institution]  7: 5,6% [+zool]  1: 0,8% A2: fak.  83: 66,4% (A2 erscheint nicht) Indefinitpronomen: mucho  10: 8%, nada  1: 0,8%, algo  (2: 1,6%) [+kogn]  (18: 14,4%) [+kon]  (7: 5,6%) A3: [+kogn]  15: 12% (experiencia  11: 8,8%) [+Zustand]  54: 43,2% (error  22: 17,6%) A4: [+hum]  55: 44% [+zool]  1: 0,8% Tab. 5: Häufigkeit der Realisierungsmöglichkeiten und der semantischen Füllungen der Argumente von lernen3 / aprender3 rr In Bezug auf die satzförmigen Realisierungsmöglichkeiten der Argumente wird aus Tabelle 5 ersichtlich, dass dass-Sätze im Deutschen häufiger als Infinitivsätze auftreten (dass-Sätze: 7,2%: 9 Belege; Infini- Paloma Sánchez Hernández 388 tivsätze: 0,8%: 1 Beleg). Im Spanischen sind dagegen Infinitivsätze (3,2%: 4 Belege) häufiger als que-Sätze (2,4%: 3 Belege). Im Hinblick auf die lexikalischen Füllungen der Argumentstellen zeigt Tabelle 5, dass Argument A1 sowohl im Deutschen als auch im Spanischen am häufigsten mit einem Ausdruck mit dem Merkmal [+hum] besetzt ist (Deutsch: 55,2%: 69 Belege; Spanisch: 93,6%: 117 Belege). In 47 (37,6%) der für das Spanische gesammelten Belege war das Subjekt elidiert, was im Deutschen nicht möglich ist. Bei etwa einem Drittel der deutschen Belege (33,6%) ist das Subjekt durch das Indefinitpronomen man ausgedrückt. Das Argument A1 ist in den spanischen Belegen weniger häufig als in den deutschen durch einen Ausdruck mit dem Merkmal [+Inst] realisiert (5,6 %: 7 Belege für das Spanische bzw. 10,4%: 13 Belege für das Deutsche). Im spanischen Korpus gibt es nur einen Beleg, in dem A1 durch einen Ausdruck mit dem Merkmal [+zool] realisiert ist. Im deutschen Korpus ließ sich kein Beleg mit entsprechender Besetzung der Stelle von A1 finden. Was A2 betrifft, gibt es eine große Anzahl von Belegen (im deutschen Korpus 62%, im spanischen 66,4%), in denen dieses Argument nicht realisiert wird. Unter den Indefinitpronomen, mit denen dieses Argument in beiden Sprachen ausgedrückt werden kann, kommt nichts im deutschen Korpus am häufigsten vor (17,6%); im spanischen Korpus ist mucho (8%) am frequenstesten. Die Pronomen etwas bzw. algo treten im deutschen Korpus mit einer Häufigkeit von 0,8% und im spanischen Korpus mit einer Häufigkeit von 1,6% auf. Das Argument A2 ist im spanischen Korpus in 18 Belegen (14,4%) durch einen Ausdruck mit dem Merkmal [+kogn] und in 7 Belegen (5,6%) durch einen Ausdruck mit dem Merkmal [+kon] realisiert. Das Argument 2 ist im deutschen Korpus in 2 Belegen (1,6%) durch einen Ausdruck mit dem Merkmal [−kon] realisiert. In Bezug auf A3 zeigen die quantitativen Angaben in Tabelle 5, dass dieses Argument sowohl im Deutschen als auch im Spanischen am häufigsten durch einen lexikalischen Ausdruck mit dem Merkmal [+Zust] 10 realisiert ist (57,6%: 72 Belege für das Deutsche bzw. 43,2%: 54 Belege für das Spanische). Das häufigste Kollokat von lernen3 bzw. 10 „Aus Erlebnissen“, „aus der Situation“, „aus der Krise“, „de la corrupción mexicana“, „de las derrotas“, „de su estancia en el poder“, „de aquella metedura de pata“ sind einige der Kollokationen, die dieses Merkmal aufweisen. Zur syntagmatischen Information einiger Verben des Teilparadigmas LERNEN 389 aprender3 ist „aus Fehlern“ (18,4%) bzw. „de(l) (los) error(es)“ (17,6%). In den deutschen und spanischen Belegen realisieren auch Ausdrücke mit dem Merkmal [+kogn] weniger häufig das Argument A3 (20%: 25 Belege im Deutschen bzw. 12%: 15 Belege im Spanischen). Das Kollokat „aus Erfahrung“ besetzt sowohl in den deutschen als auch in den spanischen Belegen häufig die Stelle von A3 (12,8% bzw. 8,8%). Im Deutschen kann A3 auch durch ein Pronominaladverb („daraus“) realisiert werden, was in fast einem Viertel der Belege der Fall ist (23,2%). Das Argument A4 kommt in den spanischen Belegen häufig vor. In fast der Hälfte der spanischen Belege (44%) ist die Stelle von A4 durch einen Ausdruck mit dem Merkmal [+hum] belegt. 11 Im Gegensatz dazu gibt es nur einen spanischen Beleg, der das Merkmal [+zool] aufweist. 5. Schlussfolgerungen Als Schlussfolgerungen dieses Beitrages können die folgenden Punkte aufgeführt werden: i) Unterschiedliche Bedeutungsvarianten müssen im Normalfall auch mit unterschiedlichen Argumentstrukturen einhergehen (lernen3/ lernen4 - lernen3/ aprender3). ii) Die Argumentausdrücke mancher Argumentstrukturmuster sind durch eine ganz bestimmte Kombination semantischer Merkmale gekennzeichnet. iii) Auch in Bezug auf die satzförmigen Realisierungen lassen sich erhebliche quantitative Unterschiede zwischen den deutschen und den spanischen Belegen feststellen: Während im Deutschen dass- Sätze am häufigsten sind, sind es im Spanischen Infinitivsätze. Die Angabe von syntagmatischen Informationen ist von großer Relevanz für den Fremdsprachenunterricht, denn sie hilft dem Benutzer dabei, ein adäquates Lexem für seine Ausdrucksbedürfnisse in der Fremdsprache zu finden. Insofern geht DICONALE gerade wegen der Angabe der in diesem Beitrag diskutierten syntagmatischen Informationen für Produktionszwecke wesentlich über die bereits existierenden semasiologischen und onomasiologischen Wörterbücher sowie Ler- 11 „De jugadores“, „de terroristas“, „de entrenadores“, „del maestro“ sind einige Kollokationen, die dieses Merkmal aufweisen. Paloma Sánchez Hernández 390 nerwörterbücher hinaus, da letztere nicht immer die Wünsche für die nicht-muttersprachliche Textproduktion erfüllen. Literatur Korpora (Stand: Juli 2014) ADESSE: Base de datos de Verbos, Alternancias de Diátesis y Esquemas Sintáctico-Semánticos del Español. http: / / adesse.uvigo.es/ data/ verbos. php. CREA: Corpus de referencia del español actual. Real Academia Española. http: / / corpus.rae.es/ creanet.html. Davies, Mark (2002-): Corpus del Español: 100 million words, 1200s-1900s. www.corpusdelespanol.org. 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(Zeit, 3.5.1985) (b) De la corrupción mexicana el español aprende que no necesita tener finalidad histórica. (El Mundo, 25.4.1994. CREA) (3) Man lernt aus Erfahrungen die Gesundheit zu erhalten, zu verbessern und zu sich selbst zu finden. (St. Galler Tagblatt , 1.9.2001). (c) „Nuestra industria -dijo- aprende de cada crisis a utilizar más eficientemente el trabajo“. (La Vanguardia, 6.7.1994. CREA) (4) Dass jeder Mensch aus seinen Fehlern lernen kann, wenn er offen ist ... (Braunschweiger Zeitung, 20.6.2006) (d) La aprendí de Andrés Heredia, El Bizco, que tocaba la guitarra y cantaba. (El País, 1.12.1984. CREA) (5) Airbus lernt aus Boeings Fehlern. (Rhein-Zeitung, 12.2.2013) (e) Las Fuerzas Libanesas, milicias cristianas unificadas, han aprendido de Israel y Estados Unidos que la lucha antiterrorista no tiene límites. (El País, 2.6.1986. CREA) (6) Und man könne aus der Erfahrung lernen. (Braunschweiger Zeitung, 28.10.2009) (f) El aprendizaje juega un papel importante en la habilidad de los oseznos para obtener alimento. Su desarrollo relativamente lento y su larga dependencia de la madre, les permiten aprender de su progenitora todas las técnicas necesarias para llevar más tarde una vida independiente. (El Corpus del Español de Mark Davies) (7) Die Kirchen haben aus der Geschichte gelernt. (Hannoversche Allgemeine, 28.3.2013) (g) He aprendido de la vida. (El País. El País de las Tentaciones, 28.3.2003. CREA) (8) Er habe aus dieser Verurteilung schon etwas gelernt, erklärte der 32-Jährige. (St. Galler Tagblatt , 18.1.2013) (h) … que manifestaba la profundidad de los valores espirituales que él mismo había aprendido de Max Scheler. (La Vanguardia, 30.8.1995. CREA) Paloma Sánchez Hernández 394 (9) Die Mannschaft hat zwar aus der vergangenen Champions- League-Saison, als sie in der Gruppenphase als letz tklassiertes Team ausschied, eine Menge gelernt. (St. Galler Tagblatt , 5.5.2013) (i) Esa palabra la hemos aprendido de don Pablo Porta. (El País, 25.10.1980. CREA) (10) Die Menschen und Medien haben nichts gelernt aus dem traurigen Schicksal von Robert Enke. (Hamburger Morgenpost, 23.3.2013) (j) Los jóvenes hoy no escuchan ni aprenden de la experiencia acumulada por los toreros. (La voz de la afición n. 18, 10/ 2001 CREA) (11) Man lernt nicht nur aus Fehlern, sondern auch aus Erfolgen. (St. Galler Tagblatt , 12.7.1997) (k) „Nuestra industria -dijoaprende de cada crisis a utilizar más eficientemente el trabajo“. (La Vanguardia, 6.7.1994. CREA) (12) Ich hoffe, er lernt daraus. (Hamburger Morgenpost, 5.5.2013) (l) El aprendizaje juega un papel importante en la habilidad de los oseznos para obtener alimento. Su desarrollo relativamente lento y su larga dependencia de la madre, les permiten aprender de su progenitora todas las técnicas necesarias para llevar más tarde una vida independiente. (El Corpus del Español de Mark Davies) (m) Debías aprender de nosotros, que somos unos porteños humildes. Rayuela Julio Cortázar. (El Corpus del español de Mark Davies) IV. METHODEN ANKE HOLLER GRAMMATIK UND INTEGRATION WIE FREMD IST DIE ARGUMENTSTRUKTUR NICHT - NATIVER VERBEN? 1. Einleitung 1 Der Anteil entlehnter Verben am deutschen Wortschatz ist hoch. Etwa 4.000 Entlehnungen sind im DUDEN -Fremdwörterbuch (2007) verzeichnet. Darunter finden sich beispielsweise Anglizismen wie shoppen, klicken, parken und zoomen, Gallizismen wie hofieren, engagieren, komponieren und sondieren oder Italianismen wie krepieren und tapezieren. Diese Verben sind inzwischen integraler Bestandteil des Gegenwartsdeutschen, gleichwohl teilen sie nicht alle grammatischen Eigenschaften des deutschen Kernwortschatzes. Der jeweilige Grad der Abweichung ist ein Maß für die Fremdheit des Verbs. Sprecher können diese kraft ihrer sprachlichen Kompetenz in der Regel feststellen und so Fremdes identifizieren. Um nicht-native Einheiten sprachtheoretisch beschreiben und hinsichtlich ihrer Fremdheit beurteilen zu können, genügt eine rein intuitive Bestimmung aber nicht. Dazu bedarf es vielmehr unabhängiger analytischer Kriterien, die sowohl die Form der jeweiligen Einheit als auch ihr grammatisches Verhalten einbeziehen. Die bisherige Forschung zu Fremdwörtern und Entlehnungen konzentriert sich auf nominale Einheiten und behandelt vor allem phonetischphonologische, morphologische (Flexion, Wortbildung) und orthografische Aspekte. Nimmt man aber fremde Verben stärker in den Blick, stellt sich schnell heraus, dass auch syntaktische und semantische Aspekte der Entlehnung für die Beurteilung des Grades der Fremdheit relevant sind. Insbesondere die Argumentstruktur der Verben bedarf einer näheren Untersuchung, denn es sind die Rektions- und Selektionseigenschaften der Verben, die die grammatische Struktur und die Interpretation von Sätzen maßgeblich bestimmen. Vor dem Hintergrund, dass es generell wenige Arbeiten zu nicht-nativen Verben gibt, 1 Den Herausgeberinnen und Herausgebern bin ich für wertvolle Hinweise und Anregungen zu diesem Aufsatz sehr zu Dank verbunden. Darüberhinaus verdanke ich Carmen Scherer fruchtbare Diskussionen und wertvolle Anregungen zu den dargestellten Forschungsfragen. Ohne die kollegiale und enge Zusammenarbeit mit ihr wäre dieser Aufsatz nicht entstanden. Anke Holler 398 und diese eher andere Aspekte adressieren, überrascht es nicht, dass bisher keine systematische Forschung zur Argumentstruktur fremder Verben existiert. Ziel dieses Aufsatzes ist es daher, anhand der Argumentstruktur nichtnativer Verben einen Beitrag zur Beschreibung syntaktischer und semantischer Eigenschaften fremder Einheiten zu leisten. Ich werde der Frage nachgehen, wodurch nicht-native Argumentstrukturen grammatisch gekennzeichnet sind. Dabei werde ich überprüfen, inwieweit argumentstrukturelle Unterschiede zwischen nativen und nicht-nativen Verben erkennbar sind. Schließlich werde ich diskutieren, welche Konsequenzen sich daraus für die Theoriebildung ergeben. Die zugrunde gelegten empirischen Daten basieren auf einer Pilotstudie, die von Holler/ Scherer (2010) durchgeführt wurde. Der Aufsatz gliedert sich wie folgt: Ich werde in Abschnitt 2 zunächst den Fremdwortbegriff und die vorausgesetzten Annahmen zur Integration nicht-nativer Einheiten einführen. Danach werde ich in Abschnitt 3 die bereits erwähnte Pilotstudie von Holler/ Scherer (2010) zur Argumentstruktur nicht-nativer Verben im Deutschen vorstellen, um dann in Abschnitt 4 die verschiedenen theoretischen Aspekte zu diskutieren, die sich aus der empirischen Evidenz hinsichtlich der Beurteilung der syntaktisch-semantischen Integration nicht-nativer Verben ergeben. Ich möchte hervorheben, dass dieser Aufsatz rein explorativen Charakter hat, was auch bedeutet, dass er mehr Probleme aufwerfen als Forschungsfragen lösen wird. Im besten Fall aber wird er verdeutlichen, dass die Argumentstruktur nicht-nativer Verben ein wichtiger grammatischer Phänomenbereich ist, um Aufschluss über den Grad der Integration fremder Verben in den deutschen Wortschatz zu erhalten. 2. Maße für Fremdes 2.1 Nicht-native Einheiten und Modelle der Integration Wenn man mit Eisenberg (2001, 2011) Fremdwörter als Bestandteil des deutschen Wortschatzes einstuft und damit als selbstverständlichen Teil des Gegenwartsdeutschen ansieht, so nimmt man prinzipiell auch an, dass sie den sprachlichen Gesetzmäßigkeiten des Deutschen folgen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich in jeder grammatischen Grammatik und Integration 399 Hinsicht genauso wie Wörter des Kernwortschatzes verhalten müssen. Fremdwörter bilden zweifellos eine identifizierbare Teilmenge des deutschen Wortschatzes mit spezifischen grammatischen Merkmalen. Dies wirft unweigerlich die Frage nach den Kriterien auf, wonach sich Fremdwörter von Kernwörtern abgrenzen lassen. Mit anderen Worten: Was ist überhaupt eine fremde Einheit? Die Antwort auf diese Frage hängt maßgeblich davon ab, inwieweit man diachrone oder synchrone Gegebenheiten zur Beurteilung einer Einheit als fremd heranzieht. Aus diachroner Perspektive sind Fremdwörter Einheiten fremder Herkunft. Diese Sicht betont dynamische Aspekte zwischen Geber- und Nehmersprache, d.h. historische Prozesse der Übernahme von Wörtern, der Sprachveränderung und des Sprachwandels. Für eine Zeitspanne zwischen t und t' wird beschrieben, wie die Einheiten einer Sprache in Einheiten einer zweiten Sprache übergehen, also im Zuge grammatischer Anpassungsprozesse von dieser ganz oder teilweise übernommen werden. Aus synchroner Perspektive sind Fremdwörter Einheiten mit fremden Strukturmerkmalen. Diese Betrachtungsweise ist in dem Sinne eher statisch, dass fremde Einheiten nativen Einheiten zu einem Zeitpunkt t vergleichend gegenübergestellt werden. Dabei werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestimmt und deklarativ beschrieben. Heller (1980) hat den Versuch unternommen, beide Aspekte durch Kreuzklassifikation zu verbinden, was zu einer Unterscheidung zwischen Fremdwörtern einerseits, d.h. Lexemen fremder Herkunft, die noch fremde Strukturmerkmale aufweisen, und Lehnwörtern andererseits, d.h. Lexemen fremder Herkunft, bei denen keine formalen Fremdheitsmerkmale mehr erkennbar sind, geführt hat. Eine solche taxonomische Vorgehensweise führt unweigerlich aber auch zu Einheiten, die wie Fremdwörter aussehen, aber keine sind, sog. Pseudo- Fremdwörtern, also nativen Wörtern mit fremden Strukturmerkmalen. Die Existenz dieser Wortklasse veranlasste Eisenberg (1998 [2006]) zu einer Explikation ex negativo: Fremde Wörter sind solche, die im Verhältnis zum Kernwortschatz strukturelle Auffälligkeiten aufweisen, und Fremdwörter sind solche fremden Wörter, die Bestandteile aus anderen Sprachen enthalten. Damit greift er Wurzels (1981) synchron ausgerichtete Festlegung auf: Native Wörter sind (völlig unabhängig von ihrer Herkunft) solche Wörter, die den generellen grammatischen Regularitäten des Deut- Anke Holler 400 schen entsprechen; nicht-native Wörter sind (wiederum ungeachtet ihrer Herkunft) solche Wörter, die diesen Regularitäten nicht entsprechen. (ebd., S. 909) Demnach enthält ein Fremdwort mindestens einen Bestandteil, der erkennbar aus einer anderen Sprache entlehnt ist, womit sich ‘nicht-nativ’ terminologisch als ‘grammatisch fremd’ bestimmen lässt. Ein Fremdwort hat nach Eisenberg beispielsweise phonologische, morphologische oder graphematische Eigenschaften, die innerhalb der Kerngrammatik nicht vollständig beschrieben werden können. Diese Betrachtungsweise ist mit Hermann Pauls Fremdwortbegriff (Paul 1916ff.) durchaus kompatibel. Demnach ist ein Fremdwort nicht in das graphemische und morpho-phonemische System der Nehmersprache eingepasst. Es handelt sich somit um lexikalisches Material, das in die Nehmersprache nicht integriert ist. Maßstab für die Integriertheit ist bei Hermann Paul, inwieweit die fremde Herkunft des Wortes deutlich kenntlich bleibt. Damit ist schon angelegt, dass Integration - ob als Prozess oder als Ergebnis eines Prozesses verstanden - nicht absolut gesetzt werden kann, sondern graduellen Abstufungen unterliegt. Paul scheint zudem die Auffassung zu vertreten, dass eine Einheit x aus einer Sprache L1 in eine Sprache L2 integriert wird bzw. integriert ist, d.h. er legt den Fokus auf die einzelne nicht-native Einheit, die sich auf ein Kernsystem zubewegt bzw. zubewegt hat. Mit anderen Worten, ein entlehnter sprachlicher Ausdruck wird in Bezug auf seine Einbindung in das grammatische System der Nehmersprache beurteilt. Integration ist demnach eine asymmetrische Relation zwischen Geber- und Nehmersprache oder anders ausgedrückt ein gerichteter Prozess von einer Teilmenge aus L1 nach L2. Dies ist aber keineswegs die einzige mögliche Sichtweise auf Integration. Denkbar ist gleichermaßen, dass Integration symmetrisch zwischen Geber- und Nehmersprache verläuft, d.h. Einheiten aus einer Sprache L1 „integrieren sich“ mit Einheiten einer Sprache L2. Diese Auffassung vertritt Eisenberg (2001, 2011). Er entwickelt ein symmetrisches Integrationsmodell, das sowohl die Integration der fremden Einheit ins Kernsystem der Nehmersprache als auch die „Anpassung der nativen Einheit an Erfordernisse, die von fremden Strukturen gestellt werden“ (Eisenberg 2001, S. 191), einbezieht. 2 Eisenberg argumentiert, 2 Eisenberg nimmt hierbei Bezug auf Kaltenbacher (1999), die unter anderem zeigt, dass native, üblicherweise unbetonte Präfixe wie enteinen Nebenakzent tragen, Grammatik und Integration 401 dass Integration nicht als Bewegung hin auf ein Kernsystem beschrieben werden kann, sondern dass sie zur Herausbildung selbstständiger grammatischer (Teil-)Systeme, sog. struktureller Epizentren führt, die deutlich erkennbare Merkmale der Geber- und der Nehmersprache aufweisen. Im Ergebnis dessen finden sich neben den kerngrammatischen Einheiten als fremd erkennbare, aber stabile Teilmengen geringer oder stärker integrierter Einheiten, die beispielsweise Besonderheiten der Gebersprache beinhalten, in der Peripherie. Damit fasst Eisenberg Entlehnung als einen komplexen, graduellen Integrationsprozess auf, der desto schwieriger ist, je tiefer er in die Grammatik (Satz- oder Wortstruktur) eingreift. Als Diagnostikum für den Grad der Integration setzt Eisenberg beobachtbare Integrationskonflikte bzw. -probleme bzgl. der grammatischen Regularitäten der Geber- und Nehmersprache an. Indizien dafür können z.B. sein, dass zwei Formen oder Strukturen nebeneinander existieren oder dass Unsicherheiten in der Formbildung sichtbar werden. Eisenbergs symmetrisches Modell der graduellen Integration lässt sich anhand der Problematik, inwieweit die Wortbildung mit fremden Einheiten den produktiven Wortbildungsmustern des Deutschen folgt, sehr gut illustrieren: Ein hoher Integrationsgrad liegt bei nominaler Präfigierung und Komposition vor, was sich in der freien Komponierbarkeit fremder und nativer Bestandteile zeigt, wie z.B. Fahrzeugservice und Servicefahrzeug. Hingegen treten partielle Integrationsprobleme bei der Partikelverbbildung auf, so sind fremde Verbpartikeln nur teil- und nicht voll grammatikalisiert, wie z.B. die Verben upgraden und downloaden belegen. Schließlich lassen sich stabile Muster mit eigener Strukturiertheit im Bereich der Suffigierung erkennen: Einerseits existieren nicht-native Wörter ohne wortfähigen Stamm, wie harmonisch, andererseits fungiert der Verbalisierer -ier (inkl. -isier, -ifizier) als Integrierer, da er fremde Stämme mit nativen Flexionsmorphemen kombiniert. Insofern ist es alles andere als überraschend, dass sich die entlehnten Verben ihrer internen Struktur nach danach unterscheiden lassen, ob sie mit -ier-Suffix (inkl. Varianten -isierbzw. -ifizier-) oder ohne Suffix (Stämme auf -ern, -eln oder -n) gebildet werden. wenn sie mit nicht-nativen Verben auf -ier verknüpft werden, wie beispielsweise in èntakzèntuíeren oder èntdemokràtisíeren. Anke Holler 402 Im Weiteren setze ich Eisenbergs Integrationsmodell voraus und gehe entsprechend davon aus, dass Integrationsprozesse symmetrisch verlaufen. 2.2 Integrationsoptionen für die Argumentstruktur nicht-nativer Verben In Anbetracht der soeben dargestellten möglichen Integrationsprozesse eröffnet sich die Frage, ob und inwieweit die Argumentstruktur nicht-nativer Verben nativen Argumentstrukturmustern und -regularitäten folgt. Drei Hypothesen sind prinzipiell denkbar: Nach einer Hypothese H1 verhielten sich nicht-native Verben bezüglich ihrer Argumentstruktur wie die jeweiligen Äquivalente der jeweiligen Gebersprache. Es handelt sich bei H1 gewissermaßen um die Nullhypothese, da sie keine Integrationseffekte vorhersagt. Die alternative Hypothese H2 setzt hingegen eine vollständige Integration an, indem sie besagt, dass sich nicht-native Verben bezüglich ihrer Argumentstruktur wie native Verben des Deutschen verhalten und in jeder Hinsicht den kerngrammatischen Mustern und Bedingungen der Nehmersprache folgen. Hypothese H3 geht von einer partiellen Integration nicht-nativer Verben aus und trägt damit dem in Abschnitt 2.1 thematisierten graduellen Charakter von Integrationsprozessen Rechnung: Nicht-native Verben verhalten sich bezüglich ihrer Argumentstruktur teils wie native Verben, teils bilden sie eigene argumentstrukturelle Muster als stabile Epizentren aus. Die genannten Hypothesen wurden in einer korpusbasierten Pilotstudie von Holler/ Scherer (2010) empirisch geprüft. Bevor ich im folgenden Abschnitt die Ergebnisse dieser Studie genauer vorstelle, sei vorab angemerkt, dass die Hypothese H1, die von einer vollständigen Isolation nicht-nativer Verben im deutschen Wortschatz ausgeht, sofort verworfen werden kann. Dafür sprechen folgende drei Gründe: Zum Ersten gibt es im Deutschen Verben wie netsurfen, die keine Vorlage in einer Gebersprache haben. Zum Zweiten existieren im Deutschen aber auch Verben wie campen/ campieren, chloren/ chlorieren mit potenziellen Vorlagen in mehreren Gebersprachen, was beispielsweise auch durch die vorhandenen Doubletten (die jeweils identische Argumentstrukturen aufweisen) deutlich wird. Zum Dritten sind auch in den Fällen, wo nachweislich nur eine Gebersprache in Frage kommt, mitunter morphologische Prozesse nötig, um die nicht-nativen Verben zu bilden. So sind beispielsweise computern und firmieren nicht-native Verben, die Grammatik und Integration 403 durch Wortbildungsprozesse aus nominalen Einheiten abgeleitet wurden. Dies spricht klar gegen eine komplette Isolation nicht-nativer Verben im deutschen Wortschatz. Evidenz gegen H1 ergibt sich schließlich auch aus den beobachtbaren Unterschieden zwischen Geber- und Nehmersprache bzgl. der Transitivität. Diesen Bereich hat Scherer (2007) ausführlich untersucht und dabei gezeigt, dass sich Verben wie mailen finden lassen, die im Deutschen transitiv und intransitiv verwendet werden können, obwohl das Pendant to mail in der Gebersprache Englisch nur transitiv gebraucht werden kann. Dies wäre ohne die Annahme, dass Integrationsprozesse stattgefunden haben, nicht zu erklären. 3. Argumentstrukturmuster nicht-nativer Verben Im Folgenden werden anhand der Ergebnisse der von Holler/ Scherer (2010) durchgeführten korpusbasierten Pilotstudie verschiedene empirische Fakten bzgl. der morpho-syntaktischen und semantischen Eigenschaften nicht-nativer Argumentstrukturen vorgestellt und im Vergleich zu nativen Argumentstrukturen bewertet. 3.1 Ergebnisse der Pilotstudie von Holler/ Scherer (2010) In der von Holler/ Scherer (2010) durchgeführten korpusbasierten Pilotstudie wurde die Argumentstruktur nicht-nativer suffigierter und nicht-suffigierter Verben systematisch empirisch analysiert. Das methodische Vorgehen lässt sich folgendermaßen umreißen: Für eine Stichprobe von insgesamt 40 nicht-nativen Verben der Alphabetstrecke C-G aus dem DUDEN- Fremdwörterbuch (2007) (20 Verben mit -ieren bzw. -isieren/ -ifizieren-Suffix; 20 Verben auf -n bzw. -eln/ -ern) wurden je 20 Belege aus den Korpora des Instituts für Deutsche Sprache (www.ids-mannheim.de/ DeReKo) extrahiert und argumentstrukturell annotiert. Dazu wurden in jedem Beleg manuell die syntaktischen Phrasentypen (NP[<Kasus>], PP[<Präposition>] etc.) sowie die semantischen Rollen ( agens , patiens , experiencer , r rezipient , benefaktiv , quelle , ziel , lokativ , zeit ) ausgezeichnet. Die untersuchten Verben der ersten Gruppe (mit Suffix) sind in (1), die untersuchten Verben der zweiten Gruppe (ohne Suffix) sind in (2) aufgeführt: (1) campieren, changieren, chargieren, choreographieren, christianisieren, codieren, collagieren, dämonisieren, datieren, debattieren, debütieren, Anke Holler 404 dechiffrieren, decodieren, decouvrieren, defilieren, definieren, deformieren, degenerieren, degradieren, degustieren (2) campen, canceln, chartern, chatten, checken, coachen, covern, dealen, designen, dolmetschen, dopen, dribbeln, faxen, fighten, finishen, firmen, flirten, floaten, gondeln, grillen Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass bestimmte Typen und Tokens unberücksichtigt blieben. So wurden Partikelverben wie andocken oder einchecken ebenso ausgeschlossen wie Verben, die weniger als 20 auswertbare Belege lieferten. Zu den nicht-ausgewerteten Tokens zählten Belege, die keine vollständige Argumentstruktur aufwiesen, wie z.B. infinite Formen oder Imperative, und Belege, bei denen zusätzliche Einflüsse auf die Argumentstruktur nicht auszuschließen waren, wie z.B. Passivkonstruktionen, Modalverbkonstruktionen und sog. ‘small clauses’. Tabelle 1 fasst die in Holler/ Scherer (2010) ermittelten Argumentstrukturen hinsichtlich der morpho-syntaktischen Kategorisierung der Argumente zusammen. Falls für ein Verb mehrere Argumentstrukturen identifiziert wurden, ist jeweils die dominante Variante in die Berechnung eingegangen. Morpho-syntaktische Kategorisierung der Argumente Gesamt Anteil NP [nom] 3 7,5 % NP [nom] + NP [akk] 19 47,5 % NP [nom] + PP 12 30 % NP [nom] + NP [akk] + NP [dat] 1 2,5 % NP [nom] + NP [akk] + PP 4 10 % NP [nom] + PP + PP 1 2,5 % Verben gesamt 40 100 % Tab. 1: Morpho-syntaktische Argumentstrukturmuster nicht-nativer Verben Die in Tabelle 1 dargestellten Ergebnisse, die die morpho-syntaktischen Aspekte der Argumentstruktur betreffen, zeigen, dass alle nichtnativen Verben eine Nominalphrase im Nominativ regieren, die zudem in allen Fällen obligatorisch realisiert wird. Etwa zwei Drittel der zweistelligen Verben fordern eine weitere Nominalphrase im Akkusa- Grammatik und Integration 405 tiv. Etwa ein Drittel der untersuchten Verben realisieren neben der Nominalphrase eine Präpositionalphrase. Auffällig ist, dass Verben, die mit einer Dativ-Nominalphrase vorkommen, im Vergleich zum nativen Wortschatz (vgl. Primus 1999; Mater 1971) unterrepräsentiert sind. Im Rahmen der Pilotstudie war eine Nominalphrase im Dativ nur beim Kommunikationsverb faxen zu beobachten. Verben wie collagieren, datieren oder degradieren, die in bestimmten Lesarten drei Argumente regieren, nehmen im Normalfall neben Nominalphrasen in Nominativ und Akkusativ eher eine Präpositionalphrase, z.B. jmd. datiert etw. auf. ff Tabelle 2 fasst die ermittelten semantischen Selektionseigenschaften der untersuchten nicht-nativen Verben zusammen. Semantische Rollen Gesamt Anteil Agens 2 5 % Agens + Patiens 21 52,5 % Agens + Lokativ/ Ziel 5 12,5 % Agens + Benefaktiv 2 5 % Agens + Patiens + Rezipient/ Benefaktiv 2 5 % Agens + Patiens + Quelle/ Ziel 3 7,5 % Agens + Patiens + Zeit 1 2,5 % Patiens 1 2,5 % Patiens + Quelle/ Ziel 2 5 % Patiens + Zeit 1 2,5 % Verben gesamt 40 100 % Tab. 2: Semantische Argumentstrukturmuster nicht-nativer Verben Wie Tabelle 2 zu entnehmen ist, wird die agens -Rolle von 90% der untersuchten Verben realisiert und ist somit die am häufigsten vergebene Rolle. Die patiens -Rolle wird von 77,5% der Verben realisiert. Eine Kombination der beiden Rollen findet sich bei 67,5% der Verben. Auffällig ist, dass die Rolle des experiencers bei den untersuchten Verben gar nicht, die des benefaktivs nur selten auftritt, und zwar nur bei den Verben faxen, dolmetschen und firmen. Anke Holler 406 Angesichts der beschriebenen Kasusmuster überrascht es nicht, dass einstellige Verben ihrem Argument überwiegend die agens -Rolle zuweisen. Zweistellige Verben folgen in der thematischen Markierung ihrer Argumente dem agens-patiens -Muster. Dreistellige Verben selegieren zudem meistens ein Argument, das die Rolle der quelle bzw. des ziels zugewiesen bekommt. Dies geht konform mit der oben dargestellten Beobachtung, dass dreistellige Verben eher Präpositionalkasus als Dativ realisieren. Untersucht man die Linking-Beziehungen genauer, bestätigt sich, dass die Dominanz des Nominativbzw. des Nominativ-Akkusativ-Kasusmusters mit der Dominanz des agens bzw. des agens-patiens -Musters in Beziehung steht, denn 90% aller Nominalphrasen im Nominativ tragen die agens -Rolle und 96% aller Nominalphrasen im Akkusativ die patiens -Rolle. Hinsichtlich des Präpositionalkasus hingegen ergibt sich ein differenzierteres Bild. Nur etwa die Hälfte der identifizierten Präpositionalphrasen fungiert tatsächlich als Präpositionalobjekt. Beispiele hierfür sind chartern [von/ bei], changieren [zwischen], dealen [mit], dolmetschen [für [[ ], fighten [um], flirten [mit], debattieren [über], degenerieren [zu] oder degradieren [zu]. Die übrigen identifizierten Präpositionalphrasen haben adverbiale Funktion. Bemerkenswert ist, dass davon etwa ein Drittel obligatorisch realisiert wird, wobei das Adverbial sortal anscheinend nicht restringiert ist. 3 Es ist nicht vollkommen auszuschließen, dass die dargestellten Ergebnisse stichprobenbedingt sind, zumal einige nicht-native Psych-Verben wie z.B. deprimieren, dissen oder faszinieren nicht in der Stichprobe enthalten waren. Dagegen spricht dennoch, dass Wolff (2009) in einer Studie zu 15 zufällig ausgewählten Verben der Lemmastrecke C-P die Ergebnisse replizieren und zudem für Kommunikationsverben wie mailen, faxen und chatten eine Überlegenheit des Präpositionalkasus gegenüber Dativ (bzw. Akkusativ) in der Vorkommenshäufigkeit ermitteln konnte. Auch wenn es denkbar ist, dass man mit einer anderen Verbauswahl partiell zu einem anderen Detailergebnis kommt, gibt es gute Gründe für die Annahme, dass das Gesamtbild nicht revidiert werden muss. 3 Berücksichtigt wurde wiederum nur die dominante Lesart. Grammatik und Integration 407 3.2 Vergleich der Argumentstrukturmuster nativer und nicht-nativer Verben Primus (1999) ermittelt für native Verben des Deutschen empirisch anhand von Mater (1971) optimale Kasusrektionsmuster. Demnach präferieren einstellige Verben den Nominativ, zweistellige Verben Nominativ und Akkusativ und dreistellige Verben weisen eine Präferenz für die Kombination Nominativ, Akkusativ, Dativ auf, gefolgt von der Kombination Nominativ, Akkusativ, Präpositionalkasus. Im Zuge dieser Beobachtungen leitet Primus (1999) die in (3) aufgeführte Kasushierarchie nativer Verben ab: (3) Nominativ > Akkusativ > Dativ > Präpositionalkasus. Darüber hinaus gilt für native Verben des Deutschen das Nominativgebot, das Primus (1999, S. 140) wie folgt formuliert: „Jedes Verb mit voll realisierten Rektionsforderungen seines lexikalischen verbalen Kopfes hat ein ggf. fakultatives Nominativargument.“ 4 Nach dem Distinktheitsgebot für Rektionskategorien sind Muster mit doppeltem Kasus auch bei formal optimaler Verteilung selten. Diesem Gebot folgen die Verben des deutschen Kernwortschatzes. Vgl. hierzu Primus (2012). Analog zur Kasushierarchie werden für native Verben üblicherweise Hierarchien semantischer Rollen angesetzt und Linking-Bedingungen formuliert, die diese Hierarchien zueinander in Beziehung setzen. In (4) sind zwei gängige Vorschläge dargestellt, die allerdings in der genauen Einordnung der experiencer / rezipient / benefaktiv -Rollen variieren: (4) agens > experiencer / rezipient / benefaktiv > patiens > ... (Primus 2012) agens > patiens > rezipient > ... (Berman/ Pittner 2004) Die Hierarchien in (3) und (4) bilden eine geeignete Grundlage für den Vergleich der morpho-syntaktischen bzw. semantischen Argumentstruktureigenschaften nativer und nicht-nativer Verben. 4 Primus merkt an gleicher Stelle an, dass auch Konstruktionen wie mich friert oder mir ist kalt dem Nominativgebot folgen, da sie die Variante es friert mich oder mir ist es kalt aufweisen. Anke Holler 408 In syntaktischer Hinsicht lassen sich auf der Basis der in 3.1 vorgestellten Daten zunächst drei empirische Fakten formulieren. Empirischer Fakt 1: Nicht-native Verben folgen nativen Verben (i) in der Präferenz des Nominativs für einstellige Verben, (ii) in der Präferenz des Nominativ-Akkusativ-Kasusmusters für zweistellige Verben und (iii) im Nominativ-Akkusativ-Präpositionalkasus-Muster für dreistellige Verben 5 sowie (iv) in der Beachtung des Nominativgebots und des Distinktheitsgebots für Kasuskategorien. Empirischer Fakt 2: Nicht-native Verben weichen von nativen Verben in zwei jeweils den Dativ betreffenden Aspekten entscheidend ab: (i) Argumente im Dativ werden nahezu nie realisiert, insbesondere kommt das Kasusmuster Nominativ-Akkusativ-Dativ bei dreistelligen nichtnativen Verben nur äußerst selten vor; (ii) bei zweistelligen Verben wird neben dem Muster Nominativ-Akkusativ das Muster Nominativ-Präpositionalkasus häufig realisiert, nicht aber das Muster Nominativ-Dativ. Empirischer Fakt 3: Für die untersuchte Stichprobe nicht-nativer Verben lässt sich folgende Kasushierarchie ableiten: Nominativ > Akkusativ > Präpositionalkasus. In semantischer Hinsicht führt der Vergleich zwischen den Argumentstrukturen nativer und nicht-nativer Verben zu drei weiteren empirischen Fakten: Empirischer Fakt 4: Nicht-native Verben folgen nativen Verben in der Dominanz der Realisierung von Argumenten, denen die semantischen Rollen agens und patiens zugewiesen sind. Die für native Verben typische Linking-Bedingung, wonach die Rollen agens und patiens 5 Primus (1999) stellt für dreistellige Verben im Deutschen zwei häufig vorkommende Argumentstrukturmuster fest: Nominativ-Akkusativ-Dativ und Nominativ- Akkusativ-Präpositionalkasus. Da das letztgenannte Muster aber weniger häufig vorkommt als das erstgenannte, folgt der Präpositionalkasus dem Dativ in der Kasushierarchie. Grammatik und Integration 409 präferiert als Nominativ bzw. Akkusativ realisiert werden, gilt auch für nicht-native Verben. Empirischer Fakt 5: Nicht-native Verben weichen hinsichtlich der Realisierung von Argumenten, denen die semantische Rolle rezipient bzw. benefaktiv zugewiesen ist, von nativen Verben ab. Die Rollen rezipient bzw. benefaktiv sind bei nicht-nativen Verben unterrepräsentiert, zugleich werden die Rollen lokativ , quelle und ziel bei nicht-nativen Verben verstärkt realisiert. Empirischer Fakt 6: Für die untersuchte Stichprobe nicht-nativer Verben lässt sich folgende Hierarchie der zugewiesenen semantischen Rollen ableiten: agens > patiens > lokativ / quelle / ziel . Interessant ist zu fragen, woraus die empirischen Fakten 2 und 3 bzw. 5 und 6, die jeweils Unterschiede zwischen nativen und nicht-nativen Verben festhalten, resultieren. Diese Frage ist wegen der zu kleinen Datenbasis, die bisher untersucht werden konnte, an dieser Stelle sicher nicht abschließend zu klären. In einem ersten Schritt lassen sich aber verschiedene mögliche Denkansätze hinsichtlich ihrer Plausibilität prüfen. Die Fakten 2 und 3, die die morpho-syntaktischen Aspekte thematisieren, könnten mit Bezug auf das Konzept der Markiertheit zu erklären versucht werden. Demnach bevorzugten nicht-native Verben unmarkierte Kasus und Kasusmuster. Da der Dativ im Deutschen im Gegensatz zum Nominativ und Akkusativ ein morphologisch markierter Kasus ist, wäre sowohl die bei nicht-nativen Verben beobachtbare Nominativ-Akkusativ-Präferenz erklärbar als auch die Tatsache, dass Nominativ-Akkusativ-Dativ bzw. Nominativ-Dativ de facto nicht vorkommen. Diese Annahme passte auch zu der Argumentation von Jacobs (2003), der das Muster Nominativ-Dativ als eine markierte kategoriale Valenz einstuft. Offen bliebe allerdings, warum das Muster Nominativ-Präpositionalkasus bei nicht-nativen Verben häufiger vorkommt als das Muster Nominativ-Dativ, obwohl es im Vergleich zu Nominativ-Dativ nicht weniger markiert ist. Anke Holler 410 Aus diesem Grund ist statt der Markiertheit die Optimalität der Kasusmuster möglicherweise besser zur Erklärung der beobachteten Fakten geeignet. Nach dieser Sichtweise folgen nicht-native Verben optimalen Kasusmustern gemäß dem von Primus (1994, zitiert nach Primus 1999, S. 137) formulierten universalen formalen Rektionsprinzip in (5). (5) Für beliebige Sprachen S, beliebige Hierarchien von Rektionssubkategorien (z.B. Kasus-Subkategorien) gilt im optimalen Fall: (a) Die Selektion einer rangniedrigeren Rektionssubkategorie impliziert asymmetrisch die Selektion (mindestens) einer ranghöheren Rektionssubkategorie. (b) Je höher die Rektionssubkategorie auf der Hierarchie von S rangiert, um so eher wird sie selegiert. Diese Erklärungsvariante wirft allerdings das Problem auf, dass aus Klausel (b) folgt, dass das Muster Nominativ-Dativ optimaler ist als das Muster Nominativ-Präpositionalkasus und das Muster Nominativ-Akkusativ-Dativ optimaler als das Muster Nominativ-Akkusativ- Präpositionalkasus. Die empirischen Beobachtungen ergeben für die nicht-nativen Verben aber eher das umgekehrte Bild. Bleibt als dritte Erklärungsmöglichkeit auf native Sprachwandelprozesse zu rekurrieren. Die Grundannahme wäre dann, dass nicht-native Verben generellen Veränderungsprozessen bei nativen Verben folgen. Primus (1999) zeigt für native Verben, dass einige verbregierte Präpositionen in die Funktionsdomäne des Akkusativs eingreifen. Mit diesem Ansatz wäre die hohe Frequenz des Nominativ-Präpositionalkasus-Musters letztlich zurückführbar auf eine Präferenz des Nominativ-Akkusativ-Musters. 6 Außerdem argumentiert Primus (ebd.), dass Präpositionen in der Kasushierarchie generell höher eingestuft werden müssten als der Dativ. Wenn das richtig ist, ist eine Überlegenheit des Musters Nominativ-Akkusativ-Präpositionalkasus gegenüber dem Muster Nominativ-Akkusativ-Dativ erwartbar. Dies würde zudem einer von Korhonen (2003) beschriebenen allgemeinen Sprachwandeltendenz, wonach Kasuskonstruktionen durch Präpositionalkonstruktionen ersetzt werden, entsprechen. Die Präferenzen der Muster 6 Den Herausgeberinnen und Herausgebern verdanke ich den wichtigen Hinweis, dass umgekehrt auch eine Einflussnahme der nicht-nativen Muster auf die nativen denkbar wäre, wenn man Eisenbergs symmetrisches Integrationsmodell voraussetzt. Grammatik und Integration 411 Nominativ-Präpositionalkasus bzw. Nominativ-Akkusativ-Präpositionalkasus folgten dann unmittelbar. Es ist notorisch schwierig, empirisch zwischen den verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten zu differenzieren, zumal zu vermuten ist, dass alle drei genannten Gründe, d.h. Markiertheit, Optimalität und Tendenzen des nativen Sprachwandels, die Herausbildung der nicht-nativen Argumentstrukturen beeinflussen. Dies wiederum stärkt die Sicht, dass sich die Integration nicht-nativer Einheiten symmetrisch vollzieht. Die Erklärung für die Fakten 5 und 6, die semantische Aspekte der Argumentstruktur sowie das Linking betreffen, steht in Beziehung zur Erklärung für die Fakten 2 und 3. Die Tatsache, dass die Rollen experiencer , r rezipient und benefaktiv bei nicht-nativen Verben deutlich seltener vorkommen als bei nativen, was u.a. eine Verschiebung in der Hierarchie der zugewiesenen semantischen Rollen bei nicht-nativen Verben nach sich zieht, ist vermutlich ein Epiphänomen der durch Fakt 2 festgehaltenen Situation, dass der Dativ in den Kasusmustern unterrepräsentiert ist. Daher ist die Default-Zuordnung der Rolle rezipient bzw. benefaktiv zu einer Nominalphrase im Dativ nicht möglich. (Vgl. Wunderlich 1985 und Primus 2012 zur Abbildung syntaktischer und semantischer Hierarchien.) Insofern verwundert es nicht, dass die benefaktiv -Rolle vereinzelt von Nominalphrasen im Akkusativ (z.B. firmen) oder Präpositionalphrasen (z.B. dolmetschen/ fighten PP[für]) realisiert wird. Ein weiterer Grund für die Seltenheit der rezipient -Rolle könnte darin liegen, dass diese Rolle generell für nicht-native Verben schwerer zugänglich ist, weil sie komplexer ist als die Rollen agens , patiens oder lokativ , quelle und ziel unter der Annahme, dass die rezipient -Rolle als ein Fall hybrider Rollenkumulation ( proto agens plus proto patiens ) analysiert wird. 4. Argumentstrukturelle Integration? Die dargestellte Faktenlage erlaubt die Schlussfolgerung, dass eine Integration der Argumentstruktur nicht-nativer Verben in die native Kerngrammatik hinsichtlich der Bevorzugung der Nominativ-Akkusativ-Kasusmuster und hinsichtlich des Nominativ- und Distinktheitsgebots stattgefunden hat. Im Bereich der semantischen Rollen spricht die agens bzw. agens patiens -Dominanz ebenfalls dafür, dass nicht-native Verben integriert sind, was jedoch nicht überrascht, wenn Anke Holler 412 man in Betracht zieht, dass die betroffenen Verben in der Regel auch in der Gebersprache diese Rollenverteilung aufweisen. Darüber hinaus ergab sich Evidenz für die Gültigkeit der Linking-Bedingungen des Deutschen auch für nicht-native Verben. Demgegenüber stehen Integrationskonflikte, die zu konstatieren sind. So hat sich in Bezug auf den Dativ herausgestellt, dass nicht-native Verben den Kasuspräferenzgesetzen des Deutschen, wie sie in der Kasushierarchie in (3) festgehalten sind, nicht uneingeschränkt folgen. Insofern scheint es plausibel, in diesem Bereich von der Herausbildung eines Epizentrums im Sinne von Eisenberg (2001, 2011) auszugehen. Nach den durch die Pilotstudie ermittelten Daten zu urteilen, sind drei strukturelle Charakteristika des Epizentrums identifizierbar: Erstens ist im Epizentrum die kerngrammatische Kasusrangfolge Dativ-Präpositionalkasus wahrscheinlich gewendet in die Abfolge Präpositionalkasus-Dativ. Dies könnte beispielsweise durch die Gebersprachen mit verursacht sein. Zweitens scheint der Dativ bei nicht-nativen Verben als struktureller Kasus (Wegener 1985) nicht zugänglich zu sein, sondern nur als semantischer Kasus. Und drittens ist die Dativ- Valenzerweiterung um benefaktive (vgl. Jacobs 2003) für nicht-native transitive Verben offenbar blockiert, weswegen die jeweilige Lesart ohne Dativ als die weniger markierte Variante erscheint. Damit lässt sich insgesamt das Fazit ziehen, dass nicht-native Verben argumentstrukturell kaum fremd sind, sie weisen einen hohen Integrationsgrad auf. Dennoch liegt aber keine vollständige Integration nicht-nativer Verben bzgl. ihrer Argumentstruktur in die Kerngrammatik des Deutschen vor. Daher scheint die Faktenlage die eingangs formulierte Hypothese H3, die von einer partiellen Integration ausgeht, zu bestätigen. Nicht-native Verben verhalten sich bzgl. ihrer Argumentstruktur teils wie native Verben, teils bilden sie eigene argumentstrukturelle Muster als stabile Epizentren aus. Zudem bestätigt der Vergleich der Argumentstruktur nativer und nicht-nativer Verben Eisenbergs (2001, 2011) Annahme, dass Integrationsprozesse symmetrisch ablaufen, d.h. grammatische Eigenschaften und Restriktionen der Geber- und der Nehmersprache interagieren. Der Vollständigkeit halber soll noch einmal erwähnt werden, dass nicht vollkommen auszuschließen ist, dass die vorgestellten Ergebnisse ein Artefakt einer (zu) kleinen Stichprobe sind. So könnte die Absenz des Dativs letztlich eine Folge dessen sein, dass zu wenige Transferverben in Grammatik und Integration 413 der Stichprobe enthalten waren. Zwar gibt es Argumente, die die hier vertretene These stützen. So realisiert (i) float als typisches Transferverb mit Dativalternation im Englischen in allen 20 Belegen der Stichprobe eine Nominalphrase im Nominativ, die die Rolle patiens trägt, und zeigt (ii) Scherer (2007) für das Verb mailen eine Nominativ-Akkusativ- Präferenz sowie die Dominanz des Präpositionalkasus gegenüber Dativ. Dennoch muss in einer Folgestudie die Zahl der untersuchten Verben erhöht und zugleich bei der Auswahl der Verben die Zugehörigkeit zu den Verbklassen kontrolliert werden. Dies sollte verbunden werden mit qualitativen Korpusauswertungen, die theoriegeleitet den Zugang nicht-nativer Verben zu nativen Argumentstrukturveränderungen wie Diathesen, Valenzalternationen oder Argumenterweiterungen untersuchen. Dies ist aussichtsreich, weil valenzverändernde grammatische Verfahren hinsichtlich der Regularitäten und des Umfangs in den Einzelsprachen variieren. Inwieweit nicht-native Verben hierbei Mustern der Geber- oder der Nehmersprache folgen, kann daher weitere Auskunft über den Grad der Integration in die Kerngrammatik bzw. über die Ausbildung weiterer Epizentren geben. Beispielsweise wäre es aufschlussreich, systematisch zu ermitteln, ob nicht-native Verben stets in die deutsche Medialkonstruktion eintreten oder unter bestimmten Bedingungen das Muster der Gebersprache (z.B. der ‘middle alternation’ im Englischen, vgl. Levin 1993) beibehalten. Dafür ist empirisch zu klären, ob die in (6a) und (6b) für das Verb coachen exemplarisch aufgeführte Alternation regelmäßig zu beobachten ist: (6) a. Otto coachte die griechische Mannschaft. b. Die griechische Mannschaft coachte sich gut. Naheliegend ist auch die Annahme, dass Verbalternationen der Gebersprache regelhaft in Alternationen der Nehmersprache übertragen werden. Wenn das nachgewiesen werden kann, ergibt sich ein weiterer Erklärungsansatz für die Präferenz des Präpositionalkasus gegenüber dem Dativ. (7a) und (7b) illustrieren die sog. Dativ-/ Benefaktivalternation des Englischen. (8a) und (8b) übertragen diese Alternation auf das nicht-native Verb faxen im Deutschen. (7) a. Martha faxed John a letter. b. Martha faxed a letter to John. Anke Holler 414 (8) a. Martha faxte Johann einen Brief. b. Martha faxte einen Brief an Johann. Es ist zu erwarten, dass diese und weitere argumentstrukturelle Eigenschaften der Gebersprachen bei der Integration nicht-nativer Verben eine wichtige Rolle spielen. Um darüber Gewissheit zu erlangen, sollten entsprechende nicht-native Verben in großer Zahl untersucht werden. 5. Zusammenfassung Ausgehend von Eisenbergs symmetrischem Modell der graduellen Integration wurde argumentiert, dass nicht-native Verben hinsichtlich ihrer Argumentstruktur nur partiell in die deutsche Kerngrammatik integriert sind und strukturelle Epizentren in Bezug auf die verwendeten Kasusmuster und die regierten semantischen Rollen herausbilden. Anhand der empirischen Ergebnisse einer korpusbasierten Pilotstudie von Holler/ Scherer (2010) konnte gezeigt werden, dass sich sowohl die Kasushierarchie als auch die Hierarchie der semantischen Rollen nichtnativer Verben systematisch von den entsprechenden Hierarchien nativer Verben unterscheiden. Wesentliche Gründe dafür sind, dass der Dativ bei nicht-nativen Verben unterrepräsentiert ist und stattdessen der Präpositionalkasus präferiert wird. Zudem wird die semantische Rolle rezipient kaum realisiert. Zugleich wurde herausgearbeitet, dass nicht-native Verben wesentlichen argumentstrukturellen Restriktionen nativer Verben folgen. Insofern liefert die Art und Weise der Übernahme der Argumentstruktur fremder Verben in den deutschen Kernwortschatz Evidenz für die Annahme, dass der Integrationsprozess bidirektional ist bzw. symmetrisch verläuft. Die dargestellten Untersuchungen stellen nur einen ersten Schritt dar und werden nach weiteren theoriegeleiteten Kriterien fortgesetzt werden müssen. Dabei sollten insbesondere quantitative und qualitative Aspekte zur Bestimmung des Grades der Integration nicht-nativer Einheiten zusammengeführt werden. Grammatik und Integration 415 Literatur Ágel, Vilmos/ Eichinger, Ludwig M./ Eroms, Hans Werner/ Hellwig, Peter/ Heringer, Hans Jürgen/ Lobin, Henning (Hg.) (2003): Dependenz und Valenz / Dependency and valency. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung / An international handbook of contemporary research. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft / Handbooks of Linguistics and Communication Science (HSK) 25). Berlin/ New York. 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MARIO FRANCO BARROS ELLIPSEN UND ANDERE NÄHEMERKMALE IN DER SPRACHE MODERNER MEDIEN 1 1. Anliegen Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Ellipse als Nähemerkmal in der privaten E-Mail-Kommunikation. Um dem Rahmenthema des Sammelbandes Rechnung zu tragen, stehen die Fälle im Mittelpunkt dieses Beitrages, in denen die valenzgebundenen Elemente des verbalen Valenzträgers nicht realisiert werden. Andere Ellipsentypen werden daher nur am Rande erläutert. Obwohl die E-Mail-Kommunikation wie die Briefkommunikation medial schriftlich ist, geht diese Studie von der Hypothese aus, dass die E-Mail-Kommunikation mehr Merkmale der gesprochenen Sprache/ Mündlichkeit aufweist als die Briefkommunikation. Diese Studie versucht zu beweisen, dass die tendenziell mündliche „Konzeption“ (Söll 1985, S. 19) der E-Mail der Grund dafür ist. Es soll hier untersucht werden, ob in der geschriebenen E-Mail-Kommunikation, ähnlich wie in der gesprochenen Sprache, auch Verbergänzungen ausgelassen werden, etwa bei dialogischen Bezugnahmen auf vorhergehende Sätze (z.B. Frage-Antwort-Sequenzen), bei der Verwendung von Zeigwörtern und Ellipsen im metaphorischen E-Mail-Raum (visuelle Benutzeroberfläche des E-Mail-Programmes) oder in einem realen Raum, der für beide Kommunikationspartner bekannt ist (z.B. der Ort, an dem der Sprecher seine Mails tippt), bei der Benutzung von kurzen syntaktischen Strukturen usw. Für die Beschreibung der Phänomene werde ich authentische Belege analysieren und mich dabei auf ein Arbeitskorpus stützen, das ich für meine Dissertation erstellt habe. Das Korpus besteht aus 51 Privatbriefen (20.157 Wörter) und 102 privaten E-Mails (16.904 Wörter), die mir vor allem Germanistikstudenten 2 der Universitäten Bochum und Hannover zur Verfügung gestellt haben. Das Korpus hat folglich insgesamt einen Umfang von ca. 37.520 Text- 1 Dieser Artikel ist eine aktualisierte Fassung des Tagungsvortrags. Er ist im Rahmen des durch Drittmittel geförderten Forschungsprojektes DICONALE (Diccionario Conceptual del Alemán y Español) entstanden (Subprograma de Proyectos de Investigación Fundamental no Orientada: FFI-2012-32658. Ministerio de Economía y Competitividad. Secretaría de Estado de Investigación, desarrollo e Innovación). 2 Verfasser: 64,7% weiblich, 35,3% männlich. Mario Franco Barros 418 wörtern. Ich bin mir dessen bewusst, dass dieses Korpus nur einen bescheidenen Umfang hat, dennoch glaube ich mit Scherer, dass „bereits ein Korpus mit zehn- oder zwanzigtausend Textwörtern verlässliche Auskunft über die zu untersuchende Fragestellung geben [kann]“ (Scherer 2006, S. 7). Das Briefkorpus besteht aus fast allen Briefen, die mir zur Verfügung gestellt worden sind. Das E-Mail-Korpus beschränkt sich hingegen nur auf eine Auswahl aus den insgesamt 300 zur Analyse benutzten Texten. Es wurden dabei vor allem solche ausgewählt, die in Beziehung zu jeweils anderen standen und deren Autoren durch regelmäßigen Austausch verbunden waren. Kurze kontextlose E-Mails wurden nicht mit einbezogen. In Abschnitt 2 wird der Begriff ‘Ellipse’ nach unterschiedlichen Kriterien beleuchtet. In Abschnitt 3 werden zwei „Nähe- und Distanzmodelle“ (Koch/ Oesterreicher 2010 und Ágel/ Hennig (Hg.) 2006) und die in diesem Kontext wichtige Unterscheidung von konzeptioneller und medialer Mündlichkeit vorgestellt. Ausgehend von dem Modell von Ágel/ Hennig werden in Abschnitt 4 die verwendeten Belege analysiert und abschließend in Abschnitt 5 die Analyseergebnisse vorgestellt und erläutert. 2. Definition Ellipse Man kann zwischen einer syntaktischen und einer pragmatischen Perspektive unterscheiden und folgende Klassifikation vornehmen: syntaktische Perspektive pragmatische Perspektive Busler/ Schlobinski (1997) Ellipse Sprechhandlung Bußmann (2002) Ellipse - Engel (2004) Ellipse - Hoffmann (1997) Analepse / Katalepse situative, empraktische Ellipse Klein (1993) kontextkontrollierte Ellipse kontextabhängige Ellipse Rath (1979) und Selting (1997) Konstruktionsübernahme Eigenkonstruktion Schwitalla (2006) Analepse Ellipse im engeren Sinne Tab. 1: Ellipse Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien 419 Den weiteren Überlegungen wird die Perspektive von Hoffmann (1997) und Schwitalla (2006) bezüglich der ‘Ellipse’ zu Grunde gelegt, d.h. Koordinationsellipsen wie Analepsen und Katalepsen werden nicht als Ellipsen im engeren Sinne verstanden. Sie sind integrative Strukturen und daher keine aggregativen nähesprachlichen Phänomene. Bei Hoffmanns Definition steht die pragmatische Perspektive im Zentrum. Die Ellipse wird in der gemeinsamen Sprechsituation von Sprecher und Hörer mitverstanden. Sie ist eine Minimaleinheit in mündlichen oder schriftlichen kommunikativen Praktiken. 3 3. Nähe und Distanz 3.1 Nähe- und Distanzmodelle Im Hinblick auf die Tatsache, dass oft medial geschriebene kommunikative Praktiken prototypische Merkmale der gesprochenen Sprache aufweisen (und umgekehrt), arbeiten Koch/ Oesterreicher ausgehend von Sölls (1985, S. 19) Unterscheidung zwischen Medium und Konzeption das Nähe- und Distanzmodell in ihrem Buch „Gesprochene Sprache in der Romania“ (2011) aus. Koch/ Oesterreicher heben an Sölls doppelter Unterscheidung hervor, dass der phonisch/ graphische Code als eine „Dichotomie“ zu verstehen ist, während die konzeptionelle Ebene gesprochen/ geschrieben ein Kontinuum mit unterschiedlichen Abstufungen und den Polen „Sprache der Nähe“ bzw. „Sprache der Distanz“ darstellt. Auf dem Nähe- und Distanzmodell von Koch/ Oesterreicher basierend erarbeiten Ágel/ Hennig (Hg.) (2006) ein neues universelles Modell des Nähe- und Distanzsprechens. Dieses Modell arbeitet mit fünf hierarchisch gegliederten Ebenen. Das „Universale Axiom“ für das Nähesprechen lautet nach Ágel/ Hennig (2006a, S. 13) „Raumzeit P = Raumzeit R“ 4 und bildet die erste Ebene. Die anderen vier Ebenen sind „Universale Parameter der Kommunikation“, „Universale Parameter der Diskursgestaltung“, „Universale Diskursverfahren“ und „Universale Diskursmerkmale“. Diesen vier auf dem Axiom aufbauenden Ebe- 3 Im Unterschied zum Begriff „Textsorten“ beziehen sich „kommunikative Praktiken“ sowohl auf schriftliche als auch auf mündliche Kommunikationsformen (siehe Fiehler 2005, S. 1180f.). 4 P: Produktion, R: Rezeption. Das universale Axiom für Distanzsprechen ist: Raumzeit P ≠ Raumzeit R. Mario Franco Barros 420 nen werden jeweils fünf Parameter zugeordnet: Rollenparameter, Zeitparameter, Situationsparameter, Parameter des Codes und Parameter des Mediums. Leser, die mit dem Modell nicht vertraut sind, finden in Anhang I eine tabellarische Zusammenfassung von Sieberg (2014), die mir der Autor freundlicherweise als Manuskript überlassen hat. 5 3.2 Ellipsen im Nähesprechen Koch/ Oesterreicher behandeln die Ellipse unter den „unvollständigen Sätzen“ (2011, S. 86) und vertreten die Meinung, dass die Ellipse zu den Hauptmerkmalen der gesprochenen Sprache zählt. Bühler folgend schränken sie den Begriff ‘Ellipse’ auf die Fälle ein, „in denen tatsächlich eine Satzkonstituente eingespart wird, die im Wortlaut [...] eindeutig aus dem unmittelbaren sprachlichen Kontext heraus rekonstruierbar ist“ (ebd.). Sie weisen auch auf Fälle hin, in denen die Valenz des Verbs nicht realisiert wird, aber auch nicht aus dem sprachlichen Kontext rekonstruierbar ist. Solche radikalen Nicht-Realisierungen der Valenzpartner „trifft man nur unter den Bedingungen kommunikativer Nähe an - [...] insbesondere auf Grund der Situations- und Handlungseinbettung [...]“ (ebd., S. 87). Gestik, Mimik, die thematische Zentrierung und die hohe Kooperationsbereitschaft der Kommunikationspartner können auch in diesen Fällen die Leerstelle des Verbs ausfüllen. Koch/ Oesterreicher bezeichnen dagegen holophrastische Ausdrücke („empraktische Ellipse“ bei Bühler 1978, S. 155) nicht als Ellipsen. Sie sind aus ihrer Sicht in Situations- und Handlungskontexte eingebunden, kommen der Emotionalität und/ oder der Spontaneität entgegen und werden in eindeutigen Wissens- und Erfahrungskontexten pro- 5 Siebergs Zusammenfassung enthält im Original eine wichtige über Ágel/ Hennig hinausgehende Erweiterung, nämlich den Versuch einer Anwendung des Modells auf das Portugiesische. Diese Erweiterung lasse ich hier außer Acht. Sieberg hat dieses Schema im Laufe der letzten Jahre immer wieder ergänzt, verändert und an seinen neuesten Erkenntnisstand angepasst. So führte er z.B. zuletzt im Beschreibungsparameter „Zeit“ in die Gruppe der „Einfachen Verfahren der Diskursgestaltung“ - eines der „Universalen Verfahren der Diskursgestaltung“ - die neue Unterkategorie „Feste Formeln als erste Kurzreaktion auf die Äußerung des Gesprächspartners“ ein, also eine Art Scharnier zwischen den Turns der Sprecher. Siebergs Schema vereinfacht insofern, als es auf weitere Abstraktionsstufen von Ágel/ Hennig verzichtet. Dazu zählen die in der Hierarchie des Modells oberhalb der „Universalen Diskursverfahren“ angeordneten Ebenen der „Universalen Parameter der Diskursgestaltung“ sowie die „Universalen Parameter der Kommunikation“. Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien 421 blemlos verstanden. „Im Nähediskurs sind sie mit anderen Worten völlig adäquate und selbstverständliche Äußerungsformen, auch wenn sie keine ‘Sätze’ [...] darstellen.“ (ebd., S. 88). Für Ágel/ Hennig sind Ellipsen Nähemerkmale, wenn es sich um Sequenzen ohne Valenzträger 6 handelt. Integrierte 7 Koordinationsellipsen (syntaktische Perspektive) sind dagegen keine Nähemerkmale: „Gestern haben wir einen Spaziergang gemacht und dabei die Herbstfarben bewundert.“ Wenn die Integration aber nicht so fortgeschritten ist: „Gestern haben wir einen Spaziergang gemacht und dabei wir die Herbstfarben bewundert“, würde es sich um eine aggregative Ellipse handeln und diese zu den Nähemerkmalen gerechnet werden (vgl. Ágel/ Hennig 2006b, S. 54). Ellipsen werden im Modell neben anderen sprachlichen Phänomenen 8 als „Nähe-Nicht-Sätze“ bezeichnet. Wir wollen hier folgende Typen in Abschnitt 4 hervorheben und besprechen, weil sie in großer Zahl in meinem Korpus belegt sind: (i) Rollenparameter: Adjazenzstrukturen (-ellipsen) (ii) Zeitparameter: aggregative Strukturen (iii) Situationsparameter: Topik-Ellipsen 6 Ágel unterscheidet bei der Valenz zwischen dem verbalen Valenzträger (relationale Sprachzeichen, die der Kategorie Verb angehören) und Valenzpotenz, dem Aktantenpotenzial des Valenzträgers. Bei der Valenzpotenz unterscheidet er weiter zwischen der strukturellen Valenzrealisierung (= Valenz und Sprachstruktur) und kontextuell-situativen Valenzrealisierungen (= Valenz im Text) (Ágel 2000, S. 105). 7 Integration vs. Aggregation: Bei diesem Oppositionspaar geht es um die Art der inhaltlichen Gliederung einer Information, ob diese zu integrativen Einheiten zusammengestellt oder additiv ist. Aggregative Satzstrukturen entstehen durch die zeitgleiche Abfolge von Planung und Produktion, sie sind also „nicht von einem übergeordneten Sehepunkt aus geordnet, also nicht integrativ“ (Ágel/ Hennig 2007, S. 198). Aggregation wird von Ágel/ Hennig in Anlehnung an Auer (2000) auch sehr passend als „on-line-Zeitlichkeit“ bezeichnet. 8 Andere Nähe-Nicht-Sätze wären nach Ágel und Hennig Anakoluthe, aggregative Satzrandstrukturen (wie z.B. Freies Thema links und Nachtrag rechts), Vokative und Nähe-Diskursmarker (Ágel/ Hennig 2006b, S. 64). Mario Franco Barros 422 Anhand einer Auswahl von Belegen des von mir verwendeten E-Mail- Korpus 9 (siehe Anhang II) wird eine Analyse nach diesen Kriterien durchgeführt. 4. Exemplarische Analyse des Korpus 4.1 Rollenparameter: Adjazenzstrukturen (-ellipsen) In linguistischen Analysen wird oft behauptet, dass sich bei der E-Mail-Kommunikation eine neue Form von Dialogizität konstituiert (vgl. Günther/ Wyss 1996; Pansegrau 1997); dies hängt wesentlich mit der Quoting-Funktion zusammen. In der Antwort-E-Mail kann man Teile der Ursprungsnachricht, auf die man sich bezieht, einfügen (direktes Quoting) oder auch den ganzen Text der vorhergegangenen E-Mail zitieren (indirektes Quoting), dabei entstehen adjazente Strukturen. 10 Die meistbelegte Adjazenzstruktur in unserem Korpus ist die Frage- Antwort-Sequenz. In den Belegen A.1-A.3 11 handelt es sich um direktes Quoting, in A.4-A.6 um indirektes. In A.1-A.2 und A.4-A.5 beantwortet der E-Mail-Verfasser die Ja/ Nein- Fragen, die ihm in der vorangegangenen E-Mail gestellt wurden. In A.1 und (mit einer dialektalen Variante) in A.2 negiert der Verfasser ohne den Sachverhalt zu verbalisieren. In A.5 wird dagegen der Sachverhalt wiederholt und sogar mit einem Synonym belegt: „Klausuren“ zu „Prüfungen“ der vorangegangenen E-Mail. Nebenbei ist auch hier das Kontakt-/ Engführungssignal oder in der A.2 vorangegangenen E-Mail zu erwähnen, das zum Abgleichen von Meinen und Verstehen dient und damit mögliche kommunikative Missverständnisse verhindert. In A.3 und A.4 haben wir Beispiele von adjazenten Anschlüssen, in denen der E-Mail-Verfasser durch Nichtrealisierung des Pronomens das seine Äußerung unmittelbar mit der vorangegangenen E-Mail verbindet („Macht nichts“ statt „Das macht nichts“, „hab ich“ statt „das 9 Nur Beleg F.3 gehört zu meinem Briefkorpus, wie auch in der Analyse vermerkt wird. 10 Diese „neue“ Dialogizität in Form der Quoting-Funktion wird dann aber von den Verfassern nicht so oft, wie vermutet, benutzt. In den von mir untersuchten Mail- Texten (Franco Barros 2008, S. 756) verwenden die Verfasser zu 5,8% das direkte und zu 27,5% das indirekte Quoting. 11 Alle Angaben in dieser Form beziehen sich auf das Korpus meiner Dissertation. Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien 423 habe ich“). In A.6 haben wir einen Beleg eines adjazenten Anschlusses, bei dem der Verfasser mit einer Konjunktion unmittelbar an das vom anderen Geschriebene anknüpft, ohne dabei Satzteile zu verbinden: aber wir muessen natuerlich nen termin ausmachen. 4.2 Zeitparameter: Aggregative Strukturen Das Oppositionspaar „Aggregation vs. Integration“ ist zentral für die Grammatik von Nähe und Distanz. Wie schon erwähnt, bedeutet das „Universale Axiom“ für das Nähesprechen, dass die Raumzeit der Produktion und die Raumzeit der Rezeption dieselbe ist. Dies führt nach Ágel/ Hennig (2006a, S. 27) zu dem, was Wilhelm Köller (1993, S. 21) in Anlehnung an den Kunsthistoriker Erwin Panofsky einen „Aggregatraum“ genannt hat. Während Aggregativität in der Kunstgeschichte mit der so genannten aspektivischen [verschrieben statt „aperspektivisch“? MF] Darstellungsweise der altägyptischen und mittelalterlichen Malerei bzw. der Art und Weise, wie Kleinkinder malen, in Verbindung gebracht wird, möchten wir analog das Nähesprechen als einen fiktiven Aggregatraum charakterisieren, dessen Elemente eher (semantisch-pragmatisch) kohärent als strukturell kohäsiv organisiert sind. Der Aggregativität stellen Ágel/ Hennig (2006a) den auf Koch/ Oesterreicher (2011 [1990]) beruhenden Begriff der Integrativität gegenüber, der sich auf strukturell kohäsive Ganzheiten bezieht. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung zeichnet sich das Nähesprechen durch einfache Informationsmodule aus, die vom Autor oder Sprecher bei ihrer Planung und Ausführung relativ unverbunden aneinandergereiht werden und die Dekodierung durch den Rezipienten oder Hörer erleichtern. Dieser aggregative Stil wird auch durch Ellipsen realisiert, wie in vielen unserer Belege zu sehen ist. Schon in A.4 ist das Nähemerkmal „Uneigentlicher Aussagesatz-V1“ (Auer 1993) zu erwähnen; es handelt sich um eine Verbspitzenstellung, die durch die Nichtrealisierung (Ellipse) eines obligatorischen Aktanten zustande kommt: wollte nur fragen. Beim ob-Satz haben wir eine Analepse; der Verfasser lässt Subjekt und Verb ganz weg und befolgt dabei das für die gesprochene Sprache typische Ökonomieprinzip, nach dem man nicht mehr zu sagen braucht, als für den Hörer (hier den Leser) zum Verständnis des Mitzuteilenden nötig ist (Schwitalla 2006, S. 103): ob nicht mal Lust wieder auf einen Kaffee an der Uni. Im Nähemodell ent- Mario Franco Barros 424 spricht dieses Beispiel sowohl dem universalen Diskursverfahren der aggregativen Strukturierung ohne Beeinflussung der Projektionsstruktur als auch dem einfachen Verfahren der Einheitenbildung. In den Belegen B.1- B.4 sehen wir unterschiedliche Fälle von aggregativen Koordinationsellipsen. Bei der Koordination ich gucks jetzt immer, r wurde zum vorm-ins-bett-gehen-ritual in B.1 wird die getilgte Akkusativergänzung „es“ vom ersten Elementarsatz zum elliptischen Subjekt im zweiten Elementarsatz, was notgedrungen zur Verbspitzenstellung führt. Im Gegensatz dazu würde eine integrative Koordination eher so aussehen: ich guck es jetzt immer und es wurde so zum vorm-ins-bett-gehen-ritual. In B.2 haben wir im ersten Elementarsatz der Koordination eine Negation ist es nicht, im zweiten werden Verb und Subjekt weggelassen; dagegen handelt es sich aber hier nicht um einen negierten Sachverhalt. In einer integrativen Koordination würde man die Reihenfolge der Sätze ändern, damit ein mögliches Missverständnis beim Leser vermieden wird. Dieses Beispiel lässt erkennen, dass die E-Mail-Verfasserin ihren Text spontan (aggregativ) ohne jegliche Planung oder Korrektur (integrativ) geschrieben hat. In Beleg B.3 haben wir, abgesehen von der Kleinschrift und der fehlenden Interpunktion, auf den ersten Blick eine integrierte Struktur mit einem komplexen Satz, der sich aus Parataxen und Hypotaxen zusammensetzt. Auffällig nähesprachlich sind jedoch sowohl das Korrelat das (anstelle des eher integrativen es) als auch die Partikel ja und das Emotionswort geil, intensiviert durch das wertende Adjektiv absolut: das finde ich ja absolut geil dass und wie du ihm geschrieben hast. Gerade die Benutzung des Korrelates bewirkt, dass die Koordinationsellipse beim zweiten Teilsatz und sehr nett aggregativ und nicht integrativ ist, da die vorausgesetzte Struktur ich finde absolut geil nicht realisiert wurde. In B.4 haben wir verschiedene Beispiele der aggregativen Strukturierung. Statt des ersten weil-Satzes weil a. mir eine mail geschrieben projiziert der zweite weil-Satz weil er dachte einen Hauptsatz, der nicht realisiert wird a. hat mir geschrieben. Es handelt sich bei diesem Nähemerkmal um einen unabhängigen Nebensatz mit Beeinflussung der Projektionsstruktur. Erwähnenswert ist auch das Auslassen der Hilfsverbform hat im ersten weil-Satz, da die Hilfsverbform im vorigen dass-Satz hast ist. Es handelt sich hier um eine Constructio ad Sensum, in der das elliptische Prädikat mit dem Subjekt nicht formal, sondern nur semantisch korrespondiert. Letztendlich haben wir in diesem Beleg auch aggregative Koordinationsellipsen, in denen die im zweiten Konjunkt implizit gebliebene Kategorie Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien 425 nicht identisch mit der expliziten Kategorie im ersten Konjunkt ist: war ich aber nicht, sondern [ich war im] cafe/ fitnesscenter [und ich war]/ einkaufen. In der Frage Vielleicht in der Bibliothek der Psychologen? (C.1) werden Elemente aus dem Kontext vorausgesetzt, die nicht erneut realisiert werden (Vielleicht [haben sie ein Buch von Ruth Cohn] in der Bibliothek der Psychologen). Diese kontextkontrollierte Aggregationsellipse unterscheidet sich von der aggregativen Koordinationsellipse dadurch, dass es sich um keine Koordination handelt. Im Beleg C.2 bedankt sich der Verfasser der E-Mail für den Anruf der Adressatin. Sie hat angeblich ein gemeinsames Kaffee-Treffen verschieben müssen, womit der Verfasser einverstanden ist: So verschieben wir den Kaffee, obwohl ich schon neugierig bin von dir zu hören! Er macht auch den Vorschlag, das gemeinsame Treffen auf einen Abend zu verschieben und Rotwein anstatt Kaffee zu trinken: Wegen mir gerne auch abends dann einen Rotwein, weil morgens ist dann schlecht wegen der Schule. Das Verb verschieben wird hier aus dem Kontext vorausgesetzt. Dabei wird seine Projektionsstruktur beeinflusst, indem die Präpositivergänzung auf den Abend/ auf abends nicht realisiert wird. Die Akkusativergänzung einen Rotwein ist eine kontextgebundene Kurzform ohne explizites vorausgesetztes Element. Im Kontext ist die Rede von einem Kaffee-Treffen bzw. einen Kaffee trinken; der Verfasser macht in diesem Sinne den Vorschlag, am Abend dann einen Rotwein zu trinken. 4.3 Situationsparameter: Topik-Ellipsen, pragmatische Ellipsen, Handlungsellipsen 4.3.1 Topik-Ellipsen Bei den Nähemerkmalen Uneigentliche Aussagesatz-Verbspitzenstellung (Zeitparameter) und Topik-Ellipse (Situationsparameter) liegt, bedingt durch die Nichtrealisierung eines obligatorischen Aktanten im Vorfeld, Verbspitzenstellung vor. Die Unterscheidung zwischen beiden fällt oft schwer. Schwitalla (1988, S. 76) weist darauf hin, dass auf Grund des gemeinsamen Wahrnehmungshorizontes in gesprochener Sprache (Nähesprechen) unabhängig von vorhergehenden Sätzen formale Subjekte entfallen können (riecht gut statt es riecht gut). Solche Fälle nennt er Topik-Ellipsen. Wie schon oben erwähnt, entstehen uneigentliche Verbspitzenstellungen (Auer 1993) bei der Nichtrealisierung ei- Mario Franco Barros 426 ner obligatorischen Ergänzung des Verbs: das Fehlen des Pronomens der 1. oder 2. Person Singular, des Subjekts- oder Objektspronomens das und des expletiven es. Die Verbflexion, die starke Indizien dafür liefert, welches Pronomen fehlt, die Origo des Ich-Hier-Jetzt und die Situationsgebundenheit erleichtern die Interpretation. Imo weist zu Recht darauf hin, dass es offensichtlich sei, „dass uneigentliche Verbspitzenstellungen mit bestimmten, hoch frequenten verba dicendi et sentiendi wie wissen, finden oder glauben besonders häufig auftreten“ (Imo 2013, S. 297), und genau dieser Aspekt bildet den Unterschied zu den Topik-Ellipsen. In den Belegen D.1-D.3 fehlt das Subjektspronomen das (stimmt aber nicht/ ist also pure und ungeschminkte „das übel mit der wurzel ausreissen“politik./ Hört sich voll gut an irgendwie! ). Die vorher erwähnten Aussagen zu den Eliteuniversitäten in den USA in D.1, zur österreichischen Politik und Wirtschaftssituation in D.2 und zum Urlaubstraum in Israel in D.3 erleichtern die Interpretation der Strukturen mit fehlenden Ergänzungen. In D4 Tut mir leid und im Skopus der Operator-Skopus-Struktur in D.5 wird schon werden fehlt das explitive es, ohne aber Verständigungsprobleme zu schaffen. Dies dürfte wohl daran liegen, dass das expletive es im Prinzip keinen eigenen Beitrag zur Gesamtbedeutung leistet. 4.3.2 Pragmatische Ellipsen Andere Ellipsen, die im Vergleich zu den Topik-Ellipsen in unserem Korpus in einer geringeren Zahl vorkommen, sind die pragmatischen Ellipsen. Darunter verstehen wir mit Ágel/ Hennig (Hg.) (2006, S. 395) sowohl „situationsgebundene Kurzformen ohne Appellfunktion“, z.B. beim Anblick des neuen Hauses eines Freundes: Schönes Haus, als auch mit Schwitalla (1988, S. 76) die Fälle, in denen man sich in metakommunikativen Äußerungen auf Aspekte der gerade ablaufenden Interaktion beziehen kann, „ohne diese explizit zu nennen, weil die Gesprächsteilnehmer sie in ihrem Interaktionswissen (nicht im thematischen Wissen) haben“. Schwitalla gibt u.a. folgende Beispiele an: können wir anfangen? (mit der Diskussion); darf ich mal unterbrechen? (den Redner); ich bin noch nicht fertig! (mit meinem Beitrag). Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien 427 Die Belege E.1-E.3 sind Kurzformen, die in der im E-Mail-Wechsel kreierten und beschriebenen Situation der Kommunikationspartner völlig angebracht sind. In E.1 beschreibt der Autor seinen Besuch im Museum als schön, seinen Zustand danach als aber müde, beendet seinen Text mit So nun ins Bett (E.2) und kommt durchweg ohne Verbum und explizites Subjekt aus. In E.3 wird eine umgangssprachliche Redewendung benutzt, ohne dass die Akkusativergänzung präzisiert würde: einen trinken. In E.4 erzählt die Autorin von Isabella und ihrer baldigen Prüfung. Ihren Wunsch, dass Isabella Erfolg in der Prüfung hat, drückt sie mit der elliptischen Aufforderung an die Mailpartnerin Daumen halten aus, etwa in der Art Bitte die Daumen halten! 4.3.3 Handlungsellipsen Die dritte Art von Ellipsen, die im Nähe- und Distanzmodell von Ágel/ Hennig zu den Nähemerkmalen des Situationsparameters gehört, ist die Handlungsellipse. Diese Ellipsen bezeichnet Bühler (1978, S. 155) als empraktische Nennungen. Es handelt sich dabei um Kurzformen, die sich in stark vorstrukturierten Situationen ergeben und eine klare Appellfunktion haben. Gerade wegen dieser zwei Aspekte treten sie fast ausnahmslos in der gesprochenen Sprache und nur am Rande in schriftlicher Kommunikation auf. In unserem gesamten Korpus kommen nur drei Belege vor, zwei in den E-Mails (F.1-F.2) und einer in den Briefen (F.3). Auf eine Bitte um Information zu einer Webseite „fordert“ der Autor den E-Mail-Empfänger in F.1 „auf“, die Webadresse anzuklicken. Da die E-Mail-Autorin in F.2 Vegetarierin ist, fordert sie den Empfänger auf, keinen Hackbraten o.Ä. für ein gemeinsames Abendessen zu kochen. In F.3 handelt es sich um einen Appell vom Autor an sich selbst. Nachdem er von der Schule, Fächern und Noten erzählt hat, möchte er zu anderen persönlichen Themen wechseln. 5. Schlussfolgerungen Die hier anhand von wenigen Belegen durchgeführte Untersuchung stützt meine Hypothese, dass die kommunikative Praktik E-Mail sich im Kontinuum Nähe und Distanz relativ dicht am Nähepol befindet. Die ausführlichere (viel mehr Belege umfassende) Analyse in Franco Barros (2008) bestätigt das und ergibt, dass die hier analysierten Nähemerkmale häufiger in E-Mails als in Briefen auftreten (Abb. 1-4): Mario Franco Barros 428 Abb. 1: Adjazenzstrukturen Abb. 2: Adjazenzellipse und Frage-Antwort-Sequenz Abb. 3: Aggregative Koordinationsellipse Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien 429 Abb. 4: Topik-Ellipsen Wie den Analysen zu entnehmen ist, kommen in privaten E-Mails Topik-Ellipsen sowie Adjazenzstrukturen wie z.B. die Frage-Antwort- Sequenz relativ häufig vor. Das zeigt, dass es sich bei den hier analysierten E-Mails nicht um beschleunigte Briefe handelt, sondern um E-Mails, deren Frontalität der Wirkung des sogenannten turn in der gesprochenen Sprache nahe kommt. Anders gesagt: Die Bewusstseinslage der Verfasser derart frontaler Mails scheint der von Sprechern in einer Face-to-face-Kommunikation verwandt, die gezwungen sind, unterschiedliche Geltungsansprüche gemeinsam und spontan auszuhandeln: Fragen, Antworten, Behauptungen, Aufforderungen etc. Ungeachtet der angedeuteten Variationsbreite erscheint es auf der Grundlage meiner Analysen gerechtfertigt, zu behaupten, dass die private E-Mail tendenziell nähesprachlich ist. Diese Tendenz ist wohl auch eine Folge der spezifischen pragmatischen und technischen Bedingungen der Neuen Medien. 12 12 Eine Tendenz zur Mündlichkeit bzw. Nähe in der geschriebenen Sprache gab es in unterschiedlichen Epochen der deutschen Sprachgeschichte. Unter „rein und klar teutsch“ verstand Luther die gesprochene Sprache des Volkes, „also redet die mutter ym haus und der gemeine Mann“ (in Wolff 1999, S. 130). Luther gibt in seinen Texten nicht nur verbalen Ausdrücken den Vorzug vor nominalen, sondern macht auch gern von freier Wortstellung im Satz, Dialogstrukturen, Ellipsen und Modalpartikeln Gebrauch. Dass das geschriebene Deutsch im 20. Jahrhundert Nähemerkmale bzw. Merkmale der gesprochenen Sprache aufweist, hat schon Eggers (1973) nachgewiesen (vgl. dazu Stedje 2001, S. 177ff.). Nähemerkmale wie einfache Sätze in populärwissenschaftlichen Schriften und Zeitungen, parataktischer Satzbau, „weil“ mit Hauptsatzwortfolge, Ellipsen und Ausklammerungen kommen nach Eggers im 20. Jahrhundert in hoher Frequenz vor. Mario Franco Barros 430 Nach dem Aufschwung des Internets seit Ende der 1990er Jahre erscheinen neue Kommunikationsformen; wenn auch medial schriftlich, weisen sie doch Nähemerkmale auf. In diesem Falle ist die zu beobachtende Nähesprachlichkeit jedoch anders bedingt als in der Lutherzeit und in der Vorgegenwart. Das Internet ist ein „Multimedium“ oder „Hybridmedium“ (Schlobinski 2005, S. 9), eine Technologie, in welcher dank der Digitalisierung sowohl alte als auch neue Medien integriert werden. Das Internet ist ein Hypermedium, in dem die Benutzer zugleich schriftlich, mündlich und audiovisuell kommunizieren können. Als Basis dafür dient der Hypertext: Durch Querverweise können die Leser von einer Textpassage in eine andere springen, die Lektüre erfolgt nicht mehr linear. Per einfachem Mausklick werden Hyperlinks aktiv, „die es erlauben, zwischen den Knoten [...] hin- und herzuflitzen. Hypertexte könnte man auch als Überfliegertexte bezeichnen“ (Abel 2000, S. 62). Hypermedia erlauben dem Benutzer sogar, von einem schriftlichen Text in ein anderes Format zu springen. So können wir beispielsweise mittels Mausklick auf einen Hyperlink eines schriftlichen Tweets in der Kommunikationsform Twitter in ein Bild oder ein Video gelangen. Mit der Mobile Application WhatsApp können wir z.B. mit unseren Kommunikationspartnern Textnachrichten, eigene Tonaufnahmen, Bild-, Video- und Ton-Dateien sowie Standortinformationen von Mobilgeräten wie Smartphones austauschen. Eine weitere Bestätigung meiner in der vorliegenden Studie vertretenen These ist, dass man auf diese virtuellen Objekte auch genauso in Form von Ellipsen referieren kann, wie man das im realen Leben auf reale Objekte tut: Schmeckt gut bei der Suppe und wie schön bei einem geposteten Foto oder einem durch Klick aktivierbaren YouTube-Clip. Das damit verbundene Auftreten von Merkmalen der gesprochenen Sprache in der Schriftsprache bildet einen wichtigen Forschungsgegenstand der Sprachwissenschaft. Das Modell des Nähe- und Distanzsprechens von Ágel/ Hennig ist meiner Meinung nach ein adäquates, operationales und universales Werkzeug für die Beschreibung und Interpretation dieser Tendenz. Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien 431 Literatur Abel, Jürgen (2000): Cyberslang. Die Sprache des Internet von A bis Z. 2. Aufl. München. Ágel, Vilmos (2000): Valenztheorie. Tübingen. Ágel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (2006a): Theorie des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel/ Hennig (Hg.), S. 3-31. g Ágel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (2006b): Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel/ Hennig (Hg.), S. 33-74. g Ágel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (Hg.) (2006): Grammatik aus Nähe und Distanz. Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650-2000. Tübingen. Ágel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (2007): Überlegungen zur Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel, Vilmos/ Hennig, Mathilde g g g (Hg.): Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tübingen, S. 179-214. Auer, Peter (1993): Zur Verbspitzenstellung im gesprochenen Deutsch. In: Deutsche Sprache 21, S. 139-222. 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Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien 433 Sieberg, Bernd (2014): Zusammenfassende Darstellung des Modells des Nähe- und Distanzsprechens von Vilmos Ágel und Mathilde Hennig. Ms. g g Söll, Ludwig (1985): Gesprochenes und geschriebenes Französisch. 3. Aufl. Bearb. von Franz Josef Hausmann. Berlin. Stedje, Astrid (2001): Deutsche Sprache gestern und heute. 5. Aufl. München. Wolff, Gerhart (1999): Deutsche Sprachgeschichte. 4. Aufl. Tübingen/ Basel. Mario Franco Barros 434 Anhang I Zusammenfassende Darstellung des Modells des Nähe- und Distanzsprechens von Vilmos Ágel und Mathilde Hennig (Sieberg 2014) Universales Axiom: Zeit/ Raum der Produktion = Zeit/ Raum der Rezeption einer Äußerung (Mit Geltung auch für den Begriff eines virtuellen Raums im Internet sowie eines subjektiv geprägten Bewusstseins zeitlicher Kongruenz der Produktion und Rezeption sprachlicher Äußerungen) Hinzu kommt die Möglichkeit einer Ableitung der Nähemerkmale, die sich aus den situativ-technischen Rahmenbedingungen der Kommunikation auf der Basis vernetzter Computer ergeben. BESCHREIBUNGSPARAMETER Rolle Zeit Universale Verfahren der Diskursgestaltung (1, 2, 3, ...) manifestieren sich in eing zelsprachlichen Merkmalen (a, b, c, ...) Universale Verfahren der Diskursgestaltung (1, 2, 3, ...) manifestieren sich in eing zelsprachlichen Merkmalen (a, b, c, ...) (1) Direkter Kontakt von Produktion (P) und Rezeption (R) (a) Ausdrücke zur Kontaktherstellung und Wiederherstellung (b) Anrede-, Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln (1) Aggregative Strukturierung des In- formationsflusses (a) Anakoluthe (b) Apokoinu (c) constructio ad sensum (d) Parenthesen (e) verschiedene Formen der Satzrandstrukturen (f) vereinfachte Relativsätze, die eine aggregative Gliederung erlauben, z.B. mittels wo. Sie lassen die interpropositionalen Relationen mehrdeutig und vermeiden hypotaktische Strukturen (g) Operatoren in Operator-Skopus- Strukturen (h) abhängige Hauptsätze (i) Korrelate als Aggregationsindikatoren: Zusätzliche Indikatoren für eine Integration des Nebenin den Hauptsatz (2) Sequenzierung der Rede (a) durch Organisation des ‘turn-taking’ mittels des Einsatzes von Rederechtsmitteln (b) durch verschiedene Formen der Adjazenz (oft mit Ellipsen als Folge dieser adjazentalen Strukturen) (3) Engführung der Orientierung (a) Zeichen und Signale der Engführung, die nach Aufmerksamkeit suchen, Aufmerksamkeit anzeigen oder Verständnis bzw. Nichtverstehen signalisieren Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien 435 (b) einfache oder korrigierte Wiederholungen (c) Parenthesen (d) Hinzufügung von Elementen an den rechten Rand der Äußerung (j) keine logische und syntaktische Kohäsionsmarkierung zwischen den Teilen einer Äußerungssequenz (k) im Deutschen analytische Aufteilung von Fragepronomen und Pronominaladverbien (wo ... mit, da ... ran, etc.) (l) doppelte Negationen (m)aggregative Formen der Nominalflexion (4) Aggregative Rezeptionssteuerung (4.1) Operatoren in „Operator-Skopus- Strukturen“. Sie leisten eine zusätzliche Verstehensanleitung zu der Aussage, die g im ‘Skopus’ der jeweiligen Aussage steht, auf die sie sich beziehen: (a) sie explizieren die gemeinte Sprech- handlung (b) geben die subjektive Einschätzung des Sprechers zum Ausgesagten wieder (c) sie nuancieren die Kraft der im Skopus übermittelten Illokution (d) helfen, die formale Gliederung der inhaltlichen Übermittlung deutlich zu machen (2) On-Line Reparaturen (a) durch besondere Ausdrücke und Wendungen (= Korrektursignale) (b) Wiederholungen einzelner Worte oder Ausdrücke auch in korrigierter Form (c) korrigierende Präzisierungen am rechten oder linken Satzrand (3) Einfache Verfahren der Einheiten- bildung (a) kurze Äußerungseinheiten (b) Parataxen (c) Verdichtung von Hypotaxen (d) keine ‘syntaktische Kohäsionsmarkierung’ zwischen den Propositionen einer Äußerung (e) Parenthesen (f) vereinfachte Relativsätze (g) abhängige Hauptsätze (h) unabhängige Nebensätze (i) „Feste Formeln“ als erste ‘Kurzreaktionen’ auf die Äußerungen des Gegenübers (j) Abkürzungen von Worten oder Syntagmen im Internet und am Handy (k) Aposiopse (4) Zeitgewinnverfahren durch (a) ‘hedge words’, das sind ungenaue und mehrdeutige Begriffe, die dazu beitragen, Pausen zu überwinden und nach genaueren Ausdrücken zu suchen (4.2) Satzrandstrukturen heben Teile der Äußerung hervor, als (a) Freie Themen (b) Linksherausstellungen (c) Ausklammerungen (d) Rechtsherausstellungen (e) Nachtrag (5) P mit Bezug auf R Illokutionsnuan- cierung (a) Modalpartikeln (6) Bei physischer und psychischer Prä- senz von R Tendenz von P zu Ge- fühlsäußerungen spezielle Worte und Ausdrücke sowie Hyperbolik zur Emotionalisierung des Diskurses und Beeindruckung des Gesprächspartners Mario Franco Barros 436 (b) tonale Zeichen wie hmhm, äh, ehhh (c) Dehnung von Vokalen, Worten oder Teilen der Äußerung (d) Wiederholung von Lauten, Worten oder Syntagmen (e) Setzung von Pünktchen ... im Internet oder am Handy (f) logisch ambivalente Verbindungselemente (Scharniere) zwischen den Teilen einer monologischen Äußerungssequenz Situation Code Medium Universale Verfahren der Diskursgestaltung (1, 2, 3, g ...) manifestieren sich in einzelsprachlichen Merkmalen (a, b, c, ...) Universale Verfahren der Diskursgestaltung (1, 2, 3, g ...) manifestieren sich in einzelsprachlichen Merkmalen (a, b, c, ...) Universale Verfahren der Diskursgestaltung (1, 2, 3, g ...) manifestieren sich in einzelsprachlichen Merkmalen (a, b, c, ...) (1) Direkte grammatische Verfahren in Form von (a) Ausdrücken temporaler, lokaler und personaler Deixis (b) freier Tempuswahl, historischem Präsens (c) deiktischer Verknüpfung des Gesagten mit der Erzählwelt (= Deixis am Phantasma) (2) Markierung von Di- rektheit bei der Rede- wiedergabe durch (a) Redeeinleitungen ohne ‘verba dicendi’ und ‘verba sentienti’ (b) Indikativ statt Konjunktiv (c) ‘abhängige Hauptsätze’ (1) Einbeziehung aller möglichen Mittel zur Informationsübermittlung (Holistik) Gesten, Mimik, Blicke, Einnahme einer gewissen Distanz zwischen den Sprechern bzw. Kompensation der oben genannten Mittel durch Smileys, Emoticons, Akronyme, Iteration von Worten oder Satzzeichen sowie im Deutschen in Form von Inflektiven bei der Kommunikation am Computer und am Handy (1) Ausnutzung prosodi- scher Mittel zur In- formationsgestaltung durch (a) Akzentuierung von Silben und Worten (b) Schaffung rhythmischer Gruppen (c) Dynamik im Sprechen durch den Unterschied von laut und leise (d) Veränderung des Klanges der Stimme (e) Mittel der Kompensation am Computer und und am Handy durch Zeichen- oder Buchstabenwiederholung, Farbänderung der Buchstaben, Großschreibungen, ... Ellipsen und andere Nähemerkmale in der Sprache moderner Medien 437 (3) Verflechtung von Sprechen und non-verba- lem Handeln, bzw. durch die Einbezie- hung von gemeinsam zugänglichen Objek- ten im gleichen physi- kalischen oder virtu- ellen Raum, mit der Konsequenz von ver- schiedenen Ellipsen wie: (a) Handlungsellipsen (b) pragmatischen Ellipsen (c) Topikellipsen (2) Einbeziehung aller mög- lichen Mittel zur Emo- tionalisierung des Dis- kurses (Holistik) In diese Gruppe fallen Ausdrücke, die sich am Rande des verbalen Codes befinden. Dazu gehören tonale Zeichen und Geräusche wie: pfff, ff tssss, eieiei, huch, iii, ... (2) Bildung von Sprech- einheiten (phonischen Worten) statt graphe- matischer Einheiten (a) Die graphische Imitation der Laute, so wie man sie gewöhnlich aussprechen würde, wie z.B.: hatta (= hat er), willste (= willst du), kömma (= können wir), kricht'se (= kriegt sie) Anhang II Korpus A.1 | machst du unis an der ostküste auch nur zu gut, damit ich ja nicht in deine nähe komme? nein, aber ich denke es herrscht gewisse einigkeit, dass princeton eine recht passable uni ist. (E D6) A.2 > Wahrscheinlich bist du ja noch unterwegs, oder? Nö, Mexico ist schon wieder Geschichte (E D14) A.3 >ich habe deinen Geburtstag nicht vergessen nur keine Zeit gehabt. Macht nichts, bin gestern nachts erst aus der Schweiz gekommen [...] (E D14) A.4 [wollte nur fragen, ob nicht mal Lust wieder auf einen Kaffee an der Uni. (E T14)] hab ich! ! Lust aufn kaffee, mein ich. (E T15) A.5 [ ps: wie ist es dir ergangen hast du schon Prüfungen gehabt...? (E T14)] Ja, die klausuren hab ich schon hinter mir. (ET 15) A.6 [muss mich kurz fassen, wird versuchen dich bald mal anzurufen! ! (E R4)] Hi! aber wir muessen natuerlich nen termin ausmachen bevor du anrufst. B.1 mach et ratze? schaut da etwa jemand tv total? ich gucks jetzt immer, wurde zum vorm-ins-bettgehen-ritual. (E R3) B.2 Dort ist es nicht so heiß und viel grüner. (E T44) B.3 das finde ich ja absolut geil dass und wie du ihm geschrieben hast und sehr nett, dass er so geantwortet hat. (E T19) Mario Franco Barros 438 B.4 ich wusste am sonntag nicht, dass du angerufen hast, weil a. mir eine mail geschrieben, weil er dachte ich sei in der uni, war ich aber nicht, sondern cafe/ fitnesscenter/ einkaufen. (E D6) C.1 Neulich habe ich festgestellt, dass wir in unserer Bibliothek kein einziges Buch von Ruth Cohn haben, da war ich etwas enttäuscht... Vielleicht in der Bibliothek der Psychologen? (E R14) C.2 danke für den Anruf. Ich bin dann auch unterwegs. So verschieben wir den Kaffee, obwohl ich schon neugierig bin von dir zu hören! Wegen mir gerne auch abends dann einen Rotwein, weil morgens ist dann schlecht wegen der Schule. Wie wär das? (E R10) D.1 ich dachte, dass es ein allgemeiner term fuer eliteunis ist, stimmt aber nicht, es sind genau acht: (E D6) D.2 das dokumentationsarchiv des österreichischen widerstands, das kann zusperren, wenn das gesetz durchgeht, wer jetz aller kein geld mehr kriegt, ist täglich eh im standard zu lesen.) ist also pure und ungeschminkte „das übel mit der wurzel ausreissen“-politik. (E D8) D.3 Also Israel hört sich echt super interessant an! ! [...] Und die Sprache fasziniert mich total! Hört sich voll gut an irgendwie! (E T45) D.4 Tut mir leid, dass es Dir so gar nicht mehr gefällt dort. (E D9) D.5 Naja, wird schon werden. (E T35) E.1 komme gerade aus dem Museum; [...] schön, aber müde. (E R15) E.2 So nun ins Bett (E R15) E.3 Und wenn du wieder da bist, gehen wir mal wieder einen trinken, zum Beispiel im Strandleben, denn dann ist ja schon fast wieder Sommer! (E Ru 2) E.4 Isabella macht am 6.5. ihre Gymnasiumprüfung. Daumen halten. (E D9) F.1 hier mal die interaktive kabbalah-adresse: (E D14) F.2 [...] dass ich Vegetarierin bin. Also bitte keinen Hackbraten o.ä.. Ansonsten bin ich da aber wirklich unkompliziert! (E W1) F.3 Themawechsel! (B M9) MÓNICA MIRAZO BALSA ZU KONZEPTION UND AUFBAU EINES KONTRASTIVEN SUBSTANTIVVALENZWÖRTERBUCHES AM BEISPIEL DES FORSCHUNGSPROJEKTES CSVEA 1. Einleitung 1 Die Frage nach den syntaktischen und semantischen Kombinationsmöglichkeiten der unterschiedlichen lexikalischen Einheiten ist der Ausgangspunkt für die lexikografische Entwicklung von valenzzentrierten Nachschlagewerken, die sich vor allem auf das Verb konzentriert haben. Deshalb verfügen wir heutzutage über monolinguale (wie z.B. Engel/ Schumacher 1978; Fernándes 1983; Helbig/ Schenkel 1973; Herbst et al. 2004; Schumacher et al. 2004) und bilinguale (wie z.B. Bianco 1996; Busse 1994; Busse/ Dubost 1977; Cirko/ Morciniec/ Ziobro 1995; Djordjević/ Engel 2009; Engel/ Savin 1983; Octavian/ Engel 2012; Welker 1998) Verbvalenzwörterbücher. Während die Valenzlexikografie ursprünglich weder Substantive noch Adjektive berücksichtigte, vertraten Admoni (1966) und Sommerfeldt/ Schreiber (1983) die Ansicht Bühlers, dass lexikalische Einheiten dieser Wortarten valenzfähig sind. Dass die Valenztheorie sich anfänglich nicht für Substantive oder Adjektive interessierte, zeigt sich in der geringen Anzahl von lexikografischen Arbeiten mit Schwerpunkt auf Substantiv- und Adjektivvalenz: Zur Adjektivvalenz sind nur wenige monolinguale (Sommerfeldt/ Schreiber 1983; Fernándes 1986) und kontrastive bzw. bilinguale (z.B. Fabián 1996; Groß 1999) Studien zu finden, und bezüglich des Substantivs und seiner Valenz verfügt man heute über ein monolinguales deutsches (Sommerfeldt/ Schreiber 1983) und ein portugiesisches (Fernándes 1986) Wörterbuch sowie über ein zweisprachiges deutsch-ungarisches Substantivvalenzwörterbuch (Bassola (Hg.) 2003/ 2012). Lexikografische Vorschläge zu Substantivvalenz sind auch in 1 Diese Arbeit steht im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt CSVEA („Spanisch-deutsche kontrastive Untersuchung der Nominalphrase. Erstellung eines computergestützten bilingualen Corpus und eines Online-Wörterbuchs“), gefördert von der galicischen Landesregierung ( XUNTA: INCITE09 204 074 PR ) sowie mit dem seit 2012 von María José Domínguez Vázquez koordinierten PORTLEX -Projekt ( MINECO: FFI2012-32456 ). Mónica Mirazo Balsa 440 Arbeiten u.a. von Cosma (2004), Domínguez Vázquez (2011) oder Kubczak/ Constantino (1998) vorgelegt worden. In der spanischen Lexikografie gibt es heutzutage noch kein vollständiges einsprachiges Valenzwörterbuch. Cuervo (1992-1994) ist das Werk mit der umfangreichsten syntaktischen Information, aber es ist kein Valenzwörterbuch im engeren Sinne. Was die kontrastive Lexikografie Spanisch-Deutsch anbelangt, gibt es bis jetzt noch kein veröffentlichtes Werk mit Bezug auf valenztheoretische Grundlagen. Hier muss aber das Kontrastive Valenzwörterbuch Spanisch-Deutsch ( DCVVEA ) 2 erwähnt werden, eine wichtige Pilotstudie, die an der Universität Santiago de Compostela unter der Leitung von Victoria Vázquez und Ulrich Engel entwickelt wurde. Für das Spanische existiert auch das Diccionario de valencias verbales. Alemán-Español (Rall/ Rall/ Zorrilla 1980), das sich aber nicht als kontrastives Valenzwörterbuch definieren lässt, da es sich hier nur um die Übersetzung der Ausgabe von Engel/ Schumacher (1978) handelt. 2. CSVEA: Grundlagen und methodologisches Verfahren Zur Füllung einer Lücke in der spanischen und kontrastiven Lexikografie in der Substantivvalenz ist im Jahr 2009 das Projekt CSVEA entstanden (siehe Fußnote 1), dessen Hauptziel die Erstellung eines annotierten spanisch-deutschen kontrastiven Korpus und eines bidirektionalen Online-Wörterbuchs ist, in dem die 200 3 am häufigsten vorkommenden Substantive des genannten Sprachenpaares analysiert werden. 2 Für weitere Informationen zum Kontrastiven Valenzwörterbuch Spanisch-Deutsch ( DCVVEA ) siehe http: / / gramatica.usc.es/ proxectos/ valencia/ ? lang=de=descripcion oder Domínguez Vázquez et al. (2008). 3 Zukünftig wird die Anzahl der analysierten Substantive erhöht werden. Da die deutschen Entsprechungen, die für die Bedeutungsvarianten spanischer Lexeme im spanischen Wörterbuch aufgeführt werden, auf der Grundlage von Übersetzungen spanischer Korpusbelege ins Deutsche ermittelt werden, die Bedeutungsvarianten deutscher Lexeme im deutschen Wörterbuch aber auf der Grundlage deutscher Korpusbelege ermittelt werden, kann es vorkommen, dass nicht alle deutschen Äquivalente, die im spanischen Wörterbuch aufgeführt sind, auch im deutschen Wörterbuch erfasst sind. Die Analyse der durch Übersetzung gewonnenen deutschen Substantive kann wiederum dazu führen, dass neue, d.h. noch nicht berücksichtigte, spanische Substantive aufgefunden werden. Daher müssen diese durch Rückübersetzung gewonnenen spanischen Substantive ebenfalls aufgenommen werden. Zu Konzeption und Aufbau eines kontrastiven Substantivvalenzwörterbuches 441 Von großer Bedeutung in unserem Wörterbuch ist vor allem a) die sprachliche Ausrichtung, da wir von der jeweiligen Muttersprache des Benutzers ausgehen, und b) seine empirische Grundlage: a) Von der Muttersprache des Benutzers auszugehen, ist vielleicht die richtige Option, wenn wir uns als intendierte Benutzer Muttersprachler des Spanischen oder des Deutschen vorstellen, die sich Deutsch bzw. Spanisch als Fremdsprache aneignen wollen. Deshalb ist die Metasprache, bzw. die Beschreibungssprache dieses Wörterbuchs, die Muttersprache des anvisierten Benutzers dieses Wörterbuchs: vor allem Lernende bzw. Studenten mit guten Sprachkenntnissen der jeweiligen Fremdsprache, aber auch Auslandsgermanisten und Auslandsromanisten. b) Im Gegensatz zu den älteren Valenzwörterbüchern, die ihre lexikografische Beschreibung nur auf die Introspektion, auf das Sprachgefühl und auf konstruierte Beispiele stützten, gab es ab den 1980er Jahren ein großes Interesse, sich an den tatsächlichen Sprachgebrauch anzunähern, sodass die Wissenschaftler anfingen, empirische Daten und Korpusbelege als Basis für ihre Beschreibungen zu benutzen. Diese Korporabenutzung als empirische Grundlage eines Valenzwörterbuchs hat jedoch Vor- und Nachteile: Zum einen erlaubt uns die Korpusanalyse, Zugang zum tatsächlichen Gebrauch jedes Lemmas zu haben und Daten über seine Benutzung und Frequenz zu erhalten; zum anderen bringt sie mit sich, dass wir uns mit der schweren Arbeit beschäftigen müssen, die Belege den unterschiedlichen Lesarten der Lemmata zuzuordnen. In dieser Richtung ist dieses semasiologisch aufgebaute Werk auch korpusgestützt konzipiert: Sowohl die Auswahl der Substantive 4 als auch die lexikografische Beschreibung stützt sich auf die aus unterschiedlichen Korpora erhaltenen Daten. 4 Da es sich um ein bidirektionales Wörterbuch handelt, müssen die spanischen und deutschen Substantive unabhängig voneinander selegiert werden: Für die Auswahl der Lemmata stützen wir uns auf die aus den Korpora CREA für das Spanische und DeReKo und taz-Corpus für das Deutsche nach der Frequenz erhaltenen Daten, die aber durch weitere intersubjektiv nachvollziehbare Parameter gefiltert werden müssen, z.B. danach, ob es sich um valente oder avalente Substantive handelt. Mónica Mirazo Balsa 442 Das in CSVEA angewandte methodologische Verfahren besteht darin, dass die Bedeutung jedes spanischen/ deutschen Substantivs mithilfe von unterschiedlichen Bedeutungswörterbüchern 5 und Korpusbelegen in verschiedene Bedeutungsvarianten 6 eingeteilt wird, welche mit authentischen Beispielen aus den oben erwähnten Korpora belegt werden und für welche man die Entsprechungen in der Zielsprache angibt. Die Korpusbelege sind demnach die empirische Grundlage, auf die sich sowohl die syntaktisch-semantische Beschreibung als auch die Festlegung der Äquivalente stützt. Für die Auswahl der zielsprachigen Lemmata werden auch folgende Faktoren in Betracht gezogen: - Wenn mehrere zielsprachige Äquivalente zu einer Lesart möglich - sind, sollte man auf die Frequenz der Äquivalente und auf den Äquivalenzgrad achten. Ausgewählt werden diejenigen Äquivalente, die den ganzen semantischen Bereich des Ausgangssubstantivs abdecken. - Das Register sollte übereinstimmen. - - Wenn die Frequenz der zielsprachigen Entsprechung einer Lesart - gering ist, dann wird diese in der aktuellen Arbeitsphase des Wörterbuches nicht vollständig beschrieben, sondern nur angegeben. Eine vollständige Beschreibung zielsprachiger Äquivalente mit niedriger Frequenz ist für eine spätere Phase vorgesehen. Mikrostruktureller Aufbau des Wörterbuchs Im Folgenden gehen wir auf das analytische Modell ein, das wir für die Beschreibung der Substantive vorschlagen. Da dieses Wörterbuch online verfügbar sein wird, beabsichtigen wir eine modulare Strukturierung der Daten, um dem Benutzer die Suche nach der gewünschten 5 Für das Spanische: DRAE , CLAVE , Moliner (2008) oder Seco/ Andrés/ Ramos (1999) u.a.; und für das Deutsche: Duden (2010) und DWDS u.a. 6 Die Einteilung der Bedeutung der Substantive in unterschiedliche Bedeutungsvarianten ist in unserem Wörterbuch von großer Bedeutung, zum einen deswegen, weil unterschiedliche Bedeutungsvarianten mit unterschiedlichen syntaktisch-semantischen Aktantenstrukturen einhergehen können, zum anderen aber auch aus dem Grund, dass die jeweiligen Bedeutungsvarianten andere Entsprechungen in der Zielsprache haben können. Zu Konzeption und Aufbau eines kontrastiven Substantivvalenzwörterbuches 443 Information zu erleichtern. Die lexikografische Information wird dann hauptsächlich in fünf Modulen präsentiert: I) Überblick über die unterschiedlichen Bedeutungsvarianten Die Bedeutung jedes spanischen/ deutschen Substantivs wird, wie oben erwähnt, mithilfe von unterschiedlichen Bedeutungswörterbüchern und Korpusbelegen in verschiedene Bedeutungsvarianten eingeteilt. Zu jeder Bedeutungsvariante werden eine Bedeutungsparaphrase und ein Musterbeispiel zur Veranschaulichung der Valenz des Substantivs in der jeweiligen Variante, seine Synonyme in der Ausgangssprache und seine Entsprechungen in der Zielsprache aufgeführt. Abb. 1: Substantiv amor: Bedeutungsvarianten, Synonyme und Äquivalente II) Beschreibung jeder Bedeutungsvariante 7 Für jede Bedeutungsvariante werden die für sie relevanten Daten zur Beschreibung der Aktanten oder Ergänzungen angegeben. In diesem zweiten Modul werden dem Benutzer sowohl syntaktische als auch semantische Informationen angeboten. Erstere werden in Form eines Überblicks über die möglichen Ergänzungen 8 jeder Lesart [CS, Cprep usw.] und ihre standardisierte Realisierungsfor- 7 Zur Veranschaulichung der Mikrostruktur unseres Wörterbuchs bzw. des Analysemodells nehmen wir hier als Beispiel die zweite Bedeutungsvariante des spanischen Substantivs amor. 8 In diesem Feld wird angegeben, welche Ergänzungstypen ein Nomen begleiten. Hierzu lehnen wir uns an die von Engel (2004, S. 92) vorgeschlagene Klassifikation an. Für spanische Muttersprachler werden diese Etiketten ins Spanische übersetzt. Wir differenzieren demnach folgende Ergänzungsklassen: SE [sp. CS]: Subjektivergänzung; OE [sp. CO]: Objektivergänzung; Epräp [sp. Cprep]: Präpositivergänzung; Eadv [sp. Cadv]: Adverbialergänzung; Enml [sp. Cnml]: Nominalergänzung; Evrb [sp. Cvrb]: Verbativergänzung. Mónica Mirazo Balsa 444 mel [el amor de alguien o algo, el amor a alguien o algo, el amor hacia alguien o algo usw.] dargestellt, letztere als Paraphrase der semantisch-relationalen Bedeutung 9 [Aquel/ Aquello que experimenta un / / nuevo estado o situación, Aquel/ aquello afectado por algo usw.]. Abb. 2: Substantiv amor: Beschreibung einer Bedeutungsvariante III) Detaillierte Beschreibung der Aktanten Nach dem Gesamtüberblick über die möglichen Aktanten erhält man in einem dritten Modul eine detaillierte valenzielle Beschreibung jeder Ergänzung mit Informationen zu ihren formalen Realisierungen, ihrer kategoriellen Bedeutung 10 und weiteren Informationen, die sich aus den Korpusbelegen ergeben. Zu jeder Realisierung wird auch ein Feld angeboten, in dem Kommentare 11 , die wir als hilfreich für den Benutzer erachten, hinzugefügt werden können. 9 Hier lehnen wir uns an die von Engel (1996) beschriebenen semantischen Rollen (Agens, Experiencer, r Mutativ, Effektiv, Ferens usw.) an, aber wegen der stark didaktischen Richtung des Wörterbuchs und mit Rücksicht auf eine benutzerfreundliche Ausrichtung wurde beschlossen, eine Aktantenparaphrase der semantischen Rollen (vgl. Domínguez Vázquez 2011) hinzuzufügen. 10 Das Inventar zur Beschreibung der kategoriellen Bedeutung folgt dem Vorschlag von Engel (1996, 2004) und dem Projekt DCVVEA . 11 Es handelt sich normalerweise um syntaktische oder semantische Erklärungen. Zu Konzeption und Aufbau eines kontrastiven Substantivvalenzwörterbuches 445 Außerdem geben wir die Testverfahren, 12 auf die sich die erfassten Ergänzungen stützen, an. Zu jedem Aktanten stellt jeder Wörterbucheintrag semantische, syntaktische und morphologische Informationen bereit, aber auch Testverfahren, Belege, Kommentare und Äquivalenz. 13 Abbildung 3 stellt die in diesem Modul angebotenen Informationen am Beispiel der Objektivergänzung der in Abbildung 2 beschriebenen Lesart von amor dar: r Abb. 3: Substantiv amor: detaillierte Beschreibung eines Aktanten Abb. 4: Substantiv amor: Kombinationsmöglichkeiten 12 Das Inventar der unterschiedlichen Testverfahren geht von den Vorschlägen von Engel (2009), Zifonun et al. (1997) und Schierholz (2001) aus. 13 Für weitere Informationen siehe Domínguez Vázquez (2011). Mónica Mirazo Balsa 446 IV) Kombinatorik In einem vierten Modul werden die Kombinationsmöglichkeiten zwischen den unterschiedlichen Ergänzungen beschrieben, sowie die möglichen semantischen Restriktionen, die in der Kombinatorik entstehen können. V) Kontrastive Anmerkungen Die kontrastive Ausrichtung des hier vorgestellten Wörterbuchs zeigt sich vor allem in diesem Modul, in dem Anmerkungen zu all denjenigen Aspekten der Valenz spanischer/ deutscher Substantive eingetragen werden, von denen wir annehmen, dass sie sich für den zukünftigen Benutzer als nützlich erweisen könnten. Hier werden auch Anmerkungen zu Unterschieden zwischen den beiden Sprachen aufgeführt, die sich auf die Äquivalente beziehen (z.B. ob eine zielsprachliche Entsprechung einen höheren Äquivalenzgrad aufweist als eine andere). Unterschiede zwischen den beiden Sprachen können sich auch in der Anzahl der Ergänzungen (quantitative Valenz) und der Kombinatorik oder aber auch in der qualitativen Valenz der jeweiligen Ergänzung (Unterschiede bezüglich der kategoriellen/ relationalen Bedeutung oder der formalen Realisierungen) zeigen. Ein weiteres Feld enthält auch Kommentare über Kollokationen, Redewendungen usw. hinzu, die dem Benutzer dabei helfen könnten, seinen Wortschatz zu erweitern. Die aus der Analyse jedes Substantivs erhaltenen Daten werden nachträglich in eine Datenbank eingegeben. Ein kontrastives Online-Wörterbuch bedarf der Entwicklung einer Datenbank, die ein elektronisches Register der Ergebnisse ermöglicht. In unserem Fall sollte diese Datenbank außerdem mehrsprachig und bidirektional sein, d.h. es sollte möglich sein, mit der Muttersprache des Benutzers als Ausgangspunkt lexikalische Einheiten (in diesem Fall Substantive) in beliebigen Sprachen nachzuschlagen, wobei die Daten zweier oder mehrerer Sprachen verglichen werden könnten. Ein für Endbenutzer absehbares Format wäre ein Internetportal, das mit der Datenbank verknüpft sein sollte, und über welches der Benutzer Informationen, die in dieser gespeichert sind, abrufen könnte. Wegen des breiten Adressatenkreises dieses Wörterbuchs (Lernende bzw. Studenten des Deutschen/ Spanischen; Wissenschaftler, wie z.B. Germanisten oder Romanisten; weite- Zu Konzeption und Aufbau eines kontrastiven Substantivvalenzwörterbuches 447 re Sprachinteressierte, wie z.B. Deutschlehrer, Spanischlehrer, Übersetzer usw.) wäre es auch sinnvoll, ein Abrufen der Daten nach individuellen Bedürfnissen bereitzustellen, oder zu ermöglichen, dass die Daten für verschiedene Zielgruppen (DAF-Lehrer, Studenten, Forscher etc.) jeweils anders dargestellt werden. Literatur Zitierte elektronische Korpora und Wörterbücher CLAVE : http: / / clave.smdiccionarios.com/ app.php (Stand: 20.3.2012). CREA : Corpus de referencia del español actual. Real Academia Española. http: / / corpus.rae.es/ creanet.html (Stand: 1.7.2012). DCVVEA : Diccionario contrastivo de valencias verbales español-alemán. http: / / gramatica.usc.es/ proxectos/ valencia/ ? lang=es&id=descripcion (Stand: 1.7.2012). 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Hinter diesem Problem verbergen sich zwei grundlegende Fragen, die sich für empirische Studien im Bereich der verbalen Argumentstruktur stellen: - Wie viele eigenständige Konstruktionen des relevanten Typs gibt es überhaupt (ggf. innerhalb eines bestimmten eingeschränkten Untersuchungsbereichs) und welche sind es? - Wie lassen sich die Instanzen einer bereits identifizierten/ postulierten Konstruktion in einem Korpus exhaustiv ermitteln? Vor diesen zwei Fragen stellt sich natürlich die noch einmal grundlegendere, gemäß welchen Kriterien eine Struktur überhaupt als eigenständige (d.h. unabhängig beschreibungsrelevante) Konstruktion bzw. als konkrete Instanz einer solchen Konstruktion zu werten ist. Dieser Punkt wird hier nicht behandelt. Stattdessen soll es im Folgenden darum gehen, wie Argumentstrukturkonstruktionen und ihre Instanzen nach erfolgter Operationalisierung des Konstruktionsbegriffs möglichst vorannahmenfrei in großen Korpora zu identifizieren sind. Dazu werden in Abschnitt 2 zunächst mögliche Strategien der Datenerhebung miteinander verglichen. Abschnitt 3 stellt eine datengeleitete Identifikationsprozedur vor, die im Rahmen des IDS -Projekts „Verben und Argumentstrukturen“ zur Identifikation präpositionaler Argumentstrukturmuster des Deutschen verwendet wird. Aus Platzgründen kann der Analysegang dabei nur knapp und ohne technische Details beschrieben werden. Schließlich werden die Ergebnisse einer Pilotstudie berichtet (Abschnitt 4) und eine kurze Zusammenfassung gegeben (Abschnitt 5). 1 Ich danke Maike Huth und Agata Sokolowski für ihre Unterstützung bei der Datenanalyse. Arne Zeschel 452 Die Darstellung des Verfahrens erfolgt am Beispiel präpositionaler Argumentstrukturkonstruktionen mit der Präposition vor. Obwohl die vorgestellte Methode auch für die erste der eingangs genannten Fragen einschlägig ist (Wie viele verschiedene und welche präpositionalen Argumentstrukturkonstruktionen mit vor gibt es im Deutschen? ), liegt der Fokus hier auf dem zweiten Problem: Wie lassen sich die Instanzen einer gegebenen Konstruktion möglichst vorannahmenfrei und exhaustiv in großen Korpora ermitteln? Die Diskussion erfolgt dabei am Beispiel des deutschen Pendants der so genannten swarm- Konstruktion des Englischen (Levin 1993; Dowty 2000). In Zeschel (2011) wird dafür argumentiert, drei Subtypen dieser Konstruktion zu unterscheiden (alle Belege in diesem Beitrag aus DeReKo, Institut für Deutsche Sprache 2013): (1) a. Ich schrie vor Schmerz und gestikulierte wild. (Nürnberger Nachrichten, 2.6.2007) b. Diesmal war sie es, die fast platzte vor Stolz und Glück. (taz, 8.7.2002) c. Obwohl die österreichische Journalistengruppe die Expo an einem normalen Wochentag besucht, schwirrt das Gelände vor Schulklassen, deren Lehrer größte Mühe haben, die von einer vermeintlichen Sensation zur anderen hastenden Kin- der beieinander zu halten. (Die Presse, 19.6.1998) Im Folgenden wird der Subjektreferent dieses Musters als ‘X’ bezeichnet, der Referent des eingebetteten Nominals in der vor-PP als ‘Y ’ sowie die drei in (1) illustrierten Subtypen als Varianten ‘A’, ‘B’ und ‘C’ der Konstruktion. Variante A ist eine kausale Adjunktkonstruktion. (Intuitiv) typische Instanzen setzen ein belebtes Subjekt mit einer starken körperlichen Empfindung oder Emotion in Beziehung, die X zu einer bestimmten unwillkürlichen Reaktion auf das Erleben von Y veranlasst. Das Verb kann sowohl intransitiv als auch transitiv sein (etwas vor Schreck fallen lassen). Die Funktion von Variante B lässt sich als ‘intensivierte Eigenschaftszuschreibung’ kennzeichnen. Eine Kausalrelation liegt nicht (bzw. nurmehr semantisch gebleicht) vor: Es wird nicht assertiert, dass sich das Verbereignis faktisch vollzieht. Typischerweise sind es wiederum belebte Subjekte, denen bestimmte abstrakte Eigenschaften und Emotionen zugeschrieben werden. Das Verb ist typischerweise intransitiv. Aus Gründen semantischer Gradienz (Ist die Semiautomatische Identifikation von Argumentstrukturkonstruktionen in großen Korpora 453 prädizierte Handlung tatsächlich faktisch assertiert oder liegt lediglich ein Fall von Hyperbole vor? ) ist Variante B gemäß dem genannten Kriterium jedoch nicht trennscharf von der mitunter auch transitiven Variante A abzugrenzen. Variante C ist eine semantisch spezialisierte Lokativkonstruktion, die das gänzliche Erfüllt-/ Bedeckt-/ Saturiertsein von X mit Y impliziert. Wie in Variante B wird anstelle einer Kausalrelation zwischen zwei unabhängig prädizierten Sachverhalten nur eine einzige Proposition realisiert. Im Unterschied zu Variante B handelt es sich bei den Argumenten um Konkreta, und es wird das gehäufte Vorhandensein von Entität Y an Ort X prädiziert (die Ablage quillt über vor Papieren). Instanziierende Verben sind intransitiv. Allen drei Mustern ist die schematische Bedeutung ‘X ist voller Y ’ gemein, ihre je unterschiedlichen Funktionen und semantischen Rollenkonfigurationen gehen jedoch auch mit unterschiedlichen Verwendungsrestriktionen bezüglich der jeweils verwendbaren Verben einher: Während Variante C lexikalisch stark restringiert ist, lassen sich für Variante B bestimmte semantische Restriktionen herausarbeiten, innerhalb derer die Konstruktion lexikalisch variabel instanziierbar ist, wohingegen Variante A gänzlich unbeschränkt ist, da sich eine prinzipiell unendliche Menge von Kausalrelationen im Rahmen dieser Konstruktion formulieren lässt (Zeschel 2011). Auf Basis dieser knappen Charakterisierung ergeben sich eine Reihe weiterführender Fragen: Gibt es ggf. noch weitere Subtypen der Konstruktion als die in (1) postulierten? Wie lassen sich Produktivitätseigenschaften der gefundenen Varianten messen und „kreative“, nichtantizipierte lexikalische Instanzen finden? Wie steht es um die relative Geläufigkeit der Varianten im Verhältnis zueinander - ist es z.B. plausibel, Variante B als bloßen figurativen „Ableger“ einer nach wie vor primären Variante A zu betrachten? Und was ist zum Verhältnis der einzelnen Varianten zu formal und semantisch ähnlichen Konstruktionen mit vor in ihrer systemischen „Nachbarschaft“ zu sagen? Die inhaltliche Beantwortung dieser Fragen würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. Im Folgenden soll es stattdessen um die Vorstellung eines Analyseverfahrens gehen, mit dem sich entsprechende Fragen zunächst überhaupt empirisch angehen lassen. Arne Zeschel 454 2. Zur Identifikation von Konstruktionen in Korpora Das sicherlich geläufigste Erhebungsverfahren in konstruktionsorientierten Korpusstudien zur Argumentstruktur ist gerade nicht konstruktions-, sondern verbbasiert. Ausgehend von bestimmten Initialbeobachtungen werden vermutete semantische Restriktionen einer Konstruktion überprüft, indem Vorkommen der Konstruktion mit Verben gesucht werden, die bereits bekannten Verwendungen semantisch ähneln. Listen zu konkordierender Elemente werden aus Thesauri gewonnen und zusätzlich introspektiv ergänzt (vgl. etwa Proost 2009; Zeschel 2012). Das Vorgehen ermöglicht eine systematische Überprüfung gegebener semantischer Domänen bezüglich des Auftretens zugehöriger Verben in der Zielkonstruktion. Problematisch daran ist zum einen, dass Verben typischerweise polysem und semantische Verbklassen randbereichsunscharf sind. Aus diesem Grund ist es schwierig, beispielsweise ein exhaustives „Inventar deutscher Geräuschverben“ zu erstellen (insbesondere, wenn auch rare und kreative Verbverwendungen und -bildungen mit Blick auf die Produktivität einer Konstruktion von Interesse sind). Dennoch wird man auf diese Weise aber zumindest die unkontroversen und geläufigen Vertreter einer Klasse problemlos ermitteln und überprüfen können. Zum anderen ist problematisch, dass nur Klassen überprüft werden können, deren mögliches Auftreten in der Konstruktion auch bereits antizipiert wurde. Stößt man im Rahmen der eingehenderen Beschäftigung mit einer Konstruktion dann auf eine neue, bislang nicht antizipierte Klasse instanziierender Verben, kann man diese natürlich ebenso nach dem geschilderten Verfahren systematisch nacherheben. Unklar bleibt dabei allerdings, ob man auf diese Weise am Ende auch tatsächlich alle relevanten Klassen gefunden haben wird. Gänzlich unmöglich ist es schließlich, die lexikalischen Füllungen von Konstruktionen zu ermitteln, deren Verbslot genuin offen ist, wie hier im Fall von Variante A. Eine zweite, ebenfalls verbbasierte Strategie schränkt den Umfang der Datenerhebung von vorneherein auf erwartete typische Realisierungen der Zielkonstruktion ein, indem auch Merkmale für typisch befundener Kontexte der Zielverben im Rahmen des Musters in die Suchanfragen inkorporiert werden (Engelberg in diesem Band). Diese Strategie ist auf eine Maximierung der Präzision der Suchanfragen ausgerichtet, so dass der Nachbearbeitungsaufwand der Datenerhebung minimiert Semiautomatische Identifikation von Argumentstrukturkonstruktionen in großen Korpora 455 wird. Damit einher geht allerdings, dass auch nur Instanzen der antizipierten Realisierungen gefunden werden und sich die Resultate ausschließlich auf diesen Ausschnitt der Daten beziehen. Des Weiteren sind auch Verfahren möglich, die umgekehrt auf maximalen Rücklauf abzielen. Im Fall gänzlich schematischer Konstruktionen ist dazu ein geparstes Korpus erforderlich, in dem direkt nach bestimmten syntaktischen Strukturen gesucht werden kann. Während für die Korrektheit von POS-Tagging bereits sehr gute Werte erzielt werden (Giesbrecht/ Evert 2009), ist die Verlässlichkeit syntaktischer Auszeichnungen allerdings deutlich geringer. Obwohl die Suchanfrage selbst den Kreis gefundener lexikalischer Instanziierungen einer gegebenen Position also nicht bereits unweigerlich einschränkt, ist hierbei nicht nur mit einem bestimmten Schnitt falscher Positive, sondern auch mit einer (in diesem Zusammenhang problematischeren) Dunkelziffer falscher Negative zu rechnen, die der folgenden Analyse von vorneherein verborgen bleiben. Ist die untersuchte Konstruktion hingegen nur teilschematisch, d.h. ein oder mehr Elemente des Musters lexikalisch fix, ist ein genuin exhaustiver Rücklauf möglich - dies allerdings nur auf Kosten einer minimalen Präzision. Wird beispielsweise nach potenziell relevanten Konstruktionen mit vor gesucht, ist letztlich nur eine Suche nach vor selbst offen genug, um nicht-antizipierte lexikalische Füllungen bestimmter Positionen im Kontext der vollen Bandbreite möglicher Linearisierungen, Modifikationen und weiterer denkbarer Komplikationen zu ermitteln. Andererseits ist klar, dass eine überwältigende Mehrzahl der damit erzielten Treffer aus für den gegebenen Zweck irrelevanten Verwendungen von vor bestehen wird. Da gerade für vergleichsweise seltene Argumentstrukturmuster auch keine zu kleinen Stichproben gezogen werden dürfen, um noch genügend Instanzen der eigentlichen Zielkonstruktion zu ermitteln, stellt sich also die Frage, ob ein derartiges Verfahren mit einem angesichts des zu erwartenden Nutzens vertretbaren Aufwand einhergeht. Sicherlich scheidet die Option, die erzielten Treffer sämtlich einzeln durchzulesen, bei einer entsprechend großen Belegmenge aus. Die Frage, die sich stellt, ist also, ob die - letztendlich unumgängliche - händische Klassifikation der Daten geeignet (semi)automatisch vorentlastet werden kann, so dass große Mengen irrelevanter Belege jeweils en bloc eliminiert und am Ende eine mit zumutbarem Aufwand bearbeitbare Restmenge an Daten übrig bleibt. Der folgende Abschnitt Arne Zeschel 456 skizziert eine Variante eines solchen Verfahrens, die im Rahmen des IDS -Projekts „Verben und Argumentstrukturen“ zum Einsatz kommt. 3. Datengeleitete Musteridentifikation Ausgangspunkt der hier vorgestellten Pilotstudie ist eine Datenbasis von einer Million Belegsätzen mit vor, die aus einer geschichteten r Stichprobe deutscher, österreichischer und Schweizer Pressetexte aus DeReKo gezogen wurden. 2 Der Ausgangsdatensatz wurde mit Tree- Tagger (Schmid 1994) wortartenannotiert. Diese Datenbasis wurde dann in einem zweistufigen Verfahren semiautomatisch um bestimmte Klassen hier irrelevanter Belege reduziert. Die beiden Stufen gliedern sich jeweils in mehrere Teilschritte, die im Folgenden kurz erläutert werden. 3.1 Elimination von Ausschlussmustern Mit dem Begriff „Ausschlussmuster“ werden hier Gruppen häufiger Verwendungen bezeichnet, die aus strukturellen oder semantischen Gründen für die gegebene Analyse irrelevant sind und möglichst exhaustiv aus den Daten entfernt werden sollten. Im vorliegenden Fall sind dies: - Belege ohne lexikalisches Verb (bzw. „VV.*“-Verbtag, z.B. in Dachzeilen von Zeitungsartikeln oder im Fall von Kopulakonstruktionen) - Belege mit Tokenisierungsfehlern (z.B. bei Wortresten wie Vor- und Nachteile) - Belege mit Verbpartikelstatt Präpositionsverwendung (z.B. es kommt vor) - Belege, in denen die Zielform Bestandteil einer festen Mehrworteinheit ist (z.B. nach wie vor) - Belege, in denen die Zielform Bestandteil einer Temporalangabe ist (z.B. vor der Halbzeit) 2 Die Stratifikation orientierte sich zunächst an den Proportionen der durchschnittlichen Bevölkerungszahlen der drei Staaten im berücksichtigten Zeitraum (1991- 2012) und innerhalb der so gewichteten Textmengen dann an den durchschnittlichen Auflagenstärken/ Reichweiten der berücksichtigten Titel im relevanten Zeitraum (laut Auflagenkontrolleinrichtungen bzw. Verlagsauskunft). Semiautomatische Identifikation von Argumentstrukturkonstruktionen in großen Korpora 457 - Belege, in denen die Zielform Bestandteil einer Lokalangabe ist (z.B. vor dem Haus) - Belege, in denen die PP als Attribut eines Adjektivs oder Nomens fungiert (z.B. sicher vor Blitzen, der Schutz vor Konsequenzen) - Belege, in denen das in der PP eingebettete Nomen determiniert oder quantifiziert ist, da dies als inkompatibel mit der Zielkonstruktion betrachtet wurde (vgl. *strotzen vor der/ einer Kraft, *wimmeln vor fünfzig Agenten) Bei den ersten vier Schritten steht fest, dass alle gefundenen Instanzen des jeweiligen Ausschlussmusters für die gegebene Analyse irrelevant sind und ohne weitere Überprüfungen aus der Datenbasis entfernt werden können. Andere Schritte wie etwa die Entfernung mutmaßlicher Temporal- und Lokalangaben erfordern stichprobenhafte Validierungen, indem eine bestimmte Anzahl der ausgesonderten Belege händisch darauf überprüft wird, ob das Zielvorkommen darin tatsächlich das jeweilige Ausschlussmuster instanziiert oder nicht. Das eigentliche Ausschlussverfahren erfolgt über eine schrittweise Subkorpusbildung. Zu Beginn werden alle Belege ohne lexikalisches Verbtag von der Ausgangsdatenmenge abgezogen. Der zweite Reduktionsschritt wird dann innerhalb des resultierenden Teilkorpus vollzogen, der dritte dann nur noch innerhalb des wiederum aus Schritt 2 gewonnenen Subsubkorpus und so weiter. Dabei basieren natürlich nicht alle Schritte auf so selbsterklärenden und problemlos zu überprüfenden Kriterien wie etwa dem Vorhandensein eines „VV.*“-Tags im relevanten Satz. Im Folgenden deshalb einige Erläuterungen, wie die je relevanten Muster identifiziert und definiert wurden: Als lexikalisierte Mehrworteinheit wurden alle Zwei- und Dreiwortsequenzen mit der Komponente vor gewertet, die in der Online-Version des Duden-Wörterbuchs einen eigenständigen Eintrag verzeichnen. Zur Ermittlung wurden aus der vor diesem Schritt verbleibenden Datenmenge alle lexikalischen Bi- und Trigramme, in denen das Wort vor auftrat und die eine Häufigkeit von mindestens 100 hatten (entsprechend 0,1 Vorkommen in 1.000 Treffern für vor), auf ihr Gelistetsein im Duden überprüft und die Instanzen aller gefundenen Typen entfernt. Für die Identifikation mutmaßlicher Temporal- und Lokalangaben wurde zunächst eine Frequenzliste aller Nomina mit einer Häufigkeit von mindestens 100 erstellt, die mit einem Wortabstand von 0-2 (ohne Arne Zeschel 458 dazwischen stehendes weiteres Nomen) innerhalb desselben Satzes rechts neben der Zielpräposition auftraten. Jedes Element auf dieser Liste wurde dann daraufhin bewertet, ob es sich mutmaßlich um eine Temporalbzw. Lokalangabe handelt. Dazu wurden verschiedene relevante Unterkategorien aus den Daten gewonnen, die hier am Beispiel der Temporalangaben veranschaulicht werden: Bei der Durchsicht der Liste ergaben sich neben genuin temporalen Intervall- (vor fünf Minuten) und Phasenbezeichnungen (vor Beginn) auch mehrere Gruppen „domänenspezifisch salienter Zeitmarken“, deren Prominenz in den Daten sich daraus erklärt, dass in den zugrundeliegenden Pressetexten immer wieder über die immer gleichen Inhalte berichtet wird, innerhalb derer bestimmte Wörter eben jene „salienten Zeitmarken“ bezeichnen, die das berichtete Geschehen strukturieren. So handelt es sich etwa bei vor dem Anpfiff aufgrund der großen Prominenz des Wortes Anpfiff als zeitlicher Referenzpunkt innerhalb der Sportberichterstattung mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Temporalangabe. Zu den identifizierten rekurrenten Domänen in den Daten zählten neben Inhalten aus den klassischen journalistischen Ressorts Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur auch die Kategorien „Saliente Zeitmarken allgemein“ (vor Weihnachten), „Biografische Etappen und Zäsuren“ (vor dem Abitur) und „Historische Zäsuren“ (vor dem Krieg). Ob es sich bei den instanziierenden Ausdrücken dann aber tatsächlich immer um Temporalangaben handelt, ist natürlich nicht gesagt (die Angst vor einem neuen Krieg). Aus diesem Grund ist bei diesen Klassifikationen jeweils eine stichprobenhafte Validierung nötig, wie hoch der Anteil fälschlicherweise aussortierter Kombinationen von vor mit dem jeweiligen Signalwort ist. Generell wurden aussortierte Daten auch nicht „weggeworfen“, da es am Ende der Prozedur noch eine abschließende Gesamtvalidierung gab (siehe Abschnitt 4). Hier wie bei allen anderen Klassifikationsentscheidungen im Rahmen des Verfahrens wurden die Listen von zwei verschiedenen Beurteilern getrennt bearbeitet, strittige Fälle nach Diskussion aufgelöst und abschließend nur übereinstimmend bewertete Kandidaten einer Kategorie auf die jeweilige Ausschlussliste geschrieben und aus der Datenbasis entfernt. Präpositionalattribute zu nominalen und adjektivischen Köpfen (die Warnung vor etwas, sicher vor etwas) wurden mithilfe des „Wörterbuchs deutscher Präpositionen“ (Müller 2013) identifiziert. Aus der elektronischen Version des Textes wurden all jene Adjektive und Nomen ex- Semiautomatische Identifikation von Argumentstrukturkonstruktionen in großen Korpora 459 trahiert und auf eine Ausschlussliste geschrieben, für die konventionelle Anschlüsse mit vor gelistet waren. Entfernt wurden dann alle Belege, in denen ein Element dieser Liste der Präposition entweder direkt voranging oder noch ein optionales, über intervenierende POS- Kategorien identifizierbares Attribut dazwischenstand (der Schutz der Bevölkerung vor Konsequenzen). Determinierte und quantifizierte NPn innerhalb der vor-PP waren dann wieder recht einfach über das POS- Tagging zu identifizieren. 3.2 Elimination sonstiger Fehltreffer Nicht alle irrelevanten Verwendungen in der Datenbasis lassen sich einer der allgemeinen Klassen zuschlagen, die im letzten Abschnitt diskutiert wurden. Um zusätzlich auch partikularere, ggf. aber individuell dennoch sehr häufige Fehltreffer zu entfernen, schloss sich deshalb noch eine zweite Filterstufe an. Für diesen Schritt wurde aus den verbleibenden Daten aus jedem Satz die Präposition, das nächste rechts stehende Nomen/ Pronomen (mutmaßlich der Kopf der von vor eingebetteten Phrase) sowie das der Präposition innerhalb des Satzes nächststehende lexikalische Verb extrahiert (mutmaßlich dasjenige Verb, das die vor-PP einbettet). So ergab sich eine Liste in den Daten diskontinuierlicher und abfolgevariabler Einheiten wie etwa sagen+ vor+Journalisten, stellen+vor+Probleme, erzielen+vor+Steuern etc., die hier im Folgenden als „Kopftripel“ bezeichnet werden, da es sich mutmaßlich um den Kopf der VP, der PP und der darin eingebetteten NP handelt. Neben der Extraktion des jeweiligen Tripels für jeden verbleibenden Beleg erfolgte in diesem Schritt noch eine Reihe weiterer Aufbereitungen wie etwa eine Partikelverberkennung (Ist die nächststehende lexikalische Verbform tatsächlich ein alleinstehendes Verb oder ggf. Bestandteil eines Partikelverbs in Distanzstellung? ) und die Extraktion weiterer lexikalischer Kookkurrenzmerkmale für jedes Kopftripel (konkret die Erstellung von Frequenzlisten für jedes Nomen, Pronomen, Adjektiv und Adverb in einem Fenster von  5 Wörtern innerhalb desselben Satzes rund um die Präposition). Die Aufbereitung erfolgte mithilfe der Software rcqp (Desgraupes/ Loiseau 2012), einem Interface zwischen der statistischen Programmiersprache R (R Core Team 2014) und der Korpusanalyseplattform IMS Open Corpus Workbench (Evert/ Hardie 2011). Arne Zeschel 460 Alle Tripel, die mindestens dreimal in den Daten auftraten, wurden in eine Liste geschrieben und wiederum durchklassifiziert. Unterschieden wurden dabei Tripel, hinter denen sich mit großer Sicherheit Treffer der Zielkonstruktion verbargen (strotzen+vor+Kraft), Tripel, hinter denen mit großer Sicherheit Fehltreffer standen (führen+vor+Augen (( ), Tripel, die Belege aus der potenziell interessanten „Peripherie“ der Zielkonstruktion subsumieren (fliehen+vor+Gefahr (( ), sowie unklare (und häufig auch kryptisch anmutende) Kombinationen, hinter denen sich oft „Fehlzuordnungen“ des Skripts verbargen (in dem Sinne, dass etwa das in der linearen Abfolge des Satzes nächststehende lexikalische Verb gar nicht dasjenige ist, das die PP syntaktisch einbettet). Ziel der Klassifikation war dabei nicht nur die Voridentifikation vermutlicher Zielkonstruktionen und potenziell interessanter Muster in ihrer semantischen Umgebung, sondern vor allem auch die weitere Entlastung der händischen Durchsicht der verbleibenden Daten um häufige Fehltreffer. So trat z.B. das erwähnte Tripel führen+vor+Augen allein 1.657-mal in den Daten auf. Für hinreichend sicher klassifizierbare Tripel wie dieses war es daher deutlich ökonomischer, sie auf der Typebene einmal als irrelevant zu markieren und alle Instanzen abzuwählen, als auf der Tokenebene 1.657 verschiedene Sätze mit der Wendung jemandem etwas vor Augen führen einzeln durchzulesen und manuell aus der Datenbasis zu entfernen. Natürlich waren nicht alle Tripel per se problemlos als klar relevant oder klar irrelevant erkennbar. Zum einen kann in solchen Fällen die Zuschaltung der weiteren Kookkurrenzinformation hilfreich sein (für das Tripel sehen+vor+Augen mit seinen 57 Treffern z.B. werden als geläufige Kookkurrenzen u.a. man, Hand, kaum und noch ausgegeben, wodurch man sich auch ohne Ansicht der 57 Einzelbelege sehr schnell ein gutes Bild davon machen kann, worum es in den zugrundeliegenden Sätzen wohl geht). Zum anderen zielt dieser Filterschritt auch nur auf die Entfernung von Elementen ab, die tatsächlich mit großer Sicherheit als semantisch inkompatibel mit der Zielkonstruktion betrachtet werden können. Alle unsicheren oder gänzlich unklaren Fälle verblieben in der Datenbasis und wurden erst in der abschließenden manuellen Durchsicht geklärt. Nach Abschluss dieser Klassifikation erfolgte ein letzter Reduktionsschritt, in dem die zugehörigen Belege der als klar inkompatibel ausgezeichneten Tripel entfernt wurden. Von diesem Punkt an wurde die Semiautomatische Identifikation von Argumentstrukturkonstruktionen in großen Korpora 461 verbleibende Datenmenge manuell weiterbearbeitet. Durch den letzten Klassifikationsschritt gab es dafür nun vier getrennte Mengen verbleibender Daten: Zum einen waren dies die vermutlichen Treffer der Zielkonstruktion, die Treffer für Muster in ihrer ebenfalls zu betrachtenden systemischen „Umgebung“ sowie Belege mit nicht eindeutig oder gar unmöglich zu klassifizierenden Tripeln. Zum anderen gab es noch jene Belege, die im letzten Schritt gar nicht mitklassifiziert worden waren, da das jeweilige Tripel nur ein- oder zweimal in den Daten auftrat. Mit Blick auf kreative Extensionen einer Konstruktion sind allerdings besonders diese raren Tripel von besonderem Interesse. Für die Pilotstudie, deren Ergebnisse im nächsten Abschnitt knapp berichtet werden, wurden von den verbleibenden Daten, die auf der Tripel- Ebene nicht eindeutig klassifizierbar waren oder für diesen Schritt gar nicht erst berücksichtigt wurden, 25% der Belege manuell ausgewertet. Nach Identifikation der tatsächlichen Treffer wurde dann noch einmal ein Abgleich aller in der Konstruktion gefundenen Verben gegen alle im Laufe des Verfahrens aussortierten Belege gemacht, um so ggf. zu Unrecht ausgeschlossene Belege zu ermitteln. 4. Ergebnisse und Diskussion Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse der einzelnen Datenreduktionsschritte für die Analyse von Belegen mit der Präposition vor: # Eliminiert Vorher Nachher Abzug Agreement 1 Tokenisierungsfehler 1.000.000 997.177 -0,3% - 2 Belege ohne Vollverb 997.177 926.994 -7,0% - 3 Verbpartikeln 926.994 783.248 -14,4% - 4 Mehrworteinheiten 783.248 581.055 -20,2% - 5 Temporalangaben 581.055 376.041 -20,5% 84,6% 6 Lokalangaben 367.041 304.096 -6,3% 89,3% 7 Regierte Präpositionalatt ribute 304.096 266.969 -3,7% - 8 Determinierte/ quantifizierte NPen 266.969 67.839 -19,9% - 9 Semantische inkompatible Tripel 67.839 55.907 -1,2% 94,6% Gesamt 1.000.000 55.907 -94,4% Tab. 1: Reduktion der Ausgangsdatenbasis für vor Arne Zeschel 462 Die Gesamtreduktion der Datenmenge um mehr als 94% der Ausgangstreffer im Rahmen dieser Pilotstudie ist ein erstaunliches Ergebnis. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass allein beinahe 20% des Ertrags durch den in diesem Fall konstruktionsspezifisch begründeten Ausschluss von determinierten und quantifizierten NPn innerhalb der vor- PP zustande kamen. Ob sich ähnlich drastische Resultate auch mit anderen Präpositionen und anderen Konstruktionen ergeben werden, ist offen. So oder so sind aber auch die hier erzielten über 55.000 Restbelege noch eine sehr große Datenmenge für eine händische Durchsicht. Für folgende Analysen wird daher zu erwägen sein, wie eine geeignet geschichtete Stichprobe aus verschiedenen Regionen der (Tripel-)Frequenzverteilung gezogen werden kann, um den letzten Schritt noch einmal handhabbarer zu machen. In der aktuellen Studie wurde wie erwähnt eine ungeschichtete Zufallsstichprobe von 25% der Daten zu den unklassifizierten bzw. unklassifizierbaren Tripeln manuell durchgesehen. Damit nun zu den inhaltlichen Resultaten und der Frage, welche neuen Einblicke die vorgestellte Erhebungsstrategie erbringt. Beginnen wir dazu am äußeren Rand der Strukturen, die sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Datenbasis befanden und als potenziell relevant/ interessant betrachtet wurden. Die erste Station dabei sind Konstruktionen mit Verben wie sich fürchten, kapitulieren und fliehen, bei denen die vor-PP üblicherweise als Präpositionalobjekt mit semantisch intransparenter Präposition gewertet wird. Ganz so intransparent ist die Konstellation allerdings nicht, da auf die Konfrontation einer Entität mit einer zweiten Entität oder einem Sachverhalt Bezug genommen wird, d.h. eine zumindest abstrakte Gegenüberschaft vorliegt: Es ist die (konkrete oder abstrakte) Präsenz von etwas, die X zur bezeichneten Handlung veranlasst bzw. den bezeichneten Prozess in X auslöst. Diese Paraphrase zeigt an, dass hier bereits der Boden für eine Interpretation der vor-PP als Angabe einer Ursache oder Begründung für die Verbhandlung bereitet ist. In entsprechender Abwandlung gilt dies auch für transitive Verben wie schützen, warnen und retten, bei denen die Verbhandlung darauf ausgerichtet ist, das Zustandekommen einer bestimmten Auswirkung des mit vor angeschlossenen Gegenstands, Prozesses oder Sachverhalts auf den Referenten des direkten Objekts zu verhindern. In einigen spezialisierten Verwendungen dieser Verben gibt es auch durchaus enge Berührungspunkte mit Variante B der Zielkonstruktion: Semiautomatische Identifikation von Argumentstrukturkonstruktionen in großen Korpora 463 (2) a. „Wir können uns vor Anfragen kaum retten“, berichtet Bauer. (Nürnberger Nachrichten, 12.9.2007) b. Das Jugendcafé Ole im Alten Forsthaus kann sich derzeit vor Besuchern kaum retten, berichtet Jugendpfleger Reine Greve. (Frankfurter Rundschau, 16.9.1998) (2a) besagt nichts anderes, als dass X über sehr viel Y verfügt, und (2b) erinnert zudem an die lokative Variante C, da es sich bei X um eine konkrete Örtlichkeit handelt. Einen Schritt näher an der Zielkonstruktion sind Varianten des Idioms X sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Entsprechende Varianten gibt es in den Daten in derart großer Zahl, dass sich der Begriff der „festen“ Wendung dabei verbietet. Als Bedeutung dieses Musters wurde in Zeschel (2011) veranschlagt, dass das gehäufte Auftreten von Y es X erschwert, Handlung V (bzw. VP) erfolgreich auszuführen. Die gegenüber Ausdrücken des Typs sich fürchten/ kapitulieren/ fliehen vor etwas / hinzukommende Implikation ist mithin die durch lauter markierte Häufung bzw. starke Ausprägung von Y (sowie die negative Polarität des Musters). Mischungen dieses Typs mit der Zielkonstruktion stellen Beispiele wie (3) dar, bei denen Y eine starke Empfindung von X bezeichnet: (3) Kann sie vor lauter Liebe nicht mehr klar denken, oder sind es die Feste und schönen Kleider, die sie berauschen? (FAZ, 23.3.1999) Daneben wurden jedoch auch Varianten des Musters gefunden, die eine geringere Ähnlichkeit zur Zielkonstruktion aufweisen: (4) Vor lauter Finanzkrise geschieht zu wenig für Klimaschutz. (Nürnberger Nachrichten, 16.2.2009) In diesen Fällen gibt es keinen belebten Subjektreferenten X, der sich angesichts der Konfrontation mit Y in einer bestimmten Weise verhält bzw. eine bestimmte Handlung ausführt/ nicht ausführen kann. Stattdessen bleibt die von der Konstellation betroffene Entität, die zu einer bestimmten Handlung nicht in der Lage ist, formal implizit. Mit Blick auf die Zielkonstruktion hat das Muster mit lauter also sowohl semantisch ähnlichere als auch semantisch unähnlichere Varianten in den Daten als die erste diskutierte Gruppe. Arne Zeschel 464 Damit zum äußeren Rand der eigentlichen Zielkonstruktion, der Kausalangabe (Variante A). Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Grenze zu der intensivierenden Attribuierungskonstruktion (Variante B) unscharf ist, da bei potenziell hyperbolischen Verwendungen wie (5) nicht klar ist, ob die Verbbedeutung faktisch assertiert ist oder nicht: (5) An der Seitenlinie aber stand Schalke-Trainer Rangnick und zitterte vor Angst. (dpa, 27.4.2011) Ein Punkt des Übergangs zwischen den beiden Konstruktionsvarianten sind also Instanzen mit Verben, die typisch für Variante A sind, jedoch im gegebenen Kontext allein für den expressiven Effekt der Konsekutivimplikation eingesetzt werden (etwas ist so < eigenschaft >, dass ...), ohne dass das Eintreten des Verbereignisses dabei tatsächlich behauptet würde. Das geschilderte Verfahren fördert daneben jedoch noch weitere, nicht-antizipierte Überlappungen zwischen den Varianten zutage: (6) Dafür gibt es Miniaturen zu entdecken, die vor Schönheit, Exklusivität und sprachlichem Genie betören. (taz, 11.12.2004) (6) lässt sich einerseits kausal paraphrasieren (die Miniaturen betören deshalb, weil sie so außerordentlich schön sind). Andererseits liegt funktional betrachtet eine intensivierte Eigenschaftszuschreibung vor, und die Kombination eines abstrakten Gegenstands - der (sprachlichen) Miniatur - mit der gleichfalls abstrakten Qualität Schönheit ist eine Partizipantenkonfiguration, die deutlich typischer für Variante B ist. Wie schon im Fall der Idiomvarianten mit lauter bringt die geänderte Datenerhebungsstrategie damit neue Querverbindungen und Berührungspunkte zwischen den postulierten Mustern ans Licht, die aus einer verbbasierten Perspektive verborgen bleiben. Damit zum Fokus der Untersuchung im engsten Sinne, den figurativen Varianten der Zielkonstruktion. Hier wurden einige Instanzen des Musters gefunden, deren Verben keinem der in der verbbasierten Analyse in Zeschel (2011) veranschlagten semantischen Typen entsprechen: (7) a. Die Ringkämpfer können vor Kraft nicht gehen. (FAZ, 17.3.2001) b. David Garrett zeigt dampfend vor Selbstbewusstsein, dass er [...] (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 9.11.2009) Semiautomatische Identifikation von Argumentstrukturkonstruktionen in großen Korpora 465 c. „Das Haus lacht vor Silber“ - Landesmuseum zeigt römisches Tafelsilber im Alten Haus. (Rhein-Zeitung, 8.10.1997) Das erste Beispiel kommt auch in Abwandlungen mit laufen vor. Das zweite ließe sich zwar auf den postulierten semantischen Subtyp ‘Y tritt aus X aus’ zurückführen (mit instanziierenden Verben wie überquellen, überschäumen und triefen), zeigt damit aber an, dass die mutmaßlich relevante Verbklasse (Verben, die die Bewegung von Flüssigkeiten denotieren) zu eng veranschlagt wurde. Die Verwendung in (7c) hingegen steht allein und ist als kreativer Okkasionalismus zu werten. Insgesamt bleibt bezüglich der Konstruktionsvarianten B und C jedoch festzuhalten, dass die abweichenden Resultate nur marginale Details betreffen und beispielsweise keine gänzlich neue semantische Klasse von Instanzen gefunden wurde. Als letzter Punkt ist zu erwähnen, dass sich auch aus der abschließenden Validierung der Ausschlussmuster noch interessante Funde wie etwa der folgende ergaben: (8) Er erinnert sich sehr genau an die Fragen der Journalisten, die alle „irgendwie trieften vor einer gewissen Schadenfreude, auch [...]“ (FAZ, 10.9.2005) Diese Beobachtung zeigt, dass es auch Ausnahmen zur oben vorausgesetzten Regel gibt, der zufolge determinierte und quantifizierte NPn innerhalb der vor-PP nicht auftreten können (vgl. Dowty 2000). 5. Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag hat ein Verfahren zur datengeleiteten Identifikation verbaler Argumentstrukturmuster in Korpusdaten vorgestellt. Die Prozedur eignet sich zum einen für die Entdeckung „neuer“, d.h. nicht bereits vor Beginn der Untersuchung antizipierter Muster in den Daten (hier nicht illustriert). Zum anderen erlaubt sie auch die Ermittlung „neuer“, nicht-antizipierter Instanzen und Mischungen einer bereits vorgegebenen Zielkonstruktion mit formal und semantisch ähnlichen Strukturen in ihrer systemischen Umgebung. Der vielleicht größte Vorteil des Verfahrens liegt darin, dass auch lexikalisch offene, nicht anhand introspektiv (mehr oder minder geeignet) zusammengestellter Verblisten konkordierbare Muster für eine korpuslinguistische Erkundung zugänglich gemacht werden. Arne Zeschel 466 Der Fokus der Herangehensweise liegt auf einem maximierten Rücklauf und eingangs minimaler Präzision, die im Rahmen einer schrittweisen Subkorpusbildung sukzessive verbessert wird. Das Verfahren eignet sich nur für teilschematische Konstruktion, bei denen mindestens eine Strukturposition lexikalisch invariant ist, so dass dieses Element exhaustiv konkordiert werden kann (z.B. eine Präposition im Fall von Argumentstrukturen mit präpositionaler Komponente). Besteht in einem gegebenen Slot nur stark eingeschränkte lexikalische Variabilität (z.B. eine Alternanz zwischen verschiedenen Präpositionen), ist auch denkbar, die einzelnen Varianten separat zu analysieren und die Resultate dann zusammenzuführen. Die in Abschnitt 4 vorgestellte Pilotstudie illustriert in knapper Form einige der nicht-antizipierten Korpusfunde, die einer introspektivverbbasierten Analyseperspektive verborgen bleiben. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Datenmenge in Folgestudien ebenso stark reduzieren lässt wie dies bei vor der Fall war. Unabhängig davon ist damit zu rechnen, dass das Verfahren jeweils den konkreten Erfordernissen des aktuellen Untersuchungsgegenstandes anzupassen ist (trivialerweise gibt es z.B. nicht für alle Präpositionen homographe Verbpartikeln, die aus den Daten auszuschließen sind) und sicher auch noch in verschiedener Hinsicht optimier- und ausbaubar ist (z.B. durch den Einbezug von Parsing). Genau wie eine breitere empirische Evaluation des Nutzen-Kosten-Verhältnisses des Ansatzes steht die Beantwortung dieser Fragen momentan jedoch noch aus. Semiautomatische Identifikation von Argumentstrukturkonstruktionen in großen Korpora 467 Literatur DeReKo = Institut für Deutsche Sprache (2013): Deutsches Referenzkorpus / Archiv der Korpora geschriebener Gegenwartssprache 2013-I (Release vom 19.3.2013). Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. www.idsmannheim.de/ DeReKo. 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Solche Daten können unter anderem zeigen, welche Verben besonders stark mit einer Argumentstruktur assoziiert sind, wie produktiv eine Argumentstruktur in Bezug auf neue Verben in der Struktur ist und wie stark Argumentstrukturen bei Verben verankert sind. Korpusbasierte, quantitative Studien zu Argumentstrukturen sind dabei immer auch mit methodologischen Fragen verbunden, insbesondere dazu, (i) wie die grundlegenden Daten zur Verteilung von Argumentstrukturen und Verben auf geeignete Weise erhoben werden können, (ii) welche Maße die Assoziiertheit von Verben mit Argumentstrukturen (und umgekehrt) adäquat erfassen, und (iii) wie diese Daten sich zu solchen Daten verhalten, die mit psycholinguistischen Verfahren erhoben wurden. Zu den ersten beiden methodologischen Fragen möchte die vorliegende Studie beitragen, und zwar exemplifiziert an dem Phänomen gespaltener Stimulusargumente im Bereich von Psych-Verben, das in Abschnitt 2 vorgestellt wird. Der Aufsatz wird auch diskutieren, warum manche Verben eine besonders starke Affinität zu gespaltenen Stimuli zeigen. In Abschnitt 3 werden dazu zunächst Verbprofilstudien als eine mögliche Untersuchungsmethode vorgestellt und deren Grenzen aufgezeigt. Abschnitt 4 stellt mit „Kombinatorischen Mustersuchen“ eine weitere Methode zur quantitativen Erforschung von Argumentstrukturen vor, die bestimmte Schwächen der Verbprofilanalysen kompensieren kann. Zur Interpretation der damit ermittelten Frequenzdaten werden in Abschnitt 5 zwei einfache Maße vorgestellt, die die Verben in ihren quantitativen Ausprägungen vergleichbar machen. Auf der Basis dieser Indices werden abschließend in Abschnitt 6 Überlegungen angestellt zu den darin Stefan Engelberg 470 repräsentierten unterschiedlichen Affinitäten von Psych-Verben zu der untersuchten Argumentstruktur. 1 2. Gespaltene Stimuli Psych-Verben weisen bekanntlich ein recht breites Realisierungsspektrum für ihre beiden Argumente, den Experiencer und den Stimulus, auf. Die grundlegenden Typen sind in (1) dargestellt. (1) a. STM: NP nom , EXP: NP Akk PP Dokusoaps verstören Jamaal. b. EXP: NP nom , STM: PP über Jamaal ärgert sich über Dokusoaps. r c. EXP: NP nom , STM: NP Akk PP Jamaal liebt Dokusoaps. Im Folgenden werden wir uns mit einer Variante der Struktur in (1a) befassen. Das Stimulus-Argument in Subjekt-Position kann auf sehr verschiedene Weisen realisiert werden, unter anderem als gegenstandsbezeichnende NP (2a), als personenbezeichnende NP 2 (2b), als ereignisbezeichnende NP (2c), als sachverhaltsbezeichnende, infinite (2d) oder finite (2e) Phrase: 3 (2) a. Die Dreharbeiten bereiten mir Spass - nur wenn man müde oder schlecht drauf ist, kann die Kamera nerven. (St. Galler Tagblatt, 30.9.2008) b. Wenn dich dein Kind nervt, dann mach es doch einfach zum Objekt deiner Kunst. (Berliner Zeitung, 10.5.2003) c. Die ständige Fragerei nach dem ersten Tor von Fredi Bobic nervt ihn allerdings: „Das kotzt mich an, alle müssen Tore schießen.“ (Berliner Zeitung, 26.8.2003) d. Es nervte, arbeitslos zu sein. (Berliner Zeitung, 9.7.2003) 1 Für hilfreiche Kommentare zu dem vorliegenden Aufsatz sei an dieser Stelle Alexander Koplenig, Irene Rapp und Sascha Wolfer gedankt. 2 Eine personenbezeichnende NP führt hier üblicherweise zu einer Lesart, in der Stimulus- und Agens-Interpretation zusammenfallen; (2b) ist so zu interpretieren, dass das Kind als Agens etwas tut, und das, was das Kind tut, als Stimulus den Experiencer nervt. 3 Die Belege entstammen alle dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) des IDS; siehe dazu www.ids-mannheim.de/ DeReKo. Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben 471 e. Den Hobby-Gärtner nervte, dass er doppelt so oft mit seiner Gießkanne zur Wassertonne gehen musste als es eigentlich nötig war. (Berliner Zeitung, 4.11.2003) Die argumentstrukturelle Vielfalt, die man bei Psych-Verben findet, deutet schon auf die semantische Komplexität dieser Verben hin. Auch wenn Psych-Verben eine Art Abhängigkeitsverhältnis zwischen psychischem Erleben und Stimulus ausdrücken, so liegt doch meist keine einfache kausale Relation vor. Während man in (3a) noch eine Kausalkette vom Erzeugen des Schusses über die Wahrnehmung des Schusses bis zum Erschrecken des Experiencers konstruieren kann, sind die Verhältnisse in (3b) komplexer. Hier lässt sich nicht ohne Weiteres ein außerpsychisches Ereignis ausmachen, das als Anfang einer Kausalkette fungieren könnte. Vielmehr konstruieren die Oppositionspolitiker hier aus komplexen außerpsychischen Geschehnissen eine bestimmte mentale Repräsentation des Verhaltens des CDU-Politikers, die dann letztlich den Ärger hervorruft. Dass das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Stimulus und psychischem Erleben meist als Beziehung zwischen psychischen Entitäten zu verstehen ist, wird in manchen Beispielen auch explizit ausgedrückt (3c). (3) a. Beim „Kriminaltango“ fiel tatsächlich ein Schuss, der viele im Publikum erschreckte. (Mannheimer Morgen, 19.5.2009) b. Der CDU-Politiker läßt sich bei seiner Wirtschaftspolitik nur ungern in die Karten gucken, was die Oppositionsmehrheit stets ärgert. (Frankfurter Allgemeine, 12.11.2003) c. Der Gedanke, einer Champagner-Laune entsprungen zu sein, amüsiert Betty Ford. (Berliner Zeitung, 8.4.2003) Der eigentliche Auslöser eines psychischen Ereignisses wie Freude, Ärger oder Genervtsein ist also selbst eine psychische, mit Bewertungen verbundene Repräsentation eines außersprachlichen Sachverhalts. Diese Beobachtungen passen auch gut zu Kutschers (2009, S. 241) Behauptung, dass Psych-Verben keine einfache kausale Relation zwischen Stimulus und Experiencer ausdrücken, sondern dass der Experiencer vielfach selber aktiv an der Evaluation des Stimulus beteiligt ist. Kutscher geht sogar so weit, dass sie das Verhältnis zwischen Stimulus und Experiencer als „bidirektionale Kausalrelation“ auffasst. Mit dem evaluativen Charakter von Psych-Verben hängt auch zusammen, dass Stefan Engelberg 472 sie oft als Verben der propositionalen Einstellung fungieren können (zu Details siehe Cosma/ Engelberg 2014, S. 370ff.). Alle diese Besonderheiten - kausalitätsähnliche Abhängigkeiten, Evaluation durch den Experiencer, propositionale Einstellungen des Experiencers - machen deutlich, dass der Stimulus unabhängig von seiner syntaktischen Realisierung zugrundeliegend nicht als dingbezeichnendes Individuenargument aufgefasst werden kann, sondern im üblichen Fall auf eine Entität Bezug nimmt, die ontologisch eher propositionsähnlich und damit sogar noch abstrakter ist als ein Ereignis. Da es in diesem Aufsatz vorrangig um empirisch-methodologische Fragen gehen soll, werde ich diese Diskussion hier nicht weiterführen, sondern im Folgenden davon ausgehen, dass der Stimulus bei Psych-Verben als sachverhaltsbezeichnender Ausdruck aufzufassen ist, der zwischen ereignishaften und propositionalen Lesarten changiert und der bei nichtsatzwertiger Realisierung des Stimulus (wie in (2a)-(2c)) als Sachverhalt rekonstruiert werden muss. Der zugrundeliegende ontologische Status des Stimulus als komplexe, abstrakte Entität erlaubt nun nicht nur verschiedene Arten satzwertiger Realisierungsformen (wie in (2d)-(2e)), sondern er ermöglicht auch eine Argumentrealisierung, die hier als „Gespaltener Stimulus“ bezeichnet werden soll (vgl. auch Cosma/ Engelberg 2014, S. 378ff.). Ein gespaltener Stimulus liegt vor, wenn der Ausdruck des Stimulussachverhalts auf zwei Satzteile verteilt wird, meist eine NP im Nominativ und eine Präpositionalphrase: (4) a. Der Chiphersteller Infineon hat seine Aktionäre mit ei- nem Rekordergebnis überrascht [...]. (Mannheimer Morgen, 8.11.2000) b. An der Schaubühne faszinieren sie vor allem die technischen Möglichkeiten. (Berliner Morgenpost, 15.9.1999) So wird in (4a) der die Aktionäre überraschende Sachverhalt ‘Der Chip-Hersteller Infineon hat ein Rekordergebnis erzielt’ auf die Nominativ-NP und eine PP mit der Präposition mit aufgespalten und in (4b) der den Experiencer faszinierende Sachverhalt ‘Die Schaubühne hat technische Möglichkeiten’ auf eine PP mit an und die nominativische Subjekts-NP. Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben 473 Zur Rekonstruktion des Stimulussachverhalts aus den beiden Teilen des gespaltenen Stimulus stehen verschiedene Strategien zur Verfügung, von denen hier drei am Beispiel der gespaltenen Stimuli mit mit- PPs angeführt seien. So enthalten etwa die PPs in den (gekürzten) Korpusbelegen in (5) ein Ereignisnomen, und der Stimulussachverhalt ergibt sich aus der Interpretation des belebten Subjektsreferenten als Agens dieses Ereignisses. (5) a. Sie [...] nervt [...] die Gegnerin [...] mit Stopps [...]. b. Er [...] überrascht [...] alle [...] mit Rücktritt [...]. Häufig tritt in einem Teil des gespaltenen Stimulus ein propositionsdenotierendes Nomen auf, bzw. ein Nomen, das zwischen ereignis- und propositionsdenotierender Lesart schwankt. Hier wird der Stimulussachverhalt so rekonstruiert, dass der NP-Referent Urheber des propositionalen Gehalts ist oder diesen äußert. (6) a. Microsoft [...] überrascht [...] Wall Street [...] mit der Ankün- digung, dass [...]. b. Er [...] überrascht [...] ihn [...] mit der Anekdote, dass [...]. Bei vielen Konstellationen aus NP-Nomen und PP-Nomen können wir zu dem PP-internen Nomen ein typisches, oft statistisch als Kookkurrenzpartner zu ermittelndes Verb rekonstruieren. Der Stimulussachverhalt ergibt sich dann dadurch, dass das Subjektsnomen diesem rekonstruierten Verb als höchstes Argument zugeordnet wird. (7) a. Nachbarn [...] nerven [...] Nachbarn [...] mit Krach [...]. Kookkurrenz: Krach machen Stimulussachverhalt: ‘Nachbarn machen Krach’ b. Sie [...] deprimieren [...] Gegner [...] mit Ballgewinnen [...]. Kookkurrenz: Ballgewinne erzwingen/ erkämpfen Stimulussachverhalt: ‘Sie erzwingen/ erkämpfen Ballgewinne’ c. Sie [...] überrascht [...] mit einer Silbermedaille [...]. Kookkurrenz: Silbermedaille gewinnen Stimulussachverhalt: ‘Sie gewinnt eine Silbermedaille’ d. Trennnetz [...] nervt [...] mit Knarrgeräusch [...]. Kookkurrenz: Knarrgeräusch machen Stimulussachverhalt: ‘Trennnetz macht Knarrgeräusch’ Stefan Engelberg 474 Im Folgenden sollen verschiedene Typen von gespaltenen Stimuli auf ihre semantischen Unterschiede hin betrachtet werden, vor allem solche, die die Präpositionen mit, durch, an und bei involvieren. Gespaltene Stimuli, bei denen die PP durch mit eingeleitet wird ((8) und (5)-(7)), tendieren zur Beschreibung ereignishafter Sachverhalte. Bei belebtem Subjektsreferenten entstehen gleichzeitig oft agentive Interpretationen. (8) a. Ljuboja überraschte nun vor Journalisten mit der von seinem Vater Milan übersetzten Ankündigung, den Verein verlassen zu wollen. (dpa, 7.5.2006) b. Synchronschwimmerinnen hinter den durchsichtigen Wän- den faszinieren mit einem perfekt durch Innenscheinwerfer in Szene gesetzten Unterwasserballett. (Berliner Zeitung, 30.5.2003) Bei dem Verb überraschen tritt im Falle eines gegenstandsbezeichnenden Nomens in der PP oft die Interpretation eines Besitzwechsels auf (9). Die Überraschung in (9a) besteht ja nicht allein darin, dass der Verehrer der Musikerin irgendetwas Überraschendes mit dem Ring machte, sondern dass er den Ring der Musikerin schenkte. Diese Variante des gespaltenenen Stimulus wird hier als GS mit-2 von der oben geschilderten Lesart GS mit-1 unterschieden. (9) a. „Ganz romantisch“ habe er sie bei einem Fahrradausflug in den Bergen des US-Bundesstaates Idaho mit einem Ring über- rascht, schwärmte die 43-jährige Musikerin. (dpa, 5.2.2006) b. Vor kurzem hat der 75-Jährige aus Königs Wusterhausen sei- ne zwei Kinder und die fünf Enkelkinder mit seiner Erinne- rungs-CD überrascht. (Berliner Zeitung, 6.8.2003) Der Variante GS mit-1 sind die gespaltenen Stimuli mit durch recht ähnlich. Sie tendieren ebenfalls zu ereignishaften Sachverhalten; agentiv zu interpretierende Subjektsreferenten wie in (10a) sind aber eher selten. (10) a. Sylvester, ein schmieriger Sonnenbrillen-Typ, nervt Katharina durch ständige Kommentare über ihren Fahrstil. (dpa, 9.6.2006) b. [...] das Stück beginnt langsam, geht ruhig weiter und über- rascht erst in der Schlußszene durch viel Handlung in kurzer Zeit. (die tageszeitung, 26.11.1996) Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben 475 c. Dieses provokative Polit-Potpourri amüsiert vor allem durch seinen schrägen Underground-Charme, der von spontanem Aktionismus, Aufbruchstimmung und absoluter Absurdität geprägt ist. (dpa, 23.3.2006) Deutlich anders sind die gespaltenen Stimuli mit der Präposition an zu interpretieren. Hier wird der Stimulus in einen Topik- und einen Kommentarteil aufgespalten. Die Prädikation in der NP weist dabei dem Referenten der topikalischen PP eine Eigenschaft zu (11). (11) a. Natürlich war bei ihnen wieder alles zu beklagen, [was] KOM-i [an Bigbandkonzerten] TOP gemeinhin so nervt: [der angebe- risch-klumpige Sound; die albernen Jeder-darf-mal-Stafetten- läufe der Soli] KOM-i . (Berliner Zeitung, 6.11.2004) b. Das Problem des deutschen Denkens in Frankreich besteht darin, daß wirklich nur sehr wenige die Originaltexte lesen. Man kann sich schon fragen, ob es nicht gerade [diese Obsku- rität] KOM-i ist, [die] KOM-i sie [an der deutschen Philosophie] TOP fasziniert, [die Tatsache, daß man nicht versteht] KOM-i . (Frank- furter Allgemeine, 1995) c. Danach gefragt, [was] KOM-i ihn [an der Theologie] TOP interessie- P re, hat er einmal gesagt: „... [daß sie Raum gibt zu tiefem Nach- denken und zugleich Leben deuten und gestalten will] KOM-i “. (Frankfurter Allgemeine, 19.7.2003) Die Belege zu gespaltenen Stimuli mit bei lassen kaum einen Unterschied zu GS an erkennen. Auch hier wird eine Topik-Kommentar- Struktur eröffnet. (12) a. Vor allem interessieren uns bei unseren Forschungsprojekten die chemischen Reaktionen, die bei der Bildung von Ruß und so genannten polyaromatischen Kohlenwasserstoffen wichtig sind. (Berliner Zeitung, 13.8.2005) b. Mich interessiert bei der Kulturdebatte nicht der Aspekt Stand- ortfaktor, sondern: Sparen, um andere Lebensbedingungen in diesem Lande herzustellen. (die tageszeitung, 20.1.1996) Stefan Engelberg 476 Trotz der semantischen Unterschiede der Varianten des gespaltenen Stimulus können sie oft alle bei einem Psych-Verb auftreten, wobei - wie wir noch sehen werden - die Präferenzen für das Auftreten von Verben mit jedem dieser Muster durchaus unterschiedlich sind. 4 (13) S TM A V E X P S TM B a. Der Conferencier überraschte uns mit seinem Charme. b. Der Conferencier überraschte uns mit einem Cocktail. c. Der Conferencier überraschte uns durch seinen Charme. d. An dem Conferencier überraschte uns sein Charme. e. Bei dem Conferencier überraschte uns sein Charme. 3. Verbprofile Die Untersuchung der Häufigkeit des Vorkommens von Argumentstrukturmustern relativ zu Verben 5 ist mit dem Problem konfrontiert, dass es zwar weitgehend unproblematisch ist, die Frequenz eines Verbs in einem Korpus zu bestimmen, es aber außerordentlich schwierig ist, das Gleiche für ein Argumentstrukturmuster zu tun. Das liegt daran, 4 Gelegentlich lassen sich auch PPs mit anderen Präpositionen (z.B. in, ohne) beobachten, die als gespaltene Stimuli aufgefasst werden können: (i) Im eröffnenden Titel „A Joy“ etwa nervt über die meiste Zeit ein hummelarti- ger, nervöser Bass zu zischenden Becken und aggressiven Trommeln, denen nur eine leise Keyboardmelodie einen Türspalt nach draußen öffnet. (Berliner Zeitung, 21.7.2005) (ii) Aber richtiger Raucher war Volker Putz nie. Feuerzeuge faszinieren ihn ganz ohne Zigarettenqualm. 5000 hat der 59-jährige Unternehmensberater unter dem Dach seines Hamburger Hauses zusammengetragen. (Berliner Zeitung, 17.5.2005) Anzumerken ist auch, dass die gespaltenen Konstruktionen zum Teil nicht nur bei Psych-Verben auftreten, sondern auch bei anderen Verben im Bereich mentaler Ereignisse: (iii) Einer seiner ersten Regisseure in Stuttgart, Peter Palitzsch, beobachtete an dem gealterten Mahnke zudem einmal die seltene Fähigkeit, seine Rollen als voll- endete Kunstfiguren auszugestalten […]. (Hans Mahnke, In: Wikipedia - http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Hans_Mahnke: Wikipedia, 2011) (iv) Wir hörten uns in Meine um, was die Bürger an Schmidt schätzen. (Braun- schweiger Zeitung, 24.1.2009) 5 Ein Argumentstrukturmuster ist ein Form-Bedeutungspaar bestehend aus der Verbindung eines Verbknotens mit den Knoten der ihm zugeordneten Argumente, das Produktivität in Bezug auf den Verbslot und beim Auftreten neuer Verben in dem Verbslot semantische Koerzionseffekte zeigt. Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben 477 dass es mit den üblichen Korpusanalysemethoden nicht möglich ist, eine Korpusabfrage etwa für ein Argumentstrukturmuster wie den gespaltenen Stimulus mit an zu formulieren, also für eine Struktur aus einem Psych-Verb, einer NP im Nominativ, einer NP im Akkusativ und einer PP mit an (als Argumente des Psych-Verbs), in der die NP im Akkusativ als Kommentar zu dem durch die PP repräsentierten Topik fungiert. Es ist daher erforderlich, spezifische Methoden zu entwickeln, um die Häufigkeit von Argumentstrukturmustern und den darin auftretenden Verben zu bestimmen. Eine dieser Methoden ist die Erstellung und statistische Auswertung von Verbprofilen. 6 Unter einem Verbprofil sei hier eine Repräsentation der Häufigkeit der bei einem Verb auftretenden Argumentrealisierungsmuster auf der Basis einer Stichprobe von Korpusbelegen verstanden. Ein Argumentrealisierungsmuster ist dabei die formale Realisierung der semantischen Argumentstruktur eines Verbs, die sich wiederum durch eine Menge von ausdrückbaren semantischen Rollen ergibt. Für das Verb nerven etwa wurden im Laufe der in Engelberg (demn.) geschilderten Stichprobenanalyse folgende fünf Rollen bestimmt. Dabei sollen die Rollen keine Präjudizierungen über den Argumentstatus darstellen. Aus heuristischen Gründen wird zunächst von einem recht großzügigen Argumentbegriff ausgegangen  die Rollen repräsentieren die Einheiten, die in einem engen Zusammenhang mit der Verbbedeutung stehen: - Rolle 1 = Experiencer als die Person, die genervt wird/ ist [EXP] - Rolle 2 = unbelebter Stimulus, der das Genervtsein von EXP hervor- ruft [STM ub -1] - Rolle 3 = sekundärer unbelebter Stimulus (bei gespaltenem Stimu- lusargument) [STM ub -2] - Rolle 4 = belebter Stimulus; oft agentiv interpretiert als derjenige, der den Stimulussachverhalt hervorbringt [STM bl ] - Rolle 5 = Sachverhalt, der den Zweck des Nervens bei agentivem Stimulus konstituiert [ZWC] 7 6 Die Methode findet sich beschrieben und angewendet in Engelberg et al. (2012); Cosma/ Engelberg (2014) und Engelberg (demn.). Ähnliche Verfahren finden sich in Gries/ Divjak (2009) und Gries (2010). 7 Die Infinitivphrase in folgendem Beispiel illustriert die Rolle 5: (i) Irgendwann fand ich die Songs so Klasse, dass ich meine Mutter genervt habe, mir noch eine Platte zu kaufen. (Berliner Zeitung, 28.2.2004) Stefan Engelberg 478 Im Folgenden wird ein Ausschnitt aus dem Verbprofil für nerven dargestellt. 8 In den Spalten werden die Rollen repräsentiert, in den Zeilen die Argumentrealisierungsmuster: Valenz Rolle 1 EXP Rolle 2 STM ub -1 Rolle 3 STM ub -2 Rolle 4 STM bl Rolle 5 ZWC Belege ARM-01 NP-nom 30 ARM-02 NP-nom 31 ARM-03 NP-akk NP-nom S-inf 1 ARM-04 NP-akk NP-nom 40 ARM-05 NP-akk NP-nom 10 ARM-06 S-inf 1 ARM-07 NP-akk S-inf 2 ARM-08 NP-akk PP-mit NP-nom 12 ARM-09 NP-akk S-dass 6 ARM-10 NP-akk NP-nom PP-an 1 ARM-... ... ... ... ... ... ... 200 Tab. 1: Ausschnitt aus dem Verbprofil zu nerven auf der Basis einer Stichprobe von 200 Korpusbelegen Auf der Basis solcher Verbprofile sind mittlerweile textsortenvergleichende (Engelberg et al. 2012) und sprachkontrastive Arbeiten (Cosma/ Engelberg 2014) entstanden. Ein Überblick über die verschiedenen Studien und die verwendeten statistischen Methoden (Cluster-Analyse, Multidimensionale Skalierung, Delta-P-Berechnung) findet sich in Engelberg (demn.). Im Zusammenhang mit der kontrastiven deutsch-rumänischen Studie in Cosma/ Engelberg (2014) sind Verbprofile zu elf Psych-Verben (amüsieren, ärgern, aufregen, deprimieren, faszinieren, freuen, interessieren, nerven, schmerzen, überraschen, wundern) erstellt worden, für die insgesamt 2.180 Korpusbelege kodiert wurden. 9 Darunter finden sich mit den 8 Ein anderes Beispiel für ein Verbprofil (ärgern) ist in Engelberg (demn.) dargestellt. 9 Es wurden 200 Belege pro Verb kodiert; lediglich für deprimieren fanden sich nur 180 Belege in dem gewählten Korpus. Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben 479 sechs oben genannten Präpositionen 129 gespaltene Stimuli (= 5,92%), die sich wie folgt auf die Präpositionen verteilen (GS mit-1 und GS mit-2 werden zusammen gezählt): Abb. 1: Häufigkeit der Präpositionen in gespaltenen Stimuli in einer Stichprobe von 2.180 Belegen zu 11 Psych-Verben Die Zahlen zeigen, dass gespaltene Stimuli die Stichprobe zwar nicht dominieren, aber durchaus auch kein seltenes Phänomen sind. Man sieht weiterhin, dass sich die einzelnen Präpositionen sehr ungleichmäßig verteilen. Eine ähnliche Verteilung kann man auch beobachten, wenn man sich die Häufigkeit der Psych-Verben in den einzelnen Varianten der gespaltenen Stimuli anschaut. Von den elf Verben treten fünf mit GS an auf: Abb. 2: Häufigkeit der Verben mit gespaltenem Stimulus mit an in einer Stichprobe von 2.180 Belegen zu 11 Psych-Verben Stefan Engelberg 480 Hier werden die Grenzen der Verbprofilmethode deutlich. Man erkennt zwar noch die unterschiedlich starke Affinität der einzelnen Verben zu dem Muster (siehe Abb. 2), aber erstens sind die Stichproben zu klein, um bei manchen Verben überhaupt Belege für die Konstruktion aufzuweisen, obwohl das Muster auch bei diesen Verben durchaus akzeptabel erscheint. Zweitens sind elf Verben deutlich zu wenig, um über die allgemeine Verteilung von GS an etwas auszusagen. Die Erstellung einer großen Anzahl von Verbprofilen ist wiederum mit einem hohen manuellen Kodierungsaufwand verbunden. Im Folgenden soll daher eine andere Methode zur Lösung dieses Problems entwickelt werden. 4. Kombinatorische Mustersuche Ziel des zu entwickelnden Verfahrens ist es, mit geringerem Nachbearbeitungsaufwand eine größere Menge an Belegen für ein Argumentstrukturmuster zu einer größeren Menge an Verben zu ermitteln und dabei zudem ein zuverlässiges Bild der quantitativen Verteilung der Verben auf das Argumentstrukturmuster zu erhalten. Das im Folgenden als „Kombinatorische Mustersuche“ bezeichnete Verfahren besteht in einem ersten Schritt darin, eine typische, korpusanalytisch operationalisierbare syntagmatische Konfiguration für das Argumentstrukturmuster zu bestimmen. Die Konfiguration entspricht einer typischen Abfolge von Verb und Argumenten, hat einen Slot für wechselnde Verben und enthält gegebenenfalls frequente, aber semantisch möglichst unspezifische lexikalische Füller - etwa Pronomen - an den Argumentpositionen. Eine solche in dem Analysesystem COSMAS II 10 gut operationalisierbare Struktur für den gespaltenen Stimulus mit an ist eine Abfolge aus einem Personalpronomen, einem finiten Verb und der Präposition an. Da wir sowohl akkusativwie dativregierende Verben betrachten wollen, werden zwei Reihen von Pronomen berücksichtigt: (14) a. ihn/ mich/ dich/ uns/ euch ärgert/ ärgerte/ … an b. ihm/ mir/ dir/ uns/ euch gefällt/ gefiel/ … an 10 Siehe https: / / cosmas2.ids-mannheim.de/ cosmas2-web/ . Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben 481 Dies wird in eine entsprechende Abfrage unter COSMAS II übersetzt, bei der die Abfolge von Pronomen und einer Flexionsform des Verbs bei einem Abstand von maximal einem Wort beliebig ist, und dieses Syntagma im Abstand von maximal einem Wort von an gefolgt wird (Muster M1): (15) a. ((ihn oder mich oder dich oder uns oder euch) / w1 (&ärgern)) / +w1 an b. ((ihm oder mir oder dir oder uns oder euch) / w1 (&gefallen)) / +w1 an Die Abfragen wurden für insgesamt 39 Psych-Verben durchgeführt; 34 Verben, die den Akkusativ regieren, und 5, die den Dativ regieren: 11 (16) a. Verben mit Akkusativ: amüsieren, ängstigen, ärgern, aufregen, beeindrucken, begeistern, beglücken, belustigen, beruhigen, beschä- men, betrüben, deprimieren, empören, entmutigen, enttäuschen, er- freuen, erregen, erschüttern, erzürnen, faszinieren, freuen, frustrie- ren, interessieren, langweilen, nerven, schmerzen, schrecken, stö- ren, überraschen, verärgern, verwirren, verwundern, wundern, wurmen b. Verben mit Dativ: behagen, gefallen, imponieren, missfallen, passen Die Abfragen wurden nun über das gesamte Korpus hinweg durchgeführt - hier das Archiv der geschriebenen Sprache im Deutschen Referenz-Korpus (DeReKo) mit zum Untersuchungszeitpunkt 3.914.524.652 laufenden Wörtern. Die gefundenen Belege müssen nun nach falschen (17a) und wahren (17b) Positiven getrennt werden. (17) a. Manche Stellen beeindruckten mich; an anderen lachte ich, bis ich fast Seitenstechen bekam [...]. (Die Südostschweiz, 8.2.2009) b. Das beeindruckt mich an der Figur. (Nürnberger Nachrich- ten, 29.5.1999) 11 Da keine erschöpfende Liste von deutschen Psych-Verben vorlag, konnte hier keine Zufallsauswahl getroffen werden. Es wurden daher aus lexikografischen Quellen recht wahllos Verben ausgewählt, bei denen nach subjektivem Urteil ein gespaltener Stimulus mit an möglich erschien. Das ist natürlich methodisch unglücklich, aber eher ein Problem der hier durchgeführten Untersuchung als ein prinzipielles Problem der vorgestellten Methode. Stefan Engelberg 482 Der Aufwand der manuellen Nacharbeit hielt sich in Grenzen. Die Precision der Abfrage, also der Anteil der den intendierten Mustern entsprechenden Treffer an allen Treffern, lag bei 49% 12 und führte zu insgesamt 635 wahren Positiven; 353 für die akkusativregierenden Verben, 282 für die dativregierenden. 13 Hier einige Beispiele: (18) a. Und wenn ich auch eher ein Anhänger der konventionellen Kunst bin, so begeistert mich an diesem Werk die Verbin- dung von Kunst mit Technik. (Neue Kronen-Zeitung, 6.1.2000) b. Nein, mich fasziniert an der Schauspielerei, dass ich immer wieder andere Figuren verkörpern kann. (Zürcher Tagesan- zeiger, 7.3.1998) c. Zudem ist er schnell, aggressiv und giftig - das alles impo- niert mir an ihm. (Burgenländische Volkszeitung, 19.3.2008) Es zeigt sich also, dass das gestellte Ziel, mit vertretbarem zeitlichen Aufwand zu mehr Belegen bei mehr verschiedenen Verben zu kommen, durch die kombinatorische Mustersuche erreicht wurde. Offensichtlich ergibt sich aber ein Problem hinsichtlich des Hauptziels, die Verteilung der Verben auf das Argumentstrukturmuster zu ermitteln. Angesichts der Notwendigkeit, das abstrakte Argumentstrukturmuster in einer konkreten syntagmatisch-lexikalischen Konfiguration abzufragen, stellt sich hier natürlich die Frage, ob die ermittelten Verteilungen des Suchmusters nicht vielleicht auf andere Faktoren zurückgehen als das Argumentstrukturmuster. So könnte es ja durchaus sein, dass manche der untersuchten Verben stärker dazu neigen, ihre Argumente durch Personalpronomen zu realisieren, als andere. Vielleicht neigen auch manche Verben eher als andere zu postverbaler Stellung der an-PP. Um den Einfluss von Störfaktoren zu reduzieren, wird daher eine Vergleichsabfrage mit einem anderen, ebenfalls für GS an recht typischen syntagmatisch-lexikalischen Muster durchgeführt, nämlich Sperrsätzen wie in dem Muster in (19). 12 Je nach Verb schwankt die Precision sehr stark, unter den Verben mit mindestens zehn Treffern zwischen 1% (verwundern) und 100% (imponieren). Das hängt etwa bei verwundern mit der hohen Anzahl adverbialer Verwendungen des Partizips II (je- (( manden verwundert ansehen) zusammen. 13 Es wurde auch versucht, die Suche in den getaggten Varianten des Korpus mit Platzhaltern an der Stelle der konkreten Verben durchzuführen. Bei den gewählten Mustern führte das allerdings zu einer stark abnehmenden Precision. Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben 483 (19) a. was … an … ärgert b. was … an … gefällt Gesucht wurde die Form was gefolgt in einem Abstand von zwei oder drei Wörtern von an, gefolgt im Abstand von bis zu drei Wörtern von einer Verbform in der dritten Person Singular Indikativ Präsens. Um das zweite Muster möglichst distinkt von dem ersten zu halten und den Faktor Personalpronomen auszuschließen, wurden Treffer mit den in der ersten Abfrage erfassten Personalpronomen im Akkusativ oder Dativ an der Experiencerposition explizit ausgeschlossen (Muster M2): (20) a. (was / +w2: 3 an / +w3 ärgert) nicht (was (ihn oder mich oder dich oder uns oder euch)) b. (was / +w2: 3 an / +w3 gefällt) nicht (was (ihm oder mir oder dir oder uns oder euch)) Nach manueller Entfernung falscher Positive verblieben insgesamt 303 einschlägige Treffer; 142 für Verben mit Akkusativobjekt, 161 für Verben mit Dativobjekt. Die Precision lag hier sogar bei 97%. Hier einige Beispiele: (21) a. Der bekümmerte, getäuschte und enttäuschte Bruno Kreisky spricht nicht aus, was andere an diesem Wahlkampf ängstigt [...]. (Die Zeit, 11.4.1986) b. Wiener sind also keineswegs Fremden gegenüber von vorn- hinein feindlich eingestellt, sondern sie stört an Fremden das, was sie auch an Wienern stören würde. (Die Presse, 12.11.1992) c. Ganz egal, was Ihnen an Ihrem Chef missfällt: Durch Kritik hinter seinem Rücken, durch Lästerorgien wird das Problem nicht kleiner - sondern größer! (Die Zeit (Online-Ausgabe), 21.10.2010) Die folgende Tabelle zeigt die Anzahl gefundener Belege pro Verb auf der Basis der beiden Abfragen: Stefan Engelberg 484 Verb + Akk M 1 M 2 Σ frustrieren 1 0 1 amüsieren 0 1 1 interessieren 66 33 99 ängstigen 0 1 1 langweilen 1 0 1 ärgern 30 3 33 nerven 8 3 11 aufregen 1 1 2 schmerzen 0 1 1 beeindrucken 9 0 9 schrecken 0 0 0 begeistern 11 11 22 stören 101 5 106 beglücken 0 0 0 überraschen 2 1 3 belustigen 0 0 0 verärgern 0 0 0 beruhigen 0 0 0 verwirren 0 0 0 beschämen 0 0 0 verwundern 1 0 1 betrüben 0 0 0 wundern 4 1 5 deprimieren 0 0 0 wurmen 1 0 1 empören 0 2 2 Σ 353 142 495 entmutigen 0 0 0 entt äuschen 1 0 1 Verb + Dat M 1 M 2 Σ erfreuen 0 0 0 gefallen 262 141 403 erregen 0 0 0 imponieren 11 4 15 erschütt ern 0 0 0 behagen 3 1 4 erzürnen 0 1 1 missfallen 2 12 14 faszinieren 111 76 187 passen 4 3 7 freuen 5 2 7 Σ 282 161 443 Tab. 2: Absolute Trefferzahlen für die Mustersuchen M1 und M2 Es sei nun angenommen, dass die beiden Abfragen die Verteilung des gespaltenen Stimulus umso besser reflektieren und dass sie umso unabhängiger von anderen Faktoren sind, je stärker sie miteinander korrelieren. 14 Eine Korrelationsanalyse der beiden Datenreihen für die 39 Verben ergibt einen Korrelationskoeffizienten von 0,94. Dieser sehr hohe Koeffizient legt nahe, dass die gewählten Abfragen für die kom- 14 Der Korrelationskoeffizient misst den Zusammenhang zwischen zwei intervallskalierten Merkmalen, hier den zwischen der Vorkommenshäufigkeit eines Verbs im Muster M1 und der des entsprechenden Verbs im Muster M2. Der Wert eines Korrelationskoeffizienten liegt zwischen − 1 und +1. Ein Wert von 0 legt nahe, dass kein Zusammenhang zwischen den Merkmalen besteht. Bei einem Wert kleiner als 0 besteht ein negativer Zusammenhang (‘je mehr, desto weniger’), bei einem Wert über 0 ein positiver (‘je mehr, desto mehr’). Bei Werten etwa ab 0,75 spricht man gewöhnlich von einer hohen Korrelation. Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben 485 binatorische Mustersuche recht zuverlässig die Verteilung von Verben auf GS an messen. 15 Das gewählte Verfahren spiegelt die Verteilung von Verben auf GS an im Gesamtkorpus offenbar gut wider. Zwei mögliche Probleme, die mit der kombinatorischen Mustersuche verbunden sind, seien hier kurz angesprochen. Erstens hängt die Stärke der Korrelation stark von den untersuchten Verben ab. Während einerseits der Verzicht auf das „Ausreißer“-Verb stören, das nur selten in dem Sperrsatz-Muster M2 auftritt, die Korrelation auf 0,97 steigen ließe, würde die Auslassung des Verbs gefallen zu einem Absinken des Korrelationskoeffizienten auf 0,78 führen. Mit zunehmender Anzahl untersuchter Verben dürften solche Effekte allerdings immer geringer ausfallen. Zweitens stellt sich die Frage, wie die Übereinstimmung zu berechnen wäre, wenn bei Hinzunahme eines dritten Musters M3 dieses mit M1 und mit M2 schwächer korrelieren würde, als M1 und M2 miteinander. In diesem Fall wäre anzunehmen, dass nicht nur das Argumentstrukturmuster, sondern ein weiterer Faktor in dem Muster die Verteilungen beeinflusst. Der Einfluss dieses Faktors müsste dann zunächst gesondert überprüft werden. 5. Verteilungsmaße Da die kombinatorischen Mustersuchen ja nur bestimmte Ausprägungen des Argumentstrukturmusters erfassen, erlauben sie es natürlich nicht, zu bestimmen, wie oft ein Verb in einem bestimmten Argumentstrukturmuster insgesamt im Korpus vorkommt. Die Validität der Mustersuchen vorausgesetzt kann man aber zeigen, wie häufig ein Verb relativ zu allen anderen Verben in einem Argumentstrukturmuster auftritt. Dazu soll hier ein Auftretensindex ( ATRIX ) erstellt werden, der misst, wie oft man ein Verb verglichen mit anderen Verben in dem Argumentstrukturmuster antrifft. Auftretensindex ( ATRIX ): Der Wert für das am häufigsten in dem Argumentstrukturmuster gefundene Verb wird gleich 100 gesetzt. Die Werte für die einzelnen Verben geben an, wie oft mit dem jeweiligen Verb in dem Argumentstrukturmuster zu rechnen ist, wenn das häufigste Verb 100-mal in dem Argumentstrukturmuster im Korpus auftritt. 15 Interessanterweise korrelieren auch die Frequenzen der elf Verben in der Verbprofilanalyse in hohem Maße mit den Frequenzen dieser Verben in den beiden Mustersuchen M1 + M2. Der Korrelationskoeffizient beträgt hier ebenfalls 0,94. Stefan Engelberg 486 Die ATRIX -Werte zu GS an für die 39 untersuchten Verben sind in Abbildung 3 repräsentiert. Abb. 3: ATRIX zu GS an für die 39 Psych-Verben, basierend auf der Summe der Frequenzen aus den Mustersuchen M1+M2 ATRIX setzt die Verben hinsichtlich der absoluten Häufigkeit ihres Auftretens in einem Argumentstrukturmuster in Beziehung. Ein zweiter Index, der Erwartbarkeitsindex ( ERWIX ) zeigt, wie sehr das angesichts der allgemeinen Häufigkeit des Verbs zu erwarten war. Erwartbarkeitsindex ( ERWIX ): Der Wert des Verbs, das relativ zu seiner Gesamthäufigkeit am frequentesten in dem Argumentstrukturmuster auftritt, wird gleich 100 gesetzt. Von allen Verben neigt es am stärksten zur Verbindung mit dem Argumentstrukturmuster. Die Werte für die einzelnen Verben geben dann an, wie stark die Neigung für die einzelnen Verben zu dem Muster ist, relativ zu dem Verb mit dem höchsten Indexwert. TOP TEN Verb Kasus ATRIX gefallen dat 100,00 faszinieren akk 46,40 stören akk 26,30 interessieren akk 24,57 ärgern akk 8,19 begeistern akk 5,46 imponieren dat 3,72 missfallen dat 3,47 nerven akk 2,73 beeindrucken akk 2,23 Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben 487 Abbildung 4 zeigt die ERWIX -Werte für GS an mit den 39 untersuchten Verben: Abb. 4: ERWIX zu GS an für die 39 Psych-Verben, basierend auf der Summe der Frequenzen aus den Mustersuchen M1+M2 Die Verbliste, die einer solchen Berechnung zugrundeliegt, kann im Fortgang der Untersuchung sukzessive erweitert werden. Dabei können sich zwar die Indexwerte der Verben ändern, etwa wenn ein neu hinzukommendes Verb den höchsten Indexwert erhält, die quantitativen Verhältnisse zwischen zwei beliebigen Verben bleiben dabei aber stabil. Das heißt, wenn ein Verb A einen doppelt so hohen ATRIX - oder ERWIX -Wert hatte wie Verb B, so hat es den auch nach der Erweiterung der Liste um weitere Verben. 16 16 Die beiden Maße sind wie folgt definiert: Für (i) das Satzmuster (oder eine Menge von Satzmustern) Sm, (ii) eine Menge von Verben V, (iii) eine Funktion VV FR V R  VV N von N V in die Menge der natürlichen Zahlen, so V dass jedem v in V seine Vorkommenshäufigkeit in V Sm zugeordnet wird, (iv) eine Funktion GH V  VV N von N V in die Menge der natürlichen Zahlen, so dass jedem V v in V TOP TEN Verb Kasus ERWIX faszinieren akk 100,00 missfallen dat 59,86 imponieren dat 45,33 gefallen dat 36,36 behagen dat 27,02 stören akk 22,08 nerven akk 11,05 ängs gen akk 11,03 interessieren akk 8,85 ärgern akk 8,59 Stefan Engelberg 488 Welche Maße geeignet sind, um korpusbasiert das „Entrenchment“, also die kognitive Verankerung einer sprachlichen Struktur, zu reflektieren, ist umstritten. Ob etwa ein Verb in einer Sprachrezeptionssituation in einem bestimmten Argumentstrukturmuster schneller verarbeitet werden kann, wenn der Proband es besonders oft in diesem Muster erfahren hat ( ATRIX ) oder wenn es in diesem Muster häufiger auftritt als in anderen ( ERWIX ), ist letztlich etwas, das Evidenz durch zusätzliche psycholinguistische Untersuchungen benötigt. 17 6. Interpretation der Verteilung Im Folgenden sollen einige Überlegungen dazu angestellt werden, warum manche Psych-Verben offenbar deutlich stärker zu GS an neigen als andere. Hierzu werden wir die in ERWIX erfassten relativen Häufigkeiten betrachten, die die Neigung der Verben zum Auftreten in GS an reflektieren. In einigen quantitativen Arbeiten zu Argumentstrukturen wurde argumentiert, dass die Bedeutung einer Argumentstrukturkonstruktion in der Bedeutung des am stärksten mit ihr assoziierten Verbs gespiegelt wird. So hat die Untersuchung zu ditransitiven Verben im Englischen von Stefanowitsch/ Gries (2003) gezeigt, dass das Verb give, das die prototypische Transferbedeutung der Konstruktion lexikalisiert, auch das Verb ist, das die größte Bindung an die Konstruktion zeigt. 18 Bezüglich des gespaltenen Stimulus mit an sind die deutlichen Affinitäten bestimmter Verben zu dem Muster allerdings nicht so leicht zu erklären. Wenn die Funktion des Musters als Topik-Kommentar- Struktur richtig bestimmt ist, so ist zunächst unklar, welche Verben denn in ihrer lexikalischen Bedeutung eine solche Funktion angelegt seine Gesamthäufigkeit im Korpus zugeordnet wird, und (v) MAX(f (( ) als den höchsten Wert einer Funktion f gilt: ATRIX Sm/ V (v) = (FR(v) / MAX(FR)) * 100 ERWIX Sm/ V (v) = (FR(v) / GH(v)) / MAX(FR/ GH) * 100 Es gibt natürlich eine Reihe anderer, elaborierter Maße wie die Kollostruktionsstärke im Rahmen der Collexem-Analyse (Stefanowitsch/ Gries 2003) oder den Delta-P- Wert zur Messung der Signalstärke einer sprachlichen Einheit (Ellis 2006, siehe auch Engelberg (demn.)). Diese Maße setzen aber Kennzahlen voraus, die über die kombinatorische Mustersuche nicht ermittelt werden können. 17 Vgl. dazu etwa Schmids (2010, S. 125f.) kritische Ausführungen. 18 Zu einer ähnlichen Argumentation bezüglich der englischen as-Prädikativ-Konstruktion vgl. Gries/ Hampe/ Schönefeld (2005). Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben 489 haben sollten. Schaut man sich die Einzelbelege zu GS an genauer an, so sieht man, dass GS an in besonderem Maße dazu dient, dem PP-Referenten statische Eigenschaften zuzuschreiben (z.B. (18a), (18c)). Das heißt allerdings nicht, dass nicht auch habituelle Handlungen mit dem Topik verknüpft werden (22a); vereinzelt finden sich auch aktualisierte Geschehnisse in der Kommentarposition wie die „Behauptung“ in (22b). (22) a. Alle Modellschiffe, die gestern in der Nordstadt in See sta- chen, wurden von ihren Eignern selbst gebaut. „Schiffe bauen und sie dann selbst fahren - das fasziniert mich an Modell- schiffen“, verriet „Kapitän“ Günter Blankenstein. (Braun- schweiger Zeitung, 13.10.2008) b. Am meisten stört mich an diesem Erguß die Behauptung der Parkplatzvernichtung im Zusammenhang mit der Wiederher- stellung von „Geh“wegen. (Nürnberger Nachrichten, 4.9.1993) Wenn der GS an nun aber besonders zu stativen Eigenschaftszuschreibungen neigt, so wäre entsprechend der Hypothese der semantischen Affinität zwischen Verb und Konstruktion zu erwarten, dass insbesondere solche Verben stark mit dem Argumentstrukturmuster assoziiert sind, die generell zum Ausdruck von Sachverhalten von eher stativer Natur im Stimulusargument neigen. Dafür spricht, dass die dativregierenden Verben recht hohe ERWIX -Werte aufweisen, also solche Verben, deren Kasusmuster mit eher nicht-agentiven Argumentstrukturen assoziiert ist. Zu beobachten ist auch, dass die am höchsten in ERWIX gerankten Verben weniger unmittelbare, heftige, akute psychische Erfahrungen bezeichnen, als vielmehr solche, die eine eher evaluative, reflektive Komponente beinhalten, in der das psychische Geschehen also mit einer Evaluation eines Stimulussachverhalts zu tun hat. Auch suggeriert ein Blick auf die ERWIX -Liste, dass einige der zu GS an besonders affinen Verben (faszinieren (( , missfallen, gefallen) wenig oder gar nicht zu agentiven Stimuli neigen. Dieser Eindruck wird aber wohl eher durch die Dativverben geprägt. Bei den Akkusativverben zeigt sich der zu erwartende negative Zusammenhang zwischen der Neigung zu agens- und damit ereignisbeschreibenden Stimuli einerseits und der Neigung zu den vermeintlich eher zustandsbeschreibenden GS an nicht. Vergleicht man bei den elf Verben aus der Verbprofilstudie die Häufigkeiten des Auftretens von GS an mit der Häufigkeit des Auftretens von belebten Stimuli in Subjektposition, so zeigt sich kein deutlicher Zusammenhang (Korrelationskoeffizient: +0,16). Gerade Stefan Engelberg 490 für das am stärksten mit GS an assoziierte Verb, faszinieren, zeigt die Verbprofilanalyse auch eine starke Neigung zu dem eher agensaffinen gespaltenen Stimulus mit der Präposition mit: (23) a. Mit lauten und vor allem auch leisen Tönen faszinierten die beiden Akteure die zahlreichen Kinder und gleichzeitig auch deren Begleiter. (Berliner Morgenpost, 12.10.1999) b. Anja Tetzner faszinierte mit einem philippinischen Stock- kampf. (Mannheimer Morgen, 28.7.2006) Insgesamt ist festzuhalten, dass es zwar gewisse semantische Affinitäten zwischen der Verbbedeutung und der Funktion des Argumentstrukturmusters gibt, diese aber keineswegs genügen, um die beobachteten Verteilungen zu erklären. Es soll hier vielmehr Folgendes angenommen werden: Die beobachteten, extrem rechtsschiefen Verteilungen spiegeln unabhängig von semantischen Erwägungen ein funktionales Grundprinzip der kognitiven Verankerung wider, das dem Spannungsbogen zwischen der kognitiven Bequemlichkeit des Üblichen und den Erfordernissen nach kreativer Sprachverwendung Ausdruck verleiht (vgl. im Detail Engelberg 2015). Wenige häufig mit einem Muster auftretende Lexeme erleichtern die kognitive Verarbeitung von Verb-Argumentstrukturen, und die vielen selten mit dem Muster auftretenden Lexeme drücken Anforderungen an kreative und kommunikativ flexible Sprachverwendung aus. Literatur Cosma, Ruxandra/ Engelberg, Stefan (2014): Subjektsätze als alternative Valenzen im Deutschen und Rumänischen. In: Cosma, Ruxandra/ Engelberg, Stefan/ Schlotthauer, Susan/ Stănescu, Speranţa/ Zifonun, Gisela (Hg.): Komplexe Argumentstrukturen. Kontrastive Untersuchungen zum Deutschen, Rumänischen und Englischen. (= Konvergenz und Divergenz 3). Berlin/ Boston, S. 339-420. COSMAS II: https: / / cosmas2.ids-mannheim.de/ cosmas2-web/ . DeReKo: Deutsches Referenzkorpus / Archiv der Korpora geschriebener Gegenwartssprache. www.ids-mannheim.de/ DeReKo. Ellis, Nick C. (2006): Language acquisition as rational contingency learning. In: Applied Linguistics 27, 1, S. 1-24. Gespaltene Stimuli bei Psych-Verben 491 Engelberg, Stefan (demn.): The argument structure of psych-verbs: a quantitative corpus study on cognitive entrenchment. In: Boas, Hans C./ Ziem, Alexander (Hg.): Constructional approaches to argument structure in German. Berlin/ Boston. Engelberg: Stefan (2015): Quantitative Verteilungen im Wortschatz. Zu lexikologischen und lexikografischen Aspekten eines dynamischen Lexikons. In: Eichinger, Ludwig M. (Hg.): Sprachwissenschaft im Fokus. Positionsbestimmungen und Perspektiven. (= Jahrbuch 2014 des Instituts für Deutsche Sprache). Berlin/ Boston, S. 205-230. Engelberg, Stefan/ Koplenig, Alexander/ Proost, Kristel/ Winkler, Edeltraud (2012): Argument structure and text genre: cross-corpus evaluation of the distributional characteristics of argument structure realizations. In: Lexicographica 28, S. 13-48. Gries, Stefan Th. (2010): Behavioral profiles. A fine-grained and quantitative approach in corpus-based lexical semantics. 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(2003): Collostructions: investigating the interaction of words and constructions. In: International Journal of Corpus Linguistics 8, 2, S. 209-243. DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES BANDES Prof. Dr. Vilmos Ágel Universität Kassel Fachbereich 02 - Germanistik Kurt-Wolters Str. 5 34125 Kassel agel@uni-kassel.de Prof. Dr. Juan Cuartero Otal Departamento de Filología y Traducción Universidad Pablo de Olavide Carretera de Utrera Km. 1 41013 Sevilla S PA N I E N jcuartero@upo.es Prof. Dr. María José Domínguez Vázquez Universidad de Santiago de Compostela Dpto. de Filología Inglesa y Alemana. Área de Alemán Facultad de Filología. Avda. Castelao, s/ n 15782 Santiago de Compostela S PA N I E N majo.dominguez@usc.es Dr. María Egido Vicente Universidad de Salmanca E. U. de Educación y Turismo C/ Madrigal de las Altas Torres, 3 05003 Ávila S PA N I E N mariaegido@usal.es Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes 494 Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ludwig M. Eichinger Institut für Deutsche Sprache R 5, 6-13 68161 Mannheim direktor@ids-mannheim.de Prof. Dr. Stefan Engelberg Institut für Deutsche Sprache R 5, 6-13 68161 Mannheim engelberg@ids-mannheim.de Manuel Fernández Méndez Centro de Linguas Modernas Universidade de Santiago de Compostela Facultade de Humanidades - Bloque Central Campus de Lugo 27002 Lugo S PA N I E N manuel.fernandez.mendez@usc.es Prof. Dr. Klaus Fischer London Metropolitan University Faculty of Social Sciences and Humanities Centre for International Programmes and Languages 166-220 Holloway Road London N7 8DB G R O S S B R I TA N N I E N k.fischer@londonmet.ac.uk Dr. Mario Franco Barros Centro de Artes e Humanidades Universidade da Madeira Campus Universitário da Penteada, Piso 1, Gabinete 1.106 9020-105 Funchal P O R T U G A L mariofb@uma.pt Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes 495 Vanessa González Ribao Universidad de Santiago de Compostela Dpto. de Filología Inglesa y Alemana. Área de Alemán Facultad de Filología. Avda. Castelao, s/ n 15782 Santiago de Compostela Spanien vanessina_gr@hotmail.com Prof. Dr. Brigitte Handwerker Institut für deutsche Sprache und Linguistik Philosophische Fakultät II Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden 6 10099 Berlin brigitte.handwerker@hu-berlin.de Prof. Dr. Anke Holler Universität Göttingen Seminar für Deutsche Philologie Käte-Hamburger-Weg 3 37073 Göttingen anke.holler@phil.uni-goettingen.de Dr. Nely M. Iglesias Iglesias Departamento de Filología Moderna - Área de Alemán Universidad de Salamanca Plaza de Anaya s/ n 37008 Salamanca S PA N I E N nely@usal.es Prof. Dr. Clemens Knobloch Fakultät I: Germanistik - Sprachwissenschaft I Universität Siegen Adolf-Reichwein-Straße 2 57076 Siegen knobloch@germanistik.uni-siegen.de Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes 496 Prof. Dr. Meike Meliss Universidad de Santiago de Compostela Dpto. de Filología Inglesa y Alemana. Área de Alemán Facultad de Filología. Avda. Castelao, s/ n 15782 Santiago de Compostela S PA N I E N meike.meliss@usc.es Prof. Dr. Carmen Mellado Blanco Facultade de Filoloxía. Campus Norte Dpto. Filoloxía Inglesa e Alemá Avda. de Castelao s/ n 15782 Santiago de Compostela S PA N I E N c.mellado@usc.es Mónica Mirazo Balsa Universidad de Santiago de Compostela Dpto. de Filología Inglesa y Alemana. Área de Alemán Facultad de Filología. Avda. Castelao, s/ n 15782 Santiago de Compostela S PA N I E N monica.mirazo@gmail.com Dr. Kristel Proost Institut für Deutsche Sprache R 5, 6-13 68161 Mannheim proost@ids-mannheim.de Prof. Dr. Irene Rapp Universität Tübingen Deutsches Seminar Wilhelmstraße 50 72074 Tübingen irene.rapp@uni-tuebingen.de Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes 497 Dr. Paloma Sánchez Hernández Departamento de Filología Alemana Facultad de Filología Despacho 2-343 Universidad Complutense de Madrid Ciudad Universitaria s/ n 28040 Madrid S PA N I E N palomash@filol.ucm.es Prof. Dr. Klaus Welke Institut für deutsche Sprache und Linguistik Philosophische Fakultät II Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden 6 10099 Berlin klaus.welke@rz.hu-berlin.de Dr. Edeltraud Winkler Institut für Deutsche Sprache R 5, 6-13 68161 Mannheim winkler@ids-mannheim.de Dr. Arne Zeschel Institut für Deutsche Sprache R 5, 6-13 68161 Mannheim zeschel@ids-mannheim.de Studien zur Deutschen Sprache Forschungen des Instituts für Deutsche Sprache herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Angelika Wöllstein Aktuelle Bände: Frühere Bände finden Sie unter: http: / / www.narr-shop.de/ reihen/ s/ studien-zurdeutschen-sprache.html 40 Heidrun Kämper / Ludwig M. Eichinger (Hrsg.) Sprach-Perspektiven Germanistische Linguistik und das Institut für Deutsche Sprache 2007, 509 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6295-1 41 Christian Fandrych / Reinier Salverda (Hrsg.) Standard, Variation und Sprachwandel in germanischen Sprachen / Standard, Variatio and Language Change in Germanic Languages 2007, 304 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6336-1 42 Carolin Müller-Spitzer Der lexikografische Prozess Konzeption für die Modellierung der Datenbasis 2007, 314 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6357-6 43 Manfred W. Hellmann Das einigende Band? Beiträge zum sprachlichen Ost-West-Problem im geteilten und im wiedervereinigten Deutschland. Herausgegeben von Dieter Herberg 2008, 563 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6385-9 44 Ludwig M. Eichinger / Meike Meliss / Maria José Dominguez Vázquez (Hrsg.) Wortbildung heute Tendenzen und Kontraste in der deutschen Gegenwartssprache 2008, 356 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6386-6 45 Heidrun Kämper / Annette Klosa / Oda Vietze (Hrsg.) Aufklärer, Sprachgelehrter, Didaktiker Johann Christoph Adelung (1732-1806) 2008, 293 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6401-6 46 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia (Hrsg.) Das Deutsche und seine Nachbarn Über Identitäten und Mehrsprachigkeit 2008, 184 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6437-5 47 Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt (Hrsg.) Situationseröffnungen Zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion 2010, 386 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6438-2 48 Hardarik Blühdorn Negation im Deutschen Syntax, Informationsstruktur, Semantik 2012, 482 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6444-3 49 Wolf-Andreas Liebert / Horst Schwinn (Hrsg.) Mit Bezug auf Sprache Festschrift für Rainer Wimmer 2009, 584 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6470-2 50 Daniela Heidtmann Multimodalität der Kooperation im Lehr-Lern-Diskurs Wie Ideen für Filme entstehen 2009, 340 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6471-9 51 Ibrahim Cindark Migration, Sprache und Rassismus Der kommunikative Sozialstil der Mannheimer „Unmündigen“ als Fallstudie für die „emanzipatorischen Migranten“ 2010, 283 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6518-1 52 Arnulf Deppermann / Ulrich Reitemeier / Reinhold Schmitt / Thomas Spranz-Fogasy Verstehen in professionellen Handlungsfeldern 2010, 392 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6519-8 53 Gisella Ferraresi Konnektoren im Deutschen und im Sprachvergleich Beschreibung und grammatische Analyse 2011, 350 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6558-7 54 Anna Volodina Konditionalität und Kausalität im Deutschen Eine korpuslinguistische Studie zum Einfluss von Syntax und Prosodie auf die Interpretation komplexer Äußerungen 2011, 288 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6559-4 55 Annette Klosa (Hrsg.) elexiko Erfahrungsberichte aus der lexikografischen Praxis eines Internetwörterbuchs 2011, 211 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6599-0 56 Antje Töpel Der Definitionswortschatz im einsprachigen Lernerwörterbuch des Deutschen Anspruch und Wirklichkeit 2011, 432 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6631-7 57 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia / Melanie Steinle (Hrsg.) Sprache und Integration Über Mehrsprachigkeit und Migration 2011, 253 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6632-4 58 Inken Keim / Necmiye Ceylan / Sibel Ocak / Emran Sirim Heirat und Migration aus der Türkei Biografische Erzählungen junger Frauen 2012, 343 Seiten €[D] 49, - ISBN 978-3-8233-6633-1 59 Magdalena Witwicka-Iwanowska Artikelgebrauch im Deutschen Eine Analyse aus der Perspektive des Polnischen 2012, 230 Seiten 72, - ISBN 978-3-8233-6703-1 60 Kathrin Steyer (Hrsg.) Sprichwörter multilingual Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen Parömiologie 2012, 470 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6704-8 61 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia / Christiane Schoel / Dagmar Stahlberg (Hrsg.) Sprache und Einstellungen Spracheinstellungen aus sprachwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Perspektive. Mit einer Sprachstandserhebung zum Deutschen von Gerhard Stickel 2012, 370 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6705-5 62 Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt (Hrsg.) Raum als interaktive Ressource 2012, 400 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6706-2 63 Annette Klosa (Hrsg.) Wortbildung im elektronischen Wörterbuch 2013, 279 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6737-6 64 Reinhold Schmitt Körperlich-räumliche Aspekte der Interaktion 2013, II, 334 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6738-3 65 Kathrin Steyer Usuelle Wortverbindungen Zentrale Muster des Sprachgebrauchs aus korpusanalytischer Sicht 2014, II, 390 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6806-9 66 Iva Kratochvílová / Norbert Richard Wolf (Hrsg.) Grundlagen einer sprachwissenschaftlichen Quellenkunde 2013, 384 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6836-6 67 Katrin Hein Phrasenkomposita im Deutschen Empirische Untersuchung und konstruktionsgrammatische Modellierung 2015, ca. 520 Seiten €[D] ca. 98, - ISBN 978-3-8233-6921-9 68 Stefan Engelberg / Meike Meliss / Kristel Proost / Edeltraud Winkler (Hrsg.) Argumentstruktur zwischen Valenz und Konstruktion 2015, 497 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-6960-8 Der valenztheoretis en Behandlung von Argumentstrukturen stehen seit längerer Zeit konstruktionsgrammatis e Theorien gegenüber, die die syntaktis -semantis en Konstruktionen selbst als primäre Objekte der Spra bes reibung sehen, wel e dann spezifis e Lexeme als lexikalis e Füllungen selegieren. Die Beiträge dieses Bandes zeigen, dass si die beiden Ansätze ni t auss ließen müssen, sondern si bei der theoretis en Modellierung der regelha en und idiosynkratis en Aspekte von Argumentstrukturen auf fru tbare Weise ergänzen können. Neben rein theoretis orientierten Studien enthält der Band Beiträge, deren Gegenstand die Evaluierung von Methoden zur empiris en Fundierung dieser Theorien ist. Zudem wird der Phänomenberei aus metalexikografis er und aus der Perspektive des Fremdbzw. Zweitspra erwerbs betra tet. Zum Teil werden in den Beiträgen kontrastive Analysen vorgenommen, vor allem hinsi tli des Spra enpaares Deuts - Spanis . Die angewandten Aspekte des Themas werden dabei immer au an theoretis e und empiris e Überlegungen rü gebunden. Die Struktur des Bandes reflektiert den Fokus, den die einzelnen Beiträge setzen: Repräsentationen, Konstruktionen, Wortfelder und Methoden.