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Poetik und Polemik

2018
978-3-8233-9163-0
Gunter Narr Verlag 
Tobias Dänzer

Der Florentiner Humanist Angelo Poliziano (1454-1494) zählt zu den zentralen Figuren der Renaissance. Bedeutende Leistungen vollbrachte er auf dem Gebiet der Philologie, als Dichter schuf er bleibende Werke auf Griechisch, Latein und im Volgare. Er war Professor an der Florentiner Universität und gehörte zum engsten Kreis des Medicifürsten Lorenzo il Magnifico. Dieser Band trägt dazu bei, das vielfältige poetische und akademische Werk Polizianos, ausgehend von seiner Dichtungskonzeption und mit besonderem Fokus auf eine nahezu unbeachtete Schaffensphase, auf eine neue Grundlage zu stellen. Den Ausgangspunkt bildet die frühe Übersetzung der homerischen Ilias in lateinische Hexameter: Durch sie entwickelte Poliziano einen radikalen enzyklopädischen Zugang zum antiken Text, den er zur Maxime seines humanistischen Denkens erhob und später in scharfen Gelehrtenfehden behauptete. Indem die epochale Rolle der Polemik anhand eines der wichtigsten italienischen Humanisten exemplifiziert wird, leistet der Band einen Beitrag zum Verständnis der Epochenstruktur der Renaissance.

Poetik und Polemik Angelo Polizianos Dichtung im Kontext der Gelehrtenkultur der Renaissance von Tobias Dänzer Poetik und Polemik Herausgegeben von Thomas Baier, Wolfgang Kofler, Eckard Lefèvre und Stefan Tilg 28 Tobias Dänzer Poetik und Polemik Angelo Polizianos Dichtung im Kontext der Gelehrtenkultur der Renaissance Würzburg, Univ., Diss., 2017 Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1615-7133 ISBN 978-3-8233-8163-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 9 10 A. 17 1. 22 1.1. 22 1.2. 25 1.3. 30 2. 41 2.1. 42 2.1.1. 42 2.1.2. 46 2.2. 54 2.2.1. 54 2.2.2. 61 2.2.3. 73 2.2.4. 81 3. 87 3.1. 87 3.2. 100 3.3. 108 B. 117 1. 121 1.1. 128 1.2. 139 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poliziano und Homer - Entwicklung einer Poetologie . . . . . . . . . . . . Homerus togatus - Homer in der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homerbild im Wandel - von Petrarca zu Marsuppini . . . . . . . Poliziano und der allwissende Dichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der ‚homerische‘ Lehrer: Andronikos Kallistos . . . . . . . . . . . . Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie . . . . Poetische Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . contaminatio - ferruminatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versatzstücke und Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetischer Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachterminologie und Enzyklopädie . . . . . . . . . . . . . . . . Anschaulichkeit - enargia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich - comparatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katalog - catalogus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos . . . . . . . . Der Dichter als Maler: Sylva in scabiem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Dichter als Fachmann: Rusticus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Dichter als Philologe: Nutricia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom homericus adulescens zum grammaticus - Entwicklung einer Polemik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ficino und die platonische Dichtungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik an Ficino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 144 2.1. 144 2.1.1. 146 2.1.2. 152 2.1.3. 167 2.2. 174 2.2.1. 175 2.2.2. 179 3. 188 3.1. 189 3.2. 203 3.2.1. 204 3.2.2. 206 3.2.3. 213 4. 220 4.1. 222 4.1.1. 222 4.1.2. 226 4.2. 231 4.2.1. 232 4.2.2. 247 263 270 289 291 296 Poliziano: Der Dichter als Philosoph? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stanze per la giostra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genre und Handlungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Liebesdiskurs der Stanze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidenz und Allegorie: Die Stanze als philosophisches Gedicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabula di Orfeo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orpheus in der Renaissance: Der Wahrheitssucher . . . Orpheus auf der Bühne: Polizianos gefallene Helden . . Gegenentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingenium: Gabe oder Gnade? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polizianos Nutricia und die neuplatonische Dichtungslehre . . Selbstinszenierung: poeta inspiratus . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption: Lehrdichtung über / als Inspirationsdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinterpretation: Literaturgeschichte als Grenze inspirierter Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angriff des Exegeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Als Homeride in den Kampf - Ambra und Oratio in expositione Homeri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich, homericus adulescens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homerus philosophus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Polemik der praefationes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praefatio in Charmidem: Platon wider die Platoniker . . Lamia: Kampfbegriff grammaticus . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Werke Polizianos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Meinen Eltern Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2016/ 17 von der Philosophischen Fakultät der Julius- Maximilians-Universität Würzburg angenommen wurde. Der erste und wichtigste Dank gebührt meinem Lehrer Herrn Prof. Dr. Thomas Baier, der mich in allen wissenschaftlichen Fragen gut beraten, mich stets unterstützt und gefördert und mir ein eigenständiges Arbeiten ermöglicht hat. Für wertvolle Anregungen danke ich meinem Zweitbetreuer Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Erler sowie Herrn Prof. Dr. Ludwig Braun, Frau Prof. Dr. Martha Kleinhans und Herrn Prof. Dr. Tornau, für die Mühe des Korrekturlesens Marco Bleistein, Manfred Dänzer und Manuel Huth. Zu großem Dank bin ich der Konrad-Adenauer-Stiftung verpflichtet, die mein Promotionsvorhaben finanziell und ideell unterstützt und mir Zuschüsse für Forschungsaufenthalte in Florenz und Messina gewährt hat. Den Damen und Herren der VG Wort sei für den großzügigen Zuschuss gedankt, den sie mir für die Drucklegung der Arbeit zur Verfügung gestellt haben. Mein Dank gilt ferner den Herausgebern der Reihe NeoLatina, neben Herrn Prof. Baier den Herren Professoren Wolfgang Kofler, Eckard Lefèvre und Stefan Tilg, sowie dem Narr Francke Attempto Verlag, hier besonders Herrn Tillmann Bub für seine Hilfs‐ bereitschaft und Frau Vanessa Weihgold für die Beratung in technischen Fragen. Ich danke außerdem Frau Prof. Dr. Rita degl’Innocenti Pierini für die Mög‐ lichkeit eines Forschungsaufenthalts im Schatten des Florentiner Doms, Herrn Prof. Dr. Vincenzo Fera, Frau Prof. Dr. Daniela Gionta und besonders Frau Prof. Dr. Paola Megna, die mir entscheidende Anstöße zur vorliegenden Arbeit ge‐ geben hat, für die herzliche Aufnahme am Centro Internazionale di Studi Um‐ anistici in Messina. Ganz besonderer Dank gilt meiner Frau Caroline, deren liebevoller, aber be‐ stimmter Korrekturstrich den Leser vor so mancher Umständlichkeit bewahrt hat. Ihre ausdauernde Bereitschaft zur Diskussion, ihre unermüdliche Hilfe und ihr zärtlicher Zuspruch haben die zurückliegenden Jahre sehr bereichert. Schließlich danke ich meinen Eltern, Anneliese und Manfred Dänzer, für ihre großartige Unterstützung in allen Situationen des Lebens. Ihnen widme ich dieses Buch. Würzburg, im Mai 2018 T.D. 1 Pol. Il. 2 praef. 46-51 (Übersetzungen, wo nicht anders angegeben, sind die des Verfas‐ sers). Die Ilias-Übersetzung wurde vom italienischen Kardinal Angelo Mai in der Bib‐ lioteca Vaticana gefunden und erstmals ediert: Mai 1839, 1-100. Im Wesentlichen eine Reproduktion dieser Edition ist der Text in Del Lungo 1867, 431-523. Die Übersetzung ist überliefert in den Codd. Vat. lat. 3298 (Gesänge 2/ 3) und Vat. lat. 3617 (Gesänge 4/ 5). Zu den biographischen Angaben hier und im Folgenden: Eine umfassende biographi‐ sche Studie zu Poliziano liegt nicht vor. Die wichtigsten Schriften sind noch immer Mencke 1736; Del Lungo 1897; Picotti 1955a; Maïer 1966. In jüngerer Zeit Orvieto 2009, 49-155. Leuker 1997 untersuchte ausgewählte Werke Polizianos auf deren autobiogra‐ phischen Gehalt. 2 Vgl. Ficino, epist. 1, 16 (Gentile 1990, 40); Stimmen bei Mai 1839, IX-X; Del Lungo 1867, 182 (Lobgedicht des Gioviano Crasso da Montopoli); Del Lungo 1897, 120-122; Lo Cascio 1970, 15-16; Levine Rubinstein 1983, 48. Einführung Im Widmungsgedicht an Lorenzo de’ Medici, das seine Übersetzung des 2. Ilias-Gesangs in lateinische Hexameter begleitete, warb der sechzehnjährige Angelo Poliziano (1454-1494) um die Gunst des Medicifürsten und kündigte den größten Dichtern der Antike den Kampf an: 1 […] Tu tantum lintea vati Dirige; namque potes. Neque enim, te praeside, Phoebum Thespiadumque choros non sacri numina Bacchi Sollicitare velim: solus tu carmina nobis Ismarium possis afferre aequantia plectrum. Te duce vel priscis ausim certare poetis. Du aber setze dem Dichter die Segel - denn du vermagst es. Besonders verlangt mich danach, unter deinem Schutz den Phoebus, die Chöre der Musen und den heiligen Bacchus herbeizurufen. Du allein vermagst es, mir Lieder einzugeben, die der Dich‐ tung vom Ismarus gleichkommen. Unter deiner Führung will ich es wagen, sogar mit den ehrwürdigen Dichtern der Antike in Wettstreit zu treten. Die Übersetzung des Ilias-Gesangs, die den vollmundigen Ankündigungen folgte, bescherte dem jugendlichen Verfasser einen beispiellosen Erfolg - er wurde von namhaften Zeitgenossen als ‚homerischer Jüngling‘, gar als ‚römi‐ scher Homer’ gefeiert. 2 Lorenzo nahm den Dichter unter seine Fittiche, holte ihn 1473 an den Hof und installierte ihn bald als Lehrer und Erzieher seines Sohnes Piero. Andere Aufgaben, so das Preisgedicht auf den Turniersieg des 3 Vgl. Celenza 2010, 5-8; Verde 1973, 1, 263-392; 2, 26-29. 4 Vgl. hierzu die grundlegenden Darstellungen bei Grafton 1977; 1991; Rizzo 1973; Cesa‐ rini Martinelli 1978b; Krautter 1983; Lo Monaco 1992, 103-113; Timpanaro 2005 mit Bibliographie. 5 Die griechische Dichtung Polizianos ist nunmehr erschlossen durch die Edition des Liber Epigrammatum Graecorum von Pontani 2002. Giuliano de’ Medici, die Stanze per la giostra, und nicht zuletzt innenpolitische Schwierigkeiten, die in der Verschwörung der Pazzi ihren sichtbarsten Ausdruck fanden, erschwerten die Arbeit an der Übersetzung und brachten sie bereits nach dem fünften Gesang zum Erliegen. Nach einer Zeit persönlicher Entfremdung zwischen Schützling und Mäzen, an dessen Ende sich jener dem Medicihof mit einer Reise durch Oberitalien entzog, berief Lorenzo im Jahre 1480 den nunmehr 26jährigen Poliziano auf den Lehrstuhl für Poetik und Rhetorik am Florentiner Studio. Mit seiner Einsetzung als Professor entfaltete Poliziano ein immenses akademisches Wirken, das über die Grenzen seiner Fächer weit hinausgriff. Insbesondere seine Beschäftigung mit der Philosophie, die ab der Mitte der 80er Jahre an Kontur gewann, führte zu Grenzstreitigkeiten mit den führenden Philosophen seiner Zeit - sicherlich zu den prominentesten Gegnern zählten Cristoforo Landino, sein Amtskollege am Studio, und der Plato Florentinus Marsilio Ficino. Um dem Vorwurf der ad‐ rogatio zu wehren, holte er in bissigen Schriften zum Gegenschlag aus - er hielt ihren exegetischen Methoden, insbesondere der auf platonischen und neupla‐ tonischen Philosophemen gegründeten Allegorese, das unbedingte Postulat philologischer Textkonstitution entgegen, die jeglicher Interpretation aller, so auch philosophischer Schriften voraufgehen müsse. Fraglos ist es dem Dafür‐ halten Lorenzos zu verdanken, dass Polizianos Grenzübertritte gutgeheißen, ja so gut entlohnt wurden, dass er schließlich zum bestbezahlten Professor am Studio aufstieg. 3 Polizianos Vermächtnis ist enorm. Seine bedeutendsten Leistungen, die ihn weit über Florenz hinaus berühmt werden ließen, hat er auf dem Gebiet der Philologie vollbracht, als deren moderner Begründer er bis heute gilt. 4 Unum‐ stritten sind seine Verdienste um die vulgärsprachliche, lateinische und grie‐ chische Dichtung des Quattrocento. 5 Als Mitglied des Zirkels um Lorenzo und als Professor an der Florentiner Universität gehörte er zu den bedeutendsten Gelehrten des Rinascimento: Seine akademischen Vorreden zeigen ihn als einen der fortschrittlichsten Denker seiner Zeit, seine Briefe, in welchen er Kontakt 11 Einführung 6 Quint 1979, vii nannte Poliziano „the most brilliant humanist of Renaissance Florence“, Carlo Dionisotti bezeichnete ihn gar als „[il] maggiore umanista del Quattrocento“ (zit. bei Leuker 1997, 1). 7 Waschbüsch 1972. 8 Leuker 1997. 9 Schönberger 1992; 1998; Schönberger / Schönberger 2011. 10 Die Vorstellung einer ideologischen Wende von der leichten Dichtung hin zur ernst‐ haften Wissenschaft manifestiert sich insbesondere in fehlenden werkübergreifenden Analysen. Stattdessen konzentriert sich die Forschung entweder auf den jugendlichen Dichter oder den Philologen der späteren Jahre. Vgl. hierzu Branca 1983, 27-28 Anm. 1; Cesarini Martinelli 1978, 98-99 Anm. 5. 11 Branca 1983, 12. Vgl. auch Cesarini Martinelli 1978; Bigi 1967; Martelli 1973. zu den namhaftesten Humanisten Italiens unterhielt, als zentrale Figur inner‐ halb der geistigen Landschaft des ausgehenden 15. Jahrhunderts. 6 Während sich in den angelsächsischen Ländern, in Frankreich und insbeson‐ dere in Italien längst Forschungszentren etabliert haben, die sich mit der Er‐ schließung des Werks, der intellektuellen Biographie und der ideengeschichtli‐ chen Einordnung Polizianos beschäftigen, fällt der deutsche Beitrag zur Erforschung dieses Protagonisten des renaissancezeitlichen Humanismus bis‐ lang gering aus. In den letzten knapp 50 Jahren wurden lediglich zwei Mono‐ graphien publiziert, die sich ausschließlich mit dem Gelehrten befassen. 1972 veröffentlichte Alfons Waschbüsch eine wertvolle und in der Forschung noch immer die einzige Untersuchung zum Philosophen Poliziano. 7 Erst 1997 folgte Tobias Leuker mit einer Studie zur autobiographischen Stilisierung des Huma‐ nisten in seinen Dichtungen. 8 Der Übersetzungsarbeit Otto Schönbergers ist es zu verdanken, dass Poliziano nunmehr auch Deutsch spricht: In Übersetzung liegen die Silven Rusticus und Manto sowie die Vorworte und Vorlesungen vor. 9 Eine der grundsätzlichsten Fragen, die die Poliziano-Forschung gestellt hat, ist die nach der Einheitlichkeit seines Denkens und Dichtens. Im ersten Kapitel seines einflussreichen Werks Poliziano e l’umanesimo della parola aus dem Jahre 1983 glaubte Vittore Branca zwei Forschungsmeinungen ins Reich der Legende verweisen zu können, die von einer Dichotomie innerhalb der intellektuellen Biographie des Florentiner Gelehrten ausgegangen waren. Die eine hatte scharf geschieden zwischen dem ‚Poliziano volgare‘ der Stanze und des Orfeo und dem ‚Poliziano latino‘ der Silvae, die andere zwischen dem jungen Dichter und dem späteren Philologen. 10 Der Annahme einer solch holzschnittartigen Einteilung setzte Branca zurecht die Vorstellung einer kontinuierlichen gegenseitigen Durchdringung der jeweiligen Bereiche, „una continua circolazione attiva e vi‐ vificante tra invenzione poetica e impegno filologico“, entgegen. 11 Im selben Atemzug indes brach er das humanistische Denken Polizianos neuerlich ent‐ 12 Einführung 12 Vgl. Branca 1983, 3-36; 1986. 13 Bes. Godman 1993; Roncoroni 2006, 81-87. 14 Godman 1993, 127; Leuker 1997, 152-153; Guest 2007. 15 Ferruolo 1955; Carrai 1988, 5-17; Martelli 1995, 101-137; Doglio 1998; Storey 2003; Bausi 2006, 19-34; Coleman 2012. 16 Bigi 1967; Cesarini Martinelli 1978; Séris 2004. 17 Orvieto 2009, 273-274. zwei, indem er dessen Exilsjahre in Venedig 1479/ 80 zum Wendepunkt des Platon- und Ficinojüngers zum überzeugten Aristoteliker erklärte. 12 Diese Vor‐ stellung einer ‚svolta aristotelica‘ wurde in der Folge häufig bezweifelt. Insbe‐ sondere die These, Poliziano sei in Venedig auf die aristotelische Poetik auf‐ merksam geworden und habe sie schließlich ins Zentrum seiner Poetologie gerückt, wurde verschiedentlich zu korrigieren versucht. 13 So maß etwa Peter Godman der philologisch-alexandrinischen Ausrichtung der Dichtungen Poli‐ zianos entscheidende Bedeutung zu, die ihn an der Übernahme integraler The‐ oreme der aristotelischen Poetik gehindert hätten, und prägte dem Dichter das weitgehend akzeptierte Etikett eines ‚Florentine Callimachus‘ auf. 14 In dieser Forschungskontroverse allerdings erschöpft sich die Suche nach einer einheit‐ lichen Dichtungskonzeption, einer klar zu benennenden Poetologie, keines‐ wegs. Noch immer einflussreich ist die neuplatonische Schule - namhafte Ver‐ treter sind Mario Martelli, Francesco Bausi und Stefano Carrai -, die Polizianos humanistisches und poetologisches Credo in wesentlicher Abhängigkeit von Ficino und seiner Lehre sieht und insbesondere die vulgärsprachlichen Dich‐ tungen unter dem Stern neuplatonisch-ficinianischer Philosophie lokalisiert. 15 Hiergegen wiederum hat sich eine Front von Forschern gebildet, die den Einfluss Ficinos und des Neuplatonismus auf Poliziano auf ein weit geringeres Maß zu‐ rückstutzten. 16 Einen überaus radikalen Ansatz vertrat hier vor einigen Jahren Paolo Orvieto, einst Anhänger und nunmehr erklärter Gegner der neuplatoni‐ schen Schule, indem er die Möglichkeit einer platonisierenden Lesart etwa der frühen vulgärsprachlichen Werke Polizianos gänzlich negierte. 17 Die Poliziano-Forschung bewegt sich, wie bereits hier ersichtlich wird, im Spannungsfeld zuweilen stark gegensätzlicher Pole, zu deren Versöhnung bis‐ lang wenig versucht wurde. Noch immer dominieren wenig präzise Behelfs‐ vorstellungen von Bruch, Wandel und Wende, wenn es darum geht, den akade‐ mischen Werdegang des Gelehrten nachzuzeichnen. Um zu einem grundlegenden Verständnis des Florentiner Dichters und Gelehrten zu gelangen, bedarf es zuvörderst einer unvoreingenommenen Herangehensweise an den Text, die frei ist von allzu rigiden Klassifizierungen in griechische, lateinische und vulgärsprachliche Dichtungen oder in poetische und philologische Erzeug‐ 13 Einführung 18 Cesarini Martinelli 1978, 134: “E in generale credo che una lettura del Poliziano condotta per settori, separando il latino dal volgare, la poesia dalla filologia, sia estremamente rischiosa, in quanto gli scritti dell’umanista […] spesso si illustrano l’uno con l’altro e sono ricchi di temi ricorrenti che, pur formulati in maniera diversa a seconda di ciò che il contesto richiedeva, esprimono concetti di fondo che solo una raccolta compiuta di tutte le testimonianze permette di ricostruire a pieno.” 19 Cerri 1977a: “La giovanile interpretatio Homerica del Poliziano è un’opera da cui non si può prescindere se si vogliono cogliere in concreto talune caratteristiche essenziali del poeta e della sua poetica.” 20 Maïer 1966, 30-31. Vgl. auch Gentile 1998 und Megna 2009, LXXIV-LXXVI. 21 Vgl. z.B. Maïer 1966, 203-215; Orvieto 2009, 10-11. nisse, frei auch von zu klar umgrenzten Einteilungen in Lebens- und Werkab‐ schnitte. 18 Die vorliegende Arbeit verpflichtet sich diesem ganzheitlichen Ansatz, indem sie in sprach-, gattungs- und werkübergreifender Analyse Kontinuitäten auf‐ zeigt und einordnet. So soll sie dazu beitragen, das humanistische Profil Polizi‐ anos, ausgehend von seiner Dichtungskonzeption, auf der Basis jüngster For‐ schungsergebnisse und mit besonderem Fokus auf eine nahezu unbeachtete Schaffensphase auf eine neue Grundlage zu stellen. Dabei bildet das Frühwerk Polizianos, namentlich seine Übersetzung der homerischen Ilias in lateinische Hexameter, die noch immer einer umfassenden Würdigung harrt, den Aus‐ gangspunkt für die Untersuchung. Die von Poliziano reichlich annotierte Über‐ setzung wurde bislang selbst in den großen poetologischen Untersuchungen nicht oder nur marginal behandelt und kaum in Bezug zu den eigenständigen Dichtungen gesetzt. 19 Mit der Vernachlässigung der Ilias-Übersetzung geht der wichtigste Aspekt in der Ausbildung Polizianos verloren: Während er an der Übersetzung arbeitete, hörte er eine Vorlesung des Byzantiners Andronikos Kallistos über die Ilias, von der sich eine anonyme Mitschrift erhalten hat, die über Art und Inhalt der Lehre des Meisters in großer Ausführlichkeit kündet. Dem Lehrer wurde zwar bereits in Ida Maïers Grundlagenwerk zur formation des Humanisten ein knappes Resümee zuteil; 20 sein tiefgreifender Einfluss auf Poliziano als Dichter und Philologe wurde indes bislang nicht untersucht. Im ersten Teil der Arbeit, welcher der poetischen Technik Polizianos ge‐ widmet ist, soll der sog. contaminatio fontium ein Erklärungsmodell zugrunde gelegt werden, das den charakteristischen poetischen Stil Polizianos auf eine klar festzulegende Methodik zurückführen kann. Mit dem Begriff der contami‐ natio verbindet sich die unbestrittene Signatur des Dichters, eine sämtliche seiner Dichtungen - frühe und späte, griechische, lateinische und vulgärsprach‐ liche - durchziehende poetologische Grundkonstante. 21 Der Anspielungs‐ reichtum ist das Charakteristikum schlechthin für Polizianos poetischen Stil. 14 Einführung 22 Vgl. das gleichnamige Buch von Nisard 1860. 23 Vgl. die Einleitung zu B. Gerade jedoch die Vielfalt literarischer Anspielungen und die Mannigfaltigkeit der verwendeten Quellen sind dafür verantwortlich, dass sich die Dichtungen Polizianos einer präzisen Deutung durch den Leser beständig entziehen. Durch eine Analyse der Übersetzungstechnik Polizianos, die von der Forschung bislang kaum aufgearbeitet ist, kann hier ein Intertextualitätsmodell abgeleitet werden, das für Polizianos Dichtung insgesamt Gültigkeit beansprucht. Auch hierfür soll die Ilias-Übertragung samt Polizianos handschriftlicher Glossen, die in Teilen und im Verein mit der lateinischen Version nichts weniger sind als eine klar bekundete Poetik, im Mittelpunkt stehen. Indem Poliziano eine Poetik entwi‐ ckelt, die anschauliche Darstellung, enzyklopädischen Zuschnitt und philologi‐ schen Anspruch verbindet, setzt er sich deutlich von frühhumanistischen und zeitgenössischen Dichtungstheorien ab, was letztlich zu polemischen Ausei‐ nandersetzungen mit bedeutenden Vertretern des mediceischen Gelehrtenzir‐ kels führt. Der Vorstellung der Dichtung als polemisches Mittel, von Poetik als Polemik, liegt die plausible, doch nicht selten vernachlässigte Prämisse zugrunde, dass die humanistische Antikenrezeption nicht in direktem Rückgriff auf das antike Erbe, sondern im beständigen Austausch und nicht zuletzt im Schlagabtausch zwischen den Gelehrten der explizit als solcher empfundenen ‚Neuen Zeit‘ stattfand. Das Augenmerk soll deshalb im zweiten Teil der Arbeit auf die Rolle der Polemik gelegt werden, der einerseits die Aufgabe zukommt, die Stand‐ punkte des Humanisten innerhalb einer Gelehrtenkultur, deren Protagonisten weiland als „gladiateurs de la république des lettres“ bezeichnet wurden, 22 zu behaupten und zu festigen, und die andererseits selbst normierend auf die Ent‐ wicklung oder Konturierung dieser Standpunkte einwirkt. Die Polemik, ver‐ standen als charakteristisches Merkmal der renaissancezeitlichen Dialog- und Streitkultur, dient gewissermaßen der Veredelung des Bücherwissens und gilt als das Ziel, auf welches hin ein humanistisches Credo aufgerichtet wird. 23 Die einzelne polemische Äußerung ist nie als Selbstzweck, als unmotivierte pole‐ mische Einlassung zu verstehen, sondern muss immer in Verbindung mit der bewussten Inszenierung des eigenen humanistischen Profils - und daher auch mit Blick auf das Profil des jeweiligen Gegners - betrachtet werden. Es soll daher weniger um die konkrete Auswirkung der einzelnen polemischen Auseinan‐ dersetzung gehen, sondern um die mediale Funktion der Polemik als unabding‐ bares Komplement humanistischer Interaktion. Im unbestrittenen Charakteris‐ tikum der renaissancezeitlichen Gelehrtenkultur, in ihrer dezidiert dialogischen 15 Einführung Ausrichtung, liegt m.E. der Schlüssel zum Verständnis für die von der Forschung konstatierten Wandel und Brüche im Denken des Florentiner Gelehrten. 16 Einführung A. Poliziano und Homer - Entwicklung einer Poetologie 1 Zur Datierung der Übersetzung Perosa 1954, 12-13; Maїer 1966, 86-89; Megna 2007, 3- 4 Anm. 3; dies. 2009, XXII-XXIII. 2 Vgl. Leuker 1997, 8-10; Megna 2007, XXXIII-XXXIV. 3 Pol. Misc. 1 in fine (Poliziano 1553, 310): Etenim ego, tenera adhuc aetate, sub duobus excellentissimis hominibus, Marsilio Ficino Florentino, cuius longe felicior quam Thra‐ censis Orphei cithara veram (ni fallor) Eurydicen, hoc est amplissimi iudicii Platonicam sapientiam revocavit ab inferis, et Argyropilo Byzantio Peripateticorum sui temporis longe clarissimo, dabam quidem philosophiae utrique operam, sed non admodum assiduam, vi‐ delicet ad Homeri poetae blandimenta natura et aetate proclivior, quem tunc latine quoque miro, ut adulescens, ardore, miro studio versibus interpretabar. 4 Pol. Misc. 1 in fine (1553, 310). 5 Cesarini Martinelli 1997, 475-476; Silvano 2010, LX-LXI. Vgl. auch Dorez 1895. 6 Ambra 1-13. Polizianos intellektuelle Biographie beginnt mit Homer. Die Arbeit an der Ilias-Übersetzung beschäftigte den jungen Mann über ein halbes Jahrzehnt: Er war, als er Lorenzo 1470 den 2. Ilias-Gesang übermittelte, gerade einmal 16 Jahre alt. Die Arbeit am 2. und 3. Gesang fällt in die Zeit zwischen dem Karnevals‐ turnier am 7. Februar des Jahres 1469 und der Einnahme der Stadt Volterra durch Lorenzo im Juni 1472. Bis zum Ende des Jahres 1475 folgten die Gesänge 4 und 5, wonach er seine Übersetzungstätigkeit unvermittelt einstellte und nicht wieder aufnahm. 1 In der berühmten Koronis am Ende der Miscellaneorum Cen‐ turia prima aus dem Jahre 1489 resümiert der Gelehrte seinen Werdegang, wobei er insbesondere auf seine philosophische Prägung reflektiert. 2 Über seine Ju‐ gendjahre weiß Poliziano zu berichten, dass er, während Ficino die platonische, Argyropulos die aristotelische Philosophie erneuert hätten, eher den Lockungen Homers als dem Studium der Philosophie zugetan gewesen sei. Zwar habe er sich um sie bemüht, seinem zarten Alter allerdings habe die Dichtung Homers nähergelegen, den er schließlich auch in jugendlichem Arbeitseifer in lateini‐ sche Verse übersetzt habe. 3 Erst viel später - so Poliziano in der Koronis - habe er sich, befeuert durch die Bekanntschaft mit Pico della Mirandola, die wohl ins Jahr 1488 fällt, „wie von Kriegstrompeten geweckt“ ganz der Philosophie ver‐ schrieben. 4 Noch 1489 allerdings schritt er, nachdem er in den Jahren zuvor be‐ reits Vorlesungen über die Ilias gehalten hatte, an die Erklärung der Odyssee. 5 Für die Wahlverwandtschaft, die der Humanist zeitlebens zum griechischen Dichterfürsten fühlte, hat er am Beginn der Silve Ambra ein aussagekräftiges Bild gefunden: Wie die Landmänner ihren Göttern zum Dank die Erstlings‐ früchte verehren, so verehrt der Dichter Poliziano seinem Gott Homer, von dem er die ersten Früchte erhalten hat, ein Preisgedicht. 6 In prosaischer Form wie‐ derholt er das rührende Bekenntnis zum griechischen Dichter bei der Kommen‐ 7 Petrei in Politiani Sylvam cui titulus Ambra Commentarius 3, 10-16 (Perosa 1994); vgl. Perosa 1994, XXXVI-XL. 8 Vgl. Del Lungo 1897, 119; Picotti 1955a, 7-9. 9 Vgl. hierzu Kap. B.4.1.1. 10 Sylva in scabiem 245-248. 11 Pol. Il. praef. 51. tierung der Silve (wohl im Jahre 1486), das Petreio in seinem Ambra-Kommentar wiedergibt: 7 Ita ego - inquit Policianus - hoc temporis Homerum, cui omnia accepta refero, enar‐ raturus, sylvulam hanc in poetae laudem composui, ut meo hoc carmine grati animi signa quae poteram praeferens, vatum mihi numen Homerum ipsum haud aliter con‐ ciliarem quam, datis primitiis, suos sibi deos bonus agricola consuerit. So habe denn ich, sagte Poliziano, der ich jetzt an die Erklärung des Homer schreite, dem ich alles, was ich gelernt habe, verdanke, dieses Werkchen zum Lob des Dichters verfasst, damit ich mit diesem meinem Gedicht, so gut ich es vermochte, meine Dank‐ barkeit sichtbar zum Ausdruck brächte und mir eben diesen Dichtergott Homer nicht anders gewogen machte als ein braver Bauer, der seine Götter durch die Spende der Erstlingsgaben für sich gewinnt. Der Beschäftigung mit Homer verdankt Poliziano ungemein viel. Es ist gerade seine Ilias-Übersetzung, die ihm Gunst, Haus und Säckel des Medicifürsten Lo‐ renzo öffnete und ihm, wie er später in einem Brief an Piero schrieb, aus seiner finanziellen Not heraushalf. 8 Poliziano berief sich noch sehr viel später - neben der erwähnten Stelle aus der Miscellaneorum Centuria prima auch in der Oratio in expositione Homeri - auf sein Jugendwerk, wenngleich scheinbar beiläufig und im Gestus milder Duldung. 9 An der Übersetzung hat er allerdings nicht nur Ruhm und Geld erworben, sondern auch - wie gezeigt wird - seine poetische Technik entwickelt und sein humanistisches Profil entworfen. Dass Poliziano seine Ilias-Übersetzung in lateinische Hexameter als eigen‐ ständige poetische Schöpfung verstand, erhellt bereits aus der Tatsache, dass er sie als Werbegedicht um Aufnahme an den Hof Lorenzos konzipierte. Wenn er später, am prominentesten in der Sylva in scabiem, seinen ersten Erfolg resü‐ miert, spricht er den Stolz auf seine eigene dichterische Leistung offen aus: Ille ego sum, […] qui quondam heroa canendo proelia […] ibam altum spirans. 10 Nicht zuletzt gilt bereits für seine Übersetzung, was er Lorenzo im Widmungsbrief bei glücklichem Ausgang seines Werbens versprochen hatte: vel priscis ausim cer‐ tare poetis. 11 Dass dieses Ziel trotz seines geringen Alters und zumindest in den Augen seiner Zeitgenossen wohl keineswegs zu hoch gegriffen erschien, kündet 20 A. Poliziano und Homer - Entwicklung einer Poetologie 12 Vgl. Anm. 2. 13 Ficino, epist. 1, 16 (Gentile 1990, 40). das überschwängliche Lob, das der Knabe aus seinem Umfeld erhalten hat. 12 Die ruhmvollste und berühmteste Hommage erhielt das Jugendwerk im Brief Ficinos an Lorenzo, wo der Emporkömmling aus Montepulciano als ‚homerischer Jüng‐ ling‘ (homericus adulescens) gepriesen wird. Ficino zeigt sich erfreut darüber, dass Lorenzo ein Freund der Künste sei und Gelehrte an seinem Hof versammelt habe. Selbst Homer habe kürzlich - in der Person des jungen Poliziano - eine Heimstatt bei Hofe gefunden: 13 Summus Musarum sacerdos Homerus in Italiam te duce venit, et qui hactenus cir‐ cumvagus et mendicus fuit, tandem apud te dulce hospitium apertum reperit. Nutris domum homericum illum adolescentem Angelum Politianum, qui Graecam Homeri personam latius coloribus exprimat. Exprimit iam, atque id quod mirum est, in tam tenera aetate exprimit, ut nisi quis Graecum fuisse Homerum noverit, dubitaturus sit, e duobus uter naturalis sit, et uter pictus Homerus. Der höchste Musenpriester, Homer, ist unter deiner Führung nach Italien gekommen, und er, der bislang ein Vagabund und Bettler war, hat endlich bei dir gastfreundliche Aufnahme gefunden. Du beherbergst in deinem Hause den homerischen Jüngling Angelus Politianus, der das griechische Antlitz Homers mit noch prächtigeren Farben ausschmücken soll. Er tut es schon, und, was das eigentliche Wunder ist, er tut es in so zartem Alter, dass einer, der nicht wüsste, dass Homer Grieche war, in Zweifel kommen würde, welcher von beiden der echte, welcher der gemalte Homer sei. Ficinos Einschätzung, Homer sei bis zum Auftreten Polizianos ein vagabundier‐ ender Bettler gewesen, lässt erkennen, dass die Kenntnis der homerischen Epen im Quattrocento noch in keiner Weise eine Selbstverständlichkeit war. Der his‐ torische Befund gibt dem Schreiber Recht: Homer ist im 14. und 15. Jahrhundert über den Status eines circumvagus mendicus nicht hinausgekommen, seine Epen wurden lediglich in zweck- oder behelfsmäßigen Übersetzungen zugänglich zu machen versucht und dabei meist verunglimpft. Der Wunsch, den Werken Ho‐ mers in Autopsie den Rang einzuräumen, der ihm von den antiken Autoren, von Macrobius oder Cicero zuerkannt worden war, reicht zurück bis zu den An‐ fängen des Humanismus, bis zu Petrarca und Boccaccio. Die renaissancezeitliche Geschichte der Homer-Übersetzungen beschreibt gleichermaßen die Entwick‐ lung eines sich stetig wandelnden und an Perspektiven hinzugewinnenden Ho‐ merbildes, das die Voraussetzung für Polizianos differenzierte Auseinanderset‐ zung mit dem griechischen Dichter bildet. 21 A. Poliziano und Homer - Entwicklung einer Poetologie 1 Vgl. hierzu und zur humanistischen Homerrezeption v.a. die neueren Arbeiten von Pontani 2005a; 2005b, bes. 341-408; 2007, bes. 376-380. Verdienstvoll ist noch immer die frühe Studie über die Homerbilder der Neuzeit von Finsler 1912. Erwartet wird der Beitrag über die mittelalterliche und renaissancezeitliche Homer-Rezeption von Georg Nicolaus Knauer im Catalogus translationum et commentariorum. 2 In einem Dankesbrief an den befreundeten byzantinischen Diplomaten Nikolaos Si‐ geros, dem der Humanist die Übersendung eines ersehnten Homer-Kodex dankte, gibt Petrarca über sein Homer-Verständnis und dessen Hauptquelle Rechenschaft (fam. rer. 18, 2, 4-5): Quid enim vir ingeniosissimus atque eloquentissimus nisi ipsum ingenii et eloquentie fontem daret? Donasti Homerum, quem bene divine omnis inventionis fontem et originem vocat Ambrosius Macrobius […]. 3 An Sigeros gerichtet schreibt Petrarca: Homerus tuus apud me mutus, immo vero ego apud illum surdus sum: gaudeo tamen vel aspectu solo et sepe illum amplexus ac suspirans dico: O magne vir, quam cupide te audirem! (fam. 18, 2, 6). Über Petrarcas Verhältnis zu Homer etwa de Nolhac 1892, 319-368; Gemin 2001; Fera 2002/ 2003; Harich-Schwarz‐ bauer 2005. 1. Homerus togatus - Homer in der Renaissance 1.1. Homerbild im Wandel - von Petrarca zu Marsuppini Das Homerbild der Renaissance war vielfältigen Metamorphosen unterworfen, die vornehmlich auf die jeweils verfügbaren Sekundärtexte, also auf theoreti‐ schen Bemerkungen und Abhandlungen antiker und spätantiker Autoren über die homerischen Epen, nicht so sehr auf die homerischen Epen selbst zurück‐ gingen. 1 Selbst als die Kenntnis des Griechischen die italienischen Humanisten befähigte, die Werke im Original zu lesen, lag die Quelle für die Beschäftigung mit dem griechischen Dichterfürsten nicht in der Originallektüre, sondern im ausgiebigen Studium der Sekundärliteratur. Es lassen sich drei Phasen humani‐ stischer Beschäftigung mit Homer unterscheiden: Die frühen Humanisten er‐ hofften sich von Homer und der allegorischen Auslegung seiner Texte vor‐ nehmlich Beistand für ihren ideologischen Kampf gegen die Gegner paganer Poesie. Homer galt Petrarca als Quell alles Wissens, ein Prädikat, das er den Saturnalien des Macrobius entnommen hatte. 2 Diesen Anspruch, den Petrarca mit Macrobius an Homer herangetragen hatte, konnte er selber - in Unkenntnis des Griechischen - nicht rechtfertigen. Petrarcas Homer-Begeisterung, zu‐ weilen gar als erotisches Verlangen stilisiert, 3 wurzelte in rühmenden Bemer‐ kungen zu Homers Darstellungskunst, wie etwa im bekannten Lob der pictura Homeri aus Ciceros Tusculanen, sowie zu des Dichters umfassender Gelehrsam‐ 4 Cic. Tusc. 5, 39, 114: traditum est etiam Homerum caecum fuisse; at eius picturam, non poesin videmus: quae regio, quae ora, qui locus Graeciae, quae species formaque pugnae, quae acies, quod remigium qui motus hominum, qui ferarum non ita expictus est, ut, quae ipse non viderit, nos ut videremus, effecerit? Vgl. Petr. Rer. mem. 2, 25, 8; Buc. 10, 64-66; Afr. 9, 187-195; dazu Gemin 2001, 146. Macr. Sat. 2, 10, 11: et hoc esse volunt quod Homerus, divinarum omnium inventionum fons et origo, sub poetici nube figmenti verum sapientibus intellegi dedit […]. 5 Hierzu Pertusi 1979. Rollo 2007, 7-21 (dort auch zur thessalischen Herkunft Pilatos); Mangraviti 2016, VII-XXX. 6 Schon die Zeitgenossen, angefangen von Petrarca selbst, fanden die Übersetzung un‐ genießbar; vgl. Walz 2011, 2415; de Nolhac 1907, 176-188. Zu Salutatis Projekt einer (zum Scheitern verurteilten) poetischen Aufbesserung des Textes durch Antonio Loschi vgl. Ciccolella 2008, 99 Anm. 74. Pilatos Arbeit fand dennoch einigen Widerhall in Schriften Petrarcas und besonders in Boccaccios Genealogie deorum gentilium; vgl. Per‐ tusi 1979, 371-381; Gemin 2001; Ciccolella 2008, 98-99. 7 Einen Überblick über den Einfluss der Übersetzung gibt Walz 2011, 2415. Erschlossen ist nunmehr Pilatos Interlinearversion der Odyssee samt der reichlichen Anmerkungen, darunter Petrarcas und Boccaccios, in der Edition des Marc. Gr. 9, 29 von Mangraviti 2016. 8 Walz 2011, 2415; Sabbadini 1920, 23. keit und seiner philosophisch-theologischen Einsicht, wie sie vor allem in den Saturnalien des Macrobius zur Sprache gekommen sind. 4 Um einen Zugang zum griechischen Dichterfürsten zu gewinnen, beauftragte er, zusammen mit Boc‐ caccio, den aus Kalabrien (oder Thessalien) stammenden Gelehrten Leonzio Pi‐ lato mit einer Prosa-Übersetzung der homerischen Epen. 5 Diese zu allen Zeiten vielgescholtene Interlinearversion war allerdings weder geeignet, ein genuines Bild der homerischen Sprachgewalt zu zeichnen noch den Inhalt der Epen ein‐ sichtig werden zu lassen. 6 Ungeachtet aller Kritik und in Ermangelung einer Alternative bildete Pilatos Version solange die grundlegende Übersetzung, bis bessere Kenntnis des Griechischen zu einem souveräneren und selbstbewuss‐ teren Umgang mit den Werken Homers führte. 7 Im Jahre 1397 hatte Coluccio Salutati den Byzantiner Manuel Chrysoloras auf den Griechisch-Lehrstuhl des Studio in Florenz berufen - bezeichnenderweise als Nachfolger Pilatos - und läutete damit die gräzistische Wende ein. Chryso‐ loras, der mit seinen Erotemata sive Quaestiones (gedruckt 1496) den westlichen Humanisten die erste griechische Grammatik vorlegte, war ein Fachmann des Griechischen und ein Kritiker der ad-verbum-Übersetzung, in der er die Gefahr sah, dass sie den Originaltext vielmehr verunstalte als zugänglich mache. 8 Die Möglichkeit der sprachlichen Erschließung des Originaltextes bedeutete eine neue Sichtweise auf den homerischen Text. Diese zweite Phase der Homerlek‐ türe manifestierte sich in den Prosaübersetzungen führender Humanisten, die in den homerischen Epen weniger den theologischen oder philosophischen, d.h. 23 1.1. Homerbild im Wandel - von Petrarca zu Marsuppini 9 Vgl. Walz 2011. Eine chronologisch geordnete Darstellung der renaissancezeitlichen Homerübersetzungen bietet Pertusi 1979, 521-529. 10 Bruni, Prooemium in quasdam orationes Homeri 132, 12-14 (Baron 1928): Admirari non‐ numquam soleo cum alia permulta divinitus apud Homerum scriptam tum illud imprimis, quod in tanta venustate iam tunc dicendi gloriam et artem in honore fuisse ostendit. 11 Bruni, Prooemium in quasdam orationes Homeri 132-133 (Baron 1928). 12 Diese Lesart der homerischen Gedichte ist keineswegs neu. Schon im Phaidros (261b- c) macht sich Sokrates über die Sophisten lustig, die in Homer vornehmlich den poli‐ tischen Redner sahen, und verleiht seinem Amüsement pointiert Ausdruck, indem er mutmaßt, dass wohl Nestor und Odysseus in ihrer Freizeit vor Troja Rhetoriklehrbücher verfasst haben müssten; vgl. Hillgruber 1994, 13 mit Anm. 49. den allegoretischen Aspekt berücksichtigten, sondern den stilistischen und rhe‐ torischen. Neben dem Chrysoloras-Schüler Leonardo Bruni traten auch Guarino Guarini, Lorenzo Valla und Pier Candido Decembrio als Prosaübersetzer Homers in Erscheinung. 9 Bruni übersetzte zwar lediglich die Reden der Bittgesandtschaft an Achill und dessen Gegenrede aus dem 9. Gesang der Ilias, legte damit allerdings den Grund‐ stein für die stärker am Sprachlichen orientierte Beschäftigung mit den home‐ rischen Gedichten. Seiner Übersetzung stellte er ein aufschlussreiches Proöm voran, worin er vornehmlich den Redner und Stilisten Homer pries. 10 Er sah im griechischen Dichter gewissermaßen den Vater der forensischen Rhetorik, der den Sachverhalt messerscharf zu analysieren und den Stoff anzuordnen ver‐ stehe, und der sowohl mittels logischer Beweisführung als auch durch die Er‐ regung von Affekten die Streitsache souverän zu behandeln wisse. 11 Neben das frühhumanistische Bild Homers als eines poeta philosophus, der moralphiloso‐ phische und heilsgeschichtliche Wahrheiten kündet, trat nunmehr das des poeta orator, dessen Werk als Handbuch für den Redner gelesen werden konnte. 12 Die dritte Phase der Beschäftigung mit Homer beginnt mit der hexametri‐ schen Übersetzung des 1. Gesangs der Ilias durch Carlo Marsuppini, den Papst Nikolaus V. nach der Absage des zunächst bevorzugten Dichters und Homer‐ kenners Basinio Basini gebeten hatte, eine Übertragung der homerischen Epen in lateinische Hexameter in Angriff zu nehmen. Marsuppini allerdings starb kurz nach Aufnahme der Arbeit am 23. April 1453 nach Vollendung des 1. Ge‐ sangs. Marsuppinis Übersetzung kündet von einem freieren Umgang mit dem Quellentext, wobei sich der Autor nicht davor scheute, den Satzbau aufzubre‐ chen und die griechische Idiomatik durch lateinische Entsprechungen zu er‐ setzen. Mehr als die Übertragung selbst allerdings bezeichnete Marsuppinis hexametrische praefatio an den päpstlichen Auftraggeber einen entscheidenden Entwicklungsschritt hin zu einer differenzierteren Betrachtungsweise der ho‐ merischen Epen. Dabei ist insbesondere das dem Schreiber zu Gebote stehende 24 1. Homerus togatus - Homer in der Renaissance 13 Hillgruber 1994, 77-78 mit Literatur. Zur Erschließung der Schrift durch die italieni‐ schen Humanisten vgl. Megna 2007/ 2008. 14 Praef. 17-30 (Rocco 2000, 53); Plut. Hom. 2, 72-73. 15 Dies war zu lesen in Plut. Hom. 2, 214. Schon Aristoteles hatte in der Poetik vertreten, Homer sei der Vater von Tragödie und Komödie, wobei die Zuweisung von Komödi‐ antischem und Tragischem allerdings nicht innerhalb der Werke vorgenommen wurde, sondern nach Werken insgesamt: Ilias und Odyssee präfigurierten die Tragödie, der Margites die Komödie; vgl. Arist. Poet. 1448b-1449b. 16 Praef. 126-131 (Rocco 2000, 56). 17 Praef. 132-153 (Rocco 2000, 57). 18 Vgl. hierzu auch Klecker 1994, 137-146. Quellenmaterial von Bedeutung: Marsuppini entwarf seine praefatio unter Rückgriff auf die pseudoplutarchische Schrift De Homero, die zwar sicherlich schon Pier Candido Decembrio, vielleicht auch Leonardo Bruni bekannt, für die Einlösung des enzyklopädischen Anspruchs der homerischen Epen aber nicht urbar gemacht worden war. 13 Dies änderte sich in der Vorrede Marsuppinis, wenngleich auch hier vorherrschend Fragen des Stils und der rhetorischen Qua‐ lität der Epen behandelt wurden. So unterschied Marsuppini in Anlehnung an De Homero vier unterschiedliche Stilebenen; 14 er hob die gattungskonstituie‐ rende Funktion einiger homerischer Passagen hervor, so z.B. die Episode des die Götterversammlung durchhinkenden Mundschenks Hephaist für die Ko‐ mödie; 15 er feierte Homer als Lehrer forensischer und politischer Rede und als glänzenden Stilisten. 16 Auch bei der Besprechung weiterer Wissensgebiete, auf denen sich Homer als Archeget hervorgetan habe, vertraut Marsuppini der Ein‐ schätzung des Autors von De Homero: Homer sei der Lehrer von Ethik und Moral, er habe den Beginn der Welt und ihre Gesetze, Gestirne und göttliches Wirken besungen, habe erkannt, welche Macht die Dichtung habe, was Träume bedeuteten und habe den Pythagoreern die Zahlenmystik vermittelt. 17 Wenn‐ gleich also Marsuppini die pseudoplutarchische Schrift De Homero und insbe‐ sondere das Bild Homers als ‚Ozean‘ alles Wissen kannte, machte Marsuppini den päpstlichen Auftraggeber in der Widmungsrede doch vor allem mit den traditionellen Vorstellungen des poeta orator und des poeta theologus vertraut. 18 1.2. Poliziano und der allwissende Dichter Knapp zwei Jahrzehnte später führte der junge Poliziano das renaissancezeit‐ liche Homerbild zu ungekannter Höhe, als er die Gesänge 2-5 - er verstand seine Übersetzung als Fortsetzung des von Marsuppini begonnenen Werks - in 25 1.2. Poliziano und der allwissende Dichter 19 Pol. Il. 2 praef. 20-24. 20 Die erste vollständige Edition der Anmerkungen Polizianos hat Levine Rubinstein 1979, 159-204 (= Levine Rubinstein 1982, 218-239) besorgt. Eine zweite, jetzt maßgebliche Ausgabe ist Paola Megna zu verdanken, die die Anmerkungen mit einem reichen Kom‐ mentar versehen hat (Megna 2009). Vgl. auch die Bemerkung des Antiquars Fulvio Or‐ sini zum Manuskript der ersten beiden Bücher: Omero il 2. e 3. dell’iliade, tradotto in versi dal Poliziano, e in molti luoghi tocco di mano sua (zitiert in Mai 1839, V). 21 Vgl. Levine Rubinstein 1982, 206. 22 Vgl. Vat. lat. 3298 f. 31r (Kopie der Stelle bei Maïer 1966, 98) zur Übersetzung des Ho‐ merverses 3, 363: Imitatur translator qua licet asperitatem greci carminis: τριχθά τε καὶ τετραχθὰ διατρυφὲν ἔκπεσε χειρός. Pol. Il. 3, 364: dissiluit multo perfractus fragmine mucro. 23 Insbesondere die komische Figur des Thersites hat die Aufmerksamkeit Polizianos er‐ regt. Gleich fünf Bemerkungen entfallen auf die Episode um den krummbeinigen De‐ magogen. Vgl. z.B. Facit [Homerus] quandam quasi comoediam (zu Hom. Il. 2, 261/ Pol. Il. 2, 272). Der Komödie wird sich Poliziano später in der Vorrede zur Andria (wohl 1484/ 85) in aller Ausführlichkeit widmen. 24 Levine Rubinstein 1982, 207. lateinische Hexameter übertrug. 19 Bedeutsamer noch als die stilistische Umset‐ zung, d.h. als die Übersetzung selbst, ist das Homerbild, das hinter ihr steht. Poliziano begleitete sein Werk durchgängig mit Randnotizen, in welchen er sein Verständnis des griechischen Dichterfürsten in großer Ausführlichkeit dar‐ legte. 20 Aus den rund 450 Anmerkungen geht hervor, dass Poliziano sämtlichen Facetten der homerischen Dichtung reges Interesse entgegenbrachte. Er be‐ schied sich nicht mit einer allzu engen Sicht auf Sprachliches, Philosophisches oder auf Realia, sondern verband die Vorstellung des Rhetorikers und Stilisten mit der des allseits gebildeten Dichters, wobei sich die Enzyklopädie Homers nicht nur auf Metaphysisches, sondern im Gegenteil auch auf äußerst physische Gebiete wie den Landbau und das Handwerk erstreckt. Die sprachlichen Anmerkungen reichen von einfacheren Hinweisen zur Sprechsituation (Verba iovis ad somnum, Sententia nestoris) und zu stilistischen Mitteln (comparatio, similitudo), die wohl insbesondere der Gliederung des Textes gelten, bis hin zu ausführlicheren Darlegungen zur Anschaulichkeit des Geschilderten und zu ästhetischen Wertungen der Darstellung (Comparatio in qua poetae ingenium elucescit). 21 Daneben finden sich Marginalglossen, die zahl‐ reichen unterschiedlichen Disziplinen zuzuordnen sind. So vermerkt Poliziano metrische und onomatopoetische Besonderheiten, 22 gattungstheoretische Fragen, so etwa zur Komödie, 23 sowie etymologische und genealogische Erklä‐ rungen; weitere Randnotizen bezeugen des Übersetzers Interesse an sämtlichen Fachgebieten: an Kriegswesen, Anatomie, Landwirtschaft, Handwerk, Geogra‐ phie. 24 Auch Hinweise auf allegorische Auslegungen einzelner Stellen, wenn‐ gleich in geringer Zahl vorhanden, fehlen nicht. 26 1. Homerus togatus - Homer in der Renaissance 25 Hierzu ausführlich Levine Rubinstein 1983. 26 Aufgrund dieses technischeren Übersetzungsverfahrens wirkt die lateinische Version der Gesänge 4 und 5 weniger elegant, zuweilen umständlich und übertrifft die 1453 Verse Homers mit 1687 Versen (während die Gesänge 2/ 3 1363 lateinische Verse ge‐ genüber den 1338 Versen des Originals aufweisen) quantitativ deutlich. Vgl. Levine Rubinstein 1983, 61-67. Dies. 66: “To a large extent, Poliziano has gained in accuracy what he has sacrificed in style.” Zu Polizianos Übersetzungen der Epitheta umfassend Cerri 1977a; 1978. 27 Levine Rubinstein 1979, 159; 1982, 205. Eine Beschreibung der Manuskripte bietet Maїer 1965, 288-290; 293-294; Megna 2009, XXXI-XXXIV. 28 Die Anmerkung ist der Übersetzung vorangestellt und füllt eine komplette Seite: Cod. Vat. 3617 f. 2v. Fotographie, Transkription und Übersetzung der Seite bei Maїer 1954; Megna 2009, 50 nannte die Anmerkung „una delle pagine polizianee più misteriose“. Dabei unterscheiden sich die Annotationen der Gesängen 2 und 3 deutlich von denen der Gesänge 4 und 5. Während in den beiden früheren Gesängen sprachlich-stilistische Vermerke dominieren, verschiebt sich der Fokus in den späteren auf die Realienerklärung. Das veränderte, stärker am Inhaltlichen denn am Stilistischen orientierte Interesse des Übersetzers schlägt sich auch im Über‐ setzungsstil nieder: Die späteren Gesänge setzen sich in ihrer sprachlichen Ge‐ staltung signifikant von den beiden früheren ab. 25 Während sich diese größere stilistische und inhaltliche Freiheiten erlaubt und die griechische Vorlage in ein vornehmlich vergilisch-ovidisches Kostüm gekleidet hatten, sind die Gesänge 4 und 5 enger am Originaltext gehalten und geben beispielsweise - auf Kosten des sprachlichen Genusses und der stilistischen Eleganz - die Epitheta möglichst getreu wieder. 26 Als möglicher Grund für die Unterschiede wurde die veränderte Entstehungssituation genannt: Hatte sich Poliziano mit den beiden früheren Gesängen um Lorenzos Gunst und Mäzenatentum beworben, war er bei Abfas‐ sung der beiden späteren Gesänge bereits in dessen Haus und Gelehrtenzirkel aufgenommen. Hierfür spricht etwa die äußere Gestalt der Manuskripte, in denen die Gesangspaare jeweils überliefert sind: Die Hand des Vaticanus latinus 3298 mit den Büchern 2 und 3 ist die eines Kalligraphen auf Pergament, der Einband ist aus Leder. Der Text der beiden späteren Gesänge findet sich im Vaticanus latinus 3617 und ist von Poliziano selbst auf Papier geschrieben. 27 Als weiteren Grund hat man angegeben, die ausführlicheren Anmerkungen zu den Gesängen 4/ 5 und die technischere Wiedergabe des Griechischen seien dem platonischen Umfeld geschuldet, in welches Poliziano am Hof Lorenzos hineinwuchs. Diese Theorie nährt sich aus einer ungewöhnlich langen und hin‐ sichtlich ihres Inhalts und ihrer Funktion äußerst problematischen Anmerkung Polizianos zu den Anfangsversen des 4. Ilias-Gesangs, wo der Beginn der Göt‐ terversammlung geschildert wird, in der Hebe als Mundschenkin den Göttern Nektar in goldene Becher gießt. 28 Poliziano bezieht sich auf ein Büchlein eines 27 1.2. Poliziano und der allwissende Dichter 29 Man hat weder Kenntnis von einer Schrift des Demetrios Triklinios, die sich mit der Exegese homerischer Dichtung beschäftigte, noch von einem Philosophen dieses Na‐ mens. Problematisch ist ferner Polizianos Angabe, bei dem Werkchen handle es sich um eine Interpretation der ersten fünf Verse des 4. Ilias-Gesangs (in quinque primos versus quarti libri homericae iliados). Die fünf Verse, die Poliziano nennt, sind die seiner eigenen Übersetzung, die homerische Darstellung der Götterversammlung hat nur 4 Verse. Die falsche Angabe mag ein Versehen sein, doch scheint die Notiz insgesamt nicht auf fundierter Recherche zu beruhen; vgl. Maїer 1954; Gentile 1998, 371 Anm. 24. Einige Punkte indes - etwa die Verwendung griechischer Begriffe - sprechen für einen konkreten griechischen Text, den Poliziano vor Augen gehabt haben könnte; vgl. Megna 2009, 52. Außerdem hatte Demetrios Triklinios eine wissenschaftliche Abhandlung über den Mond verfasst, wobei er u.a. auf die naturalistische Auslegung einer Homerstelle zurückgriff; vgl. Wasserstein 1967. 30 Vat. Lat. 3617 f. 2v. 31 Wenngleich kein direktes Zitat, so finden sich zahlreiche sinnverwandte Passagen in den Kommentaren des Proklos; vgl. z.B. In Plat. Tim. 1, 17, 30-18, 22; 1, 25, 18-24; 3, 200, 27-201, 32; 310, 20-25. Stellen bei Megna 2009, 52-53. 32 Vgl. Levine Rubinstein 1982, 221-216. Bei den beiden letzten handelt es sich um die Bemerkung zu Pol. Il. 5, 149 (nube quadam circumsepta anima divina sapientia purgatur puraque in luce refulget), wo Athene Diomedes Weisheit schenkt (Hom. Il. 5, 127-128) und Pol. Il. 5, 384 (Venus in manu vulneratur quoniam celestis illa venus platonis cum in sensu tangendi polluitur vulgaris evadit), wo Aphrodite durch Diomedes verwundet wird (Hom. Il. 5, 336-340). Philosophen Demetrios Triklinios, in dem dieser die ersten fünf Verse des 4. Gesangs allegorisch erklärt habe. 29 Demetrius weise in seiner Schrift nach, so Poliziano, dass Homer den Sterblichen ein unerschöpfliches Wissensmeer hin‐ terlassen habe, aus welchem jeder, insbesondere aber diejenigen, die nach gött‐ licher Weisheit strebten, schöpfen könnten: Omnibus enim (ut ipse ait) morta‐ libus libros suos quasi immensum quoddam atque infinitum pelagus proposuit, ut ex eo singuli quantum cuique usu esset exhaurirent, maxime autem omnium sa‐ pientiam suam cum his communicavit qui celestium cognitione flagrarent.  30 Nachdruck verliehen wird der Notwendigkeit allegorischer Homerexegese durch ein Zitat aus Proklos’ Timaeus: Ibi enim redarguit [Proclus] eorum imper‐ itiam qui negant Homerum aliud omnino quicquam intra sinum condidisse, preter ea quae prima fronte ostendat. 31 Während sich zu den Gesängen 2/ 3 keine Notiz zu allegorischer Auslegung findet, sind es in den beiden späteren, von der eben besprochenen abgesehen, deren fünf: drei Hinweise auf physikalisch-kosmolo‐ gische Deutungen, zwei auf theologisch-philosophische, die man neuplatoni‐ scher Provenienz, d.h. insbesondere dem Einfluss Ficinos zugeordnet hat. 32 Die Ausweitung seiner Kommentare auf sämtliche Wissensgebiete sowie auf die Allegorese wertete Alice Levine Rubinstein als Bekenntnis des Übersetzers zu 28 1. Homerus togatus - Homer in der Renaissance 33 Levine Rubinstein 1982, 217: “The belief that the text contained whatever information one desired on whatsoever subject, the vision of the Iliad as an immensum quoddam atque infinitum pelagus (P4.(1)-(4)), may reflect neo-Platonic poetics. […] the idea that universal knowledge was obtainable from a close reading of the Homeric poems, an idea which persisted throughout Poliziano’s career, may well have arisen from the neo-Platonic milieu in which he began his study of Homeric poetry.” 34 Megna 2007, XXIV-XXV: “La versione dei poemi […] consente, a noi moderni, di indi‐ viduare già a quell’altezza aspetti costitutivi della formazione culturale del giovane Po‐ liziano: […] la seduzione che su di lui esercitava l’allegorismo naturalistico (di stampo stoico piuttosto che neoplatonico), di cui aveva conoscenza dalla letteratura scoliastica e soprattutto dal suo maestro di greco, Andronico Callisto.” Zur Problematik der postille vgl. z.B. die Anmerkung zu Pol. Il.5, 827, in welchen die Zusammensetzung des Pfer‐ dewagens der Hera geschildert wird (Hom. Il. 5, 722-732; Pol. Il. 5, 827-841): Allegoriam homerici currus doctissime explicat Hedemo antiquae theologiae mystes. Contenditque universum celum ac mundum, singulasque eius partes ac figuras, hac descriptione per involucra quaedam fuisse ab Homero expressum. Cuius siquis studiosus sit, eum ad ipsius Hedemonis textum delegamus. Poliziano hat hier den Vermerk des Homer-Scholions falsch gelesen, wo nicht von einem Mystiker Hedemo die Rede ist, sondern von der antiken griechischen Philosophin Demo (ἡ Δημώ); vgl. Levine Rubinstein 1982, 212; Megna 2009, 148-149. Ob der Zusatz antiquae theologiae mystes dazu gedacht war, das Interesse der Neuplatoniker seiner Zeit zu gewinnen, wie Levine Rubinstein spekuliert, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist, dass Poliziano den Namen, der im Scholion ange‐ geben war, nicht nur falsch wiedergab, sondern ihn auch mit einer unerklärlichen Be‐ rufsbezeichnung bedachte. 35 Megna 2009, 102-104 und 116. einer „neuplatonischen Poetik“. 33 Diese Deutung, d.h. die Verortung im neupla‐ tonischen Umfeld, möchte ich im Folgenden mit Entschiedenheit zurückweisen und für einen anderen, weit greifbareren Einfluss plädieren, der die Anmer‐ kungen nachweislich bestimmt hat. Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Notizen zur allegorischen Auslegung des homerischen Werks quantitativ - lediglich sechs der 450 Anmerkungen entfallen auf solche Erklärungen - äußerst gering ausnehmen. Zudem bleibt die Zuordnung zu neuplatonischen Quellen höchst prekär. Drei der Anmerkungen verweisen auf naturalistische Erklärungen, die eher stoischen als neuplatoni‐ schen Ursprungs sind. Überdies weisen nahezu alle dieser Anmerkungen in‐ haltliche Probleme oder gar Fehler auf und gehen wohl nicht auf direkte Lektüre, sondern auf Vermittlung durch Lehrer und/ oder Kommentare und Scholien zu‐ rück. 34 Selbst bei den beiden Anmerkungen, die mit neuplatonischer Allegorese vereinbar sind, ist indirekte Vermittlung äußerst wahrscheinlich. 35 Dass sich Poliziano für die allegorische Auslegung des Homertextes augenscheinlich nicht sonderlich interessierte, erhellt zudem exemplarisch aus der Übersetzung der Verse, auf die sich oben genannte ausführliche Notiz bezieht. Während der An‐ notator Poliziano von Möglichkeit und Notwendigkeit der naturalistischen Aus‐ 29 1.2. Poliziano und der allwissende Dichter 36 Maïer 1954, 17. Pol. Il. 4, 1-5: At superi magni circum atria fulva Tonantis / aurato sedere solo, quis dulcibus Hebe / invergit nectar pateris; illi aurea dextris / pocula suscipiunt laeti, redduntque vicissim, / sidereosque oculos Troiana in moenia vertunt. 37 Bigi 1967, 103: “[…] non è agevole rintracciare nel Poliziano l’intento consapevole di una giustificazione ‘teologica’ della poesia di Omero. […] Vero è che, anche sul piano critico, in coerenza con le sue indagini filologiche e con le sue affermazioni teoriche, il Poliziano considera la poesia di Omero e in genere la letteratura antica come un fatto schiettamente terreno, produzione umana e riflesso di interessi umani.” 38 Megna 2009, XXXVI. Ähnlich, jedoch mit zu weit führender Betonung des philosophi‐ schen Interesses Levine Rubinstein 1982, 207: “In sum, the notes to books four and five are an index of the young Poliziano’s broad philosophical and philological interests. Many of the notes are our first examples of Poliziano’s interest in themes and topics that dominate his later scholarship […].” Vgl. auch Cerri 1977a, 174. legung des Göttermahls spricht, gestaltet es der Übersetzer Poliziano zu einem geselligen Zusammensein, indem er zwischenmenschliche Bestandteile hinzu‐ fügt, die dem homerischen Text fremd und der allegorischen Auslegung abträg‐ lich sind. Ida Maïer, die der Notiz und der Divergenz von Annotation und Über‐ setzung einen Aufsatz widmete, konkludierte: “Son texte prouve donc que les questions de doctrine [de Démétrius et de Proclus] ne tenaient pas encore une place prépondérante dans ses préoccupations.” 36 Die im weitesten Sinne philosophisch-theologischen Anmerkungen nehmen keinen herausragenden Platz unter den linguistischen, stilistischen, histori‐ schen, geographischen und realienorientierten Randglossen ein. 37 Polizianos Herangehensweise an den Text der Ilias ist nicht philosophischer, sondern phi‐ lologischer Natur. So ist Paola Megna vollauf zuzustimmen, wenn sie den An‐ merkungen weitreichende Bedeutung für das Verständnis des späteren Ge‐ lehrten zumisst: “[…] già in questi anni e in queste postille si lascia intravedere una non comune vocazione filologica e un’apertura straordinariamente precoce alle problematiche storico-culturali le più ampie: l’analisi delle note all’Iliade è, così, un’occasione unica per veder muovere i primi passi di colui che, negli anni a venire, sarebbe stato il protagonista indiscusso della filologia umanistica fio‐ rentina.” 38 1.3. Der ‚homerische‘ Lehrer: Andronikos Kallistos Wie aber hat der junge Mann einen so umfänglichen Blick auf das homerische Werk gewonnen? Die Frage richtet sich freilich nach einem Lehrer, der dem jungen Poliziano die Ilias und ihren Dichter näherbrachte. Einen solchen fand Poliziano im byzantinischen Gelehrten Andronikos Kallistos, von dessen Ilias-Vorlesung sich im Codex Laurentianus 66, 31 die Mitschrift eines anonymen 30 1. Homerus togatus - Homer in der Renaissance 39 Dass die Anmerkungen Polizianos in eindeutiger Abhängigkeit von den anonymen Vorlesungsnotizen stehen, hat Megna 2009 anhand zahlreicher Parallelen nachge‐ wiesen: vgl. z.B. dies. XXVII-XXVIII; LIX-LXII; LXXIV-LXXV; 6-7; 11; 16. 40 Vgl. auch Resta 1978, 1092 Anm. 31: “è difficile credere che il maestro, che leggeva Omero, non sia stato in qualche modo coinvolto nell’attività versoria del discepolo.” 41 Maїer 1966, 57-59 hatte zwei Heftseiten des mittlerweile als Digitalisat verfügbaren Manuskripts abgedruckt und eine davon - die Mitschrift zu den Auftaktversen der Ilias (7r) - transkribiert. Lediglich der Frage nach dem Verfasser der Notizen ist die For‐ schung zuweilen nachgegangen: Maїer 1966, 57-59 hatte die Schrift Bartolomeo Fonzio zugewiesen, ein Vorschlag, der widerlegt ist: vgl. Resta 1978, 1093 Anm. 31, wo auch der von einigen Forschern vertretenen, jedoch unhaltbaren These widersprochen wird, der junge Poliziano selbst habe die Mitschrift angefertigt. Letztlich hat man mit guten Gründen für einen anonymen Schüler plädiert: vgl. Resta 1978, 1092-1093 Anm. 31; Megna 2009, LIX-LX; Orlandi 2014. 42 Megna 2009, LIX. Studenten bewahrt hat. Das Manuskript ist ein Glücksfall für die Poliziano-For‐ schung: Die Notizen des Vorlesungsmanuskriptes weisen frappierende metho‐ dische, thematische und wörtliche Übereinstimmungen mit den Anmerkungen Polizianos zur Ilias-Übersetzung auf. 39 Die Frage nach Ort und Zeitpunkt der Vorlesung bzw. der Anfertigung der Mitschrift dürfte nicht endgültig zu klären sein. Allerdings liegt der Schluss nahe, dass wir im Laur. 66, 31 die Mitschrift einer Vorlesung haben, welche Andronikos Kallistos im Rahmen seiner Lehr‐ betätigung am Studio in Florenz gehalten hat und in welcher möglicherweise der junge Poliziano selbst Hörer war. Ohne die Indizien allzu sehr zu strapa‐ zieren, trifft man das Richtige, wenn man konstatiert, dass Polizianos Sicht auf den Ilias-Text, den zu übersetzen und zu annotieren er im Begriffe war, grund‐ legend von der exegetischen Methode seines Lehrers Andronikos Kallistos be‐ stimmt war. 40 Das von der Forschung bislang vernachlässigte Manuskript ist einer der Hauptzeugen für den frühen Bildungsgang Polizianos, und gerade deshalb er‐ staunt es nicht wenig, weshalb die Stimme Ida Maїers, die bereits in den 60er Jahren darauf aufmerksam gemacht hatte, in der Folgezeit unter den Poli‐ ziano-Interpreten kein Gehör gefunden hat. 41 Erst Paola Megna hat 2009 in ihrer kommentierten Edition der Anmerkungen die Aufmerksamkeit wieder auf das Manuskript gelenkt: 42 Gli anni in cui Poliziano lavorava al suo Omero sono gli stessi in cui Andronico Callisto insegnava Greco allo Studio fiorentino: il ruolo del dotto bizantino fu fondamentale […] per la formazione del giovane allievo, e in particolare per il suo approccio ai materiali esegetici e critici antichi. […] Una considerazione più attenta di queste pos‐ 31 1.3. Der ‚homerische‘ Lehrer: Andronikos Kallistos 43 Einen Eindruck mögen die Eingangsverse Il. 1, 1-2 vermitteln: Iram cane dea pelidae achillis / funestam quae innumeros achivis dolores fecit (Laur. 66, 31 f. 7r). Die Wort-für-Wort-Methode ist dem Zweck geschuldet, dass die Studenten die Übersetzung besser nachvollziehen konnten. 44 Vgl. Levine Rubinstein 1982, 208; Megna 2009, LIX-LXII; 47. Zur byzantinischen Lexi‐ kographie vgl. Botley 2010, zu Kallistos als Vermittler griechischer Texte und byzanti‐ nischer lexikographischer Werke an Poliziano ebd. 17 (Georgios Synkellos), 58 (Ono‐ masticon des Julius Pollux), 102 (Hesiod), 109 (Apollonios Rhodios). tille consente ora di scendere più a fondo nell’analisi e di illuminare problemi e aspetti rimasti fino al momento in ombra. In der Mitschrift fließen gewissermaßen sämtliche Ströme byzantinischer und humanistischer Homererklärung zusammen, die das bis dato umfang- und fa‐ cettenreichste Homerbild der Renaissance formen. Das Manuskript beinhaltet die Vorlesung über die Gesänge 1-14, wobei die ersten sieben eine detailliertere Analyse erfahren als die späteren. Das Vorgehen des Lehrers bei der Bespre‐ chung des Ilias-Textes ist klar strukturiert: Zunächst werden einige Verse des Homer-Textes in eine lateinische Arbeitsübersetzung ohne literarischen An‐ spruch überführt, wobei versucht wird, die Wortstellung beizubehalten. 43 Es schließt sich ein Besprechungsteil an, der zunächst im Elementarunterricht zu verorten ist. So werden griechische Begriffe des Ilias-Textes ins Lateinische übersetzt, griechische Verben konjugiert, Wortfelder und Synonyme aufgezeigt sowie ähnlich lautende Wörter dargestellt. Außerdem finden sich Angaben zu etymologischen Herleitungen und genealogischen Stammbäumen. Es besteht kein Zweifel, dass es Andronikos im Zuge seiner Vorlesung und vielleicht auch in privater Zusammenarbeit gewesen war, der den jungen Poliziano mit den homerischen Scholien, den mittelalterlichen Kommentatoren, besonders mit den Parekbolai des Eustathios von Thessalonike, der bedeutsamen pseudoplu‐ tarchischen Schrift De Homero, sodann aber auch mit byzantinischen lexiko‐ graphischen Werken wie dem Etymologicum magnum vertraut gemacht hat. 44 Wer aber war der homerische Lehrer aus Byzanz und wie beeinflusste er das Denken Polizianos? Andronikos Kallistos lehrte nur wenige, aber für Poliziano entscheidende Jahre in Florenz. Er kam auf Betreiben und Empfehlung des Kardinals Bessarion im Jahre 1471 an den Hof Lorenzos, wo er aus nicht näher bekannten Gründen 32 1. Homerus togatus - Homer in der Renaissance 45 Cammelli 1942, 179-180 hat einen Brief Bessarions an Lorenzo transkribiert, in wel‐ chem er die Bildung seines Protegés lobt und für die von Kallistos als angenehm emp‐ fundene Aufnahme an den Hof dankt. Der Brief datiert vom 30. August 1471, was für die Ankunft des Gelehrten in Florenz also den terminus ante quem darstellt. Die Abreise des Andronikos aus Florenz datiert Verde 1, 62 auf das Ende des Jahres 1474, direkt nach der Beendigung des akademischen Jahres 1473/ 74 im Oktober. Kallistos stirbt schon bald nach seinem Weggang aus Florenz in London (1476); vgl. Wilson 1992, 116; Bigi 1961; Monfasani 1991, 45-46. 46 Branca 1983 erwähnt den Lehrer an keiner Stelle. Die Darstellung bei Maїer 1966, 30- 31 ist konzise, konzentriert sich allerdings bevorzugt auf das in den Epigrammen dar‐ gestellte Lehrer-Schüler-Verhältnis, wobei auf eine konkrete Beeinflussung nicht ein‐ gegangen wird. 47 Elegia ad Laurentium Medicem (Del Lungo 1867, 227). Zur Datierung des Epigramms vgl. Megna 2009, XXVI Anm. 1; Cammelli 1942, 187-188. Welcher Art die Lehrbeauf‐ tragung des Andronikos in Florenz war und in welchem Rahmen diese stattfand, ist nicht gesichert: dazu Cammelli 1942, 185-188; vgl. Bigi 1961: “Non sappiamo se l’in‐ segnamento di A. in questa città fosse un vero e proprio incarico ufficiale.” Die Stimme des größten Kenners des Studio Fiorentino allerdings, Armando Verde, sollte nicht über‐ hört werden: “Il Cammelli ritiene che non si possa stabilire se Andronico fosse fatto venire per l’insegnamento pubblico o privato. Ciò è strano, giacché un insegnamento pagato per delibera del Comune era sempre pubblico.” (Verde 1973, 1, 62). bereits im Frühjahr 1475 nicht mehr zu finden ist. 45 Der Mann, der in funda‐ mentaler Weise verantwortlich ist für Polizianos frühe Ausbildung, hat in den poetologischen Studien bislang kaum Aufmerksamkeit erhalten. 46 Dies ist umso verwunderlicher, als Poliziano selbst sich mehrfach zum hochverehrten Lehrer bekannte: Er gedachte seiner in zwei Elegien, die gleichzeitig die wichtigsten Quellen für die Lehrtätigkeit des Andronikos in Florenz sind. Die Elegia ad Lau‐ rentium Medicem ist ein wohl 1473 geschriebenes Bittgedicht, das sich an Lo‐ renzo richtet und um eine wie auch immer geartete Weiterbeschäftigung des Lehrers in Florenz wirbt (vv. 9-14): 47 Tu tantum Andronicum serves! O quantus ab illo spiritus in nostri pectoris ima venit! o quos ille tibi gignit nutritque poetas dum tonat Argolicis Troica bella modis! Iam tibi Aristotelem vertit penitusque retrusas naturae arcano concinit ore vices. Fördere du nur den Andronikos! Welch gewaltige Begeisterung dringt von ihm her ins Innerste unseres Herzens! Welche Dichter erzeugt und nährt er dir, während er den Trojanischen Krieg in argolischem Lied erdröhnen lässt! Schon übersetzt er dir den Aristoteles und bringt geheimnisvoll die tief verborgenen Kreisläufe der Natur zu Gehör. 33 1.3. Der ‚homerische‘ Lehrer: Andronikos Kallistos 48 Vgl. Cammelli 1942, 186. 49 Poliziano, Elegia ad Bartolomaeum Fontium 193-198 (Bausi 2003, 34): Rursum in An‐ dronici doctum me confero ludum, / qui tumidi nodos laxat Aristotelis / Smyrnaeique docet iocunda poëmata vatis: / iam populat Graias Dardana flamma rates. / Fulminei post haec aperit Demosthenis artem, / aequiparat nostri quem Ciceronis opus. Vgl. den Kommentar der Stelle bei Bausi 2003, 34-35. 50 Vgl. Resta 1978, 1058: “più che registrare gli argomenti […] dei corsi tenuti da Andronico nello Studio fiorentino, il Poliziano ha inteso sottolinearne la varietà […] ed esaltare, con il fascino e la difficoltà dei testi studiati, la vivacità e profondità della cultura del maestro, tra tutti a lui il più caro e certamente quello che ha inciso tracce più marcate sulla sua formazione.” 51 Eine Auflistung der erhaltenen Schriften bietet Bigi 1961. Hinzugekommen sind Editi‐ onen weiterer Schriften, so die des Widmungsbriefes an Lorenzo durch James Hankins im Jahre 1994 (jetzt Hankins 2004) und der Übersetzung von De generatione et corrup‐ tione (Rashed 2011). Vgl. auch die Defensio Theodori Gazae bei Mohler 1967, III, 170-203 und den philosophischen Traktat bei Monfasani 1985. Vgl. neuerdings Orlandi 2014, der weitere Studien vorbereitet. Die umfänglichste Darstellung von Leben und Wirken des Byzantiners bietet noch immer Cammelli 1942. Vers 12 verweist auf die Ilias-Vorlesung, die Verse 13-14 thematisieren die in Angriff genommene Übersetzung der aristotelischen Schrift Περὶ γενέσεως καὶ φθορᾶς (De generatione et corruptione) ins Lateinische. 48 In Vers 11 wird An‐ dronikos als Erzeuger und Förderer von Dichtern gepriesen. Dies kann nichts anderes bedeuten als ein Bekenntnis zur herausragenden Rolle, die Andronikos bei der ‚Erzeugung‘ und ‚Ernährung‘ des homerischen Dichters Poliziano ge‐ spielt hat. Auch die berühmte Elegie an Bartolomeo Fonzio hält eine Würdigung der breitgefächerten Lehrtätigkeit des Byzantiners bereit: Andronikos habe aristotelische Knoten gelöst - vielleicht handelt es sich um die Problemata -, homerische Dichtungen gelehrt - gemeint ist die Ilias-Vorlesung - sowie über Demosthenes gelesen. 49 Andronikos hat den jungen Poliziano demnach auch in aristotelischer Philosophie und in Rhetorik unterrichtet und sicherlich auch da‐ durch nicht wenig zu dessen breitem philologischen Interesse beigetragen. 50 Schließlich darf auch die bereits zitierte Koronis des 1. Miszellenbuchs als Be‐ kenntnis zum Lehrer seiner Jugend gelten: Die relative Abwendung von den Meistern in platonischer und aristotelischer Philosophie, von Ficino und Argy‐ ropulos, und die leidenschaftliche Hinwendung zu Homer bedeutet gleichzeitig eine Hinwendung zum homerischen Lehrer, Andronikos Kallistos. Die Kenntnis von Person, Werk und Lehre des byzantinischen Gelehrten be‐ schränkt sich auf einige wenige erhaltene Schriften. 51 Ein weitgehend vernach‐ lässigtes Dokument von großer Aufschlusskraft für das Verständnis des intel‐ lektuellen Profils des Lehrers Polizianos ist der Widmungsbrief an Lorenzo de’ Medici, den Andronikos seiner Übersetzung der aristotelischen Schrift De ge‐ 34 1. Homerus togatus - Homer in der Renaissance 52 Der Brief (Laur. 84, 11 f. 1r-8r) ist ediert in Hankins 2004, 297-303 und in Rashed 2011 (dort auch die erste Edition der Übersetzung des Kallistos). Der Text hat bislang beson‐ ders aufgrund einiger weniger Passagen Aufmerksamkeit erregt, die ein greifbares Echo in Polizianos Schriften hinterlassen haben; vgl. Gentile 1998; Megna 2009, LXXV. 53 Ein Datum nach der Abreise des Andronikos aus Florenz 1475 kommt sicherlich nicht in Frage. Das Jahr 1473 erscheint insofern als wahrscheinliches Abfassungsjahr, als Polizianos Werbe-Epigramm für den Lehrer vom selben Zeitraum datiert, als des An‐ dronikos Stellung bei Hofe aus unbekannten Gründen bereits bedroht war. So liegt der Verdacht nicht fern, die Lorenzo gewidmete Übersetzung der aristotelischen Schrift könnte vom Wunsch des Schreibers nach Weiterbeschäftigung motiviert gewesen sein. 54 Andr. Kall. praef. Arist. G.C. 62-65 (Hankins 2004, 298). 55 Andr. Kall. praef. Arist. G.C. 69-82 (Hankins 2004, 298-299). neratione et corruptione beigegeben hat. 52 Der Brief ist in die Zeit des Aufenthalts des Andronikos in Florenz zu datieren, also in die Jahre zwischen 1471 bis 1475, wobei das Jahr 1473 als wahrscheinlichstes Abfassungsdatum in Betracht kommt. 53 Der Brief enthält ein ausführliches Bekenntnis zu einer von Homer abgeleiteten Philosophie der Allwissenheit, das Poliziano später öffentlich ver‐ treten und nachdrücklich verteidigen wird, und bietet so die Möglichkeit, Poli‐ zianos Homerverständnis auf ein ideologisches Fundament zu stellen. Kern und pädagogischer Referenzpunkt des Widmungsbriefs ist die Bedeut‐ samkeit der Philosophie in sämtlichen Lebensbereichen: Accedit ad haec - quod tibi quoque dilucidum esse existimo - nullam esse partem humanae vitae nul‐ lamque conditionem in qua, si recte vivere quispiam velit, philosophiae preceptis institutisque vacare potest. 54 Einer mehr oder minder topischen Aufzählung der Leistungen der Philosophie auf dem Gebiet der Ethik und Moral - sie besänftigt die Trauer, schmückt den Reichtum, zähmt die Ausgelassenheit, hilft in Not Geratenen - folgt ein Lob, das insbesondere in den Ohren des Adressaten Lo‐ renzo, Dilettant platonischer Philosophie, weniger gewöhnlich geklungen haben dürfte: 55 Ex rebus ipsis etiam mille testimonia sumere licet, nam quibusdam frugi navigare videtur, alii agriculturam exoptant. Hoc vivendi genus vetustissimum est et naturae hominis nimium (Aristotele auctore) accomodatum; illud vero metas egreditur parum humanas. Hominem enim cum animal sit terrestre non ritu volucrum, ut Columella, vir sapiens, inquit, rupto naturae foedere orbem pererrare oportet. Verum iisce duabus vivendi cupiditatibus, tametsi diversae sint, sese tamen ipsa [philosophia] iucundis‐ simam comitem praebet, lunae coeterarumque cursus stellarum, varietates temporum, diversitates coeli, naturas ventorum docens, quis insuper fertilis quisve sterilis ager et quid unaquaeque regio ferat quidve recuset, quod est serendi tempus quodque me‐ tendi, quo pecudes modo quove apes curantur, et quo rursus tempore quove modo tam Minervae munera quam etiam Bacchi et propagari et colligi debent. 35 1.3. Der ‚homerische‘ Lehrer: Andronikos Kallistos 56 Pol. 1, 1-11, 1256a1-1258a9; ebd. 1258b12-20: ἔστι δὲ χρηματιστικῆς μέρη χρήσιμα· τὸ περὶ τὰ κτήματα ἔμπειρον εἶναι, ποῖα λυσιτελέστατα καὶ ποῦ καὶ πῶς, οἷον ἵππων κτῆσις ποία τις ἢ βοῶν ἢ προβάτων, ὁμοίως δὲ καὶ τῶν λοιπῶν ζῴων (δεῖ γὰρ ἔμπειρον εἶναι πρὸς ἄλληλά τε τούτων τίνα λυσιτελέστατα, καὶ ποῖα ἐν ποίοις τόποις·ἄλλα γὰρ ἐν ἄλλαις εὐθηνεῖ χώραις), εἶτα περὶ γεωργίας, καὶ ταύτης ἤδη ψιλῆς τε καὶ πεφυτευμένης, καὶ μελιττουργίας, καὶ τῶν ἄλλων ζῴων τῶν πλωτῶν ἢ πτηνῶν, ἀφ’ ὅσων ἔστι τυγχάνειν βοηθείας. 57 Georg. 1, 1-5: Quid faciat laetas segetes, quo sidere terram / vertere, Maecenas, ulmisque adiungere vitis / conveniat, quae cura boum, qui cultus habendo / sit pecori, apibus quanta experientia parcis, / hinc canere incipiam. Ebd. 50-53: at prius ignotum ferro quam scin‐ dimus aequor, / ventos et varium caeli praediscere morem cura sit ac patrios cultusque habitusque locorum, / et quid quaeque ferat regio et quid quaeque recuset. Als weitere Quelle kommt Manilius 13-16 in Betracht. Den Dingen selbst lassen sich tausende Beispiele [für die Nützlichkeit der Philosophie] entnehmen, denn einige halten die Seefahrt für eine vernünftige Wahl, andere er‐ wählen sich die Landwirtschaft. Letztere Lebensweise ist die älteste und der mensch‐ lichen Natur, wie Aristoteles sagt, ganz und gar angemessen [Pol. 1, 8 1256a1-b39]. Jene indes geht ein wenig über die dem Menschen gesteckten Grenzen hinaus. Da der Mensch nämlich ein irdisches Lebewesen ist, soll er, so Columella [r.r. praef.], ein weiser Mann, nicht in Art von Vögeln und unter Verletzung des Naturgesetzes über den Erdkreis hinirren. Beiden Lebensentwürfen aber, wenngleich sie grundver‐ schieden sind, erweist sich die Philosophie als äußerst erfreuliche Begleiterin: Sie be‐ lehrt über den Lauf des Mondes und der übrigen Sterne, über die verschiedenen Wet‐ terlagen, die Himmelsrichtungen, die Arten von Winden, dann aber darüber, welches Feld fruchtbar und welches unfruchtbar ist, welche Früchte ein jedes Gebiet trägt und welche nicht, wann zu säen ist und wann zu ernten, wie Vieh und Bienen zu halten sind, und auch zu welcher Zeit und auf welche Weise die Gaben der Minerva ebenso wie die des Bacchus zu setzen und einzuholen sind. Besonders die Naturwissenschaft gehört in den Zuständigkeitsbereich der Phi‐ losophie. Aufschlussreich sind die Quellen, die Andronikos für sein Lob der ir‐ dischen Philosophie gewählt hat. Der Passage liegt die aristotelische Unter‐ scheidung zwischen natürlicher Erwerbskunst und Kapitalerwerb aus dem ersten Buch der Politika zugrunde, wo Aristoteles auch vom Handeltreibenden notwendige praktische Fähigkeiten (ἐμπειρία ἀναγκαία) in Landbau, Vieh- und selbst Bienenzucht fordert. 56 Die Termini, die zur Exemplifikation der Aufgaben der Philosophie herangezogen werden, sind den Werken römischer Fachschrift‐ steller entnommen; die prominenteste Quelle, aus der Andronikos schöpft, sind Vergils Georgica. 57 Die aristotelische Grundierung des Gedankens sowie die vergilische Exemplifizierung sind beredt. Schon hier deutet sich an, was kurz darauf klar ausgesprochen wird: Die Dichtung fungiert als Trägerin der ‚Philo‐ 36 1. Homerus togatus - Homer in der Renaissance 58 Andr. Kall. praef. Arist. G.C. 96-100 (Hankins 2004, 299). 59 Die Entwicklung, wie Homer von den - zunächst polemischen - Äußerungen des He‐ raklit und Xenophanes bald schon zur „Quelle alles Wissens“ avancierte, hat Hillgruber 1994, 5-35 nachgezeichnet. Das Bild Homers als Ozean, expliziert aus Il. 21, 195-197, wird besonders in der Kaiserzeit gebräuchlich; vgl. Megna 2009, XIX. 60 Macr. Sat. 2, 10, 11. sophie‘, die gleichgesetzt wird mit fachwissenschaftlicher Expertise. Die Vor‐ stellung einer Philosophie, die sämtliche Künste und Wissenschaften zum Ge‐ genstand hat, wird im Folgenden auf weitere Wissensgebiete übertragen: So sei sie unabdingbare Grundlage auch der bildenden Künste wie der Architektur, der Bildhauerei und der Malerei, der artes liberales wie der Rhetorik sowie der Politik und der Kunst der Kriegsführung. Als Bürge und Protagonist dieses enzyklo‐ pädischen Bildungsideals fungiert Homer: 58 videre licet vetustissimos illos vates quorum opera institutis sunt nimirum philoso‐ phiae referta. Homeri quidem poesim omnes, tam Graeci quam Latini, f o n t e m e s s e u n i v e r s a e p h il o s o p h i a e fatentur. Ab ea nanque omnis scientia omnisque bo‐ narum artium disciplina emanat. Man besehe sich nur die ältesten Dichter, deren Werke freilich mit philosophischen Grundsätzen angefüllt sind. Dabei hält man allgemein, Griechen wie Lateiner, gerade die homerische Dichtung für den Q u e l l d e r g e s a m t e n P h il o s o p h i e. Aus ihr nämlich fließt jede Wissenschaft hervor und jede schöne Kunst. Greifbar ist hier das bis ins 6. vorchristliche Jahrhundert hinaufreichende Bild Homers als ‚Quell aller Philosophie‘, das insbesondere durch die Wiederentde‐ ckung der pseudoplutarchischen Schrift De Homero, die den Renaissancege‐ lehrten eine Handhabe zur Homerinterpretation bot, deutlich an Relief ge‐ wann. 59 Vergleicht man etwa den Satz des Macrobius, auf den Petrarca zuvörderst sein Homerbild gegründet hatte und den Andronikos hier offen‐ sichtlich umgestaltet, so wird die enorme Distanz zwischen den beiden Vorstel‐ lungen sichtbar: et hoc esse volunt quod Homerus, divinarum omnium inventi‐ onum fons et origo, sub poetici nube figmenti verum sapientibus intellegi dedit. 60 Die traditionelle, den frühen Humanisten vor allem durch das Macrobius-Zitat vermittelte Einschätzung, die homerische Dichtung sei verschleierte Theologie, erscheint dem Byzantiner Andronikos Kallistos als zu kurz gegriffen. Er deutet Homer zum Archegeten der enkyklios paideia um, zu einer Bildung, deren Schwerpunkt nicht auf Theologie und Philosophie liegt, sondern die in gleichem Maße die niederen Künste und Wissenschaften umfasst. Für Andronikos be‐ deutet philosophia nicht ‚Wahrheit‘ im platonischen oder neuplatonischen Sinne, zu der man durch eine Form des Selbstüberstiegs hinaufgelangt und die 37 1.3. Der ‚homerische‘ Lehrer: Andronikos Kallistos 61 Andr. Kall. praef. Arist. G.C. 145-151 (Hankins 2004, 300). 62 Laur. 66, 31 f. 145v. Zu den verschiedenen Interpretationen der Episode in den home‐ rischen Scholien, bei Macrobius, Eustathios und Andronikos selbst vgl. Megna 2009, 102-104. in einer Reihe von Propheten und Dichtern als prisca theologia expliziert wird, sondern ein umfängliches, untereinander verknüpftes, enzyklopädisches Welt‐ wissen. Dass Andronikos allerdings nicht ausschließlich die irdischen Künste in der homerischen Dichtung berührt sah, erhellt aus seiner Erläuterung der Interde‐ pendenz von philosophischer und politischer Einsicht. Er führt Caius Marius als Exempel für den gescheiterten Staatsmann an, der zwar im Krieg tüchtig, in der Verwaltung des Staates aber ohne Einsicht agiert habe. Homers Dichtung wird auch hier zur Exemplifizierung des Sachverhaltes herangezogen: 61 Sapientia enim ei [Caio Mario] non affuit, qua homines aptiores ad civilem societatem redduntur. Vatis enim smyrnaei poesim his consentire videmus; Minerva namque, <a> qua caliginem a Diomedis visu canit fuisse sublatam, sapientia est profecto qua ho‐ minesque deosque quisque cognoscere potest, indeque a veteribus sumptam fuisse philosophiae descriptionem planissime constat, qui rerum eam humanarum divina‐ rumque cognitionem esse describunt. Marius entbehrte nämlich der Weisheit, die die Menschen zum Leben in einer bür‐ gerlichen Gemeinschaft befähigt. Dass der Dichter aus Smyrna die Bedeutung dieser Weisheit erkannte, erhellt daraus, dass Minerva, die den Schleier vom Gesicht des Diomedes entfernt, eben die Weisheit symbolisiert, durch die ein jeder Menschen und Götter erkennen kann. Dass die Alten dieser Stelle eine Definition von Philosophie - Erkenntnis menschlicher und göttlicher Dinge - entnommen haben, ist bestens be‐ kannt. Die allegorische Auslegung, die Andronikos der Homer-Stelle angedeihen lässt - und auf die Poliziano später in der Charmides-Vorrede zurückkommen wird (vgl. Kap. B.4.2.1) -, ist insofern aufschlussreich, als sie für den Schreiber nicht in Gegensatz zur vorher geäußerten irdischen Vorstellung der Dichtung tritt, nach der Homer auch als Quell niederer Wissenschaften gegolten hatte. Des Byzantiners Lehrpraxis bestätigt diesen Befund: Neben die Realienerklärung treten, wenngleich nicht in hoher Zahl, Hinweise auf die allegorische Homer‐ exegese, wie sie Macrobius oder die byzantinischen Homerkommentatoren Eus‐ tathios und Tzetzes vorgenommen hatten. 62 Das Homerbild des Andronikos sowie seine Vorstellung von Bildung ist also im besten Sinne enzyklopädisch, umfasst die Metaphysik ebenso wie die Landwirtschaft, die philologisch-histo‐ 38 1. Homerus togatus - Homer in der Renaissance 63 Andr. Kall. praef. Arist. G.C. 151-153 (Hankins 2004, 300). 64 Vgl. hierzu den Überblick bei Pontani 2015. 65 Hierzu Podskalsky 1977, 64-88; Hunger 1978, 11-41; Monfasani 1991, 43-44: “[…] al‐ lorquando i bizantini del Quattrocento si trovarono di fronte a un mondo culturale italiano spaccato fra umanesimo e scolastica, la disputa delle arti non esisteva nella cultura bizantina.” Keßler 2008, 97: „Aristoteles als Lehrer der Logik und Physik, Platon als Lehrer der Metaphysik.“ 66 Die Forschungsliteratur zur Debatte ist vielfältig. Überblickdarstellungen bei Purnell 1971; Mohler 1967, I, 346-398; Monfasani 1976, 201-229; Hankins 1991a, 165-263; Todt 2006. Texte bei Mohler 1967, III. 67 In Plotini Epitomae seu Argumenta, Commentaria et Annotationes, ad Laur. Med. prooem. (Ficino 1576, 2, 1537). 68 Hierzu Harris 1995, 130. Der Text der Defensio Theodori Gazae adversus Michaelem Apostolem bei Mohler 1967, III, 170-203. rische Exegese ebenso wie die allegorische Auslegung. So resümiert Andronikos selbst: Igitur philosophandi studia institutaque universam humanam vitam cunc‐ tasque actiones nostras exornare decorare atque perficere patet. 63 Dieser ganzheit‐ liche Zugang zu den antiken Texten hatte in Byzanz nichts Revolutionäres. 64 Die Universität in Konstantinopel kannte weder die strikte Trennung der Wissen‐ schaften, die von Humanismus und Scholastik noch von aristotelischer und pla‐ tonischer Philosophie. 65 War die intellektuelle Landschaft in Byzanz von einem Harmonisierungsstreben zwischen Aristoteles und Platon bestimmt, wurde die fundamentale Diskussion darüber, welcher Schule der Primat zustehe, erst auf italienischem Boden ausgefochten - im Zuge des Einigungskonzils in Florenz 1439, angestoßen durch die pro-platonische Schrift De differentiis (Über die Un‐ terschiede zwischen Aristoteles und Platon) aus der Feder des greisen Byzantiner Gelehrten Georgios Gemistos Plethon (1360-1452). 66 Das Einigungskonzil zeit‐ igte bekanntlich weitreichende Folgen - nicht zwar für die gefassten Beschlüsse, die nur 15 Jahre bis zur Eroberung Konstantinopels Bestand hatten, doch für das Geschick der platonischen Philosophie: Cosimo de’ Medici, der Großvater Lo‐ renzos, fasste dort, wie Ficino im Vorwort seiner Plotin-Übersetzung berichtet, den Entschluss zu einer florentinischen Akademie und zum epochalen Erschlie‐ ßungswerk der platonischen Philosophie, zu welchem er den jungen Ficino bestimmte. 67 Die Jahrzehnte nach dem Konzil sahen erbitterte ideologische Kämpfe zwischen Anhängern der aristotelischen und der platonischen Schule, wobei die zentrale Gestalt, Kardinal Bessarion (1403-1472), um belehrende Zu‐ rechtweisung seiner Gegner und um Ausgleich bemüht war. Parteigänger Bes‐ sarions, der das Wort für Platon gegen den Platomastrus Georgios Trapezuntios (1395-1484) ergriffen hatte, war Andronikos Kallistos, der, ebenfalls auf Aus‐ gleich zwischen den Philosophenschulen bedacht, auf einen anti-aristotelischen Ausfall des Michael Apostolios (etwa 1420-1480) replizierte. 68 Während Bessa‐ 39 1.3. Der ‚homerische‘ Lehrer: Andronikos Kallistos 69 Vgl. Hunger 1978, 40-41. rion als gemäßigter Platoniker galt, tat sich Kallistos während der Debatte als dessen aristotelisches Pendant hervor - beider Ziel war es, die alte, in Konstan‐ tinopel gelehrte Einheit zwischen den griechischen Philosophen zu be‐ wahren. 69 Wenn Andronikos dennoch hauptsächlich als Aristoteliker auftrat, so findet sich hiervon ein Reflex in der ganzheitlichen Ausrichtung seiner Ilias-Lektüre. Die Frage nach der neuplatonischen Prägung Polizianos scheint mir daher falsch gestellt. Das methodisch wie hermeneutisch umfassende Instrumentarium, das Poliziano von Andronikos Kallistos erlernt hatte, schloss weder die Beschäfti‐ gung mit der neuplatonischen Philosophie noch mit ihren exegetischen Me‐ thoden aus, doch waren sie bereits vom Lehrer auf ein Maß zurückgeschnitten, das ihnen im Kreis der Wissenschaften - anders als bei den Frühhumanisten um Petrarca, Boccaccio und Salutati oder bei den Zeitgenossen Ficino und Landino - keine Vorrangstellung einräumte. Dass die Realienerklärung in Polizianos postille zur Ilias die allegorischen Auslegungshinweise klar überwiegt, geht nicht auf das neuplatonische Umfeld in Florenz zurück, sondern im Wesentlichen auf die intellektuelle Ausrichtung, die enzyklopädische Lehrtätigkeit und die spe‐ zifische Homererklärung des Byzantiners Andronikos Kallistos. 40 1. Homerus togatus - Homer in der Renaissance 1 Baier 2015, 244-245. 2 Berti 2007, 4. Vgl. auch ebd. 15: “Il confine tra traduzioni e opere originali nel Quattro‐ cento fu assai meno netto di quanto sia oggi per noi.” Vgl. auch Orlando 1966. 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie Der Umstand, dass Poliziano seine Übersetzung der Ilias-Gesänge durchgängig mit erläuternden Randnotizen begleitete, eröffnet die Möglichkeit, sein frühes Dichtungsverständnis auf die Konstituenten zurückzuführen und die grundle‐ genden Strukturen herauszuarbeiten. Der Abgleich von Vorlage, Kommentar und eigener Kreation erlaubt einen unverstellten Blick in die Schreibstube des jugendlichen Übersetzers. Übersetzungen im Allgemeinen galten den Humanisten als „sprachschöpfer‐ ische Leistung“ und „Stilübung und Propädeutikum für eigene schriftstellerische Arbeit“. 1 Sie hatten nicht allein die Aufgabe, einem bestimmten Publikum einen fremdsprachigen Text verstehbar werden zu lassen, sondern waren zugleich ein Mittel zur Profilierung des Übersetzers, der seine sprachlichen Fähigkeiten im Griechischen und Lateinischen unter Beweis stellen konnte. So wurden Über‐ setzungen zuweilen zu einem nahezu originären Werk, zu einem „impegno let‐ terario di grande significato“. 2 Dass Poliziano seine Homerübersetzung als ein solches literarisches Unterfangen verstand, ist bereits deutlich geworden: Wer‐ begedicht an Lorenzo, sollte sie seine Kenntnisse des Griechischen ebenso be‐ weisen wie seine poetischen Fähigkeiten im Lateinischen. Durch die Analyse der Übersetzung und ihrer Anmerkungen kann ein kohärentes und tragfähiges Dichtungskonzept nachgewiesen werden, das für sämtliche der eigenständigen Dichtungen, der frühen wie der späteren, Geltung besitzt. Anhand der Überset‐ zung werden im Folgenden zunächst die Grundlagen der poetischen Technik, sodann die des poetischen Stils des Übersetzers und Dichters Poliziano heraus‐ gearbeitet. 3 Den wohl heftigsten Ausfall leistete sich Polizianos Intimfeind Giorgio Merula, der Po‐ lizianos Schriften nicht nur Originalität absprach, sondern auch pfauenhafte und selbst‐ beweihräuchernde Angeberei nachsagte: ubique accersitum, insolens et perinde obs‐ curum verbum, rigidissima denique affectio; in ostentatione veterum vocum totus distorquetur; libens et volens atque sibi plaudens in apirocalliam incurrit (Fabbri 1979, 293). Zum feindseligen Verhältnis der beiden Fabbri 1998. Vgl. auch Bartolomeo Fonzio, epist. 1, 24, 2 (Daneloni / Davies 2011, 68): ab omni proprietate elegantiaque Latina ali‐ enissime. 4 Epist. 8, 16 (Garin 1952, 902). Zur Polemik vgl. z.B. McLaughlin 1995, 187-227; Fera 1999; Coppini 2015. 5 Pol. epist. 5, 1 (Poliziano 1553, 58). Transkription mit französischer Übersetzung bei Galand-Hallyn / Hallyn 2001, 494-496. Zum Folgenden auch Dänzer 2015. 2.1. Poetische Technik 2.1.1. contaminatio - ferruminatio Polizianos Latein, in Prosa wie in Poesie, stieß bei seinen Zeitgenossen immer wieder auf heftige Kritik. Dabei richteten sich die Anwürfe insbesondere gegen zwei der charakteristischsten Merkmale seines Schreibstils: gegen das entle‐ gene, allzu gesuchte Wort und gegen das scheinbar wahllose Zusammenfügen von unterschiedlichen Versatzstücken zu einem neuen sprachlichen Gefüge. 3 Poliziano wusste sich allerdings stets zu verteidigen. So war er bekanntermaßen in der Kontroverse mit Paolo Cortesi für einen individuellen Stil eingetreten, dessen Güte nicht in der Nachahmung eines Stilideals, sondern in der kreativen Verschmelzung einer Vielzahl von Quellen liegen sollte, und hatte seinen Ge‐ sinnungsgenossen dabei die bald topisch gewordene Parole hinterlassen: Non enim sum Cicero; me tamen, ut opinor, exprimo. 4 In einem weniger beachteten, doch in keiner Weise minder aussagekräftigen Briefwechsel mit Bartolomeo Scala aus dem Jahre 1493, akzentuiert an den Be‐ ginn des 5. Buches des Liber epistolarum gestellt, befasste sich Poliziano mit den Anwürfen seines Kontrahenten und Widersachers und stellte ihnen eine veri‐ table refutatio entgegen. Der Beginn des Briefs referiert die Hauptanklagepunkte Scalas: 5 Tu mihi superioribus diebus aperte dixisti et abs te auditum multi retulerunt non placere genus scribendi meum, propterea quod ascita nimium verba et remota con‐ secter. Me quoque esse quendam (sic enim soletis dicere) ferruminatorem. Du, Scala, hast mir in den vergangenen Tagen ganz offen gestanden - und ich habe dein Urteil auch von anderen gehört - dass dir mein Schreibstil nicht gefällt, weil ich 42 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 6 Epist. 5, 1 (Poliziano 1553, 59): Caeterum cur hoc ipsum verbum ‘ferrumino’ tanto cum risu profertur, cum sit proprium, simplex, non male sonans, non obsoletum […]? 7 Epist. 5, 1 (Poliziano 1553, 59): nunc autem vulgo Latinus sermo nescitur nec a nutricibus iam, sed a magistris discitur. Apud quos certe nulla magis haberi verba et usitata debent et recepta, quam quae de veteribus illis magnorum autorum thesauris proferantur. allzu entlegene und ungebräuchliche Wörter verwenden würde. Außerdem sei ich, so sagt ihr für gewöhnlich, ein Zusammenschweißer. Poliziano verteidigt sich gegen den Vorwurf des manierierten Stils nach Art eines Angeklagten vor dem Tribunal: In einer rhetorisch geschliffenen con‐ cessio, indem er Scalas (wohl von Poliziano selbst fingierten oder pointierten) Aussage stattgibt, dass man nicht wahl- und planlos (temere) seltene Wörter rezipieren solle, im Gegenzug aber bekräftigt, dass man auch niemandem einen Vorwurf machen dürfe, der seltene und außer Gebrauch gekommene, aber gut lateinische und von geeigneten Autoren verbürgte Wörter wieder ins Bewusst‐ sein rufe und in Gebrauch nehme. Es folgt eine Auflistung von Autoren, die Scala notwendigerweise zurückweise, wenn er nur den Stil Ciceros gelten lasse, darunter Livius, Sallust, Quintilian, Seneca und beide Plinii. In einer brillanten Pointe nimmt er sich anschließend den Anklagepunkt der ferruminatio vor. In humoristischer Manier fragt er, was denn am Wort ferruminare anstößig sei: Es sei passend, leicht verständlich, ja sogar außerordentlich wohlklingend - und vor allem: gebräuchlich. 6 Das Briefende hat perorativen Charakter: Ausgehend vom Caesar zuge‐ schriebenen Diktum, dass ein ungebräuchliches Wort wie eine Klippe zu meiden sei, ergeht sich Poliziano in einer sprach- und kulturhistorischen Betrachtung. In einer Zeit, in der das Lateinische mit der Muttermilch eingesogen wurde, es also jedermann sprechen, lesen und schreiben konnte, habe der Ruf nach Ver‐ meidung gesuchter und außer Gebrauch gekommener Wörter sicherlich sehr viel überzeugender geklungen als in einer Zeit, in der das Lateinische weithin unbekannt sei und man es nicht länger von den Ammen, sondern von den Leh‐ rern in der Schule eingetrichtert bekomme. Das heißt: Wer nur Cicero nachahmt, wird sich den Reichtum der lateinischen Sprache schwerlich ganz erschließen können. Poliziano beschließt seine Argumentation mit einem Aufruf an die Lehrer, in deren besonderer Verantwortung die Bewahrung entlegener Wörter läge. 7 Mit dem Verweis auf die zeitgenössischen Lehrer, die die antiken Ammen zu ersetzen hätten, verbindet Poliziano ein Programm, das besonders für seine eigene Arbeitsweise gilt, die er im Widmungsbrief zur Nutricia auf den Begriff der multa et remota lectio brachte: Das Niveau des ammengesäugten Mutter‐ 43 2.1. Poetische Technik 8 Vgl. Widmungsbrief der Nutricia (Bausi 1996, 163); epist. 8, 16 an Cortesi: stylum recon‐ dita eruditio, multiplex lectio, longissimus usus diu quasi fermentavit (Poliziano 1553, 113). 9 Zu den Benennungen z.B. Maïer 1966, 203-215; Orvieto 2009, 10-11. 10 Eine scharfe und umfassende Abrechnung mit Poliziano bietet Bartolomeo Fonzio in epist. 1, 24 (Daneloni / Davies 2011, 66-71), wo er über den Dichter Poliziano schreibt (ebd. 68): An poetam [te profiteris], cuius te nihil apparet ex conquisitis semifuratisque versibus praeter mentis furorem assecutum? Ebd. 70: tenebricosum ingenium. Vgl. Anm. 108 und Anm. 634. Vgl. auch Mowshowitz 1971, 335. 11 Maïer 1966, 203 etwa schrieb über die Dichtungen des Florentiners: “Les réminiscences d’auteurs anciens y sont beaucoup plus nombreuses que dans l’œuvre de ses contem‐ porains.” Bettinzoli 1995, 7 charakterisierte seinen Stil so: “Anfrattuosa, labirintica, am‐ biguamente elusiva, la scrittura del Poliziano lo è, d’altronde, per vari aspetti.” Vgl. auch ebd. 2009, 59; Orvieto 2009, 14. 12 Zum intertextuellen regressus ad infinitum Pfister 1985, 9. sprachlers ist nur durch harte Arbeit zu erreichen, die naturgegebenen sprach‐ lichen Defizite sind nur durch Belesenheit wettzumachen. 8 Für das von den Zeitgenossen als wenig ingeniös empfundene musivische Zusammensetzen sprachlicher Versatzstücke verschiedenster Provenienz haben sich in der modernen Forschung Bezeichnungen wie contaminatio (fontium), collatio, ‚collage‘, docta varietas eingebürgert, wobei der zeitgenössische und von Poliziano selbst schmunzelnd gebilligte Begriff der ferruminatio aufgrund der Betonung des Mechanischen geeigneter erscheint. 9 Es hat sich jedoch nicht nur der Begriff gewandelt, sondern auch die Einschätzung der Begabung des Autors Poliziano. Hatten ihm nicht wenige seiner Zeitgenossen, freilich vornehmlich seine Gegner, ein tenebricosum ingenium, zahllose Plagiate, Ideenklau und selbstgefälligen, uneleganten Stil nachgesagt, 10 liest man heute stets das Gegen‐ teil: Befördert insbesondere von der Intertextualitätsforschung, gelten Polizi‐ anos Dichtungen als Produkte eines Genies, deren unüberblickbarer Anspie‐ lungsreichtum den Eifer der Interpreten herausfordert wie kaum ein anderer Dichter der Renaissance. 11 Das nicht Greifbare des Dichters zeigt sich insbe‐ sondere auf der hermeneutischen Ebene und stellt denjenigen Leser oder Exe‐ geten vor immer neue Schwierigkeiten, der einen glaubwürdig vertretbaren Sinn in Polizianos Versen und Gedichten sucht. Die grundsätzliche Schwierig‐ keit hierbei ließe sich benennen als Problem des hermeneutischen Regresses: 12 Einer ersten Verstehensebene, welcher die Oberflächenbeschaffenheit des Textes, d.h. ein neues Gewebe aus intertextuellen Bezügen zugrunde liegt, stehen weitere und erweiterbare Verstehensebenen gegenüber, die nach dem Absichtsgrund für die Übernahme eines Versatzstücks oder Motivs suchen. Dabei spielt die Frage nach dem Ursprungskontext des Bausteins die entschei‐ dende Rolle - wird dieser im neuen Text mitrezipiert oder nicht? Handelt es sich 44 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 13 Orvieto 2009, 14: “Tanto nelle Stanze quanto nell’Orfeo Poliziano è tutto concentrato a stupire con altri impressionanti exploits di funambolismo combinatorio, di docta varietas che, da un lato, ‘letteraturizzano’ il preciso fatto concreto, l’occasione-spinta, dall’altro lato stordiscono il lettore (e, ancora, l’interprete moderno) per il policromo e labirintico mosaico di recuperi […].” 14 Wesseling 1986, XXIV. 15 Martelli 1973; 1995, 267-279; Bausi 2007, 15-17. 16 Baier 2015, 254. um eine rein linguistische oder um eine thematisch oder konzeptuell bedeut‐ same Übernahme? Trotz seiner Bedeutung für sämtliche Schriften Polizianos (nicht nur für die poetischen) wurde das Problem bisher kaum theoretisch untersucht. Auf einige wenige Merkmale hat man hingewiesen: Mit Blick auf die vulgärsprachliche Dichtung stellte Paolo Orvieto fest, dass der Dichter ein konkretes Faktum in literarische Form kleide, indem er verschiedene Versatzstücke aus der literari‐ schen Tradition verdichtend zusammenfüge, wobei das Ziel linguistischer Bu‐ denzauber sei, der auf Irreführung und Faszinierung des Lesers abziele. 13 Nüch‐ terner und treffender schrieb Ari Wesseling in der Einleitung seiner Lamia-Edition über den prosaischen Stil Polizianos, was für den poetischen in gleicher Weise gilt: “When he touches on a particular theme it is as if the one text reminds him of the next, as if he has a stock of fragments from a variety of sources just waiting to be used.” 14 In der italienischen Forschung hat sich der Begriff der ‚unità semantico-letterarie‘ herausgebildet, wonach Poliziano von‐ einander abgegrenzte thematische Einheiten durch zugehörige, literarisch vor‐ definierte sprachliche Äußerungen darzustellen versuche. 15 Wichtig scheint mir ferner der Begriff des Denkmusters, auf den jüngst Thomas Baier hingewiesen hat: „Die Zusammenstellung von Zitaten ist nicht ein Notbehelf, sondern die Zusammenführung zusammengehöriger Denkmuster. Poliziano stellt die Be‐ züge nicht her, sondern macht vorhandene sichtbar.“ 16 Die Ilias-Übersetzung samt Randnotizen bietet die Möglichkeit, den außergewöhnlichen Anspielungs‐ reichtum der poetischen Werke Polizianos auf ein allgemein gültiges und klar definierbares Schema zurückzuführen, aus dessen Bestimmung sich ein Inter‐ textualitätsmodell für die Dichtungen Polizianos ableiten lässt. Es wird hierbei deutlich werden, dass Polizianos Übersetzungstechnik wesentlich mit der poe‐ tischen Technik der eigenständigen Dichtungen übereinstimmt. Im Zuge ihrer Analyse der Versatzstücke, die Poliziano für die Ilias-Überset‐ zung unterschiedlichen Autoren entnommen hatte, und der jeweiligen Aus‐ gangskontexte war Alice Levine Rubinstein zu dem Schluss gekommen, dass die 45 2.1. Poetische Technik 17 Levine Rubinstein 1983, 55. Vgl. hierzu auch Baffi 1978. 18 Conte / Barchiesi 1989, 95: “Imitare un testo, allora, presuppone che in via preliminare si costituisca un modello di genere: ora il modello non è più un testo, una totalità conc‐ reta, ma un insieme di tratti distintivi, una struttura generativa.” Entlehnungen rein stilistischer Natur seien, nicht aber bewusst Kontexte und Sinngehalte evozierten: 17 […] these borrowings have an almost strictly stylistic function, and are not meant to evoke the context from which they were taken. Instead, Poliziano has found one or two Vergilian passages describing a narrative situation similar to that being translated - Zeus sends a messenger, the protagonist cannot sleep - and uses Vergilian verses as an artistic translation of these Homeric passages. When the reader tries to find greater significance in the evocation of these Vergilian scenes, he rapidly runs into difficulties. Man kann dieser Beobachtung weitere Facetten hinzugewinnen, wenn man Po‐ lizianos Marginalien zum Text heranzieht, die stellenweise nichts weniger sind als eine Erklärung seiner Übersetzungstechnik, ein Kommentar sui ipsius. 2.1.2. Versatzstücke und Intertextualität Für die intertextuelle Analyse der Dichtungen Polizianos eignen sich in vor‐ züglicher Weise Terminologie und Betrachtungsweise, die Craig Williams am Martial-Gedicht 2, 41 exemplifiziert hat. Ausgehend vom Aufsatz Imitazione e arte allusiva. Modi e funzioni dell’intertestualità von Gian Biagio Conte und Alessandro Barchiesi und deren Unterscheidung rezipierter Vorgängertexte in exemplarische und generische Modelle, nimmt Williams eine flexiblere und für unsere Belange geeignetere Unterscheidung vor. Conte und Barchiesi hatten lediglich zwischen punktuellen Anspielungen (der Prätext, aus dem die Über‐ nahme stammt, wird als Modello-Esemplare definiert) und einem werkübergreif‐ enden, systemreferentiellen ‚Schreiben in Art von‘ (‘scrivere alla maniera di’; Modello-Genere/ -Codice), also zwischen der kleinsten und der größten denk‐ baren Einheit unterschieden. 18 Williams vermisste hierbei ein mittleres Modell, welches in der Lage ist, ein Werk in mehrere thematische und strukturelle Ab‐ schnitte zu zergliedern, und schlug eine Modifizierung des Modello-Genere vor. Zunächst ersetzte er den Begriff durch den freieren des thematic model; das thematische Modell kann dieselbe Funktion haben wie das generische, d.h. es kann den Autor zu einem ‚Schreiben wie, in Art von‘ inspirieren. Williams pos‐ tuliert allerdings, dass ein Text in mehrere thematic models zu unterteilen sein müsse. Dadurch kann ein Werk thematisch und strukturell in einzelne Passagen 46 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 19 Williams 2006, 332 Anm. 7: “While the concept of modello codice is linked to that of literary genre […] and a given text can apparently have only one such model, according to my proposed terminology a given text might have more than one ‘thematic model’, nor would all relevant thematic models necessarily belong to the same literary genre.” 20 Williams 2006, 332. 21 Übersetzung Schadewaldt 1975, 91. zergliedert und differenzierter betrachtet werden: Nähme man für das zu un‐ tersuchende Werk ein Modello-Genere an, so machte es der Ansatz von Conte/ Barchiesi erforderlich, es innerhalb eines literarischen Genres anzusiedeln; nimmt man stattdessen an, ein Autor habe mehrere thematic models für sein Werk in Anspruch genommen, so ermöglicht dies eine adäquatere Besprechung der Stile und Genres innerhalb des Werks. 19 Sein Intertextualitätsmodell fast Williams wie folgt zusammen: 20 When describing intertextual phenomena we may detect a linguistic model, a focused textual moment such as a phrase or a verse that supplies raw material - individual words or phrases - to a specific moment in a later text; and a thematic model, a larger textual unit such as an entire poem or a passage in a more extensive work that func‐ tions more generally as an inspiring presence on the level of theme and structure - independently of whether any linguistic models may be identified within it - and potentially also as a presence against which the later text might take a combative or corrective stance. Dass wir hier ein geeignetes Instrument zur Analyse der poetischen Technik Polizianos haben, belegt exemplarisch die annotierte Ilias-Übersetzung. Wir be‐ ginnen unsere Untersuchung bei der Beschreibung des Streitwagens der Hera im 5. Ilias-Gesang. Homer beschreibt das Gefährt in fachmännischer Weise (vv. 722-732): 21 Ἥβη δ’ ἀμφ’ ὀχέεσσιν θοῶς βάλε καμπύλα κύκλα χάλκεα ὀκτάκνημα σιδηρέῳ ἄξονι ἀμφίς. τῶν ἤτοι χρυσέη ἴτυς ἄφθιτος, αὐτὰρ ὕπερθε χάλκε’ ἐπίσσωτρα προσαρηρότα, θαῦμα ἰδέσθαι· 725 πλῆμναι δ’ ἀργύρου· εἰσὶ ἀμφοτέρωθεν· δίφρος δὲ χρυσέοισι καὶ ἀργυρέοισιν ἱμᾶσιν ἐντέταται, δοιαὶ δὲ περίδρομοι ἄντυγές εἰσι. τοῦ δ’ ἐξ ἀργύρεος ῥυμὸς πέλεν αὐτὰρ ἐπ’ ἄκρῳ δῆσε χρύσειον καλὸν ζυγὸν, ἐν δὲ λέπαδνα 730 κάλ’ ἔβαλε χρύσει’· ὑπὸ δὲ ζυγὸν ἤγαγεν Ἥρη ἵππους ὠκύποδας, μεμαυῖ’ ἔριδος καὶ ἀϋτῆς. 47 2.1. Poetische Technik 22 Megna 2009, 147-148; Levine Rubinstein 1982, 237; Vat. Lat. 3617 ff. 41v-42r. Hebe aber warf schnell um den Wagen die gebogenen Räder, Die ehernen, achtspeichigen, um die eiserne Achse. Von denen ist golden der Radkranz, unvergänglich, doch darüber Sind eherne Radbeschläge angefügt, ein Wunder zu schauen, Und die Naben sind voll Silber, die sich drehen auf beiden Seiten. Und der Wagenkorb ist mit goldenen und silbernen Riemen Durchspannt, und zwei rings umlaufende Geländer sind daran, Und von ihm aus geht die silberne Deichsel. Am äußersten Ende Band sie fest das goldene schöne Joch und steckte die Gurte hinein, Die schönen goldenen. Und unter das Joch führte Here Die schnellfüßigen Pferde, begierig nach Streit und Kampfruf. Diese Stelle ist fraglos schwierig zu übersetzen. Die Randglossen indes künden von der Findigkeit des nichtmuttersprachlichen Übersetzers, der die Verse mit pragmatischer Handhabe in lateinische Hexameter überträgt. 11 Randnotizen begleiten die 14 Verse: Sie duplizieren die lateinischen Termini technici der ein‐ zelnen Wagenteile und geben in drei Fällen ihre Herkunft an (Pol. Il. 5, 829- 842): 22 At festina rotas Hebe subnectit ahenas rotae mg. s. curribus, atque octo radios quos ferreus axis radii, axis circumagit, radiatque ardenti aeterna rotarum curvatura auro, quam circum innexuit orbem curvatura aeneus extremum visu mirabile canthus: canthus ap. Persium hinc atque hinc axem rapida vertigine circum argento modii fulgent: argentea lora modii ap. Vitruvium, lora aureaque intendunt subnixam splendida sedem: desuper assurgunt camiro duo tympana dorso: tympana ap. Maronem mg. d. fulgurat argento temo editus. Illicet Hebe temo porrectumque iugo temonem subligat aureo, iugum aureaque annectit latis subitura ferorum vincula pectoribus. Tum colla comantia Iuno vincula subiuga prosubigit, flagratque cupidine pugnae. Die geeignetste Vorlage zur Wiedergabe der einzelnen Bauelemente des antiken Wagens fand Poliziano in der Beschreibung des Sonnenwagens aus Ovids Me‐ tamorphosen, den sich Phaeton vom Vater Sol leihen sollte. Dort wird das Un‐ glücksgefährt so beschrieben (Ov. met. 2, 107-108): aureus axis erat, temo aureus, aurea summae / curvatura rotae, radiorum argenteus ordo. Gleich vier Bauteile 48 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 23 Pers. 5, 70-72: nam quamvis prope te, quamvis temone sub uno / vertentem sese frustra sectabere canthum, / cum rota posterior curras et in axe secundo. Vitr. 10, 9, 2: tunc in rotae modiolo ad partem interiorem tympanum stabiliter includatur habens extra frontem suae rotundationis extantem denticulum unum. Verg. georg. 2, 444-445: hinc radios trivere rotis, hinc tympana plaustris / agricolae, et pandas ratibus posuere carinas. 24 Übersetzung Schönberger 1992, 37. borgt sich Poliziano vom Sonnenwagen: die Achse (axis, homerisch ἄξων), die Deichsel (temo, ῥυμός), den Radkranz (curvatura, rotae, ἴτυς) sowie die Radspei‐ chen (radii, κνήμη). Aus dem weiteren Verlauf der Phaeton-Erzählung konnte Poliziano iugum (v. 109) und lora (v. 127) für seine Zwecke nutzbar machen. Das Gerüst des Sonnenwagens bestückt der Übersetzer im Weiteren mit Fachbe‐ griffen, deren Herkunft er vermerkt. So werden Radschiene bzw. Radbeschläge (canthus, ἐπίσσωτρον) bei Persius, die Radnaben (modii, πλῆμναι) bei Vitruv und schließlich die Geländer (tympana, ἄντυγες) des Wagenkorbs (allerdings unrichtig: tympana bezeichnen die ‚Scheibenräder‘) bei Vergil entlehnt. 23 Dabei spielt der Kontext, dem die Begriffe entnommen sind, keine Rolle; wichtig ist der passende Terminus. Nun könnte man dies noch als Erfordernis einer sachgerechten Übersetzung sehen; bedeutend und aufschlusskräftig allerdings ist es, wenn Poliziano ein weiteres Versatzstück aus der Phaeton-Geschichte in seine Übersetzung hinein‐ flicht, das nicht mehr übersetzerischem Zwang entspringt. So gibt er die ab‐ schließenden Verse der Wagenschilderung μεμαυῖ’ ἔριδος („[Here] begierig nach Streit und Kampfruf “) mit flagratque cupidine pugnae wieder. Dies ist eine Ent‐ nahme aus der Phaeton-Episode, welchen es - wie Hera nach dem Kampf - nach dem Sonnenwagen verlangt: flagratque cupidine currus (met. 2, 104). Die Über‐ nahme erfolgt lediglich aufgrund motivischer und struktureller Ähnlichkeit, nicht aber mit der Intention einer bewussten kontextbezogenen Anspielung. Dass das Verfahren, ein Thema durch einen Haupttext auszudrücken und durch Versatzstücke unterschiedlicher Provenienz anzureichern bzw. zu ver‐ dichten, nicht nur Übersetzungstechnik ist, sondern für Polizianos Poetik über‐ haupt gilt, d.h. die grundsätzliche Arbeitsweise des Dichters Poliziano bedeutet, wird einsichtig, wenn man welche Stelle auch immer aus seinem Werk zum Vergleich heranzieht. Im Rusticus etwa beschreibt Poliziano die Trauer einer Kuh um ihr Kälbchen (vv. 254-262): 24 Flet vitulum moesta absentem mugitibus altis mater, et immensam raucis miseranda querelis 255 silvam implet; boat omne nemus vallesque lacusque; illa nigros late lucos saltusque peragrat 49 2.1. Poetische Technik crebra gemens, crebra ad montem stabulumque revisit tabescens desiderio; non ulla dolorem pabula nec salicum frondes nec gramina rore 260 sparsa levant, non quae viridi vaga flumina ripa perspicuam tenui deducunt murmure lympham. Mit lautem Muhen klagt die trauernde Mutter um ihr ausgebliebenes Kalb; das be‐ dauernswerte Tier erfüllt den endlosen Wald mit dumpfer Klage, und der ganze Hain, die Täler und Seen hallen wider. Die Kuh irrt weit umher durch dunkle Haine und Triften, klagt immer wieder, sucht immer wieder Berg und Stall auf, härmt sich ab in Sehnsucht, und kein Futter, kein Weidenlaub, kein taufeuchtes Gras stillt ihren Schmerz, auch nicht der Fluß, der zwischen grünen Ufern fließt und leise murmelnd klare Wellen zu Tag führt. Der hauptsächliche Gewährsmann, auf den sich Poliziano hier beruft, ist Lukrez. In den Versen 2, 352-365 der De rerum natura wird das trauernde Verhalten einer Kuh beschrieben, die ihr Junges sucht, das als Opfertier geschlachtet worden war: nam saepe ante deum v i t u l u s delubra decora turicremas propter mactatus concidit aras sanguinis expirans calidum de pectore flumen; at m a t e r v i r i d i s s a l t u s orbata p e r a g r a n s 355 novit humi pedibus vestigia pressa bisulcis, omnia convisens oculis loca, si queat usquam conspicere amissum fetum, completque q u e r e lli s f r o n d i f e r u m n e m u s adsistens et c r e b r a r e v i s i t a d s t a b u l u m d e s i d e r i o perfixa iuvenci, 360 nec tenerae s a li c e s atque herbae r o r e vigentes f l u m i n aque ulla queunt summis labentia r i p i s oblectare animum subitamque avertere curam, nec vitulorum aliae species per p a b u l a laeta derivare queunt animum curaque l e v a r e. Neben den zahlreichen sprachlichen Übernahmen dient der lukrezische Text insbesondere als strukturierendes Element. Das Verhalten der Kuh ist konzep‐ tuell nach Lukrez gestaltet: Das erfolglose Suchen nach dem Kalb - das sehn‐ suchtsvolle Klagen - die Ablehnung von Nahrung und Trank. Angereichert wird die lukrezische Struktur durch Versatzstücke aus anderen Autoren: Breiter aus‐ geführt wird etwa das weithin hörbare Klagen der Kuh. Das lukrezische Thema der Klage (vv. 358-359: complet querellis / frondiferum nemus) wird durch ge‐ 50 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 25 Verg. Aen. 8, 215: discessu mugire boves atque omne querellis / impleri nemus; georg. 4, 515 (von einer Nachtigall): maestia late loca questibus implet; 3, 223: reboant silvaeque; vgl. Bausi 1996, 70. 26 Vgl. z.B. Lucr. 2, 345: fontisque lacusque; Verg. Aen. 12, 756: ripaeque lacusque; Ov. met. 2, 238: fontesque lacusque; 7, 198: amnesque lacusque. 27 Übersetzung Schönberger 1992, 41. 28 Übersetzung Schönberger 2007, 44-47. eignete Prätexte, linguistic models, in seiner Intensität gesteigert. Polizianos Version (vv. 255-256: et immensam raucis miseranda querelis / silvam implet; boat omne nemus vallesque lacusque) ist vornehmlich vergilischen Schilderungen von tierischem Klagen verpflichtet, wobei keine Kontexte transportiert werden. 25 Auch die abschließende Klausel vallesque lacusque ist in ähnlicher Form in he‐ xametrischer Dichtung gängig. 26 Die verwendeten lateinischen Texte - im besten Falle hexametrische, um die metrische Einpassung zu gewährleisten - werden auf ihre motivische Eignung hin und unter Berücksichtigung des the‐ matischen Modells ausgewählt und verschmolzen. Die Frage, die sich Poliziano vor der Abfassung stellte, muss also gelautet haben: Wo und wie äußern sich klagende Tiere in lateinischer hexametrischer Dichtung? Das thematische Modell muss jedoch, wie Williams ausdrücklich betont, nicht zwingend sprachlich vertreten sein. Ein instruktives Beispiel hierfür entnehmen wir nochmals dem Rusticus. Die Verse 333-339 haben kein lateinisches, sondern ein griechisches thematisches Modell, und zwar einen Abschnitt aus Hesiods Erga, Verse 581-595. Zunächst die Stelle aus dem Rusticus (vv. 333-339): 27 Post ubi raucisonae pinna vibrante cicadae increpuere, ardensque metentibus ingruit aestus, paulisper tum cessat opus, saxique sub umbra 335 prostrati indulgent genio: non mollia pleno desunt vina cado, non lacti mixta polenta, aut pinguis tergum vitulae, placidusque sonorae lapsus aquae, crinemque aurae frontemque lacessunt. Wenn jedoch die heiser schrillenden Zikaden mit ihrer zirpenden Feder zu lärmen begannen und glühende Hitze auf die Mäher hereinbricht, dann ruht die Arbeit ein Weilchen; sie lagern im Felsschatten und lassen sichs wohl sein. Nicht fehlt es an köstlichem Wein im vollen Krug, nicht an Gerstenbrei mit Milch oder an fettem Kalbsrücken; still rauschend gleitet das Wasser, und die Lüfte umfächeln Haar und Stirn. Das Thema der Pause in der Gluthitze des Sommers liest sich in Hesiods Erga so (vv. 581-595): 28 51 2.1. Poetische Technik Ἦμος δὲ σκόλυμός τ’ ἀνθεῖ καὶ ἠχέτα τέττιξ δενδρέῳ ἐφεζόμενος λιγυρὴν καταχεύετ’ ἀοιδὴν πυκνὸν ὑπὸ πτερύγων, θέρεος καματώδεος ὥρῃ, τῆμος πιόταταί τ’ αἶγες, καὶ οἶνος ἄριστος, μαχλόταται δὲ γυναῖκες, ἀφαυρότατοι δέ τοι ἄνδρες 585 εἰσίν, ἐπεὶ κεφαλὴν καὶ γούνατα Σείριος ἄζει, αὐαλέος δέ τε χρὼς ὑπὸ καύματος· ἀλλὰ τότ’ ἤδη εἴη πετραίη τε σκιὴ καὶ βίβλινος οἶνος, μάζα τ’ ἀμολγαίη γάλα τ’ αἰγῶν σβεννυμενάων καὶ βοὸς ὑλοφάγοιο κρέας μή πω τετοκυίης 590 πρωτογόνων τ’ ἐρίφων· ἐπὶ δ’ αἴθοπα πινέμεν οἶνον, ἐν σκιῇ ἑζόμενον, κεκορημένον ἦτορ ἐδωδῆς, ἀντίον ἀκραέος Ζεφύρου τρέψαντα πρόσωπα· κρήνης δ’ ἀενάου καὶ ἀπορρύτου ἥ τ’ ἀθόλωτος τρὶς ὕδατος προχέειν, τὸ δὲ τέτρατον ἱέμεν οἴνου. Blüht dann die Distel, sitzt die Zikade schrillend im Baum und gießt endlos helle Töne nieder, unter den Flügeln hervor, zur Zeit des lähmenden Sommers, dann sind die Geißen am fettesten und der Wein am besten, sind die Frauen am geilsten, die Männer aber am schlappsten, weil ihnen der Sirius Haupt und Knie dörrt und ihr Leib vom Gluthauch verschmachtet. Da nun suche Schatten am Fels und Thrakerwein, Gers‐ tenbrot mit Milch von entwöhnten Ziegen, Fleisch einer Kuh, die frisches Laub ge‐ weidet und noch nicht gekalbt hat, oder von Erstlingszicklein. Dazu trinke feurigen Wein, gelagert im Schatten, das Herz mit Speise gesättigt, das Gesicht dem wehenden Zephyr zugewandt. Von der ständig sprudelnden Quelle, die gut abfließt und sich nicht eintrübt, schöpfe drei Teile Wasser, als vierten aber gib Wein zu. Polizianos Darstellung ist gegenüber der hesiodischen verkürzt. So werden ei‐ nige Details fortgelassen: die Distel, die Lüsternheit der Frauen, einige Speisen, die Rezeptur des verdünnten Weins. Die wesentlichen Strukturelemente indes sind exakt der hesiodischen Darstellung nachempfunden: Lärm der Zikade zur heißesten Sommerzeit - Erschlaffung und Lagern der Männer im Schatten - Speise und Wein - Rauschen des Wassers - Wehen des Windes ins Gesicht. Diese Thematiken nun kleidet Poliziano in ein lateinisches hexametrisches Gewand, indem er - ähnlich wie in der Ilias-Übersetzung - nach motivisch ge‐ eigneten Prätexten, linguistischen Modellen, sucht. Die zirpenden Zikaden He‐ siods werden so zu Zikaden aus der hexametrischen lateinischen Literatur. Die Verse, die den Zikadengesang beschreiben (raucisonae pinna vibrante cicadae increpuere), sind zunächst der 2. Ekloge Vergils verpflichtet, wo Corydon singt: at mecum raucis, tua dum vestigia lustro, sole sub ardenti resonant arbusta cicadis 52 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 29 Zu den Quellen Bausi 1996, 78. 30 Vgl. Verg. Aen. 2, 301: ingruit horror; 12, 284: ingruit imber; georg. 2, 410: ingruit umbra. 31 Die Verse sind der Schilderung des Ceresfestes im Frühling entnommen und lauten vollständig: tum pingues agni et tum mollissima vina, / tum somni dulces densaeque in montibus umbrae. 32 Klecker 1994, 47. Zu den Quellen Bausi 1996, 29-36. 33 Hierzu Klecker 1994, 43-51. (12-13) - etwas früher, in Vers 10 findet sich auch der von Poliziano aufgenom‐ mene Hinweis auf von der Gluthitze ermattete Schnitter (rapido fessis messoribus aestu). Weitere Vokabeln liefern Calpurnius 5, 56 (at simul argutae nemus in‐ crepuere cicadae), Nemesian 1, 2 (raucis resonant tua rura cicadis) und Lukrez 2, 619 (raucisono […] cantu, von Kriegstrompeten) bzw. Catull 64, 263 (raucisonos […] bombos). 29 Die Hitze (ardens ingruit aestus) wird ausgedrückt durch eine Junktur aus Columella (11, 3, 18: ingruente aestate), wobei das daktylische ingruit als 5. Me‐ trum des Hexameters etwa bei Vergil gängig ist. 30 Die Speisen (lacti mixta po‐ lenta / aut pinguis tergum vitulae) sind Ovids Metamorphosen (5, 454: cum liquido mixta […] polenta) und Vergils Georgica (1, 341: pingues agni  31 ) entnommen, das Bild des Windes - bei Hesiod der Zephyr -, der mit den Haaren auf der Stirn spielt, ist mit Silius 4, 404 (frontemque lacessunt), wo die Junktur in einen gänz‐ lich anderen, kriegerischen Kontext eingebunden ist, ins Lateinische gebracht. Dass sich diese poetische Technik freilich gerade für diejenigen panegyri‐ schen Erzeugnisse Polizianos eignet, die man mit ‚Dichtung über Dichtung‘ charakterisiert hat - also für die Silven Manto (über Vergil), Ambra (über Homer) und Nutricia (über die Dichter) -, ist evident. Eine thematische Vorgabe wird dadurch ausgedrückt, angereichert und variiert, indem Schilderungen der‐ selben oder ähnlicher Passagen aus unterschiedlichen Autoren herangezogen und der Vorlage eingepasst werden - so wird etwa das Resümee der vergilischen Aeneis in der Manto (vv. 214-299) erkennbar durch linguistische Bausteine aus der ovidischen Schilderung der Ereignisse in den Büchern 13 und 14 der Meta‐ morphosen zum Ausdruck gebracht. 32 Ein solches Vorgehen bietet freilich leicht verschiedene Möglichkeiten zur überbietenden Darstellung der behandelten Autoren und Themen. 33 Diese Arbeitsweise hat Gültigkeit nicht nur für die lateinische Dichtung Po‐ lizianos, sondern auch für die vulgärsprachliche, ungeachtet des Umstands, dass er hier in der Muttersprache dichtet, sowie für die griechische Epigrammdich‐ 53 2.1. Poetische Technik 34 Pontani 2002, XXXIV-XXXV: “A leggere queste poesie, pure qua e là viziate dalla re‐ lativa imperizia del giovane Poliziano, non può non balzare agli occhi la massiccia pre‐ senza di termini, espressioni e unità sintattiche derivanti dal linguaggio epico, in primis dai poemi omerici […]. È assai curioso che, nonostante la proliferazione degli studi su Poliziano e Omero, nessuno si sia mai posto […] il problema di quanto Omero fosse penetrato negli epigrammi.” tung. Letztere etwa zeichnet sich - dies ist wenig überraschend - durch eine immense Präsenz an Übernahmen aus den homerischen Epen aus. 34 Freilich verbliebe die dichterische Arbeit allein durch Einpassung unter‐ schiedlicher Bausteine, durch ferruminatio, eindimensional und ohne erkenn‐ bare Handschrift des Dichters - sicherlich hätte Poliziano so noch nicht für sich beanspruchen dürfen, in Wettstreit mit den prisci poetae zu treten. Die poetische Technik wird zum poetischen Stil, indem Poliziano ein konkretes stilistisches Muster, eine präzise Vorstellung des Anspruchs von Dichtung, zur Maßgabe seiner Recherche nach der geeigneten Wendung macht. Es sind insbesondere zwei poetische Leitlinien, die sein poetisches Œuvre durchziehen: Evidenz, also dichterische Anschaulichkeit, und Enzyklopädie, d.h. eine möglichst fachmän‐ nische Wiedergabe komplexer Gegenstände und Vorgänge. Diese Konzepte po‐ etischer Stilistik hat Poliziano nachweislich an der Ilias-Übersetzung entwickelt, weshalb wir im Folgenden zu ihr zurückkehren. 2.2. Poetischer Stil Das wohl auffälligste Charakteristikum des poetischen Stils Polizianos, die Ver‐ wendung entlegener Begriffe, ist in hohem Maß in der Ilias-Übersetzung ver‐ treten. Wir haben bereits anhand der Analyse des Wagens der Hera gesehen, dass die Suche nach dem passenden, entlegenen Fachbegriff das Selbstver‐ ständnis des Nachdichters prägt, der im Lichte des enzyklopädischen Zugangs zu Homer dem großen Vorbild nicht nachstehen will. Insbesondere in den beiden späteren Gesängen 4 und 5, die deutlicher als die früheren den Einfluss des Lehrers Andronikos Kallistos offenbaren, wird, belegbar durch die Randglossen, akribisches Interesse an gerade den Passagen manifest, die technische, medizi‐ nische, landbauliche Vorgänge oder Gegenstände beschreiben. 2.2.1. Fachterminologie und Enzyklopädie Die Umsetzung des enzyklopädischen Manifests des byzantinischen Lehrers ist bis ins Detail hinein in der Ilias-Übersetzung spürbar. Exemplarisch soll auf ein 54 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 35 Übersetzung Schadewaldt 1975, 62. Beispiel eingegangen werden, wo die Übersetzung in eindeutiger Abhängigkeit vom Vorlesungsmanuskript Laur. 66, 31 steht, ja wo dieses das Verständnis der lateinischen Verse Polizianos überhaupt erst ermöglicht. Im 4. Gesang der Ilias verleitet Athene den mit den Trojanern verbündeten Heerführer Pandaros zum Pfeilschuss auf Menelaos und damit zum Bruch der Waffenruhe. Athene selbst lenkt den Pfeil auf eine gut gepanzerte Stelle in Menelaos’ Rüstung, sodass die Pfeilspitze nur wenig in die Haut des Griechen eindringt. Erstem Entsetzen auf Seiten Agamemnons und Menelaos’ folgt schon bald die Erleichterung (Hom. Il. 4, 151-152): 35 ὡς δὲ ἴδεν νεῦρόν τε καὶ ὄγκους ἐκτὸς ἐόντας ἄψορρόν οἱ θυμὸς ἐνὶ στήθεσσιν ἀγέρθη. Doch als er sah, wie die Umschnürung und die Haken noch außen waren, Da sammelte sich ihm, zurückgeströmt, der Mut in der Brust. Poliziano übersetzt (4, 175-177): At vero exsertum tenui de vulnere nervum ut vidit geminasque hamatae cuspidis alas, pectore collegit vires animumque recepit. Doch als er sah, wie die Umschnürung und die doppelten Flügel der Pfeilspitze mit den Widerhaken noch aus der kleinen Wunde hervorragten, da sammelte er in der Brust neue Kraft und schöpfte wieder Mut. Poliziano gibt die einfache homerische Nennung der ὄγκοι durch die wuchtige Junktur geminae hamatae cuspidis alae wieder, wobei fast alle Begriffe (ge‐ minae, cuspis, alae) Polizianos eigene Zutat sind. Erklärbar wird des Übersetzers eigenwilliger Eingriff nicht etwa durch Rezeption lateinischer Pfeilbeschrei‐ bungen - die Junktur (geminae) alae cuspidis ist klassisch ohne Beleg -, sondern lediglich auf der Grundlage des Vorlesungsmanuskriptes Laur. 66, 31. Dort finden wir auf f. 134r Erläuterungen zum Eintritt des Pfeils in Menelaos’ Körper (zu Hom. Il. 4, 146-152), wobei zum griechischen Begriff ὄγκος die lateinische Erklärung acumen alarum sagittae, also Spitze der Pfeilf l ü g e l, gegeben wird. Aufschlussreich ist eine Skizze, die der Student von der Pfeilspitze angefertigt hat und die er auf der folgenden Seite (f. 134v) in zwei sich nur leicht unter‐ scheidenden Varianten wiederholt. 55 2.2. Poetischer Stil Abb. 1: Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 66, 31, c. 134r (Detail) Abb. 2: Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 66, 31, c. 134v (Detail) Die Skizzen benennen die Bestandteile der Pfeilspitze. In der ersten Skizze ist dem vorderen Teil, der Spitze selber, die griechische Bezeichnung ἀκίς (dies wird im Kommentar erläutert durch acumen ferri sagittarii) eingeschrieben, den beiden ‚Flügeln‘ bzw. Widerhaken jeweils ὄγκος. In einer der drei Variationen, die der Student mit einem Kreis umrahmt und so hervorgehoben hat, sind die Widerhaken als eigenständige, sehr viel dünnere und scharfeckigere Supple‐ mente zum Pfeilblatt gezeichnet, weshalb die jeweilige Bezeichnung ὄγκος ne‐ benstehend vermerkt werden musste. Der Grund für die Zuspitzung der Wi‐ derhaken dürfte im Bestreben des Studenten liegen, die terminologischen Bestimmungen der Pfeilspitze so genau wie möglich zu verzeichnen - ὄγκος ist eben nicht der Pfeilflügel insgesamt, sondern die Pfeilflügelspitze, also der Wi‐ derhaken. Die Zeichnung, die dies am trefflichsten wiedergibt, wurde einge‐ rahmt (Abb. 2). Wenn Poliziano aus den homerischen ὄγκοι geminae hamatae cuspidis alae, also ein mit Widerhaken besetztes Pfeilflügelpaar werden lässt, so trifft er damit nicht nur die Erläuterung seines Lehrers (acumen alarum sa‐ 56 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 36 Übersetzung Schadewaldt 1975, 62. 37 Vat. lat. 3617 f. 21r. Megna 2009, 99 quod statt quas. 38 Vgl. dazu Levine Rubinstein 1982, 231; Megna 2009, 99. Luther übersetzte den Vers: „Er wird dich mit seinen Fittichen decken.“ gittae), sondern auch exakt die graphische Darstellung aus dem Vorlesungsma‐ nuskript. Die postille bezeugen ebenfalls ein besonderes Interesse an medizinischer Terminologie, wie beispielhaft aus den Homerversen Il. 5, 40-42 hervorgeht, einer der zahlreichen Stellen der Ilias, die anatomisch präzise den Weg eines Kriegsgeräts durch den menschlichen Körper beschreiben. Hier wird Odios, ‚Anführer der Halizonen‘, von Agamemnons Speer rücklings aufgespießt: 36 πρώτῳ γὰρ στρεφθέντι μεταφρένῳ ἐν δόρυ πῆξεν ὤμων μεσσηγύς, διὰ δὲ στήθεσφιν ἔλασσε, δούπησεν δὲ πεσών, ἀράβησε δὲ τεύχε’ ἐπ’ αὐτῷ. Denn als er sich gerade umwandte, stieß er ihm den Speer in den Rücken, mitten zwischen die Schultern, und trieb ihn durch die Brust hindurch. Und er stürzte dröhnend, und um ihn rasselten die Waffen. Poliziano übersetzt (5, 48-51): Intra humeros scapulas tereti transverberat hasta Atque altum tota metitur cuspide pectus. procumbit lata porrectus in arva ruina, et percussa gemit tellus ingentibus armis. Auf den rechten Rand setzt er folgende Erläuterung: scapulas appello quas Graeci vocant μετάφρενον, divo Hieronymo auctore. 37 Die Parallelstelle, auf die Poliziano verweist, ist Psalm 90, 4, wo das griechische ἐν τοῖς μεταφρένοις αὐτοῦ ἐπισκιάσει σοι vom Kirchenvater mit Scapulis suis obumbrabit tibi, also etwa: „mit seiner (starken) Schulter wird er dich schirmen“ - übersetzt worden war. 38 Für die Übertragung der Homerverse hat Poliziano aus einer naheliegenden Quelle geschöpft. Der Vers intra humeros scapulas tereti transverberat hasta (5, 48) sieht Vers 428 der Ilias Latina, der denselben Speer im selben Manne be‐ schreibt, zum Verwechseln ähnlich: sternit et ingenti scapulas transverberat hasta. Somit wird ein weiteres Kriterium evident, das den Übersetzer Poliziano charakterisiert: Wiewohl er in der Stelle der Ilias Latina bereits das geeignete lexikalische Material beisammen hat, forscht er dennoch nach Bedeutung und Herkunft des Wortes - anstatt die scapulae ohne Bedacht zu übernehmen, prüft der Philologe seinen Prätext auf Richtigkeit. 57 2.2. Poetischer Stil 39 Übersetzung Schadewaldt 1975, 80-81. 40 Vat. lat. 3617 f. 29r (Megna 2009, 115). Im Übrigen sind die drei letzten Verse des Zitats wortgleich übernommen - man könnte sagen: plagiiert - aus den Punica des Silius Italicus, wo die Tötung des Crixus durch Scipio beschrieben wird (Sil. 4, 292-294). Begreiflich ist, warum Poliziano diese Parallele wählte: Wie Scipio seine Lanze durch den riesenhaften Gallier fahren lässt, woraufhin dieser donnernd zu Boden fällt, so hatte bei Homer Agamemnon den großen Odios (Ὀδίον μέγαν) niedergestreckt, der eben‐ falls mit Waffengeklirr auf die Erde gestürzt war. Medizinisches Interesse bekundete Poliziano auch an der äußerst detaillierten Schilderung der Verwundung des Aeneas durch Diomedes, der seinem Wider‐ sacher einen schweren Felsblock gegen die Hüfte schleudert (Hom. Il. 5, 305- 308): 39 τῷ βάλεν Αἰνείαο κατ’ ἰσχίον ἔνθά τε μηρὸς ἰσχίῳ ἐνστρέφεται, κοτύλην δέ τέ μιν καλέουσι· θλάσσε δέ οἱ κοτύλην, πρὸς δ’ ἄμφω ῥῆξε τένοντε· ὦσε δ’ ἀπὸ ῥινὸν τρηχὺς λίθος· […] Damit (mit einem Feldstein) traf er gegen die Hüfte des Aineias, dort, wo der Schenkel Sich in der Hüfte dreht: Sie nennen es die ‚Pfanne‘. Und er zermalmte ihm die Pfanne und zerriß dazu die beiden Sehnen, Und die Haut schürfte ab der rauhe Stein. Polizianos Version der homerischen Stelle liest sich wie eine medizinische Studie in Hexametern (5, 346-351): Ipse quatit facile, et toto mox sanguine nixus vicinam femori labefactat caute cruenta femur mg. s. vertebram implexi qua nexus vertitur ossis - vertebra hanc cotulam appellant -; cotulam confringit et ambos cotula ambo disrumpit nervos ac pellem dissicit ictu nervi saxum immane gravi. […] An den linken Rand schrieb Poliziano jeweils die integralen medizinischen Be‐ griffe, wobei er die Zusammensetzung des Beckenbereichs in lateinischer me‐ dizinischer Fachterminologie wiedergibt. Es findet sich femur (Oberschenkel) als Übersetzung für das homerische μηρός, vertebra (Hüftknochen) für ἰσχίον, cotula als lateinisches Äquivalent zu κοτύλη und schließlich ambo nervi für ἄμφω τένοντε. 40 58 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 41 Vgl. z.B. Gal. De usu part. 3, 210-211 K.; De anat. administr. 2, 222-223 K.; De oss. ad tir. 2, 772 K. 42 Megna 2009, 115. 43 Laur. 66, 31 ff. 149r-149v. 44 Übersetzung Schadewaldt 1975, 85. Lexikalisch angelehnt ist Polizianos Version an die Erklärung der Teile des menschlichen Körpers aus dem 11. Buch der Etymologien des Isidor von Se‐ villa. Bei der Besprechung der Hüftpartie hatte der Bischof erklärt (orig. 11, 1, 107): Coxae [Hüftgelenke] quasi coniunctae axes; ipsis enim femora moventur. Quarum concava vertebra vocantur, quia in eis capita femorum vertuntur. Für die Wiedergabe der ‚Pfanne‘, griechisch κοτύλη, bedurfte es ebenfalls sachgerechter Recherchearbeit. Ursprünglich Bezeichnung für ein kleines Gefäß oder Hohlmaß von etwa einem Viertelliter, wurde der Begriff bald von der Medizin übernommen und für jegliches pfannenähnliches Gelenk und für die Hüftpfanne im Besonderen verwendet. 41 Eine etymologische Herleitung des Begriffs konnte Poliziano dem homerischen Scholion AD entnehmen, wo κοτύλη von κοιλότης hergeleitet worden war. 42 Eine Begriffserklärung bot auch das Etymologicum Magnum 533, 3-5. Wiederum scheint auch Vermittlung des geeigneten Voka‐ bulars durch Andronikos Kallistos möglich: Wenngleich der anonyme Schreiber an dieser Stelle teilweise, so bei der Erklärung des Begriffs κοτύλη, vorzeitig abbrach, ist dennoch erkennbar, dass der Lehrer sowohl die Funktion des Hüft‐ bereichs anatomisch sowie die Termini etymologisch erläutert hatte. So wurde die Funktion des Hüftbeins (os coxae) ausführlicher besprochen und κοτύλη in der Übersetzung, die dem Kommentar voraufgeht, mit concavitas wiederge‐ geben. 43 Landwirtschaftliches Wissen schließlich beweist Poliziano bei der Wieder‐ gabe der Homerverse Il. 5, 499-502, wo der Staub, den das auf Troja stürmende Heer der Griechen aufwirbelt, mit der Spreu verglichen wird, die bei der Ge‐ treideernte durch den Wind hochgewirbelt und vom Weizen getrennt wird: 44 ὡς δ’ ἄνεμος ἄχνας φορέει ἱερὰς κατ’ ἀλωὰς ἀνδρῶν λικμώντων, ὅτε τε ξανθὴ Δημήτηρ κρίνῃ ἐπειγομένων ἀνέμων καρπόν τε καὶ ἄχνας, αἳ δ’ ὑπολευκαίνονται ἀχυρμιαί·[…]. Und wie der Wind die Spreu trägt über die heilige Tenne Von worfelnden Männern, wenn die blonde Demeter Schneidet die Frucht von der Spreu bei andrängenden Winden, Und unten wird weiß die gehäufte Spreu […]. 59 2.2. Poetischer Stil 45 Nonius Marcellus, De compendiosa doctrina 50, 2-5 Lindsay; vgl. Megna 2009, 129. 46 Laur. 66, 31 f. 155v. 47 Nur in Varro rust. 1, 48, 1 kommt gluma vor, ventilabrum findet sich zweimal bei Varro (ling. 5, 31, 139: ventilabrum, quod ventilatur in aere frumentum; rust. 1, 52, 2), einmal bei Columella (r.r. 2, 10) und schließlich, aufgrund des evangelistischen Bildes Jesu mit der Wurfschaufel (Mt 3, 12; Lk 3, 17), häufig in christlicher Literatur. Vgl. Nonius Mar‐ cellus, De compendiosa doctrina 118, 3-5 Lindsay: glumam: Varro folliculum grani fru‐ mentarii dici putat, de Re Rustica lib. I (48, 1): granum dictum, quod est intimum soldum; gluma, qui est folliculus eius; arista, quae, ut acus tenuis, longe eminet. Polizianos Version ist um zwei Verse und eine stattliche Anzahl an technischem Landbau-Vokabular angereichert (5, 575-580): Ac veluti aestivas ubi surrigit area fruges cum tepidi glumas venti populantur inanes, et sua ruricolae nudi frumenta citato ventilabro eiectant, flabrisque agitata secundis diducit sensim frugem glumasque volantes flava Ceres, canent extremo in margine acervi Und wie wenn die Tenne die sommerlichen Hülsenfrüchte worfelt, wenn warme Winde die leeren Hülsen davonjagen, und wenn die nackten Bauern ihr Getreide mit rühriger Wurfschaufel herausschleudern, die blonde Ceres unter dem erzeugten güns‐ tigen Wind allmählich das Getreide von den fortfliegenden Hülsen trennt und am äußersten Rand die Haufen weiß werden […]. Auf dem rechten Rand des Verses 575 erklärt der Übersetzer seine Verwendung des Wortes surrigere: surrigere verbum rusticorum, qum [= cum] fruges venti‐ lant. Mit dem lateinischen landwirtschaftlichen Terminus für das Worfeln er‐ setzt er den griechischen, λικμᾶν, wobei er zweifelsfrei die Worterklärung im lexikographischen Werk De compendiosa doctrina des Grammatikers Nonius Marcellus vor Augen hatte: subrigere significat susum erigere; quo verbo rustici utuntur, cum tritas fruges ad ventilandum in areis erigunt. Vergilius Aeneidos lib. IV (183): ‘tot linguae, totidem ora sonant, tot subrigit auris’. 45 Ferner ist an dieser Stelle der Einfluss durch die Besprechung des Andronikos Kallistos spürbar: In seiner Ilias-Vorlesung erklärte der Lehrer die von Homer verwandten Begriff‐ lichkeiten, wobei besonders der Terminus für das Worfeln auf Polizianos Wort‐ wahl eingewirkt haben dürfte: λικμάω: separo frumenti grana a gluma venti‐ labro. 46 Die Erklärung des Andronikos ist spezifisch: Sowohl der Begriff für die Spreu, gluma, den Poliziano am Rand dupliziert, sowie das ventilabrum für die Wurfschaufel ist in klassischer lateinischer Literatur äußerst selten. 47 Als poe‐ tische Vorlage für die Versifizierung der Worfelszene bot sich schließlich eine 60 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 48 Perosa 1980; Garzya 1994; Godman 1998, 98-99. 49 Del Lungo 1867, 77. Dazu Godman 1998, 99. 50 Zur antiken Vorstellung von ἐνάργεια in Rhetorik und Dichtung Zanker 1981; Webb 2009. Beschreibung des Worfelns bei Vergil an, wenngleich diese knapper und weniger fachmännisch gehalten ist: saepe etiam cursu quatiunt et sole fatigant, / cum gra‐ viter tunsis gemit area frugibus, et cum / surgentem ad zephyrum paleae iactantur inanes (georg. 3, 132-134). In den späteren 80er Jahren beschäftigte sich Poliziano verstärkt mit der phi‐ lologischen Erschließung antiker Fachschriftsteller, wovon seine beiden Mis‐ zellensammlungen den sichtbarsten Ausdruck geben. Für die antike Medizin ist ein verstärktes Interesse ab 1487 nachweisbar, als Poliziano mehrere medizini‐ sche Schriften Galens erwarb, annotierte und kommentierte. 48 Noch immer war es das besondere Anliegen des Philologen Poliziano, exakte lateinische Entspre‐ chungen für die griechische Terminologie zu finden, wie ein Brief aus dem Jahr 1490 an Lorenzo bezeugt. Dessen Leibarzt, der bedeutende Mediziner und Ast‐ rologe Pierleone Leoni, sollte Polizianos (heute verlorene) Hippokrates- und Galen-Übersetzung insbesondere auf terminologische Richtigkeit prüfen: Vorrei che V.M. intendessi, se maestro Pier Lione volessi durar fatica in riveder quella mia traduzione di Ippocrate e Galieno, che è quasi al fine, e così el commento che fo sopra, dove dichiaro tutti e termini medicinali che vengono dal greco, e truovo come si possino chiamare latine. 49 Die Ilias-Übersetzung zeigt, dass Polizianos Interesse für die antiken Disziplinen bereits seit Beginn seines öffentlichen Wirkens alles andere als marginal und oberflächlich war. Das grundlegende exegetische Pos‐ tulat, das er später in den Vorreden auf den Begriff bringen wird - philologische Erschließung und fachmännisches Verständnis einer jeden Disziplin - ist erar‐ beitet an Homer und prägt sein Selbstverständnis als Dichter wie als Gelehrter von Beginn an. 2.2.2. Anschaulichkeit - enargia Wie sich der poetische Stil der eigenständigen Dichtungen Polizianos nicht in Gebrauch und Zusammensetzung möglichst entlegener Worte erschöpft, so macht sich auch bereits in der Ilias-Übersetzung ein weiteres Charakteristikum bemerkbar, das gewissermaßen als Komplement zur enzyklopädischen Stoß‐ richtung philologisches und poetisches Arbeiten im Gleichgewicht hält. Die Rede ist von der dichterischen Anschaulichkeit, von Poliziano selbst in den Marginalien an sechs Stellen unter dem griechischen Begriff enargia ver‐ merkt. 50 Bereits die frühen Humanisten konnten bei Cicero lesen, dass die ho‐ 61 2.2. Poetischer Stil 51 Cic. Tusc. 5, 39, 114: Traditum est etiam Homerum caecum fuisse; at eius picturam, non poesin videmus: quae regio, quae ora, qui locus Graeciae, quae species formaque pugnae, quae acies, quod remigium, qui motus hominum, qui ferarum non ita expictus est, ut, quae ipse non viderit, nos ut videremus, effecerit? Quid ergo? aut Homero delectationem animi ac voluptatem aut cuiquam docto defuisse umquam arbitramur? 52 Vgl. z.B. Megna 2007, XLIX-XLX. 53 Galand-Hallyn 1987, 26. 54 Perosa 1994, XLIII-XLIV: “Petreio è poi rimasto particolarmente colpito dall’abilità descrittiva (la ‘descriptio’) del Poliziano, della sua invidiabile capacità di ‘ponere ante oculos’.” Ein Reflex des Stolzes, den Poliziano auf seine Darstellungskunst, insbesondere in der comparatio, empfunden haben dürfte, findet sich z.B. im Kommentar zu den Versen 195-201 der Ambra, dem Vergleich der Thetis mit dem Aufblühen eines Rosen‐ gartens. Petreio vermerkte: aurea comparatio, in qua non dubites sibi quoque ipsi vel maxime Policianum placuisse (Perosa 1994, 63). merischen Dichtungen Musterbeispiele für die anschauliche Darstellung von Sachverhalten und Handlungen bereithielten. 51 Das Paradoxon vom blinden Dichter, der besser als jeder Sehende dem Leser und Hörer plastisch das vor Augen stellte, was er selber nicht sehen konnte, wurde im Laufe der Renaissance zum festen Topos des Sprechens über Homer. 52 Poliziano hat später in sämtli‐ chen seiner Behandlungen des griechischen Dichterfürsten auf die Bildhaftig‐ keit der homerischen Dichtungen hingewiesen und sie als höchstes Gütesiegel poetischer Stilistik verstanden. Nicht nur das: Polizianos poetischer Stil selbst zeugt stets, wie insbesondere die Forschungen von Perrine Galand-Hallyn ge‐ zeigt haben, vom Bestreben nach möglichst anschaulicher Darstellung. Ga‐ land-Hallyn bezeichnete die Anschaulichkeit, enargia, als „une figure capitale dans la rhétorique de Politien“. 53 Dass das Vor-Augen-Stellen eines Gegen‐ standes von Poliziano selbst und seinen Zeitgenossen als Proprium und Güte‐ siegel seines poetischen Stils angesehen wurde, belegt etwa Petreios Kommentar zur Ambra, wo der Schreiber im Besonderen die bildhafte Darstellungskunst Polizianos untersucht und gerühmt hat. 54 Die Ilias-Übersetzung bietet die Möglichkeit, näherhin festzustellen, welche Arten von Anschaulichkeit Poliziano unterscheidet. Eine detaillierte Analyse der postille wird zeigen, dass Poliziano in der Ilias-Übersetzung anhand ent‐ prechender Sekundärtexte ein differenziertes System dichterischer Anschau‐ lichkeit entwickelt hat, das später sowohl für seine lateinischen wie vulgär‐ sprachlichen Dichtungen grundlegend war und zu voller Entfaltung gelangte. Neben griechischen Erläuterungen zur enargia aus den homerischen Scholien, dem Eustathios-Kommentar und der Schrift De Homero haben vornehmlich zwei Besprechungen lateinischer Provenienz auf Polizianos enargia-Konzeption ein‐ 62 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 55 Zu Quintilian Galand-Hallyn 1987, 26-27. Zu Macrobius vgl. Megna 2009, 40-41: “Il quinto libro dei Saturnalia era […] tra gli strumenti più assidui presenti sullo scrittoio del giovane interpres.” 56 Quint. inst. 9, 2, 40. Vgl. auch 8, 3, 61-62. 57 Quint. inst. 4, 2, 123: multum confert adiecta veris credibilis rerum imago, quae velut in rem praesentem perducere audientis videtur. Vgl. auch 8, 3, 70. 58 Quint. inst. 6, 2, 29. gewirkt, und zwar Quintilians rhetorische Evidenztheorie und die Stilkritik des Macrobius aus dem 5. Buch der Saturnalia. 55 Quintilian hatte seine Theorie anschaulicher Darstellung an der ciceroniani‐ schen Definition von enargia bzw. evidentia oder illustratio als sub oculos sub‐ iectio entwickelt. Nach Quintilian ist evidentia die verbale Ausgestaltung eines Sachverhaltes, der so anschaulich beschrieben wird, dass der Rezipient glaubt, er habe das Dargelegte unmittelbar vor Augen, anstatt es nur zu hören: proposita quaedam forma rerum ita expressa verbis ut cerni potius videantur quam audiri. 56 Es gilt Quintilian als höchstes Gütesiegel rhetorischer Ausdruckskraft, wenn der Redner das Bild möglichst detailreich auszuschmücken und in seinen Einzel‐ heiten so vorzuführen weiß, dass es im Kopf des Hörers entsteht. Da es bei der anschaulichen Darstellung weniger auf perspicuitas denn auf repraesentatio an‐ komme, sei es zuweilen auch legitim, ein der Wahrheit ‚angehängtes‘, also mit den tatsächlichen Begebenheiten und Fakten nur lose verknüpftes Bild ent‐ stehen zu lassen, das man mit falschen, aber glaubhaften Details anreichern dürfe. 57 Das Bild sollte also möglichst authentisch sein, darf aber, wenn es die Sache verlangt, überzeichnet werden. Hierbei spielt der Begriff der φαντασία, lateinisch visio, die entscheidende Rolle: Wer imstande sei, kraft seiner Einbil‐ dungskraft etwas Abwesendes so zu präsentieren, dass es jedermann gegen‐ wärtig wird, verfüge über die Macht der Gefühlserregung. 58 Neben Quintilians Institutio haben Macrobius’ Saturnalia insofern größte Re‐ levanz für die Arbeit Polizianos, als sie einen konkreten Bezug zur dichterischen, d.h. zur homerischen und vergilischen Anschaulichkeit ermöglichen. Im 5. Buch entwickelt Macrobius ein Gespräch zwischen den Symposiumsteilnehmern Eus‐ tathius und Avienus, das die Vorzüge und Schwächen der beiden größten antiken Epiker, Homer und Vergil, zum Thema hat. Die Kriterien, nach welchen sich die beiden Dichter messen lassen müssen, sind ästhetischen Charakters: Es geht nahezu ausschließlich um Bildhaftigkeit und Anschaulichkeit. Den Vergleich gewinnt stets derjenige, der einen Gegenstand oder einen Vorgang reicher aus‐ statten, farbiger ausmalen, stärker zur Geltung bringen, luzider vor Augen führen kann; es verliert, wer knapper, nüchterner, spröder, kraft- und leiden‐ 63 2.2. Poetischer Stil 59 Macr. Sat. 5, 11-13, z.B.: Vergilium in transferendo densius excoluisse; in his quoque ver‐ sibus Maro extitit locupletior interpres; hoc mire et velut coloribus Maro pinxit; cultius a Marone prolatum; ab initio describit [Homerus], hoc iste [Vergilius] praetervolat; quod nulla expressius pictura signaret; sterilitas [Maronis]; videtis in angustum Latinam para‐ bolam sic esse contractam ut nihil possit esse ieiunius, Graecam contra et verborum et rerum copia pompam verae venationis implesse; ille [Homerus] obscurius dixit […] hic [Vergilius] apertius. 60 Macr. Sat. 5, 11, 8: sed et hoc quod vester [Vergilius] adiecit solacii fortioris est; 5, 11, 19: maior plerumque vis et potestas; 5, 13, 17: narrationem facti nudam et brevem Maro posuit, contra Homerus πάθος miscuit et dolore narrandi invidiam crudelitatis aequavit. 61 So hat er sich etwa in der Schilderung der Eris Homers (Il. 4, 442-443) im Vergleich zur vergilischen Fama (Aen. 4, 176-177) enger an das Griechische angeschlossen und sogar des Macrobius ’ Übersetzungsvorschlag (Contentio für Ἔρις) in den eigenen Text auf‐ genommen; vgl. Macr. Sat. 5, 13, 31-32; Pol. Il. 4, 496-498; Megna 2009, 89-90 z.St. Im Commento inedito alle Selve di Stazio nahm er das Urteil des Macrobius nochmals explizit auf: Famam vero egregie praeter ceteros Virgilius descripsit in 4 o libro, quo loco tamen a Macrobio reprehenditur, quod parum proprie ad Famam transtulerit quod Homerus in quarta rapsodia de Contentione dixit: […] (Cesarini Martinelli 1978a, 78). Weitere Stellen: Pol. Il. 4, 474-478: Macr. Sat. 5, 13, 21 zu Hom. Il. 4, 422-426 und Verg. georg. 3, 237- 241; Pol. Il. 5, 4-5: Macr. Sat. 5, 13, 34 zu Hom. Il. 5, 4 und Aen. 7, 785-786; 8, 620; 9, 733- 734; 10, 270-271; dazu Levine Rubinstein 1982, 230; Megna 2009, 97. 62 Vat. lat. 3617 f. 41r mg. d. zu Pol. Il. 5, 809: o Maro, tu post carecta latebas (Megna 2009, 142); Levine Rubinstein 1982, 237: “The context […] is one of masters and thieves. Per‐ haps Poliziano is commenting on Vergil’s literary ‘thievery’ from Homer, and implying that here Vergil has fallen short of his master: post carecta latebat.” Die postille sind bislang noch kaum für Polizianos Einschätzung und Gewichtung der beiden Epiker herangezogen worden. Zum Vergleich zwischen Homer und Vergil in den Schriften Polizianos und seiner Vorgänger, vor allem Landinos, vgl. Megna 2009, 142-147. schaftsloser ist. 59 Ziel der reicheren Ausgestaltung ist für Macrobius ebenso wie für Quintilian die Steigerung des affektiven Gehalts des Geschilderten. 60 Es ist vornehmlich die komparative Technik des Macrobius, die Polizianos Verständnis von imitatio und aemulatio grundlegend geformt hat. Poliziano, sich eher als Nachdichter denn als Übersetzer verstehend, ist in zahlreichen Passagen der Ilias, die er übersetzte und die Macrobius besprochen hatte, der Bewertung der Saturnalia bzw. dem Gewinner des macrobianischen Vergleichs gefolgt. 61 An einer Stelle, in der Randnotiz zu Hom. Il. 5, 703, zog er gar selbst einen wertenden Vergleich zwischen Homer und Vergil, wobei er dem Römer angesichts einer schwachen Nachahmung den zweiten Platz zuwies. 62 Es zeigt sich, dass sich bereits der junge Poliziano der Ilias-Übersetzung zu Bildhaftigkeit und affektiver Anschaulichkeit als dem hervorragenden Merkmal einer ansprechenden, ge‐ wissermaßen den Siegespreis erringenden Dichtung bekannt hat. Ausgehend von den sechs Hinweisen auf die enargia homerischer Bilder lassen sich Me‐ thoden der Darstellung dichterischer Anschaulichkeit extrapolieren, die als übergeordnetes Ziel den Einbezug des Lesers in die Handlung haben. Dabei 64 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 63 Vat. lat. 3617 f. 6v. 64 Hom. Il. 4, 116-126; Pol. Il. 4, 136-149; Megna 2009, 59. 65 Übersetzung Schadewaldt 1975, 61. 66 Verg. Aen. 5, 501; 11, 590; 11, 858-859; vgl. auch Ciris 160; Stat. silv. 2, 3, 27; Apul. met. 5, 23. spielt die authentische Wiedergabe eines Sachverhaltes, eines Gegenstandes oder einer Handlung die entscheidende Rolle, die durch motivische Verdichtung ins Groteske, Humoristische, Possierliche, Übernatürliche gesteigert werden kann. Authentizität meint dabei eine möglichst realistische und detailreiche Darstellung von Gegenständen oder Vorgängen, wie sie die antike Redetheorie gefordert und vermittelt hat. Zur Authentizität trägt freilich zunächst Polizianos Interesse an technischen Details bei: Die Beschreibung der Pfeilspitze etwa findet ihre Fortsetzung in den realistischen Tierschilderungen des Rusticus (s.u.). Doch auch einfache, an sich unbedeutende Vorgänge werden von Poliziano mit liebevollem Detailreichtum versehen, um den Leser regelrecht zum Zuschauer werden zu lassen. Zu Vers Hom. Il. 4, 116, mit dem die Schilderung des schicksalhaften Pfeil‐ schusses des Pandaros auf Menelaos beginnt, vermerkt der Übersetzer: mira enargia. 63 Die Anmerkung bezieht sich auf die Darstellung der minutiös beglei‐ teten Schussvorbereitungen des Pandaros. 64 Das Hervorholen des Pfeils aus dem Köcher ist in großer Detailtreue gezeichnet (Hom. Il. 4, 116-118): 65 αὐτὰρ ὁ σύλα πῶμα φαρέτρης, ἐκ δ’ ἕλετ’ ἰὸν ἀβλῆτα πτερόεντα μελαινέων ἕρμ’ ὀδυνάων· αἶψα δ’ ἐπὶ νευρῇ κατεκόσμει πικρὸν ὀϊστόν Und er nahm den Deckel vom Köcher und wählte einen Pfeil aus, Einen noch unverschossenen, beflügelten, den Erreger schwarzer Schmerzen. Und schnell ordnete er auf der Sehne den bitteren Pfeil. Für die möglichst getreue Wiedergabe der Szene verwendet Poliziano eine Junktur, die im Lateinischen für diese Art von Handlung gänzlich ungebräuch‐ lich ist. Er übersetzt die ersten anderthalb Verse so: Sublevat hinc tegmen pha‐ retrae, immanemque sagittam / seligit actutum (Pol. Il. 4, 136-137). Zugunsten der hölzernen und klassisch nicht belegten Wendung sublevare tegmen (pha‐ retrae) verschmäht Poliziano hier eine im heroischen Versmaß und insbesondere bei Vergil überaus gängige Wendung, die gewissermaßen als Terminus technicus das Hervorholen eines Pfeils aus dem Köcher beschreibt: pharetra depromere sagittam/ telum. 66 Die Wahl gibt Aufschluss über Polizianos Verständnis poeti‐ scher Authentizität: Er war offenbar nicht gewillt, das Öffnen des Deckels und 65 2.2. Poetischer Stil 67 Hom. Il. 2, 16-22: Ὣς φάτο, βῆ δ’ ἄρ’ ὄνειρος ἐπεὶ τὸν μῦθον ἄκουσε·/ καρπαλίμως δ’ ἵκανε θοὰς ἐπὶ νῆας Ἀχαιῶν, / βῆ δ’ ἄρ’ ἐπ’ Ἀτρεΐδην Ἀγαμέμνονα· τὸν δὲ κίχανεν / εὕδοντ’ ἐν κλισίῃ, περὶ δ’ ἀμβρόσιος κέχυθ’ ὕπνος. / στῆ δ’ ἄρ’ ὑπὲρ κεφαλῆς Νηληΐῳ υἷι ἐοικώς / Νέστορι, τόν ῥα μάλιστα γερόντων τῖ’ Ἀγαμέμνων·/ τῷ μιν ἐεισάμενος προσεφώνεε θεῖος ὄνειρος. das zielgerichtete Auswählen des Pfeils - kurz: die detaillierte Handlung - dich‐ terischer Eleganz zu opfern. Eine Stelle aus dem 2. Gesang gibt weiterhin Aufschluss über Polizianos Vor‐ stellung einer wirklichkeitsnahen und detailreichen Darstellungsweise. Wenn‐ gleich er hier - vielleicht auch aufgrund der weniger anschaulichen homeri‐ schen Schilderung - nicht eigens enargia vermerkt hat, entspricht seine Übersetzung doch in reizender Weise den Regeln einer authentischen Hand‐ lungsschilderung. Am Beginn des 2. Ilias-Gesangs wird der Traumgott Oneiros von Jupiter zu Agamemnon geschickt wird, um ihm den nahenden Untergang Trojas vorauszusagen (Hom. Il. 2, 16-22): Oneiros empfängt den Auftrag, geht zu den „schnellen Schiffen der Achaier“ und ins Zelt Agamemnons, wo er diesen ambrosischem Schlummer ergeben antrifft. Er stellt sich ans Kopfende des Betts und nimmt unvermittelt das Aussehen des Neleussohns Nestor an, der bei Aga‐ memnon in hohem Ansehen steht. Sodann spricht er in der Gestalt Nestors Agamemnon an. 67 Der Weg des Somnus bei Poliziano ist sprachlich deutlich anders gestaltet (Pol. Il. 2, 19-24): Dixerat. Ille [Somnus] patris magni parere parabat imperio; et nullos strepitus facientibus alis per tenebras, intraque morae breve tempus, ad ipsum Tantalidae accessit thalamum, pennasque resolvit, induiturque senis Pylii faciemque coloremque et verba et cultum, talique est voce locutus: Sprach’s und Somnus schickte sich an, den Auftrag des Göttervaters auszuführen. Und so gelangte er binnen kurzer Zeit, ohne mit seinen Flügeln ein Geräusch zu machen, durch die Dunkelheit geradewegs hin zum Schlafgemach des Tantaliden, band sein Gefieder los, nahm (wörtlich: zog) Miene, Gesichtsfarbe, Sprache und Bildung des Alten aus Pylos an, und sprach: Somnus gehorcht dem Auftrag des Göttervaters ebenfalls, doch er kommt nicht einfach an (ἵκανε) und geht hinein (βῆ), sondern er bemüht sich, mit seinen Flügeln keinen Lärm zu machen, und muss sich, bei Agamemnon angekommen, auch noch umziehen. Er legt die Flügel ab und zieht das Nestorkostüm an, wobei 66 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 68 Ov. met. 11, 650-653: ille volat nullos strepitus facientibus alis / per tenebras intraque morae breve tempus in urbem / pervenit Haemoniam positisque e corpore pennis / in faciem Ceycis abit […]. er nicht nur Aussehen und Gesichtsfarbe (faciesque coloremque), sondern auch das Sprachregister (verba et cultum) des Alten annimmt. Poliziano setzt der knappen epischen Schilderung Homers eine authentische und liebevoll prag‐ matische Darstellung gegenüber. Der göttliche Traum büßt gehörig an Erha‐ benheit ein, sodass er eher der Komödie entnommen wirkt als dem Epos. Die narratologische Strategie Polizianos ist evident: In der nüchtern referierten ho‐ merischen Szene ist reichlich Platz für kreative Ausgestaltung. Das Bild des Somnus ist in seiner humorvoll liebenswürdigen Art weit eindrücklicher ge‐ zeichnet als das des Oneiros, und es prägt sich dem geistigen Auge des Rezi‐ pienten sehr viel besser ein. Diese Anschaulichkeit ist freilich erkauft um den Preis eines minder hohen Stils und weniger epischen Tonfalls, doch ist sie - wie man an der detailgetreuen Schilderung der Pfeilauswahl des Pandaros gesehen hat - durchaus auch im homerischen Text nicht ohne Parallelen. Bei der sprach‐ lichen Gestaltung des Traums fallen thematisches und linguistisches Modell in‐ einander: Um die Episode um den homerischen Oneiros in lateinische Hexa‐ meter zu überführen, hatte der Übersetzer auf eine ähnlich gestaltete Thematik zurückzugreifen. Diese fand er in der Darstellung des artifex simulatorque fi‐ gurae Morpheus, Sohn des Traumgottes Hypnos oder Somnus, aus Ovids Me‐ tamorphosen. Knapp zwei Verse sowie das Ablegen der Flügel entnimmt er der Schilderung des sich in sämtliche menschliche Formen verwandelnden Götter‐ sohns, der in der Gestalt des ertrunkenen Ceyx an Alcyones Bettstatt tritt, um sie von seinem Schicksal zu unterrichten. 68 Die Thematik und die narratologi‐ sche Sequenz - das Aufsuchen einer Figur durch den personifizierten Schlaf/ Traum, dessen Verwandlung in eine vom Adressaten geschätzte Person, die Anrede an diesen - entsprechen exakt der homerischen Vorgabe. Polizianos Traum freilich fliegt nicht in urbem, sondern ad ipsum Tantalidae thalamum, um dort die Gestalt des Nestor anzulegen. Hier greift Poliziano auf die Schilderung der außergewöhnlichen Fähigkeiten des ovidischen Morpheus zurück, der die zu imitierenden Personen täuschend echt nachzubilden weiß: Die Morpheus‐ schen Qualitäten (exprimit incessus vultumque sonumque loquendi; / adicit et vestes et consuetissima cuique / verba) werden bei Poliziano gewissermaßen kon‐ kretisiert und auf Nestors Wesen und Erscheinungsbild angewandt. Regelrecht überzeichnet hingegen wirkt Polizianos Wiedergabe der Verse Hom. Il. 2, 150-151, die die Flucht der Griechen infolge der Trugrede des Aga‐ memnon beschreiben und die von Poliziano für ihre greifbare Anschaulichkeit 67 2.2. Poetischer Stil 69 Vat. Lat. 3298 f. 5v. Dazu ausführlich Megna 2009, 11-12. 70 Übersetzung Schadewaldt 1975, 27. 71 Vgl. Verg. Aen. 9, 709; 12, 713; vgl. auch Stat. Theb. 6, 107; 527. gelobt wurden: [Homerus] constituit rem ante oculos per eandem enargiam. 69 Der ἐσχηματισμένος λόγος des griechischen Heerführers war grandios gescheitert: Die Rede, die die Griechen nur scheinbar auffordern sollte, die Zelte abzubre‐ chen und heimzusegeln, in Wahrheit aber den Wahnwitz einer Heimfahrt vor Augen zu führen gedachte, war gehörig missverstanden worden. Die griechi‐ schen Soldaten nahmen Agamemnons Worte für bare Münze und konnten ihr Glück kaum fassen. Kaum hat der Heerführer geendet, springen die Soldaten auf und jagen Hals über Kopf zu den Schiffen, wobei sie eine Staubwolke unter ihren Füßen hinterlassen: 70 νῆας ἔπ’ ἐσσεύοντο, ποδῶν δ’ ὑπένερθε κονίη ἵστατ’ ἀειρομένη […]. Stürmten sie zu den Schiffen, und unter ihren Füßen der Staub stieg empor, sich erhebend. Zweifellos befand Poliziano die Stelle für anschaulich, da sie nicht nur die Flucht schildert, sondern auch den Staub, den die flinken Griechenfüße aufwirbeln. Homer hätte ja den Staub nicht zu erwähnen brauchen - die Angabe νῆας ἔπ’ ἐσσεύοντο hätte vollauf genügt, um Hörer oder Leser die Handlung klar zu ma‐ chen und ihm angesichts der dümmlich-feigen Flucht des griechischen Heeres wohl auch ein Lächeln zu entlocken. Weit eindrücklicher indes (und nahezu komisch) wirkt die Schilderung durch die Staubwolke, die die enthusiastische Flucht der Krieger begleitet. Durch die Hinzufügung des Staubes wird das Bild überdies realistischer. Liest man Polizianos Version der Flucht, so fällt ins Auge, wohingehend der Übersetzer den Prätext verändert hat (Pol. Il. 2, 156-157): Dat tellus gemitum, et nigra caligine coelum volvitur, insurgit glomerato pulvere nubes. Die Erde ächzt, hinter undurchdringlicher Finsternis verschwindet der Himmel, eine dichte Staubwolke steigt auf. Die homerische Authentizität des Bildes ist bei Poliziano einer atmosphärisch verdichteten und überzogenen Ausmalung der Szenerie gewichen. Die Erde ächzt wie in vergilischen Kampfschilderungen, 71 aus Homers κονίη, die unter den Griechenfüßen aufsteigt, wird eine immense Staubmasse, die den Himmel verfinstert. Sprachlich ist hier auf eine Stelle aus der Aeneis zurückgegriffen, wo 68 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 72 Verg. Aen. 9, 33-36: hic subitam nigro glomerari pulvere nubem / prospiciunt Teucri ac tenebras insurgere campis. / primus ab adversa conclamat mole Caicus: / ‘quis globus, o cives, caligine volvitur atra? ’ 73 Gleich fünf Randbemerkungen finden sich zur Episode (Hom. Il. 2, 217-277 = Pol. Il. 2, 227-289); vgl. Megna 2009, 15-17. 74 Übersetzung Schadewaldt 1975, 29-30. eine gewaltige Staubwolke vom Herannahen des Rutulerheers kündet. 72 Polizi‐ anos Variante des fliehenden Heeres kreiert eine endzeitliche Stimmung, die mit der homerischen Schilderung nur noch wenig gemein hat. Dies bedeutet eine Akzentverschiebung von der authentischen Zeichnung einer Handlung hin zu einer stimmungsvoll verdichteten Darstellung. Ein ähnliches Vorgehen findet sich bei der Wiedergabe der Thersites-Episode des 2. Ilias-Gesanges, der Poliziano insgesamt breites Interesse entgegenge‐ bracht hat. 73 Die homerischen Verse 2, 256-269 beinhalten das Ende der Schelt‐ rede des Odysseus, den Stockhieb und dessen Folgen auf Körper und Gemüt des Thersites: 74 […] σὺ δὲ κερτομέων ἀγορεύεις. ἀλλ’ ἔκ τοι ἐρέω, τὸ δὲ καὶ τετελεσμένον ἔσται· εἴ κ’ ἔτι σ’ ἀφραίνοντα κιχήσομαι ὥς νύ περ ὧδε, μηκέτ’ ἔπειτ’ Ὀδυσῆϊ κάρη ὤμοισιν ἐπείη, μηδ’ ἔτι Τηλεμάχοιο πατὴρ κεκλημένος εἴην, 260 εἰ μὴ ἐγώ σε λαβὼν ἀπὸ μὲν φίλα εἵματα δύσω, χλαῖνάν τ’ ἠδὲ χιτῶνα, τά τ’ αἰδῶ ἀμφικαλύπτει, αὐτὸν δὲ κλαίοντα θοὰς ἐπὶ νῆας ἀφήσω πεπλήγων ἀγορῆθεν ἀεικέσσι πληγῇσιν. Ὣς ἄρ’ ἔφη, σκήπτρῳ δὲ μετάφρενον ἠδὲ καὶ ὤμω 265 πλῆξεν· ὃ δ’ ἰδνώθη, θαλερὸν δέ οἱ ἔκπεσε δάκρυ· σμῶδιξ δ’ αἱματόεσσα μεταφρένου ἐξυπανέστη σκήπτρου ὕπο χρυσέου· ὃ δ’ ἄρ’ ἕζετο τάρβησέν τε, ἀλγήσας δ’ ἀχρεῖον ἰδὼν ἀπομόρξατο δάκρυ. „[…] und du verhöhnst ihn [Agamemnon] vor der Versammlung? Doch das sage ich dir heraus, und das wird auch vollendet werden: Treffe ich dich noch einmal, daß du sinnlos sprichst wie jetzt eben, Nicht mehr soll dann dem Odysseus das Haupt auf den Schultern stehen, Noch will ich weiter des Telemachos Vater heißen, Wenn ich dich nicht nehme und dir deine Kleider ausziehe, Den Mantel und den Rock und was deine Scham umhüllt, Und dich selbst weinend zu den schnellen Schiffen jage, 69 2.2. Poetischer Stil 75 Diese Schwurformel hat bereits Ovid, dem sie Poliziano entnimmt, der homerischen nachgebildet (Ov. her. 16, 155: ante recessisset caput hoc cervice cruenta). 76 Die Junktur lacerum scindentia corpus ist der Schilderung der numidischen Folterme‐ thoden bei Silius 1, 172 entnommen. Geprügelt aus der Versammlung mit schmählichen Hieben! “ So sprach er und schlug ihm mit dem Stab über Rücken und Schultern, Und er krümmte sich, und dick entfloss ihm die Träne. Und ein Striemen, ein blutiger, erhob sich von seinem Rücken Unter dem goldenen Stab, und er setzte sich nieder und fürchtete sich, Und Schmerzen leidend, mit leerem Blick, wischte er sich ab die Träne. Poliziano akzentuiert die homerische Darstellung wesentlich anders. Bereits bei Vers 2, 256 zeigt Polizianos Darstellung deutliche lexikalische Unterschiede. Das griechische κερτομεῖν, ‚schmähen, verspotten‘, übersetzt der Florentiner mit dem sehr viel brutaleren morsu lacerare, ‚zerfleischen‘. Als ob Odysseus’ Wut‐ rede nicht schon bedrohlich genug wäre, gestaltet sie Poliziano zu einem infer‐ nalischen Szenario um. Aus dem gescholtenen Thersites, der wie von Sinnen sei (ἀφραίνοντα), wird ein ekstatischer Bacchant, vor dessen furor man sich zu fürchten habe (Pol. Il. 2, 268): te bacchantem atque iterum vesana furentem). Auch die Bedingungen, unter denen Odysseus schwört, werden verschärft: Die ge‐ bräuchliche Schwurformel, der Kopf möge dem Odysseus nicht länger auf dem Halse stehen, wird bei Poliziano zu einer blutigen Angelegenheit: caput hoc cer‐ vice cruenta / ex humeris cedat nostris (2, 269-270). 75 Ferner wird die Drohung des homerischen Odysseus, er werde dem Thersites Mantel, Rock und Unterrock vom Leib reißen, bevor er ihn bis zu den Schiffen prügle, nicht mit dem Gusto des Humoristen übertragen, sondern mit dem des Sadisten: Zwar hält sich Po‐ liziano an die homerische Kleiderordnung, trägt bei Odysseus’ Androhung der Prügel aber wiederum dick auf. Aus ‚schmachvollen Hieben‘ (ἀεικέσσι πληγῇσιν) werden „Schläge, die den Körper in Fetzen reißen“: verbera lacerum scindentia corpus (Pol. Il. 2, 274). 76 Auch den homerischen Schlag auf Rücken und Schultern, unter dem sich der missliebige Soldat krümmt, gestaltet Poliziano zu einer schmerzvolleren Angelegenheit aus (Pol. Il. 2, 275-280). Thersites stöhnt vor Schmerzen und benetzt sein Gesicht mit Strömen von Tränen (Pol. Il. 2, 278: largis humectat fletibus ora). Der Striemen am Rücken fließt über vor schwarzem Blut (2, 279-280: exoriturque humeris nigranti sanguine livor / perfusus), dem‐ entsprechend groß ist auch der Schmerz des Gezeichneten (2, 280: ingenti mae‐ rore resedit). Polizianos Darstellung der Thersites-Episode entwirft ein in sich stimmiges Gesamtbild der Szene, wenngleich alles größer, gewaltiger und gro‐ tesker gewirkt ist. 70 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 77 So wird etwa das einfache Kühlen der Wunde, die Menelaos durch den Pfeilschuss des Pandaros erlitten hatte (Hom. Il. 5, 795: ἕλκος ἀναψύχοντα) bei Poliziano zu einer wi‐ derwärtigen Angelegenheit: dum tabida mulcet / vulneris ora manu (Pol. Il. 5, 923-924). Vgl. auch die Opferszene Hom. Il. 3, 292-294: Ἦ, καὶ ἀπὸ στομάχους / ἀρνῶν τάμε νηλέϊ χαλκῷ·/ καὶ τοὺς μὲν κατέθηκεν ἐπὶ χθονὸς ἀσπαίροντας / θυμοῦ δευομένους· ἀπὸ γὰρ μένος εἵλετο χαλκός („Sprach es und schnitt die Kehlen der Lämmer ab mit dem er‐ barmungslosen Erz, / und diese legte er nieder auf die Erde, die zuckenden.“) mit der sehr viel blutrünstigeren Schlachtung Pol. Il. 3, 294-296: Sic fatus cultro stomachum fulgente reclusit / agnorum, et tremulo quatientes viscera motu / deposuit terrae, nigro manante cruore. Für die übersteigerte Darstellung von Kampfschilderungen vgl. Hom. Il. 5, 618-619, wo Aias seinen von Hektor getöteten Landsmännern Menesthes und Anchialos die Waffen abnehmen will, um ihnen die Schmach der spoliatio zu ersparen (Poliziano notiert hierzu enargia; Vat. lat. 3617 f. 38v mg. s.; vgl. Megna 2009, 13). Die Trojaner suchen den griechischen Helden davon abzuhalten, indem sie ihn mit Pfeilen überschütten, die Aias mit seinem Schild auffängt (Τρῶες δ’ ἐπὶ δούρατ’ ἔχευαν / ὀξέα παμφανόωντα· σάκος δ’ ἀνεδέξατο πολλά). Poliziano gestaltet das homerische Bild durch freimütige Eingriffe in die Vorlage zu einer bildgewaltigen Szene aus, die in ihrer Überhöhung grotesk wirkt: Teucri creberrima contra / spargere tela manu, iaculorum protinus imber / ingruere, innumeris horrere hastilibus umbo / obrutus […] (Pol. Il. 5, 716- 719). Vergilische Schlachtschilderungen lieferten ihm hierfür das nötige Material: vgl. z.B. Verg. Aen. 12, 283-284: diripuere aras, it toto turbida caelo / tempestas telorum, ac ferreus ingruit imber […]. 78 So weitet Poliziano beispielweise die schlichte homerische Junktur τεύχεα καλά (Hom. Il. 3, 328) zu nitido squalentia tegmina ferro (Pol. Il. 3, 311) aus. Hierzu Levine Rubinstein 1983, 56: “Poliziano obviously enjoyed expanding and emphasizing the images of light and color that occur in the Homeric text.” Vgl. auch Orlando 1966; Hynd 1967; Toppani 1975; Cerri 1977a, 153-156; 1978, 349-352. Insgesamt ist die ausführliche Darstellung des Hässlichen und Moribunden, die insbesondere in der Sylva in scabiem, der Ode In anum oder in der Elegia in Albieram das tragende narrative Element bildet, bereits in der Ilias-Übersetzung an vielen Stellen zum Stilprinzip erhoben. Gerade die Darstellung von Verwun‐ dungen, Schlacht- oder Opferszenen hat Poliziano mit kräftigem Kolorit zu monströser Höhe ausgearbeitet. 77 Analog hierzu hat der Übersetzer auch bei der Ausgestaltung von lichtvollen, glänzenden, schönen Beschreibungen nicht an Ausdruckskraft gespart. So ist des Übersetzers Vorliebe für die überbietende Darstellung homerischer Bilder, die Feuer- oder Lichtmetaphorik beinhalten, ein Charakteristikum aller vier Gesänge. 78 Wozu die anschauliche Form der Darstellung dient, ist evident: Sie soll den Leser zum Zuschauer machen, ihm das Geschilderte greifbar und fühlbar werden lassen, ihn emotional affizieren - entweder, wie Quintilian sagt, durch die Wahrheit oder durch ein der Wahrheit angehängtes, übersteigertes Bild. Der Einbezug des Lesers allerdings erschöpft sich nicht darin, dass er zum Zuschauer gemacht wird. Interesse bekundete Poliziano auch für die Stellen, an welchen 71 2.2. Poetischer Stil 79 Übersetzung Schadewaldt 1975, 64. 80 Aen. 4, 401 (cernas); 8, 676 (videres); 8, 691 (credas); georg. 1, 387 (videas); vgl. Macr. Sat. 5, 14, 9-10. 81 Scholion bT zu Il. 4, 541 (Erbse 1969, 538). 82 Vat. lat. 3617 f. 19v m. s. (Megna 2009, 95) zu Pol. Il. 4, 630. Eine Erklärung des Vorgangs, den ἀκροατής zum θεατής zu machen, bietet auch Eustath. Comm. Il. 1, 539-544 (van der Valk 1, 802, 6-19); Megna 2009, 96. der Leser angesprochen oder zur Person innerhalb der Erzählung gemacht wird. So bezeichnet Poliziano die Homer-Verse Il. 4, 223-225 als anschaulich, die li‐ totisch das Kampfverhalten des Agamemnon beschreiben, der nicht schläfrig, nicht ängstlich und nicht unwillig in die Schlacht strebt: 79 Ἔνθ’ οὐκ ἂν βρίζοντα ἴδοις Ἀγαμέμνονα δῖον οὐδὲ καταπτώσσοντ’ οὐδ’ οὐκ ἐθέλοντα μάχεσθαι, ἀλλὰ μάλα σπεύδοντα μάχην ἐς κυδιάνειραν. Da hättest du nicht schläfrig gesehen den göttlichen Agamemnon Und nicht sich duckend und nicht ungewillt zu kämpfen, Sondern eifrig drängend auf die Schlacht, die männerehrende. Polizianos Hinweis auf enargia ist zweifellos auf die Wendung οὐκ ἂν ἴδοις be‐ zogen. Die Junktur übersetzte er mit non cernas, ein Hinweis darauf, dass er auch hier der Besprechung zum Vers aus den Saturnalien des Macrobius folgte. Bei der Auflistung dessen, was Vergil an Homer bewundert und worin er ihn nach‐ geahmt habe, zitiert Macrobius den Vers und gibt Parallelstellen aus Aeneis und Georgica zum Vergleich an. Vergil gebe die homerische Anrede in unterschied‐ lichen Kontexten mit cernas, videres, credas oder videas wieder. 80 Aus welchem Grund hat Poliziano hier enargia glossiert, d.h. welche Art von Anschaulichkeit hat er in der Homerstelle vorgefunden? Dies kann beantwortet werden, wenn wir eine weitere Passage am Ende des 4. Ilias-Gesangs zu Rate ziehen, die Poliziano ebenfalls mit Randnotizen versehen hat. In den Versen Il. 4, 540-544 schildert Homer das Ausmaß des Kampfes zwischen Griechen und Trojanern, indem er einen noch unverwundeten Krieger imaginiert, der unter dem Schutz der Athene über das Schlachtfeld geht und es inspiziert: Ein solcher Zuschauer, so Homer, hätte bezeugen können, dass es ein gewaltiger Kampf gewesen sei, der beide Schlachtreihen in den Staub gestreckt habe. Polizianos Bemerkung ist den homerischen Scholien entnommen, wo es zur Stelle heißt: θεατὴν ἑαυτῷ ἀνέπλασε τῆς μάχης. 81 Poliziano übersetzt am Rand: Spectatorem sibi affingit, und setzt hinzu: ne otiosus lector oscitaret. 82 Sinn und Güte der Ein‐ führung eines imaginären Beschauers liegt nach Poliziano also darin, dass der Leser aufgeweckt und gleichsam selbst in der Maske des Kriegers über die tro‐ 72 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 83 Quint. inst. 4, 2, 123. 84 Toppani 1975, 474-475: “Ma i passi dove forse Poliziano riesce meglio che altrove ad illuminarci sulla sua capacità di traduttore sono quelli in cui vengono espressi dei pa‐ ragoni.” 85 Eustath. Comm. Il. 2, 147 (van der Valk 1, 296, 21-22). janische Walstatt geführt wird. Der Leser, soll aus seinem otium gerissen und geradewegs auf das Schlachtfeld verpflanzt werden. Die direkte Beteiligung an der Handlung soll ihn in den emotionalen Zustand des Kriegers versetzen, der nach der Schlacht über die Leichenberge steigt und das Ausmaß des Kampfes unmittelbar vor Augen hat. Ziel der enargia ist es, den Leser in die Handlung einzubeziehen, ihm den Sachverhalt buchstäblich vor Augen zu stellen und so seine affektive Anteilnahme zu steigern. Der emotionale Einbezug des Lesers in die Handlung ist somit das integrale Element der enargia-Konzeption Polizianos. Erreicht wird diese durch verschie‐ dene Spielarten von Anschaulichkeit, die sich unterschiedlich einsetzen lassen, jedoch auf denselben Impuls zurückzuführen sind: Es ist ein kleiner Schritt von der möglichst wirklichkeitsgetreuen Schilderung zu einer Übertreibung ins Grausige, Schöne, Possierliche - von der ‚Wahrheit‘ zum ‚der Wahrheit Ange‐ hängten‘, wie Quintilian schrieb. 83 2.2.3. Vergleich - comparatio Eng mit Polizianos Vorstellung poetischer Anschaulichkeit ist dasjenige rheto‐ rische Mittel verbunden, das in den Randbemerkungen mit weitem Abstand am häufigsten und kontinuierlich in allen vier Gesängen, insgesamt ganze 32mal, notiert ist: comparatio, Vergleich oder Gleichnis. Die Bedeutung, die der Über‐ setzer den homerischen Gleichnissen beigelegt hat, spricht sich zusätzlich darin aus, dass er, wie man gezeigt hat, bei deren Übertragung größte Sorgfalt und Meisterschaft an den Tag gelegt hat. 84 Zum Vergleich der griechischen Heeresversammlung mit einem vom Sturm aufgepeitschten Meer (Hom. Il. 2, 144-146) hatte Poliziano vermerkt: pulcher‐ rima comparatio et quedam quasi ἐναργία. Dass Zweck und Güte des Gleich‐ nisses in der bildkräftigen Darlegung des Vergleichsobjekts liege, hatte Eusta‐ thios im Ilias-Kommentar, auf den Poliziano hier zurückgriff, zur Stelle erläutert: Βαθὺ δὲ λήϊον ἐν τῇ παραβολῇ κεῖται, ἵνα φαντάσῃ ἐναργῶς τὴν τῶν Ἑλλήνων κίνησιν. 85 Der Vergleich ist für Eustathios der bevorzugte Ort, an dem sich der Dichter kraft seiner φαντασία um Anschaulichkeit zu bemühen habe, sein Wissen zur Schau stellen und also sein Genie zur Geltung bringen könne - 73 2.2. Poetischer Stil 86 Vat. lat. 3298 f. 12v: comparatio in qua poetae ingenium elucescit (Megna 2009, 20); vgl. Eustath. Comm. Il. 16, 384 (van der Valk 3, 866, 23-867, 5). 87 Laur. 66, 31 ff. 59v-60r (Megna 2009, 7). 88 Plut. Hom. 2, 84: διηγεῖται δὲ ποτὲ μὲν ψιλῶς, ποτὲ δὲ μετὰ εἰκόνος ἤ ὁμοιώσεως ἤ παραβολῆς. letzteres ein Postulat, dessen Kenntnis Poliziano in einer weiteren Randnotiz beweist. 86 Andronikos hatte seine Schüler mit sekundärliterarischen Besprechungen des Gleichnisses vertraut gemacht und die παραβολή folgendermaßen defi‐ niert: 87 παραβολή est quando poeta anteponit parabolam ipsam et declarat et ponit pro oculis meis, postea infert quod vult, ut hic Homerus: ἠΰτε ἔθνεα πολλα μελισσάων ἁδινάων et cetera [Il. 2, 87]. Declarat autem teste Plutarco Homerus hoc in loco mul‐ titudinem, frequentiam, etiam ordinem; probe etiam fecit Homerus, qui parabolam constituit notiorem quam quod vult inferre. Quapropter Aristoteles in Topicis dicit oportere fieri comparationes quemadmodum Homerus, non autem quemadmodum Choerillus, qui obscurissimas ponebat comparationes. Um eine parabole handelt es sich, wenn der Dichter das Gleichnis voranstellt, es klar darlegt und mir vor Augen führt und danach das, was er sagen will, einführt, wie Homer, wenn er sagt: „Wie viele dichtgedrängte Bienenschwärme usw.“ An dieser Stelle verdeutlicht Homer nach dem Zeugnis des Plutarch Zahl, Andrang und Ordnung [der griechischen Soldaten]. Auch deshalb hat Homer hier ein gutes Gleichnis ge‐ schaffen, da es besser nachzuvollziehen ist als das, was es bezeichnet. Daher sagt Aristoteles in den Topica [Arist. Top. 157a14-17], dass man Gleichnisse machen müsse wie Homer, nicht wie Choerill, der höchst unverständliche Gleichnisse schuf. Die Autorenangabe teste Plutarco bezieht sich auf das Kapitel 2, 84 der Schrift De Homero, wo zwei homerische Erzählformen unterschieden werden: die schlichte, schmucklose und die anschauliche, die sich in Bildern und Gleich‐ nissen ausdrückt. 88 Dabei müsse die parabole insbesondere die Forderungen der ἀνταπόδοσις einhalten, d.h. in möglichst vielen Vergleichsmomenten Überein‐ 74 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 89 Plut. Hom. 2, 84: ὅταν παραπλησίων πραγμάτων παράθεσιν ποιήσηται, ἔχουσαν ἀνταπόδοσιν τὴν ἀπὸ τοῦ προκειμένου διηγήματος. καὶ ἔστιν παρ’αὐτῷ ποικίλα τὰ εἴδη τῶν παραβολῶν· συνεχῶς γὰρ καὶ πολυτρόπως παρατίθησιν ταῖς τῶν ἀνθρώπων πράξεσιν καὶ σχέσεσι ζῴων ἄλλων ἐνεργείας καὶ φύσεις. Zur antapodosis generell Ps.-Herod. De fig. 64, 69-72 Hajdú. Quintilian unterscheidet zwei Arten der parabole, deren eine ohne antapodosis auskomme, deren andere - dies sei viel besser - eine solche aufweise (8, 3, 77): [parabole] interim libera et separata est, interim, quod longe optimum est, cum re, cuius est imago, conectitur, conlatione invicem respondent, quod facit redditio contraria, quae ἀνταπόδοσις dicitur. 90 Übersetzung Schadewaldt 1975, 25. stimmung erzielen. 89 Dies ist in der Mitschrift des anonymen Studenten über‐ nommen: Die Eignung des Bildes hinsichtlich des Vergleichsgegenstandes sei im Bienengleichnis gegeben, da die Bienen nach Menge, Gewimmel und Ord‐ nung dem griechischen Heer vergleichbar seien. Der Sachverhalt gewinne durch das Bild der Bienen, das dem Leser oder Hörer näherstehe als die kriegerische Handlung (parabola notior quam quod vult inferre), entscheidend an Klarheit - dies sei das oberste Gebot des Gleichnisses. Um nun Polizianos Gleichnistechnik zu bestimmen, empfiehlt sich das Bienengleichnis im 2. Ilias-Gesang, wo das Herbeiströmen der griechischen Soldaten zur Heeresversammlung verglichen wird mit dem Ausschwärmen der Bienen im Frühling (Hom. Il. 2, 87-93): Hier findet sich zum ersten Mal die Randnotiz comparatio. In welchem Maße ist Poliziano hier den theoretischen Erfordernissen an das Gleichnis, Passung und Anschaulichkeit, nachgekommen? Zunächst der home‐ rische Text (Hom. Il. 2, 87-90): 90 ἠΰτε ἔθνεα εἶσι μελισσάων ἁδινάων πέτρης ἐκ γλαφυρῆς αἰεὶ νέον ἐρχομενάων, βοτρυδὸν δὲ πέτονται ἐπ’ ἄνθεσιν εἰαρινοῖσιν· αἳ μέν τ’ ἔνθα ἅλις πεποτήαται, αἳ δέ τε ἔνθα· Und wie Schwärme heranziehen von dichtgedrängten Bienen, Die immer neu aus dem hohlen Felsen kommen, Und in Trauben fliegen sie zu den Frühlingsblumen, Die einen fliegen hierhin, genugsam viel, und die anderen dorthin: In Polizianos lateinischer Version ist das Gleichnis um einen Vers vermehrt wiedergegeben (Pol. Il. 2, 95-99): Quales, vere novo, vacui circum ostia saxi Cum gentes glomerantur apum, semperque recentes Fundunt se in numerum portis, instarque racemi Addensant per inane globos, et florea rura 75 2.2. Poetischer Stil 91 Zu den Unterschieden vgl. auch Orlando 1966, 9-10. Pervolitant, illa huc pennas haec dirigit illuc. Wie sich zu Beginn des Frühlings die Bienenvölker an den Pforten des hohlen Felsens zusammendrängen und sich in immer neuen Schwärmen aus den Toren ergießen, sich, einer Traube gleich, in der Luft zu runden Gebilden scharen und über blumenreiche Wiesen hinfliegen, die eine ihre Flügel hierhin, die andere dorthin lenkt. Poliziano erweitert das Bild der ausschwärmenden Bienen im Frühling be‐ trächtlich: Bereits der erste Vers des Zitats zeigt, dass Polizianos Exposition des Vergleichs grundlegend anders angeordnet ist als bei Homer. Während der Frühling beim griechischen Dichter lediglich in der Junktur ἄνθεσιν εἰαρινοῖσιν angedeutet war, lässt der Übersetzer zunächst eine Frühlingssze‐ nerie (vere novo) entstehen, die den Rahmen bildet für die Beschreibung der Bienen. Eine zweite Änderung betrifft die anthropomorphe Darstellung der Bienen. Freilich werden diese bereits im homerischen Gleichnis insoweit menschlich gezeichnet, als sie den Vergleichsgegenstand zu repräsentieren haben: So k o m m e n die Bienen in immer neuen Völkerschaften heran (ἔθνεα μελισσάων αἰεὶ νέον ἐρχομενάων). Bei Poliziano hingegen werden die Bienen nachgerade zu eigenständigen Persönlichkeiten ausgestaltet: Die gentes apum k o m m e n nicht länger einfach aus dem hohlen Gestein, sondern versammeln sich zunächst rings um dessen Pforten (glomerantur vacui circum ostia saxi). Wo Homer schlicht konstatierte, die Bienen respektive die Soldaten kämen „in Art einer Traube“ (βοτρυδόν), gestaltet Poliziano den einfachen Vergleich unter Verwendung aktiver und medialer Verben zu einer von den Bienen bewusst ausgeführten Handlung aus: Sie ergießen sich scharenweise aus dem Stein und verdichten sich durch Schwarmbildung zu traubenähnlichen Kugeln. Die ho‐ merische Bemerkung „wie eine Traube“ ist bei Poliziano auf eine dynamische Handlungsebene gehoben, in welcher die Bienen als Akteure auftreten. Bei der Wiedergabe des letzten Verses des Gleichnisses bietet Poliziano eine besonders preziöse Darstellung: Während die homerischen Bienen scharweise hierhin und dorthin fliegen, fokussiert Poliziano die einzelne Biene (illa, haec), die nicht schlicht ‚fliegt‘, sondern ihre Flügel nach der einen oder anderen Richtung hinwendet (pennas dirigit). Es ist ersichtlich, dass Polizianos Bild sich weiter vom Vergleichsgegenstand entfernt als das homerische. 91 Betrachtet man mit dem Autor der Schrift De Homero die möglichst getreue Übereinstimmung von Bild und zu erläuterndem Sachverhalt als Gütesiegel des Vergleichs, so dürfte man Poliziano hier nicht ohne weiteres eine gelungene Übertragung attestieren. Hatte Homer die Sol‐ 76 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 92 Georg. 4, 67-80; Aen. 1, 430-436. Auffällig sind die sprachlichen Entsprechungen ins‐ besondere in den Versen georg. 4, 77-80 (Ergo ubi ver nactae sudum camposque patentes, / erumpunt portis; concurritur, aethere in alto / fit sonitus, magnum mixtae glomerantur in orbem / praecipitesque cadunt; non densior aëre grando) und Aen. 1, 430 (Qualis apes aestate nova per florea rura). 93 Macr. Sat. 5, 10, 13: Et haec quidem iudicio legentium relinquenda sunt, ut ipsi aestiment quid debeant de utriusque collatione sentire. si tamen me consulas, non negabo non num‐ quam Vergilium in transferendo densius excoluisse ut in hoc loco. 94 Macr. Sat. 5, 11, 2-4. daten aus ihren Zelten kommen lassen wie die Bienen aus den Höhlen, versam‐ meln sich letztere bei Poliziano zunächst an der Pforte, bevor sie sich in der Luft zu einer Traube zusammenschließen. Während ferner Homer die verschiedenen Völkerschaften der Griechen mit verschiedenen Bienenschwärmen verglich, machen sich Polizianos Bienen - und zwar jede für sich - selbständig. Polizianos Darstellung der Bienen erfüllt die von Homer eingehaltene antapodosis insofern nur unzureichend, als es mit Facetten versehen ist, die zwar zu einem in sich stimmigen Bild beitragen, den Vergleichsgegenstand aber nicht getreu wider‐ spiegeln. Die möglichst erhellende Exemplifikation des übergeordneten Sach‐ verhaltes (parabola notior quam quod vult inferre) tritt zugunsten einer Dyna‐ misierung und Verselbständigung des Bildes zurück. Die Gestaltungsart, die sich vom Postulat der antapodosis absetzt, lässt sich auf ein Vorbild und auf ein stilkritisches Konzept zurückführen. Bei der Wie‐ dergabe des homerischen Gleichnisses hat Poliziano vornehmlich aus Vergils Bienenschilderungen des 4. Buchs der Georgica und des 1. Aeneis-Buchs ge‐ schöpft, die für seine Darstellung der Bienen maßgeblich waren. 92 Macrobius leistet in seinen Saturnalien einen Vergleich homerischer und vergilischer Bie‐ nendarstellungen, wobei sich der Unterredner Eustathius zu einer persönlichen Wertung hinreißen lässt. Beim Vergleich des homerischen Bienengleichnisses mit den ‚karthagischen‘ Bienen Vergils im 1. Aeneis-Buch möge zwar ein jeder selbst urteilen, er aber sehe, dass Vergil seinen Vergleich sorgfältiger und reicher ausgestaltet habe. 93 Eustathius begründet sein Urteil damit, dass Vergils Bienen minutiös als Handwerker beschrieben würden, während bei Homer lediglich das Fliegen betont würde: vides descriptas apes a Vergilio opifices, ab Homero vagas: alter discursum et solam volatus varietatem, alter exprimit nativae artis offi‐ cium. 94 Auf den ersten Blick erscheint diese Einschätzung bedenklich: Homer beschreibt ja nur die Bewegung der zum Versammlungsort schwärmenden Grie‐ chen - weitere Informationen, wie sie etwa Poliziano gibt, wären der Eignung des Bildes abträglich. Ein Blick auf das vergilische Gleichnis allerdings erhellt sowohl die Einschätzung des Eustathius als auch die Darstellung Polizianos. Bei Vergil bestaunt Aeneas die Emsigkeit der Karthager, die Mauern errichten, 77 2.2. Poetischer Stil 95 Verg. Aen. 1, 421-429. 96 Verg. Aen. 1, 430-436. 97 Laur. 66, 31 f. 67r: Addit secundam parabolam, cum prima non sufficiat, per quam ostendit frequentiam ipsorum et quom [...] a Troia omnes sunt ad mare conversi, et notat Eustathius morem esse Homeri, quando per unam comparationem non potest exprimere quod vult, per aliam explicare (zitiert nach Megna 2009, 7). 98 Übersetzung Schadewaldt 1975, 27. Grundstücke bezeichnen, ein Hafenbecken ausheben, Säulen für das Theater aus dem Fels brechen. 95 Die Arbeit der Karthager wird verglichen mit der Arbeit der Bienen im Frühling, die Honig eintragen und die Waben füllen, ihren Kollegen die Last abnehmen und in Scharen die Drohnen vom Bienenstock fernhalten. 96 Schon die Paraphrase zeigt, dass es Vergil nicht um die exakte Adaption von Bild und Bezeichnetem ging - das Sammeln des Honigs, das Befüllen der Waben und auch die Abwehr der faulen Drohne sind ohne Entsprechung in der Schil‐ derung der emsigen Karthager. Im Bienengleichnis entwirft Vergil ein eigen‐ ständiges Bild mit eigener Dynamik, das mit dem Vergleichsgegenstand ledig‐ lich durch das Moment des Arbeitseifers und der Betriebsamkeit der Akteure verbunden ist. Nach Macrobius liegt die Eignung des Vergleichs also nicht primär in der Übereinstimmung möglichst vieler Vergleichspunkte, sondern in der in sich stimmigen und anschaulichen Darstellung des Gleichnisses. Es ist das Stilempfinden des Macrobius, dem Poliziano in der Gestaltung seiner Gleich‐ nisse folgt. In den Versen Il. 2, 144-148 brachte Homer die Reaktion der griechischen Heeresversammlung auf die Trugrede Agamemnons in zwei Gleichnissen zum Ausdruck: Den Aufruhr in der Griechenversammlung sowie die anschließende Hast zu den Schiffen hat der griechische Dichter in zwei voneinander getrennten Naturbildern ausgedrückt. Polizianos Entsprechungen lösen sich erneut von der gewissermaßen zweckmäßigen und zweckgebundenen Gleichnisart Homers und entfalten ein dynamisches Eigenleben, welches mit dem Vergleichsgegen‐ stand nur noch lose thematisch verknüpft ist. Polizianos Lehrer Andronikos Kallistos hatte zu dieser Stelle in seiner Vorlesung auf die homerische Technik des Doppelgleichnisses hingewiesen und sie unter Berufung auf den Homer-Kommentator Eustathios erläutert. 97 Die homerische Technik des Dop‐ pelgleichnisses diene dazu, einen Sachverhalt, der anhand eines einzigen Ver‐ gleichs nicht hinreichend deutlich wiedergegeben werden kann, mittels eines zweiten anschaulicher zu gestalten. Zum ersten Gleichnis (Hom. Il. 2, 144-146) vermerkt Poliziano die bereits erwähnte Bewertung pulcherrima comparatio et quedam quasi ἐναργία. Die Homer-Verse lauten: 98 78 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 99 Pol. Il. 2, 149-151. 100 Verg. Aen. 2, 416-419: adversi rupto ceu quondam turbine venti / confligunt, Zephyrusque Notusque et laetus Eois / Eurus equis; stridunt silvae saevitque tridenti / spumeus atque imo Nereus ciet aequora fundo. 101 Zu Pol. Il. 2, 152-154 vermerkt der Übersetzer: alia comparatio (Vat. lat. 3298 f. 5v). 102 Übersetzung Schadewaldt 1975, 27. κινήθη δ’ ἀγορὴ φὴ κύματα μακρὰ θαλάσσης πόντου Ἰκαρίοιο, τὰ μέν τ’ Εὖρός τε Νότος τε ὤρορ’ ἐπαΐξας πατρὸς Διὸς ἐκ νεφελάων. Und aufgerührt wurde die Versammlung wie die großen Wogen des Meeres, Der Ikarischen See, die der Ostwind und der Südwind Erregte, herangestürmt aus den Wolken des Vaters Zeus. Homers Schilderung der Unruhe bzw. des Seesturms, der sich nach der Rede Agamemnons in der Volksversammlung erhebt, nimmt sich gegen das wüste Szenario, das Poliziano kreiert, noch recht milde aus: 99 Qualis ubi Icarios fluctus Eurusque Notusque perturbant, imoque cient spumantia fundo aequora, et insanas affligunt cautibus undas. Wie wenn der Ost- und der Südwind die ikarischen Fluten aufpeitschen, das gisch‐ tende Meer vom untersten Grunde aufwühlen und die tobenden Wellen gegen die Felsen schmettern. Die Umsetzung des Homertextes erfolgt unter Rückgriff auf den vergilischen Vergleich der nach Troja eindringenden Griechen mit einem Sturm im 2. Aeneis-Buch. 100 Wir sehen hier des Florentiners Auffassung von überzeichneter Anschaulichkeit am Werk, die sowohl im Vergleich zur Vorlage als auch zum Vergleichsgegenstand eine Eigendynamik entwickelt. So ist etwa Vers 146 zu‐ gunsten einer detaillierteren Sturmschilderung unvollständig wiedergegeben - der Hinweis auf die Herkunft der Winde aus Zeus’ Wolken ist getilgt -, das hauptsächliche Vergleichselement einer hin- und herwogenden Bewegung, Aus‐ druck des Entscheidungsmoments, ist zugunsten eines eigenständigeren Ver‐ gleichsbildes aufgehoben. Wieder tritt so die antapodosis zurück hinter eine größere Anschaulichkeit und Eigendynamik des Bildes. Nicht anders verhält es sich mit dem zweiten Gleichnis, welches die Ent‐ scheidung der Griechen zur Flucht bildlich darstellt (Hom. Il. 2, 147-148). 101 Hatten sie zunächst noch geschwankt (bzw. gewogt), fällt nun die Entscheidung zur Flucht: 102 79 2.2. Poetischer Stil 103 Vgl. Verg. georg. 1, 111-112: quid qui, ne gravidis procumbat culmus aristis, / luxuriem segetum tenera depascit in herba; 2, 629: et tremefacta [ornus] comam concusso vertice nutat; Lucr. 1, 11: genitabilis aura favoni. ὡς δ’ ὅτε κινήσῃ Ζέφυρος βαθὺ λήϊον ἐλθὼν λάβρος ἐπαιγίζων, ἐπί τ’ ἠμύει ἀσταχύεσσιν, Und wie wenn der Westwind aufrührt das tiefe Saatfeld, wenn er kommt Und heftig hereinfährt, und es neigt sich darunter mit den Ähren. Homers Bild ist eindeutig: Die Griechen eilen zu den Schiffen - das stellt sich dem Auge des Betrachters dar, als würde ein heftiger Wind in ein dichtstehendes Saatfeld fahren und sämtliche Ähren in eine Richtung drücken. Bei Poliziano hingegen entfaltet sich das Gleichnis, wiederum orientiert an vergilischen Na‐ turbildern, zur dramatischen Kriegsszene (Pol. Il. 2, 152-154): 103 aut ubi frugiferae genitabilis aura favoni incubuit segeti gravidasque invasit aristas, declives nutant concusso vertice culmi. oder wie der fruchtbare Hauch des Westwindes über das fruchttragende Saatfeld he‐ reinbricht und die schwangeren Ähren angreift, und die gebeugten Strohhalme mit erschüttertem Haupte wanken. Zwar ist Polizianos Darstellung facettierter und dramatischer als die seiner Vor‐ lage - es entsteht das Bild eines Angreifers, der wehrlose Opfer mit Gewalt überzieht -, eben dadurch allerdings wird die Eignung des Bildes herabgesetzt. Insbesondere die Übersetzung des griechischen ἠμύειν, ‚sich (in eine Richtung) neigen‘, mit nutare, ‚schwanken‘ und im übertragenen Sinne ‚unschlüssig sein‘, läuft der Intention des homerischen Gleichnisses, das ja gerade die endgültige Entscheidung bedeuten soll, zuwider. Die homerischen Gleichnisse beschreiben die Reaktion des Heeres konzise und passgenau als anfängliches Wogen des Meeres infolge des Stürmens zweier Winde, wobei sich schließlich einer durch‐ setzt, und das Wogen einer eindeutigen Richtung weicht. Hätte man nun ledig‐ lich den lateinischen Text Polizianos, in dem zunächst ein wüstes Sturmszenario, danach das Verheeren des Saatfeldes durch den Wind geschildert wird, so würde sich dem Leser die Bedeutung des Doppelgleichnisses als Exemplifikation des übergeordneten Sachverhalts sicherlich nicht erschließen. Es geht Poliziano also vorrangig um dramatische Verdichtung, Dynamisierung und Eindrücklichkeit seiner Bilder, um ihr affektives Potential - ein Postulat, das er vornehmlich am Dichtervergleich des Macrobius erarbeitet hat. 80 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 104 Pol. Il. 2, 500-775 und 833-897; Anmerkungen bei Megna 2009, 22-39. 105 Macr. Sat. 5, 15, 1-5, 16, 5. 106 Macr. Sat. 5, 16, 1-2: uterque in catalogo suo post difficilium rerum vel nominum narra‐ tionem infert fabulam cum versibus amoenioribus, ut lectoris animus recreetur. 107 Zu Pol. Il. 2, 607: Fabula de Thamyra cantore (Vat. lat. 3298 f. 14r). 2.2.4. Katalog - catalogus Besonderes Interesse zeigte Poliziano an den homerischen Katalogen, deren Gestaltung in hohem Maße Aufschluss gibt über sein Verständnis ansprechender und anspruchsvoller Dichtung. Zum Schiffskatalog der Griechen (Hom. Il. 2, 494-759) und zum Katalog der trojanischen Soldaten (2, 816-877) notierte der Übersetzer die Namen von Heerführern und Kämpfern, Abstammungsverhält‐ nisse sowie die Größe der Schiffskontingente. 104 Der Schiffskatalog Homers und entsprechende Kataloge bei Vergil waren in Macrobius’ Saturnalien ebenfalls zum Gegenstand der Besprechung erhoben worden. Ein wertendes Urteil dar‐ über, welcher der beiden Dichter die Kataloge besser gestaltet habe, sprechen die Gesprächsteilnehmer nicht dezidiert aus. Es wird konstatiert, dass Vergil mittels variatio die im homerischen Katalog fortlaufend auftretenden Wieder‐ holungen wie Schandflecke zu meiden versucht habe, weshalb wohl der ein oder andere Leser dessen dynamischere Darstellungsart bevorzuge. Die homerische Nüchternheit des Stils allerdings, der die militärische Aktion der Soldatenschau trefflich wiedergebe, sei unnachahmliches Zeichen für das ingenium des grie‐ chischen Dichters. 105 Da sich Homer und Vergil, wie Macrobius meint, der Not des Zuhörers oder Lesers, der seitenlangen Auflistungen von Orten, Schiffen und Soldaten zu folgen hatte, wohl bewusst waren, hätten sie in ihre Kataloge kleine Histörchen und Anekdoten eingeflochten, die den Geist des Lesers wiederbeleben sollten. 106 Um den horror satietatis auszuschließen, habe Homer etwa die Geschichte des thrakischen Sängers Thamyris eingefügt, der sich gegen die Musen vermaß, indem er stolz behauptete, schöner zu singen als sie, und den diese daraufhin des Augenlichts und der musischen Begabung enthoben (Hom. Il. 2, 594-600). Polizianos Randbemerkung zur Stelle legt nahe, dass ihm die Besprechung des Macrobius und dessen Postulat zur Vermeidung der monotonen Auflistung be‐ kannt waren. 107 Polizianos Übertragung des Schiffskatalogs folgt der dynamischeren Darstel‐ lungsart Vergils und versucht mit stilistischen Mitteln der ‚Sättigung‘ des Lesers entgegenzuwirken. So bedenkt Poliziano die griechischen Streiter, die bei 81 2.2. Poetischer Stil 108 Hom. Il. 2, 494: Βοιωτῶν μὲν Πηνέλεως καὶ Λήϊτος ἦρχον („Die Boioter führten Peneleos an und Leïtos“) wird zu Ibat in arma ferox Boeotis primus ab oris / Peneleus, comes acer erat tum Leitus illi (Pol. Il. 2, 499-500). Vgl. hierzu den Beginn des vergilischen Helden‐ katalogs aus dem 7. Buch der Aeneis: Primus init bellum Tyrrhenis asper ab oris (Verg. Aen. 7, 647). 109 So variiert Poliziano z.B.: quinquaginta omnes solverunt litore naves (Pol. Il. 2, 515 entspr. Hom. Il. 2, 509), hi triginta altum sulcabant puppibus aequor (Pol. Il. 2, 524, entspricht Hom. Il. 2, 516), hic bis vicenas oneravit milite pinus (Pol. Il. 2, 542, entspr. Hom. Il. 2, 534), et bis vicenis scindebant aequora proris (Pol. Il. 2, 531, entspr. Hom. Il. 2, 524), hic bis vicenas implevit remige puppes (Pol. Il. 2, 553, entspr. Hom. Il. 2, 545). Vgl. hierzu auch Cerri 1977a, 146-152. 110 Übersetzung Schadewaldt 1975, 37. Homer lediglich mit Namen genannt sind, häufig mit zusätzlichen Attributen. 108 Zudem werden repetitive Wendungen Homers - insbesondere das sich am Ende eines jeden Aufgebots nahezu gleichlautend wiederholende „und es folgten vierzig (etc.) schwarze Schiffe“ - durch abwechslungsreiche und dynamischere Junkturen ersetzt. 109 Eine besonders preziöse Aufbrechung der spröden home‐ rischen Liste erlaubt sich Poliziano bei der Aufzählung des phokischen Trup‐ penkontigents: Während bei Homer diejenigen mitkommen, die „bei dem gött‐ lichen Strom Kephisos wohnten“ (Hom. Il. 2, 522), spricht Poliziano kurzerhand den Fluss selbst an: qui ripas, Cephise, tuas [colebant] (Pol. Il. 2, 530). Ein Beispiel für die verschiedenen Formen der variatio bietet das Truppenkontingent der Argolis, das unter Diomedes’ Führung in den Krieg zieht (Hom. Il. 2, 559- 568): 110 Οἳ δ’ Ἄργός τ’ εἶχον Τίρυνθάτε τειχιόεσσαν Ἑρμιόνην Ἀσίνηντε, βαθὺν κατὰ κόλπον ἐχούσας, 560 Τροιζῆν’ Ἠϊόναςτε καὶ ἀμπελόεντ’ Ἐπίδαυρον, οἵ τ’ ἔχον Αἴγιναν Μάσητάτε κοῦροι Ἀχαιῶν, τῶν αὖθ’ ἡγεμόνευε βοὴν ἀγαθὸς Διομήδης καὶ Σθένελος, Καπανῆος ἀγακλειτοῦ φίλος υἱός· τοῖσι δ’ ἅμ’ Εὐρύαλος τρίτατος κίεν ἰσόθεος φὼς 565 Μηκιστέος υἱὸς Ταλαϊονίδαο ἄνακτος· συμπάντων δ’ ἡγεῖτο βοὴν ἀγαθὸς Διομήδης· τοῖσι δ’ ἅμ’ ὀγδώκοντα μέλαιναι νῆες ἕποντο. Doch die Argos hatten und die ummauerte Tiryns, Hermione und Asine, die die tiefe Bucht beherrschen, Troizen und Eiones und auch die weintragende Epidauros, Und die Aigina hatten und Mases, die jungen Männer der Achaier: Von denen wieder war der Führer der gute Rufer Diomedes 82 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 111 Zur variatio homerischer Formelverse Levine Rubinstein 1979, 104-158. 112 Vgl. Pol. Il. 4, 508 (entspr. Hom. Il. 4, 440), Vat. lat. 3617 f. 16rv. Und Sthenelos, des hochberühmten Kapaneus eigener Sohn, Und mit ihnen ist Euryalos als dritter, der gottgleiche Mann, Des Mekisteus Sohn, des Talaos-Sohns, des Herrschers; Doch von allen zusammen war der Führer der gute Rufer Diomedes. Und denen folgten achtzig Schiffe. Polizianos lateinische Verse zeigen deutlich des Übersetzers Bestreben, home‐ rische Floskelwendungen variantenreich zu gestalten (Pol. Il. 2, 567-577): 111 Tum quoscumque Argos dederat, Tirynthia quisque moenia deseruit miles; quos miserat ingens Asine, Hermionesque sinus, praeclaraque Troezen; tum quos Eione, laetusque Epidaurus Iaccho 570 fundebat; quique Aeginam et Maseta reliquit; hos bello instruxit dextra clarus Diomedes, et Sthenelus bello insignis Capaneia proles, Euryalusque ferox divis caelestibus aequus quem Talaonides Megisteus edidit ingens: 575 verum omnes duxit Tydei pulcherrima proles, octoginta levi committens carbasa vento. Poliziano ersetzt das topische, die Truppenkontigente einleitende οἳ […] εἶχον durch dynamische Eingriffe wie quisque miles deseruit moenia, mittere, fundere, relinquere. Das wiederkehrende ἡγεμόνευε / ἡγεῖτο („führte an“) wird ersetzt durch bello instruxit destra, die zweifache Nennung des βοὴν ἀγαθὸς Διομήδης wird vermieden, indem der clarus Diomedes zuletzt durch seine Ab‐ stammung bezeichnet und zu Tydei pulcherrima proles variiert wird. Ein schönes Beispiel für die variatio des die Truppenkontigente abschließenden Formel‐ verses τοῖσι δ’ ἅμ’ ὀγδώκοντα μέλαιναι νῆες ἕποντο ist die Übersetzung octo‐ ginta levi committens carbasa vento („und dem lauen Wind vertraute er achtzig Segel“). Der Schiffskatalog ist der Ort, wo der Nachdichter aus Florenz zeigen konnte, dass er noch die nüchternste und inhaltlich anspruchsvollste Darstel‐ lung in ein anziehendes Gewand zu kleiden verstand. Polizianos Interesse galt nicht nur der umfassenden militärischen Liste, son‐ dern auch dem kleineren Katalog. Vornehmlich diejenigen Aufzählungen, die personifizierte Abstrakta vereinigen, sind von Anmerkungen des Übersetzers begleitet. 112 Die furchterregenden Affekte etwa, die den Schild der Athene be‐ völkern, hat er gänzlich am Rand dupliziert. Die das Gorgonenhaupt umkränz‐ 83 2.2. Poetischer Stil 113 Vgl. Pol. Il. 5, 850-851 (entspr. Hom. Il. 5, 739-740), Vat. lat. 3617 f. 42r. 114 Vat. lat. 3617 f. 42r (Megna 2009, 151). 115 Hom. Il. 5, 9-11: Ἦν δέ τις ἐν Τρώεσσι Δάρης ἀφνειὸς ἀμύμων / ἱρεὺς Ἡφαίστοιο· δύω δέ οἱ υἱέες ἤστην / Φηγεὺς Ἰδαῖός τε μάχης εὖ εἰδότε πάσης. 116 Vat. Lat. 3298 f. 20r zu Pol. Il. 5, 10 (Megna 2009, 97). 117 Zit. bei Megna 2009, 97. 118 Die betreffende Stelle ist Quint. inst. 4, 2, 63-65; vgl. Levine Rubinstein 1982, 231; Ga‐ land-Hallyn 1987, 28; Megna 2009, 97. enden Φόβος, Ἔρις, Ἀλκή und κρυόεσσα Ἰωκή (Schrecken, Streit, Abwehr und schaudervolles Schlachtgetümmel), werden in Polizianos Version zu Pavor, Robur violentum, Impetus ardens und Seditio minax. 113 Hier wird ein weiterer Vorzug des Katalogs, der den Anforderungen der Stilistik Polizianos in beson‐ derem Maße entgegenkommt, sichtbar: Durch kataloghafte Aufzählung kann leicht große Detailfülle vermittelt werden. Der Schild der Athene wird durch Aneinanderreihung negativer Attribute zu einem furchteinflößenden Gegen‐ stand. Die Aufzählung wird so zum deskriptiven, ekphrastischen Mittel, das zur Veranschaulichung des Geschilderten eingesetzt werden kann. Bewunderung brachte Poliziano wiederholt an den Stellen zum Ausdruck, wo der griechische Dichter reichlich Information in möglichst wenige und dennoch anschauliche Verse zu kleiden verstand. So verwies er etwa am Rand der obigen Beschreibung des Schildes der Athene auf dessen vormalige Nennung im 2. Ge‐ sang, wo er in drei Versen beschrieben worden war (Hom. Il. 2, 447-449): aegis in secundo quoque Iliadis libro doctissime a poeta describitur. 114 Eine ähnliche Einschätzung bietet Poliziano am Rand der Homerverse Il. 5, 9-11, wo der Troer Dares vorgestellt wird: Drei Verse, um auszusagen, dass dieser reich, untadelig, Priester des Hephaistos sei und zwei im Kampf kundige Söhne, Phegeus und Idaios, habe 115 - Grund genug für Poliziano, angesichts der Fülle von Informationen bei äußerster Knappheit des Ausdrucks zu glossieren: triplex est narrationis virtus, quam hoc loco non modo expressit, sed definivit Homerus. Pauculis enim verbis iisdemque clarissimis nomina fratrum, parentis, patriae, mores patris et officium ipsorumque virtutem ante oculos constituit.  116 Polizianos Glosse liegt das Scholion AbT zugrunde, wo die virtutes der Homer‐ verse erläutert werden: Τρεῖς δὲ ἀρεταὶ διηγήσεως, σαφήνεια, συντομία, πιθανότης, ἅπερ ἐνέθηκεν τὸ ἔθνος, τὸ ὄνομα, τὸν τρόπον, τὴν τύχην, τὴν ἀρχὴν, τῶν παιδῶν τὰ ὀνόματα καὶ τὴν ἀρετήν. 117 Poliziano setzt der Bemerkung des Scholions das aussagekräftige ante oculos constituit hinzu, womit er das Postulat der Veranschaulichung verstärkt. Quin‐ tilian etwa hatte bei der Besprechung der narratio darauf hingewiesen, dass ei‐ nige, unter anderem Cicero, die Anschaulichkeit eigens als Erzähleigenschaft betrachteten, er sie aber zur perspicuitas, d.h. zur σαφήνεια rechne. 118 Deutlich‐ 84 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 119 In Stat. Sylv. 634, 17-635, 6 (Cesarini Martinelli 1978a): Homerus in Catalogo: οἵ τ’ Ἄλον οἵ τ’ Ἀλόπην οἵ τε Τρηχῖνα νέμοντο [Hom. Il. 2, 682]. Horum dux Achilles; hanc dicit Eustathius fuisse ab Hercule conditam atque ab locorum dictam asperitate, prope Oetam, intra Pylas, urbem Thessaliorum. Trechin, ut scribit Plinius libri 4 cap. 8, prope Thermo‐ pylarum angustias in Heraclea, ubi mons Callidromus. Strabo scribit Heracleam prope Thermopylas, super illam, quae prius Trachin vocabatur, a Lacedaemoniis conditam stadiis circiter sex; prope ipsam Sperchius et Olyras fluvius, qui, ut fertur, Herculis rogum extin‐ guere conabatur; simul et Melas, quinque stadiis a Trachine distans. Weitere Stellen, an denen Homers Schiffskatalog als Ausgangspunkt für geographische, etymologische oder mythische Erläuterungen herangezogen wird, sind z.B. 82, 19-83, 7 zu Stat. silv. 1, 1, 9 (Dardanii); In. Stat. Sylv. 633, 21-24 zu Stat. silv. 3, 5, 49 (Maenada); In. Stat. Sylv. 690, 9-692, 23 zu Stat. silv. 4, 8, 46 (Abantia). keit, Kürze, Plausibilität - dies ist die Richtschnur, die Poliziano an seine eigene Übersetzung der Stelle anlegt, wenn er ebenso knapp wie Homer dichtet (Pol. Il. 5, 10-13): […] erat intra Pergama quidam Iliaca de gente Dares, ditissimus agri, Vulcani purus vates, cui pignora bina Phegeus Ideusque aderant fera bella tenentes. Da war in der Stadt ein Troer namens Dares, überreich an Land, ein untadeliger Priester des Vulcan, der zwei Kinder hatte, Phegeus und Idaeus, zu hartem Kriege fähig. Die exakte Wiedergabe homerischer Informationen, wie sie hier im Zitat er‐ strebt wird, hat den Grund im philologischen Interesse des Übersetzers. Poli‐ ziano zog den homerischen Schiffskatalog häufig als philologisches Instrument heran, wenn er bei der Kommentierung anderer Autoren genealogische Ver‐ hältnisse sowie Begriffe oder Realien zu erklären versuchte, so am ausgiebigsten im Kommentar zu den Silven des Statius. Die homerische Angabe (teilweise auch in der eigenen lateinischen Übersetzung aufgeführt) bildet dabei ein Argument, welches meist mittels der Kommentare des Eustathios erläutert und durch wei‐ tere Besprechungen von Fachschriftstellern bekräftigt wird. Ein Beispiel hierfür bietet die Kommentierung des Ausdrucks Trachinia Alcyone (Stat. silv. 3, 5, 57- 58) im Silvenkommentar, wo Ursprung, Lage und mythologische Bedeutung der thessalischen Stadt Trachin unter Rekurs auf Homer, Eustathios, Plinius d.Ä. und schließlich Strabon so exakt wie möglich zu bestimmen gesucht wird. 119 Ein weiteres philologisch bedeutsames Merkmal Polizianos lateinischer Ver‐ sion des Schiffskatalogs ist die Hinzufügung von Informationen aus der Sekun‐ därliteratur, die im homerischen Katalog fehlen. Ein instruktives Beispiel hierfür ist die Nennung der Ärzte Podalirius und Machaon, die ein thessalisches Schiffs‐ 85 2.2. Poetischer Stil 120 Hom. Il. 2, 731-732: τῶν αὖθ’ ἡγείσθην Ἀσκληπιοῦ δύο παῖδε / ἰητῆρ’ ἀγαθὼ Ποδαλείριος ἠδὲ Μαχάων. 121 Ov. fast. 1, 291: accepit Phoebo nymphaque Coronide natum. kontingent nach Troja führten. Die homerischen Abstammungsverhältnisse - die Ärzte seien Söhne des Asklepios 120 - gibt Poliziano um ein genealogisches Detail vermehrt wieder (Pol. Il. 2, 748-749): Podalirius atque Machaon / Quos genuit Phoebo nymphaque Coronide natus. Der Name des Asklepios wird ersetzt durch die Angabe seiner Eltern, Apoll und Koronis. Modell war ein gleichlau‐ tender Vers aus Ovids Fasti. 121 Die Ovidstelle, durch die Poliziano die homerische Angabe erweitert, wird dem griechischen Substrat als Kommentar einge‐ schrieben. Der Katalog bzw. die katalogartige Aufzählung ist für Poliziano der Ort, wo sich in vorzüglicher Weise die beiden Hauptcharakteristika seiner Stilistik ver‐ binden: Einerseits lässt sich in wenigen Versen reichlich Information verar‐ beiten, andererseits kann eine Situation oder ein Gegenstand detailliert be‐ schrieben werden, sodass mit dem Kenntniszuwachs zugleich klare und eindrückliche Bilder entstehen. Dass dem Katalog im Werk Polizianos in sämt‐ lichen Werken - von der Sylva in scabiem bis zu den Nutricia - eine herausra‐ gende Rolle zukommt, ist daher wenig verwunderlich. 86 2. Evidenz und Enzyklopädie: Polizianos ‚homerische‘ Poetologie 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos Im Folgenden sollen die an der Ilias-Übersetzung erarbeiteten poetischen und poetologischen Überzeugungen Polizianos - anschauliche Darstellung, enzyk‐ lopädischer Anspruch - und die dafür konstitutiven stilistischen Mittel, Ver‐ gleich und Katalog, auf ihre konkrete Umsetzung in den eigenständigen Dich‐ tungen überprüft werden. Dabei sollen drei Werke im Mittelpunkt stehen, die unterschiedlichen Schaffensphasen angehören und für diese charakteristisch sind. Als aussagekräftiges Beispiel für die Dichtung der Jahre vor der Berufung ans Studio wird die Sylva in scabiem (1479/ 80) untersucht. Für die ersten Jahren als dichtender Professor für Poetik wird die hexametrische praelectio zur vergi‐ lischen und hesiodischen Georgik, die Silve Rusticus (1483), Gegenstand der Analyse sein. Zuletzt sollen die Nutricia (1486) in den Blick genommen werden, die am Ende der dichterischen Betätigung Polizianos stehen und als versifizierte Literaturkritik den Autor als gereiften und renommierten Philologen zeigen. Für die jeweiligen Werke werden die Überschriften ‚Der Dichter als Maler‘, ‚Der Dichter als Fachmann‘ und ‚Der Dichter als Philologe‘ gewählt. Dabei lauten die Überschriften nach den vorherrschenden Charakteristika der Werke und der betreffenden Schaffensphase, bedeuten aber nicht klare Schnitte: In keiner Phase des Dichtens Polizianos fehlt eines der in der Ilias-Übersetzung entwickelten poetischen Merkmale - so ermangelt etwa weder die Sylva in sca‐ biem des philologisch-enzyklopädischen Zuschnitts noch die Nutricia vielfäl‐ tiger Formen von Anschaulichkeit. Gleichwohl lässt sich durch die behelfsmä‐ ßige Einteilung in drei Phasen eine Entwicklung beschreiben, die nicht nur Implikationen für das Bild des Dichters hat, sondern insbesondere den intellek‐ tuellen Werdegang des Gelehrten nachzeichnet. 3.1. Der Dichter als Maler: Sylva in scabiem Die frühen Dichtungen Polizianos zeichnen sich insbesondere durch ihren hohen Grad an Deskriptivität aus, weshalb die Arbeit des Dichters mit der eines Malers verglichen werden kann: Es geht vorrangig um die reiche Ausgestaltung eines Geschehens oder Zustandes, das hauptsächlich die Aufgabe hat, den Leser 1 Zum Zusammenhang der Gattung Silva zu Malerei und Skulptur in der Renaissance vgl. Séris 2013. 2 Hierzu z.B. Perosa 1946; Maïer 1966, 195; De Robertis 1974, 144-145; Orvieto 1989, 3- 4; Bettinzoli 1995, 39-65; Orvieto 2009, 166-186. 3 Bettinzoli 1995, 59 nannte die Sylva „trionfo dell’iperbole macabra e distruttiva, capo‐ lavoro dell’assurdo e viaggio ai confini ultimi della lingua“. vor dem Text zum Zuschauer vor dem Bild zu machen. 1 In der Ilias-Übersetzung ist deutlich geworden, dass Poliziano die anschauliche, zuweilen hyperbolische Darstellung sowohl des Moribunden und Hässlichen als auch des Hellen, Leuch‐ tenden und Schönen zum Gütesiegel ansprechender Dichtung erhoben hat. So liegt das Wechselspiel von ins Paradiesische gesteigerter Schönheit und wider‐ wärtiger Krankheit den frühen Dichtungen Polizianos konzeptuell zugrunde: In der Elegie auf den Tod der Albiera degli Albizi bricht das Krankhafte in Gestalt der Göttin Febris, eigene poetische Schöpfung Polizianos, über die überirdisch schöne Braut des Sigismundo della Stufa herein, in den Oden 8 und 9 (In puellam suam, In anum) werden durch Reihung schöner bzw. hässlicher Motive kata‐ logartig die schöne Jugend und das hässliche Alter kontrastiert; schließlich hat man die Stanze per la giostra und die Sylva in scabiem richtig als antiphrastische Gedichte aufgefasst, die trotz ihrer eklatanten Gegensätzlichkeit auf denselben schöpferischen Impuls - d.h. auf größtmögliche Anschaulichkeit in bonam wie in malam partem - zurückzuführen seien. 2 Exemplarisch für diese erste Phase des Dichtens soll das Gedicht auf die Krätze ausführlich besprochen werden, da es bereits aufgrund der metrischen und sprachlichen Form, des lateinischen Hexameters, ein geeignetes Vergleichs‐ objekt zur Ilias-Übersetzung bildet, vor allem aber, da es als perfekte Exempli‐ fikation sämtlicher darin entwickelter poetologischer Grundsätze Polizianos gelten kann. Die Sylva weist in struktureller, motivischer und sprachlicher Hin‐ sicht größte Gemeinsamkeiten mit der Ilias-Version auf. Sie setzt sich aus einer Vielzahl von Beschreibungen, Gleichnissen und katalogartigen Aufzählungen zusammen, die der in der Ilias-Übersetzung entwickelten Vorstellung poetischer Evidenz getreulich folgen. Das zweifellos hervorragendste Merkmal der Sylva ist die Widerwärtigkeit, mit der das Verhalten des Befallenen und die Krankheitssymptomatik geschil‐ dert werden. 3 Einen (zu) hohen Grad an Anschaulichkeit vermittelt etwa gleich der Beginn (vv. 1-11): Quae tam foeda lues, graciles delapsa per artus, ambustos lacerat nervos? quae tam impia diris vis inimica mali populatur viscera flammis marcentesque bibit venas avidoque, pavendum, 88 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos igne liquefactas sorbet furiosa medullas? An mihi Tartareum misera in praecordia virus Eumenides Stygiamque facem et, crudele, virentes oris Cerberei spumas rabiemque Chimaerae afflarunt? Totum videor gestare sub alvo Vesbion aut fessos Volcani incude caminos et Phlegetonteae glomerata incendia ripae. Was ist das für eine abscheuliche Krankheit, die durch die mageren Glieder herabsinkt und die geschundenen Muskeln zerfetzt? Was ist das für eine gottlose feindliche Macht, die mit Höllenfeuern in den Eingeweiden wütet, von den faulenden Adern trinkt und - schrecklich! - das Herz, vom gefräßigen Feuer zum Schmelzen gebracht, ausschlürft? Hauchen mir die Rachegöttinnen das Gift der Unterwelt in die kranke Brust und das stygische Feuer und - grausam! - den grünlichen Schleim des Zerberus und die Tollwut der Chimäre? Es kommt mir vor, als hätte ich den ganzen Vesuv im Magen, die Ambosse des Vulcan, wie sie unter seinen Schlägen mürbe werden, und die Feuersbrünste am Ufer des Phlegeton. Durch die plastische Ausführung der Krankheitssymptomatik soll freilich die emotionale Affizierung des Lesers, sein Mit-Leiden erreicht werden. Die absto‐ ßende Schilderung wirkt zwar infolge ihrer Drastik und ihrer thematischen Re‐ alitätsferne überzeichnet, behält aber insofern eine gewisse Nachvollziehbar‐ keit, als sie mit einer dynamischen und anschaulichen Metaphorik gestaltet ist: Die Abstrakta werden zu Agentia, es ist die scabies selbst, die in ihren Manifes‐ tationen (lues, vis inimica) zerfetzt, verwüstet, trinkt und schlürft. Durch die Dynamisierung und Dramatisierung des Bildes - auf der einen Seite die gefrä‐ ßige scabies, auf der anderen der umso hilflosere Kranke - wird die Anschau‐ lichkeit des Unansehnlichen bewirkt. Der Katalog der Fragen, die der Dichter ad se ipsum stellt, unterstreicht das Unmittelbare, Augenblickliche und letztlich Unsagbare des Ergriffenwerdens und dient so dem Einbezug des Lesers / Hörers in das beschriebene Geschehen. Diese Darstellungsweise wird Poliziano an anderer Stelle und in anderem Kontext wiederholen. Am Beginn der Nutricia beschreibt der Dichter in kon‐ zeptuell gleicher Weise das Ergriffenwerden seiner selbst durch den furor poe‐ ticus. Die Übeltäterin der Sylva, scabies, weicht hier zwar einer weit positiveren Gestalt, der augusta Poetica, doch ist die Hilflosigkeit des Ichs in beiden Szenen 89 3.1. Der Dichter als Maler: Sylva in scabiem 4 Nutr. 25-33: Quonam improba ducis / mens avidum? quo me, pietas temeraria, cogis / attonitum? Quinam hic animo trepidante tumultus? / Fallor, an ipsa aptum dominae prae‐ cordia munus / parturiunt ultro vocemque et verba canoro / concipiunt sensim numero, inlibataque fundunt / carmina nunquam ullis Parcarum obnoxia pensis? / Sic eat. En agedum, qua se furor incitat ardens, / qua mens, qua pietas, qua ducunt vota, sequamur. Vgl. Kap. B.3.2.1. 5 Hom. Il. 2, 484-493. durch dieselben gestalterischen Mittel zum Ausdruck gebracht. 4 Wie in der Sylva die zersetzenden Kräfte der Krankheit, agieren dort die Ausformungen des furor (improba mens, pietas temeraria, tumultus animi) ohne Zutun des Dichters, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Die Hilflosigkeit wird zudem wie in der Sylva durch anaphorisch gestaltete Fragen des Dichters an sich selbst zum Ausdruck gebracht. Die Passagen sind jeweils dreischrittig aufgebaut: Auf die Frage nach der Art des Ergriffenwerdens (quae, quae / quonam, quo, quinam) folgt Zweifel bzw. Vergewisserung (an mihi / fallor, an) und schließlich der Verlust jeglicher Selbstkontrolle und die Fügung ins Schicksal (videor / sic eat). Durch die lebhafte Schilderung wird dem Leser das Geschehen greifbar gemacht, wobei ein dezi‐ diert affektiver Gehalt zu vermitteln gesucht wird. Poliziano zeichnet aus der Ich-Perspektive einen emotionalen Prozess nach, der den Leser nicht nur zum Betrachter, sondern zum Mit-Fühler machen soll. Die Sylva erschöpft sich allerdings nicht in der Ausdrucksstärke ihrer Bilder. Um den epischen (oder mock-epischen) Charakter des Gedichts zu erfassen, eignet sich die Analyse des Parasitenkatalogs (vv. 180-221). Am Beginn des Schiffskatalogs hatte Homer die Musen gebeten, ihm bei der Nennung der grie‐ chischen Heerführer beizustehen, da er, unwissender Mensch, - und hätte er zehn Zungen und Münder - niemals alle würde aufzählen können. 5 Poliziano ruft zwar nicht die Musen zu Hilfe, gibt dafür aber die unnennbare Anzahl der Schädlinge in homerischen Gleichnissen wieder (vv. 180-185): Si vero infandae numeros aut nomina gentis percensere velis, vix tantus vere rubenti muscarum quondam populus mulctraria circum involitat stabulis, tenuique proboscide grandes diripiunt gutas ac lactea murmure rauco obscaenae volucres huc illuc pocula raptant; Wenn du aber die Menge und die Namen des unsäglichen Geschlechts herzählen willst - kaum ein so gewaltiges Fliegenvolk flattert im bunten Frühling über den Ställen und um die Melkkübel, wobei die garstigen Fliegen mit ihrem dünnen Rüssel große Tropfen rauben und unter heiserem Summen ihren Milchtrunk fortreißen. 90 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 6 Hom. Il. 2, 469-473. Vgl. Perosa 1954, 37: “Il poeta ha tratto la similitudine delle mosche dall’Iliade di Omero, […] ma ha ampliato con l’aggiunta di nuovi particolari il primitivo bozzetto omerico.” 7 Vat. lat. 3298 f. 12v. 8 Bigi 1967, 162. Der Katalog hebt an mit Worten, die Poliziano seiner Ilias-Übersetzung ent‐ nommen hat. Dort hatte er das homerische πληθὺν δ’ οὐκ ἂν ἐγὼ μυθήσομαι οὐδ’ ὀνομήνω (Hom. Il. 2, 488) übersetzt mit verum ego nec numero memorem nec nomine cunctos (Pol. Il. 2, 493). Das Gleichnis von den Fliegen am Melkkübel ist dem 2. Ilias-Gesang entlehnt, wo Homer die Menge griechischer Soldaten mit der Menge Fliegen auf einem Viehhof im Frühling vergleicht, ohne das Bild allerdings en detail, wie dies Poliziano in der Sylva tut, auszugestalten. 6 Am Rand der Übersetzung hatte Poliziano seiner Bewunderung über das Gleichnis Aus‐ druck verliehen, indem er notierte: comparatio in qua poetae ingenium elu‐ cescit. 7 Polizianos Version des homerischen Gleichnisses, die freilich stärker an das homerische Substrat gebunden war, hatte gelautet: Ac veluti innumerae pleno cum lactis ovili / muscarum gentes incumbunt vere sereno, / et volitant mulctras ingenti murmure circum […] (Pol. Il. 2, 474-476). Während die eigene Überset‐ zung im Fliegengleichnis der Sylva erkennbar reproduziert wurde, manifes‐ tieren sich weitere Charakteristika der poetischen Handschrift des Dichters. Die Schilderung des Possierlichen, die Personifikation kleiner Tiere und die minu‐ tiöse Beobachtung und Beschreibung ihrer Aktionen hat Poliziano, wie wir sahen, vornehmlich an vergilischen Tierschilderungen erlernt. Emilio Bigi hat hier, ohne allerdings auf den Einfluss der Gleichnistechnik Vergils hinzuweisen, die Veränderung am homerischen Substrat richtig erkannt, wenn er schreibt: “L’artista ha […] trasformato la pacata scena pastorale omerica in un piccolo vivacissimo e squisito dramma letterario, che ben si accorda con lo spi‐ rito generale del poemetto”. 8 Während Homer Griechen und Fliegen lediglich hinsichtlich ihrer Menge verglichen hatte, entwirft Poliziano im Gleichnis in aller Ausführlichkeit eine in sich stimmige und abgeschlossene Szenerie, die die Aufgabe hat, die Wirkungsweise der Parasiten abzubilden: Wie Fliegen am Melkkübel Milchtropfen rauben, so rauben die Schädlinge am ‚Melkkübel‘ Po‐ liziano Blutstropfen. Auffällig ist ferner, dass Poliziano dem philologisch-enzyklopädischen An‐ spruch gemäß die Einfügung ungebräuchlicher Begriffe vornimmt: Der Begriff mulctrarium für den Melkkübel kommt in der lateinischen Literatur lediglich ein einziges Mal vor (Verg. georg. 3, 177: mulctraria), der Begriff proboscis ist vornehmlich in historiographischer und naturwissenschaftlicher Prosa, nicht 91 3.1. Der Dichter als Maler: Sylva in scabiem 9 Vgl. z.B. Ps.-Caes. Bell. Afr. 84, 1-3; Flor. 1, 33; Plin. nat. 8, 18; 28, 88. Den Begriff proboscis gebraucht Poliziano auch bei seiner Inhaltswiedergabe des vergilischen Culex im In Stat. Sylv. 40, 14-19 (Cesarini Martinelli 1978a) für den Stachel der Mücke. Vgl. Orvieto 1989, 88. 10 Vgl. hierzu Perosa 1954, 37 z.St.: “Ricordò poi la versione di [Il.] B 469, che egli stesso aveva fatta alcuni anni prima (Vers. Il. 2, 474-6) […], ma, insoddisfatto della primitiva soluzione, cercò di variare sottilmente il contesto, sostituendo espressioni che riteneva troppo comuni, con voci più rare e perfino con un ἅπαξ […].” aber in der Dichtung zu finden. 9 Poliziano offenbart hier die beiden Hauptcha‐ rakteristika seines poetischen Stils, die zugleich für sein aemulatio-Verständnis konstitutiv sind: eine möglichst anschauliche Beschreibungskunst, gepaart mit anspruchsvollem, durch Fleiß erarbeitetem Fachvokabular. 10 In den nächsten Versen bis zum Beginn des Katalogs erweitert Poliziano das Gleichnis zum Doppelgleichnis. Erneut tritt der Vergleichsgegenstand hinter einem ausführlichen, vergilisch kolorierten Bild zurück (vv. 186-196): vix, ubi flaventes iam surrigit area messes, tam multae erumpunt caveis sudataque longum formicae ancipiti populantur forcipe farra: iamque attrita diu crebro pede gramina signans, terrigena ingreditur legio, repetitaque genti 190 graniferae innumero describitur orbita passu; instat nigra cohors operi: pars dura fatigat agmina, pars tremulis adnutans cornibus ultro itque reditque frequens; haec magnum versat acervum praedatrix, haec immodico sub pectore sudat, 195 astruit illa domi fruges atque horrea complet. Kaum auch brechen, wenn die Tenne schon worfelt den goldgelben Ernteertrag, so viele Ameisen hervor aus den Höhlen und plündern mit ihrer zweizinkigen Zange den mühsam erworbenen Dinkelhaufen: Schon marschiert die erdgeborene Legion einher, zeichnet das von ihrem vielfüßigen Marsch längst niedergewalzte Gras, und durch unzählige Schritte wird ein Pfad beschrieben, den das korntragende Volk wieder und wieder beschreitet. Es geht ans Werk die schwarze Kohorte: Der eine Teil lässt die Truppen nicht zur Ruhe kommen, der andere, das Haupt mit zitternden Fühlern nei‐ gend, kommt und geht unablässig. Die eine Ameise, eine Räuberin, durchpflügt den großen Haufen, die andere schwitzt unter ihrem winzigen Panzer, jene hortet zu Hause das Getreide und füllt die Scheuern. Das Gleichnis beginnt mit dem bereits aus der Ilias-Übersetzung bekannten Bild der worfelnden Tenne, das hier allerdings lediglich als Zeitangabe dient. Es of‐ 92 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 11 Verg. Aen. 4, 402-407 ist das thematische und vorrangig linguistische Modell; ergänzt wird die Passage durch weitere Versatzstücke, z.B. Stat. Theb. 4, 257; Ov. ars 1, 93-94. fenbart wiederum deutliche Anklänge an vergilische Motive und wörtliche Übernahmen aus dem Vergleich des wuseligen Aufbruchs der Trojaner von Karthago mit einem Ameisenvolk, das einen Kornhaufen plündert. 11 Poliziano bedient sich der von Macrobius als überlegen gekennzeichneten Gleichnis‐ technik Vergils: Er schildert die Arbeit der Ameisen in all ihren Facetten und vergleicht nicht, wie Homer im Bienen- oder Fliegengleichnis, lediglich hin‐ sichtlich eines einzelnen Vergleichsmoments, also etwa hinsichtlich der Bewe‐ gung oder der Zahl. Ferner ist die Fokussierung auf die einzelne Ameise (haec, haec, illa) vergilische Technik, die Poliziano bereits bei der Version des home‐ rischen Bienengleichnisses zur Anwendung gebracht hatte. Grotesk wird Poli‐ zianos Ameisengleichnis erst durch den Kontext: Während Vergil die arbei‐ tenden Karthager zu den fleißigen Ameisen in Beziehung setzte, ist das Treiben der Tierchen Polizianos, so possierlich und liebevoll es auch geschildert ist, de‐ struktiv und widerwärtig, befallen sich doch den ‚Kornhaufen‘ Poliziano. Nach der gleichnishaften Klärung der Wesens- und Wirkungsart der Para‐ siten hebt der Dichter zum Katalog an: Der Heerführer Lichobrotus (‚Blutlecker‘) führt eine lange Reihe von Kriegern in die Schlacht, die sämtlich griechische Namen tragen und meist mit ihren Attributen, d.h. mit ihrer besonderen ἀρετή vorgestellt werden. Die Nennung der unheilbringenden Soldateska ist ein frühes Meisterstück polizianischer Philologie (vv. 208-217): At regem, insanae feritatis laude superbus, consequitur, vivas haud segnis rodere carnes, Sarcophagus, semperque cavis habitare sub antris, 210 audax Troglodytes exturbatorque soporis Hypnophobus, teretes et Dactylotrocus acuto dente cavans digitos, cumque illis sanguine largo ebrius Haemopion, nec non Cheroglyphus omnem consuetus terebrare manum, capitisque nigrescens 215 texta Melancoryphus, residemque immobilis alvum scalpa manu rabida Lichenor vulnera lingens. Doch dem König, stolz auf den Ruhm, den er durch unmäßige Brutalität erworben, folgt Sarcophagus, emsig im Zernagen lebendigen Fleisches, und der kühne Troglo‐ dytes, stets bereit, in weiten Höhlungen zu hausen, und der Vertreiber des Schlafs Hypnophobus, und der schlanke Dactylotrocus, der mit scharfen Zähnen die Finger aushöhlt, und Haemopion, trunken von übermäßigem Blutgenuss, und auch Chero‐ 93 3.1. Der Dichter als Maler: Sylva in scabiem 12 Perosa 1954 z.St.; Cerri 1977b; dazu Orvieto 1989, 89-90. 13 Bigi 1967, 154; vgl. auch Perosa 1954, 38-39. glyphus, der die ganze Hand zu durchbohren versteht, und Melancoryphus, der schwarz wird am Haargeflecht des Scheitels, und nicht zuletzt Lichenor, der uner‐ schütterlich mit trägem Magen die manisch aufgekratzten Wunden ableckt. Für den Katalog hat man bislang mehrere konkrete Vorlagen, d.h. sowohl lin‐ guistische sowie übergeordnete thematische Modelle, ausfindig zu machen ver‐ sucht. So glaubte Perosa, im Katalog der Batrachomyomachie die Hauptvorlage gefunden zu haben, Cerri im Hundekatalog aus Ovids Metamorphosen. 12 Beide Vorschläge sind aufgrund zu geringer thematischer und sprachlicher Überein‐ stimmungen mit den Prätexten nicht restlos überzeugend. M.E. ist nicht daran zu zweifeln, dass Poliziano den Katalog prinzipiell nach dem homerischen Schiffskatalog bzw. nach seiner eigenen, an Vergil angelehnten Übertragung gestaltet hat, wie bereits die nahezu identische Übernahme der Unsagbarkeits‐ topik und die nachfolgenden homerischen Gleichnisse nahelegen. Bedeutsamer scheint mir allerdings das dem Katalog zugrunde liegende po‐ etische Postulat zu sein, das bereits in Polizianos Version des Schiffskatalogs deutlich wurde: Poliziano versucht sich mit artistischer Gewandtheit an einem philologisch äußerst anspruchsvollen Unterfangen: Entlegene und meist selbst erfundene griechische „Fachbegriffe“ werden auf engstem Raum in einen la‐ teinischen hexametrischen Katalog überführt, wobei allerdings - dies ist die wahre Herausforderung - der Leser nicht gähnen und also die nämliche variatio walten soll, die Poliziano bereits dem homerischen Schiffskatalog einge‐ schrieben hatte. Jeder der Schergen hat eine besondere ἀρετή vorzuweisen, was die bunte Truppe bei aller Monstrosität eher skurril als abstoßend wirken lässt und dem Leser ein sprachliches Spektakel bietet, von Bigi treffend als „elegan‐ tissimo e pittoresco orrore“ charakterisiert. 13 Ein weiterer Katalog, der unnützer Medikamente, zeugt vom Interesse des Dichters an der antiken Naturwissenschaft. Der Umstand, dass Poliziano eine metaphorische und literarisch übersteigerte, fiktive Krankheit beschreibt, bietet ihm die Möglichkeit, sein Wissen um die Medikationen antiker Fachschrift‐ steller gleichsam ex negativo unter Beweis zu stellen (vv. 27-34): Non medicae fomenta manus, non tristia prosunt pocula et epoti numeroso e gramine succi, unguinaque et lacrimae terebinthi et sulfura viva, argenti spumae cinerisque immixtus acervo 30 conspersusque in membra latex fluviive propinqui 94 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 14 Thematisches Modell ist die Beschreibung der Schafräude in Verg. georg. 3, 440-469; angereichert ist die Stelle durch Material aus georg. 2, 470-566, Plin. nat. 22, 222-228; 24, 27; Cels. 2, 31-32; 5, 27, 12; Diosc. 1, 71; vgl. Perosa 1954, 24-25 z.St.; Orvieto 1989, 72-73. 15 Colum. r.r. 6, 26: Verum vulnera eius sarmenticio cinere cum argenti spuma linenda sunt. Die Harzumschläge wurden bei verschiedenen Krankheiten von den antiken Ärzten und Naturwissenschaftlern empfohlen (vgl. z.B. Gal. Meth. Med. 10, 393 K.; Diosc. 1, 71; Plin. nat. 24, 27). lympha natata diu, nepetae malvaeque virentes, et fumus terrae et gelido sal fusus aceto milleque iam fessis medicamina condita ahenis. Nicht nützen medizinische Umschläge, nicht ekle Tränke, nicht geleerte Becher zahl‐ reicher Kräutersäfte, nicht die Fette, nicht das Harz der Terebinthe und nicht flüssiger Schwefel, nicht das Salben des Körpers mit einer Flüssigkeit, der Silberschaum bei‐ gemischt ist und eine Menge Asche, oder das lange Schwimmen im nahegelegenen Fluss, auch nicht Katzenminze und nicht blühende Malven, nicht der Dampf von Erde und nicht Salz in Essiglösung und auch nicht tausende Arzneien, die in alten Bron‐ zekesseln zubereitet werden. Die Liste der Medikamente speist sich neben einschlägigen vergilischen Pas‐ sagen aus Besprechungen antiker griechischer wie lateinischer Fachschrift‐ steller, wo für verschiedene Krankheiten Heilungsmöglichkeiten vorgeschlagen werden. 14 Wir sehen hier den Übersetzer der Ilias am Werk, der mit großem Rechercheaufwand und philologischem Eifer an die Wiedergabe des techni‐ schen Vokabulars schreitet, das er den Werken einschlägiger Autoren entnimmt. Besonders kunstreich sind die Verse 29-30 gestaltet, die einen vergilischen Vor‐ schlag gegen die Schafräude (georg. 3, 449: et spumas miscent argenti et sulpura viva) mit Harzumschlägen und einer Rezeptur aus Silberschaum und Asche kombinieren, die Columella zur Heilung von Kastrationswunden bei Bullenk‐ älbern empfohlen hatte. 15 An den Katalog nutzloser Medikamente schließt sich der Katalog hilfloser mythischer Ärzte an. Hier lassen sich exemplarisch Verbindungslinien von Homer-Annotation, eigenständiger Dichtung und philologischer Kommentie‐ rung nachweisen, die den scharfen Trennungen zuwiderlaufen, die man ver‐ schiedentlich zwischen Polizianos früher Dichtung und seiner späteren philo‐ 95 3.1. Der Dichter als Maler: Sylva in scabiem 16 Hierzu Cesarini Martinelli 1978b, 98. Vgl. auch die Einführung der Arbeit. Die Ein‐ schätzung von Orvieto 1989, 72, es handle sich hier um „una ancora estremamente precaria frequentazione dei più rinomati auctores della medicina e rerum rusticarum (Celso, Catone, Varrone e Columella), interessi che caratterizzeranno gli anni 1490-93“, bedarf insofern der Modifikation, als die Beschäftigung mit den naturwissenschaftli‐ chen Disziplinen, d.h. ihre philologische Erschließung, bereits in der Ilias-Übersetzung alles andere als marginal gewesen war. 17 Cesarini Martinelli 1978b. Vgl. z.B. 125: “[…] nel Commento si riscontrano centri di interesse che fanno capo alle più diverse discipline e che rappresentano quasi dei pro‐ grammi di ricerca che il Poliziano andrà sviluppando negli anni successivi.” 18 In Stat. Sylv. 329, 11-23 (Cesarini Martinelli 1978a). 19 Dies ist eine Verschreibung: Bei Eustathios liest man Τρίκκαλα (vgl. nächste Anm.). logischen Arbeit postuliert hat. 16 Lucia Cesarini Martinelli trat diesen Schematisierungen bekanntlich überzeugend entgegen, indem sie in der In Statii Sylvas tumultuaria commentatio (Commento alle Selve di Stazio) von 1480/ 81 den Brennspiegel der poetischen und philologischen Betätigung des jungen und die Grundlegung zum Kommentarwerk des gereiften Poliziano sah. 17 M.E. ist es allerdings geboten, früher zu datieren: Polizianos exegetisches Programm phi‐ lologisch-enzyklopädischen Zuschnitts wird nicht erst im Silvenkommentar de‐ finiert, sondern ist die Frucht seiner theoretischen und praktischen Auseinan‐ dersetzung mit dem homerischen Werk. Den methodischen und inhaltlichen Zusammenhang von Ilias-Annotation, Sylva in scabiem und Silvenkommentar können zwei Beispiele aus dem Ärzte-Katalog hinreichend erhellen. Da sind zunächst die Ärzte Machaon und Chiron, deren Kuren angesichts des Ausmaßes der Krankheit fruchtlos bleiben (35-37): Ipsa Machaoniae trepidant ad munera curae, ipse mihi Chiron […] astupet […]. In Silva 1, 4 hatte Statius über die schnelle Genesung des Rutilius Gallicus, Widmungsträger des Gedichts, geschrieben (112-114): […] citius non arte refectus / Telephus Haemonia, nec quae metuentis Atridae / saeva Machaonio coierunt vulnera suco. Im Kommentar zur Stelle knüpft Poliziano an das Lemma Machaonio eine kurze Besprechung der bedeutendsten griechischen Ärzte des Mythos: 18 M A C HA O N I O E T C . Duo apud Graecos erant insignes medici: Podalirius, qui circa di‐ aetam versabatur, et Machaon, qui circa vulnera, reges Tricces, Thessalicae urbis, quae deinde Triccen 19 est appellata. Erat autem magis militaris Machaon, ut etiam nomen indicat, utrique Aesculapii fili, qui Chironis fuit discipulus. Chiron vero inventor et medicinae et lyricae, Saturni et Philyres filius, unus e Centauris, unde ‘Chironea ul‐ cera’, quae difficulter sanantur, quoniam ea curare docuit Chiron. Haec Eustathius in IIII. Homerus in Catalogo: Quos dedit hinc Tricce, quosque aspera misit Ithone, venit et Eurythi Oechaliam quicunque reliquit: 96 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 20 Eustath. Comm. Il. 4, 193-194 (van der Valk 1, 732, 22-733, 7): (v. 193) Ὅτι δυὸ ὄντων ἐπιφανῶν Ἕλλησιν ἰατρῶν, Ποδαλείριος μέν, οὗ ἡ ἐτυμολογία προγέγραπται, περὶ δίαιταν ἐπονεῖτο, Μαχάων δὲ περὶ τραύματα εἶχε, Τρίκκης καὶ αὐτὸς ἄρχων, πόλεως Θετταλικῆς, ἥν, ὡς καὶ ἐν Βοιωτίᾳ ἐγράφη, ἄρτι Τρίκκαλά φαμεν, καλουμένην καὶ αὐτὴν ἱππόβοτον, ὡς ὁ ποιητὴς λέγει, ἐπεὶ καὶ Ἄργος ἱππόβοτον ἔγνωμεν οὐ μόνον τὴν Πελοπόννησον, ἀλλὰ καὶ τὰ κατὰ Θετταλίαν. ἦν δὲ στρατιωτικώτερος ὁ Μαχάων, ὡς καὶ ἡ κλῆσις ὑποδηλοῖ. (v. 194) Ἄμφω δὲ Ἀσκληπιάδαι ἦσαν, ἤτοι παῖδες Ἀσκληπιοῦ ἀμύμονος ἰητῆρος, ὥς φησιν ὁ ποιητής. Ἀσκληπιὸς δὲ Χείρωνος μαθητής, Χείρων δὲ εὑρετὴς ἰατρικῆς καὶ λυρικῆς, υἱὸς Φιλύρας καὶ Κρόνου, εἷς τῶν Κενταύρων, ἐξ οὗ Χειρώνεια ἕλκη τὰ δυσαλθῆ, ἃ δηλαδὴ Χείρων κατέδειξε θεραπεύεσθαι. 21 Zu Pol. Il. 2, 746, Vat. Lat. 3298 f. 18r: Podalirius mg. d. Machaon mg. d. (Megna 2009, 32); zu Pol. Il. 4, 225-226, Vat. Lat. 3617 f. 9r: Machaon Esculapii mg. d. (Megna 2009, 64). 22 Pol. Il. 4, 256, Vat. Lat. 3617 f. 9r (Megna 2009, 66). 23 Zu Pol. Il. 4, 236 (Hom. Il. 4, 202), Vat. Lat. 3298 f. 9r mg. d. (Megna 2009, 64). hos medici armarunt Podalirius atque Machaon, quos genuit Phoebo nymphaque Coronide cretus. Bei den Griechen gab es zwei berühmte Ärzte: Podalirius, der sich mit diätetischer Behandlung beschäftigte, und Machaon, der sich mit Wundbehandlung beschäftigte, Könige von Trikke, einer Stadt in Thessalien, die später Trikke [Trikkala] genannt wurde. Machaon war aber eher Soldat, wie schon sein Name nahelegt, beide waren Söhne des Aesculap, der Schüler des Chiron war. Chiron wiederum ist der Erfinder der Medizin wie der Lyrik, Sohn des Saturn und der Philyra, einer der Zentauren, woher die ‚Chironischen Wunden‘ kommen, die man nur schwer heilen kann, weil Chiron lehrte, wie man sie behandelt. Soweit Eustathius im 4. Buch [seines Ilias-Kom‐ mentars]. Homer im Katalog: Und welche [Männer] da Trikke hergab und welche die raue Ithome, / und wer auch immer kam und Oichalia, die Stadt des Eurythos, verließ: / Diese wurden ausgerüstet von den Ärzten Podalirius und Machaon, / die der Sohn des Phoebus und der Nymphe Koronis [Asklepios] zeugte. Poliziano gibt als Quelle für sein Wissen über die antiken Ärzte den Ilias-Kom‐ mentar des Eustathios an, dessen Besprechung von Hom. Il. 4, 193-194 er hier teilweise übersetzt. 20 Diese war bereits die Quelle für die Randnotizen der Ilias-Übersetzung gewesen: Poliziano hatte Machaon neben dem Arzt Podalirius bei deren Nennung im Schiffskatalog am Rande vermerkt (Hom. Il. 2, 732) und das Abstammungsverhältnis Machaons von Asklepios bei seiner weiteren Nen‐ nung im 4. Gesang angegeben, wo er sich um den infolge des Pfeilschusses des Pandaros verletzten Menelaos zu kümmern hatte (Hom. Il. 4, 193-194). 21 Zu Chiron in Hom. Il. 4, 219 bemerkte er: Chiron Esculapii magister. 22 Auch Polizi‐ anos Notiz zur Stadt Trikke (Trice apta equis) ist der Eustathios-Stelle ent‐ nommen. 23 Als Poliziano im Silvenkommentar die Erklärung der mythischen 97 3.1. Der Dichter als Maler: Sylva in scabiem 24 In Stat. Sylv. 623, 17-22 (Cesarini Martinelli 1978a); Übersetzung des Homertextes Scha‐ dewaldt 1975, 50. 25 Zu Pol. Il. 3, 188-189, Vat. Lat. 3298 f. 27r mg. d. (Megna 2009, 43). 26 Cod. Laur. Aquist. e don. 233 f. 205v. Ärzte vornahm, hatte er das Quellenmaterial durch die Erschließung des ho‐ merischen Schiffskatalogs und der Verwundungsszene des Menelaos also längst zusammengebracht. Eine Verbindungslinie von Annotation, Dichtung und Kommentar lässt sich auch für den letzten glücklosen ärztlichen Helfer neben Hebe nachweisen: Po‐ cula non sapiunt, non si mihi nectaris imbrem / Sangarius puer aut Iunonia porrigat Hebe (Sylva 45-46). Nicht einmal göttlicher Nektar, dargereicht von Hebe und dem ‚Sangarischen Knaben‘, schmeckt dem Leidgeplagten. Aus Polizianos Dar‐ legungen im Silvenkommentar zu Stat. silv. 3, 4, 40-42 ([…] cedet tibi Latmius ultro, / Sangariusque puer, quemque irrita fontis imago / et sterilis consumpsit amor) ist klar, dass sich hinter dem Toponym des zweiten Mundschenks Gany‐ medes verbirgt: 24 S A N G A R I U S . Ganymedes est Phryx, non Attis, ut ait Domitius. Homerus in tertio ex persona Priami: ἤδη καὶ Φρυγίην εἰσήλυθον ἀμπελόεσσαν, ἔνθα ἴδον πλείστους Φρύγας ἀνέρας αἰολοπώλους λαοὺς Ὀτρῆος καὶ Μυγδόνος ἀντιθέοιο, οἵ ῥα τότ’ ἐστρατόωντο παρ’ ὄχθας Σαγγαρίοιο. Ganymedes ist Phryger, nicht Attis, wie Domitius meint. Homer im 3. Buch [der Ilias] in der Person des Priamos: Einst bin ich auch nach Phrygien gekommen, dem weintragenden: / Da sah ich in Mengen phrygische Männer, rossebewegende, / Die Völker des Otreus und Mygdon, des gottgleichen, / Die damals ihr Heerlager hatten an den Ufern des Sangarios [Hom. Il. 3, 184-187]. Die Erklärung, warum Ganymedes Phryger sein müsse, wenn er bei Statius als ‚Junge vom Fluss Sangarios‘ bezeichnet wird, hatte Poliziano bereits parat: An den Rand der zitierten Ilias-Stelle hatte er Sangarius flumen Phrygiae gesetzt. 25 Im Zitat korrigiert Poliziano den Silvenkommentar des Domizio Calderini, der im Sangarius puer fälschlicherweise den Kybele-Liebling Attis gesehen hatte. 26 Die eigene Dichtung wird bereits hier, wie später in fortschreitendem Maße, zum Instrument der Philologie: Nicht trotz, sondern aufgrund des Versehens des Domizio Calderini wird Ganymedes hier toponymisch genannt und damit die Richtigkeit der eigenen Lesart bekräftigt. 98 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 27 Del Guerra 1960. 28 Perosa 1954, 52; Bigi 1967, 153-154; Bettinzoli 1995, 39-65. Weitere bei Leuker 1997, 96. 29 Hill Cotton 1963, 68 Anm. 3: “The subject is too grim and too sentito to be considered a youthful pastime.” 30 Orvieto 1989, 1-64. 31 Wiener 2015. 32 Leuker 1997, 96-133. Abschließend möchte ich mich der noch immer leidenschaftlich geführten Kontroverse um Intention und Anlass der Sylva zuwenden. Überholt ist die ‚kli‐ nische‘ Lesart des Gedichts, die der Medizinhistoriker Giorgio Del Guerra zu Beginn der 60er Jahre vorschlug, als er die scabies mit der Syphilis identifizierte, die Sylva als Erzeugnis des von der Krankheit schwer gezeichneten und bereits delirierenden Poliziano verstand und sie auf das Todesjahr des Dichters 1494 datierte. 27 Zu einem gegensätzlichen Ergebnis war Alessandro Perosa ge‐ kommen, der die Sylva 1954 erstmals edierte: Er wertete sie als literarisches Spiel, als „dotto passatempo del dottissimo letterato“, worin er zahlreiche Par‐ teigänger gewann. 28 Doch auch gegen diese Interpretation bildete sich eine Front von Forschern, die in der scabies eine metaphorische Krankheit und ein der Sylva zugrunde liegendes biographisch bedingtes, ernstes Anliegen zu erkennen glaubten. 29 Paolo Orvieto wiederum sah die Sylva als versifizierte Pathologie des an melancholia leidenden Dichters, der seine psychischen Krankheitssymptome - insania, furor und ira - allegorisch hinter körperlichen verberge. 30 Hiergegen argumentierte jüngst mit guten Gründen Claudia Wiener, die vorschlug, die scabies als metaphorischen Ausdruck dichterischen Leidens zu verstehen, d.h. als Ausdruck der Kümmernis des Dichters, der einen großen Stoff behandeln und dafür seinen Mäzen, den medicus Lorenzo, in die Pflicht nehmen will. 31 Die Wechselbeziehung von Dichter, Dichtung und Mäzen ist in der Tat in den bis‐ herigen Interpretationen des Gedichts nicht hinreichend zu ihrem Recht ge‐ kommen: M.E. ist die Sylva, die als Ausdruck des poetologischen Programms Polizianos zu gelten hat, das Werbegedicht eines Dichters, der aus nicht explizit genannten Gründen auf seine dichterische Expertise aufmerksam macht und den Bund mit seinem Mäzen zu erneuern sucht. Die unverkennbare Nähe zur Ilias-Übersetzung resultiert daraus, dass sich der Dichter der Sylva auf seinen gefeierten Erstling und damit auf das früher erworbene Renommee des home‐ ricus adulescens beruft. Wenn Poliziano die Sylva in den Exilsjahren 1479/ 80 geschrieben hat, wie Leuker schlüssig argumentierte, so muss sie als Rückbe‐ werbung an den Hof Lorenzos verstanden werden. 32 Gerade der werbende Cha‐ rakter der Sylva ist es, der die Frage nach dem Verhältnis von ernstem Anliegen und literarischem Spiel beantworten kann. Der ernste Anlass der Sylva schließt 99 3.1. Der Dichter als Maler: Sylva in scabiem 33 Leuker 1997, 116-117. das literarische Spiel keineswegs aus, im Gegenteil: In der gelehrten und an‐ ziehenden Spielerei liegt der Sinn des Gedichts, da der Dichter vollumfänglich all das zur Schau stellt, was er am erfolgreichen ersten Werbegedicht, der Ilias-Übersetzung, erlernt und wofür er Ruhm geerntet hat. Nicht umsonst be‐ ginnt er die eigene Aretalogie am Ende der Sylva mit dem Verweis auf seine erste Heldentat (vv. 245-248): Ille ego sum, o socii, quanquam ora animosque priores Fortuna eripuit, qui quondam heroa canendo proelia et exhaustos Rhoeteo in Marte labores, ibam altum spirans […] Ich bin es doch, Freunde, der einst - hat mir Fortuna auch die Stimme und die frühere Empfindung fortgerissen - nach Hohem strebte, als ich epische Schlachten besang und das aufreibende Kriegsgetümmel vor Troja. Flehend und insofern überaus beredt wirkt die Ovidreminiszenz dieser Verse, die sich thematisch und sprachlich an einer Passage aus Ovids Epistula ex Ponto 4, 3 orientiert. 33 Die einleitende Junktur Ille ego sum bringt den elegischen Cha‐ rakter der Verse zum Ausdruck: An Lorenzo gewandt bittet Poliziano um Rück‐ kehr. Dass Lorenzo Polizianos Bitte nachgekommen ist, ja ihn sogar noch im Jahr 1480 nach Florenz zurück und als Professor ans Florentiner Studio berufen hat, ist bekannt. In den ersten Jahren seines akademischen Wirkens ersetzte Poli‐ ziano die übliche in Prosa gehaltene akademische Vorrede zu den Vorlesungen, in der in den Gegenstand eingeführt wurde, durch hexametrische Silvae: Neben Manto (1982, über Vergil), Ambra (1485, über Homer) und Nutricia (1486) ver‐ fasste er den Rusticus, praelectio des Jahres 1483 zur Vorlesung über Vergils Georgica und Hesiods Erga kai hemerai. 3.2. Der Dichter als Fachmann: Rusticus War in der Sylva in scabiem die anschauliche Darstellung das vorherrschende Charakteristikum, so ist es im Rusticus die Zurschaustellung fachmännischen Wissens auf dem Gebiet der Landwirtschaft. Schon dies legt die Vermutung nahe, dass der tiefere Grund für die Abfassung des Gedichts die aemulatio ve‐ terum und insbesondere diejenige Vergils war. Hatte Vergil komplizierte Wei‐ sungen an den Landmann im eleganten Hexameter ausgedrückt, sucht Poliziano 100 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 34 Vgl. Bianca 2007, 101-103; Perosa 1955, 25-27; Maïer 1965, 353-355. 35 Übersetzung Schönberger 1992, 31. seinen Vorgänger hinsichtlich Komplexität und landwirtschaftlicher Kenntnis, freilich ebenfalls in hexametrischer Bindung, noch zu übertreffen. Ein wichtiges Instrument für die Abfassung seines Rusticus war die Sammlung der Scriptores rei rusticae, die auf die Initiative Giorgio Merulas zurückging, 1472 in Venedig von Nicolas Jenson gedruckt wurde und die Werke des älteren Cato, Varros, Columellas und des Palladius beinhaltete. Poliziano benutzte sein Exemplar (Inc. Rés. S. 439) ab 1482 bis nachweislich 1493 für den Abgleich der darin erhaltenen Texte mit der handschriftlichen Überlieferung. In die Abfassungszeit des Rus‐ ticus fällt die Kollation der Texte Catos und Varros, später folgten Columella und Palladius. 34 Der Einfluss der Scriptores im Rusticus macht sich insbesondere in terminologisch und fachkundlich anspruchsvollen Passagen bemerkbar. Ein Beispiel bietet die Schilderung des Worfelns, das hier exakter, weil freier als in der Ilias-Übersetzung und ausführlicher als in der Sylva in scabiem geschildert ist (vv. 145-148): 35 aestas congestos Cereris tritura maniplos, aestas absconsum siliqua excussura legumen, aestas qua grandes expectant horrea messes, dum coacervatas eventilet area fruges. […] der Sommer, der die gesammelten Garben der Ceres ausdrischt, der Sommer, der verborgene Hülsenfrüchte aus der Schote schlagen wird, der Sommer, in dem die Scheuern mächtige Ernten erwarten, während die Tenne das aufgehäufte Korn im Wind von der Spreu löst. Thematisch orientiert sich der Dichter an Beschreibungen des Worfelns bei Vergil. So rät der römische Dichter, jedes zweite Jahr auf der Tenne Spelt aus‐ zusäen, „wo du vorher üppige Hülsenfrüchte in rasselnden Schoten geerntet hast“ (Verg. georg. 1, 74-76: unde prius laetum siliqua quassante legumen […] sustuleris), oder nackt zu pflügen und zu säen, wenn „in der Sommerhitze das rötliche Korn geschnitten wird und die Tenne die trockene Frucht drischt“ (Verg. georg. 1, 297-298: at rubicunda Ceres medio succiditur aestu, / et medio tostas aestu terit area fruges). Für Polizianos Überbietungswillen beispielhaft ist die klassisch nur einmal bei Quintilian belegte Form absconsum (statt absconditum): Das ent‐ legene Wort ersetzt das vergilische laetum und verleiht dem Vers so eine tech‐ nischere Note. Der 3. Vers des Zitats verdankt sich einem Vers aus der Episode um den wütigen kalydonischen Eber in Ovids Metamorphosen (8, 293): et frustra expectant promissas horrea messes. Während das metrische Gerüst der ersten drei 101 3.2. Der Dichter als Fachmann: Rusticus 36 Varro, rust. 1, 55, 6: in acervis iactando ventilare oportet; Colum. r.r. 1, 6; 2, 10. 37 Übersetzung Schönberger 1992, 31. Zu den Quellen Bausi 1996, 57-58 z.St. 38 Verg. georg. 2, 260-261: His animadversis terram multo ante memento / excoquere et magnos scrobibus concidere montes; 2, 399-400: solum scindendum glaebaque versis / aeternum frangenda bidentibus; Colum. r.r. 4, 14: Insequitur deinde fossor, qui crebris bidentibus aequaliter et minute soli terga comminuat. Verse also nahezu ausnahmslos hexametrischen Modellen entnommen ist, schreitet Poliziano im letzten Vers über einschlägige Beschreibungen des Wor‐ felns bei Vergil hinaus. Hier nun findet sich ein Detail, das den landwirtschaft‐ lichen Autoren entnommen wurde und bei Vergil fehlt: Für die Darstellung der ventilatio des aufgehäuften Korns greift Poliziano auf Columella und Varro zu‐ rück. 36 Der aemulatio-Charakter des Rusticus wird ferner sichtbar in der Beschrei‐ bung des Pflanzens junger Weinreben. In den Versen 130-139 orientiert sich Poliziano in erster Linie wieder an Vergil, emanzipiert sich aber stärker noch als im vorhergehenden Zitat von seiner Vorlage: 37 et montem caedit scrobibus fortique bidenti 130 terga soli frangit; Bachaeaque semina rectum explicat in quincuncem et disserit ordine longo, atque iterum atque iterum terra capita ima frequentat et ramos tondet falce, atque impune fluentem compescit vitem fingens et robore fulcit 135 deciduam caraeque haerentem in pectore matris acclinat subolem sulco iuxtaque propagat, aut ipso durus genetricis ab ubere flentis abscissam rapit atque alio traducit alendam. Auch gräbt er Pflanzlöcher in den Hügel, bricht mit dem mächtigen doppelzinkigen Karst Erdbuckel, pflanzt die Jungreben in gerader Linie wie die Würfelfünf und setzt sie in langen Reihen in Löcher. Und immer wieder hackt er die Erde tief um die Wur‐ zeln auf, beschneidet Ranken mit der Hippe, zähmt und formt den wallenden Wein‐ stock, ohne zu schaden, und stützt ihn, wenn er fällt, mit einem kräftigen Pfahl. Den Schößling, der an der Brust der geliebten Mutter hängt, zieht er zur Furche herab und läßt ihn neben der Mutter Wurzeln treiben oder trennt ihn grausam sogar vom Busen der weinenden Mutter und bringt ihn anderswohin zur Aufzucht. Während die ersten beiden Verse hauptsächlich vergilisches Kolorit tragen, dennoch aber fachmännische Junkturen aus Columellas Res rusticae verarbeiten, fällt im 3. Vers des Zitats das vergilische Modell aus. 38 Die Empfehlung, die Jungreben wie die Würfelfünf zu pflanzen, wurde nicht von Vergil in den Ge‐ 102 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 39 Varro, rust. 1, 7, 2; Colum. r.r. 3, 15. 40 Verg. georg. 2, 23-27; Colum. arb. 7, 1; Pol. In Verg. Georg. 97 (Castano Musicò 1990); vgl. Bausi 1996, 58 z.St. 41 Übersetzung Schönberger 1992, 37. orgica gegeben, sondern von Varro und Columella in den Res rusticae. 39 Erneut ‚ergänzt‘ Poliziano Vergil um ein fachmännisches Detail, das er Prosaautoren entnimmt und hexametrisch in den Vers einbindet. Noch in anderer Hinsicht als in fachmännisch-enzyklopädischer sucht er sein Vorbild zu übertrumpfen, und zwar auf anschaulich-affektiver Ebene. Die zi‐ tierte Passage verbindet fachmännische Anweisung mit einer einfühlsamen personifizierenden Schilderung der Schösslingszucht (vv. 136-139). Der Dichter gibt hier zwei Verfahren der Sprossung wieder - Senkung und Stecklingsschnitt -, über die er bei Vergil und Columella gelesen hatte und die er später im Kom‐ mentar zu den Georgica nochmals erläutern wird. 40 Das Abschneiden des Steck‐ lings hatte Vergil so wiedergegeben (georg. 2, 23-24): hic plantas tenero abscin‐ dens de corpore matrum / deposuit sulcis […]. Sicherlich hat die vermenschlichte Schilderung des Vorgangs (mater, corpus tenerum) Poliziano die Idee zu einer eigenen Version elegischen Ausmaßes eingegeben. Schmerzensreich wird die Trennung des Sprösslings vom Mutterstamm erzählt, zur Grausamkeit gerät die Tat des Winzers. War der Fechser bei Vergil vom Körper (corpus) der Mutter abgeschnitten worden, wird er nunmehr vom herzlosen Landmann der he‐ genden Umarmung (pectus, uber) der weinenden Mutter entrissen. Poliziano steigert die vergilische Version der Sprossung zu einer grausamen Tat, indem er die Akteure - Landmann, Mutter, Sprössling - in ein emotionales Gefüge bringt. Diese Technik hat der Dichter in der Ilias-Übersetzung entwickelt: In ähnlicher Weise war dort etwa der Westwind als Aggressor aufgetreten, der in das Korn‐ feld fährt und den Ähren das Genick bricht. Eine besonders preziöse Darstellung und zugleich ein vorzügliches Exempel für überbietende Anschaulichkeit bietet Polizianos Beschreibung des Schweins, an dessen Zitzen kleine Ferkel saugen, während es mit seinem Rüssel nach Wurzeln gräbt (vv. 249-253). Das Bild der Schweine ist dem vergilischen Katalog von Vorzeichen entnommen, an denen man bei Regen die Wiederkehr des hei‐ teren Himmels ablesen könne. Dann nämlich, so Vergil, falle es den Schweinen nicht ein, mit ihrem Rüssel Strohbündel zu zerpflücken und herumzuschleudern (1, 399-400: […] non ore solutos / immundi meminere sues iactare maniplos). Po‐ liziano nimmt das vergilische Bild zum Anlass, eine minutiöse Studie über das Wesen des Schweins vorzustellen (vv. 249-253): 41 Bruta gregem plenum densis alit uberibus sus 103 3.2. Der Dichter als Fachmann: Rusticus 42 Plin. nat. 8, 207; Colum. r.r. 7, 9, 7; Varro, rust. 2, 4, 15; vgl. Bausi 1996, 69-70. 43 Pferd: vv. 263-282; Hahn: 389-418. 44 Z.B. vv. 153-171: Weinlese; Flecht-, Flick- und Reinigungsarbeiten; 342-366: Weinfest; winterliches Nachbarschaftsfest. Exporrecta solo et grunnitu allectat amico Fellantes turpique luto se immunda volutat; Radices eadem calloso avidissima rostro Eruit et bulbum aut madida se pulte saginat. Die schwere Sau nährt, am Boden ausgestreckt, den ganzen Wurf mit ihrem vollen Euter, lockt mit freundlichem Grunzen die Säuger, und das schmutzige Tier wälzt sich in garstigem Kot, gräbt aber voller Gier Wurzeln oder eine Zwiebel mit seiner harten Schnauze aus oder mästet sich am Brei aus eingeweichter Kleie. Das vergilische Bild ist kaum wiederzuerkennen: Es ist detailreich ausge‐ schmückt und mit fachgerechten Schilderungen schweinischer Verhaltens‐ weisen angereichert, wie sie von Plinius, Varro und Columella beschrieben worden sind. 42 Dies erklärt die possierlich-anschauliche Studie des Schweins einerseits, den technischen, prosaischen Charakter der Verse andererseits. Insgesamt nehmen Tierbeschreibungen im Rusticus eine hinsichtlich ihrer Ausführlichkeit hervorragende Position ein. Sie tragen sämtlich dem Prinzip einer teils authentischen, teils possierlichen Anschaulichkeit Rechnung. Nen‐ nenswert sind etwa die liebevoll als „Flügelwesen mit flammentragendem Hin‐ tern“ (flammigero parvae stellantes clune volucres) beschriebenen Glühwürm‐ chen (v. 341) oder die Schilderung der alten Bauersfrau, die am Ei horcht, ob „das Küken zwitschert oder mit dem weichen Schnabel schon gegen die Schale pickt“ (vv. 418-425, hier 423-424: [anus] sollers auscultat an intus / pipiat involucer pullus). Authentisch und gleichsam aus autoptischer Erfahrung hervorgegangen wirken hingegen die Schilderungen des Pferdes und der Hähne, wo das Nied‐ liche einer phänotypisch und terminologisch möglichst exakten Beschreibung gewichen ist. 43 Ein weiteres Merkmal, das im Rusticus besonders zu Tage tritt und aus Poli‐ zianos Evidenztheorie abzuleiten ist, ist der Entwurf von Genrebildern. Die Technik bleibt prinzipiell dieselbe wie bei den detailgenau ausgeführten Tier- oder Naturbeschreibungen, mit dem Unterschied, dass nunmehr Menschen bei ihrer alltäglichen Arbeit oder bei ländlichen Festen und Zusammenkünften be‐ schrieben werden. 44 Die Genrebilder folgen einem festen Prinzip, das bereits in der Schilderung des Schweins sichtbar wurde: Meist ist das Bild bei Vergil prä‐ figuriert, sodann wird es durch Zusammensetzung thematisch und sprachlich (zuweilen auch metrisch) geeigneter Versatzstücke aus weiteren Autoren bunt 104 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 45 Verg. georg. 1, 300-302: frigoribus parto agricolae plerumque fruuntur / mutuaque inter se laeti convivia curant. / Invitat genialis hiems curasque resolvit. 46 Lucr. 2, 618-620: tympana tenta tonant palmis et cymbala circum / concava, raucisonoque minantur cornua cantu, / et Phrygio stimulat numero cava tibia mentis […]; Lucr. 2, 637: armati in numerum pulsarent aeribus aera. Zu den Quellen ausführlich Bausi 1996, 80 z.St. 47 Übersetzung Schönberger 1992, 41. ausgemalt und so zu überbieten versucht. Ein besonders glückliches Beispiel für Polizianos Wetteifer ist die Beschreibung eines Festes (vv. 352-365). Vergil schreibt in den Georgica, dass der Winter den Landmann seiner Mühen und Sorgen enthebt und ihm Zeit für nachbarschaftliche Zusammenkünfte bringt. 45 Die knappe Skizze wird vom Florentiner aufgenommen und zu einem rausch‐ enden Nachbarschaftsfest gesteigert. Zunächst malt er Eiszapfen ans Dach des Landhauses und türmt einen stattlichen Holzstoß aufs Feuer. In dieser winter‐ lichen Behaglichkeit treffen sich nun die Nachbarn, trinken Wein, erzählen sich Geschichten und musizieren gemeinsam; bei Gesang, Tanz und Gelächter bläst man die Flöte, stößt in die Trompete, schlägt Trommeln und Zimbeln. Für die kammermusikalische Untermalung des Winterfestes orientierte sich Poliziano thematisch und lautlich an der Musikentstehungslehre bei Lukrez, wohinein er ovidische, vergilische und statianische Klangschilderungen mengt. 46 In der Summe ergibt sich eine ‚neue‘ Musikschilderung, die zusätzlich ein onomato‐ poetisches Spektakel aufbietet, das dem Leser - bzw. Hörer - nicht vorenthalten werden soll (vv. 359-365): 47 Mutuaque inter se ludunt: tum tibia folle Lascivum sonat inflato; tum carmina cantant, 360 Carmina certatim cantant; tum tenta recusso Tympana supplodunt baculo, et cava cymbala pulsant Et laeti saltant, et tundunt aeribus aera, Et grave conspirat cornu tuba flexilis unco, conclamantque altum unanimes, tolluntque cachinnos. 365 Sie spielen auch zusammen, man bläst in den Schlauch, und lustig tönt die Flöte; dann singen sie Lieder, singen Lieder um die Wette, schlagen die gespannte Trommel mit tönendem Schlegel und schmettern hohle Zimbeln zusammen; dazu tanzen sie fröh‐ lich, schlagen Erz an Erz, und die gebogene Trompete mit ihrem krummen Horn tönt dumpf darein; einstimmig schreien sie laut und lachen schallend. Die Verse 360b-361a werden sinnfällig dominiert von Frikativlauten (folle, in‐ flato), die das Blasen in den Schlauch zum Ausdruck bringen. Die Verse 361b- 362a imitieren den rhythmischen, harten Gesang der Bauernschar, die Plosiv‐ 105 3.2. Der Dichter als Fachmann: Rusticus 48 Vat. lat. 3298 f. 31r (eine Kopie des Blattes bei Maïer 1966, 98). 49 Vgl. hierzu auch Séris 2002, 405-406, die gezeigt hat, dass Poliziano mit onomatopoe‐ tischen Klangmitteln in ähnlich musivischer Weise verfährt wie mit Zitaten oder An‐ spielungen auf rezipierte Texte, den Klang der Verse also bewusst mitrezipiert. 50 Hierzu Cesarini Martinelli 1978, 142-145. Vgl. auch Charlet 1990; Perosa / Timpanaro 1956. laute der folgenden Verse (362b-363a) das Schlagen der Trommel und der Zim‐ beln. Preziös ist die Junktur tundunt aeribus aera, wo das helle Klingen gegen‐ einander geschlagenen Erzes hörbar wird. Schließlich (v. 365) mengt sich der tiefe Ton der tuba hinein, realisiert durch die Häufung geschlossener Vokale (u, o). Für Polizianos Interesse an solcherlei onomatopoetischen Klangspielen bürgt erneut die Ilias-Übersetzung. Dort hatte Poliziano den Ilias-Vers τριχθά τε καὶ τετραχθὰ διατρυφὲν ἔκπεσε χειρός (Hom. Il. 3, 363), der lautmalerisch das Bersten von Menelaos’ Schwertklinge an Paris’ Schild wiedergibt, mit dissiluit multo perfractus fragmine mucro (Pol. Il. 3, 364) übersetzt, die homerischen Fri‐ kativlaute (χ, θ, φ) durch lateinische (f, r, s) ausgedrückt. Die Erklärung lieferte der Übersetzer am Rand der Übersetzung selbst: Imitatur translator qua licet asperitatem greci carminis. 48 Hatte Poliziano hier den Klang des griechischen Verses nachzuahmen versucht, so sehen wir am Beispiel des Rusticus, dass die imitatio auch auf klanglicher Ebene zu einer veritablen aemulatio gesteigert werden kann: Die Anschaulichkeit wird zum synästhetischen Eindruck ver‐ dichtet, der über die schlichte vergilische Skizze einer winterlichen Zusammen‐ kunft weit hinausgeht. 49 Polizianos poetisches Selbstbewusstsein erschöpft sich allerdings nicht, wie bei der Sylva in scabiem gesehen, auf dem Feld der Enzyklopädie und der Evi‐ denz, sondern erfasst auch den philologischen Charakter seines Dichtens. Wäh‐ rend die philologisch-dichterische Basisarbeit - das Auffinden geeigneter Pa‐ ralleltexte, ihre Zusammenführung und metrische Einpassung - noch dem Fleiß des wetteifernden Dichters zuzuordnen ist, weisen einzelne Verse des Rusticus eine rein philologische Motivation auf, d.h. sie stehen für einen impliziten Kom‐ mentar zu textkritischen Problemen. Ein vielbeachteter Vers des Rusticus gibt in exemplarischer Weise Auskunft über Polizianos Selbstverständnis als poeta phi‐ lologus. 50 Im makarismós der lebensweltlichen Genüsse, die die Natur für den Landmann feilhält, beschreibt der Dichter die scheue Rose, die sich vom Blut der Aphrodite rot färbt (v. 183): Idalio pudibunda sinus rosa sanguine tingit Verschämt färbt die Rose ihren Busen mit dem Blut der Cypris 106 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 51 So z.B. Gesner 1969, 559; Hall 1985, 310. 52 So bei Charlet 1991, 39. 53 Aphth. progymn. 2 (Rhet. Graeci 2, p. 22 Spengel). 54 Lorenzo, Canzoniere 136, 5-8 (Orvieto 1992, 240); Nonn. Dionys. 41, 208-211; Mart. 7, 89; De rosis nascentibus 18 (Anth. Lat. 646 Riese); Choric. 39 p. 476 Foerster; zu den Quellen Cesarini Martinelli 1978, 142-145; Perosa 1956 (bes. zu Libanios). Vgl. auch Pol. In Stat. Sylv. 207, 3-9 zu Stat. silv. 1, 2, 22: Rosas florem Veneris, vel ob sanguinem qui affixa spina emanavit Veneri, dum accurrit auxilio Adoni, ne a Marte violetur, ut ait Aph‐ thonius. Unde Claudianus: ‘Sic fata cruoris / carpit signa sui.’ Vel quia eo flore se ornavit illa in iudicio Paridis, ut scribit Libanius. Vgl. Cesarini Martinelli 1978b, 142-143. 55 Galand-Hallyn 1994, 524-525. In der 11. Miszelle der Miscellaneorum Centuria prima von 1489 wird Poliziano seinen eigenen Vers zur Erklärung einer umstrittenen Stelle aus dem 2. Buch von Claudians De raptu Proserpinae heranziehen. Dort fordert Venus ihre Schwestern Diana, Minerva und Proserpina zum Blumenpflücken auf (2, 119- 122), wonach sie selbst damit beginnt, und zwar - nach Lesart einiger moderner Editoren 51 - so: sic fata doloris / carpit signa sui (1, 122-123), also: „Sprach’s und pflückte die Zeichen ihres Schmerzes“. Nach Polizianos Dafürhalten hätte man die Verse allerdings so zu lesen: sic fata cruoris / carpit signa sui. 52 Er glaubte, Verständnis der Claudian-Verse unter Rekurs auf eine Geschichte bei Aphtho‐ nios gewonnen zu haben, deren Handlung er skizzierte: Venus liebt Adonis, Mars liebt Venus, und wie Venus hinter dem Sterblichen, so ist Mars hinter der Göttin her. 53 Um seinen Nebenbuhler zu beseitigen, verfolgt Mars Adonis, dem Venus allerdings zu Hilfe eilt. Bei ihrem Rettungsversuch ritzt sie sich den Fuß an einem Rosenbusch, woraufhin ihr Blut die weißen Blüten rot färbt. Mit der Feststellung attigimus ipsi quoque fabellam hanc in [sylva] Rustico nostra, versi‐ culo illo führt Poliziano seinen eigenen Vers ein. In der Folge vereinigt er eine stattliche Anzahl weiterer Autoren, die in ihren Werken auf die Episode ange‐ spielt hätten, darunter Lorenzo de’ Medici in seinen vulgärsprachlichen Dich‐ tungen - es handelt sich wohl um das Sonett 136 Non de’ verdi giardini ornati e colti -, Nonnos in den Dionysiaka, Martial, Vergil (so glaubte Poliziano) in der Elegie De rosis nascentibus sowie der spätantike Redner Libanios. 54 Perrine Galand-Hallyn sah im Rusticus-Vers ein beredtes Zeugnis für Polizi‐ anos Verständnis des dichterischen Ingeniums, das ohne Hilfe der ars, d.h. ohne philologische Grundierung, weder entstehen noch verstanden werden könne. 55 Miszelle 1, 11 ist ein ungetrübtes Zeugnis für die Arbeit des poeta-filologo, der einerseits versucht, auf einer breiten Grundlage antiker Vorlagen neue, origi‐ nelle Verse zu schaffen, und der andererseits Philologie als Aufgabe der Dich‐ tung versteht. An dieser Stelle tritt der philologische Zug, der Polizianos Poetik eignet, deutlich hervor: Poliziano gestaltet seinen Vers nicht trotz, sondern 107 3.2. Der Dichter als Fachmann: Rusticus 56 So in der Sylva in scabiem gegen Calderinis Erklärung des statianischen Sangarius puer. Höchst instruktiv für Polizianos versifizierte Philologie mit polemischem Interesse sind zwei Verse aus der Ambra (436-437), wo Calderinis Lesart des Verses Ibis 569 ent‐ kräftet wird. Hierzu jüngst umfassend Megna 2015; vgl. auch Grafton 1991, 52-53. 57 Godman 1993, 124. 58 Godman 1993, 122. wegen des zugrunde liegenden textkritischen Problems. Hiermit ist eine zwei‐ fache Intention verbunden: Zunächst kann ein Vers als Forschungsbeitrag des Philologen, gewissermaßen als poetische Miszelle zur Verbesserung dunkler Stellen fungieren - häufig mit polemischer Stoßrichtung. 56 Die eigene Dichtung erfüllt den Zweck, die philologische Erkenntnis zu sanktionieren. Darin äußert sich - dies ist die übergeordnete Absicht - das Selbstverständnis des renais‐ sancezeitlichen Dichters, der den Vergleich mit den Vorgängern nicht scheut. Poliziano stellt sich selber in eine Reihe mit den Hauptzeugen für die Venus-Epi‐ sode: Da ist zunächst Aphthonios, später Vergil, Martial und Nonnos. Da sind aber auch, als gleichberechtigte Garanten für die Richtigkeit der Lesart, Polizi‐ anos Mäzen Lorenzo und freilich: Poliziano selbst. Die Auffassung von Dichtung nicht nur als philologisch erarbeitetes Konst‐ rukt, sondern als Philologie selbst, führt in direkter Linie zum letzten großen Werk, das man als das zentrale im gesamten poetischen Schaffen Polizianos angesehen hat: der Silve Nutricia von 1486. 57 3.3. Der Dichter als Philologe: Nutricia Peter Godman hat den Anspruch, den Poliziano mit seiner philologischen Poetik verband, treffend charakterisiert: 58 There [in the Miscellanea Centuria prima], and later in the second Centuria […], Po‐ liziano regularly refers to the Nutricia and his other Sylvae. They are treated as an integral part of his exegesis of ancient literature - as a form, a source, an exemplifi‐ cation of philological commentary in verse, worthy to stand comparison with any classical poem. Polizianos letzte große Dichtung fällt bereits in eine Schaffensphase, in welcher er sich mehr als Philologe denn als Dichter sah. Das offene, auf den Begriff gebrachte Bekenntnis zum grammaticus stand zwar noch aus, dem Zuschnitt nach sind die Nutricia aber bereits ein gänzlich philologisches Produkt, das, wie 108 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 59 Dem ungarischen König Matthias Corvinus hatte Poliziano in einer früheren Widmung einen Kommentar des Gedichts in Aussicht gestellt, den er aber wohl nicht in Angriff nahm. Jedenfalls ist bekannt, dass Poliziano sein eigenes Gedicht in Vorlesungen vor Studenten erklärte; vgl. Cesarini Martinelli 1996, 475. 60 Cesarini Martinelli 1982; 1985. Vgl. auch Leuker 1997, 172-176. 61 Der Inhalt des Faszikels ist aufgelistet bei Cesarini Martinelli 1982, 186-187; 191-194. 62 In Sapph. epist. 4, 20-7, 18 (Lazzeri 1971); Suda 4, 322, 107 Adler zu Σαπφώ; zur Ver‐ wendung Polizianos der Suda hier und im Allgemeinen vgl. Zollino 2013. der Dichter selbst wusste, der Kommentierung unbedingt bedurfte. 59 Die Nut‐ ricia indes sind nicht in kurzer Zeit entstanden, sondern sind die Frucht lang‐ jähriger, bis vor den Beginn seiner Berufung zurückreichender Arbeit: Lucia Cesarini Martinelli machte zu Beginn der 80er Jahre auf einen bis dato unbe‐ kannten Kodex der Biblioteca Nazionale Centrale in Florenz (Naz. 2, 1, 99) auf‐ merksam, der zahlreiche, mehrheitlich von Poliziano selbst angefertigte hand‐ schriftliche Exzerpte von Zeugnissen über Dichtung und Dichter der griechischen und lateinischen Antike enthält. 60 Die ersten 50 Exzerptseiten, ur‐ sprünglich ein eigenständiger Faszikel, wurden vor den Jahren 1479/ 80 zusam‐ mengestellt und für den Commento alle Selve di Stazio reichlich benutzt, wie Cesarini Martinelli nachwies. 61 Exzerpiert finden sich etwa das Chronicon des Hieronymus und Eusebius (1r-2v), die Vitae philosophorum des Diogenes Laer‐ tios (4r-8r), Plutarchs Moralia (8r-26r), die Suda (26r-28v), Pausanias (28v-40v) und der Ilias-Kommentar des Eustathios (41r-41v). Die Sammlung, die insge‐ samt aus 12 Faszikeln besteht, bildet noch für die Abfassung der Nutricia die Grundlage. Doch nicht nur der philologische Zuschnitt, sondern auch die poe‐ tische Form bindet das späte Werk eng an das frühe: Die Nutricia sind im Kern ein Kataloggedicht, das den Leser durch Jahrtausende poetischer Geschichte führt, angefangen von den Sängern der mythischen Vorzeit über die hebräischen Propheten, die griechischen, lateinischen und italienischen Dichter bis hin zu Lorenzo de’ Medici (vv. 199-775). Wie ist der Katalog der Nutricia konkret gestaltet? Am Beispiel der Sappho-Besprechung soll aufgezeigt werden, wie der Dichter bei der Aufberei‐ tung seines philologischen Stoffs vorgeht. Der Figur der Sappho hatte er sich bereits früher in der Enarratio in Sapphus epistolam gewidmet, die im Zuge seiner Vorlesung über den ovidischen Heroidenbrief am Ende des akademischen Jahres 1480/ 81 entstanden war. Die Quellensammlung, die Poliziano im Kommentar zu Biographie und Werk der Dichterin zusammengestellt hat - die meisten Infor‐ mationen stammen aus der Suda -, ist für die Darstellung der Dichterin in den Nutricia im Wesentlichen dieselbe geblieben. 62 Auch in den Kernthemen ent‐ sprechen sich Kommentar und poetische Ausgestaltung: Sapphos Überlegenheit gegenüber anderen Dichterinnen und ihre Aufnahme unter die Musen (In Sapph. 109 3.3. Der Dichter als Philologe: Nutricia 63 Zur Stelle Bausi 1996, 229. 64 So singt Sappho etwa in frg. 55, 2-3 Lobel / Page, derjenige, der stirbt, werde nicht teilhaben an den Rosen von Pierien: οὐ γὰρ πεδέχηις βρόδων / τῶν ἐκ Πιερίας. Weitere Stellen Sappho frg. 2, 6; 53, 1; 58, 19; 96, 8 Lobel / Page; Vgl. auch Philostr. Soph. Epist. 51: Ἡ Σαπφὼ τοῦ ῥόδου ἐρᾷ καὶ στεφανοῖ αὐτὸ ἀεί τινι ἐγκωμίῳ τὰς καλὰς τῶν παρθένων ἐκείνῳ ὁμοιοῦσα; Anthol. Pal. 4, 1, 6; Bausi 1996, 233 z.St. epist. 4, 20-16 entspr. Nutr. 631-639), ihre Gespielinnen (In Sapph. epist. 6, 9-12; Nutr. 623-624), ihre Liebe zu Phaon und der Todessprung vom leukadischen Felsen (In Sapph. epist. 6, 17-23; Nutr. 625-630), ihre Erfindung des Plektron (In Sapph. epist. 7, 4; Nutr. 622). Lediglich auf Sapphos Abstammung und Herkunft wird, anders als im Kommentar (5, 15-6, 6), nicht näher eingegangen. Vor dem Hintergrund der Erläuterungen im Kommentar gibt die Untersuchung der 20 Verse, die Poliziano der Sappho in den Nutricia zugedacht hat, Aufschluss über die Darstellungstechnik des dichtenden Florentiner Philologen (vv. 619-624): […] Sed enim lyricis iam nona poetis Aeolis accedit Sappho, quae flumina propter Pierias legit ungue rosas unde implicet audax serta Cupido sibi; niveam quae pectine blando Gyrinnem Megaramque simul cumque Atthide pulchram cantat Anactorien et crinigeram Telesippen. Doch schon tritt herbei zu den Lyrikern als neunte die äolische Sappho, die entlang der Flüsse Pieriens Rosen pflückt, die sich der dreiste Cupido zu Kränzen flicht; Sappho, die zärtlich mit dem Plektrum die schneeweiße Gyrinna und Megara besingt, die schöne Atthis und Anactoria und die langhaarige Telesippe. Bereits die ersten vier Verse verdeutlichen, dass Poliziano hier die nämliche Katalogtechnik zur Anwendung bringt wie in der Ilias-Übersetzung. Sappho wird nicht einfach genannt - sie kommt herbei und wird beobachtet, wie sie am Fluss Rosen pflückt und ihre Dulzineen mit zärtlichen Liebesliedern bedenkt. Anstatt eine Sammlung literaturgeschichtlicher Beiträge zur Dichterin aufzu‐ listen, wird das zentrale Merkmal ihres Werks in lebhaften Versen beschrieben. Pointiert ließe sich sagen, der Dichterphilologe Poliziano bestreicht, wie es sich für ein Lehrgedicht gehört, den bitteren Kelch bio- und bibliographischer In‐ formation mit einer wohlschmeckenden Tinktur. Was lernt Polizianos Leser - oder Student - also im besten Falle durch den preziös gestalteten Auftakt der Besprechung über die griechische Dichterin? Zunächst: Sappho ist Äolierin, sie kommt aus Lesbos, einer der Aiolis vorgelagerten Insel, und sie dichtet in äoli‐ schem Dialekt. 63 Die Rosen, die Sappho in Pierien pflückt, nehmen ein wieder‐ kehrendes Motiv der sapphischen Liebeslyrik auf. 64 Das Plektrum wird eigens 110 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 65 Suda 4, 322, 107 Adler: καὶ πρώτη πλῆκτρον εὗρεν. Vgl. Pol. In Sapph. epist. 6 (Lazzeri 1971): Eadem et plectrum prima invenit. Vgl. Bausi 1996, 233 z.St. 66 Vgl. hierzu Pol. In Sapph. epist. 6, 9-11 (Lazzeri 1971): Socias autem puellas cum alias habuit plerasque, tum maxime insignes Atthida, Telesippam, Anactoriam, Gyren sive Gy‐ rinem et Megaram. 67 Die Suda 4, 322, 107 Adler nennt Atthis, Telesippa und Megara; Maximus von Tyros 18, 9: Gyrinna, Atthis und Anactoria; schließlich Ov. her. 15, 17-18: Anactorie und Atthis. Vgl. Bausi 1996, 233 z.St. 68 Hierzu Séris 2002, 358-359. 69 Zum Folgenden Bausi 1994, 185-188. 70 Ov. her. 15, 164-166: ureris, Ambracia est terra petenda tibi; / Phoebus ab excelso, quantum patet, adspicit aequor / - Actiacum populi Leucadiumque vocant -. genannt, da Sappho nach antiker Überlieferung dessen Erfinderin ist. 65 In der Folge sind katalogartig die wichtigsten Geliebten Sapphos aufgelistet. 66 Zur Re‐ konstruktion der sapphischen sociae hatte sich Poliziano insbesondere der se‐ kundärliterarischen Überlieferung bedient, so der Suda und den Dissertationes des Maximus von Tyros. 67 Die Gelehrsamkeit des „Florentiner Kallimachos“, der mit dem Lexikon in der Hand Verse schmiedet, wird in die Katalogform Homers und Vergils gegossen. Die Mädchen werden nicht nur genannt, sondern mit schmeichelnden Attributen versehen: Gyrinna ist weiß wie Schnee, Atthis ist schön und Telesippe trägt eine Haarpracht. In der Folge wird die unglückliche Liebesgeschichte zwischen Sappho und Phaon thematisiert (vv. 625-628): Et te conspicuum recidivo flore iuventae miratur revocatque, Phaon, seu munera vectae puppe tua Veneris seu sic facit herba potentem. Sed tandem Ambracias temeraria saltat in undas Und dich, Phaon, bewundert sie und ruft sie zur Rückkehr, der du auffallend schön bist durch deine wiederkehrende Jugendblüte, die du vielleicht erhalten hast als Ge‐ schenk dafür, dass du Venus in deinem Schiff mitnahmst, oder durch ein Kraut, das dich hierzu befähigt. Zuletzt aber stürzt sie sich kühn in die Fluten von Ambracia […] Der Auftakt ist lebendig und emotional gestaltet: Durch die lyrische Apostrophe an Phaon führt der Dichter den Leser unvermittelt hinein in die unglückliche Liebesgeschichte zwischen Sappho und ihrem mythischen Liebhaber. 68 In Vers 628 gebraucht Poliziano einmal mehr Dichtung als Textkritik. 69 Die Ambraciae undae bezeichnen den Golf in der Nähe der antiken griechischen Stadt Amb‐ rakia, dem die Insel Leukade vorgelagert ist, von der sich Sappho der Sage nach ins Meer gestürzt haben soll. 70 Die Quelle für Polizianos Vers ist Stat. silv. 5, 3, 154-155, der sich in den Handschriften, den frühen Drucken und den meisten 111 3.3. Der Dichter als Philologe: Nutricia 71 In Stat. Sylv. 749, 4 (Cesarini Martinelli 1978a). 72 Calderini, In Stat. Sylv., Roma, Pannartz 1475 (H 14983 IGI 9151), c. 57r: […] expungentes veram scripturam legunt non formidata Leucade, referentes ad fabulosam necem Sapphus ex Leucade. Sed dicant, obsecro, sitne ingressa saltus viriles Sappho cum se deiecit, an cum per pedes poeticos et viriles incedebat? Ebd.: Non formidata Chalcide: ex Chalcide fuit Euphorion poeta elegiacum, unde Chalcidicum carmen dixit Virgilius [Buc. 10, 50-5]. Hunc imitatus est Gallus. Sappho, inquit, non modo lyricum carmen composuit, sed etiam elegiacum causa contendere cum laude Euphorionis. Nam Sappho - quod Suidas apud Graecos scribit - non solum lyricum composuit, sed etiam elegiam, ut in fine huius operis dictabimus in eius epistola. (zit. nach Bausi 1994, 187-188). heutigen Editionen so liest: saltusque ingressa viriles / non formidata temeraria Chalcide Sappho, also etwa: „Die männlichen Gebiete betrat verwegen und ohne Furcht vor dem Manne aus Chalkis Sappho“. Poliziano, für den die überlieferte Lesart offenkundig keinen Sinn ergab, hatte im Kommentar zur Stelle Chalcide zu Leucade emendiert: Chalcide. Ego Leucade puto legendum. 71 Damit lautete die Übersetzung des Verses: „Es wagte den männlichen Sprung furchtlos und wag‐ halsig von der Insel Leukade Sappho“. Die Konjektur, die Giorgio Merula bereits früher vorgeschlagen hatte, ist von Domizio Calderini im Silvenkommentar mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen worden. Domizio sah im Wort Chalcide das Toponym für den Dichter Euphorion, also: Sappho habe eine Männerdo‐ mäne betreten, ohne Furcht vor dem großen Euphorion. 72 Wenngleich Poliziano seiner Lesart nicht zu dauerhafter Gültigkeit verhelfen konnte, so bietet sein textkritischer Kommentar doch ein besonders instruktives und schönes Beispiel für die lebendige Philologie in Versen: Polizianos divinatio zur Insel Leucade führt zu nichts weniger als zum tödlichen Sprung in die Fluten. Im Folgenden wird ein ansprechender Katalog all der griechischen Dichter‐ innen aufgeführt, die Sappho nicht das Wasser reichen konnten (vv. 631-636): Non illi Praxilla suos praedoctaque Nossis contulerint Myrtisque modos, non dulcis Agacles, non Anyte, non quae versus Erinna trecentos Castalio ceu melle rigat, non candida Myro, nec Telesilla ferox, non quae canit aegida saevae 635 Pallados effusum crinem vittata Corinna. Mit Sapphos Liedern konnte weder Praxilla noch die vorzüglich begabte Nossis noch Myrtis ihre Lieder vergleichen, nicht die reizende Agacles, nicht Anyte, nicht Erinna, die ihre dreihundert Verse wie mit Honig aus kastalischem Quell tränkt, nicht die schneeweiße Myro, nicht die ungestüme Telesilla, nicht Korinna, die, das wallende Haar mit Bändern geschmückt, den Schild der grimmen Pallas Athene besingt. 112 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos 73 Λέσβιον Ἠρίννης τόδε κηρίον, ἁδὺ τὸ μικρόν, / ἀλλ’ ὅλον ἐκ Μουσέων κιρνάμενον μέλιτι. / οἱ δὲ τριηκόσιοι αὐτῆς στίχοι ἶσοι Ὁμήρῳ / τῆς καὶ παρθενικῆς ἐννεακαιδεκάτευς, / ἣ καὶ ἐπ’ ἠλακάτῃ μητρὸς φόβῳ καὶ ἐφ’ ἱστῷ / ἑστήκει Μουσῶν λάτρις ἐπιπλομένη. / Σαπφὼ δ’ Ἠρίννης ὅσον μελέεσσιν ἀμείνων, / Ἤριννα Σαπφοῦς τόσσον ἐν ἑξαμέτροις. Vgl. Anth. Pal. 9, 190. In Misc. 2, 26 (Branca / Pastore Stocchi 1978, 39-40) wird Poliziano das Gedicht erneut heranziehen, um die (bis heute akzeptierte) emendatio eines Satzes der Naturalis historia (Plin. nat. 34, 8, 57) zu begründen, wo er das in Handschriften vorgefundene unsinnige Fecit [Myro] et cicadae monumentum ex locustae carnibus sicut Sisenna significat zu Fecisse et cicadae monumentum ac locustae carminibus suis Erinna significat verbesserte. 74 Paus. 9, 22, 3; Pol. In Stat. Sylv. 681, 15-22 (Cesarini Martinelli 1978a). Poliziano rekurriert hier auf das Antipater-Gedicht Anth. Pal. 9, 26, welches eine Aufzählung von zehn griechischen Dichterinnen (Sappho inklusive) vorstellt. Teilweise übernimmt Poliziano die Attribuierung der griechischen Vorlage, teil‐ weise fügt er eigene hinzu. Im Falle der Erinna, die ihre Gedicht gleichsam in ‚kastalischem Honig‘ tränke, setzte er eine Prädikation hinzu, die keineswegs wahllos geschah: Eustathios hatte in seine Kommentierung des Schiffskatalogs zu Vers 2, 711 ein Epigramm unbekannter Autorschaft aufgenommen, das die Einschätzung referierte, Erinna habe ihre dreihundert Verse mit dem Honig der Musen bestrichen. 73 Während ferner im Antipater-Gedicht das Lied der Korinna auf den Schild der Athene bereits aufgeführt war, setzt Poliziano hier die Be‐ kränzung der Dichterin hinzu - dies verweist auf eine weitere Episode, die von Pausanias überliefert wurde und von einem Dichterwettstreit zwischen Korinna und Pindar erzählt, den die Dichterin für sich entschieden haben soll. 74 Poliziano verwebt hier auf engstem Raum Literaturkritik und Quellenstudium, ohne dass er in den Duktus bloßer Aufzählung verfiele. Gerade im Vergleich mit Antipaters Gedicht wird augenfällig, worin Polizianos Anspruch und Leistung liegen. Die literaturgeschichtlichen Inhalte werden anschaulich aufbereitet und dynamisch verfugt: Sappho wird als Akteurin auf einer Bühne eingeführt, gesicherte und anekdotische Kenntnisse über Leben und Werk werden szenisch aufeinander bezogen; ihre Dichterkolleginnen schließlich werden auf sie hingeordnet, d.h. zu ihr in eine ästhetisch-wertende Abhängigkeit gebracht. Beschlossen wird die Darstellung der Sappho mit einer preziös aufbereiteten Krönungsszene (vv. 637-639): Illam etiam decimo cunctae accepere sedili Pierides sertumque novem de floribus auro Contextum nitidis laetae imposuere capillis. Und die Musen nahmen sie einvernehmlich als zehnte in ihren Kreis auf und krönten freudig ihr schimmerndes Haar mit einem golddurchwirkten Kranz aus neun Blumen. 113 3.3. Der Dichter als Philologe: Nutricia 75 Anth. Pal. 9, 506: Ἐννέα τὰς Μούσας φασίν τινες· ὡς ὀλιγώρως·/ ἠνίδε καὶ Σαπφὼ Λεσβόθεν ἡ δεκάτη. Vgl. Pol. In Sapph. epist. 4, 24-5, 2 (Lazzeri 1971). 76 Anth. Pal. 7, 17 (ΤΥΛΛΙΟΥ ΛΑΥΡΕΑ) 5-8: ἢν δέ με Μουσάων ἐτάσῃς χάριν, ὧν ἀφ’ ἑκάστης / δαίμονος ἄνθος ἐμῇ θῆκα παρ’ ἐννεάδι, / γνώσεαι, ὡς Ἀίδεω σκότον ἔκφυγον οὐδέ τις ἔσται / τῆς λυρικῆς Σαπφοῦς νώνυμος ἠέλιος. Vgl. Pol. In Sapph. epist. 6, 23- 7, 3 (Lazzeri 1971): Libros composuit lyricos novem, unde Tullius Laurotes eleganter dixit singulas Musas florem unum singulis iis libellis impertisse. Im Kommentar zum Heroidenbrief hatte Poliziano das platonische Distichon zitiert, das Sappho als zehnte Muse feiert. 75 Hier nun erfährt der antike Topos eine bühnenreife Ausgestaltung: Die Musen selbst heißen die Lesbierin als zehnte in ihrer Mitte willkommen und setzen ihr den Blumenkranz aufs Haupt. Der Kranz ist aus neun Blumen geflochten: Diese Information bezieht sich auf die neun Gedichtbücher, die Sappho verfasst und jeweils mit dem Namen einer Blume versehen haben soll. 76 Erkennbar ist der Wunsch des Dichters, die Szene so heiter und glanzvoll wie möglich zu zeichnen: Die Musen sind fröhlich, der Blumenkranz ist mit Gold durchwirkt und Sapphos Haare schimmern hell - in nur drei Versen gelingt es Poliziano, das antike Diktum über Sappho als zehnte Muse, die Anzahl der Bücher ihres lyrischen Werks sowie die Information, dass diese jeweils mit einer Blume bezeichnet worden waren, in anziehende, heitere Hexameter zu kleiden. Die Nutricia dürfen insofern als Meisterstück Polizianos gelten, als er hier die vollständige Vereinigung von philologischer Gelehrsamkeit und poetischer An‐ schaulichkeit erreicht. Form und Technik sind dabei altbewährt: Der Katalog dient als Mittel zur Zusammenschau unterschiedlicher philologischer Bespre‐ chungen eines Gegenstands, wobei Sprödigkeit und satietas, wie sie etwa bei einem versifizierten Werkverzeichnis leicht auftreten könnten, durch Beimen‐ gung lebhafter Elemente - szenisch aufbereitete biographische Informationen, Interaktion und unmittelbare Bezugnahme zwischen den Dichtern - vermieden werden. Bislang ist deutlich geworden, dass die homerische Dichtung den Ausgangs‐ punkt bildet für Polizianos Verständnis sowohl als Dichter als auch als Gelehrter. An der Ilias-Übersetzung erarbeitete Poliziano einerseits seine Poetik, d.h. eine präzise Vorstellung davon, wie Dichtung zustande kommen und wie sie wirken kann. Das grundlegende Postulat ist dasjenige der Evidenz, die als Gütesiegel ansprechender Dichtung höchste Priorität hat und den Leser in das Geschilderte einbeziehen soll. Komplementär hierzu ist die Forderung nach dem enzyklopä‐ dischen Zuschnitt von Dichtung, die als Trägerin umfassenden Weltwissens anspruchsvoll zu sein hat - wie Homer zu dichten bedeutet für Poliziano: alles zu wissen und alles fachmännisch besingen zu können, mag es sich um techni‐ 114 3. Evidenz und Enzyklopädie im poetischen Werk Polizianos sche, handwerkliche, medizinische oder landwirtschaftliche Gegenstände han‐ deln. An Homer entwickelt Poliziano eine Vorstellung von Dichtung, die weit mehr ist als ein poetologisches Programm: Die Dichtung verstanden als fons universae philosophiae, wie sie ihm der Byzantiner Andronikos Kallistos ver‐ mittelt und erschlossen hatte, ist die Grundlage, auf der das humanistische Denken Polizianos ruht. Die Randnotizen zur Ilias-Übersetzung zeigen einen jungen Mann, dessen philologischer Zugang zu den Werken Homers weit über die bis dato geleisteten Besprechungen des griechischen Dichters hinausgeht. Hier, in der Ilias-Übersetzung und ihrer handschriftlichen Annotation, liegen die Wurzeln der philologischen Methode Polizianos, seiner später in polemi‐ scher Fehde offen ausgesprochenen Forderung nach umfassender Kenntnis der auctores, und schließlich der überragenden Bedeutung, die er zeitlebens der his‐ torisch-kritischen Texterschließung zumaß und die er zum Maßstab seines aka‐ demischen Wirkens erhob. Polizianos Poetik ist Trägerin und Mittlerin eines sich schärfenden humanistischen Programms, das letztlich in die polemischen Schriften der letzten Jahre mündet. Diese Entwicklung nachzuzeichnen, ist Auf‐ gabe des zweiten Teils der Untersuchung. 115 3.3. Der Dichter als Philologe: Nutricia B. Vom homericus adulescens zum grammaticus - Entwicklung einer Polemik 1 Hierzu ausführlich Kap. B.1.1. 2 Vgl. Huss 2003 zur Erörterung des Problems von Inspirationsdichtung und Regelpoesie bei Landino. Zunächst soll Polizianos Dichtungsprogramm in die poetologischen Debatten der Renaissance eingeordnet werden, wobei nach der in dieser Arbeit bislang außer Acht gelassenen philosophischen Dimension seines Dichtens zu fragen ist: (Wie) ist Polizianos handwerkliche, durch philologisch anspruchsvolle fer‐ ruminatio erarbeitete Dichtung, die mit ‚irdischen‘ Kategorien von Evidenz und Enzyklopädie zu fassen ist, mit Theorien göttlicher Inspiration in Einklang zu bringen? Dichtung wurde in der Renaissance von Beginn an vor dem Hinter‐ grund ihrer göttlichen Qualität diskutiert. Das grundlegende poetologische Pos‐ tulat, das sich in verschiedene Richtungen differenzieren und nuancieren ließ, war dies: In einem Gnadenakt haucht Gott dem Dichter göttliche Offenbarung ein (afflatio, inspiratio), die dieser unter dem Schleier der Dichtung (fig‐ mentum, velamen) verbirgt. 1 Die philosophische Betrachtung der Dichtung als metaphysisches Ereignis und als Trägerin des göttlichen Ratschlusses gerät al‐ lerdings notwendigerweise in Konflikt zum technischen Aspekt der Dichtung, zur Regelpoesie. 2 Je unversöhnlicher sich Dichtungsreflexionen gegenüber‐ stehen, desto größeres polemisches Potential bergen sie. Bevor wir die Untersuchung des ‚philosophischen‘ Dichters Poliziano be‐ ginnen, ist es daher unabdingbar, die spezifische Epochenstruktur der Renais‐ sance und das intellektuelle Klima im Florenz der zweiten Hälfte des Quattro‐ cento in den Blick zu nehmen. Die Renaissance ist ihrem pluralen Charakter gemäß eine Zeit des Dialogs und des Streits: Das humanistische Profil wird nicht vornehmlich in der Studierstube aufgerichtet, sondern in der Konfrontation mit anderen Gelehrten geformt. Für Poliziano bedeutet dies insbesondere die Aus‐ einandersetzung mit dem dezidiert platonischen Klima am Hof der Medici, mit Ficino, dem größten Intellektuellen des ausgehenden 15. Jahrhunderts, und, als Dichter, mit der platonisch geprägten Dichtungslehre der Renaissance. Während im ersten Teil der Untersuchung die lateinische Dichtung Polizianos behandelt wurde, soll nun zunächst das poetische Werk im Volgare im Mittel‐ punkt stehen. Dies hat den Grund darin, dass die vulgärsprachliche Dichtung gerade in den letzten Jahrzehnten des Quattrocento, bedingt durch die Lehren der Florentiner Platoniker, poetologisch mit der Inspirationslehre in Verbindung gebracht worden war. Mit den Stanze per la giostra und der Fabula di Orfeo sollen zwei Dichtungen eingehender besprochen werden, deren poetologische Analyse zum Verständnis nicht nur des Dichters, sondern des Gelehrten Poliziano bei‐ tragen wird. Polizianos Dichtung im Volgare wird als Ausdrucksmittel huma‐ nistischer Profilierung gelesen, die ihren Platz in der Dialog- und Streitkultur der Renaissance findet und die scharfen polemischen Reden vorbereitet, die der Gelehrte in den letzten Jahren seines Lebens gehalten hat. Vor dem Hintergrund des poetologischen Programms von Evidenz und Enzyklopädie soll eine Ent‐ wicklung des humanistischen Profils Polizianos beschrieben werden, dessen polemisches Potential sich zunächst in der vulgärsprachlichen Dichtung an‐ deutet, sich über poetologische Besprechungen im Kommentarwerk und in den Nutricia konkretisiert und schließlich im akademischen Kampfbegriff des gram‐ maticus seine sichtbarste Ausformung erfährt. 120 B. Vom homericus adulescens zum grammaticus - Entwicklung einer Polemik 1 Besonders die tendenziöse Darstellung Burckhardts korrigierte man seit der „Revolte der Mediävisten“ an ihren Kernpunkten; vgl. hierzu ausführlich Ferguson 1948, 330- 385. An die Stelle einer harten Zäsur und eines klar bestimmbaren Epochencharakters, den Burckhardt im Bannerspruch der ‚Entdeckung der Welt und des Menschen‘ zum Ausdruck gebracht hatte, trat die Vorstellung einer heterogenen und widersprüchlichen Renaissance. In seinem 1920 erschienenen Aufsatz zum „Problem der Renaissance“ sah der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga das Signum der Renaissance ge‐ rade in ihren „Wendungen und Schwankungen, Übergänge[n] und Vermischungen von Kulturelementen“. Verständnis für die Epoche gewinne nur derjenige, der die Renais‐ sance in ihrer Vielgestaltigkeit zu verstehen versuche: „Vor allem muss man bereit sein, sie zu erfassen in ihrer Kompliziertheit, in ihrer Heterogenität, ihrer Gegensätzlichkeit, und auf die Fragen, die sie stellt, eine pluralistische Behandlung anzuwenden.“ (Hui‐ zinga 1953, 60). Gerade den Pluralismus als epochenkonstituierendes Merkmal der Re‐ naissance, als „in sich geschlossenen Charakter“, postulierte der russische Kulturwis‐ senschaftler Leonid Batkin in seinem 1981 in Deutschland erschienenen Buch Die italienische Renaissance: „Der Gesamtcharakter löst die Unterschiede, Differenzen und Überspannungen des Renaissancebewusstseins nicht in sich auf, im Gegenteil, er setzt sie als logisch-kulturellen Fokus, als schöpferische ‚Qual‘ der Kultur voraus.“ (Batkin 1981, 39). 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance In den letzten Jahrzehnten hat die Forschung intensiv an einer Neudefinition der Renaissance gearbeitet, wobei die Frage nach dem spezifischen Epochen‐ merkmal im Mittelpunkt stand. Dabei ist man zu einem fundamental anderen Ergebnis gekommen als die Gründungsväter der Renaissanceforschung im 19. Jahrhundert, Jules Michelet und Jacob Burckhardt. Hatten diese einen einheit‐ lichen metaphysischen Epochenbegriff zu gewinnen versucht, wollte man die Renaissance hierzulande spätestens seit Hans Blumenbergs Legitimität der Neu‐ zeit (1966) in ihrem pluralen Charakter begreifen. 1 Auf der Grundlage der phi‐ losophiehistorischen Betrachtungen Blumenbergs, der die Epoche aus der Sinn‐ suche des orientierungslosen spätmittelalterlichen Menschen hervorgehen sah, läutete Klaus Hempfer im 1993 erschienenen Aufsatz Probleme traditioneller Be‐ stimmungen des Renaissancebegriffs die sogenannte epistemologische Wende in 2 Nach Blumenberg wird die Renaissance vorbereitet durch eine fundamentale Erschüt‐ terung des spätmittelalterlichen Weltbildes, die ihre Wurzeln in der Durchsetzung des Nominalismus im Universalienstreit des 12. Jahrhunderts hatte. Die daraus entstehende Orientierungslosigkeit des Menschen innerhalb einer Welt, deren Vorgänge nicht als göttlich providentiell geleitet, sondern als kontingent und undurchschaubar empfunden worden seien, bringt Blumenberg im Ausdruck des ‚Ordnungsschwundes‘ auf den Be‐ griff. Der Mensch, für den Gott keine Bezugsmöglichkeit mehr biete, habe als notwen‐ dige Reaktion nur die „Alternative seiner natürlichen und rationalen Selbstbehauptung“ (Blumenberg 1974, 203). Selbstbehauptung bezeichnet dabei die Notwendigkeit indivi‐ dueller Sinnstiftung, die sich nicht länger in einem gesicherten Wissen und Weltver‐ stehen, sondern im Rahmen von Vermutungen und Meinungen vollzieht (ebd. 151). Hieraus folge, so Keßler 2004, 178, die Eigenart humanistischer Philosophie: „Die Wi‐ dersprüchlichkeit humanistischer Aussagen, das Unsystematische ihres Philosophie‐ rens ist […] notwendige Folge eines philosophischen Bewußtseins, das kein primum verum als Ausgangspunkt rationaler Deduktion mehr kennt, sondern nur noch die Vielfalt der in der vita selbst aufleuchtenden Aspekte von Realität.“ 3 Hempfer 1993a, bes. 24-39. 4 Hempfer 1993a, 36: „Diskrepante Diskurse setzen als Bedingungen der Möglichkeit der Konstitution von Wissen/ Erkenntnis und d.h. als episteme eine fundamentale Relati‐ vierung des Wahrheitskonzepts voraus […].“ Vgl. Regn 2003, 119. 5 Vgl. hierzu Bollmann 2001, 40-60. 6 Hempfer 1993a, 38. der deutschen Renaissanceforschung ein. 2 Im Diskursbegriff Foucaults sieht Hempfer die Möglichkeit eines Neuansatzes zur definitorischen Bestimmung der Renaissance als eigenständiger Epoche. 3 Indem der theologische Diskurs des Mittelalters seine Vorrangstellung vor anderen Diskursen verliert, komme es zu einer pluralen Auffassung des Wahren, die die Voraussetzung bilde für die vom Individuum selbst zu leistende Sinn- und Ordnungsstiftung angesichts der viel‐ fältigen und widersprüchlichen Möglichkeiten, Wirklichkeit und Wahrheit dis‐ kursiv zu konstituieren. 4 Dadurch, dass das antike Erbe im Laufe der Renaissance in immer größerer Vielfalt zugänglich wird - hier spielen der Fund neuer Texte, die Verbreitung des Buches sowie eine veränderte Lese- und Schriftkultur die zentrale Rolle 5 -, verliert sich zunehmend die Möglichkeit einer dogmatischen Aussage darüber, wie die Antike in ihrer Gesamtheit zu verstehen und zu rezi‐ pieren sei. Die bloße Vielfalt allerdings, so Hempfer, sei nicht das Wesent‐ liche: 6 Entscheidend ist vielmehr, daß diese Vermehrung des Wissensfundus an ein spezifi‐ sches Erkenntnisprinzip gebunden ist, das zugleich erklärt, warum die Humanisten geradezu ‚besessen‘ nach immer neuen Texten suchten. Dieses Erkenntnisprinzip ba‐ siert darauf, daß die Konstitution von Erkenntnis nicht auf einer wie auch immer näher zu bestimmenden Beobachtung von Wirklichkeit beruht, sondern auf der Auslegung von Texten. 122 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 7 Hempfer 1993a, 39. 8 Regn 2003, 121. 9 Vgl. Regn 2003, 122: „Ziel ist persuasive Bloßstellung von Opponenten und damit die rhetorische Antwort auf eine gegenstrebige Ansehensmacht, die im Gewand einer - ebenfalls rhetorisch gerahmten - Simulation einher kommt.“ Vgl. Hempfer 1993a, 37: „Auf der Basis des skizzierten Wahrheitskonzepts ist es nun nicht weiter verwunderlich, daß die Rhetorik, wie vielfach konstatiert, zur Leitdisziplin wird und in dieser Funktion die Dialektik ablöst.“ Vgl. auch Keßler 2004, 182-185. 10 Kritisch hierzu Laureys / Simons / Becker 2013, 5 Anm. 10. Zum ‚Zeitalter des Dialogs‘ vgl. auch Hempfer 1993a, 28-37; Müller 2004; Häsner 2004, 13: „Gleichwohl hat sich der Platonische Archetypus in der Folge weiter ausdifferenziert, und mit ihrer sich modi‐ fizierenden und transformierenden Phänotypik änderten sich auch Rang und Funktion der Gattung im jeweiligen epochalen Diskurssystem. Ihren Höhepunkt nach Zahl, Prä‐ senz und typologischer Vielfalt dürfte sie in der Renaissance erreicht haben […].“ Den Versuch, den Dialog in der Renaissance gattungsspezifisch einzuordnen, leisteten in jüngerer Zeit Häsner 2004 und Hempfer 2004. Damit ist berührt, was der humanistischen Gelehrtenkultur der Renaissance das entscheidende Gepräge verleiht: Die Wichtigkeit des (antiken) Textes als der zentralen Autorität für die Konstitution von Wahrheit. Diese geschieht über die Autorisierung der eigenen Weltauffassung durch Berufung auf antike Autoren, die somit zu den „zentralen normbildenden Autoritäten für das Sag- und Denk‐ bare überhaupt“ werden. Aber: „Wenn die antiken Autoren […] zugleich Auto‐ ritäten waren, mußte eine Pluralisierung der Autoren zu einer Pluralisierung der Autoritäten führen. Da die Antike alles andere als ein homogener ‚Block‘ ist, kommt es notwendig zu einer Vielzahl unterschiedlicher Auffassungen, die sich alle autoritativ begründen lassen.“ 7 Indem Wahrheit als Ergebnis einer sprachlich geäußerten und argumentativ begründbaren opinio, nicht aber eines empirisch oder metaphysisch zu sichernden Wissens erscheint, gewinnt das Prinzip des Wettbewerbs epochale Relevanz. Hierzu bemerkte Gerhard Regn: „Frühneuzeitliche Autorisierungen sind deshalb häufig agonal. Autoritäten müssen als solche durchgesetzt werden, und deshalb ist Autoritätskonstitution mit Gesten der De-Autorisierung anderer Geltungspostulate verbunden.“ 8 Es ist somit offenkundig, dass für die Durchsetzung des eigenen Standpunkts, für die Selbstbehauptung unter der stets akuten Gefahr der eigenen Verdrängung die wichtigste Rolle der streitbaren Rhetorik, d.h. insbesondere dem Dialog und der Polemik zufällt. 9 Den Dialog hatte bereits Leonid Batkin als „eine der umfassendsten lo‐ gisch-historischen Definitionen der Renaissance“ bezeichnet. 10 Dabei geht es nicht um den Dialog als Medium dialektischen Vordringens zu einer gesicherten Wahrheit, sondern um die rhetorisch-argumentative Autorisierung, d.h. um das siegreiche Vertreten eines als wahr empfundenen oder zu vermittelnden Stand‐ 123 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 11 Vgl. hierzu Batkin 1981, 265. 12 Bruni, Dialogi ad Petrum Histrum 1 (Viti 1996, 84). 13 Vgl. Griggio 1996, 37: “L’impulso alla polemica sembra essere stato uno dei caratteri più appariscenti dello spirito critico degli umanisti e del loro, a volte incontenibile, orgoglio intellettuale e letterario.” 14 Pol. In Stat. Sylv. 92, 1-5 (Cesarini Martinelli 1978a). Ähnlich hatte sich Poliziano bereits 1479 im Brief zur Verteidigung Epiktets an Bartolomeo Scala geäußert (Pro Epicteto Stoico ad Bartolomaeum Scalam epistola (Poliziano 1553, 409)): Tibi vero, quod me ad hanc veluti pugnam provocaris, gratiam habeo: pertinet enim, id quod et Aristoteles ait, ad ingenii profectum contentiosa disceptatio. Ut iam divine Homerus pugnam ipsam, quod homines reddat illustres, κυδιάνειραν vocet […]. Vgl. Arist. Probl. 916b20 (διὰ τί οἱ ἐριστικοὶ λόγοι γυμναστικοί εἰσιν), wo die Nützlichkeit eristischer Dialektik aus ihrer ‚Wettkampfsituation‘ hergeleitet wird: Sowohl Sieg als auch Niederlage haben einen Lerneffekt zur Folge. Zur Einteilung der dialektischen Redearten in διδασκαλικοί, διαλεκτικοί, πειραστικοί und ἐριστικοί vgl. Arist. SE 2, 165a38-b8. punktes. Der Dialog entwickelte sich insbesondere in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts unter den Händen Leonardo Brunis, Poggio Bracciolinis und Lo‐ renzo Vallas zu voller Blüte. Bruni setzte dem Dialog zu Beginn seiner Dialogi ad Petrum Histrum ein Denkmal, indem er ihn durch die Person des Unterredners Coluccio Salutati hymnisch zum unabdingbaren, veredelnden Komplement des Bücherwissens erklärte. 11 Dabei spiele insbesondere der agonale Charakter des Dialogs eine Rolle: Triumphiere man im Dialog, erringe man sich gloria, sei man unterlegen, nage der pudor. Beides, Triumphgefühl und Scham, regten zu einem intensiveren Lesen und Lernen an - das bedeutet nichts anderes, als dass die Bücher mit Blick auf den Dialog gelesen werden sollen, das Studium also im Dialog seine Bestimmung findet. 12 Seine Fortsetzung findet der Dialog in der Polemik, die für das geistige Ge‐ präge und die Gelehrtenkultur der Renaissance in höchstem Maße charakteris‐ tisch ist. 13 Diese hat einen Brunis Lob des Dialogs analogen Preis von Poliziano selber erhalten, als dieser in einer berühmten Passage des Kommentars der sta‐ tianischen Silvae unter Rekurs auf eine Stelle der aristotelischen Problemata die ἐριστικοὶ λόγοι zum Träger des universalwissenschaftlichen Fortschritts er‐ klärte: 14 Inspicite, quaeso, grammaticos, dialecticos, oratores, medicos, astrologos ceterosque disciplinarum autores: multo profecto plura in eorum libris contra alios quam pro se ipsis scripta invenietis. Contentiosa enim illa disputatio, ut Aristoteles scribit, mag‐ nopere ingenium exacuit. Seht doch bitte einmal hinein in die Schriften der Grammatiker, Dialektiker, Redner, Ärzte, Astrologen und der Autoren der übrigen Wissenschaften: Ihr werdet sicherlich viel mehr finden, was sie gegen andere geschrieben haben als für sich selbst. Denn die 124 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 15 Vgl. Stauffer 1992, 1406: „Schon kurz nach Erfindung des Buchdrucks findet das pole‐ mische Schrifttum, von der italienischen Renaissancekultur weithin ausstrahlend und diese spiegelnd, zu einem ersten Höhepunkt.“ Ebd. 1412-1413 mit Literatur zur huma‐ nistischen Polemik. 16 Hierzu Bezner 2005, 353-355. 17 Vgl. Kristeller 1980, 5-7. 18 Hierzu grundlegend Müller 2006, 47-72; Hirschi 2010, 39: „Um den Renaissancehuma‐ nismus als spezifische Ausformung der europäischen Gelehrten- und Bildungsge‐ schichte zu beschreiben, kann es hilfreich sein, sich von der Fixierung auf die Inhalte der humanistischen Gelehrsamkeit ab und den habituellen Praktiken der Gelehrten zuzuwenden.“ Zur innovatorischen Bedeutung des Humanistenzirkels vgl. Burke 2005, 25. 19 Zuletzt hat man vermehrt die humanistischen Strategien der Selbstinszenierung er‐ forscht, wobei der von Stephen Greenblatt eingeführte Begriff des ‚self-fashioning‘ und der jüngere des ‚community-fashioning‘ Inszenierungsmodi beschreiben, die für die Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit charakteristisch sind; vgl. Greenblatt 1980; Häsner 2004; Laureys / Simons / Becker 2013, 4-5. polemische Auseinandersetzung schärft, wie Aristoteles schreibt, den Geist in erheb‐ lichem Maße. Für die Ausbildung des jeweils eigenen Standpunktes, für die Legitimation und Autorisierung der ‚eigenen‘ Autoren und für die Profilierung innerhalb einer agonalen Gelehrtenkultur spielt die Polemik die zentrale Rolle. 15 Beispielcha‐ rakter und ‚Vorbildfunktion‘ besitzt hier Lorenzo Valla, der wohl kritischste Geist und schärfste Polemiker der Frühen Neuzeit, dessen wiederholt zum Aus‐ druck gebrachtes Credo es war, immer anderer Meinung zu sein als alle an‐ deren. 16 Gerade im dialogischen und polemischen Austausch der Renaissancege‐ lehrten untereinander hat man in den letzten Jahren den Ansatzpunkt für ein besseres Verständnis des renaissancezeitlichen Humanismus gefunden. Hatte etwa Paul Oskar Kristeller die überragende Bedeutung des antiken Schrifttums in den Mittelpunkt seiner Humanismuskonzeption gestellt, den Humanisten mithin als denjenigen charakterisiert, der in den studia humanitatis, d.h. in Grammatik, Rhetorik, Dichtung, Geschichte und Moralphilosophie unterwiesen und tätig war, 17 erachtet man Kristellers Humanismusbegriff heute als zu eng und zu statisch. Neue dynamischere Modelle rücken die Einbindung des Hu‐ manisten in die ‚intellektuelle Konsensgemeinschaft‘ stärker in den Vorder‐ grund, wobei die ‚soziale Praxis‘, die Kommunikation zwischen den Gelehrten und damit die Selbstbehauptungspraktiken innerhalb der Humanistenzirkel in den Fokus der Untersuchungen geraten. 18 Dabei sind Praktiken der Selbst- oder Gruppenprofilierung, die im Dialog und im polemischen Schrifttum ihr bevor‐ zugtes Instrumentarium haben, von besonderer Bedeutung. 19 125 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 20 Einen Überblick über die Invektive bei den italienischen Humanisten, insbesondere bei Poggio, Valla und Filelfo, mit Forschungsstand und reicher Bibliographie gibt Helmrath 2010. 21 Burckhardt 2009, 129-130. 22 In Stat. Sylv. 90, 16-19 (Cesarini Martinelli 1978a); Hierzu Caruso 2015. 23 Pol. epist. 3, 19, 3 (Butler 2006, 200). 24 So bauschte etwa Ulrich von Hutten einen persönlichen Schuldenstreit zu einer ideo‐ logischen Fehde zwischen Scholastik und Humanismus auf; vgl. Laureys / Simons / Becker 2013, 10. Eine heutzutage als infantil und unrühmlich empfundene Nebenform der Po‐ lemik ist die Invektive, die sich in den Humanistenfehden der Renaissance reger Handhabe erfreute. 20 Die Praxis des persönlichen Angriffs, der häufig keines‐ wegs wissenschaftlich daherkam, sondern vielmehr unter die Gürtellinie zielte, war bereits von Jacob Burckhardt als Mittel zur Selbstbehauptung erkannt worden. Italien sei „eine Lästerschule, wie die Welt seitdem keine zweite mehr aufzuweisen gehabt hat“, und vom Florenz Machiavellis schreibt er: „Der große Ruhmesmarkt Florenz geht hierin […] allen anderen Städten eine Zeitlang voran. ‚Scharfe Augen und böse Zungen‘ ist das Signalement der Florentiner“. 21 Letzt‐ lich dient die Invektive wie der Dialog der Aufrechterhaltung oder Profilierung der eigenen (oder einer gemeinschaftlichen) persona und der Dekonstruktion eines gegnerischen Profils. Es geht insbesondere darum, Glaubwürdigkeit und Autorität des Gegners zu zerstören, d.h. um die argumentatio ad hominem und ad personam. Die Legitimation für diese Form der Polemik, gepaart mit einem Angriff ad rem, gibt Poliziano selber. Wiederholt hatte man ihm vorgeworfen, mit seinen humanistischen Gegnern, allen voran mit Domizio Calderini, allzu sehr ins Gericht zu gehen, was ihm eine Rechtfertigung seiner zuweilen heftigen Invektiven abnötigte. So erklärt er im Silvenkommentar: Equidem ita mea est sententia […] nihil tantopere ingeniis studiisque nostris officere quam si autoritatis potius quam rationis momenta quaeramus. 22 Polemik gegen die Person des Geg‐ ners diene der Destruktion seiner Autorität, die es verhindere, zu einem ver‐ nunftgestützten Urteil zu gelangen. Der Kampf für die Sache rechtfertige über‐ dies - und gerade, so Poliziano im Brief an Jacopo Antiquari - Polemik gegen bereits verstorbene Gelehrte, in deren Autorität das Gift der Unwahrheit wie die Schlange im Gras verborgen liege. 23 Eine weitere Besonderheit des Disputs zwischen frühneuzeitlichen Gelehrten lässt sich unter das Rubrum ‚Öffentlichkeit‘ einordnen: Ein Streit zwischen Ge‐ lehrten, mochte es auch nur um triviale private Angelegenheiten gehen, konnte gleichsam auf der Bühne vor einer breiteren Öffentlichkeit und unter einem ideologischen Banner ausgefochten werden. 24 Die ‚dritte Partei‘ - repräsentiert durch ein tatsächliches oder nur vorgestelltes Publikum, d.h. Hörer oder Leser 126 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 25 Zur Öffentlichkeit als Konstituens der Polemik Stenzel 1986, 5; Dieckmann 2005, 34- 35. Zur Zuordnung der Polemik zum Genus iudiciale vgl. Paintner 2011, 45. 26 Laureys / Simons / Becker 2013, 10; 14. 27 Verde 1973, 1, 263-392; 2, 26-29; Celenza 2010, 5-8. 28 Kap. B.1.2. 29 Del Lungo 1897, 182-183; Oliver 1958, 192-194. oder ein Richter, der den Streit entscheiden oder beilegen sollte - gewann enorm an Bedeutung, da die streitende Partei innerhalb der pluralen Gelehrtenkultur existentiell darauf angewiesen war, Anerkennung bzw. Autorität zu ge‐ winnen. 25 Dabei spielte freilich der Nachweis eigener kultureller oder intellek‐ tueller Überlegenheit eine Rolle; nicht zuletzt standen häufig materielle Inte‐ ressen im Vordergrund. So gewinnt das Verfahren insbesondere dort an Bedeutung, wo ein Mäzen zu entscheiden hat, welcher Gelehrte oder Dichter besonders gefördert zu werden verdient. 26 Die Atmosphäre am Hof Lorenzos und an der Universität beflügelte den humanistischen Wettbewerbsgeist enorm. Die bedeutendsten Florentiner Gelehrten - Argyropulos, Ficino, Landino, Poli‐ ziano selbst - konkurrierten nicht nur um Geltungsansprüche, vorrangige Pro‐ file und Wissenschaftssysteme, sondern auch - so lehrt ein Blick in die Univer‐ sitätsakten - um höhere Bezahlungen. 27 Wie verheerend der Entzug der schützenden Hand des Mäzens sein konnte, wird etwa sichtbar an der Kontro‐ verse zwischen Ficino und Pulci, auf die später noch eingegangen wird 28 - die Autorität Ficinos hatte genügend Gewicht, um seinen Widersacher aus der Gunst Lorenzos und damit aus Lohn und Brot zu drängen. Poliziano selbst erfuhr zweimal, was fehlende Mäzenatengunst bedeutete. Zunächst am Ende der Sieb‐ ziger Jahre, als ungeklärte Umstände zu den selbstgewählten Exilsjahren in Oberitalien (1479/ 80) führten; das zweite Mal entzog Lorenzo seinem Protegé die Gunst für immer: Die zwei Jahre nach dem Tod des Medicifürsten bis zu Polizianos eigenem Tod waren gekennzeichnet von beruflicher Unsicherheit und Anfeindung von allen Seiten: Nur kurze Zeit, bevor der Professor unter dubiosen Umständen starb, hatte man bereits seine Gehaltszahlungen kas‐ siert. 29 127 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 30 Ficinos berühmter Brief an Paulus von Middelburg aus dem Jahre 1492 gibt Aufschluss über das Selbstverständnis dieser Humanistengeneration: Florenz sei die neue Heim‐ stätte der Künste und Wissenschaften und Brutstätte der aurea ingenia, die sich sämt‐ liche Disziplinen - er zählt sie auf: Grammatik, Dichtung, Redekunst, Malerei, Bild‐ hauerei, Architektur, Musik - wieder erschlossen hätten. Die wichtigste Errungenschaft ist für Ficino freilich seine eigene: die Wiederbelebung des Platonismus (Ficino 1576, 1, 944). Vgl. hierzu Joachimsen 1910, 24; Buck 1965, 5-6; Kristeller 1972, 8-11. Vgl. auch Polizianos Aussage am Beginn der Oratio in expositione Homeri (1486), Athen sei mit all seinem (intellektuellen) Hausrat an den Arno übergesiedelt (Oratio 2 (Megna 2007, 4)). 31 Buck 1965, 6; Kristeller (zit. ebd.): “Platonism, without being a school or professional tradition, thus became a pervasive element of the intellectual climate.” In den letzten Jahrzehnten hat insbesondere die amerikanische Humanismusforschung den Einfluss Ficinos zu relativieren versucht, indem sie die Bedeutung des akademischen Zirkels in Careggi bezweifelte und für die Annahme einer offeneren, weniger auf den Ficinia‐ nismus beschränkten philosophisch-theologischen Diskussionskultur plädierte: z.B. Hankins 1991b; Kraye 1996, die als neues epochenspezifisches Datum eine theologische Diskussion erwog, die am 30. Juni des Jahres 1489 unter Leitung Lorenzos im Florentiner Dom zwischen Gelehrten verschiedenster Couleur - darunter Pico, Ficino und Poliziano - stattgefunden hatte. Dieses Datum liegt allerdings zu spät, als dass sich damit der Einfluss des Ficinianismus bestreiten ließe, dessen Entwicklung bereits in den 60er Jahren ihren Anfang nahm, als Ficino mit der Übersetzung der platonischen Dialoge begann und seinen Symposion-Kommentar fertigstellte. Auch in den 80er und 90er Jahren blieb Ficinos Philosophie, befördert durch die Übersetzung und Kommentierung der Werke Platons (Platonis opera omnia 1484 und die zweite Ausgabe Platonis Opera latina Marsilio Ficino interprete, Venedig 1491) und Plotins (Plotini Opera a Marsilio Fi‐ cino latine reddita, Florenz 1492) das dominierende philosophische System. 32 Brown 1992, 215: “This created a widespread vogue for platonic ideas.” Zu Geschichte und Einfluss der Platonstudien Ficinos und der Edition der Platonis opera omnia von 1484 Kristeller 1966; Hankins 1991a, 300-304. 1.1. Ficino und die platonische Dichtungslehre Die Florentiner Gelehrtenkultur des ausgehenden Quattrocento, die sich einer‐ seits selbst als plural empfand, 30 ihr Wirken andererseits von Gunst und Stipen‐ dium des Fürsten abhängig wusste, wurde durch die erbitterte Konkurrenz von Geltungsansprüchen bestimmt. In Florenz war es insbesondere die von den Me‐ dici geförderte Autorität Ficinos, an der sich die Gelehrten abzuarbeiten hatten: Ficinos Platonismus, der im Wesentlichen eine Verschmelzung christlicher und platonischer Philosophie war, avancierte ab den sechziger Jahren des 15. Jahr‐ hunderts zum einflussreichsten philosophischen System in Florenz. 31 1484 lagen sämtliche platonische Dialoge in Ficinos lateinischer Übersetzung gedruckt vor, was der ausgiebigen Rezeption des Philosophen den Boden bereitete. 32 Die Durchsetzung des Ficinianismus in Florenz ging grundsätzlich auf das Betreiben der Medici zurück: Der Florentiner Platonismus begann auf Geheiß Cosimos, der Ficino im Jahre 1463 mit der Übersetzung hermetischer und platonischer 128 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 33 Über die politische Funktion des Platonismus als Legitimation der Medici-Herrschaft Brown 1992, 215-245. 34 Mahoney 1986; Kraye 2007, 149-151. 35 Buck 1965, 5-6; Huss 2007, 12-13: „Sein [Ficinos] philosophisches System, basierend auf der platonistischen Tradition, ist ein Musterfall von aggressiver Pluralitätstilgung. Es ordnet alle pluralen Phänomene, die menschlicher Erfahrung zugänglich werden, dem unifizierenden Stufenmodell eines hierarchisch strukturierten Kosmos ein, für dessen Ursprung und Wahrheit das Eine Göttliche verantwortlich ist, dessen Erkenntnis und Verkündung sich das Ficinianische System auf seine Fahnen geschrieben hat.“ Schriften beauftragte (und ihm hierfür eine Villa in Careggi schenkte), und wurde von Lorenzo, wohl vor allem aus propagandistischen Gründen, zur Mo‐ dephilosophie erhoben. 33 Ficino galt bereits den Zeitgenossen als Galeonsfigur des philosophischen Paradigmenwechsels und des neuen, wahren Platonismus, wodurch er zu den zentralen Gestalten des intellektuellen und kulturellen Lebens in Florenz zählte. Dies bedeutete zugleich, dass seine Person und seine Lehre unweigerlich ins Visier der führenden Gelehrten gerieten. Es war insbesondere der Ficinianismus, der den Humanisten des ausgehenden Quattrocento Referenzpunkt und Rei‐ bungsfläche gleichermaßen bot. Selbst hartgesottene Aristoteliker außerhalb von Florenz konnten sich dem Einfluss des epochalen Erschließungswerks Fi‐ cinos nicht entziehen, wenngleich sie ihn insbesondere als Kontrastfolie für ihre eigene Lehre benutzten. 34 Dass die dominierende Gestalt des Plato Florentinus auch von Poliziano als bedrohlich empfunden werden musste, erklärt sich aus dem spezifischen geistig-kulturellen Gepräge, aus der ‚Atmosphäre‘ der zweiten Hälfte des Quat‐ trocento. Ficino versuchte, die epochentypische, von den Humanisten selbst als solche empfundene Pluralität systematisch einem autoritären Platonismus ein‐ zuordnen, womit er das Ziel einer metaphysischen Sinnstiftung verband. 35 Wenn Ficinos Platonismus dabei auch auf Bereiche ausgriff, die Kollegen und anderen Gelehrten vorbehalten waren - so besonders auf die Dichtung -, rief dies not‐ wendigerweise polemische Reaktionen hervor. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Poliziano seine Angriffe gegen Ficino als Dichter und auf dem Boden der Dichtungsreflexion begann. In der Dichtungstheorie geschah Ficinos Vereinnahmung der Künste, ihre Einordnung in ein komplexes, auf platonisch-christlicher Philosophie ruhendes Welterklärungsmodell, in vollkommener Weise. Hierzu setzte Ficino an einem Theorem an, welches die frühen Humanisten für den ideologischen Kampf gegen die scholastischen Feinde der heidnischen Dichtung erarbeitet hatten: Dichtung ist Philosophie und von Gott selbst gegebene Theologie. Um die fici‐ nianische Dichtungsreflexion in ihren Grundlagen und ihrer Tragweite zu ver‐ 129 1.1. Ficino und die platonische Dichtungslehre 36 Thomas von Aquin, Summa theologiae, qu. 1, 1, 9: Illud enim quod est proprium infimae doctrinae, non videtur competere huic scientiae, quae inter alias tenet locum supremum […]. Procedere autem per similitudines varias et repraesentationes est proprium poeticae, quae est infima inter omnes doctrinas. 37 Hierzu Bader 326. Zu den πρῶτοι θεολογήσαντες Arist. Metaph. 983b29; vgl. Curtius 1993, 222-228. 38 Bader 2009, 327. Das Zitat ist Mussato, epist. 4, 45-46 (Chevalier 2000, 36). 39 Mussato, epist. 4, 67-70 (Chevalier 2000, 37 liest den umstrittenen Vers 70 Carmen cur de se iure querantur habent). 40 Zur Auseinandersetzung Greenfield 1981, 80-90; Chevalier 2000, XCI-CXVIII. stehen, werden zunächst die wichtigsten Entwicklungsschritte der langlebigen Vorstellung einer göttlichen Dichtung in der Renaissance skizziert. Die humanistisch-platonistische Dichtungslehre war aus einem Streit er‐ wachsen, der sich am Urteil des Thomas von Aquin, die Dichtung sei aufgrund ihres minimalen Wahrheitsgehaltes die niedrigste aller Wissenschaften (infima doctrina), entzündet hatte. 36 Dabei hatte sich der Kirchenlehrer allerdings in of‐ fenen Gegensatz zu einer im Mittelalter weit verbreiteten Vorstellung gesetzt, mit welcher die Prädikation der Dichtung als geringste unter den Mägden der Theologie nur schwer vereinbar war: der Vorstellung des poeta theologus, die in erster Instanz auf Aristoteles selbst zurückging. 37 Es war eben des Kirchenleh‐ rers Erörterung, die den frühen Humanisten einen Ansatzpunkt bot, von dem ausgehend ein Konzept zur Rehabilitierung der antiken heidnischen Dichtung erarbeitet werden konnte. Dem thomistischen Urteil musste widersprochen, der infima doctrina ein neuer Rang, möglichst der höchste zugeordnet werden. Der Theologe Günter Bader hat die Entstehung des renaissancezeitlichen Dich‐ tungskonzepts aus dem Geiste der vorhumanistisch-scholastischen Polemik he‐ raus pointiert auf den Punkt gebracht: „Kaum hat Thomas ausgesprochen, ist schon Albertino Mussato zur Stelle, um Poesis als höchste Form des Wissens zu bezeichnen: Haec fuit a summo demissa scientia caelo / Cum simul excelso ius habet ille Deo. Mit diesen Versen beginnt die Renaissance-Poetologie.“ 38 Mussato bringt seine Aufwertung der Dichtung in gezielter Instrumentalisierung des aristotelischen Begriffs der πρῶτοι θεολογήσαντες auf eine streitbare Formel: Hi ratione carent, quibus est invisa poesis / Altera quae quondam philosophia fuit. / Forsan Aristotilis si non videre volumen / Causam cur de se iure querantur ha‐ bent. 39 Mussatos radikale Aufwertung der Dichtung blieb freilich ihrerseits nicht ohne Replik. So forderte sie etwa den Widerspruch des Dominikanermönchs Fra Giovannino heraus, der Mussatos Schlagwort der Dichtung als einer ars divina im Wesentlichen die Argumente entgegenhielt, die Thomas unter Rekurs auf die aristotelische Metaphysik bereitgestellt hatte. 40 Zwar sei es richtig, dass nach 130 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 41 Curtius 1993, 223; Greenfield 1981, 88. 42 Boccaccios Genealogie und Salutatis De laboribus Herculis richteten sich nicht nur gegen die Theologen, sondern auch gegen Juristen und Mediziner; Robey 1984, 626: “The at‐ tack came from theologians, monks and the clergy, as well as from members of the established professions of law and medicine.” 43 Plett 1994, 16: „Das gleiche Verfahren, das die Theologen seit dem Altertum auf die Erklärung der Hl. Schrift verwandten, postuliert nun der poeta theologus für die welt‐ liche Poesie.“ Vgl. auch Steppich 2002, 45-58. Cassians Einteilung der geistlichen Er‐ klärungsebene in Allegorie, Tropologie und Anagogie führte schließlich zum sog. „vier‐ fachen Schriftsinn“, der später von Augustinus von Dänemark in die hexametrischen Merkverse gefasst wurde: Littera gesta docet, quid credas allegoria, / moralis quid agas, quid speres anagogia. Hierzu Walter 2009 mit der einschlägigen Literatur. dem Zeugnis des Aristoteles die Dichter gleichzeitig Philosophen und in ge‐ wisser Weise auch Theologen gewesen seien, da sie über den Ursprung der Welt und über den höchsten Gott nachgedacht hätten. Da sie allerdings annahmen, das Wasser sei das höchste Göttliche und der Beginn des Lebens, litten sie ganz offenkundig an einem defectus veritatis. 41 Der ideologische Schlagabtausch zwi‐ schen Albertino Mussato und Fra Giovannino war nur eine von zahlreichen interdisziplinären Auseinandersetzungen, die den renaissancezeitlichen Dis‐ kurs über Ursprung, Wesen und Aufgabe der Dichtung nachhaltig prägten und die den Humanisten der ersten Generation, namentlich Boccaccio und Salutati, umfängliche Verteidigungsschriften abnötigten. 42 Dabei erwiesen sich zwei Konzepte als argumentativ belastbar, die guter mittelalterlich-christlicher Tra‐ dition entsprangen und sozusagen unter veränderten Vorzeichen nunmehr für die Legitimation der heidnischen Dichtung herangezogen wurden: die Lehren von der dichterischen Inspiration und von der bildhaften Verhüllung der Wahr‐ heit durch die Dichtung. Im Wesentlichen blieben die Argumente der frühen Humanisten diejenigen der patristischen und scholastischen Bibelauslegung: Hatten die Theologen versucht, die Bibel den heidnischen Werken in dichter‐ ischer Hinsicht als ebenbürtig zu erweisen, so wandten die Humanisten nun dieselbe exegetische Methode - die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn, die von Origenes und Johannes Cassian entwickelt und systematisiert wurde - auf die heidnische Dichtung an. 43 Neue Texte lieferten neue ‚Beweise‘ für das Konzept des inspirierten Dichters, der die göttliche Wahrheit unter dem Schleier der Fiktion verberge, so die von Petrarca wiederentdeckte Cicero-Rede Pro Archia poeta, wo der göttliche Ursprung der Dichtung auf einen prägnanten Begriff 131 1.1. Ficino und die platonische Dichtungslehre 44 Cic. Arch. 11: Atque sic a summis hominibus eruditissimisque accepimus, ceterarum rerum studia et doctrina et praeceptis et arte constare: poetam natura ipsa valere, et mentis viribus excitari, et quasi divino quodam spiritu inflari. Qua re suo iure noster ille Ennius sanctos appellat poetas, quod quasi deorum aliquo dono atque munere commendati nobis esse videantur. Petrarca hatte das Manuskript von Pro Archia 1333 in Lüttich entdeckt; vgl. Petr. Rer. fam. 13, 6 (Martelli 1975, 962); Steppich 2002, 111; Bruni 2008, 61. 45 Epist. 6, 1 (zit. nach Resta 1976, 144): Sunt enim furoris, ut a Platone traditur, species duae: una ex humanis proveniens morbis, mala profecto res ac detestanda, altera ex divina mentis alienatione; divini rursus furoris partes quattuor: vaticinium, misterium, poesis et amor. His vero deos totidem praeesse veteres putaverunt: nam vaticinium Apollini, misterium Dionyso, poeticam Musis, amorem Veneri tribuebant. Der zugrunde liegende platonische Text ist Phaedr. 265a-b. gebracht worden war. 44 Petrarca hatte die Doktrin vom Dichterwahnsinn auf lateinische Quellen, vor allem auf Cicero und den dort zitierten Ennius zurück‐ geführt, nicht aber auf den von ihm vor Aristoteles zum princeps philosophorum gekrönten Platon - freilich aus Unkenntnis platonischer Schriften wie dem Ion oder dem Phaidros. Zur platonischen Dichtungslehre wird die Poetik der frühen Humanisten erst zu Beginn des Quattrocento durch das Übersetzungswerk Leonardo Brunis. Wenngleich sich die Poetik ihrer legitimierenden Funktion entkleiden konnte, da feindliche Angriffe an Zahl und Intensität weit geringer geworden waren, blieben Allegorese und Inspirationsdoktrin ihre integralen Bestandteile. Die platonische Poetik konnte nun allerdings auf eine breitere definitorische Basis gestellt und an griechische Originaltexte rückgebunden werden. Während Mus‐ sato, Petrarca, Boccaccio und Salutati ausschließlich lateinische Quellen benutzt hatten, um die Theorie vom göttlichen Ursprung der Dichtung und der poeti‐ schen Inspiration salonfähig zu machen, griff Leonardo Bruni, der bedeutendste Schüler Salutatis, zum ersten Mal auf die griechischen Vorlagen zurück. Bruni hatte im Jahre 1424 den Phaidros übersetzt und war damit beispielsweise in der Lage, dem sizilianischen Dichter Giovanni Marrasio in einem berühmt gewor‐ denen Brief (1429) eine Darstellung der platonischen Mania-Lehre zu bieten. 45 Die frühhumanistische afflatio des Dichters durch Gott wird nunmehr auf den wirkmächtigen Terminus der divina alienatio mentis gebracht, wo der Begriff der θεία ἐξαλλαγή τῶν εἰωθότων νομίμων, die den musenbegeisterten Dichter ereile (Phaedr. 265a), mit der berühmten Stelle zusammenfließt, an der Platon demjenigen Dichter Scheitern voraussagt, der ohne den Musenwahn (μανία Μουσῶν) und allein im Vertrauen auf seine Kunstfertigkeit (ἐκ τέχνης) an die Pforten der Dichtkunst klopft (Phaedr. 245a). Es war schließlich Ficino, der eine umfängliche Systematisierung des renais‐ sancezeitlichen Dichtungsdiskurses vornahm. Er nahm Brunis Begriff der alie‐ 132 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 46 Ficino, Theol. Plat. 13, 2, 5 (Allen / Hankins 2004, 126); vgl. hierzu auch des Sokrates Begegnung mit den Dichtern in Plat. Apol. 22b-c. 47 Im Ion-Kommentar (In Platonis Ionem) bringt Ficino seine Vorstellung des furor poeticus als Stimulans des anamnetischen Prozesses auf den Punkt (Allen 2008, 200; Ficino 1576, 2, 1282-1283): Exsuscitat e somno corpora ad vigiliam mentis, ex ignorantiae tenebris ad lucem, ex morte ad vitam, ex oblivione lethaea ad divinorum reminiscentiam revocat, exa‐ gitat, stimulat et inflammat ad ea quae contemplatur et praesagit carminibus expri‐ menda. Hierzu Steppich 2002, 165. Zur Vorstellung und zum Problem der imitatio bei Ficino vgl. Megna 1999, 107-142; Lazzarin 2011. natio mentis auf, die für ihn die einzig mögliche Form dichterischer Inspiration war und als solche unbedingte Voraussetzung für die Ideenschau des Dichters. In der Theologia Platonica von 1474 führt Ficino für die Existenz des dichter‐ ischen furor drei Belege an, die er im Phaidros und im Ion finden konnte. Erstens reiche ein Menschenleben nicht hin, um eine einzige Wissenschaft erschöpfend zu durchdringen; Dichter wie Orpheus, Homer, Hesiod und Pindar aber hätten das Wissen sämtlicher Disziplinen in ihren Werken vereint, was auf göttliche Eingebung zurückzuführen sei. Zweitens verstünden inspirierte Dichter das, was sie im Wahnsinn hervorgebracht hätten, nach dessen Abklingen (defervesc‐ ente furore) selbst nicht mehr zur Genüge, womit bewiesen werden könne, dass Gott durch sie - wie durch Trompeten - gesprochen habe. Drittens hätten sich häufig Verrückte (insani) wie Lukrez und Homer oder Ungebildete wie Hesiod als die größten Dichter erwiesen, nicht aber außerordentlich verständige Men‐ schen, die von Jugend an höchste Bildung genossen hätten. Es seien ja gerade die Ungeeignetsten, die von den Musen ergriffen würden, da die göttliche Vor‐ sehung (divina providentia) den Menschen künden wolle, dass vortreffliche Dichtungen nicht auf menschlicher Kunst beruhten, sondern göttliche Ge‐ schenke seien (non hominum inventa esse praeclara poemata, sed caelestia mu‐ nera). 46 Um zu erklären, wie der Dichter mittels alienatio zu seinem Wissen kommt, greift Ficino auf die platonische Lehre von der Anamnesis zurück, wo‐ nach sich die unsterbliche Seele ihres apriorischen Ideenwissens erinnert, das sie mit dem Abstieg in den Körper vergessen hat. Der Mensch bedarf eines An‐ stoßes von außen, etwa der Irritation oder Provokation eines Lehrers, um auf dem Wege der Dialektik von den Phänomenen zum wahren Wissen emporzud‐ ringen, oder aber, wie der Phaidros (244a-245a) lehrt, des erotischen, propheti‐ schen, heiligen oder dichterischen Wahnsinns (ἐνθουσιασμός), der von der sinnlichen Wahrnehmung irdischer Schönheit zur seligen Schau der wahren Schönheit führt. 47 Durch einen Gnadenakt Gottes wird die Dichterseele, in Fi‐ cinos Terminologie hier das ingenium, auf das dieser selbst keinen Zugriff hat, 133 1.1. Ficino und die platonische Dichtungslehre 48 Epist. 1, 6 (Gentile 1990, 24). 49 Zur Kontinuität der wichtigen Rolle der vulgärsprachlichen Dichtung für die Philoso‐ phie in Mittelalter und Renaissance vgl. Ott 1986, 160-164. 50 Vgl. Ficino, epist. 1, 6 (Gentile 1990, 19-28). 51 Ficino, epist. 1, 6 (Gentile 1990, 19-20). vom körperlichen Schmutz gelöst: ingenium a corporis luto abstractum est atque absolutum. 48 Das wesentliche Merkmal schließlich der ficinianischen Dichtungstheorie war ihre Verknüpfung mit der vulgärsprachlichen Liebeslyrik. Zwar konnte die gegenseitige Beeinflussung von volkssprachlicher Dichtung und Philosophie auf eine bereits mittelalterliche Tradition zurückblicken, doch erlebte sie in der zweiten Hälfte des Quattrocento, zumal durch die quellengerechte Erschließung der platonischen Philosophie, eine unbestrittene Blüte. 49 In seiner frühesten Be‐ sprechung der platonischen Enthusiasmus-Lehre, dem De divino furore beti‐ telten Brief 1, 6 an Peregrino degli Agli vom 1. Dezember 1457, wird die Zusam‐ menführung von Inspirations- und figmentum-Doktrin und vulgärsprachlicher Liebesdichtung evident. 50 Ausgehend von den traditionell herangezogenen Ci‐ cero-Stellen, die Platon und Demokrit als Paten des furor-Konzepts benennen (div. 1, 80; de orat. 2, 194), beglückwünscht Ficino den Adressaten zu seiner vorzüglichen dichterischen Gabe, nicht allerdings ohne ihn zur gebotenen Be‐ scheidenheit aufzufordern: 51 Id vero non arti modo ac studio, sed, et multo magis, divino illi furori, sine quo quen‐ quam magnum unquam fuisse virum Democritus ac Plato negant, ascribo; quo te aff‐ lari, ut ita dixerim, ac penitus corripi, concitatiores quidam motus affectusque arden‐ tissimi, quos scripta tua exprimunt, argumento esse possunt. Atque hanc ipsam, que externis motibus fit, concitationem, potissimum philosophi veteres argumentum esse voluerunt, vim quandam in animis nostris esse divinam. Dies aber [deine dichterische Begabung] schreibe ich nicht nur deiner Kunstfertigkeit und deinen Studien zu, sondern in viel höherem Maße jenem göttlichen Wahnsinn, ohne den es, wie Demokrit und Platon sagen, niemals einen großen Mann gegeben hätte. Dass du von diesem Wahnsinn sozusagen angehaucht wirst und ganz und gar ergriffen, davon zeugen freilich die Heftigkeit der Empfindung und das mächtige Feuer des Gefühls, die aus deinen Werken sprechen. Und gerade dieses Feuer, das durch äußere Einflüsse entsteht, nahmen die Philosophen der Antike zum Beweis, dass in uns eine göttliche Kraft waltet. Ficino externalisiert unter getreuer Beachtung des platonischen Ursprungstexts die Aufregung der Dichterseele, indem er sie expressis verbis als göttliche Kraft 134 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 52 Ficino, epist. 1, 6 (Gentile 1990, 28). 53 Zur Beziehung Ficinos zu den vulgärsprachlichen Dichtern, besonders zu Dantes Con‐ vivio vgl. Nelson 1958, 83-84; Storey 2003, 606; Wurm 2008, 181-193; Huss 2007, 83- 86. Die Information, dass Ficino bereits in jungen Jahren die Divina Commedia aus‐ wendig herzusagen wusste, legt Landino im 4. Buch der Disputationes Camaldulenses Ficino selbst in den Mund (vgl. Wurm 2008, 182-183). 54 Hierzu Kristeller 1972, 269-270. Vgl. auch Wurm 2008, 193-203. 55 Kristeller 1972, 270. versteht, die durch äußere, also göttliche Bewegung vom Dichter Besitz ergreift. Ausdrücklich betont Ficino die Fremdbestimmung des Dichters am Ende des Briefes, als er erklärt, warum er über den furor amoris und den furor poeticus am ausführlichsten gehandelt habe: Zum einen, da Peregrino als junger Mann und als hochbegabter Dichter gerade von diesen beiden heftig ergriffen werde, und zum anderen, damit er nicht vergesse, dass alles, was er zu Papier bringe, das Werk Jupiters und der Musen sei, von deren göttlichem Hauch er erfüllt werde, nicht aber auf sein eigenes Talent zurückzuführen sei: ut memineris que a te scribuntur ab Iove Musisque, quarum spiritu ac divinitate compleris, non abs te proficisci. 52 In Ficinos Symposion-Kommentar, dem Commentarium in convivium Platonis de amore, wird der beträchtliche Einfluss der vulgärsprachlichen Dichtung auf die Eroskonzeption Ficinos greifbar. Bereits in der konzeptuellen Anlehnung von De amore an das Convivio Dantes offenbart sich die Intention Ficinos, über die Dichtungsexegese seine Philosophie einem breiteren Publikum zugänglich und populär zu machen. 53 Die Liebesdiskurse, die Ficino in seinem Werk vereinte und systematisierte, waren durch die vulgärsprachliche Liebesdichtung, insbe‐ sondere durch den dolce stil nuovo und durch Petrarca, vorgegeben. 54 Paul Oskar Kristeller bemerkte hierzu: 55 Vielmehr ist die Liebesspekulation Ficinos, wie man mehrfach beobachtet hat, vor allem durch die alte provenzalische und toskanische Lyrik vorbereitet worden, an deren Vorstellungen er ganz bewußt angeknüpft hat. Das ausdrückliche Zitat des Guido Cavalcanti […] ist unter diesem Gesichtspunkt von der allergrößten Bedeutung, und auch sonst ist der Einfluß der alten Dichter bei Ficino deutlich zu spüren. Die physiologische Theorie von der Entstehung der Liebe, welche den spiritus vom Herzen des Geliebten durch die Augen zu dem Auge und Herzen des Liebenden gelangen läßt, sowie die gesamte Formelsprache der Liebe, welche die Seelen miteinander vertauscht und ineinander verwandelt, sind offenbar aus der Poesie zu Ficino gekommen und von ihm nur in ein strengeres gedankliches System gebracht worden. Ficino stellt insofern ein Scharnier zwischen der ‚alten‘ und der ‚neuen‘ Lyrik dar, als er den rinascimentalen discorso d’amore in das Konzept der platonischen 135 1.1. Ficino und die platonische Dichtungslehre 56 Kristeller 1972, 270. Buck 1965, 44 nennt den platonischen Liebesbegriff ein „Element […], das der Liebeslyrik der vorhergehenden Epochen, wenn auch nicht völlig unbe‐ kannt gewesen war, so doch immerhin ziemlich fern gestanden hatte.“ 57 Zur strukturellen, wenngleich im Einzelnen nicht strikt durchgehaltenen Übereinstim‐ mung des Ficinianischen Eros-Begriffs mit Plotins Enneade III 5 vgl. Wurm 2008, 146- 151. Liebe überführte und diese neue Sichtweise auf die Liebe seinen Nachfolgern, allen voran Lorenzo und Pico, als Schaffensgrundlage weitergab. Es war insbe‐ sondere die „Herleitung der Liebe zwischen zwei Menschen aus der Liebe des einzelnen Menschen zu Gott“, welche den Stilnovisten und Petrarca noch fremd, für Lorenzo und Pico grundlegender Bestandteil der Liebeskonzeption war. 56 Ficinos Stufenmodell der unterschiedlichen Liebeskonzepte hat seinen Ur‐ sprung in der Unterscheidung zwischen einer Ἀφροδίτη οὐρανία und einer Ἀφροδίτη πάνδημος, die Platon im Symposion den Unterredner Pausanias vor‐ nehmen ließ. Hieraus entwickelt Ficino ein duales, auf plotinischen Seinsprin‐ zipien beruhendes System einer im Kosmos wie im Menschen wirkenden ero‐ tischen Kraft (cap. 2, 7: De duobus amoris generibus ac de duplici Venere). 57 Die himmlische Venus wird im Rahmen plotinischer Kosmologie als Metapher für die Erkenntnisfähigkeit der mens angelica, des sog. Weltintellekts, der dem νοῦς bei Plotin entspricht, etabliert. Ihr wird ein Begleiter zugeordnet, ein ihr ähnli‐ cher Amor, d.h. ein Liebestrieb, durch den sie beständig zur Erkenntnis der göttlichen Schönheit hingerissen wird. Die gemeine Venus hingegen gehört der Weltseele (anima mundi, bei Plotin ψυχὴ τοῦ παντός) an und hat ihrerseits einen Amor zum Begleiter, der sie dazu antreibt, die göttliche Schönheit in der Materie hervorzubringen. Dabei folgt Ficino plotinischer Emanationslehre und Meta‐ phorik: Der Weltintellekt (νοῦς), vorgestellt durch die himmlische Venus, nimmt das Licht Gottes (bzw. des Einen) in sich auf und strahlt es auf die ontologisch niedriger stehende Weltseele (ψυχή), repräsentiert durch die gemeine Venus, aus, welche den Abglanz der empfangenen göttlichen Idee in sinnlich erfahrbare Welt umsetzt. Hier knüpft die entsprechende Behandlung der beiden erotischen Kräfte der Individualseele an, die die Schönheit der Körper mittels der Augen begreift. Die himmlische Venus figuriert auf der individuellen Ebene als Erkenntnisvermögen (vis intelligendi), die gemeine als Zeugungsvermögen (potentia / vis generandi). Der Amor der himmlischen Venus stellt bildhaft den Drang des Menschen zur Kontemplation der göttlichen Schönheit dar, treibt ihn zur Beschäftigung mit Philosophie, zu Gerechtigkeit und Frömmigkeit, der Amor der gemeinen Venus symbolisiert das Verlangen, eine der angeschauten ähnliche Schönheit in den Nachkommen zu reproduzieren. Ficino schließt die Ausführungen des Kapitels 136 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 58 De amore 6, 10 (Marcel 1956, 218): Amor […] ab aspectu ducit originem. über die doppelte Natur der Liebe mit dem Hinweis, dass beide Formen der Liebe, die himmlische und die gemeine, positiv zu bewerten seien, da sie beide auf die göttliche Schönheit gerichtet seien: Amor uterque honestus atque probandus. Uterque enim divinam imaginem sequitur. In Kapitel 6, 8 ergänzt Ficino das Modell um drei weitere Amores, die in der Individualseele wirksam sind. Die beiden Amores, die der jeweiligen Venus zu‐ geordnet waren, werden aufgrund ihrer unveränderlichen, weil im Kosmos wir‐ kenden Natur demones genannt, die mittleren drei, weil sie menschlich und des‐ halb veränderlich sind, affectus oder motus. Nimmt die menschliche Seele einen Körper wahr, der nach Maßgabe der göttlichen Idee schön ist, so findet sie au‐ genblicklich Gefallen an ihm, da er mit den der Seele eingeborenen göttlichen Formen übereinstimmt. Mithilfe der Theorie der drei mittleren Amores erklärt Ficino, wie Disposition und Erziehung des Betrachters die Reaktion auf die op‐ tische Wahrnehmung des schönen Körpers - von dieser geht alles aus 58 - be‐ dingen: Hinc triplex, ut diximus, subrepit amor. Aut enim ad contemplativam, aut ad activam, aut ad voluptuosam vitam prompti et proclives geniti educative sumus. Si ad contem‐ plativam, statim a formae corporalis aspectu ad spiritalis atque divinae considera‐ tionem erigimur. Si ad voluptuosam, subito a visu ad concupiscentiam tangendi des‐ cendimus. Si ad activam atque moralem in sola illa videndi et conversandi oblectatione perseveramus. Somit wirkt, wie gesagt, ein dreifacher Amor. Denn wir sind so disponiert oder er‐ zogen, dass wir entweder dem kontemplativen, dem aktiven oder dem genusssüch‐ tigen Leben zuneigen. Neigen wir dem kontemplativen Leben zu, so erheben wir uns beim Anblick eines schönen Körpers sofort zur Betrachtung der geistigen und göttli‐ chen Schönheit. Neigen wir dem genusssüchtigen Leben zu, erniedrigen wir uns au‐ genblicklich vom Sehen zur Gier nach Berührung. Neigen wir schließlich dem tätigen und anstandsvollen Leben zu, belassen wir es allein beim Genuss, den uns das Schauen und der Umgang bieten. Den drei Seelenbewegungen werden Bezeichnungen beigelegt, die den drei Le‐ bensformen entsprechen: Der Drang zum kontemplativen Leben wird ‚göttlich‘ genannt (amor divinus), derjenige zur Auslebung der Lust ‚tierisch‘ (amor fer‐ 137 1.1. Ficino und die platonische Dichtungslehre 59 Huss 2007, 92. Zum definitorischen Dilemma des Schemas, das in der positiven Valori‐ sierung beider kosmologischer Veneres einerseits, in der moralphilosophischen Ableh‐ nung der Venus vulgaris andererseits besteht, vgl. Huss 2007, 93-95. 60 De amore 6, 10 (Marcel 1956, 219); hierzu Kristeller 1972, 250-251. 61 Theol. Plat. 14, 1, 4 (Allen / Hankins 2004, 222). Vgl. Kristeller 1972, 250: „Der […] Ver‐ gleich mit dem Angelhaken macht den eigentlichen Sinn der ficinischen Schönheits‐ theorie vollends deutlich. Das Schöne in den Dingen ist gleichsam der Köder, durch den die Seele des Liebenden zu Gott hingeführt wird.“ 62 Phaedr. 265a: Μανίας δέ γε εἴδη δύο, τὴν μὲν ὑπὸ νοσημάτων ἀνθρωπίνων, τὴν δὲ ὑπὸ θείας ἐξαλλαγῆς τῶν εἰωθότων νομίμων γιγνομένην. inus), der zum tätigen Leben ‚menschlich‘ (amor humanus). Hieraus ergibt sich das folgende, Bernhard Huss entnommene Schema: 59 Amor (demon) ad divinam pulchritudinem pervidendam amor (affectus) ad contemplativam vitam [= amor divinus] amor (affectus) ad activam vitam [= amor humanus] amor (affectus) ad voluptuosam vitam [= amor ferinus] Amor (demon) ad sobolem procreandam Zentrales Element der ficinianischen Liebes- und Schönheitskonzeption ist die Aufwärtsbewegung, die die Seele des Menschen zu Gott emporführt: Dringt der göttliche Lichtstrahl (pulchritudinis radius), der aus den Augen des schönen Menschen „wie durch Fenster“ hervorleuchtet, in die Augen des Beschauers ein, verwundet er die Seele und erregt ihr das Verlangen, zu Gott emporzusteigen. Das Verlangen wird gestillt, indem sie der Lichtstrahl mit sich fortnimmt und sie durch die Seinsstufen empor und schließlich zu Gott führt. Der Aufstieg der Seele erfolgt ohne das Bewusstsein des Menschen, der weder Ruhe noch Erlö‐ sung von seinem Liebesverlangen findet. 60 In der Theologia Platonica prägt Fi‐ cino zur Veranschaulichung des unbewussten Vorgangs des Seelenaufstiegs das Bild des Angelhakens: Ubi constat animum divino uri fulgore, qui in formoso homine micat quasi speculo atque ab eo clam raptum quasi hamo trahi sursum ut deus evadat. 61 Analog zum Seelenaufstieg durch die ‚gute‘, himmlische Liebe widmet sich Ficino in breiter Ausführlichkeit auch den Folgen der weltlichen Liebe, genauer: des amor ferinus. Ausgehend von der platonischen Unterscheidung zweier Arten von Wahnsinn, dem göttlichen, der in die vier bekannten maniai zerfällt, und dem krankhaften, 62 bietet Ficino in der Person des Dichters Guido Cavalcanti (1255-1300) über zehn Kapitel hin (7, 3-12) eine detaillierte Beschreibung der 138 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 63 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Epikureismus hatte sich bereits seit den 30er Jahren des Quattrocento etabliert, nachdem das lukrezische Lehrgedicht durch seine Entdeckung durch Poggio 1417 einen fundierteren Zugang zu Epikur ermöglichte. Den größten Einfluss entfaltete De rerum natura, ablesbar an der Zahl der Handschriften und Drucke, seit der Jahrhundertmitte. Vgl. Brown 2001, 11-12 mit Anm. 3 und dies. 2010, 1-15. Ficino war einer der ersten, der sich mit dem Werk des Lukrez eingehend beschäftigte: Er verfasste, puer adhuc, commentariola zu Lukrez, die er später ver‐ brannte, und einen Traktat De voluptate (1457), in dem er sich durchweg positiv zum epikureischen Ideal der tranquillitas animi äußerte, das er scharf von den hedonisti‐ schen Zielsetzungen der kyrenäischen Schule Aristipps schied. Zudem zeugen mehrere Briefe von regem Interesse am lukrezischen Werk, dem er mehrfach längere Zitatpas‐ sagen entnahm, um seinen Briefpartnern die epikureische Philosophie zu erläutern. Vgl. Brown 2010, 20. 64 Lucr. 4, 1052-1056; 1108-1114. 65 De amore 7, 3 (Marcel 1956, 245). 66 De amore 6, 9 (Marcel 1956, 214). depravierten Form der Liebe. Insbesondere greift er dabei auf Lukrez zurück, dem sich Ficino bereits früh philosophisch genähert hatte. 63 So überlässt er die Erläuterung eines ‚eigenartigen Effekts‘ der weltlichen Liebe (7, 6: mirus effectus vulgaris amoris) nahezu unkommentiert dem Philoso‐ phen: Es handelt sich um den infolge der Verwundung durch den Liebespfeil angestrebten Säfteaustausch zwischen den Liebenden, der in den gierig vollzo‐ genen Beischlaf mündet. 64 Durch den krankhaften Liebeswahn werde der Mensch seines Geschlechts unwürdig: Insanie morbo infra hominis spetiem homo deicitur et ex homine brutum quodammodo redditur. 65 Im schlimmsten Falle zwinge ihn das verwerfliche Liebessehnen gar in den Selbstmord - Paradebei‐ spiel freilich Lukrez: Quod Lucretio philosopho epicureo propter amorem legimus accidisse, qui, amore primum insania deinde vexatus, sibi tandem ipsi manus in‐ iecit. 66 Wiewohl die Einpassung der niederen Form der Liebe in den Rahmen des Symposion-Kommentars in Distanzierung zu ihr geschah, machte sie Ficinos Liebesmodell dennoch angreifbar. 1.2. Kritik an Ficino Fraglos fand Ficinos Dichtungslehre wichtige Anhänger: So hatte Landino der Allegorese als wichtigstem neuplatonischem Instrument der Textauslegung in seinen Disputationes Camaldulenses ein Denkmal gesetzt, die Inspirations‐ doktrin seines Schülers und Meisters Ficino unverändert übernommen und sie an vielen Stellen seines Werks, in seiner Antrittsvorlesung am Studio Fiorentino 139 1.2. Kritik an Ficino 67 Nebes 2001, 112-116. 68 Huss 2007; Hardt 1996, 234. 69 Zum geplanten Symposion-Kommentar Picos, dem der Commento als Präludium dienen sollte, vgl. Wurm 2008, 225-226. Vgl. auch Allen 1986, 418-421. Ficinos Traktat übte freilich den „unvergleichbar größeren Einfluß auf Zeitgenossen und Nachwelt“ aus (Buck 1965, 17). 70 Die frühesten Kommentatoren Cavalcantis aus dem 15. und 16. Jahrhundert wieder‐ holen Picos Zuweisung, so etwa Paolo del Rosso (Comento sopra la Canzone di Guido Cavalcanti, Firenze 1568), als er meinte, dass Cavalcantis Dichtungen die Liebe als affetto lascivo oder affetto sensuale e vizioso beschrieben; vgl. Ott 1986, 150. Ficinos Traktat De amore sprach er Glaubwürdigkeit ab, insofern dieser offenkundig nicht geschrieben worden sei, um Guido Cavalcanti zu kommentieren, sondern um ihn zu verherrlichen, um dessen Nachfahren Giovanni Cavalcanti, Ficinos Lieblingsschüler, Reverenz zu er‐ weisen; vgl. Ott 1986, 136. 71 Pico, Commento, Comm. part. St. 1 (Bürklin 2001, 148): Di questi dua amori specificata‐ mente hanno trattato dua poeti in lingua toscana: dello amore vulgare Guido Cavalcanti in una sua canzona; dell’altro, cioè del celeste, el Poeta nostro nell’opera presente, nella quale, quantunque tratti dell’uno e dell’altro, nondimeno principalmente tratta del celeste, nè dell’altro parla se non in quanto è una debile immagine di quello. 1458 sowie in Vorträgen und Vorreden zu Kommentaren erläutert. 67 Auch im poetischen Werk des Magnifico finden sich, teilweise interpretatorisch gestützt durch den Comento de’ miei sonetti, Tendenzen zur Aktualisierung ficinianischer Dichtungstheorie in vulgärsprachlichem Gewand. 68 Dass Ficinos dogmatische und raumgreifende Dichtungs- und Liebeskonzeption aber auch dazu angetan war, heftige polemische Reaktionen zu provozieren, erklärt sich von selbst. Dabei wurden Angriffe gegen Ficino und seine Lehre aus höchst unterschiedli‐ chen Lagern geführt: So vertrat etwa Luigi Pulci die Sache der Dichter, Pico della Mirandola - dies mag auf den ersten Blick überraschen - die der ‚wahren‘ pla‐ tonischen Philosophen. Pico konzipierte seinen Commento sopra una canzone d’amore di Girolamo Benivieni von 1486 als retractatio des Symposion-Kommentars Ficinos. Er nahm Anstoß an der allzu weltlichen Behandlung der Liebesthematik, die es in seinen Augen erforderlich machte, die platonische Liebesphilosophie neuerlich zu er‐ klären. 69 Insbesondere die ihm - wie anderen 70 - wenig plausibel erscheinende Wahl Ficinos, den Dichter der Canzone Donna me prega Guido Cavalcanti als Künder des amor socraticus einzuführen, motivierte Picos Polemik: Cavalcantis Gedicht beschreibe den amor vulgare, wohingegen das von ihm, Pico, zu kom‐ mentierende Gedicht, Girolamo Benivienis Canzone dell’Amor celeste e divino, besonders den amor celeste zum Gegenstand habe. 71 Mit dieser Zuweisung geht für Pico eine Trennung der Zuständigkeitsbereiche und wissenschaftlichen Dis‐ ziplinen einher: Während die weltliche Liebe vom Natur- und Moralphilosophen behandelt werde, kümmere sich der Theologe und Metaphysiker um die gött‐ 140 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 72 Pico, Commento, Comm. part. St. 1 (Bürklin 2001, 148): El trattare dell’uno amore e dell’ altro appartiene a diverse scienzie. Dell’amore vulgare tratta el filosofo naturale e el filosofo morale. Dello amore divino tratta el teologo, o, volendo parlare al modo de’ Peripatetici, el metafisico. 73 Epist. 1, 15 (Gentile 1990, 39): Circumferuntur, ut ais, epistole quedam meo nomine quasi Aristippice et quadam ex parte Lucretiane potius quam Platonice. Si mee sunt, Angele, non sunt tales; si tales sunt, non mee ille quidem, sed a detractoribus meis conficte. Ego enim a teneris annis divinum Platonem (quod nullus ignorat) sectatus sum. Sed facile hoc signo scripta nostra discernes ab alienis: in epistolis meis sententia quedam semper pro ingenii viribus aut moralis aut naturalis est aut theologica; quod siquid interdum quodammodo amatorium inest, Platonicum illud quidem et honestum, non Aristippicum et lascivum. Vgl. zum Brief Tröger 2016, 65-67. 74 Vgl. Kraye 2002. liche Liebe. 72 Dies ist eine herbe polemische Spitze gegen Ficino, der sich hier in den Worten seines jüngeren Kollegen die Abberufung aus Amt und Würden nicht nur des Platonikers, sondern gar des Philosophen gefallen lassen muss. Freilich ist Picos Position polemisch überformt, doch zeigt der Angriff auf Fi‐ cinos ‚naturalistische‘ Behandlung der Liebe, welche Folgen die dogmatische Vereinnahmung des liebeslyrischen Diskurses für Ficino hatte: Dadurch, dass er auch den amor ferinus in sein Stufenmodell einbezog, ihn in breiter Ausführ‐ lichkeit behandelte und einer Systematisierung zuführte, zog er sich die Kritik derer zu, die sich als reine Philosophen verstanden. Ficinos Ringen um weit‐ greifende Einverleibung des Liebesdiskurses bei gleichzeitigem Versuch, seine Glaubwürdigkeit als Philosoph zu wahren, wird deutlich in einem Antwortbrief an Poliziano, der ihn darüber informiert hatte, dass unter Ficinos Namen Briefe im Umlauf seien, die vielmehr aus dem Geiste eines Aristipp oder Lukrez als aus dem Platons geschrieben seien. Ficino wähnte die Briefe von seinen Widersa‐ chern in Umlauf gebracht und verwahrte sich gegen die Behauptung, er habe irgendwo der lüsternen Liebe das Wort geredet. Vielmehr habe er sich stets nach Kräften entweder um eine moralphilosophische, eine naturwissenschaftliche oder eine theologisch-philosophische Behandlung der Liebesthematik bemüht, dies aber stets im Einklang mit platonischer Philosophie getan. 73 Spätestens seit dem Ende der 80er Jahre, als Ficino jüngere und gleichermaßen anerkannte Ge‐ lehrte wie Pico und Poliziano neben sich zu dulden hatte, geriet sein autoritärer Platonismus mehr und mehr in die Schusslinie und wurde von gleichberech‐ tigten Denksystemen, die ihrerseits autoritär begründet wurden - von Pico beispielsweise durch den ‚wahren‘ Platon - zu verdrängen versucht. 74 Die umfassendste und zugleich berühmteste Polemik gegen Ficinos Dich‐ tungs- und Eroskonzeption stammt von Luigi Pulci, dem streitbaren Dichter des 141 1.2. Kritik an Ficino 75 Literatur zur Kontroverse bei Huss 2007, 71. Zur Streitsucht des Dichters vgl. Hardt 1996, 249-250. 76 Vgl. Huss 2007, 73. 77 Vgl. hierzu Huss 2007, 65: „In der Dichtungspraxis des Quattrocento wird Ficino nun allerdings nicht viel begegnet sein, das angetan gewesen wäre, die Ansprüche Ficinia‐ nischer Dichtungstheorie faktisch einzulösen.“ 78 Morgante 27, 41; vgl. Huss 2007, 73. Morgante. 75 Bedeutung hat die Kontroverse, die von beiden Seiten hart geführt wurde, insbesondere deshalb erlangt, da in ihr ideologische Positionen unver‐ söhnlich aufeinander stoßen - Dichtung gegen Philosophie, irdische Poetik gegen platonische Poetologie -, und ein Schlaglicht auf die Gelehrtenkultur des Quattrocento werfen. 76 In mehreren vulgärsprachlichen Dichtungen griff Pulci Ficino, den „Gott der Zikaden“ (dio delle cicale), für seine weltfremden Speku‐ lationen an und sprach damit sicherlich den meisten Dichtern aus dem Herzen, die nicht auf eine alienatio mentis warten wollten, die nichts von der allegori‐ schen Verhüllung einer göttlichen Offenbarung hielten und für die Liebesdich‐ tung nicht nur ein Gebet oder eine Hymne sein konnte. 77 So rügte Pulci im Morgante die von Ficino vereinnahmte allegorische Auslegungs- und Dich‐ tungspraxis, wobei er den Literalsinn gegen die metaphysische und moralphi‐ losophische Erklärungsebene des Textes setzte und damit den Interpretations‐ modus negierte, der für die renaissancezeitliche und ficinianische Dichtungslehre zum unabdingbaren Instrument der Texterschließung gehörte. 78 Damit wies er zugleich auch deren zweite konstitutive Doktrin zurück, die Dichterinspiration, die für die figmentum-Lehre die erste Voraussetzung bildet. Nicht zuletzt wegen der unverhohlenen Angriffe auf den geistigen Führer der Zeit - und auf dessen Initiative - verspielte Pulci seine Sympathien am Me‐ dici-Hof und musste Mitte der 70er Jahre den Platz als Hofdichter für den jungen Poliziano räumen. Die beiden Polemiken zeigen exemplarisch, wie der Ficinianismus als Mode‐ philosophie des ausgehenden Quattrocento in den Mittelpunkt des zeitgenös‐ sischen Revisionismus rückte und welche Wege beschritten wurden, um fici‐ nianische Dogmen aufzubrechen. Dabei reicht das Spektrum vom moderaten Korrektiv bis hin zur Ablehnung auf ganzer Linie, von polemischer Infragestel‐ lung der philosophischen Expertise bis hin zu Satire und brüsker Invektive. Dies markiert den Rahmen, innerhalb dessen sich Poliziano notwendiger‐ weise positionieren musste, als er 1475 an die Abfassung der Stanze schritt. Der Neuplatonismus in Florenz erreichte gerade seine Blüte, die ausgehenden 60er und beginnenden 70er Jahre hatten einige der bedeutsamsten Leistungen der Florentiner Platoniker gesehen: Ficinos Symposion-Kommentar De amore war 142 1. Die Dialog- und Streitkultur der Renaissance 1469 erschienen, 1473 Landinos Manifest platonistischer Dichtungsexegese, die Disputationes Camaldulenses. Poliziano wiederum war im Jahre 1473 endgültig in die intellektuelle brigata am Hof der Medici aufgenommen worden. Die Stanze entstanden auf Initiative des dilettierenden Platonikers Lorenzo, dem Veran‐ stalter der vom Bruder Giuliano zu gewinnenden giostra am 29. Januar 1475 auf der Piazza Santa Croce. Das Gedicht, in der Sprache des platonisch beherrschten discorso d’amore verfasst, entsteht somit auf dem Nährboden und zur Blütezeit des Florentiner Platonismus. Die Stanze empfehlen sich daher besonders einer Überprüfung auf die Einflüsse aus dem Umfeld und der Analyse des Anteils der Philosophie an der Dichtungskonzeption Polizianos. Sie sind aber auch dasje‐ nige Gedicht, das der Ilias-Übersetzung zeitlich am nächsten liegt, wo Poliziano, wie gesehen, die Vorstellung einer metaphysischen, durch Allegorese zu er‐ schließenden Dichtung weitgehend abgelehnt und im Gegenzug eine ‚präsen‐ tische‘ Poetik entwickelt hatte. Somit wirken in den Stanze Kräfte, die gegen‐ sätzlicher kaum sein könnten: Einer klar bestimmbaren Poetik der Evidenz steht die metaphysische Poetologie gegenüber, einer disziplinenübergreifenden Phi‐ lologie die platonische Exegese, dem Einfluss des Andronikos Kallistos derjenige Marsilio Ficinos. Am Beginn unserer Untersuchung des philosophischen Dich‐ ters Poliziano steht also die Frage: Bekennt sich Poliziano in den Stanze zur neuplatonischen Dichtungslehre? 143 1.2. Kritik an Ficino 1 Ferruolo 1955; Martelli 1995, 101-137; Branca 1986, 462-464; Carrai 1988, 5-10. 2 Coleman 2012, 265. 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 2.1. Stanze per la giostra In den Stanze entwirft Poliziano einen tragischen Konflikt zwischen dem ge‐ kränkten Liebesgott Cupido und dem unbeugsam spröden Jäger Iulio (der für Giuliano steht). Um den Hagestolz zu beugen, separiert ihn der Gott im ersten Buch bei der Jagd und führt ihn auf eine Wiese, auf der die schöne Simonetta erscheint - es handelt sich um Simonetta Vespucci, für die Giuliano ins Turnier geritten war. In den Augen der Schönen sitzend, zielt Amor nach Iulios Herz, der schließlich verwundet und besiegt in unerfüllter Liebesqual dahinsiecht. Im zweiten Buch des Gedichts, das nach 46 Strophen abbricht, führen die Tücken des Liebesgotts dazu, dass sich Iulio schließlich auf das Ritterturnier vorbereitet. Auf die Frage nach dem philosophischen Gehalt von Handlung und Motivik der Stanze hat die Forschung höchst unterschiedliche Antworten gefunden. Der am weitesten verbreitete Interpretationsmodus ist der philosophisch-allegori‐ sche, der bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf die Stanze angewandt wurde, heute von der neuplatonischen Schule um Francesco Bausi, Stefano Carrai und Mario Martelli vertreten wird und noch immer Anhänger findet. 1 Zentral ist hierbei der fortwährende Bezug auf die dichtungstheoreti‐ schen Erörterungen Ficinos und Landinos, um die platonischen und platonisti‐ schen Lesarten zu sanktionieren. Die den modernen philosophisch-theologi‐ schen Interpretationen zugrunde liegende Prämisse hat James Coleman 2012 so formuliert: “The influence of Ficino’s De amore on the Stanze can be easily re‐ cognized from the role that eros plays in the text: increasingly sublimated forms of love are the force that lures Iulio to improve himself morally and spiritu‐ ally.” 2 Ausgehend vom Bild der Hirschkuh, in die sich Simonetta bei Iulios Jagd verwandelt, bot Mario Martelli eine interpretatio christiana des allegorischen Aufstiegs, den der Protagonist durchlaufe. Dabei fungiere die Hirschkuh als Sti‐ mulans, die Iulio von der Ebene der sensitiven Wahrnehmung zur vita activa, zur Akzeptanz der gesellschaftlichen Normen führt, die die Voraussetzung bilde für jene höchste Lebensform, die vita contemplativa, symbolisiert durch das 3 Martelli, zit. bei Puccini 2012, XLVI-XLVII: “L’allegoria è facilmente decifrabile: se in‐ fatti […] si terrà conto del fatto che il cervo, detentore presso la tradizione di molteplici significati, simboleggia nella più nota esegesi scritturale il ‘desiderium Salvantis’, l’in‐ tenso desiderio che il Salvatore ha di riscattare l’anima umana da lui amata, da questo si potrà sicuramente dedurre che, appunto per l’intervento della divina misericordia, Iulio (Giuliano de’ Medici) viene avviato alla difficile e dolorosa strada della perfezione, che, dalla cerva dei sensi, lo conduce alla Simonetta delle virtù civili: mentre in pros‐ pettiva si delinea il regno di Venere, che, trasposizione classica del cristiano paradiso terrestre, simboleggia la forma più alta di vita, quella contemplativa.” Vgl. die neupla‐ tonische Gesamtinterpretation bei Martelli 1995, 101-137. 4 Quint 1979, xv: “The poem celebrates love less as a movement toward contemplative experience than as the educative link between the individual and the culture of his society. Love is the catalyst which transforms human potential into humanitas. The Stanze document Iulio’s progress from adolescence to adulthood. Iulio’s pastoral en‐ thusiasm, his rejection of love and sexuality are an attempt to postpone the life-crisis: he is the child who refuses to grow up.” 5 Orvieto 2009, 273-274: “Si può […] affermare che neoplatonismo ficiniano e filologia polizianea siano sempre stati assolutamente inconciliabili. La poesia di Poliziano, anche all’altezza delle Stanze, si propone altri obiettivi, non teologici o filosofici: di esibire lo sterminato e coltissimo archivio di possibili citazioni dell’autore e recuperare al volgare fiorentino le sue nobili origini; o, più latamente, di dimostrare che la poesia è un sistema unitario fortemente centripeto di convergenze intertestuali, dove per la costituzione di ogni ‘unità’, a seconda dell’argomento, vengano privilegiati alcuni testi che già hanno definito ‘semanticamente’ e letterariamente quello specifico argomento o descrizione. […] Se si accetta questa lettura delle Stanze, è difficile trovare tracce dell’allegoria fici‐ niana, ipotizzata dai più autorevoli polizianisti (Martelli, Bausi, Carrai, e pienamente un tempo avallata anche da me).” Reich der Liebesgöttin Venus. 3 Die Interpretation trägt der renaissancezeitlichen Tradition allegorischer Texterklärung Rechnung, setzt Polizianos Kenntnis und Nachvollzug des ficinianischen Aufstiegsmodell aus De amore voraus und stellt den Dichter der Stanze somit gleichberechtigt neben die großen Vertreter des Florentiner Platonismus. Eine neuplatonischer Überhöhung entgegenwirkende, jedoch in ähnlicher Weise allegorische Interpretation schlug David Quint im Vorwort seiner Stanze-Übersetzung vor: Hier wird der Fokus nicht länger auf die philosophische Funktion der Liebe gelegt, sondern auf einen entwicklungs‐ psychologischen Prozess, der durch die Liebe in Gang komme, die den halsstar‐ rigen Knaben Iulio zu einem auf humanitas gründenden Leben innerhalb der Gesellschaft erziehe. 4 Einen denkbar scharfen Gegenentwurf zur allegorischen Interpretation hat Paolo Orvieto, einstiger Anhänger derselben, in jüngerer Zeit lanciert. Er distanzierte sich klar von der Ansicht, das Gedicht weise Spuren einer Allegorienkonzeption auf, und sah das Hauptinteresse Polizianos in der sprachlich-philologischen Sichtbarmachung der reichen literarischen Tradition, in die der Dichter die vulgärsprachliche Dichtung der Stanze stelle. 5 145 2.1. Stanze per la giostra 6 Orvieto 2009, 248: “Manca, insomma, nelle Stanze […] un’idea portante, un filo rosso che tenga assieme, in ideologica e diegetica coerenza, la trama, l’assunto e le plurime metamorfosi di Simonetta.” 7 Vgl. Ghinassi 1957, 83-85; zur sprach- und gattungsübergreifenden Gültigkeit des Stil‐ prinzips der “parole rare” vgl. Pontani 2002, cxxxvii. McLaughlin 1995, 209: “An analysis of Poliziano’s vernacular works will demonstrate the consistency with which he trans‐ fers many of his stylistic ideals from the Latin works to writing in the volgare.” 8 Hardt 1996, 242; Quint 1979, x; Puccini 2012, XLIII-XLIV. Anders Bausi 2006, 21-22, der richtiger von einem Epyllion spricht. In der Forschungskontroverse um den philosophischen Gehalt der Stanze offenbart sich das grundsätzliche hermeneutische Problem der Poliziano-For‐ schung. Der für Polizianos Dichtungen charakteristische Reichtum an themati‐ schen und linguistischen Übernahmen bringt es mit sich, dass sich für unter‐ schiedliche Beweisziele, auch höchst konträre, problemlos eine Vielzahl an Intertexten instrumentalisieren lässt. Daher negiert Orvieto eine tiefere Verste‐ hensebene, erhebt mithin die sprachliche Oberfläche des Textes zum Selbst‐ zweck und geht damit, wie er selbst sagt, einer zielführenden Deutungsstrategie verlustig. 6 Die neuplatonische Schule hingegen abstrahiert in zuweilen philo‐ logiefeindlicher Weise vom Buchstaben des Textes, erschließt sich so aber eine konsistente metaphysische Deutung. Der Schlüssel zu einer gerechteren Bewertung der Stanze und zu einer ge‐ naueren Bestimmung der Autorintention liegt m.E. in der Kontextualisierung der poetologischen Postulate des Autors, die im ersten Teil der Arbeit aufgezeigt wurden - dass die vulgärsprachliche Dichtung hierbei den stilistischen und po‐ etischen Mustern der lateinischen folgt, wurde bereits festgestellt und wird im Folgenden nochmals deutlich werden. 7 Mit Fokus auf die poetische Technik und Stilistik kann das Gedicht einerseits als narrativ stringent erwiesen werden, ohne dass eine textferne metaphysische Deutung konstruiert werden müsste, und andererseits als offen artikulierter Ausdruck einer Poetologie der Evidenz, die vorherrschenden figmentum-Theorien zuwiderläuft. 2.1.1. Genre und Handlungsstruktur Um die Stanze in ihrem intentionalen Gehalt zu würdigen, ist es zunächst un‐ abdingbar, die Gattung des Gedichts zu bestimmen. Die Forschung begnügt sich in der Regel damit, die Frage des Genres flüchtig zu beantworten mit dem na‐ heliegenden Hinweis, Poliziano stelle sich mit den Stanze in die Tradition der Ritterepik, des epico-cavalleresco. Dafür spräche das Volgare, die metrische Form der Oktave sowie die ‚Gattung‘ der Giostra, die Luigi Pulci nur wenige Jahre zuvor geprägt habe. 8 Dabei wird allerdings übersehen, dass Pulcis Giostra weder 146 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 9 Hierzu Carocci 1899, 21-22. 10 Der Text der Stanze folgt der Edition von Bausi 2016. 11 Der sacro Achille ist dem homerischen dios Achilleus nachempfunden; vgl. Ambra 286: sacer Achilles. 12 Der Bund zwischen Achill und Helena auf den Inseln der Seligen ist eine Erfindung des Ptolemaios Chennos (1. Jh. n.Chr.): Phot. Bibl. 190. mit der gängigen Ritterepik - etwa seinem eigenen Morgante - viel gemein noch substantiell auf den Nachfolger Poliziano eingewirkt hat. Pulcis Erzeugnis ist nicht viel mehr als ein versifizierter Bericht des Turniers zu Ehren Lorenzos, wie es bereits der Titel nahelegt: La giostra di Lorenzo de’ Medici, messa in rima da Luigi Pulci. 9 Aufschluss über die Gattungszugehörigkeit der Stanze gibt die Ana‐ lyse der narrativen und dramatischen Struktur des Gedichts. Poliziano beginnt die Stanze mit der Anrufung zweier höherer Mächte, die dem Dichter bei der Arbeit behilflich sein mögen: Der erste ist, in bester antiker und stilnovistischer Tradition, der Liebesgott selber: Amor, del qual i’ son sempre suggetto, / porgi or la mano al mio basso intelletto (1, 2, 7-8). 10 Die zweite ‚Muse‘, dies vermag zu erstaunen, ist der göttliche Achill (1, 7). 11 Poliziano rechtfertigt die Eignung des griechischen Helden als Helfer beim Werk, indem er erklärt, dass dieser noch nach seinem Tode in Liebe zur Ledatochter Helena entbrannte, weshalb er nunmehr die Kriegstrompete ein wenig ruhen lassen und die Leier zu neuen Liedern stimmen möge. 12 Dieser Aufforderung liegt eine autobiogra‐ phische Stilisierung zugrunde: Poliziano unterbrach seine Ilias-Übersetzung (maggior tromba), um an den Stanze (nuovi carmi) zu arbeiten, die nicht mit der Trompete, sondern mit der Leier (cetra) zu komponieren waren. Die Figur Achills erfüllt hier allerdings eine weitere, ungleich wichtigere Funktion. Im letzten Vers der 7. Oktave, der zur Haupthandlung überleitet, nimmt Poliziano eine bedeutsame Veränderung am vergilischen Prätext vor: Den Aeneisauftakt arma virumque cano erweitert Poliziano um den amor seines Protagonisten: io canto l’amor di Iulio e l’armi. Damit deutet Poliziano die Verschmelzung zweier Textgattungen an: Die armi stehen für das (vergilische) Epos, welches mit der Liebesdichtung (amor) kompatibel gemacht werden soll. In diesem Lichte ge‐ winnt die Anrufung Achills ihre Bestimmung: Der verliebte Kriegsheld reprä‐ sentiert die Mischgattung des Liebesepos, Poliziano erhebt ihn zur poetologi‐ schen Metapher. Die Verbindung der beiden Textgenera wird im zweiten Buch der Stanze nochmals thematisiert und liefert einen Beleg für die formale Konzeption des Gedichts. Im Zwiegespräch mit ihrem Sohn entwickelt Venus die Vision welt‐ umspannenden Ruhms, den Iulio ihnen durch ein Ritterturnier bescheren könnte (2, 15). Die Hoffnung der Venus, durch ein Gedicht überzeitlichen Ruhm 147 2.1. Stanze per la giostra 13 Vgl. Stanze 1, 28; 32; 39; 2, 19; 2, 26. 14 Claud. rapt. 3, 263-268 (im Zitat thematisches Modell); Stat. Theb. 2, 128-133; Val. Flacc. 1, 487-491; vgl. Bausi 2006, 144. 15 Vgl. Stanze 1, 73-76; 2, 20. zu erhalten, ist an den Sänger gebunden, der zurzeit die Taten Achills erneuere, d.h. an Poliziano, der die Ilias ins Lateinische übersetzt und somit der geeignete testor für das Unterfangen der Liebesgöttin ist. Amor möge sich anschicken, Iulio zu den Waffen zu führen, damit die Welt durch ein unsterbliches Gedicht - ein Gedicht wie die Ilias - vom Ruhm der Liebesgöttin erfüllt werde. Metrisch un‐ terstützt wird ihr frommer Wunsch durch die Versausgänge, welche die Kons‐ tellation Krieg - Dichter - Liebesepos (Iulio s’armi / canta l’armi / nostri carmi) unmissverständlich zum Ausdruck bringen. Worin liegt das Epische der Stanze? Zunächst weist das Gedicht diejenigen epostypischen formalen Elemente auf, die Poliziano an Homer und Vergil erar‐ beitet und seiner poetischen Stilistik grundgelegt hat. In erster Linie sind die epischen Natur- und Tiergleichnisse zu nennen, deren Ausgestaltung der Dichter mehrfach ganze Oktaven widmet. 13 So bringt er etwa die Jagd Iulios nach der Hindin und die anschließende Konversion des Jägers zum Liebhaber bzw. zum Gejagten in einem Bild zum Ausdruck, das seit der Antike ins Repertoire epischen Dichtens gehört (1, 39): 14 Qual tigre a cui dalla pietrosa tana ha tolto il cacciator li suo car’ figli, rabbiosa il segue per la selva ircana, che tosto crede insanguinar gli artigli, poi resta d’uno specchio all’ombra vana, all’ombra che ’ suo nati par somigli, e mentre di tal vista s’innamora la sciocca, e ’l predator la via divora. Wie die Tigerin, die dem Jäger, der aus der steinernen Höhle die geliebten Jungen geraubt hat, wütend durch den hyrkanischen Wald nachsetzt und glaubt, sich bald ihre Krallen blutig machen zu können, dann innehält vor einem nichtigen Spiegelbild, einem Trugbild, das ihren Jungen gleicht, und sich närrisch in den Anblick verliebt, während sich der Jäger aus dem Staub macht. Neben den Gleichnissen sind die Kataloge zu nennen, die insbesondere der Be‐ schreibung des Liebesreichs episches Kolorit verleihen. 15 Ein besonders ein‐ drückliches Beispiel ist der Katalog der zweifelhaften Schar, welche die Amoren, Brüder Cupidos und Söhne der Venus, begleitet. Die personifizierten Abstrakta, 148 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 16 Stanze 1, 73-76. 17 Stanze 1, 75: Voluttà con Bellezza si gavazza / va fuggendo il Contento e siede Angoscia, / el cieco Errore or qua or là svolazza, / percuotesi il Furor con man la coscia; / la Penitenzia misera stramazza / che del passato error s’è accorta poscia, / nel sangue Crudeltà lieta si ficca / e la Disperazion se stessa impicca. topische Liebesphänomene, die als Streitmacht (milizia, 1, 77, 1) der Liebesgöttin aufmarschieren, werden in einer ausführlichen Heerschau beschrieben. 16 Wie die griechische Streitmacht der Atriden, die zur Vernichtung Trojas ausrückt, wird hier die Soldateska der Venus vorgestellt, die gegen Gott, Mensch und Tier zu Felde zieht. Dabei gesellt sich zu den vornehmlich negativen Attributen nur wenig Angenehmes. Positiv zu bewerten sind freilich Piacere, Diletto, Letizia, Bellezza, wobei letztere mit der körperlichen Gier, Voluttà, im Bunde ist. Deut‐ lich überwiegen die negativen Begleiterscheinungen der Liebe, darunter Wahn‐ sinn, Schmerz, Betrug, Grausamkeit und die selbstmörderische Verzweiflung. 17 Allerdings wäre das Gedicht lediglich aufgrund formal-epischer Gesichts‐ punkte noch keineswegs ein Epos, zumal Poliziano Gleichnis- und Katalog‐ technik zwar am Epos erarbeitet, jedoch zu einer allgemeingültigen, gattungs‐ unabhängigen Poetologie ausgebaut hat. In der Forschung wurde indes bislang übersehen, dass Poliziano die gesamte Handlung der Stanze nach epischer Kau‐ salität gestaltet hat. Der spröde, unnahbare und der Diana verschworene Jäger Iulio, eine unheilvolle Kreuzung aus Hippolytus und Narziss, schmäht in hoch‐ mütigem Stolz den uom meschin, der sich in unglücklicher Liebe quält. Der Ge‐ plagte bittet Amor um Vergeltung für die Schmähungen des Jägers, wodurch die Handlung in Gang kommt. Schon hier ist ein episches Muster aufgerufen, das den Beginn der homerischen Ilias markiert. Während es dort der Apollon-Priester Chryses ist, der mit der Bitte an seinen Gott um Vergeltung des Hochmuts der Griechen bzw. Agamemnons die Handlung anheben lässt, ist es in den Stanze der geschmähte meschin, der von seinem Herrn - Cupido - Rache fordert. Die Antwort des Liebesgottes auf das Gesuch des Bittstellers gibt einen weiteren Anhaltspunkt, wie die Handlung der Stanze konstruiert ist (1, 23): Né fu Cupido sordo al pio lamento e ’ncominciò crudelmente ridendo: “Dunque non sono iddio? Dunque è già spento mio foco, con che tutto il mondo accendo? Io pur fei Giove mugghiar fra l’armento, io Febo drieto a Dafne gir piangendo, io trassi Pluto delle infernal segge: 149 2.1. Stanze per la giostra 18 Bausi 2006, 131, wo auch Ov. met. 5, 365-379 in Betracht gezogen wird. 19 Verg. Aen. 1, 37-49. 20 Die Kommentatoren lösen den Vers wie folgt auf: Bausi 2006, 132: “Ora, disprezzarmi un superbo tanto che io rischi di non essere più un dio! ”, Puccini 2012, 24: “è possibile che un superbo mi stimi così poco che corro da vicino il rischio di perdere la mia divi‐ nità”. Vgl. die entsprechende Frage Junos in Verg. Aen. 1, 48-49: […] et quisquam numen Iunonis adorat / praeterea aut supplex aris imponet honorem? e che non obedisce alla mia legge? ” Cupido war nicht taub gegen die fromme Klage und unter grausamem Gelächter hob er an: „Bin ich denn kein Gott? Ist denn meine Fackel schon erloschen, mit der ich die ganze Welt in Brand stecke? Ich war es, der Jupiter in einer Herde brüllen, der Phoebus weinend Daphne nachlaufen ließ, der Pluto aus der Unterwelt zerrte: Welches Wesen gibt es, das meinem Gesetz nicht gehorcht? “ Die Herkunft der empörten Frage Dunque non sono iddio? wurde von den Kom‐ mentatoren bislang nur unzureichend geklärt. Es ist möglich, dass Poliziano bei der Ausgestaltung der Verse ein die Macht Cupidos preisendes Chorlied der Phaedra Senecas (vv. 274-356) im Kopf hatte, wie Bausi mutmaßt. 18 Die zugrunde liegende Idee und die Argumentationsstruktur der Rede Cupidos ist indes einer sehr viel näherliegenden Quelle entnommen, die hier das thematische Modell bildet: Cupido präsentiert sich als ähnlich verletzliche Gottheit wie Juno in den Anfangsversen der Aeneis. Dort fragt die Göttermutter, wer ihr, der Schwester und Gattin Jupiters, denn noch opfere, wenn sie sich in jahrelangem Kampf mit einem einzigen Volk aufreibe, während doch Pallas Athene im Handstreich und aus weniger triftigen Gründen das gesamte Argeierheer zerschmettert habe. 19 Polizianos Liebesgott leidet an eben dieser gekränkten göttlichen Eitelkeit, und wie Junos Macht angesichts der fortwährenden Schmähungen durch das troja‐ nische Volk empfindlich in Frage gestellt ist, so fürchtet auch Cupido angesichts der Schmähungen Iulios einen Autoritätsverlust. Diese Sorge spricht er - die Ähnlichkeit mit der Klage Junos ist unüberhörbar - explizit in der folgenden Stanza aus (1, 24, 5-6): E ch’un superbo in sì vil pregio m’abbia, / che di non esser dio vegna a gran rischio?   20 Während Juno neidvoll auf ihre Mit-Göttin Athene blickt, erinnert sich Cupido seiner früheren Heldentaten. Juno greift schließlich, wie vor ihr Athene, zum probaten Mittel des Seesturms. Cupido besinnt sich ebenfalls auf seine frühere Macht und fasst den Plan, Iulio zu vernichten, d.h. seinen Hochmut zu brechen. Die Frage, die er sich zu stellen hat, ist: wie be‐ ginnen? Doch auch hierfür hält das vergilische Epos einen Prätext bereit, der geeigneter kaum sein könnte. Im 4. Buch der Aeneis hatte Juno, um das verhängte Unheil von ihrer favorisierten Stadt Karthago abzuwenden, einen Plan er‐ 150 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? sonnen, der Dido und Aeneas aufs engste miteinander vereinigen sollte. Dieser sah bekanntermaßen vor, die beiden auf der Jagd durch ein Gewitter von den übrigen Jägern zu separieren und sie so - göttliche Heiratspolitik - in conubium und coniugium zu vereinigen. Die Dido-Aeneas-Episode liefert gewissermaßen das Handlungsgerüst, das thematische Modell, für die Verwundungsszene des Iulio. Die erzürnte Gottheit sinnt auf einen Racheplan, der im Rahmen einer anstehenden Jagd und durch die Separation des Helden von den Jagdgenossen ins Werk gesetzt werden soll. Cupido muss Iulio von der Jagdgesellschaft trennen, und er tut dies mittels eines Tricks, den man, fasst man die reiche Tradition des Motivs in den Blick, als alten Hut bezeichnen könnte. Er fingiert das Trugbild einer Hindin (Stanze 1, 34) - Iulio stellt ihr bis ins tiefste Dickicht nach und wird so von der übrigen Jagdgesellschaft getrennt (1, 35-37). Schließlich führt ihn die trügerische cerva auf eine Wiese und verschwindet, doch immerhin: es erscheint eine reizende Nymphe (1, 37, 7-8: apparve lieta una ninfa), und diese ist Simonetta. Cupido vollendet sein Werk, indem er, in den Augen der schönen Simonetta sitzend, Liebespfeile nach Iulios Herzen aussendet, die ihre Wirkung nicht ver‐ fehlen. Der Jäger Iulio ist seinem Widersacher auf den Leim gegangen (1, 42, 5- 6: […] di disir tutto è invescato, / e cosí el cacciator preso è alla rete), die weiteren Stanze behandeln die Schönheit der Simonetta und die qualvollen (amourösen) Folgen des Pfeilschusses für Iulio (bis 1, 67). Cupido kehrt nach erfolgreicher Mission in das Reich seiner Mutter zurück (1, 68), womit der erste Teil des ersten Buches, den man ‚Iulio und Simonetta‘ betiteln könnte, zum Ende kommt und der Anlass für eine ausladende Beschreibung des dolce regno di Venere e d’Amore geschaffen ist. Hier kommt die epische Handlung der Stanze zum Stillstand: Cupido triumphiert, Iulios Hochmut ist gebrochen und vergolten. Mit einer zweiten Götterinvokation an Erato, che ’l nome hai d’amore, beginnt der zweite, ekphrastische Teil der Stanze (1, 69), der das restliche 1. Buch ein‐ nimmt. Erst die letzte Oktave (1, 125) schlägt den Bogen zurück zu Stanza 68, in der Cupido im heimatlichen Gefilde angelangt war, und bringt die Handlung wieder voran. Wenngleich eine umfassende Würdigung der Intention des 2. Buchs der Stanze aufgrund seiner Unvollständigkeit ausbleiben muss, so zeigen die erhal‐ tenen 46 Oktaven immerhin, dass auch hier nach epischen Mustern und Motiven gearbeitet wurde. So ist etwa die Aussendung der Pasithea durch Venus, die Iulio im Traum zum Kampf für seine Geliebte anstacheln möge, thematisch und mo‐ tivisch eng an die Aussendung des Oneiros durch Zeus zu Agamemnon in der homerischen Ilias gehalten. Wie Zeus bei sich überlegt, wie er „den Achilleus ehren und viele der Achaier verderben sollte“ und er schließlich auf die Ent‐ 151 2.1. Stanze per la giostra 21 Hierzu Kap. A.2.2.2. 22 Hempfer 1988; 1993b. sendung des ‚Unheilstraums‘ verfällt (Hom. Il. 2, 3-6), so bewegen Venus ähn‐ liche Sorgen: Iulio solle dazu aufgerufen werden, seinen Kampfesmut auf dem Schlachtfeld und für die Geliebte zu erweisen, wozu ihn ein Traumgesicht ver‐ leiten möge (Stanze 2, 21-22). Sogar die Bewegungsart der Pasithea stimmt mit der des liebevoll gezeichneten Somnus aus Polizianos Übersetzung überein. 21 Hatte der aus Ovid entlehnte Somnus darauf geachtet, mit seinen Flügeln keinen Lärm zu machen, so tut es ihm die beflügelte Pasithea hierin gleich (2, 23, 3): quete sanza alcun rombo l’ale porta. Poliziano strebt in den Stanze eine Gattungsverschmelzung an, indem er epi‐ sche Handlungsmuster und Erzählstrukturen mit liebeslyrischer Thematik an‐ füllt. Diese Mischkonzeption ist für die Interpretation höchst bedeutsam: Des Dichters Auseinandersetzung mit dem renaissancezeitlichen Liebesdiskurs kann ohne die epische Kausalität, die den Stanze zugrunde liegt, nicht hinrei‐ chend verstanden werden. 2.1.2. Der Liebesdiskurs der Stanze Im Folgenden sollen zwei Fragen untersucht werden: Wie bringt Poliziano die liebeslyrische Rede, den discorso d’amore, in das epische Gerüst der Stanze? Und welche Rolle spielt hierbei die Vereinnahmung des renaissancezeitlichen Lie‐ besdiskurses durch die ficinianische Liebes- und Dichtungstheorie? Gerade diese Frage ist eine höchst delikate: Die Unterscheidung mehrerer Liebesreden innerhalb eines Gedichts und die auch nur annähernde Bestimmung deren Her‐ kunft stellt vor zuweilen kaum überwindliche Probleme. Man hat sich in den neueren Philologien häufig mit schematischen Interpretationen von Liebeslyrik begnügt, die den Petrarkismus pauschal gegen den Neuplatonismus auszu‐ spielen suchten, ohne dass das eine oder das andere kulturgeschichtlich präzise bestimmt worden wäre. Zur Lösung solcher Pauschalisierungen hat Klaus Hempfer den Begriff des Diskurstypenspiels eingeführt, der gerade die vom Autor bewusst intendierte und inszenierte Kopräsenz unterschiedlicher eroti‐ scher Diskurse postulierte. 22 Was pauschale Zuweisungen betrifft, ist besonders für die Stanze äußerste Vorsicht geboten - als Beispiel mag die Vorstellung Amors dienen, der in den Augen der Geliebten sitzt und Liebespfeile aussendet: Das Bild ist bereits in der Antike vorgeprägt, sodann fester Topos der Liebeslyrik des Due- und Trecento und wird schließlich von Ficino für die platonisch grun‐ dierte Eroslehre fruchtbar gemacht. Ist also bereits die exakte Bestimmung der 152 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 23 Hierzu auch Bigi 1996, 50-51; Storey 2003. 24 Vgl. bes. Stanze 1, 16, 4-8: ma come se pur Lete Amor vi mesca / tosto obliate vostra alta natura, / né poi viril pensiero in voi germoglia: / sì del proprio valor costui vi spoglia! Quelle für das Bild kaum möglich, so bleibt jede intertextuelle Zuweisung in hohem Maße prekär. 23 Den Schlüssel zum Verständnis der Liebeskonzeption der Stanze liefert m.E. die epische Grundkonstellation der Stanze, die zugleich eine zutiefst tragische ist: Die Antipoden Iulio und Cupido, der Mensch und der Gott, treten zu einem ungleichen Kampf an, dessen Ausgang längst besiegelt ist. Den Kampf zwischen menschlichem Frevler und göttlichem Rächer bringt Poliziano durch die Insze‐ nierung unterschiedlicher Liebeskonzeptionen (Hempfers Liebesdiskurstypen) zum Austrag. Dabei teilt der Dichter das erste Buch der Stanze in drei Abschnitte, die sämtlich von einem dilemmatischen Liebeskonflikt beherrscht werden: (1) Zunächst wird Iulios hochfahrende Ablehnung der Liebe mit dem servitium amoris der afflitti amanti kontrastiert (1, 8-24), sodann (2) wird in der Begeg‐ nung Iulios und Simonettas auf Betreiben Amors das servitium amoris, das Iulio nunmehr am eigenen Leib zu spüren bekommt, mit einer im Folgenden näher zu bestimmenden Vorstellung göttlicher Liebe in Bezug gesetzt (1, 25-67), und schließlich (3) wird in der Beschreibung des regno di Venere die erfüllte Liebe der Götter gegen die unerfüllte Liebe der Menschen ausgespielt (1, 68-125). (1) Der Beginn der Stanze zeigt Iulio als spröden, misogynen, hochfahrenden und äußerst glücklichen Jäger, der als konzeptuelle Vermischung des ovidischen Narziss und des Hippolytos der senecanischen Phaedra gestaltet ist. Dement‐ sprechend herablassend fällt sein Urteil über die Liebe aus: Er macht sich einen rechten Spaß daraus, die niedergeschlagenen Liebhaber zu piesacken (1, 9, 8: solea gabbarsi delli afflitti amanti), wobei er seine Überlegenheit auf sein hohes Wesen zurückführt. Während er göttliche Verse im Reigen der Musen und Hel‐ denlieder singt, die von der virtù der Alten künden (1, 11, 3-6), sieht er in dem, was jene amore nennen, eine Chiffre für ‚Fleischeslust‘ (v. 7: chiamando amor lascivia umana). Die direkte Rede des Jägers, die sich über 9 Stanze erstreckt (13-21) und an einen der Liebe verfallenen meschin gerichtet ist, führt die Lie‐ beskonzeption, mit der Poliziano seine Figur ausgestattet hat, in eindrucksvollen Worten vor Augen: Der Gegensatz zwischen der Frivolität der Verliebten und der Überlegenheit des ungebundenen Jägers ist dem Gesang als basso continuo zugrunde gelegt. 24 Zum Auftakt des Liedes Iulios bedient sich der Dichter lie‐ beslyrischer Topik, wenn er seinen Jäger den Geplagten verhöhnen lässt (1, 13): Scuoti, meschin, del petto el cieco errore, ch’a te stesso te fura, ad altrui porge; 153 2.1. Stanze per la giostra 25 Puccini 2012, 14 nennt neben der Hauptquelle (“è tutta la struttura dei vv. 3-4 che pare esemplata su Petrarca, Tr. Cup., 1, 82-4” und zu v. 5: “l’intarsio è tutto petrarchesco”) folgende Einflüsse (zu vv. 1, 13, 3-4): Sen. Phaedr. 134 (qui blandiendo dulce nutrivit malum), Boccaccio, Fiametta 1 (chi con […] lusinghe il nutrica), Ov. am. 1, 2, 35; Octavia 2, 564-565 (iuventa gignitur luxu, otio / nutritur). Vgl. auch Carrai 1988, 44. Weitere mögliche Quellen bei Bausi 2006, 122-123, der in v. 2 ein ‘concetto fondamentale’ der ficinianischen Liebestheorie verarbeitet sieht. Zur Problematik solcher Zuordnungen vgl. den Beginn des Kapitels. 26 Tr. Cup. 1, 76-87: Questi è colui che ’l mondo chiama Amore: / amaro come vedi e vedrai meglio / quando fia tuo com’è nostro signore: / giovencel mansueto, e fiero veglio: / ben sa chi ’l prova, e fi’ a te cosa piana / anzi mill’anni: infin ad or ti sveglio. / Ei nacque d’ozio e di lascivia umana, / nudrito di pensier dolci soavi, / fatto signor e dio da gente vana. / Qual è morto da lui, qual con più gravi / leggi mena sua vita aspra et acerba / Sotto mille catene e mille chiavi. non nudrir di lusinghe un van furore, che di pigra lascivia e d’ozio sorge. Costui che ’l vulgo errante chiama ‘Amore’ è dolce insania, a chi più acuto scorge: sì ’l bel titol d’Amore ha dato il mondo a una cieca peste, a un mal giocondo. Du Armseliger, schüttle von deinem Herzen die Verblendung, die dich dir selber raubt und andern preisgibt! Nähre nicht mit Galanterie einen nichtigen Wahn, der aus un‐ nützer Wollust und aus Trägheit entsteht. Das, was der unwissende Pöbel Liebe nennt, ist süßer Wahnsinn für den, der genauer hinsieht: Den ach so schönen Namen - Liebe - hat die Welt einer krankhaften Verblendung gegeben, einem angenehmen Übel. Die Liebe ist nicht nur lascivia, sie ist auch cieco errore, van furore, dolce in‐ sania, cieca peste, mal giocondo. Hier findet sich in fulminanter Raffung all das, was den pessimistischen Zug des Liebeserlebens der Stilnovisten und Petrarcas ausmacht. 25 Um diesen zum Ausdruck zu bringen, greift Poliziano in erster Linie auf einen petrarkischen Referenztext zurück, der seinerseits die lascivia umana als Ausdruck einer unterlegenen Geistesart begriff. Im Trionfo d’Amore erläu‐ terte ein verdammter Schatten auf Amors Triumphwagen dem wissbegierigen Dichter die Macht des Liebesgottes, der auch der Dichter selbst alsbald verfallen werde. 26 Poliziano wählt den petrarkischen Prätext zum thematischen Modell, da er sich in konzeptueller Weise für die Gestaltung der Begegnung zwischen Iulio und dem meschin eignet. Er kehrt lediglich die Gesprächssituation um: Die Klage des Schattens bei Petrarca entspricht der Schmähung, die Iulio über den Verdammten niedergehen lässt, und wie der noch ungebundene Dichter Pet‐ rarca in Zukunft seine Freiheit einbüßen wird, so wird auch Iulio bald auf Amors Triumphwagen mitfahren. Die Liebe erscheint also im Lied des Iulio als zerstö‐ 154 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 27 Stanze 1, 23, 5-8. 28 De amore 6, 9 (Marcel 1956, 217); vgl. hierzu Huss 2007, 104-105. rerische Macht, die für den Niedergang der Goldenen Zeit verantwortlich ist (1, 21, 7-8: lussuria entrò ne’ petti e quel furore / che la meschina gente chiama amore) und den nach Hohem strebenden Geist des Menschen beeinträchtigt und gefangen nimmt. Der siechende miserello ist sich der verderblichen Macht Cupidos bewusst: Er erbittet vom Gott, Iulio möge bestraft werden, wobei diese Strafe im Liebeser‐ leben des Feindes ihren Vollzug finden soll. Stanza 23 nun kündet vom Erfolg des pio lamento, und Cupido, crudelmente ridendo, gibt zu verstehen, dass die Liebe für ihn eine beliebig einsetzbare Waffe ist, die Leid bewirkt und Instrument zur Bestrafung ist. Die Liebe, mit der der Liebesgott straft, erniedrigt den Lieb‐ haber, macht ihn im Falle Jupiters buchstäblich zum Tier, nimmt ihm wie Apoll die Würde und lässt ihn seinen angestammten Ort verlieren wie Pluto die Un‐ terwelt. 27 War Iulios schroffe Ablehnung der Liebe, verstanden als lascivia umana, die den Geist des Menschen vernebelt, noch zumindest theoretisch mit Ficinos Ab‐ lehnung des amor ferinus verrechenbar, so wird mit der Liebeskonzeption, die Cupido verkörpert, jeglicher ficinianischer Liebesspekulation der Boden ent‐ zogen. Das integrale Moment der Eroslehre Ficinos ist die Aufwärtsbewegung, die die Seele zu Gott emporzieht. Grausam ist das Geschick des Liebhabers für Ficino nur dann, wenn die Seele des Menschen nicht erkennt, dass sie über die sensible Form der Schönheit zur intelligiblen Form und zu Gott gelangen muss. Ein lyrischer Ausruf Ficinos in De amore macht deutlich, von welchem Typus liebeslyrischer Rede er sich klar distanziert hatte: 28 O crudelem amantium sortem! O vitam omni morte miseriorem, nisi forsitan vester animus, hac amoris violentia proprio ex corpore raptus, negligat insuper amati figuram atque in divini splendoris edem, ubi tandem quiescet, ubi explebitur, se recipiat. Der Liebesgott der Stanze aber gebraucht die Liebe als Instrument, dem Menschen diese Einsicht zu nehmen, ihn zum Tier zu erniedrigen und ihn zu bestrafen, d.h. ihm eben die Form der Liebe aufzuzwingen, die ihn grausame Qualen leiden lässt. Wenn sich der Liebesgott Polizianos zur niedrigen Form der Liebe, zum amore crudele be‐ kennt, so bedeutet dies nichts weniger als eine fundamentale Umkehrung der ficinianischen Erosphilosophie. (2) Im Folgenden treibt Poliziano das Umkehrspiel auf die Spitze. Cupidos Racheplan sieht die Erschaffung des Trugbildes einer stolzen Hirschkuh vor, der Iulio erfolglos nachsetzt und die ihn auf eine Lichtung führt, wo die schöne 155 2.1. Stanze per la giostra 29 Angereichert ist die Schilderung von Iulios staunendem Anblick durch petrarkische Diktion, die freilich ihrerseits auf die Formensprache des Stilnovismus zurückgreift: So ist etwa Vers 5 getreulich RVF 160, 1 (Amor et io sí pien’ di meraviglia) und/ oder Tr. Cup. 3, 1 (Era sí pieno il cor di meraviglie) nachgestaltet. Wörtliche Parallelen lassen sich auch zu Antonio Bonciani, Giardino 2, 24 und Luigi Pulci, Morgante 16, 21, 8 nachweisen. Vgl. Carrai 1988, 59-60; Bausi 2006, 143; Puccini 2012, 35-36. 30 Vgl. Sapegno 1965, 28; richtig Puccini 2012, 36, der die Verse über den direkten wörtli‐ chen Bezug hinaus in Dantes Beatrice-Vision der Divina Commedia verortet. Simonetta weilt. Als der Jäger der Frau ansichtig wird, ändert sich sein stolzer Sinn, und er steht zunächst in verzückter Betrachtung (1, 38, 5-8): Ivi tutto ripien di maraviglia pur della ninfa mira la figura: pargli che dal bel viso e da’ begli occhi una nuova dolcezza al cor gli fiocchi. Da blickt er, von staunendem Entzücken ganz erfüllt, auf die Gestalt der Nymphe hin: Ihm ist, als tropfe ihm von ihrem schönen Angesicht und aus ihren schönen Augen eine ungekannte Süße ins Herz. Die Verse sind ein Mosaik aus Versatzstücken, die jene andere, verklärende Form der Liebesdichtung thematisieren. Das Erstaunen (maraviglia, mira) und die dolcezza, die ihm der Anblick der Frau ins Herz gießt, sind topische Motive des dolce stil novo - thematisches Modell ist hier Dantes Sonett Tanto gentile e tanto onesta pare. 29 Der pessimistische Ton der vorhergehenden Liebesrede wandelt sich ins Gegenteil, Iulios Liebesempfindung hat mit dem amore lascivo nichts mehr gemein: In einer paradiesischen Schau, die an Dantes Beatrice-Vision ori‐ entiert ist, gewahrt er die überirdische Gestalt der Simonetta. 30 Die Kontemplation Iulios wird im Folgenden allerdings nachhaltig gestört. Es kommt zum Duell der beiden epischen Gegenspieler: Poliziano konstruiert eine heitere Szene, wobei der bogenspannende Liebesgott, der in den Augen der Si‐ monetta sitzt, geschäftig mit seinem Bogen hantiert und nach Iulios Herzen zielt (1, 40): Tosto Cupido, entro a’ begli occhi ascoso, al nervo adatta del suo stral la cocca, poi tira quel col braccio poderoso, tal che raggiugne l’una all’altra cocca; la man sinistra coll’oro focoso, la destra poppa colla corda tocca, né prima fuor ronzando esce el quadrello che Iulio dentro al cor sentito ha quello. 156 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 31 Zur onomatopoetischen Gestaltungsart Polizianos vgl. oben S. 105-106. 32 Diese grundsätzliche Definition des Tragischen im Epos hier nach Lesky 1984, 12-13. Sogleich legt Cupido, verborgen in den schönen Augen, an die Bogenschnur die Kerbe seines Pfeils, dann zieht er mit kräftigem Arm so sehr daran, dass sich die beiden Bogenenden treffen: Die linke Hand berührt das feurige Gold, die rechte Brust die Schnur: Kaum hat der Pfeil den Bogen schwirrend verlassen, fühlt ihn Iulio auch schon im Herzen. Die metrische und onomatopoetische Gestaltung der Strophe untermalt in kun‐ streicher Manier das Geschehen und bringt die zugrunde liegenden Liebeskon‐ zeptionen zu Gehör. 31 Der Wechsel der langen geschlossenen Schlusssilben (ascoso, poderoso, focoso) und der kurzen offenen Schlusssilben (cocca, tocca) er‐ zeugt eine würdevolle, erhabene Stimmung einerseits, die sogleich von einer beschwingten, spielerischen Melodie abgelöst wird. Der abschließende Reim (quadrello, ha quello) löst die vorher erzeugte Spannung, klanglich wie inhaltlich, auf. Der Wechsel von erhabener und komischer Sprache fängt die den Figuren jeweils zugrunde gelegten antithetischen Liebeskonzeptionen ein. Iulio ist der in ehrfurchtsvoller Kontemplation verharrende Beschauer göttlicher Schönheit, der Liebesgott hingegen, der den vernichtenden Pfeilschuss vorbereitet, wird als tändelnder Lausbub vorgestellt. Die episch-tragische Konstruktion, die den Stanze zugrunde liegt, offenbart sich hier in aller Deutlichkeit: Wie für die homerischen Götter der Ilias der tro‐ janische Krieg zuweilen ein „mutwilliges Geraufe, ein rechter Spaß“ ist, der Mensch aber „mit dem Einsatze von allem ringt“ und alles zu verlieren hat, so spannt sich in den Stanze die nämliche epische Tragik auf, die in der Kontras‐ tierung von göttlicher Macht und menschlicher Ohnmacht und Unwissenheit ihren Ursprung hat. 32 Im Liebesepos der Stanze entsteht die Kluft zwischen Gott und Mensch, zwischen Wissen und Unwissen und zwischen Macht und Ohn‐ macht durch die maliziöse Konfrontation diametral gegensätzlicher Vorstel‐ lungen von Liebe (1, 42): Non s’accorge che Amor lì dentro è armato per sol turbar la suo lunga quiete, non s’accorge a che nodo è già legato, non conosce suo piaghe ancor segrete; di piacer, di disir tutto è invescato, e così el cacciator preso è alla rete. Le braccia fra sé loda e ’l viso e ’l crino, e ’n lei discerne un non so che divino. 157 2.1. Stanze per la giostra 33 Dante, Par. 3, 58-59: Ne’ mirabili aspetti / vostri risplende non so che divino. 34 Vgl. S. 136-138. 35 Die Stellen sind Verg. Aen. 7, 37-45; Ap. Rhod. 3, 1-5; Stat. silv. 1, 2, 46-49. Zur Episode um Mars und Venus vgl. unten S. 162-167. Er merkt nicht, dass Amor dort drinnen bewaffnet ist, nur um seine lange gewahrte Seelenruhe zu stören. Er merkt nicht, in welcher Schlinge er schon verfangen ist, noch kennt er seine geheimen Wunden nicht. Von einem Käfig aus Freude, aus Verlangen ist er ganz umzäunt, und so ist der Jäger selbst ins Netz gegangen. Bei sich rühmt er ihre Arme, ihr Gesicht und ihr Haar, und erkennt etwas Göttliches in ihr. Aus der Sicht des Liebhabers, der die Schönheit der donna preist und in ihr etwas Göttliches bemerkt, wären die Anforderungen an Ficinos amor divinus erfüllt - wenngleich es sich hier freilich um topische, in diesem Falle Dantes Beatrice-Be‐ gegnung entnommene Beschreibungen handelt. 33 Auch Iulios Unwissenheit da‐ rüber, wer der Urheber dieser Falle ist, wäre selbstredend mit Ficinos Liebeslehre in Einklang zu bringen, nach welcher der Seelenaufstieg ja gerade ohne das Bewusstsein des Menschen geschieht. Völlig paradox hingegen wäre für Ficino die Vorstellung, dass der Liebesgott - Ficinos Amores als Begleiter der Veneres sind, wie gesehen, durchweg positiv valorisiert 34 - den Menschen dadurch zu erniedrigen und zu entmündigen suchte, dass er ihm das Gaukelbild göttlicher Liebe vorhielte. Die Schönheit der Frau, die den amor divinus entfacht, dient hier nicht als Angelhaken für den Aufstieg zu Gott, sondern - das Bild sei erlaubt - als Schürhaken, um den Halsstarrigen zu Boden zu schlagen. Der Liebesgott Polizianos ist mit Gewissheit nicht der Vorkämpfer für den göttlichen Liebesbegriff der Stilnovisten oder der Neuplatoniker; weit eher ver‐ körpert er den unmoralischen amor lascivus, der auf das Niedere zielt und Qual und Strafe nach sich zieht. In jedem Falle aber ist er das beleidigte Spielkind, das zu wenig Aufmerksamkeit bekommt und sich dafür bitterlich rächt. (3) Die Schilderung des regno di Venere, des Reiches also, dem Cupido ent‐ stammt, lässt weiterhin keinen Zweifel an Polizianos Konzeption der überwelt‐ lichen Liebe. Die Invokation an Erato in der folgenden Strophe, durch die die Beschreibung des regno eingeleitet wird, nimmt einerseits Bezug auf den Bin‐ nenanruf aus dem 7. Buch der Aeneis, andererseits auf Statius’ Silva 1, 2, wo sie in einem dezidiert erotischen Kontext angerufen wird, auf den Poliziano später in thematischer Weise bei der Schilderung der Bettszene zwischen Venus und Mars zurückgreifen wird. 35 Die Wahl Eratos ist hier freilich ohne weiteres be‐ greiflich: Die Muse steht für die - zuweilen auch explizit erotische - Liebeslyrik, und empfiehlt sich insbesondere dadurch, dass ihr Name, wie Poliziano wohl 158 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 36 Pol. Stanze 1, 69, 2: Erato bella che ’l nome hai d’amore; vgl. Ov. ars 2, 15-16: nunc mihi, siquando, puer et Cytherea, favete, / nunc Erato, nam tu nomen amoris habes. Vgl. Ap. Rhod. 3, 5. 37 Vgl. hierzu Bigi 1996, 49-50. 38 Vgl. Sapegno 1965, 47: “Gli ultimi quattro versi dell’ottava […] danno il tono alla desc‐ rizione lieta e leggermente voluttuosa del regno di Venere.” 39 Die Charakterisierung des Reiches als lascivo geschieht ferner in Stanze 1, 70, 5-8 und 1, 118, 4. mit Apollonios Rhodios bzw. Ovid meint, von eros hergeleitet ist. 36 In der Anrede an Erato schlägt der Dichter einen Ton an, der der gesamten folgenden Schil‐ derung zugrunde liegt. In den Versen tu sola benché casta puoi nel regno / secura entrar di Venere e d’Amore (Stanze 1, 69, 3-4) ist die Atmosphäre des Liebesreichs erneut expressis verbis charakterisiert: Obwohl Erato rein bzw. keusch ist (casta), kann sie das Reich betreten, in dem es ganz und gar nicht keusch zugeht. 37 Bereits die ersten Verse, die das Reich der Liebesgöttin beschreiben, verleihen ihm ein sinnliches, ja erotisches Gepräge (1, 68, 5-8): 38 al regno ove ogni Grazia si diletta, ove Biltà di fiori al crin fa brolo, ove tutto lascivo drieto a Flora Zefiro vola e la verde erba infiora. Zum Reich, wo jede Grazie sich vergnügt, wo die Schönheit sich einen Blumenkranz ins Haar flicht, wo Zephyr ganz lüstern hinter Flora herfliegt und die grüne Flur beblümt. Die Atmosphäre, die im regno herrscht, wird in der Figur Zephyrs unmissver‐ ständlich zum Ausdruck gebracht: tutto lascivo […]. Bereits hier sind ernstliche Zweifel an einer neuplatonischen Lesart des regno anzumelden: Wenn der Dichter die göttlichen Bewohner der überweltlichen Sphäre als ‚lasziv‘ charak‐ terisiert, so richtet sich bereits dies in erheblicher Schärfe gegen die ficinianische Liebeskonzeption. 39 Ferner deuten die beiden Hauptquellen, die Poliziano für diese Verse und für die Beschreibung des Reiches insgesamt verwandt hat - Claudians De raptu Proserpina und Lukrez -, ebenfalls weit eher auf einen Ge‐ 159 2.1. Stanze per la giostra 40 Die Benennung des Zephyr als lascivo bzw. lascivus entstammt Claudians Schilderung des Liebesreichs aus dem 2. Buch De raptu Proserpinae (2, 74). Hauptquelle für Polizianos Bild von Flora und Zephyr ist Lucr. 5, 737-740 (it Ver et Venus et Veneris praenuntius ante / pennatus graditur, Zephyri vestigia propter / Flora quibus mater praespargens ante viai / cuncta coloribus egregiis et odoribus opplet). Ferruolo 1955 wollte in der Ze‐ phyr-Flora-Episode die poetische Ausgestaltung von Ficinos prokreativem Prinzip der Liebe sehen. Als Parallelstelle führte er eine Stelle aus De amore 3, 3 an, wo Ficino die fecunditas des Eros preist (Marcel 1956, 165). Diese Interpretation ist freilich unhaltbar: So tritt Zephyr in Stanza 1, 77, 5-6 wiederum in seiner Eigenschaft als Befruchter der göttlichen Fluren in Erscheinung, wobei von Flora diesmal keine Rede ist: ovunque vola veste la campagna / di rose, gigli, violette e fiori. Zephyr bedarf zur Beblümung der Fluren bzw. zur Prokreation also keines weiblichen Wesens, sondern schafft das frühlingshafte Flair durch sein göttliches Wirken allein. genentwurf zur platonischen Eroslehre hin denn auf eine andächtige, allego‐ risch ummantelte Würdigung, wie man behauptet hat. 40 Der rote Faden, der sich durch die Beschreibung des Reiches zieht, ist das Bittere und Qualvolle der Liebe. Zunächst werden unheilvolle Liebesge‐ schichten referiert, die jeweils eine (ovidische) Metamorphose zeitigten (1, 79). Im Tierreich des regno liefern sich brünstige Rivalen blutige Kämpfe um dasselbe Weibchen (1, 85-87). Insgesamt sind die Tiere stets, zuweilen auch in glücklicher Fügung, von unauslöschlicher Liebesflamme bewegt (1, 88-91). Die katalogar‐ tige Aufzählung der Liebesqualen von Mensch und Tier mündet in eine Be‐ schreibung der Allmacht Cupidos, in der sich dessen sadistische Neigung dras‐ tisch offenbart: Um sich von den Strapazen der Verwundung von Göttern und Menschen zu erholen, macht er sich mitsamt seinen pennuti frati einen Jux da‐ raus, den Tieren Schmerzensschreie zu entlocken (1, 92). Diese Art der Freizeit‐ gestaltung ist dem Verhalten eines flegelhaften Kindes vergleichbar, das mit seinen Freunden zu Belustigung und Zeitvertreib Käfern die Beine ausreißt. Setzt man den leichtfertigen Machtmissbrauch auf göttlicher Ebene in Bezie‐ hung zum menschlichen ‚Einsatz von allem‘, gewinnt das episch-tragische Spiel mit den Liebeskonzepten, das die Stanze beherrscht, an Kontur. Die Beschreibung des Palastes und damit des Reichs der Venus wird be‐ schlossen durch eine ausführliche Ekphrasis der Schnitzwerke Vulcans, mit welchen die beiden Flügel des Palasttores verziert sind. Auf dem einen ist - bei der Entmannung des Uranos beginnend - die Geburt der Venus dargestellt (1, 97-104). Auf dem anderen finden sich zahlreiche Liebesgeschichten, die sich grob in zwei Teile, Liebe von Gott zu Mensch und von Mensch zu Mensch, glie‐ dern lassen. In der Forschung hat man häufig versucht, diesen Bildern einen verborgenen philosophischen Sinn beizulegen, nach dem die Liebe im Sinne Ficinos überhöht würde und eine den Menschen zivilisierende und veredelnde 160 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 41 Wind 1958, 133; Storey 2003, 616: “The ennobling function of love is subtly suggested and effected by creating strongly sensual and appealing visual images.” Ähnlich Lo Cascio 1957. Auch die Interpretation von Quint 1979, xx-xxii, der in der Schilderung der Geburt der Venus eine dritte, göttliche Liebeskonstellation berührt sieht, um somit eine absteigende Reihe von „love among gods“ (1, 97-103) über „love between the gods and men“ (1, 105-112) zu „human love“ (1, 114-119) zu gewinnen, ist ohne Stütze im Text. 42 Vgl. auch Bigi 1996, 50: “[…] le storie mitologiche scolpite sulle porte del palazzo […] appaiono esempi della potenza irresistibile di un amore tutto terreno, e che comporta effetti anche di violenza, di sofferenza, di delusione […].” 43 Europa kauert in angstvoller Haltung auf dem Stier, wendet ihren Blick zur Küste zurück (1, 105, 4-5: [si vede] lei volgere el viso al lito perso / in atto paventosa) und ruft ihre Freundinnen um Hilfe an (1, 106, 3-4: tale atteggiata di paura e doglie / par chiami invan le sue dolce compagne). Ebenso verzweifelt wird Proserpina gezeichnet (1, 113, 7-8): lei si percuote il petto e in vista piagne, / or la madre chiamando, or le compagne. Aus phi‐ lologischer Perspektive völlig unverständlich ist die Interpretation von Storey 2003, die über den Raub der Europa schreibt (616): “Poliziano’s use of this example to reinforce the elevating function of love requires further contemplation because the reader is in‐ vited to figure out how Europa is ennobled by Jove’s rather forceful love.” Funktion habe. 41 Solche Interpretationen sind mit Entschiedenheit zurückzu‐ weisen: Das die Szenen verbindende Element ist die expressive, möglichst dras‐ tische Darstellung des schmerzvollen und verderblichen Aspekts der Liebe, wobei nichts auf eine positive Bewertung der Liebe hinweist. 42 So werden Eu‐ ropa und Proserpina gegen ihren Willen von Zeus und Pluto geraubt - der Be‐ trachter blickt jeweils in weinende, angstvolle und hoffnungslose Frauenge‐ sichter. 43 Weitere Bilder der Pforte, welche die Metamorphosen Jupiters zeigen, greifen das Thema der willkürlichen Allmacht Cupidos auf, das bereits die erste Buchhälfte dominiert hat (1, 107): Jupiter verwandelt sich in verschiedene Formen und Gestalten, und zwar stets come Amor vuole (v. 5). Auch vor anderen Göttern macht Amors Willkür nicht Halt: Neptun wird bald zum Widder, bald zum Stier, Saturn zum Pferd und Phoebus zum Schafhirten. In diesem letzten Beispiel wird die Fallhöhe maliziös ausgekostet: Der Lichtbringer lebt in einer dunklen Hütte, und er, der sich auf sämtliche Heilkünste versteht, kann seine eigenen Wunden nicht heilen. Auch in der Theseus-Ariadne-Bacchus-Ge‐ schichte steht der negative, grausame und zerstörerische Aspekt der Liebe im Vordergrund. In der Ankunft des Bacchus hätte Poliziano die Möglichkeit ge‐ habt, Gegenteiliges - die Erlösung von der schmerzlichen menschlichen Liebe durch die erhebende göttliche - anzudeuten oder auszuführen. Dass er dies un‐ terlässt, spricht für sich und entschieden gegen die Vorstellung der Liebe als einer nobilitierenden Kraft. Die Darstellung der aus Ovid entnommenen Lie‐ besbeziehung zwischen Hercules und Omphale setzt der stringent durchgehal‐ tenen Motivik der herabwürdigenden Liebe schließlich die Krone auf: Er, der 161 2.1. Stanze per la giostra einst auf seinen Schultern den Himmel trug, erträgt nun Cupidos indegno or‐ goglio (1, 114, 5), trägt Frauenkleider anstelle von Keule und Löwenfell (vv. 1- 2) und spinnt Wolle (v. 8). Das abschließende Bild lässt das Motiv der unerfüllten Liebe anklingen. Der nicht eben schöne noch geschickte Liebhaber Polyphem wirbt mit einem Lied um Galatea, in dem er zwischen Huldigung an die Herrin und Bekenntnis seiner Liebesqualen infolge seiner Zurückweisung wechselt. Galatea aber, im Verbund mit ihren ‚treuen Schwestern‘, den Nereiden, lacht den Sänger samt seinen lyrischen Bemühungen schlichtweg aus (1, 118, 7-8): La bella ninfa colle suore fide / di sí rozzo cantar vezzosa ride. Mit einem kräftigen Schlussstrich in Stanza 120 wird die ekphrastische Beschreibung des Palasttores und des regno beendet und das beherrschende Motiv des 1. Buches des Liebes‐ epos, die Allmacht Cupidos, resümiert. In einem eigenartigen Gegensatz steht hier das ausdrückliche Behagen der Liebesgöttin an ihrem Herrschaftsgebiet (v. 1: Questo è il loco che tanto a Vener piacque) zur Tücke und Grausamkeit, die dort waltet und von Cupido, als fraudolente, acerbo und fello beleumundet, verkörpert wird. Das erste Buch der Stanze wird beschlossen von einer ihrer berühmtesten und meistgelesenen Szenen: Der Bettszene der Venus und des Mars (1, 122-125). In Stanza 1, 122 trifft Cupido die Liebhaber kurz nach ihrer körperlichen Vereini‐ gung an: Trovolla assisa in letto fuor del lembo, pur mo’ di Marte sciolta dalle braccia, il qual rovescio gli giaceva in grembo, pascendo gli occhi pur della sua faccia. Di rose sopr’a lor pioveva un nembo per rinnovarli all’amorosa traccia, ma Vener dava a lui con voglie pronte mille baci negli occhi e nella fronte. Er fand sie nackt im Bett sitzend, eben erst aus des Mars Umarmung gelöst, der auf dem Rücken in ihrem Schoß lag und seine Augen an ihrem Gesicht weidete. Eine Wolke von Rosen regnete auf sie herab, um sie zu neuen Liebesabenteuern anzuregen. Venus aber gab ihm bereitwillig tausend Küsse auf Augen und Stirn. Thematisch modelliert ist die Szene nach entsprechenden Darstellungen in Sta‐ tius’ Epithalamion in Stellam et Violentillam und im lukrezischen Venus- 162 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 44 Stat. silv. 1, 2: Im Hochzeitsgedicht bittet der Liebesgott seine Mutter Venus aus Mitleid mit dem sich in Liebe nach Violentilla verzehrenden Dichter Aruntius Stella, sie möge die glückliche Fügung der Liebesbeziehung herbeiführen. Bevor das Gespräch beginnt, liegt Venus, soeben aus der Umarmung ihres ‚getischen Gemahls‘ Mars entlassen, auf dem Bett, das eine Heerschar von Eroten (v. 54: agmen Amorum) bevölkert, die zu neuen Liebesabenteuern anregen (vgl. auch Stanza 1, 123). Venus liegt in seliger Ermattung ob des Vorausgegangenen: fessa iacet stratis, ubi quondam conscia culpae / Lemnia deprenso repserunt vincula lecto (vv. 59-60). Der Verweis auf ihre Schuld, die sie durch den Ehe‐ bruch mit Mars auf sich geladen hat, die Erwähnung der conscia vincula des Hephaist sowie die Anwesenheit der Amoren unterstreichen gerade die sexuelle Komponente des göttlichen Seitensprungs. Lucr. 1, 31-37: nam tu sola potes tranquilla pace iuvare / mortalis, quoniam belli fera moenera Mavors / armipotens regit, in gremium qui saepe tuum se / reiicit aeterno devictus vulnere amoris, / atque ita suspiciens tereti cervice re‐ posta / pascit amore avidos inhians in te, dea, visus / eque tuo pendet resupini spiritus ore. Weitere Quellen bei Puccini 2012, 106; Carrai 1988, 108; Bausi 2006, 207-208. 45 Quint 1979, 63. 46 Hierzu Orvieto 2009, 274: “Difficile vedere nella Venere delle Stanze quella ‘celeste’ di Ficino.” Ebd. 276: “Venere è sì la dea dell’amore, ma di un eros tutto terrestre e sessuale.” 47 Ferruolo 1955; McNair 1970. Hymnus. 44 Hier ist die milizia, die sonst im Reich herrscht, aufgehoben, Mars duldet (ganz offenkundig! ) keine Schmerzen, die Szene ist belebt von kleinen Amoren, die Rosenblätter aus ihren Köchern regnen lassen: uneingeschränkter Liebesgenuss beherrscht die Szenerie. Dieses Hochgefühl stammt, wie leicht er‐ sichtlich ist, aus der unmittelbar vorausgegangenen körperlichen Vereinigung: Mars liegt auf dem Rücken im Schoß der Geliebten und betrachtet ihr Gesicht, Venus gibt ihm ‚tausend Küsse‘ auf Stirn und Augen, und zwar con voglie pronte, von Quint treffend übersetzt mit „with ready desires“. 45 Das zugrunde liegende Liebeskonzept ist nur insofern ‚göttlich‘, als hier zwei Götter zugange sind - vielmehr steht ein ganz unverblümter, sexuell konnotierter Liebesbegriff im Raum, der freilich in der renaissancezeitlichen Terminologie kein anderer sein kann als der des amore lascivo. 46 Dennoch hat man der Episode verschiedentlich enorme philosophische Be‐ deutung beigemessen, sie als poetische Exemplifikation der kosmischen Liebes‐ konzeption Ficinos und so als Schlüssel zum Verständnis des Werks gesehen. 47 Der Grund hierfür liegt freilich in der ambigen Auffassung des Motivs der über Mars triumphierenden Liebesgöttin. Die Renaissance kannte zwei Lesarten der Episode um Mars und Venus, die von der Antike bestens bezeugt und tradiert worden waren: Zunächst die anzügliche Version des Ehebruchs, die bereits in Xenophanes und Platon erboste Kritiker gefunden hatte. Einen Ausweg, nach den Quaestiones Homericae des sog. Pseudo-Heraklit den einzigen, bot die alle‐ gorische Auslegungsmethode, die allein in der Lage war, die homerische Lie‐ 163 2.1. Stanze per la giostra 48 Hierzu Burkert 1960, 137. 49 Vgl. Burkert 1960. 50 Pico, Commento 2, 8 (Bürklin 2001, 84): […] è detto da’ poeti che Venere ama Marte, perchè quella bellezza la quale si chiama Venere […] non sta sanza quella contrarietà; e che Venere doma e mitiga Marte perchè quel temperamento restrigne e retunde la pugna e l’odio che è fra quelle nature contrarie. Nach Pico habe Empedokles richtigerweise gesagt, dass lediglich bei Gott Einheit bestehe, die weltlichen Dinge aber notwendigerweise aus der Überwindung des Gegensätzlichen durch das Einende hervorgingen; vgl. Wind 1958, 82. 51 In De amore 5, 8 (Marcel 1956, 192-193), wo die Auswirkungen bestimmter Nativitäts‐ konstellationen auf den Menschen beschrieben werden, liest man zum Thema Venus hunc [Martem] domat folgende Erklärung: Wenn Mars in der Nativität des Menschen herrsche, verleihe er ihm magnitudo animi und iracundia; trete Venus zu Mars in Kon‐ junktur, bleibe die Geistesgröße unberührt, der Jähzorn hingegen werde besänftigt. Eine Astrologie und Moralphilosophie verknüpfende Interpretation findet sich in einem Brief Ficinos an Lorenzo di Pierfrancesco, der wohl in die Jahre 1477/ 78 gehört, wo Venus als Humanitas erstrebt, Mars aufgrund seiner zu hohen Geschwindigkeit im All, Sinnbild zu großer Hast, gemieden werden soll; Gombrich 1972, 41-43. besbeziehung zwischen Ares und Aphrodite zu ‚läutern‘. 48 Die philosophische Version der Episode ist aus der apologetischen Allegorese hervorgegangen und mit einer Nebenüberlieferung zusammengeflossen, nach der aus der Vereini‐ gung von Aphrodite und Ares die Tochter Ἁρμονία, Ausdruck der Aufhebung des Streits zwischen Kriegsgott und Liebesgöttin, entstanden sei. In dieser Ver‐ sion habe Empedokles - so entnimmt man den Quaestiones Homericae, Plutarch, den Scholien sowie der Schrift De Homero - die abwechselnd vorherrschenden Seinsprinzipien philia und neikos mythologisch vorgeformt gefunden. 49 Auf das empedokleische seinsbestimmende Prinzip der Eintracht und Zwietracht zwi‐ schen den Dingen bezogen sich auch die Neuplatoniker Plotin und Proklos, die die Interpretation schließlich an die platonischen Philosophen der Renaissance weitergaben: Pico führte das Bild der Vereinigung von Mars und Venus im Kommentar der Canzone Benivienis als Metapher für das kosmische Modell des Empedokles an. 50 Ficino wiederum hatte der Venus-Mars-Episode allegorische Interpretationen astrologischer und moralphilosophischer Art angedeihen lassen. 51 Dass Poliziano in der Bettszene eine solche kosmische bzw. astrologi‐ sche Deutung verarbeiten wollte, wie McNair mutmaßt, ist, wie man bereits gesehen hat, abwegig: Zunächst entbehrt die Interpretation der textlichen 164 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 52 McNair 1970, 42: “Mars is back in the bosom of Venus because in the nature of things his place is there, and because (like Lucretius, and still more like his Neoplatonic mentor, Marsilio Ficino ) Poliziano has something to teach us about the central relationship of the Universe.” Berechtigt ist die Kritik von Storey 2003, 615: “It is unreasonable […] to assume that Ficino was the only source of Poliziano’s conception of the deities’ relati‐ onship. […] If Poliziano really had wanted to present, in a mythological guise, a poetic explanation of Ficino’s philosophy, one would expect to find more, and closer textual links.” Vgl. auch Gombrich 1972, 66. 53 Pol. epigr. gr. 49 (Pontani 2002, 201); Besprechung und Kommentar ebd. 201-205. Dass Pico Poliziano in den Disputationes (1, 1) als Feind der vanitas astrologorum, ja gar als omnium superstitionum mirus exsibilator bezeichnet hat, ist beredt; vgl. z.B. Branca 1986, 473. 54 Vgl. den Brief Ficinos an Poliziano vom 20./ 21. August 1494 (in Ficino 1576, 1, 958 und Poliziano 1553, 134): Contra multos astrologos, qui more gigantum eripere coelum Iovi tam frustra quam impie moliuntur, merito et Picus alumnus Palladis et tu miles Herculeus saepe feliciterque certatis. Vgl. Garin 1957, 26. Über den wenig überzeugenden Versuch Ficinos, im Brief seine astrologischen Studien zu rechtfertigen, vgl. Kraye 2002, 381- 382. Grundlage, d.h. klar nachvollziehbarer sprachlicher und inhaltlicher Belege. 52 Überdies war Poliziano ein erklärter Gegner jeglicher astrologischer Spekula‐ tion: In einem griechischen Epigramm an Pico leistete er sich einen heftigen Ausfall gegen (nicht näher definierte) Astrologen, die er als ‚Dampfplauderer‘ (ἀερολέσχαι) und ‚Scharlatane‘ (ἀγύρται) beschimpfte - kaum die Gruppe von Gelehrten, deren Theorien er in seinem Gedicht verarbeiten würde. 53 Dass Ficino für Poliziano unter die geschmähten Astrologen zählte, ist aus der späteren be‐ rühmten Kontroverse zwischen den Gelehrten bekannt. 54 Neben der philosophischen Deutung der Venus-Mars-Episode behält in der Renaissance allerdings auch die erotische Lesart ihren Stellenwert. Diese zeigt sich exemplarisch in Lorenzos fragmentarischem Karnevalslied Amori di Venere e Marte (lateinisch Furtum Veneris et Martis) betitelt, das der homerischen Er‐ zählung folgt und von einer allegorisierenden Interpretation absieht. Zunächst tritt Venus auf, die in freudiger Erwartung des bevorstehenden erotischen Er‐ lebnisses den Ehebruch vorbereitet, da Vulcan außer Haus ist. Sodann erscheint Mars, ebenfalls in gieriger Erregung. Die Freude allerdings währt nur kurz, denn schließlich - danach bricht das Fragment ab - treten die Spielverderber Sol, der den Ehebruch entdeckt, und Vulcan, der gehörnte Gatte, auf den Plan, dem die abschließenden Worte gehören: pena pagherete, / ché grave colpa vuol gran dis‐ ciplina (vv. 119-120). Dass die Episode um Mars und Venus in der Renaissance sowohl aufgrund ihres allegorischen Potentials als auch aufgrund ihrer Frivolität hoch im Kurs stand, belegt auch die zeitgenössische Malerei. Edgar Wind hat gezeigt, dass die astrologische Interpretation des Mythos Mars als Gefangenen darstellt, da seine 165 2.1. Stanze per la giostra 55 Dies ist der Fall in Francesco Cossas Aprile von 1468-1470, wo im oberen Bilddrittel der in Ketten gelegte Mars vor Venus auf ihrem Wagen kniet, sowie in Paolo Veroneses weit sinnlicher gestalteter Allegorie Marte e Venere legati da Amore (1578-1580). Vgl. Wind 1958, 84 mit figg. 56-57. 56 Vgl. Wind 1958, 84-85, wo die Bedeutung von Wespen und Bienen als Abbild des immer vorhandenen ‚Stachels‘ des Kriegsgottes in der renaissancezeitlichen Malerei ausge‐ führt wird. 57 Wind 1958, 85. 58 Pol. epigr. gr. 55 (Pontani 2002, 229); Besprechung und Kommentar ebd. 229-233. iracundia - wie bei Ficino - durch Venus nur abgeschwächt, keinesfalls aber gänzlich aufgehoben werde. 55 Dies gilt ebenso für die allegorische Ausgestaltung der empedokleischen discordia concors, da das einigende Prinzip seine seinsbes‐ timmende Gültigkeit nur durch den Kontrast zum widerstreitenden Element erhält. 56 Die erotische Lesart des Mythos hingegen wird durch die Präsenz von amoretti, die zuweilen mit den abgelegten Waffen des Mars hantieren, und die völlige Absenz von Gefahr, repräsentiert durch den Kriegsgott als schlafenden Galan, zum Ausdruck gebracht - ein Bild, das, wie Wind bekräftigt, eindeutig kein astrologisches sein kann. Hiermit verwandt ist das Bild der sich wappn‐ enden Venus, welches die Umkehrung der Verhältnisse bedeutet: “Dressed in armour (ὅπλα Κυθήρης), the Venus victrix or Venus armata signifies the warfare of love: she is a compound of attraction and rejection, fostering her gracious aims by cruel methods.” 57 Dass Poliziano diese Seite des Mythos bestens vertraut war, zeigt sein griechisches Epigramm Εἰς Ἀφροδίτην ὡπλισμένην (lateinisch In Venerem armatam). 58 Hier bringt Poliziano die erotische Variante des Mythos zur Darstellung, deren Kern unverkennbar liebeslyrischer Provenienz ist: Nachdem die Liebesgöttin den Kriegsgott entwaffnet hat, schwingt sie sich selbst zur Herrschaft auf - ein Motiv, das sich in zahlreichen literarisch und künstlerisch gestalteten Trionfi di Venere zu einem Topos der Renaissancekunst entwickelt hat. Es ist eben dieses Motiv, das in den Stanze, jenem Triumphlied der Liebe, zu voller Entfaltung gebracht wird. Poliziano gleicht das statianische und lukrezi‐ sche Bild der wunschlos glücklichen und vom Liebesspiel erschöpften Venus, die von ihrem Sohn aufgesucht wird, an die renaissancezeitliche Vorstellung der Venus armata bzw. victrix an. Hierzu lässt er die Göttin ihren Sohn fragen, woher er käme, warum er schwitze, welchen Gott oder Menschen er gefangen habe (1, 125, 1-6). Und schließlich (vv. 7-8): Che che ciò sia, non umil cosa parmi, / o figlio, o sola mia potenzia e armi. Cupido wird als ‚militärische Potenz‘ der Liebesgöttin angesprochen, übernimmt also das Amt, das die ‚Venus armata‘ standardmäßig selber bekleidet. Cupido antwortet seiner ermatteten Mutter, er schwitze, weil er einen stolzen Krieger gebändigt habe, und zwar ganz in der Art wie einst den 166 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 59 Bisweilen hat man angenommen, dass zumindest im unvollendeten 2. Teil ein Aufstieg des Protagonisten im Geiste neuplatonischer Philosophie angedeutet ist: Quint 1979, xv; Bermann 1981; Carrai 1988, 8-10. Hier möge die Widerlegung bei Bigi 1996, 50-54 genügen, der die vorgeblich verarbeiteten neuplatonischen Philosopheme als „elementi stilnovistici e stoici“ erwiesen hat. 60 Vgl. auch Bruni 2008, 97: “La necessità per il poeta del sostegno dell’ispirazione è un concetto che torna anche nel Poliziano volgare, laddove però più che alla tradizione platonica-neoplatonica, l’autore sembra richiamarsi ai precetti della poetica stilnovis‐ tica.” Kriegsgott Mars (Stanze 2, 11). Zu Beginn des zweiten Buches schließlich ist es Venus selbst, die Aufträge an ihre Amoren verteilt: Sie mögen die toskanischen Edelmänner zum „Krieg für die Liebe“ (far guerra per Amore, 2, 18, 8) anregen und dazu die „süße Leidenschaft des Mars“ (di Marte el dolce [B fero] ardor, 2, 16, 6). einhauchen (Stanze 2, 16; 18). Hier erweitert Poliziano das Motiv der sieg‐ reichen Liebesgötter um ein sinnfälliges Spiel mit seinem Sujet, der Giostra. Die Venus victrix gebraucht die wie Mars domestizierten (Edel-)Männchen zum Ruhmerwerb, indem sie sie zum Lanzenstechen schickt, das im Zeichen der Liebe - um eine zu gewinnende Dame - ausgefochten wird. Poliziano instru‐ mentalisiert das topische Motiv der Venus victrix bzw. des Cupido triumphans geschickt im Sinne der giostra, indem er aus dem ‚Krieg der Liebe‘ den ‚Krieg für die Liebe‘ hervorgehen lässt. 59 2.1.3. Evidenz und Allegorie: Die Stanze als philosophisches Gedicht? Keine der grundlegenden Bestimmungen renaissancezeitlicher platonischer Dichtungslehre erfährt in den Stanze eine Umsetzung oder Aktualisierung. Viel‐ mehr steht das Gedicht deren integralen Postulaten in unaufhebbarem Kontrast gegenüber: Es werden Gegenentwürfe zu Inspirations-, figmentum- und Eros‐ lehre präsentiert, die in ihrer deutlichen Absetzung von der Dichtungslehre, wie sie insbesondere Ficino in zeitlicher Nähe entwickelte, polemisches Potential enthalten. So wird zunächst der neuplatonischen Inspirationstheorie die klas‐ sische antike und stilnovistische Invokationspraxis entgegengestellt. Die An‐ rufungen an Helfer beim Werk, an Achill, Cupido und Erato, bewegen sich im Rahmen liebeslyrischer und epischer Topik und fungieren als poetologische Chiffren für die Gattungsverschmelzung von Epos und Liebeslyrik, nicht aber als Bekenntnis zum platonistischen Inspirationskonzept. 60 Insbesondere die Wahl Achills als Inspirationsquell des Dichters ist mit platonischer alie‐ natio-Doktrin unvereinbar: Während bei Ficino die Musen bzw. die acht Sirenen, die die Sphärenharmonie erzeugen, als Mittler des göttlichen Gesangs fungieren, wird Achill vom Dichter aufgrund der Möglichkeit autobiographischer und po‐ 167 2.1. Stanze per la giostra 61 Praefatio in silvam cui titulus Manto vv. 23-24: occupat hanc [lyram Orphei] audax di‐ gitosque affringit Achilles / indoctumque rudi personat ore puer. 62 Vgl. Kap. B.3.2. etologischer Stilisierung zur Muse berufen. Mit der Anrufung Achills verarbeitet Poliziano die biographische Notiz, dass er nunmehr von der Ilias-Übersetzung zur Abfassung der Stanze übergehen wird, und bringt gleichzeitig zum Aus‐ druck, von welchen Genres er sich hat inspirieren lassen. Inspiration ist bei Poliziano eine literarische Konstruktion, mit der sich in dichterischer Form au‐ tobiographische und werkbezogene Informationen vermitteln lassen. Zu einer ähnlichen autobiographisch-poetologischen Konstruktion wird Po‐ liziano im Einleitungsgedicht zur Manto greifen, wenn er sich als jungen, noch wenig gebildeten Achill stilisiert, der Orpheus’ Laute ergreift, um das Lied des Meisters zu besingen. 61 Dies zielt im metaphorischen und metapoetischen Über‐ trag auf den Dichter selbst, der zum Preis der Sangesgabe des großen Vergil ein bescheidenes Gedicht, die Manto, verfasst: Wie Achill an Orpheus, so inspiriert sich Poliziano an Vergil. Hier weist das Inspirationsmotiv wiederum zunächst auf den Dichter selbst und bringt andererseits die Vorstellung des Dichtens in Abhängigkeit von anderer, voraufgegangener Dichtung zum Ausdruck. Dieser Vorstellung dichterischer Inspiration - Inspiration am Werk anderer statt durch göttliche Gnade - wird Poliziano in der Nutricia ein Denkmal setzen. 62 In fundamentaler Weise werden ferner die weiteren integralen Theoreme platonischer Dichtungslehre, die Eroskonzeption und die figmentum-Lehre, de‐ struiert. Die Vorstellungen von göttlicher und gemeiner Liebe werden gegenei‐ nander ausgespielt und die ficinianische Hierarchie auf den Kopf gestellt. Das Reich der Venus wird als Ort göttlicher Grausamkeit und unverhüllter Laszivität geschildert. Wenn die Vereinigung von Venus und Mars, die auf der allegori‐ schen Ebene des Gedichts eine bereits seit der Antike gängige und in der Re‐ naissance bekannte metaphysische Interpretation zugelassen hätte, dezidiert sexuell konnotiert wird, deutet dies wenn nicht auf eine klare polemische Ab‐ sicht, so doch auf einen scharfkantigen Gegenentwurf hin. Ferner lehnt der Dichter der Stanze die moralphilosophische, theologische und astrologische Lesart des Mythos ab. Solchen Spekulationen wird die epische Konstruktion göttlicher Allmacht und tragischer menschlicher Liebesempfin‐ dung entgegengestellt. Diese ‚poetische‘ Lösung zeigt sich insbesondere an Stellen, an denen Poliziano durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, die An‐ schauungen seiner Lehrer Ficino und Landino zu verarbeiten. Häufig sind die‐ jenigen Figuren oder Ekphraseis, die eine neuplatonische Deutung prinzipiell zugelassen hätten, in einer Weise gestaltet, die deutlich ein anderes poetologi‐ sches Konzept in den Mittelpunkt rücken: die enargia. So erscheint etwa der 168 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 63 Vgl. Pol. Il. 4, 1-5, Hom. Il. 4, 1-4 und hierzu Maїer 1954, 17: “Son texte prouve donc que les questions de doctrine ne tenaient pas encore une place prépondérante dans ses préoccupations. Plus qu’à un exposé méthodique, cette page aboutit finalement à la description d’un monde idéal, peuplé de divinités rayonnantes, évoluant dans un cosmos éternellement jeune, que le poète de la Renaissance contemple avec une satis‐ faction d’esthète: c’est déjà une vision dans laquelle le futur poète des Stanze fixait son rêve de Beauté.” Vgl. Kap. A.1.2. Liebesgott, der nach dem platonischen Aszendenzgedanken als Amor divinus gestaltet sein müsste, häufig als burleske Figur, deren Handlungen in possierli‐ cher Anschaulichkeit gezeichnet sind. Die Ankunft des Liebesgottes im Reich der Venus erinnert an die Ankunft des Somnus am Bett Agamemnons, wie sie Poliziano in der Ilias-Übersetzung gestaltet hat: Beide hantieren geschäftig mit ihrem Gefieder, Somnus bindet es los, Cupido schüttelt es und lässt sich darin nieder (1, 121): Or poi che ad ale tese ivi pervenne, forte le scosse e giù calossi a piombo, tutto serrato nelle sacre penne, come a suo nido fa lieto colombo. L’aier ferzato assai stagion ritenne della pennuta striscia el forte rombo: ivi racquete le triunfante ale, superbamente inver’ la madre sale. Jetzt, da er mit gespreizten Flügeln dorthin gelangt war, schüttelte er sie heftig und ließ sich senkrecht nieder, in den heiligen Federn gänzlich versunken, so wie eine fröhliche Taube sich in ihr Nest niederlässt: In der schwirrenden Luft vernahm man noch einige Zeit den peitschenden Flügelschlag. Dann ließ er seine siegreichen Schwingen zur Ruhe kommen, und stolz stieg er zur Mutter hinan. Die Eindrücklichkeit, die Poliziano bei der Schilderung des Liebesgottes kreiert, ist nicht nur poetisches Ornament, sondern fundamentaler Ausdruck einer Auf‐ fassung von Dichtung, die auf die unmittelbare Vermittlung des Bildes mehr Wert legt als auf eine allegorisch vermittelte hermeneutische Botschaft, die sich hinter der Literalebene des Textes befindet. Freilich schließt das eine das andere nicht notwendigerweise aus, doch hatte schon die Ilias-Übersetzung darauf hin‐ gedeutet, dass Poliziano die beiden Konzepte - Präsenz und (allegoretische) Hermeneutik - als schwer vereinbar ansah. So hatte er bereits dort durch Hin‐ zufügung anschaulicher, ‚poetischer‘ Elemente selbst dort eine stimmige alle‐ gorische Interpretation ruiniert, wo er die Möglichkeit einer solchen ausdrück‐ lich erwähnt. 63 169 2.1. Stanze per la giostra 64 Bausi 2006, 206 z.St.: “Poliziano allude ancora una volta alla capacità degli intagli di ‚esprimere‘ ciò che per l’arte figurativa è di solito inesprimibile (parole, canto, pensieri, sentimenti).” 65 Vgl. hierzu Schwab 2015. Deutlich wird die Betonung der Unmittelbarkeit der Darstellung in der Ek‐ phrasis des Palasttores, in der Poliziano seine poetologische Position klar be‐ kundet. Das Palasttor wird als Meisterwerk des Hephaist beschrieben, das für seine Anschaulichkeit und affektive Qualität gepriesen wird (1, 119): Intorno al bel lavor serpeggia acanto, di rose e mirti e lieti fior’ contesto, con varii augei sì fatti, che il lor canto par udir negli orecchi manifesto. Né d’altro si pregiò Vulcan mai tanto, né ’l vero stesso ha più del ver che questo; e quanto l’arte intra sé non comprende, la mente immaginando chiaro intende. Um das schöne Werk windet sich Akanthus, von Rosen, Myrten und hübschen Blumen durchsetzt, mit verschiedenen Vögeln, die so gearbeitet sind, dass ihr Gesang deutlich in den Ohren zu klingen scheint. Kein anderes Werk erfüllte Vulcan je so sehr mit Stolz, und die Wahrheit selbst ist nicht wahrer als dieses. Und was die bildnerische Kunst nicht auszudrücken vermag, das begreift deutlich die Vorstellungskraft. Die Verzierungen, die das Tor umgeben, sind so authentisch gestaltet, dass der Beschauer meint, den Gesang der Vögel deutlich hören zu können. So ‚wahr‘ sei die Darstellung, dass auch „die Wahrheit selbst nicht wahrer“ sein könne - welche Vorstellung des vero liegt der Kunst Hephaists (und Polizianos) zu‐ grunde? Wahrheit bedeutet hier realitätsgetreue künstlerische Darstellung, die einen so hohen Grad der Anschaulichkeit erreicht, dass sie Dinge zum Ausdruck bringen kann, die der bildenden Kunst sonst versagt bleiben. 64 Unter Rekurs auf das an der Ilias erarbeitete Konzept affektiver Anschau‐ lichkeit verwendet Poliziano häufig Metakommentare, um die Eindrücklichkeit des Tores zu untermalen und den Leser zum Beschauer werden zu lassen. So dienen gerade in der Ekphrasis des Tores die Apostrophen in Art des homeri‐ schen ἴδοις ἄν dazu, den Leser emotional in das Geschilderte einzubeziehen: Poliziano verwendet hierbei si vede (1, 99, 2), par che (1, 99, 8), vera diresti (1, 100, 1), giurar potresti (1, 101, 1), paion (1, 103, 1), ti parria (1, 103, 3). 65 In Stanza 1, 100, 1-4, wo die Geburt der Venus im Meer geschildert wird, bringt der Dichter 170 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 66 Megna 1999, 107-142. 67 Vgl. Oehlig 1992, bes. 51-83; Tirinnanzi 2000, 3-86; Hessler 2014, 133-134. 68 Der Text nach Fera 1983, 119. die Vorstellung von Wahrheit als sicht-, greif- und fühlbare Evidenz zum Aus‐ druck: Vera la schiuma e vero el mar diresti e vero il nicchio e ver soffiar di venti; la dea negli occhi folgorar vedresti e il ciel riderli attorno e gli elementi. Wahrhaftig dürftest du nennen den Meeresschaum und wahrhaftig das Meer, wahr‐ haftig die Muschel und wahrhaftig das Blasen der Winde. Sehen dürftest du das Fun‐ keln in den Augen der Göttin, sehen, wie ihr der Himmel und die Elemente zulächeln. Die Betonung der sichtbaren, den Menschen direkt affizierenden Anschaulich‐ keit der Stanze ist ein deutliches poetologisches Bekenntnis zur antiken Evi‐ denztheorie einerseits und gegen die renaissancezeitliche figmentum-Lehre an‐ dererseits. Dichterische Wahrheit (vero) ist für den Dichter der Stanze eben nicht die überirdische, dem Menschen unbewusst und nur durch Gnade zuteil wer‐ dende Offenbarung, sondern sie ist im Gegenteil die sinnliche und emotionale Wahrnehmung einer Beschreibung, die in der Vorstellung des Rezipienten ‚wahrhaftig‘ wird. Zieht man das platonische Verdikt gegen die Kunst als de‐ fektive Mimesis der sensibilia heran, wird der Unterschied zwischen platoni‐ scher Wahrheitssuche und Polizianos ästhetischem Wahrheitsbegriff eklatant. Zwar hatte Ficino versucht, Platons Ausweisung der Dichter aus dem Staat im Hinblick auf die furor-Lehre und durch die daraus erwachsende Vorstellung von Dichtung als mimesis kosmischer Strukturen abzumildern. 66 Den Dichter der Stanze allerdings würde auch Ficino ausweisen müssen, insofern er zu denje‐ nigen zählte, der nicht die Dinge selbst, sondern lediglich die sensibilia nach‐ ahmt, um Affekte zu provozieren. 67 Dass Poliziano hierauf allerdings mühelos mit Platon selbst replizieren konnte, zeigt seine Interpretation des platonischen Passus in der Expositio Suetoni von 1490 zur Caligula-Vita 34, 2: 68 causam cur Plato Homerum ab urbe expulisset aliqui ineruditi nesciunt; dicunt enim ipsum malos poetas Homerumque etiam cum illis ab urbe expulisse, cum Homerus principis poetarum nomen sibi vendicaverit. Causa ergo vera hec fuit: cum Plato urbem describere destinasset, in qua contemplativa vita degeretur, afectus omnes ab urbe ea expelere cogebatur; cunque animadverteret Homerum ipsum ad quos velet afectus homines comovere, ad iracundiam, scilicet, luctum et iocos, aliosque similes affectus, eum ab urbe expellere astrictus est, sicque dixisse fertur: “si in urbem hanc 171 2.1. Stanze per la giostra 69 Megna 1999, 138-139 Anm. 2 70 Epist. 1, 130 (Gentile 1990, 238-239): admonuere insuper Pythagoras atque Plato, qui Homerum Hesiodumque - quod partim tanquam ingrati divina ad homines, partim tan‐ quam impii humana ad deos transtulerint -, ex hominum cetu ad inferos expulerunt. Ficinos Darstellung ist aus philologischer Sicht fragwürdig, da er zwei unterschiedliche Überlieferungsstränge kontaminiert: In der Pythagorasvita des Diogenes Laertios war zu lesen, der Philosoph habe Homer und Hesiod bei seinem Unterweltsgang für ihre Götterdarstellungen schrecklich büßen sehen (Diog. Laert. 8, 21), wohingegen der Dichter bei Platon nirgends in den Hades verbannt wird. 71 Ficino 1576, 2, 1428: [Plato] Homero autem praecipue derogat, ut per ipsum imitatorum principem caeteros multo magis damnatos existimemus. Et quoniam dicit ab Homero neque divina neque humana doceri, intellige laudes in Philebo [62d] a Platone tributas Homero non ex Platonis sententia, sed ex communi opinione deductas. Probat autem imitandi pe‐ ritiam esse […] valde periculosam, praeterea servilem atque vilissimam, siquidem imita‐ tores neque res ipsas intelligunt neque faciunt, sed apparentes sensibus rerum formas se‐ quuti vulgaresque de his opiniones aucupati, et imagines quasdam referunt et sensibus perturbationibusque obsequuntur, nulla rationis habita ratione. Quantum vero poetas im‐ probat ubi perturbant, tantum probat si ad virtutem et pietatem per honestas heroum laudes divinosque hymnos hortentur […] (zit. bei Megna 1999, 138-139). veniret Homerus, nos eum in concionem duceremus in subiestoque colocaremus ac dein coronaremus, tum demum diceremus: ‘abi[i], Homere; non enim in hac urbe potes consistere.’” Einige ungebildete Leute kennen den Grund nicht, warum Platon Homer aus der Polis verbannt hat. Sie behaupten nämlich, er habe die schlechten Dichter und mit ihnen Homer deshalb verbannt, weil Homer den Titel Dichterfürst für sich in Anspruch genommen habe. Der wahre Grund aber war dieser: Als Platon beschlossen hatte, die (ideale) Polis zu beschreiben, in der nach dem Prinzip des beschaulichen Lebens gelebt werden sollte, sah er sich gezwungen, sämtliche leidenschaftliche Regungen aus ihr zu verbannen. Als er bemerkte, dass eben Homer die Menschen zu allen Gefühlsre‐ gungen bewegen konnte, zu denen er wollte, d.h. zu Zorn, zu Trauer und Spaß und dergleichen mehr, so war er gehalten, ihn aus der Polis auszuweisen, wobei er fol‐ gendes gesagt haben soll: „Käme Homer in diese Stadt, so würden wir ihn zum Ver‐ sammlungsplatz führen, auf ein Podest stellen, ihn krönen und endlich zu ihm sagen: ‚Geh, Homer, denn in dieser Stadt kannst du nicht bleiben.‘“ Poliziano hebt an mit einer These, die es zu widerlegen gilt. Einer der ineruditi, die hier angegriffen werden, wenn nicht der hauptsächliche Adressat der Po‐ lemik, ist Ficino. 69 Dieser hatte mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass Platon Homer ausgewiesen habe - in einem Brief an Alessandro Braccesi wird er gar in die Unterwelt verbannt! -, 70 da er die Götter schimpflich darstelle, ihre Ge‐ heimnisse verrate und der princeps imitatorum sei. 71 172 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 72 Resp. 377d-398b, wo die Frage nach der Nützlichkeit der Dichtung für die Wächterer‐ ziehung in der Polis behandelt wird, hier besonders 398a: Ἄνδρα δή, ὡς ἔοικε, δυνάμενον ὑπὸ σοφίας παντοδαπὸν γίγνεσθαι καὶ μιμεῖσθαι πάντα χρήματα, εἰ ἡμῖν ἀφίκοιτο εἰς τὴν πόλιν αὐτός τε καὶ τὰ ποιήματα βουλόμενος ἐπιδείξασθαι, προσκυνοῖμεν ἂν αὐτὸν ὡς ἱερὸν καὶ θαυμαστὸν καὶ ἡδύν, εἴποιμεν δ’ ἂν ὅτι οὐκ ἔστιν τοιοῦτος ἀνὴρ ἐν τῇ πόλει παρ’ ἡμῖν οὔτε θέμις ἐγγενέσθαι, ἀποπέμποιμέν τε εἰς ἄλλην πόλιν μύρον κατὰ τῆς κεφαλῆς καταχέαντες καὶ ἐρίῳ στέψαντες […]. Die Erwähnung des subiestum (βῆμα) sieht Megna 1999, 138-139 aus dem Ion 535d-e extrapoliert, wo der Rhapsode erzählt, er achte von der Bühne herab auf die Gefühlsregungen der Zuschauer. 73 Hierzu Scaglione 1961, 70: “(Poliziano) couldn’t ultimately be a Platonist. In Plato the ‘failure’ of philosophy was the triumph of poetry.” Als Antwort auf Ficino bietet Poliziano ein Platon-Zitat, das vielmehr eine kollationierende und interpretierende Paraphrase einschlägiger Platonstellen ist (und als solche freilich ebenso tendenziös wie Ficinos Platon-Lektüre). 72 Nicht den ‚schlechten‘ Dichter Homer habe Platon verbannt, sondern den hervorra‐ genden Dichter, da dieser die affectus so meisterhaft beherrsche und die Men‐ schen dieser Stadt nach seinem Willen lenken könne. Da Platon aber eine Stadt beschrieben habe, die auf die vita contemplativa ausgerichtet sei, musste er Homer als genialen Störenfried, gewissermaßen als dämonischen Staatsfeind ausweisen. Diese Erklärung deutet auf eine fundamentale Kluft zwischen der Dichtung Polizianos und dem zeitgenössischen Platonismus hin, wie er von Fi‐ cino vertreten wurde. 73 Poliziano sah Homer - dies geht auch aus dieser Stelle klar hervor - als Chiffre für sein eigenes Dichten: Homer, der Meister der af‐ fectus, als solcher von Platon gefürchtet und von Poliziano verehrt, fungiert als nächster geistiger Verwandter des Florentiners. Die Stoßrichtung gegen Ficino, die dieser Konstruktion zugrunde liegt, ist evident: Ein Dichter, der sich auf Affekterregung versteht, kann den Metaphysiker noch immer in Verwirrung bringen. Wenngleich der Kommentar zu Sueton nicht mehr ist als recollecta, also kein breiteres Publikum erreichten, so ist die Stelle doch ein vorzügliches Bei‐ spiel für die Philosophen-Polemik der späteren Jahre: Platon selbst, d.h. sein Text - wenngleich in polemisch zugespitzter, jedoch nicht unrichtiger Paraphrase -, wird gegen die textfernen Interpretationen florentinischer Platoniker ins Feld geführt, freilich mit der Absicht, diesen vorzuhalten, sie würden ihren Platon nicht recht gelesen haben. Was hier mit polemischer Intention gegen die Platoniker gerichtet ist, ist in den Stanze, so in den Darstellungen Cupidos, der Liebesszene zwischen Venus und Mars, der Ekphrasis des Palasttores, in poetischer Form vorgebildet. Die affectus werden der vita contemplativa, die anschauliche, affektive Dichtung den hohen poetologischen Postulaten der Platoniker, schließlich die Wahrheit (vero) 173 2.1. Stanze per la giostra 74 Über Datum, Ort und Anlass der Fabula wurde lange (und wird noch immer) kontrovers diskutiert. Zur vexata quaestio der Datierung Leuker 1997, 41-47; Bosisio 2015, 136. Picotti 1955b hatte die Doppelhochzeit von Clara Gonzaga mit Gilberto di Montpensier und Isabella d’Este mit Francesco Gonzaga im Jahr 1480 als Anlass vermutet (so neu‐ erlich Bosisio 2015). Dies ließ sich allerdings nicht halten: Zunächst gab Tissoni Ben‐ venuti 1986, 58-70 zu bedenken, dass sich der Hof in Mantua 1480 nach dem Tod der Margherita Gonzaga in einem Trauerjahr befunden habe, das öffentliche Feierlichkeiten verbot (vgl. auch dies. 1981). Sie siedelte den Orfeo im geistigen und zeitlichen Umfeld der Stanze an und datierte ihn auf die Mitte der siebziger Jahre, was allerdings mehr Gegner als Befürworter gefunden hat (Zustimmung: Martelli 1988; Carrai 1990; Bausi 2006, 28-34. Ablehnung: Bigi 1988; Puccini 2012, LI-LIII; Branca 1983, 70 Anm. 17; Bettinzoli 1993; Leuker 1997, 41-95. Das Trauerjahr schloss zwar keine privaten Auf‐ führungen aus, doch hätte, wie Leuker 1997, 44-45 feststellte, der Chronist der Hoch‐ zeitsfeierlichkeiten Francesco Peregrino Ariosti, der eine theatralische Darbietung nicht erwähnt, die Aufführung des Orfeo in seinem Bericht kaum übergangen. Allerdings Branca 1983, 70 Anm. 17: “i lutti a corte non erano così lunghi né escludevano rappre‐ sentazioni.” Leuker 1997, 45 (Bekräftigung ebd. 2005, 277-279) hat schließlich überzeu‐ gend für eine Datierung der Aufführung auf den 15. Februar 1480 plädiert, den Fa‐ schingsdienstag (bacchanaliorum dies), den die Gonzaga nachweislich zum Anlass für ein ausgiebiges privates Bankett genommen hatten. Den Termin hatten bereits Pirrotta 1969 und Vitalini 1969 ins Auge gefasst. 75 D’Ancona 1891, 3; Kremers 1972, 311; Fantazzi 2001, 121-122; Branca 1983, 55-72 sieht im Orfeo den Einfluss der momarie veneziane, meist am Karneval aufgeführte Masken‐ spiele, die Poliziano bei seinem Aufenthalt in Venedig kennengelernt haben könnte. der unmittelbaren Empfindung der göttlichen Offenbarung nachdrücklich ent‐ gegengestellt. Auch in der zweiten größeren dichterischen Schöpfung im Volgare, der Fa‐ bula di Orfeo, nahm sich Poliziano eines Themas an, das insbesondere seit der Spätantike Gegenstand vielfältiger allegorischer Ausdeutungen war. Mehr noch als die Stanze trägt der Orfeo, wie im Folgenden gezeigt wird, reaktionäre Züge. 2.2. Fabula di Orfeo Den Orfeo hat Poliziano mit hoher Wahrscheinlichkeit im Exilsjahr 1480 am Hof der Gonzaga in Mantua zur Aufführung gebracht. In Auftrag gegeben wurde das Stück vom Kardinal Francesco Gonzaga, Anlass waren wohl die höfischen Fa‐ schingsfeierlichkeiten im Februar. 74 Mit dem Orfeo ersetzte Poliziano die in der Renaissance bis dato vorherrschende Theaterform der sacra rappresentazione durch ein säkulares Stück. 75 Die Handlung der Fabula zerfällt in drei Teile, die jeweils an unterschiedlichen Modellen orientiert sind. Der erste Teil der Hand‐ lung - nach dem Götterprolog und dem komödiantischen Auftritt eines alten Hirten - ist bukolisch koloriert und vornehmlich an Calpurnius’ 3. Ekloge ge‐ 174 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 76 Die szenische Exposition ist die aus Calp. ecl. 3, wo der Hirt Iollas seine iuvenca vermisst und Lycidas um Rat fragt, der wiederum Tityrus mit der Suche beauftragt. 77 Hier ändert sich auch der Ton des Stücks: Tissoni Benvenuti 1986, 147: “L’invocazione di Aristeo […] è quasi una cerniera tra questa e la parte centrale di tono più alto.” 78 Tissoni Benvenuti 1986, 165. halten (vv. 17-127). Er repräsentiert ein Gespräch zwischen dem jungen Hirten Aristeo und dem alten Hirten Mopso, das durch die zeitweilige Präsenz eines dritten nicht näher beschriebenen Hirten Tirsi belebt wird. Mopso fragt Aristeo, ob er denn sein Kälbchen gesehen habe, was Aristeo verneint, woraufhin er aber Tirsi auf die Suche nach dem verlorenen Tier schickt. 76 So ist der Rahmen für das Zwiegespräch zwischen dem alten und dem jungen Hirten geschaffen, das mit der erfolgreichen Rückkehr des Suchers zum Ende kommt. Bei Calpurnius endet die 3. Ekloge an dieser Stelle, bei Poliziano leiten Tirsis Bericht (vv. 97- 110) von seiner Begegnung mit einer überirdisch schönen Frau - Euridice - und Aristeos unbezähmbares Sehnen nach der Schönen den zweiten Teil des Stücks ein. Euridice wird von einer Schlange gebissen, während sie vor Aristeo flieht, dessen Gesang (Non mi fuggir, donzella, vv. 128-140) das Bindeglied zwischen der bukolischen Anfangsszene und der folgenden Unterweltsfahrt des Orfeo ist. 77 Der zweite Teil des Stücks (vv. 141-260) beginnt mit dem Auftritt eines Hirten, der Orfeo vom Geschehenen unterrichtet, woraufhin dieser zu einem langen Klagelied anhebt, das ihn bis vor die Tore der Unterwelt führt. Pluto, bewegt von der Macht des orphischen Gesangs, tut dem Sänger auf, der ausführlich von seinem Geschick berichtet und seine Geliebte zurückerbittet. Proserpina stimmt ihren Gatten milde, der dem Sänger Euridice unter den bekannten Auflagen wiedergibt. Auf Orfeos Verstoß folgt der Trauergesang der Euridice, eine Furie verwehrt Orfeo den erneuten Eintritt, woraufhin sich dieser in einem miso‐ gynen Lied - hier beginnt der dritte, ‚ovidische‘ Teil der Fabula (vv. 261-308) - der Knabenliebe zuwendet. Schließlich wird Orfeo von den erzürnten Bacchantinnen zerstückelt. Das Stück endet in einem Chorlied der Bacchantinnen, das in deutlichem Gegensatz zur grausigen Ermordung steht: In eindringlicher Manier wird das Publikum zum Trinken aufgefordert (vv. 309-342). 78 2.2.1. Orpheus in der Renaissance: Der Wahrheitssucher Mit dem Orfeo nähert sich Poliziano einer Figur, die für die Renaissance enorme Symbolkraft hatte: Der mythische Sänger galt, wie schon der Antike, als Sinnbild für den göttlichen Dichter sowie den Religions- und Kulturstifter. Während 175 2.2. Fabula di Orfeo 79 Einen Überblick über den Orpheus-Christus in Spätantike, Mittelalter und Renaissance geben z.B. Buck 1961 und Friedman 2000, 38-145. 80 Boeth. cons. 3, 12, 1-4: Felix qui potuit boni / fontem visere lucidum, / felix, qui potuit gravis / terrae solvere vincula; 50-58: Orpheus Eurydicen suam / Vidit, perdidit, occidit. / Vos haec fabula respicit, / Quicumque in superum diem / Mentem ducere quaeritis. / Nam qui Tartareum in specus / Victus lumina flexerit, / Quicquid praecipuum trahit, / Perdit, dum videt inferos. 81 Genealogie 5, 12, 3 (Solomon 2011): Et ob id, ut ait Ovidius, cum multas suas nuptias postulantes reiecisset, aliisque hominibus celibem vitam ducere suaderet, mulierum incidit odium. diese Zuweisung unbestritten blieb, bedurfte es größerer Kunst, den Orpheus der Eurydike-Episode zum Sinnbild für den christlichen Wahrheitssucher zu stilisieren. 79 Hierfür griff man zurück auf den allegorischen Interpretations‐ modus, für den Boethius in der Consolatio philosophiae ein instruktives Exempel gegeben hatte. 80 Besonders unter den Händen Boccaccios erfuhr die Geschichte um Orpheus, Eurydike und Aristaeus eine umfängliche interpretatio christiana. In den Genealogie deorum gentilium (5, 12) konzentrierte sich Boccaccio vor‐ nehmlich auf die vergilische Version des Mythos aus dem 4. Georgica-Buch. Die ovidische Schilderung von Orpheus’ unrühmlichem Ende erklärte er so: Der Sänger habe den Zorn der Frauen durch die Entscheidung auf sich gezogen, nach dem Verlust seiner Geliebten ein keusches Leben führen zu wollen und auch andere Männer zum zölibatären Leben anzuleiten. 81 Die Hinwendung zur Kna‐ benliebe blieb unerwähnt. Doch auch gegenüber der vergilischen Variante nahm Boccaccio moralische Umwertungen vor. Während in den Georgica Aristaeus faktisch die Schuld am Tod Eurydikes trifft, Orpheus aus übergroßer Liebe han‐ delt und Eurydike selbst nur Opfer ist, zwängt Boccaccio die Konstellation in das starre Korsett christlicher Ethik: Eurydike, Allegorie des angeborenen menschlichen Sexualtriebs (naturalis concupiscentia), flieht vor Aristaeus, Sinn‐ bild der Tugend (etymologisch hergeleitet aus dem griechischen ἀριστεῖα), der die Schöne von den temporalia desideria zu den laudabilia desideria emporheben möchte. Die sündhafte Eurydike flieht vor dem Tugendhelden, da sich Sexual‐ trieb und Tugend nicht vertragen, wird auf ihrer Flucht von der Schlange ge‐ bissen, die im trügerisch grünen Gras eitler Gelüste verborgen liegt. Um nun die ad Inferos, id est circa terrena Gefallene auf die höhere Ebene der Tugend zu‐ rückzuführen, ist Orpheus zur Stelle, der sich auf die rhetorisch geschickte demonstratio des rechten Weges versteht. Man dürfe sich allerdings auf seinem Weg zur Tugend nicht zur Sünde umblicken, bis man durch die Erkenntnis von Wahrheit und göttlicher Güte so gefestigt sei, dass man der Sünde gefahrlos ins Auge blicken könne. Orpheus symbolisiert den verständigen Mann und guten 176 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 82 Genealogie 5, 12, 7-9 (Solomon 2011). 83 Ficino stilisierte Orpheus zum vollkommenen Dichter, der alle vier platonischen furores in sich vereine. Dabei umging er Platons negative Sicht auf den Orpheus der Eurydike-Episode aus dem Symposion, wo der ‚Kitharaspieler‘ als zu weichlich einge‐ stuft wird, um den Tod zu erleiden (Symp. 179b-d). Pico entwickelte in polemischer Absicht wider Ficino eine mit dem platonischen Urteil konform gehende Interpretation, nach welcher der Mensch, repräsentiert durch Orpheus, Eurydike, im metaphorischen Übertrag die intelligible Schönheit, vor dem Tod nicht erreichen könne (Pico, Com‐ mento, Comm. Part. St. 4 (Bürklin 2001, 186-190); hierzu Martelli 1988, 24-27; Coleman 2012, 266-270. 84 Lorenzo, Altre Rime 2, 12-14 (Orvieto 1992/ 2, 1100). Lorenzos allegorische Auslegung atmet den Geist frühhumanistischer Auslegungspraxis, wie thematische und wörtliche Übereinstimmungen mit Petr. Sen. 9, 1 (an Papst Urban V) zeigen: […] nec ignoras ut vel apud scriptores gentium Orpheus, retro versus, abductam ab inferis suam perdidit Euri‐ dicem, vel apud nostros Loth, e Sodomis exeunti, ut salvet animam suam neque post tergum respiciat imperatur; quod vel oblita vel despiciens uxor eius, respiciens post se, in statuam salis versa, exemplum atque utile condimentum posteris liquit, quo in similibus salliantur, ne insipido rerum gustu ad ea que bene dimiserint animo aut oculis se convertant. Zum Vergleich der Orfei Lorenzos und Petrarcas vgl. Martelli 1988, 22-24. Christen, der unbeschadet auf das niedere, verwerfliche Leben blickt und so lernt, das Göttliche vom Irdischen zu unterscheiden. 82 Während Boccaccio Orpheus als Vorläufer des christlichen Wahrheitssuchers instrumentalisierte, der auf der Suche nach Gott den irdischen Schmutz hinter sich lässt, ändert sich die Einschätzung der Interpreten, - nicht aber ihre exe‐ getische Methode - im Laufe der Renaissance. Befeuert von platonischen Prä‐ texten und durch die - gleichwohl unterschiedliche - Vermittlung Picos und Ficinos hat die Orpheus-Figur platonisch-christliche Grundierung erfahren. 83 Die Vorstellung eines im philosophischen Sinne scheiternden, allzu menschli‐ chen Orpheus hat besonders auf Lorenzo de’ Medici eingewirkt. So hat er die Ginevra de’ Benci in einem Sonett anlässlich ihrer klösterlichen Einkleidung daran erinnert, welche Folgen eine Rückwendung zum vizio, zum sündhaften Leben zeitigen kann: Neben der zur Salzsäule erstarrten Frau Lots ist es Orpheus, der als Negativbeispiel fungiert, da er in letzter Minute, d.h. kurz vor Erreichen der inneren Freiheit, seine Augen umgewandt habe: Perse Euridice Orfeo già in sulla porta, / libera quasi, per voltarsi a quella: però non ti voltar più allo in‐ ferno. 84 Im Comento de’ miei sonetti interpretiert Lorenzo des Orpheus Unter‐ weltsfahrt im Geiste ficinianischer Philosophie. Ausgehend von einem Sonett auf den Tod der Simonetta Cataneo und unter Rückgriff auf die in Ficinos De amore (2, 8) entwickelte Vorstellung vom Tod als Beginn des Lebens, nennt Lo‐ renzo drei Dichter, die die Bedeutung des Todes und die Schau des Unvollkom‐ menen für die Vervollkommnung des eigenen Lebens erkannt und in ihren Fi‐ guren dargestellt hätten. Zu diesen gehörten Homers Odysseus, Vergils Aeneas 177 2.2. Fabula di Orfeo 85 Lorenzo, Comento, Argumento 1, 7 (Orvieto 1992/ 1, 374-375): Ma è necessario, dopo la cognizione delle cose imperfette, quanto a quelle, morire; perché, po’ che Enea è giunto a’ campi elisii e Dante condotto in paradiso, mai più si sono ricordati dello inferno. Hierzu Martelli 1988, 19-24. 86 Lorenzo, Comento, Argumento 1, 8 (Orvieto 1992/ 1, 375): Ed arebbe Orfeo tratto Euridice dell’inferno e condottole tra quelli che vivono, se non fussi rivoltosi verso l’inferno: che si può interpretare Orfeo non essere veramente morto, e per questo non essere aggiunto alla perfezione della felicità sua, di avere la sua cara Euridice. E però il principio della vera vita è la morte della vita non vera. 87 Ein Überblick über die allegorisierenden und moralisierenden Interpretationen bei Or‐ vieto 2009, 314-315. Eine Ausnahme bildet ebd. 322, der im Orfeo wie in den Stanze eine „intenzione ludico-filologica, straordinariamente polilinguistica“ im Vordergrund sieht. Schwer nachzuvollziehen ist die allegorisch-poetologische Interpretation von Tissoni Benvenuti 1986, 80-88, die den Orfeo als Verkörperung des nichtigen Strebens eines Dichters deutet, der den Tod, d.h. das Vergessen zu überwinden suche, letztlich aber unfähig ist, die antike Dichtung - Euridice - wiederaufleben zu lassen. Dass dies auf ein Eingeständnis der eigenen Minorität Polizianos den Alten gegenüber zurückzu‐ führen sei, widerspricht allem, was man zum dichterischen Selbstverständnis des Flo‐ rentiners geschrieben hat. Abzulehnen auch Coleman 2012, der im Orfeo Ficinos Theorie der beiden Arten des Wahnsinns, furor und insania, poetisch umgesetzt sieht. sowie Dante, der das inferno selbst durchwandelt habe. 85 Als Beispiel für den‐ jenigen, der nicht bereit ist zu sterben, d.h. sich von den unvollkommenen Dingen zu lösen, um letztlich zu den Gefilden der Seligen hinaufzusteigen, dient Orpheus, der die vollendete Glückseligkeit, von Eurydike repräsentiert, nicht erreicht. 86 Die moderne italianistische Forschung hat Polizianos Bearbeitung des Stoffs im Lichte der renaissancezeitlichen Sekundärtexte untersucht und somit die Figur des Orfeo nahezu übereinstimmend als gescheiterten Wahrheitssucher, das Stück als ‚fabula moralizzata‘ gedeutet. 87 Aus dieser gängigen Interpretation des Orfeo Polizianos geht das Bestreben der Forscher hervor, das Stück mit den vorangegangenen christlich-philosophischen Auslegungen auf Linie zu bringen. So sah etwa Francesco Bausi den Orfeo Polizianos in der nämlichen Traditionslinie, die mit der allegorisch-philosophischen Orpheus-Auslegung in der Spätantike begann und über Boccaccio in den renaissancezeitlichen neu‐ platonisch-christlichen Diskurs Eingang gefunden hat. Angesichts der großen Bekanntheit des allegorischen Potentials der Orpheus-Figur scheint es Bausi „scarsamente plausibile che Poliziano […] potesse mettere tra parentesi una tale tradizione interpretativa“: Für Bausi ist Polizianos Orfeo Sinnbild des Mannes, der, im Unterschied zu glücklicheren Unterweltsfahrern wie Odysseus, Aeneas und Dante, an der Reinigung vom Bösen und somit an der Vervollkommnung 178 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 88 Bausi 2006, 30: “Anche nella Fabula polizianea, Orfeo è l’uomo che fallisce nel suo ten‐ tativo di passare da un livello inferiore ad un livello superiore di vita, dall’imperfezione alla perfezione: la sua è una fallimentare stagione all’infero, una nékuia negativa, una discesa agli inferi non coronata dal successo, a differenza di quelle di Ulisse, di Enea e di Dante, che sperimentarono il ‘male’, ma seppero poi superarlo una volta per sempre, risalendo purificati sulla terra.” Ähnlich Carrai 1988, 15-17; Martelli 1988, 35. 89 Branca 1983, 63: “Orfeo è poeta e amante, vivo, concreto, ombreggiato dal Poliziano se mai di sfumature autobiografiche (l’amore infelice, l’incomprensione, l’esilio). Non ha, come chiarisce il finale sconsolato, nessuna di quelle responsabilità platoniche, di senso metafisico […].” 90 Leuker 1997, 41-95, bes. 58-60, wonach Euridice das verlorene Florenz symbolisiere, der sterbende Orfeo die Liquidierung des vorigen hitzköpfigen Wesens Polizianos, der als vorgeblicher Stoiker die Möglichkeit einer Wiedergewinnung Euridices resp. der Rückkehr nach Florenz erhofft. seines Menschseins scheitert und daran letztlich zugrunde geht. 88 Dem ist ent‐ gegenzuhalten, dass, wie bereits bei der Besprechung der Stanze deutlich wurde, Bekanntheit mit einer traditionellen Interpretationslinie für Poliziano keines‐ wegs automatisch ihre Rezeption bedeutet - im Gegenteil: Schon die Wahl des Gegenstandes kann, wenn der Autor dessen réécriture intendiert, polemischer Natur sein. Eine zur tropologischen und anagogischen Allegorese des Stücks gegenteilige Interpretation hatte Vittore Branca vorgeschlagen, indem er für die Figur des Orpheus moralphilosophische oder metaphysische Deutungen ablehnte und le‐ diglich die Möglichkeit autobiographischer Stilisierung einräumte. 89 Leuker folgte ihm hierin und sah im Orfeo Polizianos dessen dramatisch aufbereitete reumütige Bitte an Lorenzo um Rückkehr aus dem Exil. 90 M.E. ist eine Interpretation, die dem Orfeo eine poetische Hauptabsicht zu‐ gunsten allzu tiefliegender Intentionen abspricht, problematisch. Im Orfeo treten die poetischen und poetologischen Absichten Polizianos so klar hervor, dass sich die Suche nach einer metaphysischen Deutung erübrigt. Poliziano entwirft eine gänzlich eigene Version des Orpheus-Mythos, dessen Handlungs‐ verlauf und spezifische Figurenzeichnung nur durch Berücksichtigung des Genres, der verwandten Quellen und nicht zuletzt der konkreten Aufführungs‐ situation verständlich werden. 2.2.2. Orpheus auf der Bühne: Polizianos gefallene Helden Bereits die Gattungswahl ist tendenziös. Poliziano gestaltete die Bühnenhand‐ lung des Orfeo unter Rückgriff auf Elemente des griechischen Satyrspiels, wie es ihm im Kyklops des Euripides greifbar war. Tissoni Benvenutis Vorschlag, Poliziano habe den Orfeo insgesamt als fabula satyrica konzipiert, ist überzeu‐ 179 2.2. Fabula di Orfeo 91 Tissoni Benvenuti 1986, 89-103; Leuker 1997, 42; auch Bausi 2006, 31-32; Bosisio 2015, 134-136; Orvieto 2009, 319: “La fabula di Orfeo è del tutto incomprensibile se non si conosce il genere da cui deriva che, appunto, come nel Ciclope, è per statuto politonale, fatto di vorticosi e inopinati ribaltamenti di stile, di metro, di trama e linguistici.” Vgl. ebd. 315-320; anders Fantazzi 2001, 123-124, der für ein Werk sui generis plädiert. Der Vorschlag von Kerenyi 1958, der Orfeo habe die Wiederbelebung der griechischen Tra‐ gödie zum Ziel, ist zu einseitig. 92 Vgl. Pol. Misc. 2, 28 (Branca / Pastore Stocchi 1978, 43): Veteres igitur Graeci fabulas fecerunt quae mediae ferme inter tragoediam comoediamque fuerunt (nam personae in‐ erant deorum sed rusticorum), ridiculo argumento, talesque nunc satyros aut satyrum nunc satyricam fabulam vocabant, de quibus etiam Horatius in arte dat poetica; neque aliud esse omnino satyrus aut fabula satyrica videtur quam ludens tragoedia. An die Zitation seiner Quelle Demetrios von Phaleron (eloc. 169) schließt er ein knappes Urteil bezüglich des Genus des euripideischen Kyklops an: Puto autem quae nunc extat Euripidis poetae fabula Cyclops, esse eam potius satyricam fabulam, quippe in qua Silenus Satyrique in‐ ducantur, unde illis nomen, et ebrius Cyclops. Die definitorischen Bestimmungen, die Poliziano nennt, siedeln das Satyrspiel in der Mitte zwischen Tragödie und Komödie an, da in ihr Götter und Bauern aufträten; vgl. auch Pol. In Stat. Sylv. 55 (Cesarini Mar‐ tinelli 1978a): Satyrice vero a satyris vocata, qui ipsam invenerunt, idest a rusticis et hu‐ milibus personis). Teil des humoristischen Elements sei neben den tölpelhaften Figuren die Trunkenheit. In den Kommentaren zu Statius’ Silven und Persius’ Satiren hatte Poliziano einen Satz des byzantinischen Gelehrten Johannes Tzetzes zitiert, nach dem eine fabula satyrica unter anderem durch ihren glücklichen Ausgang gekennzeichnet sei: ἡ σατυρικὴ ποίησις συγκρινᾷ ταῖς ὀλοφύρσεσιν ἱλαρότητα καὶ ἀπὸ δακρύων εἰς χαρὰν καταντᾷ (Lycophronis Alexandra (Scheer 1908, 2)). Für den Handlungsverlauf der Orpheus-Handlung gilt dies zwar nicht, doch dürfte die Aufforderung zum bac‐ chantischen Treiben am Ende Stücks dem Satz des Byzantiners Genüge tun, den Poli‐ ziano so wiedergibt: satyrice poesis ilaritatem luctibus admiscet atque a luctu in gaudium desinit (In Stat. Sylv. 54, 23-24 (Cesarini Martinelli, 1978a)). Hierzu Tissoni Benvenuti 1986, 96-97; Leuker 1997, 42; ebd. 2005, 295; Bosisio 2015, 135. 93 Dies entspricht der Vitruv entnommenen Vorstellung der scena satyrica. So zitiert Po‐ liziano in der Praelectio in Persium (Poliziano 1553, 514): Scena praeterea satyrica, ut auctor est Vitruvius, arboribus, speluncis, montibus, reliquisque agrestibus rebus, in topiarii speciem deformatis, ornabantur. Auch zeitgenössische Darstellungen zum antiken The‐ ater wie Leon Battista Albertis De re aedificatoria und die Spectacula des Pellegrino Prisciani dürfte Poliziano gekannt und bei der Skenographie des Orfeo berücksichtigt haben; vgl. Leuker 1997, 42. Zum Einfluss Vitruvs auf das Theater des Quattrocento Tissoni Benvenuti 1986, 96-98. 94 Das Spiel mit unterschiedlichen Stilebenen war freilich zu allen Zeiten, so etwa schon ausgiebig bei Plautus, ein Element der Komödie. gend. 91 Poliziano verstand das griechische Satyrspiel als ludens tragoedia, die die Mitte zwischen Komödie und Tragödie einhalte. 92 Hierzu stimmt die bäu‐ risch-bukolische Szenerie, innerhalb derer Poliziano den Orfeo ansiedelt. 93 Die unterschiedlichen Sprachregister der agierenden Personen fungieren als zu‐ sätzliches humoristisches Element. 94 Gleich zu Beginn, nach Mercurios Prolog, tritt ein pastore schiavone auf, der des eleganten Volgare augenscheinlich nicht 180 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 95 So ruft der Hirt die Zuhörer mit den Worten zur Ruhe (v. 15): State tenta, bragata! Bono argurio, ché di cievol in terra vien Marcurio (sprachlich korrekt wäre state attenta, brigata! Buon augurio, perché di cielo in terra vien Mercurio). Hierzu Puccini 2012, 148-149. Fan‐ tazzi 2001, 126 zum pastore schiavone: “Imitation of foreign accents and linguistic dis‐ tortions, or storpiature, have always been a rich source of stage humour.” Vgl. Leuker 1997, 41: „typische Figur des venezianischen Karnevals“. 96 Zu den „lessemi […] di popolare origine, fiorentismi e dialettismi dell’area settentrionale e in specie mantovano“ vgl. Orvieto 2009, 319-322; Tissoni Benvenuti 1986, 112-115; dies. 146 bemerkte zu den Versen des Tirsi: “Qui il registro umile della fabula tocca la sua punta più bassa.” 97 Martelli 1988, 35. mächtig ist. 95 Das folgende Gespräch zwischen den Hirten Mopso und Aristeo ist auf ein höheres sprachliches Niveau gehoben, wobei auch hier umgangs‐ sprachliches Kolorit beigemischt wird. Deutlich rustikaler ist die Sprache des Laufburschen Tirsi gestaltet, dessen Bericht seiner erfolgreichen Suche nach dem verlorenen Kalb den sprachlichen Tiefpunkt des Stücks bildet. 96 Der Ton ändert sich erneut mit dem Auftritt des Orfeo: Er singt in hohem Stil, die Sprache nimmt Elemente des tragischen Pathos an. Bereits Polizianos Wahl, den Orpheus-Stoff als burleskes Spiel anlässlich eines Karnevals zu inszenieren, mithin die Anlehnung an den euripideischen Kyklops, erschwert die metaphysischen Deutungen, die man dem Stück hat an‐ gedeihen lassen, und markiert einen Bruch mit der renaissancezeitlichen Tra‐ dition. Dieser Bruch ist allerdings nicht nur in der Wahl der Gattung begründet, sondern reicht hinein in die Figurenzeichnung des Stücks. Hier liegt m.E. das bedeutendste Merkmal des Orfeo, das in der Forschung bislang nicht zur Sprache gekommen ist: Die fundamentale Umdeutung der Akteure des Orpheus-Mythos im Vergleich zu vorangegangenen und zeitgenössischen Interpretationen. Dies beginnt bei Aristaeus, der für Boccaccio der Tugendheld war und die lüsterne Eurydike zu vertreiben suchte. Poliziano hat seinen Aristeo mit Sicher‐ heit nicht „come simbolo della virtù“ in Art Boccaccios konstruiert, wie Martelli vermutete, 97 sondern im Gegenteil als verbrecherische Gestalt, der aus niederen Motiven zum Urheber des Todes Eurydikes wird. Dies ist bereits im Götterprolog Mercurios zum Ausdruck gebracht: Costui [Aristeo] amò con sì sfrenato ardore / Euridice, che moglie fu di Orfeo, / che seguendola un giorno per amore / fu cagion del suo caso acerbo e reo (vv. 3-6). Aristeos sfrenato ardore, sein durchaus sexuell zu verstehendes Liebesverlangen, ist letztlich der Grund für den caso acerbo des Todes der Euridice. Relief gewinnt die Figurenzeichnung Aristeos im Gespräch mit Mopso, dem altersklugen, vernünftigen und väterlichen Hirten, der ver‐ sucht, besänftigend auf den liebestollen Aristeo einzuwirken. Die Liebe wird als 181 2.2. Fabula di Orfeo 98 Orfeo 35-40: Aristeo mio, questa amorosa face / se di spegnerla tosto non fai pruova, / presto vedrai turbata ogni tua pace. / Sappi ch’amor non m’è già cosa nuova; / So come mal, quand’è vecchio, si regge: / rimedia tosto, or che ’l rimedio giova. 99 Vgl. den Kehrvers des Liedes poi che la ninfa mia udir non vuole (vv. 55, 63, 71, 79, 87) sowie v. 56 (La bella ninfa è sorda al mio lamento). Das Wolfsgleichnis in vv. 68-69: Ella fugge da me sempre davante / com’agnella dal lupo fuggir suole. 100 Orfeo 31: e mie mente d’amor divenne insana. 101 Euridice wird (in ähnlichen Worten wie die Simonetta der Stanze) als vollkommene Schönheit beschrieben, welche die Göttinnen selbst noch übertrifft (v. 27: una ninfa più bella che Dїana; vv. 106-107: I’ non credo che Vener sia più bella, / più dolce in atto o più superba in fronte). 102 Vgl. Bausi 2006, 262; Maïer 1966, 408. Vergil könnte Poliziano allerdings insofern be‐ einflusst haben, als in georg. 4, 486-487 Proserpina als Geberin des Gesetzes genannt wird: redditaque Eurydice superas veniebat ad auras, / pone sequens, namque hanc dederat Proserpina legem. Bei Ovid werden Proserpina und Pluto genannt, sprechen aber weder zueinander noch mit Orpheus (Ov. met. 10, 46-48: nec regia coniunx / sustinet oranti nec, qui regit ima, negare, / Eurydicenque vocant; vgl. auch Tissoni Benvenuti 1986, 157. Fantazzi 2001, 131. verderblicher Affekt beschrieben, der die Seelenruhe störe. 98 Aristeo schlägt die Worte des Alten in den Wind und hebt zu einem Lied an, in welchem er sein Liebesleid kündet: Euridice, das Lämmchen, wolle seinen, des Wolfs, Gesang nicht hören und fliehe stets vor ihm. 99 Der Hirte stellt sich in seiner eigenen canzone als Aggressor dar, der vor blindwütiger Liebe vergeht. 100 Auf die Mel‐ dung des zurückgekehrten Tirsi, er habe sowohl das verlorene Kälbchen als auch eine göttinnenhafte donzella gesehen, steigert sich des Aristeo amouröses Sehnen in Raserei, er will dem Mädchen nachsteigen und sie handgreiflich in seinen Besitz bringen, während der alte Mopso vergeblich versucht, dem jungen Mann Vernunft beizubringen (vv. 112-121). Die göttliche Euridice ist genötigt, vor ihrem affektgetriebenen Peiniger zu fliehen, und besiegelt so ihr Schicksal. 101 Der Abstand zur Deutung, die etwa Boccaccio der Aris‐ taeus-Eurydike-Episode hat angedeihen lassen, könnte nicht größer sein: Ver‐ körperte Aristaeus dort den tugendhaften Bekämpfer sexueller Begierde, vor‐ gestellt von Eurydike, kehrt Poliziano die Zuordnung ins Gegenteil. Eine weitere Neubewertung nimmt Poliziano bei der Schilderung der Unter‐ welt vor. Während sämtliche renaissancezeitlichen Interpreten in der Unter‐ weltsfahrt die Versuchung der Sünde und des Bösen, des vizio, gesehen hatten, fällt Polizianos Darstellung hier konträr aus. Der Dichter weist Plutos Gattin Proserpina eine Sprechrolle zu, die ihr die antiken Quellen versagt hatten. 102 Letztlich ist sie es, die mit liebevollen Worten an ihren Mann für die Rückgabe der Euridice sorgt (vv. 229-236): Io non credetti, o dolce mie consorte, 182 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 103 Petr. RVF 311, 2: sua cara consorte. Die Proserpina-Rede bedient sich motivisch und kontextuell verwertbarer Versatzstücke aus Dantes Divina Commedia und Petrarcas Rime: Tissoni Benvenuti 1986, 157-158; Puccini 2012, 168-167; Bausi 2006, 262. 104 Bekanntestes Beispiel hierfür ist sicherlich Lorenzos Karnevalslied Trionfo di Bacco e Arianna, wo die beherrschenden Themen Wein, Gesang und Liebesgenuss angesichts des unsicheren doman sind. che Pietà mai venisse in questo regno: or la veggio regnare in nostra corte, e io sento di lei tutto ’l cor pregno; né solo i tormentati, ma la Morte veggio che piange del suo caso indegno: dunque tua dura legge a lui si pieghi, pel canto, pell’amor, pe’ iusti prieghi. Ich hätte nicht geglaubt, mein süßer Gatte, dass Mitleid je in dieses Reich Einzug halten würde. Jetzt sehe ich, wie es an unserem Hofe herrscht und fühle mein ganzes Herz davon erfüllt. Nicht nur die Gequälten, sondern selbst den Tod sehe ich über sein [Orfeos] unverdientes Geschick weinen: So beuge für ihn dein hartes Gesetz, für den Gesang, für die Liebe, für gerechte Wünsche! Proserpina ist als liebevolle Gattin, nicht als herrische Unterweltgottheit ge‐ zeichnet. Bereits die - bezeichnenderweise an Petrarcas Canzoniere erinnernden - Worte an ihren Mann: o dolce mie consorte, suggerieren ein zärtliches Ver‐ hältnis zwischen dem Herrscherpaar. 103 Empfindsam gibt sie sich auch in Vers 233, wo sie ihr Herz von Pietà erfüllt spürt. Die abschließenden Worte sind die rührseligen, doch bestimmten Worte einer Frau, die weiß - und bekommt -, was sie will. Proserpinas einziger Sprechpart endet in einem euphorischen Ausruf, der als Motto des Stücks verstanden werden konnte: „Für den Gesang, für die Liebe, für gerechte Wünsche! “ Der apostrophische Charakter des Verses kann im zeitgenössischen canto carnascialesco verortet werden, wo der Zuschauer angesichts der ungewissen Zukunft zum Genuss irdischer Freuden angehalten werden sollte. 104 Dass es hier gerade die Totengöttin ist, die enthusiastisch zur Lebensbejahung aufruft, ist eine überraschende und beredte Pointe. Die Figur des Stücks schließlich, die die schroffste Umwertung erfährt, ist Orfeo selbst. Nachdem ihm die Furie den Wunsch verwehrt hat, Euridice zu‐ rückzugewinnen (vv. 259-260), schließt sich die Bekundung immerwährenden Schmerzes an, die in das aus Vergil und Ovid bekannte Credo mündet: e poi che sì crudele è mia fortuna, / già mai non voglio amar più donna alcuna (vv. 267- 268). Dann allerdings wird der Orfeo zu einer ganz und gar erbärmlichen Gestalt destruiert: Zunächst verfällt er der Knabenliebe - die Autorisierung der ovidi‐ 183 2.2. Fabula di Orfeo 105 Ov. met. 10, 79-81: omnemque refugerat Orpheus / femineam Venerem, seu quod male cesserat illi, / sive fidem dederat. 106 Ov. met. 10, 78-80: tertius aequoreis inclusum Piscibus annum / finierat Titan, omnemque refugerat Orpheus / femineam Venerem. 107 Eur. Cycl. 582-589: (Κυ.) ἅλις· Γανυμήδη τόνδ’ ἔχων ἀναπαύσομαι / κάλλιον ἢ τὰς Χάριτας. ἥδομαι δέ πως / τοῖς παιδικοῖσι μᾶλλον ἢ τοῖς θήλεσιν. / (Σι.) ἐγὼ γὰρ ὁ Διός εἰμι Γανυμήδης, Κύκλωψ; / (Κυ.) ναὶ μὰ Δί’, ὃν ἁρπάζω γ’ ἐγὼ ’κ τῆς Δαρδάνου. / (Σι.) ἀπόλωλα, παῖδες· σχέτλια πείσομαι κακά. / (Κυ.) μέμφηι τὸν ἐραστὴν κἀντρυφᾶις πεπωκότι; / (Σι.) οἴμοι· πικρότατον οἶνον ὄψομαι τάχα. schen Variante war dem renaissancezeitlichen Schrifttum in dieser expliziten Form bislang fremd. Doch belässt es Poliziano nicht bei der Lesart der Meta‐ morphosen, wo Orpheus’ Beweggründe noch durchaus nachvollziehbar waren. Dort hieß es, Orpheus habe der feminea Venus entsagt, weil sie ihm solches Leid zugefügt und weil er Eurydike Treue geschworen habe. 105 Und schließlich: ille etiam Thracum populis fuit auctor amorem / in teneros transferre mares citraque iuventam / aetatis breve ver et primos carpere flores (met. 10, 83-85). Polizianos Version stellt eine stark übersteigerte szenische Umsetzung des ovidischen Sub‐ strats dar, wobei Orfeos Hinwendung zur Knabenliebe zu einer bizarren Ode an die Homosexualität gesteigert wird: Eine ins Generelle ausgeweitete, mit miso‐ gynen Zügen durchsetzte Absage an die Frauen (Orfeo 277-284) - die Strophe ist nahezu unverändert Iulios Schmährede auf die Frauen aus den Stanze (1, 14) entnommen - ist dem Preis der Schönheit des besseren Geschlechts (migliore sesso) und schließlich der mythischen Überhöhung der Knabenliebe (vv. 269- 292) beigemischt. Orfeo endet mit der Aufforderung an die Männer - auch dies ist gegenüber Ovid eine hyperbolische Darstellung -, sich scheiden zu lassen und von den Frauen fernzuhalten: conforto e [= esorto i] maritati a far divorzio, / e ciascun fugga el feminil consorzio. Orfeos heftige Beleidigungen des weiblichen Geschlechts - mit der ovidischen Abwendung von der Frauenliebe aus Schmerz oder Treue hat diese nichts mehr zu tun - motiviert schließlich die Tat der Bac‐ chantinnen. Dadurch gelingt Poliziano ein dramaturgisch logischer Übergang zur Bacchanalszene: Orfeo zieht sich den Zorn der Frauen nicht wie in der ovi‐ dischen Vorlage über einen Zeitraum von drei Jahren zu, sondern augenblicklich nach Beendigung seines misogynen Gesangs. 106 Der vom männlichen Geschlecht angezogene Orpheus ist nicht ohne thema‐ tische und gewissermaßen gattungsspezifische Parallele im antiken Schrifttum: Auch der euripideische Kyklops, vom Wein bereits höchlich berauscht, gesteht Odysseus in der berühmten Dialogszene, dass er den Herren stärker zugetan sei als den Damen. Im Weinwahn erkennt er sich selbst als Zeus und im beiste‐ henden Silen den Ganymed, den er sodann gegen dessen Willen sexuell be‐ drängt. 107 Die Liebe des Zeus zu Ganymed wird auch in Orfeos Lied thematisiert, 184 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? 108 Lettera a messer Carlo Canale (Bausi 2006, 243). Es ist kein Zufall, dass die Renaissance‐ komödie des Cinquecento das volgare für sich entdecken wird. So schrieb etwa Baldas‐ sare Castiglione im Prolog zu Bibbienas Calandria (1513 am Hof zu Urbino aufgeführt): [La commedia] non è latina: però che, dovendosi recitare ad infiniti, che tutti dotti non sono, lo autore, che di piacervi sommamente cerca, ha voluto farla vulgare: a fine che da ognuno intesa, parimenti a ciascuno diletti (Padoan 1985, 62). 109 Fantazzi 2001, 131-133. 110 Vgl. Kap. A.2.2.2. als er sie zum Beweis der Göttlichkeit homosexueller Neigung anführt: Fanne di questo Giove intera fede, / che dal dolce amoroso nodo avinto / si gode in cielo il suo bel Ganimede (vv. 285-287). Die weiteren Beispiele, die Orfeo zur metaphy‐ sischen Legitimierung der Homosexualität heranzieht, sind durchweg unheroi‐ scher Natur. Das schlagendste Beispiel ist einmal mehr, wie bereits auf dem Palasttor der Stanze, Hercules: a questo santo amore Ercole cede, che vinse il mondo e dal bello Ila è vinto (vv. 289-290). Das Moment der Liebesbeziehungen, das Orfeos Hymnus auf die ‚heilige‘ Knabenliebe (sacro amore) zugrunde liegt, sowie freilich die thematische Annäherung an den Kyklops des euripideischen Satyr‐ spiels dienen dazu, einen möglichst grellen, die Erwartungshaltung des Zu‐ schauers fundamental enttäuschenden und daher witzigen Effekt zu erzeugen. Orfeos vernichtendes Urteil über die Frauen, die Hinwendung zur Homose‐ xualität und seine abschließende Ermordung durch die Bacchantinnen sind daher nicht ohne Berücksichtigung der Aufführungssituation und der Zu‐ schauer zu verstehen. Das Publikum, zunächst die Höflinge zu Mantua, später das gemeine Volk, erwartete ein Karnevalsstück zum bacchanaliorum dies, keine allegorisch verbrämte Sendung höherer Wahrheiten. Poliziano selbst sagt im Widmungsbrief an Carlo Canale über den Adressatenbezug seines Stücks, er habe das Stück in stilo volgare verfasst, perché dagli spettatori meglio fusse in‐ tesa. 108 Das Stück ist also für ein Laienpublikum geschrieben, das sich auf das Lateinische nicht ohne Weiteres verstand. Es ist anzunehmen, dass der besten‐ falls halbgebildete Mantuaner am Karnevalsfest die Geschichte um Orpheus und Eurydike vornehmlich in der vergilischen Version und aus deren mittelalterli‐ chen und renaissancezeitlichen Derivaten kannte. Daher dürfte bereits die ex‐ plizite Darstellung der ovidischen Zuwendung zur Knabenliebe ihre Wirkung nicht verfehlt haben - um wieviel nachhaltiger aber muss erst die groteske Ode auf die Homosexualität gewirkt haben, die, ein veritabler coup de théâtre, den Protagonisten seiner heldischen Aura mit einem Schlag beraubt. 109 Dass Poli‐ ziano drastische Übersteigerungen als Element der Komödie empfand, hatten bereits die Anmerkungen zu seiner Übersetzung der Thersites-Episode in der Ilias gezeigt. 110 Das grelle Abschlusslied, mit dem sich der große Sänger der Sage der Lächerlichkeit preisgibt, hat die Aufgabe, das finale furioso vorzubereiten: 185 2.2. Fabula di Orfeo 111 Orfeo 301-342, z.B. 311: Chi vuol bevere, chi vuol bevere, venga a bevere, venga qui! ; 335- 338: Ognun cridi: Bacco, Bacco! / e pur cacci del vin giù. / Po’ co’ suoni faren fiacco: / bevi tu, e tu, e tu! Zum Karnevalslied und seiner Funktion Fantazzi 2001, 133-134. Eine (im‐ plizite) Aufforderung des Chores an das Publikum beschließt auch den euripideischen Kyklops (vv. 708-709): ἡμεῖς δὲ συνναῦταί γε τοῦδ’ Ὀδυσσέως / ὄντες τὸ λοιπὸν Βακχίῳ δουλεύσομεν. 112 Bereits Maïer 1966, 395 hatte Polizianos Position im Orfeo als „anti-doctrinale et anti-philosophique“ bezeichnet. Martelli 1988, 35 sah den Orfeo als „figura totalmente capovolta rispetto a quella della tradizione umanistica“, wobei er das umkehrende Mo‐ ment in Orfeos schließlicher Auflösung aller zivilisatorischer Werte zu erkennen meinte. Die Strafe für den Verstoß gegen die Natur habe der Sünder zu büßen, indem er in der Zerstörung seines Körpers seine Gottähnlichkeit verliere. Die allegorische Deutung ist aus philologischer Sicht auch hier nicht zulässig: Im Orfeo deutet nichts auf eine ursprüngliche Rolle des Protagonisten als Kulturstifter hin. den weinschweren Karnevalscanto der Bacchantinnen, der in die Aufforderung zum Trinken und zur Einstimmung in den Jubel mündet. 111 Legt man die Konzeptionen, die die Frühhumanisten und die Gelehrten am Medici-Hof zu Florenz vom Orpheus-Mythos entwickelt haben, Polizianos Ver‐ sion als Maßstab zugrunde, so wird offenkundig, dass Poliziano in der Fabula einen Anti-Orpheus kreiert. 112 Traditionelle Deutungsrichtungen sind aufge‐ hoben: Das Totenreich kennt einen elegischen Liebesbegriff, Aristaeus ist der Lüstling und Eurydike die göttliche Schöne, Orpheus wird zu einer lächerlichen Figur des Satyrspiels destruiert. Polizianos Orfeo ‚für das Volk‘ ist sicherlich nicht aus einer greifbaren polemischen Absicht heraus geschrieben - dies wäre für einen Exilierten, der möglicherweise auf Rückkehr hofft, wenig opportun. Doch belehrt der Orfeo in eindrücklicher Weise über Polizianos Selbstver‐ ständnis als Dichter: Er ist nicht der figmentum-Dichter der Frühhumanisten und der Neuplatoniker, sondern der Dichter der Repräsentation und der unmit‐ telbaren Affizierung des Rezipienten. Der Orfeo trägt die unverwechselbare Handschrift des Dichterphilologen Poliziano: An den zeitgenössischen Inter‐ pretationen vorbei werden nicht-kanonische Texte des antiken Schrifttums zur Geltung gebracht (so etwa die Bukolik des Calpurnius Siculus) und poetisch verarbeitet. Insbesondere der Rückgriff auf das ‚alternative‘ Ende des Orpheus aus Ovids Metamorphosen verdeutlicht das Spezifikum des poetischen Pro‐ gramms Polizianos: Hier wird ein Text autorisiert, ja sichtbar auf die Bühne gehoben, an dem die Renaissance aus Gründen moralischer Vorbehalte stets vorübergegangen war. Wenngleich der Orfeo kein klar zu Tage tretendes bzw. offen ausgesprochenes polemisches Ziel verfolgt, so wird in ihm doch, wie vorher in den Stanze, ein scharfkantiger Gegenentwurf zu traditionellen und zeitgenössischen Entwürfen greifbar, die sich aus platonistisch-christlicher Philosophie und Dichtungslehre 186 2. Poliziano: Der Dichter als Philosoph? speisten. Gerade durch die Dekonstruktion des Orpheus, der sowohl für Ficinos prisca theologia und furor-Doktrin zentral und für Landinos Vorstellung einer sittigenden und zivilisatorischen Macht der Dichtung Identifikationsfigur war, gewinnt Polizianos Dichtung an Schärfe. Überdies ist das wesentliche Merkmal der frühen Werke Polizianos im Orfeo voll ausgebildet: Oberstes Ziel des Stücks ist die emotionale Affizierung des Publikums, die über enttäuschte Rezipiente‐ nerwartung und bis ins Groteske gesteigerte Komik, die sich vornehmlich in der unerwarteten Peripetie der Orpheus-Handlung niederschlagen, bewerkstelligt wird. Durch explizite Kommentare an das Publikum (wie der Ausruf der Pro‐ serpina oder der zum Trinken auffordernde Chor der Bacchantinnen) wird schließlich versucht, die Distanz zwischen Bühnengeschehen und Aufführungs‐ situation bzw. zwischen Akteur und Zuschauer zu minimieren. Wie in den Stanze liegt das verum auf der Literalebene des Textes, in diesem Falle im Büh‐ nengeschehen selbst: Die Affizierung des Rezipienten, seine emotionale Anste‐ ckung, wird höher bewertet als seine moralische Belehrung. 187 2.2. Fabula di Orfeo 1 S. 126-127. 2 Adolf von Harnack bezweifelte etwa den Sinn der polemischen Fußnote: „Mache die Anmerkungen nicht ohne Not zum Kampfplatz; tust du es aber, so schmeichle dir nicht, daß du das letzte Wort hast.“ (zitiert in Rohner 1987, 216). 3. Gegenentwürfe Im Folgenden soll die Distanz der Dichtungsauffassung Polizianos zur platoni‐ schen furor-Doktrin, wie sie in den vulgärsprachlichen Werken sichtbar wird, an theoretische Positionen des Gelehrten zurückgebunden werden. Poliziano hat sich der platonischen Dichtungslehre trotz ihrer großen renaissancezeitli‐ chen Popularität nirgends in theoretisch systematischer Weise genähert. Bereits dies lässt auf eine gewisse Unempfänglichkeit des Dichters und Professors für Poetik gegenüber neuplatonischen Postulaten schließen. Weder in seinen aka‐ demischen Vorreden - dies war in der Renaissance der klassische Ort für theo‐ retische Bekenntnisse - noch im Liber epistolarum oder seinen Commenti wür‐ digte er den Dichterwahnsinn einer systematischen Besprechung. Neben seiner Silva Nutricia von 1486, in der er sich ausführlicher mit der platonischen Dich‐ tungsreflexion auseinandersetzt, sind es besonders einige wenige Bemerkungen im Kommentar zu Statius’ Silvae und Ovids Fasti, die Umrisse poetologischer (und potentiell polemischer) Gegenentwürfe erkennen lassen. Die Commenti erreichten meist kein breiteres Publikum, was sie einer Grund‐ bestimmung von Polemik beraubt: Wirksame Polemik, ja überhaupt eine Ein‐ lassung, die als polemisch bezeichnet werden kann, wird bedingt durch ihr Wahrgenommenwerden - in der Einleitung wurde dieses Kriterium als ‚Öffent‐ lichkeit‘ benannt. 1 Eine polemische Äußerung, die niemand hört oder liest, ver‐ liert selbstredend ihre polemische Kraft und ihren Sinn. 2 Polemik wird also grundlegend bedingt durch ihre ‚Sichtbarkeit‘: Je größer das angesprochene Publikum, d.h. je größer der Kreis derer, gegen die und vor denen polemisiert wird, desto wirksamer entfaltet sie sich. Zweites konstitutives Element der Po‐ lemik ist die Festlegung eines Streitpunktes, auf den die Argumente hingeordnet werden. In Stanze und Orfeo waren Strukturen evident geworden, die auf eine unüberbrückbare Kluft zwischen gegensätzlichen Dichtungskonzeptionen hin‐ deuten; in polemischem Sinne instrumentalisiert, d.h. zum Gegenstand der Re‐ flexion und der Auseinandersetzung mit einer bestimmten Gruppe erhoben, wurde diese Kluft jedoch nicht. Polemik beginnt in dem Moment, in dem sich 3 Zum ingenium-Begriff der Humanisten Steppich 2002, 111-126; vgl. Kap. B.1.1. ein Kämpfer in die Arena hinauswagt, nicht schon bei den Vorübungen in den Katakomben. Zu letzteren zählt es, wenn Poliziano in seinen Kommentaren zu den Silven des Statius sowie zu Ovids Fasti eine Vorstellung von dichterischer Ansteckung vertritt, die der neuplatonischen Inspirationsdoktrin zuwiderläuft. Die beiden Commenti wurden zu Lebzeiten nicht veröffentlicht und sind eher Aufzeich‐ nungen für den Vortragenden denn Kommentare im heutigen Sinne, die für eine im besten Falle breite fachkundige Leserschaft verfasst werden. Doch gerade die Form des Commento, d.h. das Fehlen eines konkreten Adressatenbezugs, der polemischen Zuspitzung und der rhetorischen Trickmittel, ermöglicht eine un‐ verstellte Schau auf Polizianos Dichtungsreflexion. Damit dringt man vor zur poetologischen Überzeugung des Dichters und Gelehrten, zu welcher er gewis‐ sermaßen in der Schreibstube gelangt und die er schließlich auf dem Kampfplatz in ein Profil bzw. in eine Position überführen wird. Schließlich lassen sich aus dem Abgleich von dichtungstheoretischer Reflexion und polemischer Praxis, von Überzeugung und Profilierung, die Methoden der Selbstbehauptung ge‐ winnen, die Poliziano zur Anwendung gebracht hat. Welche theoretischen Ge‐ genentwürfe entwickelt der Gelehrte Poliziano also in seinem Kommentie‐ rungswerk und wie ordnen sich diese in sein Dichtungsverständnis ein? 3.1. Ingenium: Gabe oder Gnade? Zunächst soll ein zentraler Begriff beleuchtet werden, dem in der rinascimen‐ talen Dichtungstheorie stets höchste Bedeutung zukam: ingenium. Während das ingenium Boccaccio und Salutati noch durchaus als Bildung und menschliches Talent zur Verskunst gegolten hatte, die unter dem Zutun Gottes hohe, wahr‐ heitskündende Dichtung ermöglichte, erfolgte die Abwertung der Begabung zugunsten der Begnadung spätestens dann, als mit Bruni und Ficino die plato‐ nische Vorstellung der alienatio der Dichterseele in den Dichtungsdiskurs Ein‐ gang fand. 3 Zwar finden sich noch bei Landino sämtliche Dichtertypen, die der Humanismus ausgeprägt hat - der poeta orator, der poeta eruditus, Ansätze zu einer Vorstellung des poeta creator -, doch nimmt auch in seiner Dichtungsre‐ flexion die Vorstellung der vom menschlichen ingenium losgelösten, göttlichen 189 3.1. Ingenium: Gabe oder Gnade? 4 Vgl. Steppich 2002, 150-151; Nebes 2001, 112-148. Zum ingenium-Begriff z.B. Prolusione dantesca 49, 17-19 (Cardini 1974/ 1): Avete veduto che cosa sia poesia et come non da mortale ingegno, ma da divino furore nel’humane menti infuso origine trae. 5 Deutlich beeinflusst ist Polizianos Besprechung vom Silvenkommentar seines Lehrers Domizio Calderini: vgl. Coppini 2013. Vgl. auch S. 198 Anm. 30. 6 Quint. inst. 10, 3, 16. 7 Quint. inst. 10, 3, 17. 8 Quint. inst. 10, 3, 18: aliquando tamen adfectus sequemur, in quibus fere plus calor quam diligentia valet. Inspiration den breitesten Raum ein, die er von Ficino übernommen hatte und in seinen Vorreden und Kommentaren stetig wiederholte. 4 Poliziano widmete sich dem Begriff des ingenium im Kommentar zu Statius’ Silven an unvermuteter Stelle und ließ ihm eine Reinterpretation angedeihen, die zwar von der Vorstellung des dichterischen Enthusiasmus ausgeht, letztlich aber einem gegensätzlichen Konzept zugeführt wird: der Vorstellung innerer Erregung, die die ‚Phantasie‘ des Dichters beflügelt. 5 Zu Beginn des Briefes an den Dichter Lucius Arruntius Stella, den Statius seiner Gedichtsammlung vorausschickt, berichtet dieser dem Freund, dass er im Zweifel sei, ob er seine Büchlein, die ihm subito calore et quadam festinandi voluptate in die Feder geflossen seien, gesammelt der Öffentlichkeit übergeben solle. Poliziano hakt bei subito calore ein und schließt eine Erklärung an, die Aufschluss über sein Verständnis der Dichterinspiration gibt. Zur Erläuterung des statianischen Begriffs des subitus calor führt er zunächst einen einschlägigen Passus aus Quintilians Institutio oratoria an, wo der Frage nachgegangen wird, wie man als Redner richtigerweise zu schreiben habe. Quintilian unterschied zwei Herangehensweisen des Autors an seinen Gegenstand, die er als fehlerhaft einschätzte, wobei er schließlich eine ausgewogene Lösung empfahl: Die einen dächten zu lange nach, bevor sie etwas zu Papier bringen, und suchten stets das schwer Aufzufindende. 6 Als den entgegengesetzten und nicht minder lässlichen Fehler fügte der römische Rhetorikprofessor die Beschreibung desjenigen an, der stilo quam velocissimo seinen Stoff durchhechelt und in der Erhitzung des Gemütes aus dem Stegreif heraus schreibt. Das Ergebnis dieses Schreibens nenne der Verfasser schließlich - der knappen Bemerkung Quintilians entnimmt man leicht den despektierlichen Grundton - silva. Als Brandmal dieser Art von Dichtung wies Quintilian die ungeachtet nachträglicher Korrekturen spürbare levitas, mangelnde Sorgfalt, der planlos zusammengestöpselten Erzeugnisse aus. 7 Der Rhetoriker schlug dem Zögling schließlich vor, bei der Erarbeitung eines Textes von Beginn an sorgfältig vorzugehen, wobei man sich von Zeit zu Zeit seinen Gefühlen (adfectus) überlassen und sich dabei vom calor, einer hit‐ zigen Gemütsaufwallung, leiten lassen dürfe. 8 In dieser Passage liegen die An‐ 190 3. Gegenentwürfe 9 In Stat. Sylv. 29, 6 (Cesarini Martinelli 1978a). 10 Eine detaillierte Untersuchung mit chronologischer Aufführung der Phasen intensiver Beschäftigung Polizianos mit den Gedichten des Statius bietet Cesarini Martinelli 1975. Was Poliziano an der Kleinform der silva schätzte, tat er in seiner Antrittsvorlesung, der Oratio super Fabio Quintiliano et Statii Sylvis kund: argumenti pondus, moles rerum, perpetuitas orationis, granditas heroica, argumentorum multiplicitas, dicendi varium ar‐ tificium, locorum, fabularum, historiarum consuetudinumque notitia, doctrina remota. 11 In Stat. Sylv. 29, 8-11 (Cesarini Martinelli 1978a). 12 In Stat. Sylv. 29, 13-18 (Cesarini Martinelli 1978a). 13 In Stat. Sylv. 29, 18-22 (Cesarini Martinelli 1978a). Das Cicero-Zitat ist De orat. 2, 194. Vgl. auch Cic. div. 1, 80: Negat enim sine furore Democritus quemquam poetam magnum esse posse, quod idem dicit Plato. Vgl. auch Democr. frg. 68B17 (DK); Plat. Phaedr. 245a; Ion 533e-534d. knüpfungspunkte Polizianos, der in der Beschreibung Quintilians eine defini‐ torische Zusammenführung des Gattungsbegriffs der Silva und deren konstitutiven Elements, des Schreibens aus dem Stand unter einer besonderen Affizierung des Geistes, vorfand. So bezeichnet er den subitus calor als χαρακτηρισμός sylvae. 9 Quintilians Meinung hinsichtlich der Qualität der silva teilte Poliziano, der sich während seines gesamten professoralen Wirkens mit den Gedichten des Statius auseinandergesetzt und seine eigenen Dichtungen so benannt hat, freilich nicht. 10 Polizianos Ausführungen zur plötzlichen geistigen Aufwallung des Dichters sind höchst aufschlussreich: ‘Calore’: ergo omnino videtur hic poeta concitatioris ingenii fervidiorisque fuisse et quod impetu magis ac celeritate polleret, quam ro‐ bore et viribus; quapropter in his libellis vivit illa incitatio et eminet. 11 Der genitivus qualitatis lässt hier keinen Zweifel, dass nach Poliziano Statius das Talent zur ‚Gemütserhitzung‘ schon in die Wiege gelegt war. Mit der folgenden Gegen‐ überstellung der kurzen und daher vollständig inspiriert zustande gebrachten Silvae mit der Thebais, dem elimatissimum opus, greift Poliziano auf ein Argu‐ ment zurück, welches er bereits früher in seiner Antrittsvorlesung, der Oratio super Fabio Quintiliano et Statii Silvis, ausgeführt hatte: Die Kürze der silva garantiere ihre Güte, da der Dichter seine volle Aufmerksamkeit einem über‐ schaubaren Gegenstand widme. 12 War in der Antrittsvorlesung nicht die Rede vom furor bzw. fervor, der für ein kürzeres Gedicht ausreiche, bei Abfassung eines längeren aber ‚verrauche‘ (defervescere), so ergänzt Poliziano dies im Kom‐ mentar und begründet die Überlegenheit der kurzen Gelegenheitsgedichte unter Rekurs auf dasjenige Cicero-Zitat, das bereits den frühen Humanisten gute Dienste bei der Verteidigung der Dichtung geleistet hatte: 13 Verum nulla tanta ars est, quae afflationem illam mentis, quam ἐνθουσιασμόν Graeci dicunt, imitari possit, unde existit Platonis illa atque ante Democriti opinio: “poetam 191 3.1. Ingenium: Gabe oder Gnade? 14 In Stat. Sylv. 29, 22-23 (Cesarini Martinelli 1978a). 15 In Stat. Sylv. 29, 24-25 (Cesarini Martinelli 1978a). bonum neminem sine inflammatione animorum existere posse et sine quodam afflatu quasi furoris.” Doch es gibt keine noch so große Kunstfertigkeit, die der Anhauch des Geistes, den die Griechen Enthusiasmus (Begeisterung) nennen, nachahmen könnte, woher denn auch die Meinung Platons und vorher die des Demokrit rührt, dass es keinen guten Dichter geben könne ohne geistiges Feuer und gewissermaßen einen Anhauch von Wahnsinn. Poliziano bezieht zunächst den Standpunkt, dass es keine noch so große Kunst‐ fertigkeit gebe, die gegen eine enthusiasmierte Dichtung bestehen könne. Er scheidet somit menschliche ars und göttliche afflatio mentis, wobei er letzteren Begriff mithilfe des Cicero-Zitats nochmals unterteilt: Die afflatio mentis, d.h. die Dichterinspiration, setze sich zusammen aus zwei Konstituenten: inflam‐ matio animorum und quidam afflatus quasi furoris, wobei letzterer Begriff kurz darauf aus seiner ursprünglichen ciceronianischen Formulierung in den renais‐ sancezeitlichen Terminus technicus des furor poeticus überführt wird: Sed de poetico furore paulo post suo tempore plura dicemus. 14 Hier gibt Poliziano ein Versprechen, welches er im Silvenkommentar nicht mehr einlöst. Die aus dem Cicero-Zitat herausgeschälte Unterteilung in zwei Arten von Inspiration, die gesondert zu besprechen seien und also nur dem Namen, nicht aber der Sache nach zusammenhingen, ist bemerkenswert. Poliziano unterscheidet zwei Dich‐ tertypen, um deren Vermittlung er sich gar nicht erst bemüht. Die Herausar‐ beitung zweier ‚inspirierter‘ Dichter ist für die Renaissance ebenso neu wie be‐ deutsam: Während die Dichtungstheoretiker vor Poliziano die innere hitzige Aufwallung des Geistes aus dem Eintreten einer unkontrollierbaren göttlichen Macht erklärt, d.h. beides in einen kausalen Zusammenhang gebracht hatten, nimmt Poliziano jeweils unterschiedliche Funktionsarten an. Er kehrt mit einer bedeutungsvollen Aussage zur Erklärung der inflammatio animi zurück: Ipsa vero mentis concitatio etiam imprimis oratori est necessaria. 15 Poliziano versteht diese erste Konstituente der Dichterinspiration also in erster Linie als Bestand‐ teil und Erfordernis der Rhetorik. Folgerichtig führt er Beispiele und Weisungen an den Redner aus Ciceros Brutus und De oratore an, die dieses Konzept zu un‐ termauern geeignet sind. Das erste Textzeugnis ist dem 2. Buch von De oratore entnommen, wo Antonius seine Gesprächspartner von der Notwendigkeit der Affekterregung vor den Richtern unterrichtet. Die grundlegende Forderung an den Redner sei es, selbst so von den jeweils zu erregenden Affekten ergriffen zu 192 3. Gegenentwürfe 16 In Stat. Sylv. 30, 17-18 (Cesarini Martinelli 1978a). 17 Cic. Brut. 86: sed se arbitrari causam illam a Ser. Galba, quod is in dicendo ardentior acriorque esset, gravius et vehementius posse defendi. 18 In Stat. Sylv. 30, 18-25 (Cesarini Martinelli 1978a): Unde etiam Cicero in Bruto scribit Galbam insignem oratorem, cum ei agenda causa gravior esset, ex testudine, in qua com‐ mentatus esset, exisse in aedes eo colore et iis oculis ut egisse causam, non commentatum putares; scriptores praeterea suos male mulctatos exisse cum Galba, ex quo significare vult illum non in agendo solum, sed etiam in meditando vehementem atque incensum fuisse. Vgl. Cic. Brut. 87-88. sein, dass der Funke auf die Zuhörer überspringe. Poliziano resümiert die Aus‐ führungen des ciceronianischen Antonius: Ergo a scribente atque a meditante concitatio illa saepe adhibetur. 16 Dieser pragmatischen Formulierung liegt die Idee zugrunde, dass man die produktive Aufwallung des Geistes anwenden, also als Instrument zur Steigerung der affektiven Qualität von Text und Rede ge‐ brauchen kann. Näher erläutert wird diese Vorstellung anhand einer Anekdote aus Ciceros Brutus, wo ein Rechtsfall behandelt wird, bei dem der Redner Servius Sulpicius Galba, der nach Cicero in vorzüglicher Weise die Kunst der Affekter‐ regung beherrscht habe, als Verteidiger aufgetreten war. Zuvor habe sich Laelius der Verteidigung angenommen und accurate, ut semper solitus esset, eleganterque (Cic. Brut. 86) gesprochen. Nachdem der Verteidiger die Konsuln nicht hatte überzeugen können, habe Laelius dem Galba die Verteidigung übertragen mit der Begründung, dieser könne glühender reden und erbitterter verteidigen. 17 Als man Galba, der lediglich einen einzigen Tag Zeit gehabt hatte, die Verteidigung aufzubauen, am nächsten Morgen aufsuchte, um ihn rechtzeitig zur Gerichts‐ verhandlung zu geleiten, hatte sich dieser mit seinen Schreibern eingeschlossen und war erst kurz vor Verhandlungsbeginn zu den Wartenden getreten. Nachdem Galba und seine Schreiber ins Freie getreten waren, habe sich den Umstehenden ein beängstigendes Bild geboten: Galba war so erschöpft, als habe er die Rede bereits gehalten, seine Sekretäre habe er allein durch das Diktat seiner Verteidigungsrede ‚übel zugerichtet‘. 18 In dieser Geschichte sah Poliziano ein aussagekräftiges Beispiel für die Notwendigkeit einer bestimmten geistigen Disposition für den überzeugenden Redner und Dichter: Laelius und Galba hatten ihrem Wesen gemäß gesprochen, der eine accurate eleganterque und ver‐ loren, der andere ardentius acriusque und gewonnen. Poliziano beendet seine Kommentierung des subitus calor, indem er die geistige Erregbarkeit schließlich an den zentralen Begriff des ingenium rückbindet: Tali ergo ingenio [wie Galba] et poeta hic noster [Statius] nimirum fuit. Poliziano bekennt hier, was für ihn unabdingbare Voraussetzung inspirierten Dichtens ist: das ingenium als dieje‐ nige Begabung, die dem Dichter erlaubt, sich dergestalt in seinen Stoff einzu‐ finden und für den jeweiligen zu behandelnden Gegenstand zu erglühen, dass 193 3.1. Ingenium: Gabe oder Gnade? 19 Quint. inst. 6, 2, 29-30: Quas φαντασίας Graeci vocant (nos sane visiones appellemus), per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur, has quisquis bene ceperit, is erit in adfectibus potentissimus. quidam dicunt εὐφαντασίωτον, qui sibi res, voces, actus secundum verum optime finget. In Polizianos eigenem Exemplar der Institutio oratoria (Naz., Banco rari 379) befand sich anstelle des griechischen Begriffs εὐφαντασίωτον eine Auslassung. Da die Stelle auch in der älteren Handschrift Laur. 46, 7 korrupt war, konjizierte Poliziano wohl aus dem Inhalt, dass ein Ausdruck eingesetzt werden müsse, der mit dem Begriff φαντασία zu tun habe. Poliziano selbst hatte ἐκ φαντασιῶν vorgeschlagen, moderne Editoren lesen wie im Zitat; hierzu Daneloni 2001, 193-195. eine Dichtung zustande kommt, die qualitativ über die durch reine Kunstfer‐ tigkeit erarbeitete hinausgeht. Damit wählt Poliziano einen bemerkenswerten Mittelweg zwischen ars und der platonisch-ficinianischen Vorstellung des furor: Zur bedeutenden Dichtung befähigt nicht allein ein rhetorisches Regel‐ werk - dies wäre ars -, allerdings auch keine rein göttliche Eingebung, die als donum Dei verstanden von jeglichem menschlichen Zutun befreit ist. Inspiration ist für Poliziano ein Talent, ingenium, über das der Dichter verfügen kann, wenn er es (von Geburt an) hat, und das ihm fehlt, wenn es ihm nicht in die Wiege gelegt ist. Poliziano macht sich die terminologische Unschärfe zunutze, die den lateinischen Begriff der Inspiration verschleiert. Die Einordnung in das bunte terminologische Sammelsurium, das sich im Laufe der Renaissance für die dich‐ terische Inspiration angesammelt hatte, gelingt mühelos: Der subitus calor kann ohne weiteres begrifflich mit Bewegung oder Wärme suggerierenden Ausdrü‐ cken wie concitatio, fervor oder inflammatio in Einklang gebracht werden. Bekannt ist, wie sich Poliziano die dichterische concitatio konkret vorgestellt hat und wie er die Brücke von der Gemütsaufwallung des guten Redners zu der des guten Dichters geschlagen hat. Hierzu hatte er bereits bei der Ilias-Überset‐ zung auf die Affektlehre im 6. Buch von Quintilians Institutio oratoria zurück‐ gegriffen. Das Geheimnis der Affekterregung lag nach Quintilian in der eigenen Empfindung des entsprechenden Affektes: summa enim, quantum ego quidem sentio, circa movendos adfectus in hoc posita est, ut moveamur et ipsi (6, 2, 26). Es wirke schlichtweg lächerlich, wenn der Redner versuche, den Richter in einen emotionalen Zustand (wie luctus, ira, indignatio) zu versetzen, ohne sich dabei in demselben zu befinden. Denn: nec incendit nisi ignis nec madescimus nisi umore nec res ulla dat alteri colorem, quem non ipsa habet (6, 2, 28). Die Affektübertra‐ gung komme insbesondere durch die Fähigkeit des Sprechers zustande, der enargia zu erregen wisse. Dies geschehe ausschließlich über die Einbildungs‐ kraft (φαντασία) desjenigen, der spreche (6, 2, 29-30). 19 Damit liefert Quintilian das für Polizianos Enthusiasmuskonzept integrale triadische Bezugssystem von φαντασία, enargia und affectus: φαντασία bedeutet die affektive Identifikation 194 3. Gegenentwürfe 20 Hierzu Webb 2009, 87-130. 21 Im Vorwort zu seiner maßgeblichen Ausgabe erwog Lo Monaco 1991, XIX-XX, den Kommentar aufgrund seiner thematischen und konzeptuellen Nähe zu den Miscellanea in deren zeitliche Umgebung zu datieren; jedoch: “mancano dati che possano confortare tale ipotesi, e ci si deve accontentare delle testimonianze dirette su di una lettura dei Fasti nell’anno accademico 1481/ 2.” 22 Ov. fast. 6, 3-6. des Subjekts mit dem Gegenstand und bildet die Voraussetzung für enargia, die im Idealfall eine so hohe emotionale Qualität aufweist, dass sie den Rezipienten affiziert. 20 Mit anderen Worten: Wenn es dem Redner (oder Dichter) gelingt, sich dergestalt in die Beschreibung seines Gegenstandes einzufühlen, so für ihn zu erglühen, dass er in der entworfenen Szenerie gewissermaßen selbst ‚zugegen‘ ist, so wird seine Beschreibung lebhaft, ausdrucksvoll und mitreißend - dass Poliziano sein poetisches Programm zu einem Gutteil auf dieser rhetorischen Prämisse gegründet hat, wurde hinreichend beleuchtet: Poliziano gibt im Sil‐ venkommentar den theoretischen Unterbau für sein Evidenzkonzept. Ein zweites Mal befasste sich Poliziano im Commento zu den Fasti des Ovid, der wahrscheinlich während des akademischen Jahres 1481/ 2 im Rahmen einer Vorlesung, also in zeitlicher Nähe zum Silven-Kommentar entstanden ist, mit der dichterischen Inspiration. 21 In der eigentümlichen Version der Dichterweihe durch Juno, Namenspatronin des zu besingenden Monats, zu Beginn des sechsten Fasti-Buches stellt sich Ovid in berühmten Versen als göttliches Sprach‐ rohr vor, wodurch er den Leser vom Wahrheitsgehalt seiner Kalenderdichtung überzeugen will: 22 facta canam; sed erunt qui me finxisse loquantur, nullaque mortali numina visa putent; est deus in nobis, agitante calescimus illo; impetus hic sacrae semina mentis habet. Wahres werde ich singen, doch es wird Leute geben, die mich der Lüge zeihen und behaupten werden, dass kein Sterblicher je Gottheiten gesehen habe. Es gibt einen Gott in uns, und wir geraten in Hitze, wenn er uns antreibt. Dieser Impuls sät die Samen der göttlichen Begeisterung. Den beiden letzten Versen des Zitats, die den Dichtungstheoretikern des 15. und 16. Jahrhunderts standardmäßig zur Exemplifikation enthusiasmierten Dichtens dienten, widmet Poliziano eine unkommentierte Zusammenstellung einschlä‐ giger Zitate, und zwar die bekannte Stelle über den Dichterwahnsinn aus dem Phaidros, ein Demokrit-Zitat über Homer und einen Verweis auf den platoni‐ 195 3.1. Ingenium: Gabe oder Gnade? 23 Pol. enn. in fast. Ov. 6, 5 (Lo Monaco 1991, 448): Est deus. Plato in Phedro: τρίτη δὲ ἀπὸ Μουσῶν κατοκωχή τε καὶ μανία, λαβοῦσα ἁπαλὴν καὶ ἄβατον ψυχήν, ἐγείρουσα καὶ ἐκβακχεύουσα κατά τε ᾠδὰς καὶ κατὰ τὴν ἄλλην ποίησιν, μυρία τῶν παλαιῶν ἔργα κοσμοῦσα τοὺς ἐπιγιγνομένους παιδεύει· ὃς δ’ ἂν ἄνευ μανίας Μουσῶν ἐπὶ ποιητικὰς θύρας ἀφίκηται, πεισθεὶς ὡς ἄρα ἐκ τέχνης ἱκανὸς ποιητὴς ἐσόμενος, ἀτελὴς αὐτός τε καὶ ἡ ποίησις ὑπὸ τῆς τῶν μαινομένων ἡ τοῦ σωφρονοῦντός ἐστι [Phaedr. 245a]. […] Democritus de Homero: Ὅμηρος φύσεως λαχὼν θεαζούσης ἐπέων κόσμον ἐτεκτήνατο παντοίων. [Democr. frg. 68B21 DK apud Dion. Chr. 53, 1] Caetera quaere in Ione Platonis, ubi et de peana Tynnichi Chalcidei. 24 Pol. enn. in fast. Ov. 6, 5 (Lo Monaco 1991, 448); Arist. Poet. 17, 1455a32-33. 25 Arist. Poet. 1455a 22-32: Δεῖ δὲ τοὺς μύθους συνιστάναι καὶ τῇ λέξει συναπεργάζεσθαι ὅτι μάλιστα πρὸ ὀμμάτων τιθέμενον· οὕτω γὰρ ἂν ἐναργέστατα [ὁ] ὁρῶν ὥσπερ παρ’ αὐτοῖς γιγνόμενος τοῖς πραττομένοις εὑρίσκοι τὸ πρέπον καὶ ἥκιστα ἂν λανθάνοι [τὸ] τὰ ὑπεναντία. σημεῖον δὲ τούτου ὃ ἐπετιμᾶτο Καρκίνῳ. ὁ γὰρ Ἀμφιάραος ἐξ ἱεροῦ ἀνῄει, ὃ μὴ ὁρῶντα [τὸν θεατὴν] ἐλάνθανεν, ἐπὶ δὲ τῆς σκηνῆς ἐξέπεσεν δυσχερανάντων τοῦτο τῶν θεατῶν. ὅσα δὲ δυνατὸν καὶ τοῖς σχήμασιν συναπεργαζόμενον· πιθανώτατοι γὰρ ἀπὸ τῆς αὐτῆς φύσεως οἱ ἐν τοῖς πάθεσίν εἰσιν, καὶ χειμαίνει ὁ χειμαζόμενος καὶ χαλεπαίνει ὁ ὀργιζόμενος ἀληθινώτατα. 26 Laur. 60, 14 f. 14r. Gleichwohl fungierte die aristotelische Poetik lediglich als zusätzliche Bekräftigung seiner enargia-Konzeption, nicht als grundlegende Quelle: Godman 1998, 61: “What he sought from Aristotle was information on subjects that already engaged his interest […]”. Ebd. 64: “In the mental world of the Florentine Callimachus, the Poetics appeared with not a bang but a whimper.” schen Ion. 23 Überraschenderweise findet sich auch ein Zitat aus der aristoteli‐ schen Poetik, welches im dichtungstheoretischen Diskurs bislang keine Rolle gespielt hatte: Aristoteles cum de incitandis poemate affectibus disputasset, ita ait: διὸ εὐφυοῦς ἡ ποιητική ἐστιν ἢ μανικοῦ. 24 Ein Blick auf die betreffende Stelle der Poetik belehrt über Polizianos Motivation, den Passus in den Kanon ein‐ schlägiger Zitate aufzunehmen. Dort empfiehlt Aristoteles dem Tragödien‐ dichter, er möge sich die dramatischen Vorgänge, die er beschreibt, vor dem geistigen Auge so vorstellen, als stünde er selber auf der Bühne. Er müsse sich, um überzeugend zu wirken, so in die Stimmung seiner Figuren versetzen, als empfände er dieselbe Erregung oder dieselbe Wut. 25 Die Vorschrift, die Aristo‐ teles an den Dichter von Tragödien ergehen lässt, ist nichts anderes als das aus der Rhetorik wohlbekannte Postulat der emotionalen Affizierung des Zuhörers. Der zitierte Satz der Poetik, den Poliziano am Rand seines vollständig annotierten Exemplars der Poetik markierte und teilweise duplizierte, eignete sich dazu, seine Auffassung der Affekterregung als Modus enthusiasmierten Dichtens au‐ toritär zu sanktionieren. 26 Zieht man Ficinos Instrumentalisierung der Ovid-Stelle in der Theologia Pla‐ tonica in Vergleich, gewinnt Polizianos Auflistung der Zitate an Kontur. Ficino hatte die Ovid-Verse zitiert, um zu belegen, dass kein noch so gebildeter Mensch kraft seines menschlichen ingenium große Dichtung zustande bringen könne. 196 3. Gegenentwürfe 27 Theol. Plat. 13, 2, 5 (Allen / Hankins 2004, 126): […] nullus umquam, licet diligentissimus et in omnibus artibus eruditus, excelluit in poesi, nisi ad haec accesserit ferventior illa animi concitatio, quam sentimus quando ‘est deus in nobis, agitante calescimus illo. / impetus ille sacrae semina mentis habet.’ 28 So schrieb Duhl 2013, 54 über Poliziano als Vorkämpfer einer sich auf Sinneswahrneh‐ mung gründenden poetologischen Theorie: “Politian’s […] commentaries on Statius’s Silvae […] further contributed to promote a more contingent poetic voice, which con‐ veyed this new interest in sense perception.” Vgl. auch Galand-Hallyn / Hallyn / Lecointe 2001, 134-135. Es bedürfe jener hitzigen Erregung des Geistes (ferventior illa animi concitatio), „die wir fühlen, wenn der Gott in uns ist“. 27 Hier werden die unterschiedlichen Auffassungen Polizianos und Ficinos eklatant: Für Ficino ist concitatio ein Sym‐ ptom, das auf die vollständige Inbesitznahme des Dichters durch den Gott ver‐ weist, bei Poliziano meint concitatio die ingeniöse Einfühlsamkeit des Dichters. Dass sich in Polizianos calor-Theorie ein neues Interesse an sinnlich-intui‐ tiver und daher an der individuellen Wahrnehmung des Menschen Bahn bricht, das in Abgrenzung von der vom Subjekt abstrahierenden platonischen furor-Theorie entstanden ist, wurde verschiedentlich festgestellt. 28 Polizianos calor-Konzept bedeutet eine substantielle Neuerung innerhalb des poetologi‐ schen Diskurses der Renaissance. Die Neuerung gegenüber den platonischen Dichtungslehren liegt in der Bewertung des ingenium als subjektivem Kriterium für die Erschließung und Repräsentation der Welt. Die Verlagerung des ingenium ins Individuell-Menschliche, die Vorstellung der schöpferischen Begabung des Menschen, war von Nikolaus von Kues philosophisch vorbereitet und durch 197 3.1. Ingenium: Gabe oder Gnade? 29 Valla verknüpfte den ingenium-Begriff des Frühhumanismus mit dem philosophischen Werk des Nikolaus von Kues, wodurch er die darin entwickelte Relationalität von Wirklichkeit und Wahrheit für die schöpferische Potenz des künstlerischen Menschen fruchtbar machte (man denke etwa an das berühmte Löffelgleichnis des Cusanus im Idiota de mente). Valla forcierte die Ablösung der Vorstellung des ingenium als speku‐ lativem und rezeptivem Intellekt, der, verstanden als Instrument zur Erkenntnis einer reinen, absoluten, d.h. mit Gott in Einklang gebrachten Wahrheit, den frühhumanisti‐ schen Apologeten die figmentum-Lehre und den späteren platonischen Dichtungsthe‐ oretikern das Konzept der imitatio ex ideis ermöglicht hatte. Für Valla kommt dem ingenium die Maßgabe der Gegenstände zu, deren Substantialität (‚An-sich‘) einem menschlichen Bezugssystem ein- und untergeordnet wird, das seinen Ursprung im individuell-menschlichen ingenium hat: hierzu Gerl 1989, 154-163; Haug 1986, 365-367. Duhl 2013, 55 führte das calor-Konzept auf spätmittelalterliche nominalistische Wahr‐ nehmungstheorien zurück, die den renaissancezeitlichen Denkern die Verbindung von individueller Emotionalität und angewandter Poetik und damit einen Ausweg aus der am furor ausgerichteten Poetologie lieferten: “In philosophical terms, calor can be ex‐ plained as a concept evoking a physical state prompted by the imagination and the senses, independently from the abstractive power of the intellect, which is consistent with the intuition-based cognitive models developed in the later Middle Ages by John Duns Scotus and William Ockham. To the writers of the Quattrocento, calor provided a human alternative to the sparingly dispensed divine furor as the source of a type of poetic expression, in which individual emotions combined with consciously applied technique, rather than divine inspiration, took center stage.” 30 Dass Poliziano in seiner Bewertung des ingenium von Calderini beeinflusst ist, zeigen die Übereinstimmungen mit dessen Silven-Kommentar: hierzu Cesarini Martinelli 1978, 105 Anm. 15 (6r: Papinius solus e nostris poetis versatus est tanta ingenii felicitate, ut Thebaidem, quam emendavit, hoc uno opusculo sententiarum gravitate, rerum copia, car‐ minis elegantia longe superavit. Nam, ut possum coniicere, acres et vehementes erant in‐ genii illius impetus, qui subito fervebant neque ultra versuum quibus unaquaeque sylva absolvitur numerum excitatum retinebant calorem […]). Vgl. hierzu Coppini 2013; Zollino 2016, 9 Anm. 22; zu Landino Nebes 2001, 133-148; Haug 1986, 372-374; Haug 2002. Lorenzo Valla für die Ästhetik fruchtbar gemacht worden. 29 Während sich auch unter Polizianos Zeitgenossen, etwa bei Landino und Calderini, nicht zu Ende geführte und wenig konkrete Ansätze für eine ingenium-Poetik finden, so ge‐ winnt Polizianos Verknüpfung der platonischen Enthusiasmus-Lehre mit der antiken Vorstellung des calor poeticus und der rhetorischen Evidenztheorie an theoretischer Stringenz und praktischer Relevanz. 30 Dass sich Poliziano selbst in seinen Dichtungen vom calor leiten ließ, darf angesichts seiner akribisch philologischen Arbeitsweise bezweifelt werden. Dass er das Postulat anschaulicher Dichtung in seinem eigenen Werk umzu‐ setzen suchte, wofür er die antiken Theorien zum Maßstab machte, steht indes außer Frage. Zu fragen ist nun, ob es den hier entwickelten Dichtertypus, also den Dichter schlechthin, tatsächlich gibt? Poliziano gibt hierauf eine eindeutige und wenig überraschende Antwort. In der Oratio in expositione Homeri (1486) 198 3. Gegenentwürfe 31 Poliziano, Oratio 11-12 (Megna 2007, 12-13); Übersetzung Schönberger / Schönberger 2011, 75. 32 Vgl. Megna 2007, 13 Anm. 24: “Al labor limae virgiliano (Quint. 10, 1, 86; Donat. Vita Verg. 22, p. 6 B.; Gell. 17, 10) gli antichi opponevano la facilità di improvvisazione di Omero (e.g., ps. Herod. Vita Hom. 32-33, 35, pp. 212-16 A).” Zur fehlerhaften Lesart Varus statt des korrekten, erst später in den Drucken der Institutio oratoria korrigierte Varius vgl. ebd. knüpft Poliziano den Typus des poeta ingeniosus und den platonischen poeta inspiratus aneinander, indem er ‚seinem‘ Dichter ein neuerliches Denkmal setzt: 31 Quo effectum est ut in Homeri poesi virtutum omnium vitiorumque exempla, omnium semina disciplinarum, omnium rerum humanarum simulacra effigiesque intueamur, ipsaque illa nobis expressa expromptaque ante oculos constituerit, quae ipsemet pro‐ fecto nunquam suis oculis usurpaverat. Neque vero non et illud in poeta hoc caelestis plane immortalisque naturae lumen effulget, quod pulcherrima illa carmina, quae iure aetas omnis mirata est, illaborata ipsi adque extemporanea fluebant vivoque, ut ita dixerim, gurgite exundabant, cum e diverso mantuanum poetam paucissimos die composuisse versus auctor sit Varus. So kam es, dass wir in Homers Dichtung Beispiele aller Tugenden und Laster erblicken, auch die Keime aller Wissenschaften und ein Vollgemälde des gesamten Menschen‐ lebens. Ja, er hat uns alles, was er nie mit eigenen Augen sah, deutlich und plastisch vor Augen gestellt. Zudem erstrahlt in diesem Dichter das Licht einer wahrhaft himm‐ lischen, unsterblichen Natur, weil er jene herrlichen Gesänge - zu Recht die Bewun‐ derung aller Zeitalter - mühelos, aus dem Stegreif und wie aus lebendig sprudelnder Quelle hervorströmen ließ; der Dichter aus Mantua hingegen schuf an einem ganzen Tag, wie Varus bezeugt, nur sehr wenige Verse. Poliziano zeigt hier die Möglichkeit der Vereinigung seiner beiden poetologi‐ schen Postulate auf: Homer ist der einzige, der Anschaulichkeit und enzyklo‐ pädisches Wissen in vollkommener Weise verbindet. Interessant ist der Ver‐ gleich mit Vergil, der sich auch im Silvenkommentar findet: Während Homer mühelos aus dem Stegreif dichten konnte, überliefere Varus, dass der Mantuaner Poet nur sehr wenige Verse pro Tag zu Papier gebracht habe -in Einklang mit antiken Quellen wird das Mühevolle des vergilischen Dichtens betont. 32 Die Göttlichkeit der homerischen Dichtung wird an ihrem improvisatorischen Cha‐ rakter abgelesen: Indem Homer seine hohe, menschliches und göttliches Wissen umfangende Dichtung aus dem Stegreif gleichsam hervorgurgelt, wird sie zu inspirierter, prophetischer Dichtung. Die Vereinigung des Stegreifdichters à la Statius mit dem inspirierten Dichter holt Poliziano nunmehr auch terminolo‐ 199 3.1. Ingenium: Gabe oder Gnade? 33 Oratio 12 (Megna 2007, 13-14). Übersetzung Schönberger / Schönberger 2011, 75-76. 34 An Statius etwa hatte Poliziano mehrfach die Lebendigkeit und Authentizität seiner Silven gerühmt: in his libellis vivit illa incitatio et eminet (Pol. In Stat. Sylv. 29, 11 (Cesarini Martinelli 1978)). In der Oratio super Fabio Quintiliano et Statii Silvis hatte Poliziano von letzteren gesagt, dass es geradezu als Vorzug zu gelten habe, wenn man einem Werk seine schwunghafte Entstehung noch anmerkt. Der Conclusio „In der Tat nämlich schadet allzu große Sorgfalt häufig“ (saepe usu venit ut scripta nostra nimia cura vel peiora fiant) geht Anekdotisches voraus: Der große Maler Apelles habe gesagt, nur in einem übertreffe er Protogenes, nämlich darin, dass er es verstehe, rechtzeitig die Hand vom Werk zu nehmen (Garin 1952, 874). gisch ein: Während er im Silvenkommentar den subitus calor vom afflatus furoris getrennt hatte, werden sie in der Figur Homers semantisch und konzeptuell vermischt: 33 extantque adhuc non pauca canente illo excepta poemata quae, prout a quoque bene maleque acceptus fuerat, continuo in eum subito quodam repentinoque instinctu et ferente, ut aiunt, flatu, proferebantur, ut facile intelligantur non quasi sub incudem venisse humanae fabricae, sed divino quodam impulsu instinctuque velut e cortina atque adyto sacris esse excussa praecordiis, ut iam dubitandum nullo pacto sit quin vere de illo Democritus naturae rerum conscius praedicaverit: Ὅμηρος φύσεως λαχὼν θεαζούσης ἐπέων κόσμον ἐτεκτήνατο παντοίων. Es gibt auch noch etliche Dichtungen Homers, die man aufschrieb, während er sie sang. Je nachdem ihn nämlich einer freundlich oder unfreundlich aufnahm, ent‐ standen sogleich Verse auf diesen in plötzlichem, spontanem Antrieb und (wie man sagt) enthusiastisch. Daraus ersieht man leicht, dass seine Lieder nicht sozusagen auf dem Amboss menschlicher Formung entstanden, sondern durch göttlichen Antrieb und Anhauch heiliger Brust entquollen wie aus Dreifuß und Orakelhöhle. So darf man nicht mehr zweifeln, dass Demokritos, ein Kenner allen Seins, zutreffend von Homer sagte: „Homer, der eine gottbegeisterte Natur besaß, schuf eine Welt mannigfacher Dichtungen.“ Wenngleich Poliziano hier auf den Aspekt der enargia nicht explizit eingeht, eröffnet der Text dennoch die Möglichkeit zur vertiefenden Interpretation des Zusammenhangs von improvisierter, anschaulicher und göttlicher Dichtung. Im Bild des Gedichte hervorgurgelnden Homer wird der Aspekt der Spontaneität mit dem der Repräsentation sinnfällig verbunden: Göttlich erscheinen die Ge‐ dichte deswegen, weil sie eben nicht „auf dem Amboss menschlicher Formung“ (wie bei Vergil) entstanden sind, sondern weil sie ein spontanes, lebendiges und damit authentisches Abbild des dichterischen ingenium geben. 34 Dieses wie‐ derum bildet sich ab durch die Veräußerung einer inneren phantasia, die sich in 200 3. Gegenentwürfe 35 Hierzu Cropper 1980 und Bausi 1996, 129. affektiver und anschaulicher Dichtung manifestiert. Homer ist also der voll‐ kommene Dichter: Der Abstand zwischen Imagination und extramentaler Re‐ präsentation ist gleich null (carmina vivo gurgite exundabant) - dies beweist seine Göttlichkeit. Während in der Oratio die Dichtertypen in eins geblendet sind, erfährt Homer in der Ambra ein ähnliches, dramatisch aufgeputztes, aber nicht minder auf‐ schlussreiches Lob. Poliziano schildert den Grund der Blindheit Homers anhand einer Episode, die seine Vorstellung vom poeta ingeniosus instruktiv in Szene setzt. Sie geht zurück auf ein Scholion des Hermias von Alexandria zum plato‐ nischen Phaidros, wo der Philosoph erzählt, Homer sei dadurch erblindet, dass er am Grab des Achill den Schatten des griechischen Helden heraufbeschworen und aufgrund der Strahlkraft der achilleischen Rüstung sein Augenlicht verloren habe. 35 In der Ambra beginnt die Geschichte beim zornigen Achill, der Homer zu einem hohen Werk anspornt (Ambra 260-262): Iamque insana sacrum vis insertusque medullis exstimulat vatem Aeacides, iam parturit altum mens opus et magnis animosa accingitur ausis. Und schon befeuert der gewaltige Zorn des ihm ins Herz gegebenen Achill den gött‐ lichen Dichter, schon bringt sein Geist ein hohes Werk hervor und rüstet sich kühn zu großen Unternehmungen. Das Bild des dem Innersten des Dichters eingepflanzten Achill darf als poetische Formel für die phantasia des ingenium-Dichters verstanden werden. Der nächste Schritt im dichterischen Imaginationsprozess ist die möglichst anschauliche (zunächst innere) Repräsentation des Gegenstands, hier des griechischen Helden Achill. So begehrt Homer das Wissen um Achills genaues Aussehen (vv. 263-266): Ille tamen quaenam ora sui, qui vultus Achilli quive oculi, quantus maternis fulguret armis, scire avet (ah nimius voti! ), violentaque fundens murmura, terribilem tumulo ciet improbus umbram. Dennoch begehrt er - ach, zu viel ist’s! - zu wissen, welche Gestalt, welches Gesicht, welche Augen Achill habe, und wie er strahle in der Rüstung seiner Mutter; und wie er grause Beschwörungen ausstößt, ruft er unheilvoll den schrecklichen Schatten aus seinem Grab. 201 3.1. Ingenium: Gabe oder Gnade? 36 Zur Erklärung der murmura führt Bausi 1996, 129 als Parallelstelle Nutricia v. 242 an, “dove murmur significa, come qui, ‘formula magica, preghiera’”. 37 Hierzu und zum Wechselspiel von Licht und Dunkelheit in der Ambra vgl. Ga‐ land-Hallyn 1987, 31-34. Poliziano inszeniert in beweiskräftiger Anschaulichkeit seine eigene Theorie: Indem Homer Achill facettiert und gewissermaßen plastisch vor seinem geis‐ tigen Auge konzipiert, entsteht der griechische Heros in der Wirklichkeit. Der Dichter erschafft den Helden durch seine Vorstellungsgabe, erweckt ihn buch‐ stäblich zum Leben. In dramatischer Überformung lässt Polizianos Homer den toten Achill aus dem Grab auferstehen, indem er violenta murmura  36 ausgießt. Homer wird zum dämonischen Dichter stilisiert, der gleichsam mit Zauberhand den schrecklichen Schattenfürsten Achill aus dem Totenreich heraufbeschwört. Homers dichterisches ingenium ist nicht messbar, seine Vorstellungsgabe nicht rational zu erklären. Dadurch allerdings, dass Homer Achill aus dem Schatten‐ reich hervorholt, bricht er göttliches Recht - der Autorkommentar ah nimius voti! (v. 265) nimmt die kommende Bestrafung des Dichters vorweg, das spätere Saturne, tuas inflectere leges / haud licitum cuiquam (vv. 287-288) bereitet die Blendung Homers vor. Diese tritt schließlich ein, während Homer Achill allzu deutlich vor sich sieht und jede Einzelheit mit seinen Augen erkundet (v. 282- 283: dum singula visu / explorat miser incauto) - sein Antlitz, seine Taten, seine funkelnde Rüstung und zuletzt den Schild, der ihm zeigt, was die Welt im In‐ nersten zusammenhält (vv. 271-281). Homer betrachtet das Produkt seines Geistes also gleichsam als extramentale Vergegenständlichung, an welcher er, der gierig und unvernünftig (scire avet, incautus) Verbotenes schaut, letztlich erblindet. Bedeutsam ist hierbei die schon von den Quellen vorgegebene Strahl‐ kraft der achilleischen Rüstung: Wie im ersten Teil der Arbeit gesehen, richtete sich Polizianos Interesse an der homerischen Dichtung insbesondere auf die Licht-, Glanz- und Feuermetaphorik, die vornehmlich in den Vergleichen zum Tragen gekommen war. So wird Achills Schattengestalt auch in der Ambra in vollem Ornat präsentiert: quantus maternis fulguret armis (v. 264), flammeus ignescit thorax auroque minatur / terrifico radiatus apex (vv. 276-277). Der Homer der Ambra bleibt gewissermaßen seinem (und Polizianos) Credo treu und ge‐ staltet seine Figuren im Sinne dichterischer Anschaulichkeit lichtvoll aus. 37 Achill schließlich hat Mitleid mit dem blinden und verängstigten jungen Dichter, hebt ihn auf seinen Schild, ‚spuckt‘ mit einem Kuss die Sehergabe in ihn hinein und übergibt ihm den Stab des Tiresias (vv. 284-292). In dieser reizenden Szene steckt die Verschmelzung der beiden Dichterkonzeptionen Polizianos: Der vom poeta ingeniosus ins Leben gerufene Achill verleiht seinem Schöpfer das Wissen um die göttlichen Geheimnisse, repräsentiert durch das Einspucken der Seher‐ 202 3. Gegenentwürfe 38 Zum Schild als Symbol für die Allwissenheit des Dichters Cropper 1980, 264-265. 39 Stenzel 1986, 4: „Polemik ist gewiß aggressive Rede. Aber nicht jede aggressive Rede nennen wir Polemik. Kritik zum Beispiel läßt sich als eine Art von verbaler Aggression auffassen, aber doch als unaggressive, nämlich sachliche Aggression. Unsachlichkeit, die polemische Rede konstituiert, läßt sich allein an ihrem Stil ablesen; Polemik wäre also jene Rede, in welcher unsachlicher Stil dominiert.“ Dennoch hebe sich Polemik etwa von Beschimpfung und Satire durch ihren „argumentierenden Grundgestus“ (ebd. 5) ab. Paintner 2011, 44 betonte, bei der Polemik gehe es vornehmlich um die Inszenie‐ rung eines Konflikts, um einen „inszenierten Antagonismus in bezug auf eine Sache vor Publikum.“ gabe und das Emporheben auf den Schild, der für die Allwissenheit des Dichters steht. 38 Damit wird Homer zum poeta inspiratus. Die beiden Dichtertypen, der begabte und der inspirierte, sind hier in einen kausalen Zusammenhang ge‐ bracht, der den Topos von der Blindheit Homers zum Ausgangspunkt hat. Aus Dankbarkeit gegen Achills Gabe - so will es Poliziano - habe Homer schließlich den Ruhm des griechischen Heros verbreitet, nunmehr aber vom Dichterwahn beseelt: […] sacro instincta furore / ora movet (vv. 293-294). Homer wird als perfektes Exempel für den idealen Dichter gezeichnet, der, wie Poliziano selbst, anschauliche Darstellung und umfassendes Wissen in seinem Werk vereint. Die göttliche Aura, die dem griechischen Dichterfürsten zu allen Zeiten eignete, diente Poliziano in den panegyrischen Erzeugnissen zur Überhöhung seiner eigenen Vorstellung vollendeter Dichtung. Dass sich daraus zahlreiche Inszenierungsstrategien gewinnen ließen, liegt auf der Hand. Hierfür soll zunächst einmal mehr die Silve Nutricia in den Blick genommen werden, in der sich Poliziano am ausführlichsten mit den Dichtungstheorien seiner neu‐ platonischen Kontrahenten, allen voran Ficinos und Landinos, auseinander‐ setzte. 3.2. Polizianos Nutricia und die neuplatonische Dichtungslehre Zeigten Stanze und Orfeo Strukturen, die den neuplatonischen Dichtungslehren zuwiderliefen, und offenbarten die Commenti ein polemisches Potential, inso‐ fern die Inspirationslehre thematisiert und zur calor-Theorie uminterpretiert wurde, so werden in den Nutricia nunmehr die Strategien fassbar, auf die Poli‐ ziano rekurriert, um seiner Dichtungskonzeption Gehör und Anerkennung zu verschaffen. Polemisch im strengen Sinne sind die Nutricia nicht, da ihnen, von einigen umstrittenen Äußerungen im Text abgesehen, die Aggressivität fehlt, die für die polemische Auseinandersetzung konstitutiv ist. 39 Eine polemische 203 3.2. Polizianos Nutricia und die neuplatonische Dichtungslehre 40 Bausi 1996, 163. Vgl. auch den ursprünglichen Widmungsbrief an den ungarischen König Matthias Corvinus (Poliziano 1553, 118): poema multa lima cruciatum. 41 Ausführlich zum Problem der Paradoxie von furor und remota lectio in den lateinischen Gedichten Polizianos Coppini 1998. Stoßrichtung eignet ihnen jedoch insofern, als sie den Streitgegenstand präzi‐ sieren, ein Modethema des Florentiner Platonismus aufgreifen und nicht zuletzt eine tendenziöse und provokante Selbstinszenierung des Dichters bieten. Wir finden in den Nutricia diejenigen eristischen Mittel und Strategien vorgebildet, die für die späteren Polemiken tragendes Prinzip sein werden: Selbstinszenie‐ rung, Anschluss an Argumente der Gegner, die mit den eigenen Positionen kompatibel sind, deren Einverleibung und Reinterpretation. 3.2.1. Selbstinszenierung: poeta inspiratus Die Paradoxie zwischen poetologischer Überzeugung und Positionierung wird bereits im Widmungsbrief der Nutricia eklatant. Dem Widmungsempfänger Antoniotto Gentili erklärt Poliziano, wie viel Arbeit in seinem Gedicht stecke: Parvum quidem tuo nomini libellum dedico sed, ut spero, nec inanem rerum nec inopem. Multa et remota lectio, multa illum formavit opera. 40 Der inszenatorische Rahmen des Gedichts hingegen ist mit dieser Ankündigung schlechterdings unvereinbar: Poliziano stilisiert sich gleich in den Anfangsversen als poeta in‐ spiratus und schildert in einer eindrücklichen Szene gleichsam aus der Innen‐ perspektive den Verlust des Bewusstseins und sein Verfallen in den dichter‐ ischen furor. 41 Der Dichter fragt zuvor, welchen Ammenlohn er, weder Gott noch begnadeter Sänger, der erhabenen Poetica zollen könne, die die Macht habe, den menschlichen Geist mit sich in himmlische Gefilde zu reißen. Doch da wird ihm, mitten in Vers 25, eine unverhoffte Gnade zuteil (vv. 17-33): Ast ego, cui sacrum pleno dedit ubere nectar non olidi coniunx hirci, non rava sub antris bellua, non petulans nymphe, non barbara mater, sed dea Pieridum consors et conscia magnae 20 Pallados, humanas augusta Poetica mentes siderei rapiens secum in penetralia caeli, quas, rogo, quas referam grates, quae praemia tantae altrici soluisse queam, nec fulminis auctor, nec thyrsi sceptrique potens? Quonam improba ducis 25 mens avidum? quo me, pietas temeraria, cogis attonitum? Quinam hic animo trepidante tumultus? 204 3. Gegenentwürfe Fallor, an ipsa aptum dominae praecordia munus parturiunt ultro vocemque et verba canoro concipiunt sensim numero, inlibataque fundunt 30 carmina nunquam ullis Parcarum obnoxia pensis? Sic eat. En agedum, qua se furor incitat ardens, qua mens, qua pietas, qua ducunt vota, sequamur. Doch ich, dem den göttlichen Nektar aus voller Brust nicht das Weibchen eines stink‐ enden Ziegenbocks gegeben hat, nicht ein graues Ungetüm in einer Höhle, nicht eine neckische Nymphe, nicht eine ungebildete Mutter, sondern eine Göttin, Schwester der Musen von Pierien und Eingeweihte in das Wissen der großen Pallas Athene, die den menschlichen Geist mit sich in das Innerste des bestirnten Himmels reißt, welchen Dank, frage ich, welchen Lohn könnte ich einer so bedeutenden Amme entbieten, der ich weder der Herrscher über die Blitze bin noch die Macht des Thyrsusstabs und des Szepters habe? Wohin nur führt ihr mich, tückische Gedanken, in meiner Leiden‐ schaft? Wohin, unbegreifliche Gottheit, zwingst du mich, der ich erschüttert bin? Was ist das für eine Aufregung, was für ein Zittern in mir? Täusche ich mich, oder bringt das Innerste meines Herzens ohne mein Zutun ein Geschenk hervor, das der Herrin angemessen ist, und fügt es allmählich den Klang und die Worte zu wohllautenden Versen zusammen, und gießt es makellose Lieder aus, die niemals den Spindeln der Parzen anheimfallen werden? So möge es sein! Auf, wohin mich der leidenschaftliche Wahn treibt, wohin mich die Gedanken führen, wohin die Gottheit, wohin meine Gebete, dahin will ich folgen! Polizianos Stilisierung zum poeta inspiratus ist eine Ungeheuerlichkeit: Der Dichter lässt sich selbst eine Dichtung erschaffen, die, ein wahres monumentum aere perennius, selbst die Zeitläufte nicht in Vergessenheit werden bringen können. Im ideologischen Rahmen des Gedichts ist dies dem furor geschuldet, der den Dichter ergreift. Tatsächlich aber sind die Nutricia die Frucht langen Studiums und harter Arbeit, das Gegenteil also einer dichterischen alienatio mentis. Im Auseinanderklaffen von scheinbarem Anspruch und dichterischer Wirklichkeit treten die Strategien der Selbstinszenierung hervor. Zunächst knüpft Poliziano an das weithin bekannte und für die neuplatonische Dich‐ tungslehre integrale Theorem des furor poeticus an, als dessen teilhaftig er sich stilisiert. Da Platon und in noch ausführlicherer Weise Ficino der dichterischen Manie Erkenntniswert beigemessen hatte, gelingt Poliziano hier ein reibungs‐ loser Anschluss an die ficinianische Dichtungsphilosophie. Folgerichtig ist es die augusta Poetica, der Poliziano das Gedicht als Ammenlohn zueignet, die den menschlichen Geist in die Geheimnisse des „bestirnten Himmels“ einweiht. Po‐ 205 3.2. Polizianos Nutricia und die neuplatonische Dichtungslehre 42 Die Aufarbeitung der antiken Quellen für das ‚incivilimento attraverso la poesia‘ in den Nutricia bei Paolini 1983. 43 Bausi 1996, 169-170. etica hat Anteil an der Philosophie (conscia magnae Pallados) und besitzt so die Macht, den Menschen zur Erkenntnis zu führen. 3.2.2. Rezeption: Lehrdichtung über / als Inspirationsdichtung Das sich anschließende Lied, das der Dichter nun vorgeblich ohne eigenes Zutun singt, ist zunächst, reichlich paradox, Lehrdichtung über Inspirationsdichtung. Er singt das Loblied auf die Macht der Dichtung, indem er die poetologischen Ansätze seiner Lehrer Landino und Ficino in lebhafte Hexameter gießt. So be‐ schreibt der Dichter in den Versen 34-138 in preziöser Manier die zivilisatori‐ sche Macht der Dichtung, die den einst stumpfsinnigen und barbarischen Men‐ schen zu Einsicht und Humanität erzogen habe. 42 Zunächst wird der Mensch in seiner jetzigen Gestalt gepriesen (vv. 34-44). Dabei blendet Poliziano Erschaf‐ fung und Auftrag des Menschen aus dem jüdisch-christlichen Schöpfungsmy‐ thos und antike philosophische und kosmologische Auffassungen ineinander. So wird der Mensch nach seiner Erschaffung als ‚dieses geheiligte Wesen‘ (sanctum hoc animal, 35) vorgestellt, welches kraft seiner Intelligenz zu natur‐ philosophischer Erkenntnis und zur Erkenntnis Gottes gleichermaßen befähigt wird (34-39). Im Vertrauen auf seine Vernunftbegabung kann sich der Mensch die Tiere untertan machen, sein Leben tätig und selbstbestimmt führen, die Welt vor dem Zerfall und seine Reiche vor der Verwahrlosung bewahren. Mit der Bemerkung, dass dies keineswegs immer so gewesen sei, leitet Poliziano über zur Schilderung des früheren, unzivilisierten Gebarens der Menschen (45-66). Der Dichter hält sich thematisch an einschlägige Darstellungen des primitiven Menschen: So entnimmt er vieles dem Beginn des 1. Buches von Ciceros De inventione, vieles der lukrezischen Kulturentstehungslehre im 5. Buch von De rerum natura, vieles auch dem 1. Buch von Manilius’ Astronomica. 43 Der sittliche Befund des ungehobelten Menschen setzt sich aus topischen Symptomen zu‐ sammen: Man lebte ohne Bildung und Kultur, war sitten- und gesetzlos, brachte sein Leben hin nach Art wilder Tiere, löste sämtliche Konflikte mit Muskelkraft (45-50); man besaß weder Glaube noch Frömmigkeit noch Pflichtgefühl, schloss keinerlei freundschaftlichen Bund und kannte keine ehelichen Bande (51-55); es gab weder Rechtsprechung noch öffentliche Beratungen, keine Vorstellung von Gemeinwohl, stattdessen walteten Eigennutz und Rücksichtlosigkeit (55- 58). Ferner konnten die Menschen aufgrund der Beschränktheit ihres Geistes die Gesetzmäßigkeiten der Natur nicht begreifen: So beweinten sie jeden Abend 206 3. Gegenentwürfe 44 Ars 391-401. bei Sonnenuntergang den Verlust der Sonne und freuten sich am Morgen bei Sonnenaufgang über eine neue Sonne. Sie beschauten die Bewegungen der Ge‐ stirne, die Mondphasen und Jahreszeiten, ohne einen kausalen Zusammenhang feststellen zu können (59-66). Schließlich ist es die Dichtung, die den Menschen aus seiner geistigen und moralischen Umnachtung herausführt (vv. 67-74): donec ab aetherio genitor pertaesus Olympo socordes animos, longo marcentia somno pectora, te nostrae, divina Poetica, menti aurigam dominamque dedit. Tu flectere habenis colla reluctantum, tu lentis addere calcar, tu formare rudes, tu prima extundere duro abstrusam cordi scintillam, prima fovere ausa Prometheae caelestia semina flammae. Bis schließlich vom himmlischen Olymp herab der Vater, da er der Stumpfsinnigkeit der Menschen und ihrer durch den langen Schlaf abgestumpften Herzen überdrüssig war, dich, göttliche Poetica, unserer Seele zur Lenkerin und Herrin gab. Du hast es zuerst gewagt, mit deinen Zügeln die Halsstarrigen zu bändigen, die Trägen anzu‐ spornen, die Ungeschlachten zu bilden, aus dem steinernen Herzen den Funken zu schlagen und die göttlichen Flammen der Prometheusfackel zu nähren. Die Vorstellung der zivilisierenden Macht der Dichtung geht auf die Ars poetica des Horaz zurück. 44 Orpheus, der sacer interpresque deorum, habe die vormals barbarischen Menschen durch sein Lied von Mord und Totschlag abgeschreckt, weshalb die Sage erzählt, dass er Tiger und Löwen bezähmt habe. Desgleichen sei von Amphion, dem Gründer von Theben, gesagt worden, er habe durch Sang und Leierklang Felsen zu bewegen vermocht. Der Weisheit der Sänger sei es damals zu verdanken gewesen, dass man den privaten Bereich vom öffentlichen und das Heilige vom Profanen schied, Promiskuität verbot und Ehen etablierte, schließlich Städte befestigte und Gesetze erließ. Auf diesem Wege, so Horaz, seien die göttlichen Seher und ihre Lieder zu Ehre und Ansehen gekommen. Es ist wahrscheinlich, dass Poliziano auf die Horazstelle rekurrierte, da sie Landino in den Mittelpunkt seiner Dichtungsreflexion gerückt hatte. Dieser hatte versucht, die Inspirationslehre Ficinos um ein praktisches, der vita activa zugeordnetes Komplement zu erweitern. Der Dichtung übertrug er dabei eine innerweltliche Aufgabe, indem er ihr einen pädagogischen und zivilisatorischen Auftrag zuwies: Der Dichter hatte die Rolle des Philosophen aus dem Höhlen‐ gleichnis zu übernehmen, der nach der Schau der göttlichen Wahrheit wieder 207 3.2. Polizianos Nutricia und die neuplatonische Dichtungslehre 45 Hierzu und für das Folgende Nebes 2001, 117-126. 46 Cardini 1974/ 1, 97. 47 Proemio al Commento dantesco 145, 9-26 (Cardini 1974/ 1): Come veggiamo in Orfeo, el quale per nessuna altra cagione dicono avere con la citara potuto fermare e’ fiumi, muovere e’ sassi, mitigare le fiere, se non perché con la suavità de’ suoi versi poté reprimere l’empito e el furore di molti, e’ quali nelle forze del corpo fidandosi tutti gl’altri abbattevono e conculcavono, e altri e’ quali erono d’efferato ingegno o stupidi o quasi insensati condusse a vita razionale e civile. […] Similmente interpreterremo che Anfione con sua citera movessi le pietre a congiugnersi e fare le tebane mura; perché con la suavità de’ versi gl’uomini e’ quali sanza leggi, sanza costumi vagando pe’ propinqui monti vivevono in solitudine, ri‐ dusse insieme e mollificando la lor dureza gli compose in vita civile. Vgl. auch Landino, Prolusione petrarchesca 39 (Cardini 1974/ 1). 48 Das Auseinanderklaffen der beiden Darstellungen wurde unterschiedlich interpretiert: Nach Godman 1998, 63-64 habe Poliziano keineswegs einen Bruch mit der platonischen furor-Lehre intendiert, sondern vielmehr in Ficinos Gleichsetzung des Wagenlenkers mit der Vernunft eine Anregung gesehen, die vernunftbringende und zivilisierende Kraft der Poetica an ein vorgegebenes ficinianisches Modell anzuknüpfen. Nach Leuker 1997, 148-149 habe Poliziano die „Demütigung der Poesie“ Ficinos rächen wollen, der in der Ion-Epitome sowie im Symposium dem furor poeticus den untersten Platz zuge‐ wiesen und ihn nicht mit dem „Wagenlenker ‚Geist‘“ in Verbindung gebracht hatte. in die Höhle hinabsteigen müsse, um die Mitmenschen zur Erkenntnis herauf‐ zuführen. 45 Im überaus wirkmächtigen Proöm zu seinem Dantekommentar, der am 30. August 1481 in Florenz erschienen und dem sogleich ein enormer Erfolg beschieden war, 46 paraphrasierte Landino die Stelle der Ars poetica, in der er das Hervorgehen der zivilisatorischen Macht der Dichtung aus ihrem göttlichen Ursprung thematisiert und damit die pragmatische Dimension von Dichtung bestätigt sah. Landino interpretierte Orpheus im Einklang mit Horaz als Führer der wilden, aufbrausenden oder einfältigen Menschen hin zu einem vernunft‐ gemäßen Leben, in Amphion sah er vor allem den Begründer einer rechtsstaat‐ lichen und gesellschaftlichen Ordnung von zuvor verstreut und gesetzlos le‐ benden Menschen. 47 Ein zweites platonisches Theorem nimmt Poliziano im Zitat durch die Be‐ zeichnung der Dichtung als auriga mentis auf. Auriga ist hier unmissverständ‐ liches Signalwort, das auf die platonische Seelenlehre verweist (Phaedr. 246a- 257b). Im Gleichnis des befiederten Gespanns kommt der unsterblichen Seele die größte Bedeutung zu, nämlich die des Lenkers, ἡνίοχος. Wenn nun Poliziano schlankerhand Poetica zur Lenkerin der Seele erhebt, so mag das auf den ersten Blick erstaunen - so wurde denn in der Forschung auch kontrovers diskutiert, inwiefern Poliziano mit der Erhebung der Poetica eine tendenziöse und etwa gegen Ficino gerichtete Umwertung der platonischen Seelenlehre vorzunehmen gedachte. 48 Es empfiehlt sich eine ausgewogene Lösung: Einerseits bleibt Poli‐ zianos Darstellung hier zu knapp und unscharf, als dass sie einen veritablen 208 3. Gegenentwürfe 49 Hierzu aus der reichen Literatur Kristeller 1956, 261-278; Trinkaus 1970, zu Ficino und Pico bes. 459-529; vgl. auch Allen 2011. 50 In Plat. Prot. (Ficino 1576, 2, 1298). Zu Ficinos proklischer Interpretation des Prome‐ theus-Mythos vgl. Allen 2011. Gegenentwurf bieten könnte. Bereits im Anschluss an obiges Zitat wird anders gewichtet, ohne dass damit eine tiefgreifende philosophische Konnotation ver‐ bunden wäre: Die rohen Menschen seien herbeigelaufen und hätten Recht und Ordnung im Lied der Weisheit erlernt, und zwar simul ac pulchro moderatrix unica rerum / suffulta eloquio dulcem sapientia cantum / protulit (75-77). Hier wird sapientia zur moderatrix unica rerum, die im Verbund mit der Redege‐ wandtheit das anziehende Lied hervorbringt. Als wichtigstes Instrument zur Sittigung des Menschen erscheint wiederum anderswo die Eloquenz: facundia victrix (120). Die relative Beliebigkeit der Gewichtung von Weisheit, Rhetorik und Dichtung zeigt, dass es Poliziano wohl nicht um eine scharfe Trennung der Bereiche und damit nicht um eine explizite Philosophenpolemik gegangen war. Andererseits ist die Gleichsetzung von Dichtung und Philosophie sowie die Vereinnahmung platonischer Theoreme für die Dichtung diejenige eristische Strategie Polizianos, auf die er ab der Mitte der 80er Jahre stets für seine Angriffe auf die platonischen Philosophen zurückgreift, so in der Ambra, der Oratio in expositione Homeri und der Praefatio in Charmidem (Kap. B.4). Im Zitat verarbeitet Poliziano ein weiteres zentrales Konzept der zeitgenös‐ sischen philosophischen Diskussion. Der Poetica fällt die Aufgabe zu, den Men‐ schen aus Unwissen und Unvernunft herauszuführen und zu einem promethei‐ schen Wesen zu formen. Mit der Erwähnung der Prometheae caelestia semina flammae berührt Poliziano den Kernpunkt platonischen Philosophierens am Ausgang des Quattrocento, der unter den Händen Ficinos und Picos zum zent‐ ralen Gegenstand der rinascimentalen Anthropologie aufgerückt war: Die Frage nach der Würde des Menschen und seiner Stellung in der Welt, die sich dem heutigen Leser in seiner prägnantesten und greifbarsten Form in der zeitgleich mit den Nutricia entstandenen sogenannten Oratio de hominis dignitate Picos präsentiert. 49 Ficino hatte die Gestalt des Prometheus als Mittler zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre, als rationalis animae gubernator be‐ zeichnet, der den Menschen das göttliche Geschenk der Vernunft und damit die Verbindung zu Gott gebracht habe. 50 Bemerkenswert ist, dass Poliziano an dieser Stelle ein zentrales Philosophem seiner Gelehrtenkollegen für die Dichtung vereinnahmt, die dort nicht mit der Dichtung verbunden war: So hatte etwa Pico in der Oratio die rationalia und intellectualia, also die dem Menschen innewohnenden Vernunft und Geist als Voraussetzung und Instrument seiner Erkenntnisfähigkeit gesehen. Bei Ficino 209 3.2. Polizianos Nutricia und die neuplatonische Dichtungslehre 51 Allen 2011. 52 Resp. 9, 571e-572a; Tim. 69c-71; vgl. Bausi 1996, XLIX-L; 172. Die Randglosse findet sich in beiden Inkunabeln der Nutricia (Firenze, Miscomini, 26. März 1491, editio prin‐ ceps); Bologna, Platone de’ Benedetti, 28. Juni 1491). Die Dreiteilung spielt auch in Po‐ lizianos prosaischem und theoretischem Werk, so etwa in der Lamia und im Kommentar zu Statius’ Silvae eine Rolle: hierzu und zu den Quellen vgl. Wesseling 1986, 71. Vgl. auch den Defensio Epicteti betitelten Brief Polizianos an Scala vom 1. August 1479: Po‐ liziano 1553, 406. 53 Polizianos Bild der arx für den höchsten Seelenteil ist vermutlich der Cicero-Stelle ent‐ nommen. Als Bezeichnung für die kontemplative Ebene dient arx auch bei Ficino; vgl. z.B. epist. 2, 1 (Gentile 2010, 19): contemplationis arx. wird das Feuer des Prometheus, das das Licht der Erkenntnis symbolisiert, ebenfalls nicht mit der Dichtung, sondern mit der Dialektik in Verbindung ge‐ bracht. 51 Einmal mehr fungiert die Dichtung als auriga mentis, die den Menschen zu Gott emporhebt. Die Thematik wird in den Versen 90-94 fortgesetzt, wo die Erkenntnisfähig‐ keit des Menschen auf das platonische Seelenmodell zurückgeführt wird. [didicere] quod gerat imperium, fractura Cupidinis arcus atque iras domitura truces, vis provida veri, vis animae, celsa quae sic speculatur ab arce, ut vel in astrigeri semet praecordia mundi insinuet, magnique irrumpat claustra Tonantis. Sie lernten, welche Macht die Erkenntnisfähigkeit, die Kraft des Geistes habe, die die Pfeile Cupidos zu brechen und trotzigen Zorn zu beherrschen vermag, die von der so hohen Burg ausblickt, dass sie sogar ins Innerste der bestirnten Welt eindringt und die Tore des hohen Donnerers aufbricht. Die größte Leistung des Liedes der Sapientia ist die Offenbarung der Vernunft‐ begabung des Menschen, der kraft dieser die niederen Seelenregungen, Zornmut und Begierde, beherrschen lernt und selbst in die innersten Geheimnisse Gottes einzudringen vermag. Eine vermutlich von Poliziano selbst stammende Rand‐ glosse (tres animae vires seu partes) beleuchtet das den Versen zugrunde liegende platonische Theorem. 52 Plausibel ist indirekte Rezeption Platons über Ciceros Tusculanen 1, 20: Plato triplicem finxit animum, cuius principatum, id est ra‐ tionem, in capite sicut in arce posuit, et duas partes parere voluit, iram et cupidi‐ tatem, quas locis disclusit: iram in pectore, cupiditatem supter praecordia locavit. 53 Hier offenbart sich das Bestreben Polizianos, den Lobpreis der Dichtung in pla‐ tonischer Tradition, nicht aber aus eigener Überzeugung heraus zu singen, denn was Poliziano die Dichtung hier beseitigen lässt - arcus Cupidinis und iras truces, d.h. die Affekte - ist nichts anderes als sein eigenes poetologisches Pos‐ 210 3. Gegenentwürfe 54 Vgl. Kap. B.2.1.3. tulat: Man denke an Polizianos Evidenzkonzeption oder an die gegen Ficino gemünzte Erhöhung des Affektdichters Homers über den Staatsphilosophen Platon im Kommentar zur Caligula-Vita Suetons. 54 Das Auseinanderfallen von poetologischem Credo und inszeniertem Anspruch, von Überzeugung und Po‐ sition, bedeutet freilich nicht eine poetologische Kurskorrektur, sondern offen‐ bart die Selbstinszenierung als tragendes Prinzip des ersten Nutricia-Teils: Po‐ liziano geriert sich als göttlich inspirierter Dichter, der die Dichtung als Ammenlohn in den Rang einer göttlichen Kunst erhebt und sich des hierfür geeigneten zeitgenössischen Diskurses bedient. Poliziano rezipiert, kunstvoll und fachmännisch in Art eines Lehrdichters, die vorherrschende Theorie. Am deutlichsten tritt des Dichters Bemühen um terminologische Exaktheit in der Behandlung des furor poeticus hervor. Dessen poetische Besprechung be‐ ginnt mit einem neuerlichen Musenanruf (139-145), wobei zunächst nach dem Wesen gefragt werden soll (139-140: qui tanto sacer hic furor incitet oestro / corda virum), sodann nach den Erzeugnissen (140-141: quam multiplices ferat enthea partus / mens alto cognata polo). Hier ist die Gliederung des folgenden Teils der Nutricia angekündigt: Zunächst soll der furor im Allgemeinen besprochen werden, woran sich der katalogartige Hauptteil anschließt, der die partus, die Erzeugnisse der inspirierten Dichter vorstellt. Der erste Teil behandelt die theoretischen Grundlagen der Inspirationsdich‐ tung. Hierbei wird der Sphärenharmonie eine äußerst gelehrte poetische Be‐ sprechung zuteil (vv. 149-155): […] [Iuppiter] errantes citharae vice temperat orbes ac rabidum imparibus cursum rotat intervallis, quem rata pars tamen et certum confine diremit. Hinc nostro maior captu sonus exit, acutas compensans gravibus septem in discrimina voces; stellantesque globos sua quaeque innoxia Siren possidet, ambrosio mulcens pia numina cantu. Jupiter regelt den Lauf der sich bewegenden Sphären mit dem Klang seiner Leier und bringt sie in unterschiedlichen Intervallen in rasche Bewegung, die aber in bestimmten Proportionen und innerhalb einer festen Grenze verläuft. Hieraus entsteht ein Ton, der über unser Wahrnehmungsvermögen geht: Er vereint in sich die hohen und die tiefen Töne einer siebenstufigen Tonleiter. Auf einer jeden Himmelssphäre sitzt eine zarte Sirene, die mit ihrem ambrosischen Gesang die seligen Gottheiten bezaubert. 211 3.2. Polizianos Nutricia und die neuplatonische Dichtungslehre 55 Ficino, epist. 1, 6 (Gentile 1990, 26-27); vgl. auch In Platonis Ionem 8 (Allen 2008, 204; Ficino 1576, 2, 1282); hierzu Steppich 2002, 170-173. 56 Plat. Resp. 616c-617b; Macr. Somn. 2, 3, 1; Ficino, epist. 1, 6 (Gentile 1990, 25-26). 57 Ficino, epist. 1, 6 (Gentile 1990, 24): Per aures vero concentus quosdam numerosque sua‐ vissimos animus haurit, hisque imaginibus admonetur atque excitatur ad divinam mu‐ sicam acriori quodam mentis et intimo sensu considerandam. Ebd. 20-21: Videbat igitur animus - inquit Plato - ipsam iustitiam, videbat sapientiam, videbat harmoniam et quandam divine nature mirabilem pulchritudinem. Vgl. Plat. Phaedr. 250b-d. 58 Vgl. hierzu Nebes 2001, 81-84. 59 Vgl. auch Quint 1979, xiv: “Poliziano probably did not believe in the Nutricia’s myth of inspiration.” Polizianos Verse haben freilich vor allem Ficinos einschlägige Besprechung aus der De divino furore betitelten Epistel zur Grundlage. 55 Ficino hatte seine Dar‐ stellung seinerseits auf die pythagoreische Theorie der Sphärenharmonie bzw. auf deren platonische und nachplatonische Rezeption gestützt. Vornehmlich unter Rekurs auf das Ende des Er-Mythos in der Politeia, wobei er allerdings nahezu wörtlich aus Macrobius’ Somnium-Kommentar zitierte, hatte Ficino seine Vorstellung der Sphärenharmonie exponiert, die sich nach Platon aus dem Zusammenklingen der acht Sirenen ergibt, die oben auf den acht Sphären des Wirtels sitzen, der die Spindel der Notwendigkeit (Ἀνάγκης ἄτρακτος) antreibt, und jeweils einen anhaltenden Ton von sich geben. 56 Im Hören dieser Harmonie, so Ficino, offenbart sich dem Dichter die göttliche Schönheit. 57 Ficino führt die inspirierte Dichtung unter Zuhilfenahme des platonischen Ion in einer linearen Kette auf Gott zurück: Dichtung stamme aus dem göttlichen Wahnsinn, der Wahnsinn von den Musen, die Musen aber nähmen ihren Anfang von Gott. 58 Damit ergibt sich die Reihung Gott - Musen bzw. Sphärenharmonie - göttlicher bzw. dichterischer Wahnsinn - Dichter. Poliziano schließt sich an die Vorstel‐ lung einer vertikalen Inspirationskette an, indem er faktisch eine versifizierte Version der platonisch-ficinianischen Vorstellung der Sphärenharmonie bietet. Bis hierhin rezipiert Poliziano Kernkonzepte neuplatonischer Poetologie und Philosophie - die Vorstellung dichterischer alienatio, die zivilisatorische Macht der Dichtung, die Erhebung des Menschen zum gottähnlichen Wesen, schließ‐ lich den Einfluss der Sphärenharmonie auf den dichterischen Vorgang. Wenn Poliziano sein Lob der Dichtung auf gängige platonische Dichtungstheorien gründet, so dient dies dem Argumentationsziel des ersten Nutricia-Teils, dem Nachweis ihrer Göttlichkeit, sowie einer Inszenierungsstrategie, die ihn als gottbegeisterten vates erscheinen lässt, dessen Lied Wahrheitsanspruch erhebt. Dass Dichtung tatsächlich durch eine plötzliche Gnadengabe entsteht, hat der ferruminator Poliziano freilich nicht geglaubt. 59 Der erste Teil der Nutricia ist gewissermaßen eine gelehrte Stilübung, die dem Nachweis dient, wie scheinbar 212 3. Gegenentwürfe 60 Diese Lesart bei Leuker 1997, 143-149. 61 Epist. 9, 1 (Poliziano 1553, 118). 62 Dass sich Poliziano für die Darstellung der magnetischen Ansteckung aus Platons Ion vornehmlich lukrezischer Prätexte (6, 910-916) bedient, ist der mechanischen Arbeits‐ weise des Dichters geschuldet: Die Lukrez-Stelle fungiert als linguistisches Modell. Verfehlt sind m.E. Ansätze, die eine synkretistische Rezeption platonischer und lukre‐ zischer Lehren postulieren (so Passannante 2011, 76-77; Pizzani 1990); dagegen Coppini 1998, 128-129: “La funzione intermediaria di Lucrezio VI 910-916 ha valore esclusiva‐ mente sul piano espressivo.” Zur Schlüssel- und Scharnierfunktion der Stelle dies. 127: “I dieci versi più significativi della selva Nutricia del Poliziano mi sembrano i 188-198: chiave di volta strutturale (subito dopo inizierà la vera e propria storia della poesia) e chiave semantica; e la loro importanza nella e per la letteratura umanistica non pare da confinare entro i limiti di quel testo.” mühelos der Dichter den zeitgenössischen poetologischen Diskurs beherrscht, ja dass er ihn gar in versifizierter Form gelehrt wiederzugeben verstehe. Die Forschungsmeinung, der erste Nutricia-Teil ließe sich gegen den Strich und also als Negierung der Inspirationsdoktrin lesen, basiert nach meinem Da‐ fürhalten auf einem zu geringen textlichen Befund. 60 Insgesamt problematisch allerdings wird der neuplatonische Auftakt in dem Moment, in dem Poliziano zum zweiten Teil seines Gedichts vordringt: der Literaturgeschichte. 3.2.3. Reinterpretation: Literaturgeschichte als Grenze inspirierter Dichtung Den eigentlichen Gegenstand der Nutricia, der den breitesten Raum einnimmt, hat Poliziano im ursprünglichen Widmungsbrief an den ungarischen König Matthias Corvinus als historia omnium fere vatum bezeichnet. 61 Eine kontinu‐ ierliche Dichtergeschichte schreibt Poliziano denn auch, und zwar in ihrer um‐ fassendsten Weise, von den dokumentierbaren Anfängen bis auf die eigene Zeit, ohne Unterschied, ob hebräisch, griechisch, lateinisch oder italienisch gedichtet wurde. Freilich bot sich das Bild der magnethaften Ansteckung an, das Platon im Ion entworfen hatte und das für Polizianos komplexes Unterfangen theore‐ tisches Fundament und roten Faden gleichermaßen bieten konnte. Doch eben in dem Moment, in dem Poliziano versucht, die Theorie mit der Praxis, die In‐ spirationslehre mit der Historizität von Dichtung zu verfugen, bricht das Fun‐ dament. Bereits in seiner Darstellung der dichterischen Ansteckung aus dem Ion, die er für die Vorstellung der Abhängigkeit von Dichter zu Dichter nutzbar zu machen sucht, wird die Kluft zwischen inszeniertem Anspruch und philolo‐ gischer Praxis sichtbar (vv. 188-198): 62 Ipsaque Niliacis longum mandata papyris 213 3.2. Polizianos Nutricia und die neuplatonische Dichtungslehre 63 Plat. Ion 535e-536a: Οἶσθα οὖν ὅτι οὗτός ἐστιν ὁ θεατὴς τῶν δακτυλίων ὁ ἔσχατος, ὧν ἐγὼ ἔλεγον ὑπὸ τῆς Ἡρακλειώτιδος λίθου ἀπ’ ἀλλήλων τὴν δύναμιν λαμβάνειν; ὁ δὲ μέσος σὺ ὁ ῥαψῳδὸς καὶ ὑποκριτής, ὁ δὲ πρῶτος αὐτὸς ὁ ποιητής· ὁ δὲ θεὸς διὰ πάντων τούτων ἕλκει τὴν ψυχὴν ὅποι ἂν βούληται τῶν ἀνθρώπων, ἀνακρεμαννὺς ἐξ ἀλλήλων τὴν δύναμιν. Ficino ist ihm in seinem Argumentum in Platonis Ionem de furore poetico 6-7 (Allen 2008, 200-204; Ficino 1576, 2, 1283) hierin gefolgt, wenngleich er auf die Abhängigkeit von Rhapsode/ interpres und Zuhörer nicht eingeht. carmina Phoebeos videas afflare furores et caeli spirare fidem; quin sancta legentem concutiunt parili turbam contagia motu deque aliis alios idem proseminat ardor pectoris instinctu vates, ceu ferreus olim anulus, arcana quem vi Magnesia cautes sustulerit, longam nexu pendente catenam implicat et caecis inter se conserit hamis. Und sehen könnte man da, wie die Lieder, die vor langer Zeit den Papyri vom Nil anvertraut wurden, Musenwahnsinn und himmlisches Leierspiel ausströmen; ja zahl‐ reiche Leser erschüttern und stecken sie in gleicher Weise an, und dieselbe Hitze des Gemüts, die die einen Dichter empfunden, lässt durch Ansteckung andere hervor‐ gehen, wie einst der eiserne Ring, den ein Magnetischer Stein magisch emporhob und der eine lange Kette von Gliedern, mit unsichtbaren Haken verbunden, an sich zieht. Hier stößt Polizianos neuplatonische Grundierung einer Literaturgeschichte an seine theoretischen Grenzen: Das Projekt einer Geschichte der poetischen Li‐ teratur, bei welcher ein Dichter als vom vorhergehenden ‚inspiriert‘ betrachtet wird, ist mit platonischer Doktrin nicht vereinbar. Platon hatte im Ion eine kau‐ sale Kette entworfen, zu deren Erklärung er auf das Bild sich magnetisch an‐ ziehender Ringe verwies, wobei der Dichter vom Gott, der Rhapsode vom Dichter und schließlich der Zuschauer vom Rhapsoden ‚magnetisiert‘ werde. 63 Bei Poliziano erfolgt die Inspiration nicht von der höchsten Instanz Gottes bis zur niedrigsten, dem Zuschauer oder Zuhörer, also vertikal, sondern horizontal zwischen den Dichtern. Damit werden notwendigerweise wesentliche Verände‐ rungen am platonischen Substrat vorgenommen: An die Stelle Gottes bzw. der Muse treten die Propheten - so habe Nereus sogar noch vor Jupiter Lieder ge‐ sungen (vv. 199-202) -, die Papyrusrolle (papyri) ersetzt den Rhapsoden und der 214 3. Gegenentwürfe 64 Eine ähnliche Verwendung der platonischen Ringparabel findet sich beim Bologneser Humanisten Filippo Beroaldo d.Ä. Im Widmungsbrief zu seinem Properzkommentar (Bologna 1487) folgt der Schreiber der platonischen Inspirationskette, übersetzt aber ῥαψῳδός in Rückgriff auf Cic. div. 1, 34 mit grammaticus, worin sich das nämliche philologische Element von Dichterexegese und Textbetrachtung ausdrückt, das Polizi‐ anos Darstellung zugrunde liegt. Vgl. Schaefer 1977, 220-221; Krautter 1971, 34-35. Die Verknüpfung der Cicero-Stelle mit der platonischen Ringparabel hatte bereits Domizio Calderini im Vorwort der Pannartz-Ausgabe seines Silven-Kommentars (1475) herge‐ stellt (3v-4r): Ita perfecto est ut est apud Ciceronem divinitus scriptum, poetarum inter‐ pretes ad eorum furorem divinitatemque quam proxime accedere, id quod ante eum Soc‐ rates apud Platonem cum Ione ut opinor eloquentissime disserendo penitus constituerat et affirmaverat. Vgl. Coppini 1998, 150-153; dies. 2013, 326-329. 65 Comparatio sumpta ex Platone in rem diversam. Ille enim ait bonos poetas ita omnes furore divino attrahi, ut ferrum a magnete lapide [Ion 533d-e]; Policianus autem per licentiam, quae poetae conceditur, dicit ex uno Homero ceteros poetas pendere, veluti ex lapide mag‐ nete dependent complures annuli ferrei. (Perosa 1994, 8-9). Zuhörer wird vom Leser (legens), der seinerseits der künftige Dichter ist, abge‐ löst. 64 In der Ambra war in ganz ähnlicher Weise dichterische Inspiration ursächlich von einem vates vermittelt worden, der mit dem höchsten Gott auf einer Stufe steht. Wie ein Magnetstein eiserne Ringe anzieht und seine Kraft auf diese überträgt (Poliziano verwendet für die Übertragung das Verb aspirare), so hängt der sacer impetus, der göttliche Antrieb aller Dichter, einzig an Homer (Ambra 14-17): Utque laboriferi ferrum lapis Herculis alte erigit, et longos Chalybum procul implicat orbes vimque suam aspirat cunctis, ita prorsus ab uno impetus ille sacer vatum dependet Homero. Und wie der Stein des Strapazen ertragenden Hercules das Eisen hoch emporhebt und weithin lange Metallringe aneinander kettet und seine Macht allen einflößt, so hängt die göttliche Begeisterung der Dichter einzig an Homer. Petreio hat im Kommentar zur Ambra des Meisters die Änderung am platoni‐ schen Substrat dichterischer Freiheit zugeordnet. 65 Poliziano erlaubt sich jedoch an dieser Stelle weit mehr als das, und zwar nichts weniger als eine fundamentale Veränderung der platonischen Vorlage. Selbst der furor wird nicht von Gott ein‐ geflößt, sondern vom Maeonides magnus: Sämtliche Dichter tränken ihre fu‐ rores, ihren Dichterwahnsinn, direkt an der ‚Quelle‘, d.h. am griechischen Dich‐ terfürsten (8-13). Mit einem weiteren wohlbekannten Vergleich aus der antiken Tradition wird derselbe Gedanke an späterer Stelle in der Ambra nochmals aus‐ gedrückt: Der höchste Dichter sei Homer, und wie ein Ozean durch seine Flüsse 215 3.2. Polizianos Nutricia und die neuplatonische Dichtungslehre 66 Quint. inst. 10, 1, 46: Hic [Homerus] enim, quem ad modum ex Oceano dicit ipse amnium fontiumque cursus initium capere, omnibus eloquentiae partibus exemplum et ortum dedit. Ebd. 51: Verum hic omnis sine dubio et in omni genere eloquentiae procul a se reliquit, epicos tamen praecipue, videlicet quia durissima in materia simili comparatio est. 67 Vgl. hierzu Marek 1999, 22-26. 68 Vgl. Jauß 1970, 169 über den geschichtsbildenden Rezeptionscharakter des Lesens: „Denn auch der Kritiker, der sein Urteil über eine Neuerscheinung fällt, der Schrift‐ steller, der sein Werk angesichts der positiven oder negativen Normen eines vorange‐ gangenen Werkes konzipiert, und der Literarhistoriker, der ein Werk in seine Tradition einordnet und geschichtlich erklärt, sind erst einmal Leser, bevor ihr reflexives Ver‐ hältnis zur Literatur selbst wieder produktiv werden kann. Im Dreieck von Autor, Werk und Publikum ist das letztere nicht nur der passive Teil, keine Kette bloßer Reaktionen, sondern selbst wieder eine geschichtsbildende Energie.“ die Erde befruchtet, so befruchte der Reiz der Papyrusrollen (chartae) Homers durch alle Zeiten hindurch den Geist der Menschen (vv. 476-480): Utque parens rerum fontes et flumina magnae suggerit Oceanus terrae, sic omnis ab istis docta per ora virum decurrit gratia chartis; hinc fusa innumeris felix opulentia saeclis ditavit mentes, tacitoque infloruit aevo. Und wie der Ozean, Vater aller Dinge, die weite Erde mit Quellen und Flüssen nährt, so fließt die ganze Anmut von diesen Blättern herab durch die Münder gelehrter Männer. Ihr Reichtum befruchtete in unzähligen Jahrhunderten das Denken der Men‐ schen und blühte stets im stillen Lauf der Geschichte. Die lexikalische und inhaltliche Nähe der beiden Passagen der Ambra zur Dar‐ stellung der Nutricia ist evident. Sind es dort die papyri, an denen man sich lesend inspirierte, sind es in der Ambra die chartae Homers. Für die Vorstellung Homers als Beginn der Literaturgeschichte kann ein Text verantwortlich ge‐ macht werden, der Poliziano, wie gesehen, bestens vertraut war. Im 10. Buch der Institutio oratoria hatte Quintilian Homer gleichzeitig als Anfangs- und Gip‐ felpunkt und buchstäblich als Ozean bezeichnet, von dem sämtliche amnes und fontes der Literatur ihren Ausgang nähmen. 66 Die Kette, in welcher die Dichter seit Homer stünden, werde zusammengehalten von imitatio und, als notwen‐ diges Komplement, ohne welches nichts hinzugewonnen würde, aemulatio. 67 Dieser rezeptions- und produktionsästhetische Ansatz schlägt sich in der Nut‐ ricia in der Betonung des Lesens als Voraussetzung für das Fortbestehen der Dichterkette nieder. Der künftige Dichter ist allererst Leser, die Papyrusrolle gibt ihm die Ideen zum eigenen, die literarische Produktionskette fortsetzenden Beitrag ein: 68 Die göttliche Inspiration wird durch menschliche Imitation ersetzt. 216 3. Gegenentwürfe 69 Godman 1993, 177-190. Ebd. 188-189: “Each genre is accordingly portrayed in terms of its exponents whose works, mentioned selectively and allusively, are mingled with de‐ tails of their biographies.” Ebd. 189: “‘Imitatio’ and ‘aemulatio’ lend life to Poliziano’s dual system.” Vgl. hierzu auch Guest 2007, 27-31. 70 Praefatio in Suetoni expositionem 501 (Poliziano 1553); Übersetzung Schön‐ berger / Schönberger 2011, 108. Hierzu Leuker 1997, 134-137. Der sich anschließende Dichterkatalog, der Hauptteil der Nutricia, bestätigt den Befund und bringt die platonische Basis des Gedichts vollends zum Einsturz: Peter Godman hat als hauptsächliches Strukturmerkmal der Literaturgeschichte der Nutricia auf den Dualismus von Gattung und Biographie hingewiesen; das die Kette verzahnende Moment ist, wie bei Quintilian, die lebhafte Bezogenheit der Dichter aufeinander durch imitatio und aemulatio. 69 Als Beispiel für Neid und Rivalität als ‚gattungskonstituierende‘ Elemente führt Godman die Be‐ schreibung Lucans an, wo sich Vergil in Furcht um seine Siegespalme torvo ore (v. 509) nach dem jüngeren Epiker umblickt. Bereits dieses (leicht multiplizier‐ bare) Beispiel zeigt, dass längst andere Kategorien die Dichterkette verbinden: An die Stelle göttlicher Inspiration treten Neid und Wettbewerb. Damit wird die Vorstellung einer von der Antike bis in die Gegenwart sich explizierenden gött‐ lichen Wahrheit, einer prisca theologia, für die Dichtung negiert. Das geschicht‐ liche Moment wird nicht als Träger einer göttlich determinierten Vorsehung definiert, sondern als dynamisches und kontingentes Prinzip einer sich entwi‐ ckelnden Historie. Später wird sich Poliziano dem Problem der Geschichtlichkeit von Dichtung nochmals widmen und dabei eine Rangordnung behaupten, die einer Grund‐ prämisse der aristotelischen Poetik widerspricht. Während Aristoteles den hö‐ heren Wahrheitsanspruch der Dichtung gegen die Geschichtsschreibung ins Feld geführt hatte, da jene Allgemeingültiges, diese aber nur das Besondere auf‐ zeichne (Poet. 9, 1451a-b), sieht der Florentiner in seiner Praefatio in Suetoni expositionem (1490/ 91) die Geschichtsschreibung, zu welcher er auch die Bio‐ graphie zählt, als der Dichtung überlegen an: 70 Iam nec poeticen quidem, si ad gloriam spectes, ulla ex parte cum historia contuleris, quippe cui aut omnino fides abrogetur aut tum denique habeatur, cum sese maxime ad historiae imitationem conformet. Et is haberi summus poetarum debet, qui quam facillime quorum velit auditoribus faciat fidem. Quapropter et Musae quoque ipsae apud Hesiodum in libro eo qui de deorum generatione inscribitur, ad hunc fere modum de se praedicant […]: Scimus falsa quidem narrare simillima veris, Scimus item, quoties libitum est, et vera profari. 217 3.2. Polizianos Nutricia und die neuplatonische Dichtungslehre 71 Zum Konzept der Singularität bei Poliziano vgl. Godman 1993, 155-177. Man darf nun, was den Ruhm angeht, die Dichtung mit der Historie in keiner Hinsicht vergleichen. Entweder nämlich muss man der Poesie alle Glaubwürdigkeit absprechen oder ihr nur dann vertrauen, wenn sie sich der Geschichtsschreibung so weit wie möglich annähert. Auch muss jener als bester Dichter gelten, der seine Hörer mit Leichtigkeit alles, was er will, glauben machen kann. Deshalb verkünden bei Hesiod die Musen in dem Werk, das „Ursprung der Götter“ heißt, etwa Folgendes von sich […]: „Wir vermögen es, Falsches ganz ähnlich dem Wahren zu sagen, doch wir können auch, wenn wir es wollen, die Wahrheit verkünden.“ [Theog. 27-28] Es ist bezeichnend und konsequent für Polizianos an seiner Literaturgeschichte evident gewordenes geschichtsphilosophisches Verständnis, dass er den grö‐ ßeren Wahrheitsgehalt im singulären geschichtlichen Ereignis sieht, da dieses von der Lüge nicht berührt werden könne. 71 Er spielt das hesiodische Diktum gegen die Dichtung aus und beschränkt die Aufgabe des Dichters auf das audi‐ toribus fidem facere, was nichts anderes bedeutet als den Zuhörer von einer subjektiven Wahrheit zu überzeugen und daher rhetorischer Natur ist. Die Vor‐ stellung, dass ein Dichter die rhetorische Kunst der Affekterregung zu beherr‐ schen habe, ist im Zitat einmal mehr greifbar. Die Schwachstelle der Dichtung aber wird bei Poliziano nun gerade das, woran die frühhumanistische und neu‐ platonische Gelehrtenriege von Florenz als unverrückbares Faktum festgehalten hatte: ihr Wahrheitsanspruch. Wenn Poliziano zu einer solchen Herabwürdigung der Dichtung, deren hauptsächlicher Exponent für ihn ja stets sein Homer war, in der Lage ist, so nötigt dies eine Erklärung ab. Homer ein Lügner? Wohl kaum. Man erkennt indes im Theorie-Praxis-Dilemma der Nutricia die Kluft zwischen platonischer Dichtungslehre und dem pragmatischeren Dichtungsverständnis Polizianos, die von einer Stilisierung und Inszenierung nicht überwunden werden kann: Poli‐ ziano akzeptiert für die Dichtung - auch für die homerische - eben nicht das ficinianische Dogma einer sich in langen Prophetenreihen explizierenden gött‐ lichen Wahrheit, sondern sieht sie als historische Dokumente, deren Zustande‐ kommen vom Nachahmungseifer des jeweils nächsten Dichters abhängig ist. In ihrer geschichtlichen Dimension liegt der Grund, warum Dichtung eben nicht vom Philosophen, sondern nur vom umfassend gebildeten Philologen erklärt werden kann. Der literaturgeschichtliche Gedanke liegt freilich auch Polizianos eigener dichterischer Produktion wesentlich zugrunde. Darin kommt die Vorstellung von Sprache zum Tragen, die in den Auseinandersetzungen mit Cortesi und Scala um den eigenen Stil verfochten wurde. Indem ein Dichter als vom anderen 218 3. Gegenentwürfe 72 Epist. 8, 16 an Cortesi (Poliziano 1553, 113). 73 Bezner 2005, 353-356. abhängig betrachtet wird und der jeweils spätere Elemente des früheren in sich aufnimmt, entsteht eine sich stetig bereichernde Dichtersprache. Die Imitation nur eines Modells verfehlt daher notwendigerweise die geschichtliche Dimen‐ sion der Sprache. Drei Ingredienzen, so Poliziano an Cortesi, sicherten einen den Alten würdigen Stil: recondita eruditio, multiplex lectio, longissimus usus. 72 Der Impuls zu einer solchen Auffassung von Sprache geht von Quintilians For‐ derung einer eklektischen Nachahmung aus. Bereits Valla hatte unter Rückgriff auf Quintilian die Vorstellung des ‚Funktionierens‘ von Sprache entwickelt, wo an die Stelle der Nachahmung eines Modells ein Bewusstsein tritt, das Sprache als ahistorisches System der Kommunikation und der Bezeichnung der Welt begreift. 73 Wie Quintilians Redner auf Werke unterschiedlichster Zeiten, Genera, Stilebenen zurückzugreifen hat, um seinen Stil zu formen und den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen, so muss auch der renaissancezeitliche Autor, um wirkungsvoll zu sein, eine Fülle von Stilmustern nachahmen. Indem Poliziano seine Konzeption von Geschichtlichkeit, Sprache und Nach‐ ahmung in den Nutricia an ein zentrales platonisches Theorem anknüpft, sucht er dieses für seine Zwecke zu vereinnahmen. Das höchste Lob der Dichtung - ihre Göttlichkeit - läuft aus in eine Imitationsästhetik, die mit irdischen Kate‐ gorien von Neid und Überbietungsdrang zwischen den Dichtern zu erklären ist. Die Vereinnahmung und Reinterpretation prominenter poetologischer Theorien für die eigene Sache ist ein Vorgehen, das bereits in der ingenium-Konzeption der Statius- und Ovidkommentierung sichtbar geworden war. Hier nun tritt sie aus der relativen Anonymität des Commento heraus in die Öffentlichkeit und bereitet so die Polemik der späteren Jahre vor. Die Nutricia polemisch zu nennen, wäre insofern falsch, als sie keinen ausgesprochenen polemischen Adressaten haben und keine unsachlichen Angriffe führen. Der Streitpunkt allerdings - der unversöhnliche Gegensatz von metaphysischer Inspirations- und rheto‐ risch-philologischer Imitationslehre - ist nun öffentlich benannt. 219 3.2. Polizianos Nutricia und die neuplatonische Dichtungslehre 1 Pol. Misc. 1 in fine (Poliziano 1553, 310): Postea vero rebus aliis negotiisque prementibus, sic ego nonnunquam de philosophia, quasi de Nilo canes, bibi fugique, donec reversus est in hanc urbem maxime Laurentii Medicis cum benevolentia, tum virtutis et ingenii simi‐ litudine allectus, princeps hic nobilissimus Ioannes Picus Mirandula [...] me instituit ad philosophiam, non ut antea somniculosis, sed vegetis vigilantibusque oculis explorandam, quasi quodam suae vocis animarer classico. Picos Rückkehr fällt auf das Jahr 1488, nachdem er von Lorenzo aus französischer Gefangenschaft freigekauft worden war (Leuker 1997, 10), doch lässt der historische Befund das ‚Konversionserlebnis‘ Polizi‐ anos eher als adulatorische Huldigung denn als historisches Faktum erscheinen. Bereits in den Jahren 1483-1485 ist eine Interessensverschiebung hin zur Beschäftigung mit philosophischen Texten bemerkbar; vgl. Cesarini Martinelli 1996, 480-481. 2 Cesarini Martinelli 1996, 480: “Con l’inizio dei corsi su Virgilio epico e su Omero si assiste, credo, a una svolta. Poliziano non vuole più distinguersi, ma confrontarsi con la cultura fiorentina sul versante critico e filosofico, proponendo la lettura ideologica dei ‘grandi poeti’ nello sfondo di una lettura ideologica che si ispira largamente a Ficino e alla cultura neoplatonica, anche se l’umanista non rinuncia ai propri peculiari stru‐ menti critici, particolarmente agguerriti sul piano filologico.” 3 Epist. 2, 10 (Butler 2006, 118-120). Der Brief trägt kein Datum, Donàs Antwortbrief allerdings ist auf den 8. Juni 1485 datiert. Zum Brief Bettinzoli 2009, 122; 135-137. 4. Angriff des Exegeten Der Ausbruch des Konflikts, den Poliziano letztlich bewusst herbeiführte, ließ nicht mehr lange auf sich warten. In die zweite Hälfte der 1480er Jahre fallen die von Poliziano in der Rückschau der Miscellaneorum Centuria prima von 1489 selbst so bezeichneten Wendejahre hin zur Philosophie. 1 Es sind dieselben Jahre, in denen Poliziano eine neuerliche intensive Beschäftigung mit dem Werk Ho‐ mers entfaltete und wohl jährlich eine Vorlesung zu Ilias oder Odyssee hielt. 2 Es ist daher kaum verwunderlich, dass eine Perspektive an Bedeutung gewinnt, die neben den Dichter Homer und die Anschaulichkeit seiner Darstellung den Phi‐ losophen Homer treten lässt. Dies hat den nachweisbaren Grund in der pole‐ mischen Stoßrichtung des Schaffens Polizianos, die das Charakteristikum be‐ reits der späteren 80er Jahre ist und in den 90er Jahren ihre sichtbarsten Ausformungen erfährt. Den Beginn der polemischen Phase markiert Poliziano in einem Brief aus dem Jahr 1485 selbst, wo er sich zunächst als magnetisch angesteckt von der humanitas Picos, Ermolao Barbaros und des Briefempfängers Girolamo Donà stilisiert: 3 An scilicet te fugit indulgendum hoc mihi quicquid est furoris, vel quod omnis paulo humanioris iuxta adamo […], vel quod tibi quoque non abhorrens videor a Musis, 4 Unrichtige Übersetzung des letzten Teilsatzes bei Butler 2006, 120-121: “[…] I am al‐ ready giving the finger not only to the rabble and the schoolmasters, but even to the philosophers. Not even Plato is spared - unless he be the Florentine one.” Den Fehler wies Bettinzoli 2009, 135-136 Anm. 53 nach. Im Zitat bedeutet sed zur nachdrücklichen Bestimmung eines vorausliegenden Begriffs ‚und zwar‘, was also Ficino explizit in die Polemik einschließt. 5 Cesarini Martinelli 1996, 476-478. Picoque item ipsi, et fortasse Hermolao, triumviris scilicet literariis? Qui si me vel tantillum probatis, iam nunc medium ostendo digitum, non popello tantum et litera‐ toribus, sed philosophis adeo ipsis, ne excepto quidem Platone, sed Florentino. Oder ist es dir vielleicht entgangen, dass ich mich in diese wie auch immer geartete Form des Wahnsinns fügen muss, entweder weil ich jeden lieb gewinne, der auch nur etwas kultivierter ist […], oder weil ich dir nicht ganz den Musen abgeneigt erscheine und ebenso wenig dem Pico und vielleicht auch nicht dem Ermolao, d.h. den Drei‐ männern der Gelehrtenrepublik? Wenn ihr mich auch nur ein wenig schätzt, so zeige ich schon jetzt den Mittelfinger, und zwar nicht nur dem Pöbel und den Schulmeistern, sondern selbst den Philosophen, und nehme dabei nicht einmal Platon aus, und zwar den florentinischen. 4 Wiewohl Poliziano noch immer auf dem Lehrstuhl für Poetik und Rhetorik saß, wandte er sich in den Vorlesungen der 90er Jahre besonders philosophischen Werken zu, allen voran den Schriften des Aristoteles. So las er im akademischen Jahr 1490/ 91 die Nikomachische Ethik (vielleicht auch die Physik), 1491/ 92 die Kategorien, Peri hermeneias sowie die Sophistikoi elenchoi, 1492/ 93 die Erste Ana‐ lytik, 1493/ 94 die Zweite Analytik sowie die Topik. Das Lehrdeputat komplet‐ tierten Vorlesungen über Sueton, Quintilian, Porphyrios, Gilbert von Poitiers, Ciceros Tusculanen und Ovids Amores. 5 Die Wahl der Themen forderte den Unmut der philosophisch ausgebildeten Kollegen heraus, die in ihm einen ad‐ rogans sahen, der sich fachfremden Bildungsgutes bediene, ohne ein Fachmann zu sein. In die letzten fünf Lebensjahre fallen ferner seine großen theoretischen Streitschriften, allen voran die Lamia, in denen er als Polemiker schärfster Prä‐ gung sämtliche Register der Profilierung und Selbstinszenierung zog. Die aus einem apologetischen Impuls hervorgehende Polemik ist in ihren wesentlichen Bahnen bereits in den beiden letzten größeren Besprechungen seines Homer, der hexametrischen prolusio Ambra und der Oratio in expositione Homeri, vor‐ gezeichnet. Die beiden Panegyriken, die in den Jahren 1485/ 86 entstanden, fallen zeitlich mit Polizianos Brief an Donà zusammen und markieren somit den Be‐ ginn der polemischen Phase. 221 4. Angriff des Exegeten 6 Ambra, praef. (Bausi 1996, 101). In beiden Stücken wird Homer zum höchsten Philosophen stilisiert. Dass sich Poliziano jeweils zu Beginn auf seine Wurzeln beruft, ist der Clou der Autori‐ sierung des philosophischen Homer. Im Schutz der Dichtungsexegese wählt Po‐ liziano seinen Homer zum Mittler, um in Grenzstreit mit den Philosophen zu treten. Dass Poliziano hierfür auf das weiland abgelehnte Instrument der Alle‐ gorese sowie auf die Lehre von der göttlichen Inspiration zurückgreift, ist einer Vereinnahmungsstrategie geschuldet, wie sie sich etwa in den Nutricia im Schlagwort der Dichtung als auriga mentis ausdrückt: In dem Moment, in dem er zum Angriff auf die Platoniker anhebt, also als adrogans deren Gebiet betritt, sucht er sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Dass Polizianos Erhebung Homers zum philosophus nur vorübergehender Natur ist, erhellt aus den pole‐ mischen Schriften der letzten Jahre, insbesondere aus der Lamia, wo sich Poli‐ ziano aus dem Schatten der Dichtererklärung hervorwagt und unverhohlene Kritik an der philologischen und exegetischen Texterschließung seiner philo‐ sophischen Kollegen übt. Im Folgenden sollen die rhetorischen und argumentativen Strategien der Ambra und der Oratio herausgearbeitet werden, die Poliziano wählt, um im Schatten Homers die scharfen Angriffe der letzten Jahre vorzubereiten. 4.1. Als Homeride in den Kampf - Ambra und Oratio in expositione Homeri 4.1.1. Ich, homericus adulescens Bereits in der kurzen Zueignung der Ambra an den Freund und Schüler Lorenzo Tornabuoni vom 4. November 1485 inszeniert Poliziano eine homerische ‚Schule‘ (secta), zu welcher er sich selbst und den Widmungsempfänger rechnet: Debetur haec silva tibi […], nam et Homeri studiosus es quasique noster consecta‐ neus. 6 Die Behauptung einer homerischen Schule ist eine freimütige Kreation des homericus adulescens, der sich auch rund zehn Jahre nach Beendigung seiner jugendlichen Ilias-Übersetzung als rechtmäßiger Jünger des griechischen Dich‐ ters sieht und dieses Gebiet für sich reserviert, wobei er erlesene ‚Mitschüler‘ in seinen Kreis aufnimmt. Deutlicher wird die Stilisierung zum rechtmäßigen Nachfahren Homers in der prosaischen Variante des Homerlobs. Am Beginn der Oratio in expositione Homeri wiederholt Poliziano den seit der Antike traditionellen Preis Homers als Archegeten sämtlicher Wissenschaften und geistigen Vater aller Genies, und 222 4. Angriff des Exegeten 7 Oratio 1 (Megna 2007, 3, 1-6). 8 Oratio 1 (Megna 2007, 3, 6-10) (Hervorhebungen d. Vf.); Übersetzung nach Schön‐ berger / Schönberger 2011, 73. unterrichtet die Hörer von der unerfüllbaren Aufgabe, Lobredner Homers zu sein: Keine noch so große Redegabe würde hinreichen, Homer angemessen zu preisen, der Größe des Gegenstands gerecht zu werden oder dem Urteil des so überaus gebildeten Publikums standzuhalten. 7 Hiermit sind, im demütigen Gestus der captatio benevolentiae, drei Bestandteile des rhetorischen Geschehens (Redner, Gegenstand, Publikum) bezeichnet, die der Redner im Folgenden ge‐ nauer spezifiziert: 8 Nam e t e g o is sum, qui ab ineunte adolescentia ita huius eminentissimi poetae studio ardoreque flagraverim, ut non modo eum totum legendo olfecerim paeneque contri‐ verim, sed iuvenili quodam ac prope temerario ausu vertere etiam in latinum tenta‐ verim. Ich nämlich bin derjenige, der seit frühester Jugend so sehr von Eifer und Begeisterung für diesen überragenden Dichter glühte, dass ich ihn nicht nur ganz studierte, ihn erforschte und das Buch beinahe zerlas, ja, es in jugendlichem, fast leichtfertigem Wagemut sogar ins Lateinische zu übersetzen suchte. Zunächst erwähnt Poliziano seine jugendliche Begeisterung für Homer, das ‚Zerlesen‘ der homerischen Werke sowie die über ein Jahrzehnt zurückliegende Ilias-Übertragung, wobei er - scheinbar freimütig - gesteht, dass diese im ju‐ gendlichen Überschwang entstanden sei. Wenn die Ilias-Übersetzung aber le‐ diglich als Produkt kindlichen Leichtsinns abgetan werden soll, warum wird sie überhaupt erwähnt? Mit der Rechenschaft über seine frühen Homerstudien verbindet sich eine wohlkalkulierte rhetorische Strategie des Redners: Poliziano ruft dem Publikum seine unter den Zeitgenossen vielgerühmte Ilias-Überset‐ zung in Erinnerung, womit zugleich der Ehrentitel des homericus adulescens, den ihm Ficino früh verliehen hatte, assoziiert worden sein dürfte. Im Kopf des Zu‐ hörers soll das Bild eines Mannes entstehen, der Homer schon als Kind in- und auswendig kannte und der es furchtlos gewagt hat (auch dies suggeriert Poli‐ zianos Semantik: temerario ausu), ihn ins Lateinische zu übersetzen. Unter dem Deckmantel obligatorischer Demut, die ein Proöm erfordert, ruft Poliziano seinen Hörern zu: I c h bin derjenige, der Homer erklären kann! Wie stolz der Gelehrte zeitlebens auf seine Ilias-Übersetzung gewesen war, erhellt etwa auch aus der Coronis der 1489 erschienenen Miscellaneorum Centuria prima, wo bei der Rekapitulation seiner intellektuellen Biographie als einziges Werk der 223 4.1. Als Homeride in den Kampf - Ambra und Oratio in expositione Homeri 9 Misc. 1 in fine (Poliziano 1553, 310): Etenim ego, tenera adhuc aetate, […] dabam quidem philosophiae utrique operam, sed non admodum assiduam, videlicet ad Homeri poetae blandimenta natura et aetate proclivior, quem tunc latine quoque miro, ut adulescens, ardore, miro studio versibus interpretabar. Hierzu Leuker 1997, 8-10. 10 Oratio 2 (Megna 2007, 3, 10-4, 3); Übersetzung nach Schönberger / Schönberger 2011, 73. 11 Vgl. zu den Vorgängern Kap. A.1.1. 12 Oratio 2 (Megna 2007, 4, 3-12); Übersetzung Schönberger / Schönberger 2011, 73. frühen Schaffensphase die Ilias-Übersetzung genannt wird. 9 In direktem An‐ schluss an das obige Zitat wechselt der Redner die Perspektive und wendet sich seinem Gegenstand zu: 10 e t i s, de quo mihi agendum hoc tempore est, tantis abundat tamque egregiis laudibus ut, cum sit semper a laudatissimis quibusque certatim laudatus, adhuc tamen paene etiam illaudatus videatur. Und der, über den ich jetzt sprechen soll, besitzt eine derartige Fülle herrlicher und großartiger Vorzüge, dass er immer noch beinahe ungerühmt erscheint, obschon ihn die anerkanntesten Geister stets um die Wette feierten. Auf den ersten Blick liest sich Polizianos Darstellung auch hier wie eine veritable captatio, die das Recht einfordert, ebenso wie die anderen Lobredner an der Größe des Gegenstands scheitern zu dürfen. Durch auffällige Häufung (lau‐ dibus, a laudatissimis laudatus) wird das abundante Lob, das von den vorange‐ gangenen Lobrednern über Homer ausgegossen worden sei, stilistisch greifbar gemacht und dem Urteil Polizianos, Homer sei trotz alledem noch immer bei‐ nahe illaudatus, antithetisch entgegengehalten. Die Vorgänger seien ihrer Auf‐ gabe, Homer angemessen zu würdigen, nicht gerecht geworden. 11 Bedenkt man, dass hier derjenige spricht, der sich gerade dies in seiner Rede zur Aufgabe macht, so muss der Passus trotz der Bescheidenheitstopik als verhohlene Kritik an den Vorgängern verstanden werden. Warum aber sind diese Leute geschei‐ tert, und was berechtigt Poliziano zur Hoffnung, es besser machen zu können? Dies lehrt der Blick auf den dritten Teil des Zitats, wo sich der Redner an seine Zuhörer wendet, sie direkt anspricht und eine Erklärung liefert, warum dem griechischen Dichterfürsten die rechte Anerkennung bislang versagt geblieben sei: 12 e t v o s hi estis, florentini viri, quorum in civitate graeca omnis eruditio, iampridem in ipsa Graecia extincta, sic revixerit adque effloruit ut et vestri iam homines graecam publice literaturam profiteantur, et primae nobilitatis pueri, id quod mille retro annis in Italia contigit nunquam, ita sincere attico sermone, ita facile expediteque loquantur ut non deletae iam Athenae adque a barbaris occupatae, sed ipsae sua sponte cum 224 4. Angriff des Exegeten 13 Hierzu Wilson 1992; Harris 1995; Megna 2007, 4 Anm. 4. 14 Dieser Gedanke birgt freilich eine polemische Note gegen die byzantinischen Gelehr‐ tenkollegen, so wohl besonders gegen Demetrios Chalkokondyles (vgl. Zollino 2016, XIII). proprio avulsae solo cumque omni, ut sic dixerim, sua supellectile in florentinam urbem immigrasse eique se totas penitusque infudisse videantur. Zudem seid ihr, Männer von Florenz, Leute, in deren Stadt die ganze griechische Bil‐ dung, die in Hellas selbst schon längst erlosch, so zu neuem Leben und neuer Blüte erstand, dass Mitbürger von euch bereits öffentlich griechische Literatur lehren und die Söhne des höchsten Adels (das gab es seit tausend Jahren in Italien nicht mehr) leicht und fließend reines Attisch sprechen; so möchte man meinen, Athen sei nicht mehr zerstört und von Barbaren besetzt, sondern es habe sich aus eigenem Antrieb samt seinem Mutterboden losgerissen, sei mit allem Hab und Gut (wenn man so sagen darf) nach Florenz übergesiedelt und habe sich dort völlig eingebürgert. Erst jetzt, da die gesamte griechische Bildung in einer beispiellosen translatio studii von Athen nach Florenz gewandert sei und die Florentiner den höchsten Bildungsstand in der italienischen Geschichte seit tausend Jahren erreicht hätten, sei ein vertieftes Verständnis griechischer Sprache und Literatur mög‐ lich. Was Poliziano mit der griechischen Bildung in italienischen Landen meint, ist klar. Freilich sind die griechischen Gelehrten nicht direkt aus Athen einge‐ wandert, sondern haben gewissermaßen den Umweg über Byzanz genommen: Die Einwanderungswelle byzantinischer Gelehrter, die sich an die Eroberung von Konstantinopel 1454 anschloss, bedingte die Etablierung und Gräzisierung italienischer Bildungszentren wie Florenz. 13 Wie sich diese Gräzisierung äußert, setzt Poliziano sogleich hinzu: Einige ‚von euch‘, also der Florentiner Bildungs‐ elite, lehrten bereits öffentlich griechische Literatur und die höchsten Adels‐ sprosse sprächen Griechisch - eines ist gewiss: Die Beschreibung passt genau auf den, der sie gibt. Öffentliche, d.h. akademische Exegese antiker griechischer Literatur ist grundlegender Bestandteil der Lehre des Professors für Rhetorik und Poetik, und als Prinzenerzieher am Hof Lorenzos hatte Poliziano dessen Sohn Piero in den klassischen Studien unterwiesen. Und hatte nicht der Redner selbst den Umgang mit griechischer Literatur von einem Byzantiner, Andro‐ nikos Kallistos, gelernt, dessen exegetische Methode er selber in seinen Kom‐ mentaren zur Anwendung brachte? Poliziano verfasst seine Homer-Rede mit dem Stolz und im Bewusstsein, vorzüglicher Repräsentant dieser neuen Bil‐ dungselite zu sein und als solcher die byzantinisch-griechische Bildungshoheit übernommen und auf sich vereinigt zu haben. 14 Unter der translatio griechischer Bildung nach Florenz dürfte Poliziano auch konkrete Hilfsmittel in Form grie‐ 225 4.1. Als Homeride in den Kampf - Ambra und Oratio in expositione Homeri 15 So schrieb etwa Guillaume Budé: Politianus […] non erubuit id opus pro suo edere, in quo nullam praeterquam transcribendi ac vertendi operam navaverat (Annotationes in Pan‐ dectas, Opera omnia 3, 212, Basel 1557, zit. bei Hillgruber 1994, 78). Hierzu ebd.; Megna 2007, XXXIX-XLVI (v.a. zur Polemik des Giano Lascaris). 16 Oratio 11 (Megna 2007, 11, 13-13, 2). chischer Sekundärliteratur verstanden haben, die es erst dem zeitgenössischen (des Griechischen mächtigen) Gelehrten erlaubten, sich an die Erklärung der homerischen Epen zu wagen. Sekundärliterarische ‚Hilfsmittel‘ wie die pseu‐ doplutarchische Schrift De Homero waren für die interpretatorische Erschlie‐ ßung eines antiken Textes von essentieller Bedeutung. So sind es eben die spät‐ antiken griechischen Traktate über Homer, vornehmlich die Vita Homeri Herodotea und De Homero, aus welchen Poliziano in seiner Rede so großzügig ‚zitierte‘, dass man ihn des Plagiats geziehen hat. 15 4.1.2. Homerus philosophus Die Oratio hat zum Ziel, das traditionelle Wort von Homer als Quell aller Künste und Wissenschaften möglichst umfänglich zu bestätigen. Bei der Besprechung der umfassenden Bildung Homers zeigt Poliziano den griechischen Dichter als odysseushaften Wanderer, der von Tag zu Tag sein Wissen vermehrt und sich auf diese Weise ein ‚vielfältiges Weltwissen‘ (multiplex rerum peritia) erwirbt. Durch Lernbegier und stetige Wissensaneignung wird er durch seine Dich‐ tungen zum Erzieher der Menschen, zur Keimzelle sämtlicher Wissenschaften und zum Zeichner des menschlichen Lebens. 16 Homers Beschlagenheit auf sämt‐ lichen Gebieten wird in der Folge so genau wie möglich - bzw. so genau dies die verwendeten Quellen zuließen - nachvollzogen. An die Frage nach dem Geburtsort und der Scheidung der ernstzunehmenden Dichtungen (iusta opera) Ilias und Odyssee von den ‚Spielereien‘ (lusus) wie der Batrachomyomachie oder dem Margites hebt Poliziano mit der Besprechung des Stils an (15-17), wozu er das Kapitel 2, 72 aus De Homero heranzieht. Der anschließende Teil ist der weitaus längste und behandelt Homers Einflüsse auf die Philosophie (18-62). Hierbei expliziert Poliziano zunächst Homers Kenntnis der elementaren Natur‐ philosophie (18-20), der Kosmologie (21-23), Astronomie (24), der Naturer‐ scheinungen wie Erdbeben und Sonnenfinsternis und der Meteorologie (25-30). Anschließend wird Homer als Theologe vorgestellt, der über das Wesen der Götter (31-33), über Vorsehung (34) und den Zusammenhang von Schicksal und freiem Willen (35) Bescheid wisse. Es folgt die Besprechung der homerischen Seelenlehre, die diejenige des Pythagoras, Platon, Aristoteles und der Stoiker vorweggenommen habe (36-39). Im Folgenden wird der Dichter als Archeget 226 4. Angriff des Exegeten 17 Hierzu Megna 2007, LXV-LXVI. 18 Oratio 63 (Megna 2007, 56, 12-58, 25); Quint. inst. 10, 1, 46-51. der Affekt- (40-45) und Tugendlehre (46-51) gerühmt. In den Kapiteln 52-56 werden einige wissenschaftliche Disziplinen erörtert, die an die pythagoreische Philosophie geknüpft werden und damit philosophische Grundierung besitzen. Pythagoreische Zahlenlehre wird Homer zugeordnet, der selbst Rechenexempel aufgestellt habe (52-54), und auch die Musik nehme vom Dichter ihren Anfang (55). Es folgt eine knappe Skizze der Philosophen, die von Homer zur Begrün‐ dung ihrer Philosophie angeregt worden seien, so Demokrit, Epikur, Aristipp; genannt werden ferner die skeptische und die pyrrhonische Schule (57-60). Ka‐ pitel 61-62 sehen in den homerischen Epen die Vorwegnahme philosophischer Apophthegmata und Gnomen, wie sie etwa den sieben Weisen zugeordnet wurden. Schließlich verlässt Poliziano philosophisches Gebiet und behandelt Homers grundlegenden Einfluss auf Rhetorik und Recht (63-66), die Darstellung unterschiedlicher gesellschaftlicher Lebensformen, Sitten und Gebräuche, ferner die Kenntnis der unterschiedlichen Staatsverfassungen, die Betonung der Wichtigkeit der Religion, selbst familiäre Strukturen und Begräbnisriten seien bei Homer beschrieben (67-75). Homer besitze Erfahrung in Kriegskunst (76), Heilkunst (77-82), Weissagung (83-84). Er gilt als Urheber von Tragödie, Ko‐ mödie, Liebesdichtung, Epigrammatik sowie der Malerei (85-90). Schon anhand der inhaltlichen Skizze wird ersichtlich, dass Poliziano der Philosophie den breitesten Raum gewidmet hat - von den insgesamt 76 Ab‐ schnitten moderner Zählung (15-90) entfallen allein 45 (also rund 60 Prozent) auf die Erörterung des Philosophen Homer. Dies ist nur bedingt auf die Haupt‐ quelle der Oratio zurückzuführen: Der unbekannte Autor von De Homero hatte zwar bei der Besprechung der homerischen εἴδη τῶν λόγων das Hauptgewicht ebenfalls auf die philosophische Dimension des homerischen Werks gelegt (2, 92-160), hatte in den 218 Kapiteln der Schrift thematisch aber weit mehr geboten als das, was Poliziano in der Oratio berührt. Auffällig etwa ist das Fehlen einer detaillierten Darstellung des poeta orator Homer. 17 Hier bleibt Poliziano bei all‐ gemein gehaltenen Würdigungen, ohne dass sekundärliterarische Detailbespre‐ chungen herangezogen würden. Auf die ausführliche Besprechung der öffent‐ lichen Rede bzw. der ῥηθορική τέχνη in De Homero 2, 161-199 geht Poliziano nicht ein und begnügt sich stattdessen mit der Zitation des quintilianischen Preises der homerischen Redekunst. 18 Während Poliziano an anderen Stellen weite Teile der benutzten Quellen auslässt, hält er sich im philosophischen Teil streng an die Darstellung in De Homero: Kern seiner Oratio ist der Nachweis des philosophischen Archegetentums Homers. 227 4.1. Als Homeride in den Kampf - Ambra und Oratio in expositione Homeri Auch in der Ambra wird der Fokus auf Homers Rolle als erster Philosoph gerichtet. Die Verse 513-517 reflektieren die figmentum-Doktrin, nach welcher Homer sein philosophisches Wissen verschleiert habe, woraus eine Vielzahl philosophischer Schulen hervorgegangen sei: Quidquid honorato sapiens canit ore vetustas, doctaque multiiugae post hunc divortia sectae, hinc haustum […] Was auch immer das weisheitsvolle Altertum mit ehrwürdigem Munde sang sowie die Aufspaltung in mannigfache Philosophenschulen nahm von ihm den Ausgang. Der griechische Dichter wird also in den beiden panegyrischen Texten, die ihm Poliziano widmet, vor allem als allegorisch verbrämender philosophischer Weiser gerühmt - die übrigen disciplinae werden nur marginal behandelt. Dies ist ein Umstand, der weder mit Polizianos poetologischem Credo - Homer diente eben nicht vordergründig als Allegorist göttlicher Offenbarung, sondern als en‐ zyklopädischer Dichter - noch mit seinem Anspruch als philologischer Dich‐ terexeget ohne Weiteres in Einklang zu bringen ist. Die Aktivierung des alle‐ gorischen Potentials der homerischen Dichtung, d.h. die Rezeption der Vorstellung Homers als eines poeta philosophus, ist freilich nicht einem Gesin‐ nungswechsel bezüglich frühhumanistischer und neuplatonischer Textausle‐ gung zuzuschreiben, sondern resultiert aus dem Adressatenbezug bzw. der po‐ lemischen Stoßrichtung der Traktate. Wenn der homericus adulescens von einst und der homericus interpres von heute dem griechischen Dichter als Lehrer aller Philosophen huldigt, darf man hierin eine Zuständigkeitsbereiche in Frage stel‐ lende Gelehrtenpropaganda, einen polemischen Versuch wider die zeitgenössi‐ schen Philosophen sehen. Erhärtet wird dies durch kaum verhüllte Polemik, die der Oratio fremd ist, in der Ambra aber bildhaft ausgestaltet wird. Scharf wirkt insbesondere das Bild Homers, der auf den Flügeln seiner Epen die irdische Kleingeisterei gen Himmel verlässt, wo er unter die Götter eingereiht wird und in der neidlosen, friedvollen Stille des Überirdischen schwelgt. Er schert sich nicht um den „kriegerischen Neid, der Pfeile verschießt“, nicht um den „ab‐ scheulichen Sturm ungerechter Missgunst“, sondern thront frei und unbe‐ schadet aller Anfeindung über „Regengüssen“ und „Donnergrollen“ und blickt 228 4. Angriff des Exegeten 19 Ambra 457-466: Ergo tegunt geminae victricia tempora laurus / vatis Apollinei; geminis ergo arduus alis / fugit humo celsumque altis caput intulit astris, / par superis ipsique Iovi, quo nulla rebellis / spicula Livor agat, quo nulla aspiret iniquae / tempestas foeda Invidiae. Sic eminet extra / liber et innocuus, toto sic ille sereno / perfruitur gaudens, magni ceu purus Olympi / supra imbres vertex et rauca tonitrua surgit / despectatque procul ventorum proelia tutus. 20 In der Sylva in scabiem hatte Poliziano Demokrit als ridiculus senex (v. 131) apostro‐ phiert. 21 Zur Datierung vgl. Kap. B.4.2.1. 22 Praef. in Plat. Charm. 623, 3-9 (Hankins 1991a). hinab (despectat) auf den „Kampf der Winde“. 19 Die Wortwahl ist hier beredt: Das Verb despectare impliziert den emotiven Aspekt des Herabsehens und be‐ deutet zugleich ‚verachten‘. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Naturphä‐ nomene, die Homer aus erhöhter Position betrachtet, das weltliche - und ganz explizit: das neidische - Treiben der Menschen symbolisieren. Wer aber sind die Neider und Missgünstlinge? Die Verse 27-30 geben hier Aufschluss: Quin nudam virtutem ipsam complexus, honores fastidit vanos et ineptae praemia famae despicit, exemptus vulgo ac iam monte potitus, ridet anhelantem dura ad fastigia turbam. Ja er, der im Besitz der nackten, reinen Tugend ist, empfindet Ekel gegen nichtige Ehrenbezeigungen und verachtet den Gewinn abgeschmackten Ruhms, er, der dem Pöbel enthoben ist und den Berg schon erklommen hat, verlacht die Menge, die sich auf dem steilen Weg müht. Hier wird Homer, bereits im Besitz der ‚nackten Tugend‘, als Verächter eitler Ehr- und Ruhmgelüste gezeichnet, der die keuchende Menschenmenge, die sich am Tugendberg abmüht, von oben herab verlacht. Zugrunde liegt freilich die Vorstellung des lachenden Philosophen, wie sie prototypisch in den Memora‐ bilien um Demokrit erscheint. 20 Es liegt nahe, die sich schindenden Menschen als Philosophen zu verstehen, die vergebens nach der virtus als dem summum bonum trachten, in dessen Besitz der heitere Philosoph Homer bereits ist. Die wohl in zeitlicher Nähe entstandene 21 Vorrede zur Übersetzung des platonischen Charmides hält eine instruktive Parallele hierzu und weiteren Aufschluss über die Adressaten der Polemik bereit. Gleich zu Beginn, im ersten Satz der Vorrede, stilisiert sich Poliziano zum scharfsichtigen Anthropologen, der das ‚erbärm‐ liche‘ (miseratione dignissimum) Treiben der Menschlein, die den Tugendpfad suchten, aufgrund falscher Zielsetzungen aber verfehlten, wie von hoher Warte aus (tamquam ex alta quadam specula) betrachtet. 22 Die Ausgangssituation ist 229 4.1. Als Homeride in den Kampf - Ambra und Oratio in expositione Homeri in beiden Texten dieselbe: Am erhöhten Ort, wo der Dichter Homer in der Ambra die nackte Tugend umgreifend nach unten blickt, befindet sich Poliziano, eben‐ falls im Besitz der ‚Glückseligkeit‘ und den Blick nach unten gerichtet: hoch oben, über die neidisch Zankenden erhaben. Zwischen Tugend (virtus) und Glückseligkeit (felicitas) unterscheidet Poliziano nicht: Es geht um die Unab‐ hängigkeit der eigenen Person von der ‚Menge‘ und um die Überlegenheit dessen, der die Höhe der Philosophie erklommen hat und im alleinigen Besitz der Weisheit ist. Die Charmides-Vorrede schenkt der Schilderung verdorbener menschlicher Verhaltensweisen breiten Raum, so freilich auch dem Neid und den aus ihm entstehenden Feindseligkeiten. Die deutlichen motivischen und thematischen Übereinstimmungen und der dezidiert philosophische Kontext der Charmides-Vorrede bekräftigen die These, dass es sich bei der keuchenden Tugendwandergruppe der Ambra (anhelans dura ad fastigia turba) um neidische Konkurrenten aus der Philosophie handelt. Klar ist auch, dass sich der ‚home‐ rische Jüngling‘ und Homer-Exeget Poliziano, der sich selbst auf den Gipfel der Erkenntnis setzte, im griechischen Dichterfürsten gespiegelt sieht: Wer Homer verstanden hat und erklären kann, der ist dessen nächster geistiger Verwandter und daher mit ihm identifizierbar. Warum aber erhebt Poliziano seinen Homer und damit sich selbst gerade über die Philosophen? Der Sinn der Inszenierung erschließt sich vor dem Hinter‐ grund der verstärkten Hinwendung zu philosophischen Studien, die Poliziano seit der Mitte der 80er Jahre betrieb. Um nicht unvermittelt auf fremdes Terrain einzubrechen, sich nicht sofort dem Vorwurf der adrogatio fremden Guts aus‐ gesetzt zu sehen, bereitet Poliziano die Polemik implizit vor, indem er sich zu‐ nächst im Schatten Homers hält. Die bald offen ausgesprochene Kritik an seinen philosophischen Kollegen wird sich gegen deren textferne und philologisch fragwürdige Exegese richten. Vor allem suchte Poliziano den Anspruch der Pla‐ toniker zu bekämpfen, die die Allegorese als rechtmäßige Auslegungsmethode begriffen und sich als wahre Deuter der Autorintention sahen. Indem Homers philosophisches Archegetentum stark gemacht wird, das nur vom enzyklopä‐ disch gebildeten Philologen richtig und rechtens zu durchschauen ist, bestreitet Poliziano den Platonikern seiner Zeit zunächst die Bedeutung ihrer Profession und ihres hermeneutischen Ansatzes. Das philologische Bekenntnis wird in den theoretischen Schriften der ausgehenden 80er und beginnenden 90er Jahre von der numinosen Gestalt des griechischen Dichters abgekoppelt und, allen voran in der Lamia, zu voller Größe ausgebaut. Zunächst aber, am Beginn der Polemik wider die Platoniker, dient Homer als Galionsfigur: Poliziano benutzt ihn als Vorkämpfer in eigener Sache und instrumentalisiert ihn als seinen geistigen Ziehvater, als welcher der griechische Dichter - ungeachtet aller polemischen 230 4. Angriff des Exegeten 23 Zum Paratext Genette 1987. Zur Bedeutung der Paratexte in Renaissance und Früher Neuzeit Enenkel 2015. Eine systematische Untersuchung zu Widmungsvorreden oder -briefen, die über Einzelbeobachtungen hinausginge, liegt für die Renaissance bislang nicht vor. Zur Widmungsvorrede des 16. Jahrhunderts Schottenloher 1953. Die Bedeu‐ tung der praefatio ist ablesbar an der Fülle moderner Editionen, die Vorreden und Wid‐ mungsbriefe italienischer Humanisten zusammenstellen; z.B. Müllner 1899; Cardini 1974 (zu Landino); Polizianos Vorreden liegen in einer Vielzahl kommentierter Aus‐ gaben vor (zuletzt Zollino 2016; vgl. Bibliografie). Vgl. auch die deutsche Übersetzung der „Vorworte und Vorlesungen“ von Schönberger / Schönberger 2011. 24 Terminologie nach Stenzel 1986. Inszenierung - ja tatsächlich verstanden werden darf. In einem Bild, das Poli‐ ziano selbst wohl gutgeheißen hätte, könnte man sagen: Auf dem Rücken des griechischen Dichterfürsten reitet der Florentiner in die Schlacht. 4.2. Die Polemik der praefationes In der Gelehrtenkultur des Quattrocento werden solche Schlachten meist münd‐ lich vom Katheder herab oder schriftlich in der Druckstube ausgekämpft. Hier kommt der praefatio die größte Bedeutung zu: Die Vorrede zu einer Vorlesung, einer Edition oder einer Übersetzung (im letzteren Falle meist eine Widmungs‐ vorrede) war der bevorzugte weil sichtbarste Ort, an dem der Gelehrte seine Meinungen zu bestimmten Frage- und Problemstellungen erörtern und auf die der Kollegen replizieren konnte. Die Vorreden wurden im Anschluss häufig se‐ parat publiziert, um ihren Einflussbereich zu erweitern; Widmungsvorreden wurden stets zusammen mit den Haupttexten gedruckt. Der Paratext in seiner Funktion als ‚Schwelle‘ zum Haupttext wurde für die Gelehrten der Renaissance zum bevorzugten Ort für den Austrag ideologischer Streitigkeiten. 23 Zunächst soll eine Vorrede untersucht werden, die als Musterbeispiel huma‐ nistischer Polemik gelten kann, wenngleich sie ihr polemisches Potential letzt‐ lich nicht entfaltet hat. Die Praefatio in Charmidem, Polizianos Widmungsvor‐ rede an Lorenzo, die er seiner Übersetzung des platonischen Charmides ins Lateinische beigegeben hatte, wurde zu seinen Lebzeiten nicht publiziert. Ge‐ rade diese Vorrede empfiehlt sich allerdings insofern einer eingehenden Ana‐ lyse, als sie in exemplarischer Manier die Struktur der polemischen Angriffe Polizianos bloßlegt: Sie definiert die Streitpunkte, die Adressaten der Polemik, die Bedeutung des Schiedsrichters (polemisches Thema, polemisches Objekt, polemische Instanz 24 ) sowie die Mittel, die Poliziano einsetzt, um sein Streitziel zu erreichen. Die Praefatio ist somit bedeutsames Zeugnis der Profilierungs‐ 231 4.2. Die Polemik der praefationes 25 Zur Vorrede Gentile 1998, 365-367; Hankins 1991, 449. 26 Eine frühe Datierung in die Jahre der Ilias-Übersetzung hatte Waschbüsch 1972 vorge‐ schlagen (die These ist widerlegt). Gentile 1998, 380 plädierte für die Jahre 1473/ 74 (in zeitlicher Nähe zur Elegia ad Bartolomaeum Fontium), Wesseling 1986, XXXI-XXXII sah Übereinstimmungen zu Lamia und Panepistemon. Hankins 1991, 449-452 datierte sie in die späten 70er Jahre. Zu den Datierungen Bettinzoli 2009, 147 Anm. 80. 27 Vgl. S. 229-230. strategie Polizianos und Spiegel der Gelehrtenkultur des Florentiner Quattro‐ cento gleichermaßen. 4.2.1. Praefatio in Charmidem: Platon wider die Platoniker Die Wichtigkeit der Vorrede im Vergleich zum eigentlichen Hauptwerk lässt sich bereits daran ablesen, dass sie in der Aldina von 1498 vier Seiten einnimmt, wohingegen die Übersetzung selbst lediglich ein Fragment von knapp drei Seiten geblieben ist. Die Praefatio hat bislang wenig Aufmerksamkeit erhalten: Von James Hankins 1991 ediert, ist ihr bislang lediglich eine eingehendere Studie aus der Feder Sebastiano Gentiles zuteil geworden. 25 Höchst umstritten ist die Datierung der Praefatio: Die Vorschläge reichen vom Beginn der Aktivität Po‐ lizianos am Hofe Lorenzos, d.h. von den frühen 70er Jahren, bis in seine letzten Lebensjahre, als er seine Streitschriften verfasste. 26 Die Schwierigkeit der Da‐ tierung resultiert insbesondere daraus, dass die Vorrede einerseits wörtliche Zi‐ tate aus dem Widmungsbrief des Andronikos Kallistos an Lorenzo enthält - dies spräche für einen frühen Abfassungszeitpunkt -, dass sie andererseits aber text‐ liche und motivische Übereinstimmungen mit den akademischen Vorreden der letzten Jahre aufweist. Im Folgenden soll die Vorrede auf ihre Aussageabsicht sowie auf die stilistischen und argumentativen Mittel untersucht werden, die in ihr zur Anwendung kommen. Auf dieser Grundlage kann schließlich eine neue Datierung vorgeschlagen werden. In der Exposition der Vorrede gibt sich Poliziano, wie gesehen, 27 als Philosoph, der wie von einer erhöhten Warte aus das Treiben der Menschen beobachtet. Es sei doch verwunderlich, so der Autor, dass es so wenige Menschen gebe, die den Pfad der Tugend als Weg zu einem glücklichen Leben wählten. Das Glück ver‐ gleicht er unter Rekurs auf ein Gleichnis im Matthäus-Evangelium (Mt 13, 45) mit einer kostbaren Perle, margarita, nach der alle Menschen strebten. Da sich die Perle jedoch nach Form, Gewicht oder Größe nicht von anderen Perlen - damit sind weltliche Güter wie Schiffe oder Viergespanne gemeint - unter‐ scheide, stritten sie gierig und neidisch um die eigenen und fremden Perlen. Das neutestamentliche Bild wird um ein homerisches Gleichnis angereichert: Das‐ 232 4. Angriff des Exegeten 28 Praef. in Plat. Charm. 623, 3-624, 48 (Hankins 1991a). 29 Praef. in Plat. Charm. 624, 48-625, 115 (Hankins 1991a). 30 Praef. in Plat. Charm. 625, 118-626, 147 (Hankins 1991a). 31 Praef. in Plat. Charm. 625, 82-101 (Hankins 1991a); Übersetzung Schönberger / Schön‐ berger 2011, 31. selbe meine Homer, wenn er vom Zauberkraut Moly handelt, dessen Wurzel zwar schwarz, die Blüte aber milchweiß sei und das von den Menschen nur mit größter Anstrengung gefunden werden könne. Im Anschluss daran wird ein weiteres Bild, diesmal aus der Ilias, entlehnt: Wie der griechische Heros Dio‐ medes, dem im Kampfgetümmel die Feinde Wunden schlagen und der zu seiner Rettung Pallas Athene anruft, so müsse sich der Mensch in den Wirrnissen des Lebens die Philosophie zur Führerin erwählen, die ihm die Verblendung nimmt und Erkenntnis schenkt. 28 Mit einem Zitat aus Apuleius’ De magia leitet Poliziano über zum aggressiv-polemischen Teil des Briefes: Wie man nicht aus jedem Holz einen Hermes schnitzen könne, so gebe es besonders unter den platonischen Philo‐ sophen viele, die die hehre Philosophie Platons beschmutzten. Sie seien zu sehr auf Sinnengenuss und materielle Güter aus, seien Schwätzer, Dummköpfe, Neider, Raffgierige und Verschwender. Gegen diese nun will Poliziano zu Felde ziehen, nicht allerdings ohne einen mächtigen Verbündeten an seiner Seite zu wissen. Dieser ‚Rächer der Afterphilosophen‘ ist Platon selbst, der, so Poliziano, schon seit langem wünsche, das Lateinische zu erlernen. 29 Schließlich wird die figmentum-Lehre referiert, nach welcher die frühen Theologen wie Homer, Orpheus, Hesiod, Pythagoras und Platon ihre Weisheit in allerlei Fabeln und Rätseln überliefert hätten, um nicht Perlen vor die Säue zu werfen. Hier bringt Poliziano die Schweine des Odysseus mit den Perlen des Matthäusevangeliums zusammen. Er schließt mit der Bitte an Lorenzo, nicht den Sirenulae Gehör zu schenken, sondern die göttliche Wahrheit, wie sie etwa im Charmides über das rechte Maß expliziert wird, im Original bzw. in einer dem ursprünglichen Text gerecht werdenden lateinischen Übersetzung zu lesen. 30 Zunächst ist zu klären, worum es geht (polemisches Thema), wer angegriffen wird (polemisches Objekt) und wer den Streit entscheiden soll (polemische In‐ stanz). Als Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Fragen kann ein Text‐ abschnitt zu Rate gezogen werden, der in nuce bereits sämtliche Antworten gibt. Es handelt sich um die preziöse Schilderung vom Suchen und Finden eines ge‐ eigneten Retters der wahren platonischen Philosophie: 31 Atque ego quidem cum ad eum qui hoc provinciae susciperet perquirendum tot animo et cogitatione converterer, in ipsum peropportune incidi Platonem philosophorum 233 4.2. Die Polemik der praefationes omnium sine controversia parentem ac deum, totiusque sapientiae quasi quoddam (ut aiunt) terrestre oraculum. Qui cum perdiu sane ut videbatur Latine sciendi avidissimus fuisset, libenter equidem ego hanc ab eo gratiam quam videbam velle inivi, eumque pauculis admodum diebus quos apud me sit diversatus Latinum sermonem edocui. Quem quidem ille (quae sua est docilitas) ita sane avide celeriterque arripuit, ut ad litem iam ipsam philosophorum simiis intendendum omni studio accingi videretur. Quapropter te unum, magnanime Laurenti medices, id quod videre aliquando ille per‐ quam impense cupiebat, ex universa hominum multitudine existere intelligat qui et rempublicam sapienter geras et philosophiam […] in patriam revoces, nihil profecto antiquius habuit quam ut e vestigio incredibili quodam animi ardore maximaque alac‐ ritate visum te salutatumque tuaeque virtuti, quoad eius fieri posset, gratulatum ac‐ curreret, te unum sibi tam iusta in causa iudicem praecipue nuncuparet, tecum ut cum optimo Academiae patrono acceptas identidem a simiolis istis iniurias contumeliasque liberius expostularet. Als ich nun mit allem Eifer und vielem Nachdenken nach jemandem suchte, der diese Aufgabe [die Rettung der platonischen Philosophie] übernehmen sollte, stieß ich zum Glück auf Platon selbst, den unbestrittenen Vater und Gott aller Philosophen und (wie es heißt) das irdische Orakel aller Weisheit. Da dieser schon sehr lang (wie es schien) höchst begierig war, Latein zu lernen, tat ich ihm gern den Gefallen, den er, wie ich sah, wünschte, und lehrte ihn in den paar Tagen, die er bei mir weilte, die lateinische Sprache. Weil er ungemein rasch auffasst, erlernte er das Lateinische so begierig und schnell, dass er sich schon mit großem Eifer zum Streit mit jenen Afterphilosophen zu rüsten schien. Nun sah Platon, dass du, erhabener Lorenzo Medici, unter all den vielen Menschen der Einzige bist, durch den er seinen sehnlichsten Wunsch endlich erfüllt sieht, weil du den Staat weise lenkst und auch die Philosophie […] in ihr Va‐ terland zurückholst. Daher war es sein größtes Anliegen, sogleich mit höchstem Eifer und in aller Eile herbeizukommen, dich aufzusuchen, zu besuchen, und, soweit es angängig wäre, zu deiner Trefflichkeit zu beglückwünschen. Auch wollte er dich und nur dich als Richter in seiner gerechten Sache benennen und wollte, vereint mit dir als dem besten Schirmherrn der Akademie, jene Nachäffer wegen vielfacher Verfeh‐ lungen und Schmähungen kühn zur Rede stellen. Zunächst wird die Streitlage dargelegt: Es geht darum, von den Nachäffern, simioli, die sich den Namen Platoniker geben, Rechenschaft zu fordern. Platon selbst, gleichzeitig Gegenstand der Auseinandersetzung, wird als Ankläger be‐ stellt. Der inszenierte Rechtsstreit soll schließlich von Lorenzo - tam iusta in causa iudex - entschieden werden. Hier ist die polemische Struktur der Vorrede angelegt. 234 4. Angriff des Exegeten 32 Praef. in Plat. Charm. 624, 65-625, 82 (Hankins 1991a). 33 Praef. in Plat. Charm. 624, 72-74 (Hankins 1991a): […] complures id temporis garrulos nugaces putidulos ineptos eosdem leves pusillos invidos gloriosos avaritiae luxuriaeque iuxta addictos animadverterem […]. 34 Lamia 3, 25-28 (Wesseling 1986): Ita [Lamia] semper domi caeca, semper foris oculata. Quaeras forsitan domi quid agitet? Sessitat lanam faciens atque interim cantilat. Ebd. 18, 35-37: Iam quercus adoleverat, iam patula, iam frondosa erat: ecce tibi aves illae omnes gregatim ramis involitant, lasciviunt, subsultant, colludunt, cantilant. Die Fabel geht auf Äsop zurück und ist bei Dion Chrysostomos 72, 13-14 überliefert, wo Äsop zu den Weisen gezählt wird, der seine Weisheit in anziehenden Bildern ausgedrückt habe. Bei Dion ist die Eule Bild des Philosophen, die ihr feindlich gesinnten Vögel werden als gutgestellte Leute von schlechter Gesittung gedacht, die von der bloßen Präsenz der Eule beständig an ihre Unzulänglichkeiten erinnert werden. In der Passage, die dem Zitat vorausgeht, findet sich der Vorwurf der adrogatio präzise resümiert. 32 Poliziano sieht die (platonische) Philosophie in unberufene Hände übergegangen: Er habe zu seiner Zeit viele Leute gesehen, die wie Har‐ pyien den Namen ‚Philosoph‘ beschmutzt hätten und wie Hunde in einen Tempel sogar ins Heiligtum der Akademie eingedrungen seien. Sie seien nicht einmal vor Scham errötet, als sie sich platonische Philosophen nannten: se phi‐ losophi nomine maximeque Platonici censere non erubescant. Dies freilich sei eine adrogatio schlimmster Sorte, weshalb er, Poliziano, einen vindex - dieser ist Platon selbst - zum Leben erweckt habe, der gegen diese verworfenen Leute ein Verbot erwirken oder sie vor Gericht zerren könnte. Ein Schimpfwörterkatalog gegen die unreinen Platoniker gibt einen Hinweis darauf, wer die von Poliziano Angegriffenen sind - mit Namen nennt er sie an keiner Stelle. Poliziano wettert außer gegen die Neider, Geizhälse und Verschwender ebenfalls gegen die Schwätzer, Hohlköpfe und Leichtsinnigen. 33 Der Gruppe der moralisch Verkom‐ menen gesellt er also auch die Gruppe der intellektuell minder Vollkommenen, die offenbar sprechen, ohne nachzudenken. Dieser Vorwurf ist identisch mit einem der Hauptkritikpunkte der Lamia, wo es zunächst vampirähnliche Vetteln sind, die blind und alte Leiern singend am Webstuhl sitzen, sodann leichtfertige Vögel, die scharenweise vom Leim der Bäume gefangen werden, während sie gedankenlos zwitschern. 34 Polizianos ca‐ mouflierte Angriffe der Lamia, in der er als aristotelischer philomythos die Di‐ rektheit der Anwürfe unter dem Deckmäntelchen der Fabel abmildert, richten sich gegen diejenigen philosophischen Amtskollegen am Studio, gegen die er sich ab den 90er Jahren verstärkt zur Wehr zu setzen hatte, da er über philoso‐ phische Werke las, obwohl er ursprünglich Poetik und Rhetorik zu lehren 235 4.2. Die Polemik der praefationes 35 Zu den universitären Aufgaben Polizianos und ihrer allmählichen Aufweichung Wes‐ seling 1986, XIII; Cesarini Martinelli 1996. Zum Staunen des philomythos als Beginn der Philosophie vgl. Arist. Met. I 2 982b17-19. Zur Polemik des philomythos Poliziano Can‐ dido 2010. 36 Lamia 18, 33-34 (Wesseling 1986): Contempsere illae, ut sunt leve genus et volaticum, sapientis unius noctuae consilium. 37 Lamia 4, 6-7 (Wesseling 1986). 38 Gentile 1998, 375-376; Kristeller 1937, 1, CLI. hatte. 35 Poliziano sieht sich am Ende der Lamia als „einzig weise Nachteule“, die dem flatterhaften Völkchen der Vögel vergebens den Ratschlag erteilt, im dunklen Mauerloch zu nisten, um dem Vogelleim zu entgehen. 36 Wird die Lamia ausschließlich der Entkräftung des Vorwurfs der adrogatio gelten, so verläuft die spielerische polemische Argumentation im Charmides in konzeptuell iden‐ tischen und motivisch ähnlichen Bahnen: Im Charmides stilisiert sich Poliziano als Diomedes im Kampfgewühl, der von seinen Widersachern hart angegangen wird und zu seiner Rettung die Philosophie anruft. Ferner sieht er sich als Odys‐ seus, der über das Zauberkraut Moly verfügt, das von Sterblichen sonst schwer zu finden sei, während seine Kameraden in Schweine verwandelt werden. In der Lamia sind es zunächst die dreisten und intellektuell minder bemittelten vam‐ pirähnlichen Lamiae, die, wenn sie Poliziano irgendwo treffen, die Köpfe zu‐ sammenstecken und tuscheln: Politianus est, ipsissimus est, nugator ille scilicet qui sic repente philosophus prodiit. 37 Die weise Nachteule, die das gedankenlose Treiben der leichtsinnigen Vögel aus dem Mauerloch beobachtet, ist ein anderes Bild für den scharfsichtigen, ‚wahren‘ Philosophen, als der sich Poliziano zu Beginn der Charmides-Vorrede präsentiert. Welches aber sind die konkreten Vorwürfe, die Poliziano in der Praefatio in Charmidem gegen die zeitgenössischen Platoniker lanciert? Worin besteht die adrogatio der Harpyien, die, geht es nach Poliziano, die platonische Philosophie verunreinigen? Es geht um den ‚wahren‘ Platon, d.h. um den unverfälschten Text der platonischen Dialoge: Dieser muss, das ist das oberste Gebot, in seiner ursprünglichen Form zugänglich gemacht werden. Dies soll durch richtige Übersetzung des philologisch erschlossenen Dialogs geschehen - Poliziano nimmt Platon bei sich auf und lehrt ihn das Lateinische. Die Forschung hat hierin den terminus ante quem für die Abfassung der Charmides-Übersetzung samt Vorrede gesehen. Ficino hatte seine Übersetzung des Charmides bereits Ende der 60er Jahre fertiggestellt, 38 1484 erschien sie samt Kommentar in den Platonis opera omnia im Druck. In der Formulierung, Poliziano habe Platon das Lateini‐ sche gelehrt, hat man ein deutliches Indiz dafür gesehen, dass Ficinos Charmides nicht schon (gedruckt) vorgelegen haben konnte bzw. dass Poliziano der Umfang 236 4. Angriff des Exegeten 39 So Gentile 1998. Dass Poliziano über Ficinos Projekt der Gesamterschließung der pla‐ tonischen Werke, die seit den 60er Jahren in vollem Gange war (vgl. Kristeller 1966), erst gegen Mitte der 70er Jahre informiert gewesen sei, erscheint wenig glaubhaft. 40 Ich folge hier der Datierung von Wolters 1987, 463-464 (gegen Maïer 1966, 434, Wasch‐ büsch 1972, 88-89 und andere, die auf das akademische Jahr 1493/ 94 datieren). 41 Wolters 1987, 453-454; ebd. 462-463: “It is certainly striking that, in quoting from the Enneads in a public lecture less than a year after the completion of Ficino ’s translation of Plotinus, he puts forward his own alternative rendering of the passage. This is par‐ ticularly striking when we consider that Ficino was twenty-one years older than his former pupil (then thirty-seven), and that the poet’s translation, though more elegant, was in many ways less accurate than the philosopher’s.” 42 Vgl. Wesseling 1986, XXV-XXVII; 31-37 (zu Lamia 4, 26-37); 93 (zu Lamia 14, 1-2). 43 Hankins 1991a, 629; zu Bades Übersetzungsvergleich und -kritik vgl. ebd. 452-453; Baier 2015, 255. von Ficinos Übersetzungstätigkeit noch nicht hinreichend bekannt war. 39 M.E. ist die Argumentation zwingend umzukehren. Polizianos Vorrede sowie die Übersetzung selbst erhalten ihre Sinnhaftigkeit gerade erst durch das Vorliegen der gedruckten Version Ficinos. Hierfür sprechen zunächst zwei textinterne Punkte. Zum einen fällt auf, dass sich die beiden Übersetzungen kaum in einem Wort, geschweige denn in einer Junktur gleichen. Dies ist ein weiterer Fall von Originalitätssucht, womit Poliziano Ficino als Übersetzer philosophischer Texte in den Schatten zu stellen trachtete: So übersetzte Poliziano in der Praelectio de dialectica von 1491 40 einen Teil von Plotins Enneade 1, 3 über die Dialektik - nur ein Jahr, nachdem Ficino seine lateinische Version der plotinischen Enneaden abgeschlossen hatte. 41 In der Lamia schließlich präsentierte Poliziano das Höh‐ lengleichnis in der Paraphrase aus Jamblichs Protrepticus, den Ficino bereits 1464 übersetzt hatte - ein Vergleich der Übersetzungen erhellt, dass Poliziano auch hier versuchte, der ficinianischen Übersetzung eine gänzlich andere und eigene, elegantere Version an die Seite zu setzen. 42 Zum zweiten ‚korrigiert‘ Poliziano Ficinos Übersetzung des Charmides, indem er Passagen übersetzt, die Ficino für zu anstößig gehalten und unübersetzt gelassen hatte. Der flämische Humanist Josse Bade ist darauf in einem Über‐ setzungsvergleich eingegangen, den er seiner Ausgabe der Politiani opera omnia von 1519 beigegeben hatte, wobei er sich für Ficino als den nützlicheren Über‐ setzer aussprach, da dieser das für den christlichen Leser und die Figur des Sok‐ rates Anstößige, d.h. die homoerotischen Passagen, übergangen habe. Poliziano als dem integer interpres gebührte nur der zweite Rang. 43 Ferner dürfte ein starkes Movens für die neuerliche Übersetzung des Char‐ mides der Wunsch gewesen sein, sich einmal mehr von demjenigen Kernkonzept platonistischer Exegese zu distanzieren, das er bereits in unterschiedlicher Form negiert hatte: die allegorische Auslegungsmethode. Dem Philologen und text‐ 237 4.2. Die Polemik der praefationes 44 In Plat. Charm. (Ficino 1576, 2, 1304). 45 Zu den Änderungen am platonischen Text Hankins 1991, 452-453; Vanhaelen 2001; Baier 2015, 255. 46 Plat. Charm. 155c-d. 47 Polizianos Aussage, Platon Latein lehren zu wollen, wäre zu jedem Zeitpunkt der aka‐ demischen Laufbahn Polizianos ein Affront gewesen, bedenkt man, dass Ficino seit den 60er Jahren mit der Übersetzung der platonischen Schriften befasst war und den Char‐ mides spätestens Ende der 60er Jahre Lorenzos Vater Piero de’ Medici (gestorben am 2. Dezember 1469) zugeeignet hatte. Vgl. Kristeller 1937, 1, CLI; Gentile 1998, 376. orientierten Exegeten musste insbesondere das folgende Bekenntnis Ficinos aus dem Argumentum in Charmidem Platonis de temperantia, das dieser der Über‐ setzung vorangestellt hat, wie eine Ungeheuerlichkeit vorgekommen sein: 44 Etsi omnia in hoc dialogo mirificam habent allegoriam, amatoria maxime, non aliter quam Cantica Salomonis, mutavi tamen non nihil, non nihil etiam praetermisi. Quae enim consonabant castigatissimis auribus Acticorum rudioribus forte auribus minime consonarent. Wenngleich alles in diesem Dialog auf wunderbare Weise allegorisch zu lesen ist, ganz besonders die Liebespassagen, so wie es auch im Lied Salomons der Fall ist, habe ich dennoch einiges geändert, einiges auch übergangen. Was nämlich für die höchst an‐ ständigen attischen Ohren geeignet war, könnte vielleicht für unkundigere Ohren keineswegs geeignet sein. Das Zitat steht all dem entgegen, wofür Poliziano seit den 80er Jahren mit zu‐ nehmender Deutlichkeit eintrat. Unverzeihlich musste aus seiner Sicht Ficinos generalisierende, der historisch-kritischen Methode widerstreitende Behaup‐ tung erscheinen, der Charmides sei in seiner Gesamtheit allegorisch zu lesen, unverantwortlich das philologiefeindliche Bekenntnis, massiv in den Text ein‐ gegriffen zu haben. 45 Poliziano, so ist aus dem erhaltenen Beginn der Überset‐ zung ersichtlich, hat die erotischen Stellen, so des Sokrates irdische Liebesauf‐ wallung beim Blick in des Charmides Gewand, 46 in seinen Charmides aufgenommen - deutliches Indiz für einen korrigierenden und überbietenden Umgang mit dem Text. Ferner ist seine Übersetzung stilistisch eleganter, d.h. stärker am klassischen Latein gehalten als die Ficinos. Wenn Poliziano Platon im Charmides also „Latein beibringt“, so bedeutet dies nicht, dass er sich als ersten Übersetzer des Textes sieht. Vielmehr drückt sich in der Formulierung das Selbstbewusstsein aus, es besser gemacht zu haben als Ficino, dem griechi‐ schen Philosophen also endlich Latein, d.h. richtiges Latein beigebracht zu haben. 47 238 4. Angriff des Exegeten 48 Praef. in Plat. Charm. 625, 115-626, 122 (Hankins 1991a); Übersetzung Schön‐ berger / Schönberger 2011, 32. 49 Gentile 1998, 370. 50 In epist. 1, 130 (Gentile 1990, 238-239) an Alessandro Braccesi schloss Ficino Homer gar expressis verbis von der Prophetenreihe aus. Warum aber referiert Poliziano die figmentum-Lehre, die nach den Platoni‐ kern und freilich seit den frühen Humanisten als Schlüssel für die Lektüre von Dichtern angesehen wurde, in der Vorrede eines platonischen Dialogs? Ein uns bereits bekannter Streich mit feiner Klinge ist es, wenn Poliziano die Theorie in seine Vorrede aufnimmt, um der Reihe der Propheten, über die sich die prisca theologia expliziert, seinen Propheten voranzustellen: 48 Atque hoc est scilicet cur prisci illi theologi Homerus Orpheus Hesiodus Pythagoras item et hic ipse de quo agimus Plato aliique quamplurimi Musarum veraeque sapien‐ tiae antistites multiplicem illam totius philosophiae cognitionem per quaedam fabu‐ larum atque aenigmatum involucra integumentaque tradiderint, et quasi septibus quibusdam cancellisque obstruxerint, ne religiosa quodammodo Eleusinarum dearum mysteria profanarentur, et quasi suibus (quod dici solet) margaritae obiicerentur. Dies ist natürlich der Grund, weshalb jene frühen Theologen, Homer, Orpheus, He‐ siod, auch Pythagoras und der, von dem wir eben sprechen, Platon, sowie zahlreiche andere Priester der Musen und wahrer Weisheit jene vielgestaltige Erkenntnis der gesamten Philosophie verborgen und verhüllt in allerlei Fabeln und Rätseln überliefert und sozusagen mit Zäunen und Schranken versperrt haben; sie taten dies, damit nicht etwa die religiösen Geheimnisse der Eleusinischen Göttinnen entweiht und (wie man sagt) Perlen vor die Säue geworfen würden. Sebastiano Gentile bemerkte zur Stelle, dass Ficino Homer nirgends unter die vates aufnimmt, woraus er deduzierte, Poliziano habe Ficinos Werk noch nicht hinreichend gut gekannt (hier liegt einer der Gründe für Gentiles frühe Datie‐ rung). 49 M.E. ist das Argument erneut umzukehren: Eben weil Poliziano genau wusste, dass Ficino dem griechischen Dichter die Ehre eines vates versagt hatte, korrigierte er die Prophetenreihe in seiner Vorrede. 50 Doch längst nicht nur hier! Es ist, wie gesehen, gängige, ins Polemische zielende Argumentationspraxis Polizianos, zunächst an die Theoreme des Gegners anzuknüpfen, um diese dann im eigenen Sinne umzudeuten. Der philosophische Primat Homers ist keines‐ wegs neu: In der Ambra ist Homer, neben seiner Prädikation als Inspirationsquell der Dichter, der lärmenden Schar ratloser Philosophen enthoben, auf die er lä‐ chelnd herabsieht; in der Oratio in expositione Homeri wird die Priorität Homers als des Philosophen schlechthin vor allen Philosophenschulen erwiesen. Die 239 4.2. Die Polemik der praefationes 51 Ficino 1576, 1, 1. 52 Praef. in Plat. Charm. 624, 34-41 (Hankins 1991a); Übersetzung Schönberger / Schön‐ berger 2011, 30. Voranstellung Homers in der Charmides-Vorrede geschieht also nicht ohne Prä‐ zedenzfall und somit keineswegs zufällig. Doch nicht nur in der Reihung der Propheten spielt Homer eine übergeord‐ nete Rolle. Das Referat der figmentum-Lehre ist gewissermaßen der hermeneu‐ tische Schlüssel, der zum Verständnis der Vorrede führt. Auffällig ist - dies cha‐ rakterisiert auch die Lamia und letztlich den polemischen Stil Polizianos - die enorme Präsenz von Bildern, Rätseln und Geschichtchen. Insbesondere auf‐ schlussreich ist die Herkunft der Bilder. Während in den übrigen Vorreden bib‐ lische Bilder keine Rolle spielen, setzt Poliziano hier an exponierte Stellen - gegen Anfang und Ende der Vorrede - das Bild der Perlen aus dem Matthäus‐ evangelium (Mt 7, 6; 13, 45). In der späteren Stelle verweisen die Schweine des Matthäusevangeliums zurück auf die Schweine, in die sich Odysseus’ Kame‐ raden verwandeln. Dies ist gewissermaßen die Exemplifizierung der Prophe‐ tenreihung, die nach Poliziano bei Homer beginnt: Homer wird, außer als Vor‐ läufer der platonischen Philosophie, auch als Quell der christlichen Theologie autorisiert und instrumentalisiert. Ein Grund für die prominente Nennung des Perlengleichnisses dürfte ein polemischer sein: Ficino hatte bereits früher zu ähnlichen Zwecken auf das Bild zurückgegriffen, und zwar in der Vorrede zu De christiana religione (1474), die ebenfalls an Lorenzo adressiert war. Hier hatte Ficino geschrieben: Margaritae autem religionis preciosissimae saepe tractantur ab ignorantibus atque ab his tamquam suibus conculcantur. 51 Wenn Poliziano das christliche Bild in der Charmides-Vorrede gegen die Platoniker wendet, so dürfte damit die Ablehnung der allegorisierenden, christlich grundierten Auslegungs‐ methode des Platonismus intendiert sein, wie sie von Ficino im argumentum zum Charmides vorgenommen worden war: Ein ignorans, so war Poliziano überzeugt, ist Ficino selbst. Ein weiterer Grund für das Referat der figmentum-Lehre mag darin liegen, dass Poliziano, der philomythos der Lamia, einen (maliziösen) Hinweis zum bes‐ seren Verständnis seiner Polemik gibt, die sich hinter Histörchen und Bildern verbirgt und also ebenfalls allegorisch zu erschließen ist. Dies wird deutlich in der Diomedes-Episode, die Poliziano für die Stilisierung seiner selbst und für die Konstruktion seines Feindbildes instrumentalisiert: 52 Quapropter cum tantis simus ignorantiae tenebris praepediti tantisque idcirco labo‐ ribus ac periculis exerceamur, non minus profecto nobis quam Homerico illi Diomedi et vulnere et sudore in conferta hostium acie laboranti, sapientissimae Palladis, hoc 240 4. Angriff des Exegeten 53 Zu den verschiedenen Interpretationen der Episode in den homerischen Scholien, bei Macrobius, Eustathios, Andronikos Kallistos sowie Landino vgl. Megna 2009, 102-104. Zur fortune der Exegesis in Homeri Iliadem des Tzetzes bei Poliziano und seinem Schüler Parrasio vgl. Daneloni 2009. Zur Verbreitung der Homer-Kommentare des Eustathios in Europa jetzt Pontani 2017. 54 Laur. 66, 31 f. 145v. Vgl. Megna 2009, 103; Levine Rubinstein 1982, 216. Vgl. auch die Auslegung der Stelle im Widmungsbrief des Andronikos zur Übersetzung von De ge‐ neratione et corruptione (Kap. A.1.3). est, sanctissimae philosophiae auxilium implorandum est, quae et ipsa nobis omnem illam, quae nostris nunc oculis obducta mortales hebetat visus atque humida circum caligat, nubem eripiat, ut (quod divine idem Homerus cecinit) sit nobis lumine promptum, purgata iam in luce hominem spectare deumque. Da wir also durch so große Finsternis des Unwissens behindert sind und deshalb solche Mühen und Gefahren erdulden, müssen wir wahrhaftig, ganz wie Homers Diomedes, den mitten in der dichten Schar der Feinde Wunden und Schweiß quälen, die Hilfe der hochweisen Pallas Athene, will sagen: der hochheiligen Philosophie anrufen. Sie selbst soll die Wolke vor unseren Augen wegreißen, damit wir, wie derselbe Homer so herrlich singt, erleuchtet werden und nun „im reinen Licht Mensch und Gott zu erkennen vermögen“ [Il. 5, 127-128]. Das allegorische Potential des Diomedeskampfes ist der Renaissance, etwa durch die Lektüre der homerischen Scholien und der byzantinischen Homer‐ exegeten des 12. Jahrhunderts, Eustathios und Tzetzes, hinreichend bekannt. 53 Diomedes fungiert dort als Wahrheitssucher, der den Wirrnissen und Nichtig‐ keiten des Lebens zu entgehen sucht, indem er sich der Philosophie zuwendet - diese Bedeutung implementiert vordergründig auch Poliziano. Das Bild des Diomedes dient allerdings vor allem - und damit wird es seiner moralphiloso‐ phischen Überhöhung beraubt - als polemische Miniatur wider die falschen Philosophen und ihre leichtfertige und irrige exegetische Herangehensweise an den Text. Poliziano selbst ist der Diomedes, der, inmitten der Schar der Feinde und unter Schweiß an der wahren Philosophie festhält. Eine polemische Lesart der Episode war etwa bereits in der Erklärung des Andronikos Kallistos ange‐ legt. Der Anonymus der Ilias-Mitschrift hatte notiert: Minerva dicitur auferre ex oculis caliginem quia stulti sunt ceci. Hinc habuit principium diffinitio sapientiae: rerum humanarum et divinarum cognitio. 54 Die Abgrenzung des einen unvers‐ tandenen und geplagten Hellsichtigen von den Dummen und Blinden, die auf‐ grund ihrer Verblendung die Dinge nicht recht zu erkennen wüssten, ist ein Topos der polemischen Schriften Polizianos: In der Lamia wird dieser Gegensatz im Eingangsbild der Vampire, die Poliziano schmähen, sowie in der Schlussfabel um Nachteule und tändelnde Vögel neuerlich in Szene gesetzt. 241 4.2. Die Polemik der praefationes 55 Anders Fera 2004, der die Vorrede auf die frühen 80er Jahre datiert. Ich folge der tradi‐ tionellen Datierung, da die praefatio m.E. in den Kanon der Schriften gehört, die auf den Vorwurf der adrogatio replizieren und ihr adressatenbezogenes Potential erst im Disziplinenstreit der ausgehenden 80er und beginnenden 90er Jahre entfalten. 56 Praef. in Suet. exp. (Poliziano 1553, 501-502): Ad haec philosophia quoque ipsa neque de moribus agere neque de domesticarum publicarumque administratione rerum sine exemp‐ lorum multiplici copia varietateque satis possit. Id si cuiquam incredibilius videatur, ma‐ ximorum clarissimorumque de ea re philosophorum libros, atque in primis Aristotelis, in manus sumant. In quibus nullum fere aut praeceptum aut documentum inveniet, quod non ex ipsa historia, tanquam e capite venaque perenni et fonte aliquo uberrimo, emanaverit. Zum Text vgl. Fera 2004, 141-142; Hunt 1995, 26-27. 57 Praef. in Suet. exp. (Poliziano 1553, 502): Rerum vero naturam quo pacto tractabit is qui ipsam naturae historiam non calleat? Negent fortasse id argutuli quidam nostrae aetatis philosophi, ut qui Plinii singulare opus de eo negotio comprobent, idcirco videlicet quia est elegantissime scriptum, nec Aristotelis historiam de animalibus evolvant, quia latine iam et ipsa Theodoro Gaza interprete coepit loqui. In der Miscellaneorum Centuria prima von 1489 hatte Poliziano zwei Kapitel (90; 91) darauf verwandt, um mit den Übersetzungs‐ künsten des Theodoros Gazes abzurechnen; hierzu Monfasani 2006. Mit den unbele‐ senen Bauern, die sich als Peripatetiker hervortäten (opici, qui se peripateticos hodie profitentur), wollte Poliziano in der nicht zu Ende gebrachten Miscellaneorum Centuria secunda nochmals ins Gericht gehen; vgl. Hunt 1995, 26-27. Die polemische Praxis Polizianos näher zu bestimmen, erlaubt eine der Sache nach identische, doch statt gegen die Platoniker gegen die Aristoteliker gerich‐ tete Polemik, die die Streitpunkte unverhohlener benennt als in der Char‐ mides-Vorrede. Es handelt sich um einen polemischen Exkurs über die richtige Methode der Texterschließung, der in die Praefatio in Suetoni expositionem, die allgemein auf das akademische Jahr 1490/ 91 datiert wird, eingebettet ist. 55 Zu‐ nächst resümiert Poliziano seinen Philosophie-Begriff, der von der Bedeutung von historia und exempla, d.h. von der empirischen Anschauung des Einzeldings ausgeht. Ohne die exemplorum multiplex copia varietasque sei weder Moralphi‐ losophie noch politische Philosophie möglich - wer dies bestreite, möge den Aristoteles zur Hand nehmen, der jede Erkenntnis auf empirische Erfahrung (historia) zurückführe. 56 Mit der Frage, wie denn nun ein in diesen Dingen Unkundiger Naturwissen‐ schaft betreiben könne, verfällt Poliziano auf eine scharfe Invektive wider die zeitgenössischen Aristoteliker. Die Vorwürfe sind schnell resümiert: Poliziano wirft ihnen Unkenntnis einschlägiger Texte (hier dient Plinius’ Historia naturalis als Beispiel) und mangelnde Griechischkenntnisse vor - anstatt des Aristoteles Historia de animalibus griechisch zu lesen, greife man lieber auf (schwache) Übersetzungen wie die des Theodoros Gazes zurück. 57 Der Schilderung der col‐ latio, die Poliziano einmal mit einer ‚deutschen‘ Aristoteles-Übersetzung vor‐ genommen habe, gebricht es nicht an lebhafter Rhetorik, die höchste Empörung 242 4. Angriff des Exegeten 58 Hierzu Vasoli 2007, 199-203; Kraye 2008. 59 Praef. in Suet. exp. (Poliziano 1553, 502); Übersetzung Schönberger / Schönberger 2011, 109-110. zum Ausdruck bringt. Damit reiht sich Poliziano ein in die gängige Polemik der Humanisten gegen die Scholastiker und das scholastische Latein, das auszu‐ merzen sie nicht müde wurden. 58 Ferner wird auch hier der Vorwurf der adro‐ gatio erhoben, und zwar in denselben Worten, mit denen Poliziano bereits den Platonikern in der Charmides-Vorrede Tempelraub vorgeworfen hatte: 59 Libuit mihi aliquando excutere scrupulosius commentaria in Aristotelem nonnulla, quae isti inter prima adamant, ipsis etiam Getis barbariora: deus bone, quae monstra in illis, quae portenta deprehendi: quam aut omnino nihil sentiunt, aut contra eum ipsum, quem interpretantur, ridicule sentiunt. Contuli et graecum Aristotelem cum teutonico, hoc est eloquentissimum cum infantissimo et elingui: „Hei mihi, qualis erat, quantum mutatus ab illo“ [Verg. Aen. 2, 274]. Vidi eum, vidi, et vidisse poenituit, non conversum e graeco, sed plane perversum, sic ut ne minimum quidem alterius vesti‐ gium in altero appareret; nihilo tamen secius, quae est hominibus duritia oris, arrogare sibi venerandum philosophi nomen haud erubescunt. Ich machte mir einmal den Spaß, einige Kommentare zu Aristoteles, die jene besonders schätzen, obschon diese Erzeugnisse barbarischer sind als Werke von Geten, genauer zu untersuchen. Guter Gott! Welche Ungeheuer, welche Missgeburten fand ich da! Diese Leute verstehen gar nichts oder sie missverstehen den Autor, den sie erklären, in lächerlicher Weise. Auch verglich ich einen griechischen Aristoteles mit einem deutschen, will sagen einen hochberedten mit einem kindisch stammelnden und ra‐ debrechenden. „Weh mir! Wie nahm er sich aus! Wie völlig anders als jener! “ Ich habe diesen Aristoteles mit eigenen Augen gesehen, und es reute mich, ihn gesehen zu haben, denn er war aus dem Griechischen nicht übersetzt, sondern völlig entstellt, so dass nicht die mindeste Spur des Vorbilds im Abbild zu finden war; und dennoch - so unverschämte Menschen gibt es - haben diese Leute die Stirn, sich den ehrwürdigen Titel eines Philosophen anzumaßen. Die monstra et portenta, die Poliziano in den aristotelischen Kommentaren und den deutschen Übersetzungen fand, sind einmal Fehler, die auf zu geringem Textverständnis beruhen, zum anderen falsche Übersetzungen, die infolge man‐ gelhafter Sprachkenntnis und fehlerhafter griechischer Texte zustande kommen. Beispielhaft hierfür ist die Kritik an der Problemata-Übersetzung des Theodoros Gazes im 90. Kapitel der Miscellaneorum Centuria prima, wo Poli‐ ziano dem Übersetzer eben dies vorwirft: Ein schadhafter griechischer Text, der nicht hinreichend geheilt wird, führt zu einer falschen Übersetzung und so zu 243 4.2. Die Polemik der praefationes 60 Arist. Probl. 30, 1 (953a17-18). 61 Vgl. hierzu Monfasani 2006. M.E. versuchte Gaza hier sehr wohl eine (wenngleich un‐ glückliche) Konjektur, indem er offensichtlich ἐντῇ, das er mit interdum übersetzte, als ἐνίοτε las. 62 Pontani 2002, 148-150; Maïer 1966, 373-374. Vgl. z.B. Polizianos epist. 6, 17 an Ficino: Herculem me vocas in libro tuo de vita, quod monstra domem, puto illa intuens monstra, quae veterum libros nimis obsident, in quibus ego purgandis diu multumque laboro. Und in epist. 9, 13 an denselben: Illud vero nescio satisne probem, quod Herculem vocare me pergis. Tu quidem opinor iocaris. Sed tamen ansam timeo ne praebeas cavillandi ridendique malevolis et invidis, quibus nemo unquam vir bonus ac doctus caruit. Bereits Scala hatte Poliziano als Hercules tituliert: epist. 5, 4 (Poliziano 1553, 64). 63 Praef. in Suet. exp. (Poliziano 1553, 502); Übersetzung Schönberger / Schönberger 2011, 109. einem unzureichenden Verständnis der Passage. Die Textgrundlage des Theo‐ doros hatte eine Korruptel aufgewiesen, die ihn den Text - es geht um den rasenden Hercules - missverstehen ließ: καὶ ἡ περὶ τοὺς παῖδας ἔκστασις καὶ ἡ πρὸ τῆς ἀφανίσεως +ἐντῇ+ τῶν ἑλκῶν ἔκφυσις γενομένη τοῦτο δηλοῖ. 60 Gaza übersetzte: Puerorum quoque motio mentis idem hoc explicat et eruptio ulcerum quae mortem interdum antecedit. Poliziano emendierte das unsinnige ἐντῇ unter Heranziehung der senecanischen Hercules-Tragödie(n) zum bis heute akzep‐ tierten ἐν Οἴτῃ und übersetzte: Et in liberos suos pavor (seu mavis dicere mentis excessus) et ante obitum ipsius in Oeta ulcerum eruptio, womit die Stelle eindeutig auf den Tod des Hercules auf dem Oeta zu beziehen war. 61 Poliziano hatte sich insbesondere aufgrund seiner textkritischen Expertise längst den Ruf eines Sprach- und Textreinigers erarbeitet, was Ficino in das von Poliziano nicht be‐ sonders geschätzte Bild des sprachliche und textliche Ungeheuer, monstra et portenta erlegenden Hercules überführte. 62 In invektivischen Vergleichen zeichnet Poliziano derbe Bilder, um seine aris‐ totelischen Kollegen zu widernatürlichen Kreaturen zu stilisieren, die unter dem schönen Schein des Philosophenmäntelchens ihre Verderbtheit verbergen, das Entstellte liebten und das Vernünftige verachteten: 63 ii mihi similes esse videntur servis, qui dominorum haereditate facti repente divites neque quo pacto induenda sit herilis vestis, neque omnino ipsius tenere ordinem no‐ runt, sed saepe, apro aut lepore turdoque forte aut ficedula in mensa positis, ipsi tamen ius aliquod fatuum aut pulmentum et sordidissima quaeque cibaria magna ingluvie devorant. Atque ut praegnantes mulierculae cum circa tertium fere a conceptu mensem morbo eo laborant, quem Graeci medicinae auctores κίτταν, id latine pica est, appellaverunt, utiles quidem consuetosque cibos aspernantur, cretam vero et extinctos carbones aut rudera aliqua avidius comedunt, quod multa videlicet in stomacho ex‐ crementa male concocta habeant, ita ii nostri bene quidem palliati philosophi, cum 244 4. Angriff des Exegeten 64 Gal. De sympt. caus. 7, 5 (7, 133 Kühn). sint et ipsi corruptissima illa sua disciplina imbuti, elegantis quidem beneque senti‐ entis scriptores, utpote sui dissimillimos iure fastidiunt: inquinatissimum autem quemque auctorum maxime quasi blandum filiolum amplectuntur. Solche Leute kommen mir vor wie Knechte, die durch das Erbe ihrer Herren über Nacht reich geworden sind, aber nicht wissen, wie sie die Kleider ihres Gebieters tragen sollen und überhaupt seine Lebensart nicht fortzuführen verstehen. Oft näm‐ lich, wenn ein Eber, ein Hase oder vielleicht ein Krammetsvogel oder eine Feigen‐ drossel auf den Tisch kommt, verschlingen sie lieber mit großer Gier eine fade Brühe oder einen Brei oder die gewöhnlichsten Speisen. So lehnen schwangere Frauen, wenn sie etwa im dritten Monat seit der Empfängnis an jener Krankheit leiden, die die grie‐ chischen Medizinschriftsteller kitta (lateinisch Elster) nennen, zuträgliche und ge‐ wohnte Speisen ab und essen gierig Kreide und gelöschte Kohlen oder Kalkmörtel, weil ihnen viele schlecht verdaute Stoffe im Magen liegen; ebenso sind unsere Philo‐ sophen, hübsch gekleidet im griechischen Mantel, mit ihrer eigenen ganz verdorbenen Lehre angefüllt und haben daher einen Abscheu vor eleganten und verständigen Schriftstellern, von denen sie grundverschieden sind. Jeden schlechten Autor jedoch lieben sie so innig wie ihr Herzenssöhnchen. Mit Blick auf die polemischen Mittel, die Poliziano im Zitat und in der Char‐ mides-Vorrede zur Führung seiner Angriffe wählt, wird ein Unterschied evident, der für die polemische Technik des Gelehrten höchst aufschlussreich ist. Die Vergleichsbilder, die Poliziano hier wie dort von seinen Feinden zeichnet, sind das jeweils dem Adressaten angepasste probate polemische Mittel. Für den An‐ griff gegen die naturwissenschaftlich unverständigen Aristoteliker fungiert das invektivische Bild der kranken schwangeren Frauen, die nach ganz und gar un‐ gewöhnlichen und unverdaulichen ‚Speisen‘ lechzten, als Träger des polemi‐ schen Gehalts. Das Bild ist der galenischen Schrift De symptomatum causis 7, 5 entnommen, wo der griechische Arzt über das (noch heute so genannte) Pica-Syndrom handelt. 64 Das Bild ist entlegen, die Termini fachmännisch. Dieses Bild hätte in der Charmides-Vorrede selbstredend keinen Platz - hier funktio‐ niert es als polemisches Medium, da Poliziano die mangelnde naturwissen‐ schaftliche Expertise der selbsternannten Philosophen, die auf unzulänglichem Verständnis des Textes beruht, bloßstellt. Poliziano knüpft erneut an die Materie des (nunmehr aristotelischen) Gegners an, um diesem das angemaßte Hoheits‐ gebiet abzusprechen und ihn der adrogatio zu überführen. In der Charmides-Vorrede sucht Poliziano dieses Ziel zu erreichen, indem er, ähnlich wie in der Oratio in expositione Homeri und der Ambra, die Präsenz Ho‐ 245 4.2. Die Polemik der praefationes 65 Bettinzoli 2009, 188-195. 66 Vgl. hierfür die Besprechung der Nutricia in Kap. B.3.2.3. mers in einem philosophisch geprägten Kontext erhöht und den Vorrang des Dichters vor dem Philosophen und Theologen behauptet. Der homericus adu‐ lescens Poliziano, der nunmehr im Begriff ist, sich einen neuen Titel, den des grammaticus zuzulegen, führt mit seinem Dichter auch seine exegetische Me‐ thode ins Feld. Die allegorisch aufgeladenen Bilder, die zu polemischen Zwecken ‚missbraucht‘ werden, bilden den Anknüpfungspunkt für die Polemik: Der neu‐ platonischen Allegorese wird die historisch-kritische Texterschließung, die auf enzyklopädischer Bildung fußt, entgegengestellt. Aus dem Gesagten lässt sich eine präzisere Datierung der Vorrede gewinnen. Attilio Bettinzoli hatte 2009 für eine Datierung in die Mitte der 1480er Jahre plädiert, indem er zahlreiche inhaltliche wie wörtliche Parallelen zur Praelectio in Persium, datierbar auf die Jahre 1484/ 5, nachwies. 65 Die Datierung in die zweite Hälfte der 80er kann durch mehrere Argumente gestützt werden. Die Rolle, die Homer innerhalb der Charmides-Vorrede spielt, auch die inhaltlichen Übereinstimmungen zum Widmungsbrief des Andronikos Kallistos, verweisen m.E. nicht notwendigerweise auf die Jahre der Ilias-Übersetzung, wie Gentile vermutete. Gerade in den Schriften ab der Mitte der 80er Jahre, in denen Poli‐ ziano auf dem Katheder die homerischen Epen las und in denen er die Oratio in expositione Homeri und die Silven Ambra und Nutricia verfasste, stärkte Poli‐ ziano das Bild Homers als Philosoph - wie gesehen mit einer polemischen Ab‐ sicht, die auf die Destruktion des Autoritätsanspruchs Ficinos und des zeitge‐ nössischen Platonismus zielte. Wenn Homer an die Spitze der vates gestellt wird, so geschieht dies nicht aus Unkenntnis des ficinianischen Prophetenkanons he‐ raus, sondern um Homer die übergeordnete Autorität zuzuweisen, die ihm in Polizianos autobiographisch motivierter Inszenierung gebührt. Poliziano ver‐ einnahmt die prisca theologia, an die er nicht geglaubt hat und deren Postulate er zu entkräften suchte, 66 für die Dichtung und knüpft eben hieran das alterna‐ tive Postulat einer gerechten Texterschließung, das für jede Form der Textaus‐ legung das Fundament bilden müsse. Ein weiteres und vielleicht das stärkste Argument gegen eine Datierung in die frühe Phase des Wirkens Polizianos am Hofe Lorenzos ist die Schärfe der Polemik, das Invektivische, das die Vorrede wesentlich charakterisiert. Es ist m.E. undenkbar, wie der junge Poliziano nur kurze Zeit nach Aufnahme in den hochangesehenen Gelehrtenzirkel um Lorenzo (Poliziano war 1473, also noch nicht ganz zwanzigjährig, als persönlicher Sekretär bei Hofe installiert worden) in der Lage gewesen sein sollte, seiner Stellung unbeschadet gegen die berühm‐ 246 4. Angriff des Exegeten 67 Godman 1998, 27-29; 122-131. Zur Auseinandersetzung mit Chalkokondyles Zollino 2016, XIII. Bereits 1483 rechnete Bartolomeo Fonzio mit Polizianos abstoßendem Auf‐ treten ab: vgl. epist. 1, 24, 1-2 (Daneloni / Davies 2011, 66): Unde igitur tibi dementia tanta exorta est, ut eruditissimos quosque homines audeas petulantissimis maledictis con‐ vellere? Tu nulli defuncto iam vita ignoscis, tu viventibus omnibus detrahis, tu nobis ma‐ xime insultas, tu, scire ut unus cuncta videaris, doctos omnis dilaceras. An hos inflatissimos spiritus ulla tibi bonarum artium dedit cognitio, quarum siquam teneres vel mediocriter non tam ab humanitate discederes? Vgl. auch Anm. 108. Ein später und unschmeichel‐ hafter Reflex der Polemik gegen Poliziano hat sich in den Della Fisionomia dell’huomo libri quattro des Giovanni Battista Della Porta (Napoli: Tarquinio Longo, 1598, 63-64) erhalten, wo die markante Gesichtsbildung des Humanisten mit dem Kopf eines Rhi‐ nozeros in Vergleich gesetzt wird: “Il naso grande dimostra huomo, che riprende l’opere altrui, e che non gli piacciono se non le cose sue, e disprezza, e si burla dell’altrui. […] Angelo Politiano fù di naso assai sproportionato, e fù d’ingegno pungente, & invidioso, lodando le cose sue, e burlando quelle d’altri, ne vituperando altri potea patire, che altri vituperassero le sue.” Hierzu Hegener 1996; vgl. auch Séris 2015, 65-70 (zur Polemik mit Mabilio da Novate). testen Köpfe des Zirkels, gar gegen Ficino und Landino, mit Pauken und Trom‐ peten zu Felde zu ziehen. Die Art der Polemik, die Darstellung der Gegner als moralisch verkommene, tändelnde, vorlaute und vorschnelle Möchtegern-Phi‐ losophen, verweist die Charmides-Vorrede in die späteren Jahre des akademi‐ schen Wirkens Polizianos, als er, selbst anerkannter und weithin berühmter Gelehrter, auf der Walstatt des Katheders sich solch grobianische Ausfälle hatte erlauben können. Zuletzt ist die Charmides-Vorrede m.E. nicht aus dem Kanon der Schriften zu lösen, in welchen Poliziano streitbar auf den Vorwurf der adrogatio replizierte, dem er sich von allen Seiten ausgesetzt sah. Der Exkurs der Sueton-Vorrede bildet gewissermaßen das aristotelische Komplement zum Ausfall gegen die Plato‐ niker im Charmides. In der Lamia schließlich wird Poliziano mit offenem Visier kämpfen, den Vorwurf der adrogatio explizit aufgreifen und ihm mit großer rhetorischer Geste sein polemisches und zugleich sein humanistisches Ver‐ mächtnis entgegenstellen. 4.2.2. Lamia: Kampfbegriff grammaticus Nach dem satirischen Zeugnis einiger Schüler, Kontrahenten und Kollegen am Studio, darunter des Gräzisten Demetrios Chalkokondyles, geizte Poliziano nicht damit, sich in autoritärer Weise öffentlich als enzyklopädisch Gebildeter aufzuspielen. 67 Dies trug ihm Antipathien ein, die sich in immer deutlicher ar‐ tikulierten adrogatio-Vorwürfen manifestierten. Erst spät allerdings, 1492, sah sich Poliziano genötigt, umfassend auf das ihm zur Last gelegte crimen zu re‐ 247 4.2. Die Polemik der praefationes 68 Poliziano 1553, 216; vgl. auch ebd. 229; Wesseling 1986, 100-101; Leuker 1997, 289 Anm. 5. Bereits 1483 allerdings hatte Bartolomeo Fonzio Poliziano in polemischer Absicht gefragt, ob er sich denn für einen grammaticus halte: epist. 1, 24, 2 (Daneloni / Davies 2011, 66-68). Daraus lässt sich vermuten, dass sich Poliziano bereits früher mit dem Gedanken trug, den Begriff für sich zu reklamieren. 69 Poliziano 1553, 229. plizieren. Hierzu verfiel er in der Lamia betitelten praefatio zur Vorlesung über die Analytica priora des Aristoteles auf eine Neubewertung des Berufsfeldes des grammaticus. Nur drei Jahre früher, in der Vorrede zur Miscellaneorum Centuria prima, hatte er den Begriff noch in despektierlichem Sinne, dem niederen des ‚Elementarlehrers‘, gebraucht. 68 Doch bereits dort deutete sich an, dass Poliziano den enzyklopädischen Zuschnitt seiner Dichterlektüre zum Programm machen würde, indem er ihn in einen häufig zitierten Aufruf überführte: 69 Qui poetarum interpretationem suscipit, eum non solum (quod dicitur) ad Aristo‐ phanis lucernam, sed etiam ad Cleanthis oportet lucubrasse [Varro ling. 5, 9]. Nec prospiciendae autem philosophorum modo familiae, sed et iureconsultorum, et me‐ dicorum item, et dialecticorum, et quicunque doctrinae illum orbem faciunt quae vo‐ camus encyclia, sed et philologorum [Ald.] quoque omnium. Nec prospiciendae tantum, verum introspiciendae magis, neque (quod dicitur) ab limine ac vestibulo sa‐ lutandae, sed arcessendae potius in penetralia et in intimam familiaritatem, si rem iuvare latinam studemus et inscitiam quotidie invalescentem profligare: alioqui se‐ midocta sedulitas cum magna sui persuasione detrimento sit, non usui. Wer sich an die Auslegung von Dichtern macht, der muss nicht nur beim Schein der Nachtlampe des Aristophanes, wie man so sagt, sondern auch bei der des Kleanthes die Nächte durcharbeiten. Ferner muss man nicht nur die Lehrmeinungen der Philo‐ sophen im Blick behalten, sondern auch die der Rechtskundigen, Ärzte, Dialektiker und all derer, die den Kreis der Wissenschaften bilden, den wir Enzyklopädie nennen, sowie auch die der Philologen. Doch nicht nur in den Blick nehmen müssen wir sie, sondern vielmehr hineinschauen, und sie nicht, wie man sagt, von der Schwelle und aus dem Vorhof grüßen, sondern sie uns ins Haus holen und gänzlich vertraut machen, wenn wir dem Lateinischen nützen und die Unwissenheit, die täglich zunimmt, nie‐ derschlagen wollen. Andernfalls wird die Emsigkeit der Halbgebildeten mit ihrer hohen Meinung von sich selbst zum Schaden gereichen, nicht aber zum Nutzen. Poliziano erneuert hier sein enzyklopädisches Credo: Die Nennung des ale‐ xandrinischen Philologen Aristophanes und des stoischen Philosophen Clean‐ thes geht zurück auf eine Passage des 5. Buches von Varros De lingua latina, wo der Autor vier Ebenen etymologischer Worterklärung unterschied: Volksety‐ mologien, Etymologien basierend auf grammatikalischer Analyse, ‚philosophi‐ 248 4. Angriff des Exegeten 70 Varro ling. 5, 7-9: nunc singulorum verborum origines expediam, quorum quattuor ex‐ planandi gradus. Infimus [in] quo populus etiam venit: quis enim non videt unde ar<g>e<n>tifodinae et viocurus? secundus quo grammatica escendit antiqua, quae ostendit, quemadmodum quodque poeta finxerit verbum, quod<que> confinxerit, quod<que> decli‐ narit; hic Pacui: ‘Rudentum sibilus’, hic: ‘Incurvicervicum pecus’, hic: ‘Clamide clupeat b<r>acchium’. Tertius gradus, quo philosophia ascendens pervenit atque ea quae in con‐ suetudine communi essent aperire coepit, ut a quo dictum esset oppidum, vicus, via. Quartus, ubi est adytum et initia regis: quo si non perveniam scientia[m]<e>, at opinionem aucupabor, quod etiam in salute nostra nonnunquam facit cum <a>egrotamus medicus. Quod si summum gradum non attigero, tamen secundum praeteribo, quod non solum ad Aristophanis lucernam, sed etiam ad Cleanthis lucubravi. (Text nach Traglia 1974, 56). 71 Zum Streit vgl. Ax 2000. Zu Poliziano Robichaud 2010. sche‘ Worterklärung, die nach dem Grund von Sprachgewohnheiten fragt, und schließlich Etymologien, die den ursprünglichen Entstehungsgrund eines Wortes zu erklären versuchen. 70 Poliziano, der mit Varro den berühmten Philo‐ logenstreit zwischen Analogisten und Anomalisten referiert, der sich an der Frage danach entzündete, ob sich die Herkunft von Wörtern durch Flexion oder Derivation erklären lasse, überträgt hier die Wortanalyse auf die Textanalyse im Allgemeinen. 71 Der alexandrinische Grammatiker Aristophanes repräsentiert die grundlegenden philologischen Arbeiten: textkritische Erschließung und sprachlich-grammatikalische Analyse, der Stoiker Kleanthes, bekannt für seine allegorische Dichtererklärung, einen darüber hinausgehenden Interpretations‐ modus. Die Betonung liegt aber auch hier auf lucubrasse und introspicere: Auch der allegorische Sinnsucher hat die Nächte durchzuarbeiten und darf sich nicht mit wenig fundierten, schnell hingeworfenen Interpretationen zufriedengeben. Erst durch die enzyklopädische Betrachtung des Textes kommt er zu einer phi‐ losophischen Deutung, die das beschreibt, was man als Hermeneutik, als Phi‐ losophie des Textverstehens bezeichnet. Poliziano implementiert ein vierstu‐ figes Textlesemodell, welches von einer elementaren sprachlichen Analysestufe zu einem höheren exegetischen Teil führt. Hierin verbirgt sich der positiv ge‐ wendete Standardvorwurf Polizianos an die zeitgenössischen philosophi: Der höhere Wahrheitsgehalt des Textes erschließt sich nur dem, der ihn philologisch erschlossen hat. Doch, so schränkt Poliziano sofort ein, nicht nur philosophisch seien die Texte zu lesen, sondern müssten ebenso mit juristischer, medizinischer, dialektischer und philologischer Brille behandelt, ja durchdrungen werden. Tieferes Textverständnis gewinne nur derjenige, der die Texte vor ihrem Ent‐ 249 4.2. Die Polemik der praefationes 72 Robichaud 2010, 159: “Scholars all too often read the division between grammatical and philosophical interpretations as an ideological or philosophical choice between schools of thought (in this case the idealized understanding of the schools Pergamum and Ale‐ xandria) instead of seeing the division as different levels of commentary that can coexist within the work of one commentator […].” 73 Lamia 16, 30-32 (Wesseling 1986). 74 Lamia 16, 32-33; 17, 2-10 (Wesseling 1986). Dass Polizianos Aufwertung des gramma‐ ticus-Begriffs rezipiert wurde, zeigt z.B. ein Epigramm des Nicolas Bourbon von 1533 (Nugae 228): Grammaticus cur prima docens elementa vocatur, / Cum sit qui scripti calleat omne genus? Vgl. hierzu Laigneau-Fontaine 2015. 75 Lamia 16, 33-17, 2 (Wesseling 1986); Übersetzung Schönberger / Schönberger 2011, 47. stehungshintergrund beurteilt und ihr vielfältiges Deutungspotential nicht durch Beschränkung auf eine Disziplin untergräbt. 72 In der Lamia wird das philologische Credo des 1. Miszellenbuchs an den Be‐ griff des grammaticus gebunden: Grammaticorum enim sunt hae partes, ut omne scriptorum genus, poetas, historicos, oratores, philosophos, medicos, iureconsultos excutiant atque enarrent. 73 Den Begriff des grammaticus, so Poliziano, habe man zu seiner Zeit auf einen allzu engen Wirkungskreis beschränkt: Er bezeichne nicht etwa denjenigen, der den Schulbuben das ABC beibringt - dies wäre der litterator oder grammatista -, sondern den allseitig gebildeten Philologen und Literaturkenner. 74 Um die Bedeutung des grammaticus für die Erschließung des antiken Erbes hervorzuheben, zitiert Poliziano aus Quintilian, dessen Definition des Berufsfeldes er zugrunde legt: 75 At apud antiquos olim tantum auctoritatis hic ordo habuit ut censores essent et iudices scriptorum omnium soli grammatici, quod ob id etiam criticos vocabant, sic ut non versus modo - ita enim Quintilianus ait [Quint. inst. 1, 4, 3] - censoria quadam virgula notare, sed et libros etiam qui falso viderentur inscripti tanquam subditicios submo‐ vere familia permiserint sibi, quin auctores etiam quos vellent aut in ordinem redige‐ rent aut omnino eximerent numero. Doch genoss bei den Alten dieser Stand einst so hohes Ansehen, dass allein die Gram‐ matiker als Kunstrichter und als Beurteiler jeglichen Schrifttums galten, weshalb man sie auch Kritiker nannte. So erlaubten sie sich, nicht nur Verse (wie Quintilian sagt) mit einem kritischen Strich zu brandmarken, sondern sogar ganze Bücher, die ihnen unter falschem Namen zu laufen schienen, sozusagen als Wechselbalg aus der Familie auszustoßen. Der grammaticus war also gleichermaßen ein criticus, der Verse eliminierte, echte Werke von unechten schied, den Lektürekanon auswählte - kurzum: ein Textkritiker, der über das literarische Erbe wachte. Doch mehr noch: Die Auf‐ gabe des grammaticus als des Lehrers der mittleren römischen Schule hatte nach 250 4. Angriff des Exegeten 76 Quint. inst. 1, 4, 2-4. 77 Hierzu und zum grammaticus-Begriff allgemein Scaglione 1961; Mariani Zini 1999; Ca‐ ruso 2010; 2015. 78 Epist. 1, 15 (Gentile 1990, 39): Loqui superflua philologi est potius quam philosophi. Et cum paucissimi sint quibus multa sint nota, sepe qui multa locuntur aut falsa aut superflua locuntur aut utraque: omnia haec a viri dignitate aliena, a philosophi professione alienis‐ sima. Dazu Branca 1986, 468. Quintilian vorrangig zwei Aufgaben: recte loquendi scientia und poetarum enar‐ ratio, Sprachlehre und Dichtererklärung, wobei jene dieser voraufgehen musste. Zur angemessenen Dichtererklärung schließlich forderte Quintilian: excuti‐ endum omne scriptorum genus non propter historias modo, sed verba, quae fre‐ quenter ius ab auctoribus sumunt. 76 Expliziert wird dies durch das Postulat, der Schüler müsse in Musik, Astronomie, Philosophie und Naturwissenschaft ge‐ bildet sein, um sich die Texte, die er liest, hinreichend erschließen und seinem rednerischen Stil einpassen zu können. Hier liegt eine Programmatik präzise vorgeformt, auf die Poliziano nur zu verweisen braucht, um seinem Selbstver‐ ständnis als Gelehrter autoritären Ausdruck zu verleihen. Poliziano implemen‐ tiert Quintilians gestuftes Modell in der Weise, wie er es bereits zuvor in der Nennung der Nachtlampe des Aristophanes und des Cleanthes getan hatte: Zu‐ nächst hat die constitutio textus - der Zensorstrich ist hierfür das Bild - zu er‐ folgen, um richtiges (grammatisches und stilistisches) Verständnis des Textes zu gewährleisten; sodann ist der Text hinsichtlich seiner verba und seiner historia zu erschließen: Dies kann nur durch eine umfassende Bildung geschehen. Nur wer die fachspezifische Terminologie kennt, wird den historischen, den eigent‐ lichen Gehalt der Werke verstehen können. Dabei geht es um eine Behandlung des Textes, die von den grundlegenden Erfordernissen, einer ersten Verständ‐ nisebene, zu höheren exegetischen Methoden voranschreitet - das eine ohne das andere verfehlt die richtige Interpretation. 77 Warum hat Poliziano, der den grammaticus wenige Jahre zuvor noch ver‐ ächtlich in die nämliche Stampfmühle (pistrina) verdammt hatte, aus der er ihn in der Lamia wieder herauszuholen gedachte, die Aufwertung gerade dieses Begriffs und Berufsfeldes vorgenommen? Das Motiv dürfte ein polemisches sein, wie aus dem indirekten Dialog mit Ficino und Landino erhellt. Jener hatte in einem Brief an Poliziano den Philologen zugunsten des Philosophen diskre‐ ditiert; 78 letzterer hatte in seinen Disputationes Camaldulenses, jenem Monument der philosophisch-theologischen Allegorese, die Interpretation eines Textes zur Hauptaufgabe des Philosophen erklärt, wobei er Rhetorikern und Grammati‐ 251 4.2. Die Polemik der praefationes 79 Landino, Disputationes Camaldulenses 117-118 (Lohe 1980): Quod autem petis, id et multo divinius est et magis in obscuro latet et a nullo, quod ego quidem sciam, hactenus sua serie patefactum, quod neque grammaticus neque rhetor noverit, sed sit ex intimis philosophiae arcanis eruendum. Vis enim nosse, quid per sua illa aenigmata de Aeneae erroribus deque eius hominis in Italiam profectione sibi Maro voluerit. Vgl. Kallendorf 1983, 523-524. 80 Vgl. hierzu Leuker 1997, 288-289. 81 Landino selbst hatte sich in einer früheren Vorrede zur Vorlesung über Ciceros Tuscu‐ lanen ausdrücklich dagegen verwahrt, als philosophus wahrgenommen zu werden, um keine adrogatio zu begehen. Er wollte lediglich rhetor geheißen werden (Cardini 1974/ 1, 6-7 = Müllner 1899, 120-121). 82 Lamia 17, 11-19 (Wesseling 1986); Übersetzung Schönberger / Schönberger 2011, 48. kern ausdrücklich tieferes Textverständnis versagte. 79 Der aus dem Kampf der Disziplinen um Zuständigkeitsbereich und Grenzübertretung entstandene grammaticus ist somit ein Kampfbegriff. Dass Poliziano die kämpferische Auf‐ wertung des Begriffs nicht schon in der Miscellaneorum Centuria prima, sondern erst in der Lamia vornahm, lässt sich auf die veränderte Adressatensituation zurückführen. Sich auf den (vermeintlich) niederen Wirkungskreis eines gram‐ maticus zu beschränken, wäre vor dem neutralen Leserkreis der Centuria, die die Heilung von Texten unterschiedlicher disziplinärer Provenienz zum Ziel hatte, reduktiv und der Stilisierung zum vielseitig versierten Philologen wenn nicht abträglich, so zumindest nicht ausgesprochen förderlich gewesen. 80 Die Aufwertung des Begriffs drei Jahre später vollzieht Poliziano im Bewusstsein, damit einen vermeintlich geringeren Begriff für sich zu beanspruchen, um so dem Vorwurf der adrogatio zu wehren - dies ist apologetischer Usus. 81 Gleich‐ zeitig aber schafft er damit einen scharfen Gegenbegriff, ja Gegenberuf zu dem des philosophus, der ihm erlaubt, aus einer nur scheinbar geringeren Position heraus gegen die Philosophen zu Felde zu ziehen. Mit dem Begriff des gram‐ maticus lassen sich Apologetik und Polemik aufs Trefflichste verbinden: 82 Non scilicet philosophi nomen occupo ut caducum, non arrogo ut alienum propterea quod philosophos enarro. Rogo vos, adeon esse me insolentem putatis aut stolidum ut, si quis iurisconsultum me salutet aut medicum, non me ab eo derideri prorsus credam? Commentarios tamen iamdiu (quod sine arrogantia dictum videri velim) simul in ius ipsum civile, simul in medicinae auctores parturio et quidem multis vi‐ giliis, nec aliud inde mihi nomen postulo quam grammatici. Hanc mihi, rogo, appel‐ lationem nemo invideat, quam semidocti quoque aspernantur ceu vilem nimis et sor‐ didam. Ich mache mir den Namen Philosoph bestimmt nicht als herrenlos zu Eigen und be‐ anspruche ihn nicht als fremdes Gut, weil ich philosophische Werke erläutere. Ich 252 4. Angriff des Exegeten 83 Lamia 4, 11-12 (Wesseling 1986): Videamus ergo primum quodnam hoc sit animal quod homines philosophum vocant. 84 Lamia 5, 18 (Wesseling 1986). 85 Lamia 5, 1-2 (Wesseling 1986): Ni cachinnos metuam qui iam clanculum, puto, ebulliunt, habeo aliud quoque quod narrem. Sed narrabo tamen. Vos, ut lubet, ridetote. 86 Ficino, Commentariolus in symbola Pythagorae (Kristeller 1937, 2, 100-103). frage euch: Haltet ihr mich für so dreist oder töricht, dass ich, von jemand als Rechts‐ kenner oder Arzt angesprochen, nicht meine, schlichtweg verspottet zu werden? Und wenn ich auch schon lange (ohne Hochmut sei es gesagt) Erläuterungen sowohl zum bürgerlichen Recht wie auch zu medizinischen Autoren erarbeite, und zwar in zahl‐ reichen Nachtwachen, so verlange ich dafür keinen anderen Titel als den eines Gram‐ matikers. Diese Anrede mag mir, bitte, niemand neiden, einen Titel, den sogar Halb‐ gelehrte verschmähen, weil er ihnen zu billig und armselig ist. Der Antagonismus zwischen grammaticus und philosophus ist der Lamia kon‐ zeptuell zugrunde gelegt. Gleich zu Beginn, nachdem der Vorwurf der adrogatio vonseiten der Lamiae theatralisch aufs Tapet gebracht ist, fragt Poliziano: „Was ist das denn für ein Lebewesen, das die Menschen ‚Philosoph‘ nennen? “, und beginnt die Untersuchung bei Pythagoras, demjenigen, der sich selbst zuerst als Philosoph bezeichnet habe. 83 Rhetorisch gesehen beginnt hier, nach dem einlei‐ tenden Gleichnis und der Benennung des Streitpunkts, die argumentatio, an deren Ende die confutatio der Anklage stehen wird. Zunächst wird Pythagoras, jener tam portentosae sapientiae professor ac ven‐ ditator („großtuerischer Lehrer so abenteuerlicher/ widernatürlicher Philoso‐ phie“) 84 der Lächerlichkeit preisgegeben, indem Poliziano in Art eines Possen‐ reißers die pythagoreischen Lebensregeln als Witzworte referiert. 85 Damit setzt er sich erneut in Gegensatz zu Ficino, der einen Commentariolus in symbola Pythagorae verfasst hatte, wo versucht wurde, die pythagoreischen Lebensre‐ geln hermeneutisch zu erschließen. 86 Es ist insbesondere des Pythagoras Miss‐ achtung der weltlichen Künste und Wissenschaften, die Poliziano zur Desavou‐ ierung des bei den Platonikern in hohem Ansehen stehenden Philosophen - Ficino reiht ihn, wie wir sahen, unter die prisci theologi ein - veranlasst. Dies trifft freilich nur vordergründig den Philosophen Pythagoras - die wahren Gegner sind weit jünger als der Vorsokratiker. Ari Wesseling bemerkt zu den Adressaten der Polemik: “It looks very much as if in the Lamia Poliziano is poking fun at the Neoplatonists’ adoration of Pythagoras, so it seems likely that 253 4.2. Die Polemik der praefationes 87 Wesseling 1986, XVII. Hierzu auch Kraye 2002, 381: “It […] seems likely that by at‐ tempting to knock Pythagoras off his pedestal, Poliziano was, in effect, mocking Ficino’s exaggerated admiration for this predecessor of Plato.” 88 Lamia 6, 15-21 (Wesseling 1986); Übersetzung Schönberger / Schönberger 2011, 36. 89 Hierzu Wesseling 1986, 46. 90 Lamia 6, 21-23 (Wesseling 1986): Propriam autem philosophi esse supellectilem dixit nu‐ merorum scientiam, quos, inquit, a natura hominis si removeris, etiam ratio perpetuo pe‐ rierit. the Florentine Neoplatonists in general and Ficino in particular are also to be counted among the lamias of his lectures.” 87 Auf den Begriff der Weisheit gekommen, erläutert Poliziano den Antago‐ nismus zwischen Homer und den Philosophen, hier vertreten durch Pythagoras und Platon, nach Art des ciceronianischen Schismas von Herz und Beredsam‐ keit: 88 Olim autem, apud saeculum priscum, sapientes appellari consueverant etiam qui sel‐ lularias quasdam callebant artes, unde vates Homerus fabrum quoque lignarium sa‐ pientem vocat. Sed extitit Atheniensis quidam senex altis eminens humeris, ut aiunt, quem etiam putant homines Apolline satum. Hic sapientis esse negavit eas artis quae plerunque vitae inserviant, sive illae necessariae sive utiles sive elegantes sive ludicrae sive auxiliares sint. Einst aber, bei den Menschen der Frühzeit, bezeichnete man gewöhnlich auch jene Leute als „weise“, die Handwerke ausübten. Daher nennt der Dichter Homer auch jemand, der mit Holz arbeitet, „weise“. Doch trat ein Greis aus Athen auf, „mit hoch‐ ragenden Schultern“ (wie es heißt), von dem die Menschen meinen, er sei sogar ein Sohn Apolls. Dieser Weise bestritt, dass jene Künste, die vor allem dem täglichen Leben dienen, zu einem Weisen gehören, seien sie nun notwendig oder nützlich, erlesen, spielerisch oder hilfreich. Der Atheniensis senex Platon 89 wird in ähnlich lächerlicher Weise eingeführt wie zuvor Pythagoras. Pythagoras, so referiert Poliziano die Quellen, sei durch seinen goldenen Schenkel aufgefallen und mehrmals geboren und wiederge‐ boren worden. Platon sei ungewöhnlich groß und ein Sohn des Apoll gewesen. Der ironische Ton weicht schließlich einem spöttischen: Eigentlich habe Platon nur die Mathematik als Gebiet des Weisen gelten lassen und alles Übrige auf eine niedrigere Stufe verbannt. 90 Poliziano arbeitete in den 90er Jahren verstärkt an der Rehabilitation dieser niederen Künste. Im so betitelten Panepistemon („der Alleskönner, allseitig Gebildete“), der Vorrede zur aristotelischen Nikomachi‐ schen Ethik, über die er im akademischen Jahr 1490/ 91 gelesen hatte und die also der Lamia um ein Jahr vorausgeht, hatte Poliziano eine umfassende Systematik 254 4. Angriff des Exegeten 91 Hierzu Maïer 1960. Die Vorrede erschien im Februar 1492 bei Miscomini im Druck. Zur enzyklopädischen Ausrichtung und zum Einfluss des Sextus Empiricus auf die Gliede‐ rung der Wissensgebiete vgl. Cesarini Martinelli 1980. Zur Systematisierung vgl. auch Edelheit 2015. 92 Argyropulos hatte in der Praefatio in libris Ethicorum quinque primis (1456) eine um‐ fängliche divisio philosophischer Disziplinen vorgenommen, Landino in der Praefatio in Tusculanas Ciceronis (wohl 1457). Vgl. Maïer 1960, 338. Vgl. z.B. auch Giannantonio Campanos Antrittsvorlesung am Studio in Perugia De laudibus omnium scientiarum (1455). 93 Panepistemon (Poliziano 1553, 462); Übersetzung Schönberger / Schönberger 2011, 51. Vgl. zur Stelle Wesseling 1986, 44; Caruso 2015, 167; Edelheit 2015, 372. 94 Panepistemon (Poliziano 1553, 470): tonsores, balneatores, pilicrepi, alipili, mediastini, mangones, aliptae seu paedotribae, ciniflones, arcularii propolae, pigmentarii, coronarii, cosmetae, funerarii, libitinarii, designatores, praeficae. Übersetzung Schön‐ berger / Schönberger 2011, 65. sämtlicher Wissensgebiete aufgeboten, die als Vermächtnis seines enzyklopä‐ dischen Bildungspostulats gelten kann. 91 Freilich ist die aristotelische Unter‐ scheidung der Wissensgebiete bereits früher, auch in Florenz, von prominenter und berufener Seite vorgenommen worden; 92 nirgends allerdings waren die humanae artes in solcher Ausführlichkeit in eine Systematik der Philosophie eingegangen wie in Polizianos Panepistemon, wo noch die niedersten Künste integriert werden: 93 Mihi vero nunc Aristotelis eiusdem libros De moribus interpretanti consilium est ita divisionem istiusmodi aggredi ut, quoad eius fieri possit, non disciplinae modo et artes vel liberales quae dicuntur vel machinales, sed etiam sordidae illae ac sellulariae, quibus tamen vita indiget, intra huius ambitum distributionis colligantur. Da ich jetzt vorhabe, die Werke des genannten Aristoteles über die Ethik zu erläutern, will ich eine Zerlegung dieser Art unternehmen, indem ich nach Möglichkeit nicht nur die Wissenschaften und Künste, die man entweder freie oder technische nennt, in diese Unterteilung einbeziehe, sondern sogar die niedrigen und im Sitzen ausge‐ übten Handwerke, deren das Leben freilich bedarf. Inkludiert werden niedere Disziplinen, die Platon und Pythagoras ausge‐ schlossen hatten, ja selbst die niedersten Berufsgruppen finden in Polizianos enzyklopädischer Systematik einen Platz, so etwa die Dienstleister der Körper‐ pflege: „Barbiere, Bademeister, Ballspiel-Trainer, Haarauszupfer, Aufwärter, Bal‐ samhändler, Salber oder Masseure, die Haarkräusler, Händler mit Galanterie‐ waren, Schminkeverkäufer, Kranzwinder, Kleiderbewahrer, Bestatter, Leichenbesorger, Begräbnisordner, Klageweiber.“ 94 In der Aufnahme solcher Be‐ 255 4.2. Die Polemik der praefationes 95 Caruso 2015, 167: “Se già includere le arti meccaniche all’interno di una trattazione filosofica era una mossa ardita, inserire quelle vili e sedentarie dovette apparire una vera provocazione (si ricordi che anche il Panepistemon fu pronunciato pubblicamente all’università).” 96 Vgl. hierzu Silvano 2012; Hom. Il. 16, 617-618. Der Text findet sich im Magl. 8, 1420 BNC ff. 1-6. 97 Vgl. Hom. Il. 15, 111-112, wo das Wort sophos nicht vorkommt. Poliziano bezieht sich hier wohl auf eine Sekundärquelle, vielleicht Eustath. Comm. Il. 15, 411 (van der Valk 3, 749, 22-27) oder Schol. Gr. in Hom. Il. 4 (Erbse 1969, 97-98); vgl. Wesseling 1986, 44- 45. rufsstände hat man, freilich zu Recht, eine Provokation gesehen. 95 Dass aber Poliziano auch in anderem, nicht von Hader beeinflusstem Kontext niederen weltlichen Künsten breites philologisches Interesse entgegenbrachte, erhellt exemplarisch aus einer kürzlich von Luigi Silvano edierten Zusammenstellung Polizianos antiker Besprechungen zum Tanz, die wohl bereits in den 1470er Jahren entstanden ist. Hier ist es wiederum vor allem Homer, dessen Bemer‐ kungen zur ὄρχησις, so etwa des begnadeten Tänzers Merione, für die Relevanz dieser Kunst bürgen. 96 Im ideologischen und polemischen Rahmen der Lamia fungiert Homer, der auch dem Tischler Weisheit zurühmte, 97 als Galionsfigur dieses radikalenzyklo‐ pädischen Ansatzes, während Pythagoras und Platon, die sich in den Elfenbein‐ turm zurückgezogen hätten, die Kontrastfolie bilden. Die Autorität, auf die sich Poliziano für seine Selbstinszenierung beruft, ist also selbst noch auf der Höhe der Lamia, als sich Poliziano längst als Philologe sui generis hervorgetan hatte, der griechische Dichter. Im programmatischen Begriff des grammaticus löst Po‐ liziano den früheren des homericus adulescens ab, ohne dass sich die Überzeu‐ gung, die dadurch bezeichnet wird, im Kern ändert. Lediglich die Abwendung von der Dichterexegese hin zur philosophischen Kommentierung der 90er Jahre spricht sich hierin aus: Der Dichter und Ausleger von Dichtern wird zum Aus‐ leger von Philosophen; der Zugang zum Text ändert sich nicht. Wenngleich der grammaticus-Begriff aus einer definitorischen Not heraus entstanden war, so ist er der angemessenste und modernste Ausdruck humani‐ stischer Weltanschauung. Aldo Scaglione hat hierin nichts weniger gesehen als die Überwindung des mittelalterlichen Monismus und das eigentliche, pluralis‐ 256 4. Angriff des Exegeten 98 Scaglione 1961, 50-51: “Whereas the medieval man, philosopher or philologist as he might be, sought in ancient wisdom either a confirmation of or an introduction to con‐ temporary, medieval truths and values, the grammaticus of Politian’s school is primarily and ultimately concerned with the discovery of a pluralistic world made of relative, distinct, equally valuable viewpoints, to be reverently and ‘scientifically’ reconstructed in their unique, time-bound integrity. We have a fundamental historicism replacing a fundamentally monistic view of the world that tended to reconcile differences and va‐ rieties. It was, for instance, not even shared by his Neoplatonic friends Ficino and Pico, and in fact it implied a tacit though forceful reaction to their efforts in an altogether different direction. […] This ‘philosophy of philology’ is perhaps the most genuine message of Renaissance humanism, a message to be found neither before, in the middle ages, nor later, in the baroque or classicistic age.” 99 Vgl. Celenza 2010, 5-8; Caruso 2010, 51; Cesarini Martinelli 1996, 481. 100 Cesarini Martinelli 1996, 481: “Lorenzo era morto nel maggio. Poliziano solo allora, dopo tre anni di letture filosofiche, sente il bisogno di difendersi: era diventato forse più libero, ma anche più vulnerabile.” tische Vermächtnis der renaissancezeitlichen Beschäftigung mit der Antike. 98 In der Lamia ist der Übergang von der Dichterexegese zur Auslegung prosaischer - hier sind es philosophische - und damit aller zugänglichen Texte auch be‐ grifflich vollzogen. Der grammaticus, der Dichter erklärte, überträgt sein phi‐ lologisches Instrumentarium auf das gesamte kulturelle Erbe der Antike. Mit der Fokussierung auf den Text, der eine eigene, von externen Hierarchisie‐ rungen unabhängige Autorität hat, geht die Bedeutung des Kanons, der Rang‐ folge und der disziplinären Privilegien verloren. Bereits die Ilias-Übersetzung, die Texte unterschiedlichster Provenienz - Dichter neben Prosaikern, Vergil und Ovid neben Columella und Hieronymus - zu einer homogenen Nachdichtung verwob, war untrügliches Erkennungszeichen des streitbaren Vorkämpfers für einen Relativismus, der Dogmatismen jedweder Art ablehnte. Im grammaticus findet Polizianos humanistische Überzeugung schließlich den ihr angemessenen programmatischen Ausdruck. Es gibt deutliche Hinweise darauf, warum sich Poliziano erst 1492 genötigt sah, sich für seine philosophischen Vorlesungen umfassend zu rechtfertigen und sein Programm auf den (Kampf)begriff zu bringen. Im Frühjahr desselben Jahres, am 8. April 1492, war Lorenzo de’ Medici in der Villa Careggi verstorben, und damit derjenige Protektor und iudex, der Polizianos akademische Freiheiten und Grenzüberschreitungen sanktionierte und bestens entlohnte. 99 Es ist bezeich‐ nend, dass Polizianos umfänglichste Verteidigungsschrift, die gleichzeitig eine polternde Streit- und Profilierungsschrift ist, noch im Todesjahr Lorenzos ge‐ halten und bei Miscomini veröffentlicht wurde. 100 Mit dem Tod Lorenzos scheint auch Polizianos Stellung am Studio überhaupt bedroht gewesen zu sein: Er sah sich von allen Seiten wachsenden Feindseligkeiten ausgesetzt, Mitte September 257 4.2. Die Polemik der praefationes 101 Oliver 1958, 192-194; Del Lungo 1897, 182-183. 102 Garin 1952, 886-901. Eine ausführliche Besprechung des Briefs bei Godman 1998, 3-30. 103 Epist. 4, 2, 1 (Butler 2006, 226-229). 104 Epist. 4, 2, 2 (Butler 2006, 228). 105 Zur Propaganda der Briefe Martelli 1978. des Jahres 1494 erkrankte er plötzlich und ohne erkennbaren Grund, noch vor seinem Tod wurde sein Gehalt kassiert und auf andere Gelehrte am Studio ver‐ teilt. 101 Wie verletzlich Poliziano selbst auf der Höhe seines akademischen Wirkens ohne seinen Förderer war, zeigt der berühmte Brief an Jacopo Antiquari vom 18. Mai 1492, wo er dem befreundeten Milaneser Humanisten ausführlich vom Tode Lorenzos berichtete. 102 Zu Beginn des Briefes würdigt Poliziano die enorme Bedeutung, die der Medicifürst zu Lebzeiten für seinen Professorenstand hatte: 103 Ego vero, quo minus mature ad te rescripserim, non tam culpam confero in occupa‐ tiones […] quam in acerbissimum potius hunc dolorem, quem mihi eius viri obitus adtulit, cuius patrocinio nuper unus ex omnibus literarum professoribus et eram for‐ tunatissimus et habebar. Illo igitur nunc extincto, qui fuerat unicus auctor eruditi la‐ boris videlicet, ardor etiam scribendi noster extinctus est, omnisque prope veterum studiorum alacritas elanguit. Die Schuld dafür, dass ich dir nicht zeitig zurückgeschrieben habe, schiebe ich nicht so sehr auf meine Beschäftigungen […] als auf den bitteren Schmerz, den mir der Tod des Mannes zugefügt hat, unter dessen schützender Hand ich noch vor kurzem der glücklichste aller Professoren war und dafür gehalten wurde. Durch den Tod dieses Mannes nun, der, wie man weiß, der einzigartige Förderer wissenschaftlicher Arbeit gewesen war, ist auch meine Begeisterung für das Schreiben erloschen und fast aller Eifer zum Studium der Alten eingeschlafen. Als Chronist der letzten Stunden Lorenzos nahm Poliziano noch einmal die Ge‐ legenheit wahr, die Verhältnisse am Medicihof und insbesondere zwischen den Gelehrten der brigata medicea nach eigenem Gutdünken zu ordnen. So gleicht der Brief an Antiquari der Nacherzählung eines Theaterstücks (ceu specta‐ culum), wie bereits aus der Ankündigung des Schreibers hervorgeht, er wolle berichten, wie der Fürst „den letzten Akt seines Lebens gespielt habe“. 104 Tatsächlich nutzt Poliziano das Medium des Briefs und die Möglichkeit der ‚Berichterstattung‘, sich zum Nächstvertrauten des Magnifico, mithin zur Hauptperson neben dem Sterbenden zu stilisieren. 105 Exemplarisch hierfür ist die Szene, in welcher der sieche Lorenzo in die kleine Runde von Freunden, die 258 4. Angriff des Exegeten 106 Epist. 4, 2, 6 (Butler 2006, 234). Bereits früher in der Schilderung hatte es Poliziano an medizinischer Diagnostik und terminologischer Exaktheit nicht fehlen lassen, als er Lorenzos Krankheit analysierte: epist. 4, 2, 3 (Butler 2006, 228-229). 107 Epist. 4, 2, 6 (Butler 2006, 234-236). zum Sterbebett vorgelassen worden waren, fragt, welche Kuren der Arzt Lazzaro an ihm probiere. Freilich ist es der medizinisch versierte Poliziano, der die Ant‐ wort weiß: Der Arzt bereite ein epithema, um die inneren Schmerzen zu lin‐ dern. 106 Lorenzo erkennt sofort, von wem die Worte stammen, und bedenkt den Sprecher mit zärtlichen Worten: 107 agnita ille statim voce, ac me hilare intuens, ut semper solitus, ‘Heus,’ inquit, ‘heus Angele,’ simul brachia iam exhausta viribus aegre attollens, manus ambas arctissime prehendit. Me vero singultus lacrymaeque cum occupavissent, quas celare tamen reiecta cervice conabar, nihilo ille commotior etiam atque etiam manus retentabat. Ubi autem persensit fletu adhuc praepediri me quominus ei operam darem, sensim scilicet eas quasique dissimulanter omisit. Ego me autem continuo in penetrale thalami con‐ iicio flentem, atque habenas, ut ita dicam, dolori et lacrymis laxo. Er erkannte die Stimme sofort, sah mir heiter ins Gesicht und rief, wie er es immer tat, „Ach, mein lieber Angelo! “, gleichzeitig hob er mit letzter Kraft seine schon er‐ schöpften Arme und drückte fest meine beiden Hände. Als mich aber Schluchzen und Tränen überkamen, die ich mit abgewandtem Kopf zu verbergen suchte, hielt er, ebenso bewegt wie ich, mich wieder und wieder an den Händen zurück. Sobald er aber bemerkte, dass mich das Weinen so sehr in Beschlag nahm, dass ich ihm keine Auf‐ merksamkeit schenken konnte, ließ er meine Hände ganz allmählich und gleichsam heimlich los. Ich aber stürzte sofort ins innerste Zimmer der Wohnung und lockerte sozusagen meinem Schmerz und den Tränen die Zügel. Mit objektiver Berichterstattung hat diese Schilderung nur wenig gemein. Mit letzter Kraft ergreift Lorenzo die Hände Polizianos, der so überwältigt ist von der Szenerie, dass er sich zurückziehen muss. Die Inszenierung ist bis ins Detail ausgeklügelt: Poliziano suggeriert ein Freundschaftsverhältnis, das inniger nicht sein könnte. Lorenzo erkennt, obgleich er bereits deliriert, ‚sofort‘ die Stimme seines Poliziano. Auch der Einschub ut semper solitus - Lorenzo habe ihn wie immer freudestrahlend angeblickt - suggeriert einen allzeit ungetrübten Umgang der beiden Männer. Polizianos unsäglicher Schmerz lässt ihn schließ‐ lich das Zimmer verlassen, doch er flieht nicht etwa in den Vorraum, sondern - wohlgemerkt! - ins innerste Zimmer des Gebäudes: So hebt er auch räumlich die große Vertrautheit mit dem sterbenden Fürsten hervor. 259 4.2. Die Polemik der praefationes 108 Epist. 4, 2, 8 (Butler 2006, 236): ‘Vellem,’ ait, ‘distulisset me saltem mors haec ad eum diem, quo vestram bibliothecam absolvissem.’ 109 Epist. 4, 2, 14 (Butler 2006, 244): Duobus circiter ante obitum mensibus, cum in suo cubiculo sedens, ut solebat, Laurentius de philosophia et literis nobiscum fabularetur, ac se destinasse diceret reliquam aetatem in his studiis mecum et cum Ficino Picoque ipso Mirandula con‐ sumere, procul scilicet ab urbe et strepitu, negabam equidem hoc ei per suos cives licere, qui quidem in dies viderentur magis magisque ipsius et consilium et auctoritatem deside‐ raturi. 110 Epist. 4, 2, 14 (Butler 2006, 244-246). Bei seinem Wiedereintritt ist Poliziano sogleich wieder die beherrschende Eminenz der Sterbeszene. Lorenzo sieht ihn sofort: Ille ubi me vidit (vidit autem statim) vocat ad se rursum, quaeritque perblande quid Picus Mirandula suus ageret. Pico wird auf Wunsch Lorenzos und Betreiben Polizianos herbeigeholt, woraufhin der Neuankömmling und Poliziano selbst neben dem Bett Platz nehmen und Lorenzo - freilich erneut: ut solitus - geistreich und freundschaft‐ lich mit den beiden spricht. Schließlich blickt er sie an und seufzt scherzend: „Hätte mir doch der Tod wenigstens bis zu dem Tage Aufschub gewährt, an dem ich eure Bibliothek würde vollendet haben.“ 108 Der freundschaftliche Bund wird um eine Dimension erweitert. Verbunden sind die Männer vornehmlich durch ihre Liebe zur Wissenschaft - Lorenzos Trachten, so mag man Polizianos Dar‐ stellung deuten, war allein darauf gerichtet, die Förderung seiner gelehrten Freunde voranzutreiben. Schließlich, nachdem er sich einzeln von seinen engsten Vertrauten verab‐ schiedet und die letzte Ölung empfangen hatte, stirbt Lorenzo. Im Anschluss berichtet Poliziano von einer Unterredung, die sich zwei Monate vor dessen Tod ereignet habe. Lorenzo sei mit ihm - ut solebat - in seinem Schlafgemach ge‐ sessen und habe über Philosophie und Literatur gesprochen. Da habe ihm Lo‐ renzo gesagt, er wolle seine restliche Lebenszeit in der Gesellschaft Polizianos, Ficinos - dies ist bezeichnenderweise dessen einzige Erwähnung im Brief - und Picos ganz der Wissenschaft widmen. Da antwortete Poliziano, dass das wohl nicht angehe, da die Bürger von Florenz seines Rates und seiner auctoritas mehr denn je bedürften. 109 Da habe Lorenzo lächelnd geantwortet: Atqui iam […] vices nostras alumno tuo delegabimus, atque in eum sarcinam hanc et onus omne re‐ clinabimus. 110 Poliziano stilisiert sich hier nicht nur zum Consigliere des Medi‐ cifürsten, sondern gar zum Wahrer der künftigen Dynastie - Lorenzo übergibt die staatlichen Aufgaben seinem Sohn, sagt aber: „deinem Zögling“. Es schließen sich kriecherische Huldigungen an den Nachfolger Lorenzos an, die schwer er‐ träglich und kaum glaubhaft sind, insbesondere, wenn man frühere Schild‐ erungen Polizianos und allgemeine Berichte über den ‚Unglücklichen‘ (lo Sfor‐ tunato) - der Beiname thematisiert in euphemistischer Weise das politische und 260 4. Angriff des Exegeten 111 Der Text in Del Lungo 1867, 274-275; vgl. Leuker 2007, 435-438. diplomatische Versagen des neuen Medicifürsten - zum Vergleich heranzieht. Welchen Zweck die Liebedienerei verfolgt, ist klar: In dem Moment, in dem das Szepter in die Hände des Sohnes fiel, war Poliziano von dessen Gunst ebenso sehr abhängig wie vorher von der des Vaters. Nur wenige Jahre nach dem Tod Lorenzos war der Vorhang auch für die he‐ rausragenden Gelehrten der brigata medicea und damit für das Florentiner Ri‐ nascimento gefallen: Poliziano und Pico starben 1494 im Alter von 40 und 31 Jahren, Landino starb vier Jahre später 74-jährig, Ficino (1499) segnete kurz vor seinem 66. Geburtstag das Zeitliche. Auch der Kanzler der Republik, Bartolomeo Scala (1497), mit dem Poliziano so manchen erbitterten ideologischen Kampf ausgefochten hatte, erlebte die Jahrhundertwende nicht. Der Brief an Antiquari ist Polizianos letzter Versuch, sich als graue Eminenz und Theaterdirektor auf der Bühne der Wissenschaft und des Medicihofs am Ausgang des Quattrocento zu inszenieren. Noch ein weiteres Mal verabschie‐ dete sich Poliziano von seinem lebenslangen Förderer, diesmal bar der üblichen Selbstbeweihräucherung. In einem ergreifenden Trauergesang, der bei der Trau‐ erfeier für den Verstorbenen in Santa Maria del Fiore von den Cantori di San Giovanni vorgetragen wurde, goss Poliziano seinen Schmerz in bleibende Verse. Die letzten beiden Strophen des Liedes sollen die Untersuchung beschließen: 111 Laurus impetu fulminis Der Lorbeerbaum, vom Blitz getroffen, illa, illa iacet subito, er liegt darnieder plötzlich, Laurus omnium celebris der Lorbeerbaum, gefeiert von Musarum choris, den Chören aller Musen, Nympharum choris. den Chören aller Nymphen. Sub cuius patula coma Unter dessen weiter Krone et Phoebi lyra blandius des Phöbus Leier heller klingt et vox dulcius insonat; und seine Stimme lieblicher. nunc muta omnia, Jetzt ist alles still, nunc surda omnia. jetzt ist alles stumm. 261 4.2. Die Polemik der praefationes C. Ergebnisse Die vorliegende Arbeit, die von der Frage nach der Einheitlichkeit des Denkens Polizianos ausgegangen ist, hat gezeigt, dass Poliziano zu den grundlegenden Überzeugungen, die er zeitlebens als Dichter und als Gelehrter vertrat, bereits im Laufe der Abfassung seines Erstlingswerks, der lateinischen Hexameterü‐ bertragung der Gesänge 2-5 der Ilias, gefunden hat. Die humanistische Beschäftigung mit den homerischen Epen war vielfältigen Metamorphosen unterworfen - zunächst galt Homer als poeta philosophus und theologus, bald entdeckte man in ihm den poeta orator - und gelangte erst durch die Rezeption der pseudoplutarchischen Schrift De Homero zu einer konkreten Vorstellung Homers als Mittler enzyklopädischen Weltwissens. Kulminations‐ punkt ist Polizianos Ilias-Übertragung samt der handschriftlichen Randnotizen des Autors, die Homer als vorbildlichen Stilisten und als auf allen Gebieten ge‐ bildeten Dichter beschreiben. An den homerischen Dichtungen hat Poliziano seine poetologischen und humanistischen Überzeugungen erarbeitet. (Kap. A.1.1-2) Prägendste Lehrerfigur war hierbei der byzantinische Gelehrte Andronikos Kallistos, bei dem der junge Übersetzer eine Vorlesung über die Ilias hörte. Die enzyklopädische Textanalyse des Lehrers, nachvollziehbar in einer anonymen Vorlesungsmitschrift (Laur. 66, 31), findet spürbaren Widerhall in Polizianos spezifisch enzyklopädischer Ausrichtung seiner eigenen Ilias-Lektüre. Der Un‐ terschied in Übersetzung und Kommentierung der früheren Gesänge (2/ 3) zu den späteren (4/ 5), die eine stärker an den Realien orientierte Lesart zeigen, geht nachweislich auf den Einfluss des Byzantiners zurück. (A.1.3) Durch den Abgleich von griechischem Original, lateinischer Übersetzung und Randnotizen konnte ferner der poetischen Technik Polizianos, die man bisher mit unbestimmten Begriffen von contaminatio fontium und docta varietas zu fassen versuchte, ein Intertextualitätsmodell zugrunde gelegt werden, das für sämtliche seiner Dichtungen - für griechische, lateinische und vulgärsprach‐ liche - Gültigkeit besitzt. Dabei hat sich erwiesen, dass die übersetzerische Technik, die Poliziano zu imitatio und aemulatio Homers anwandte, mit der poetischen in den eigenen Dichtungen übereinstimmt. Der von Poliziano selbst gebilligte Begriff der ferruminatio, des ‚Verseschmiedens‘, stellte sich hier als gangbar heraus, da er die technische Seite des Dichtens betont: Poliziano wählte metrisch, motivisch und kontextuell geeignete Versatzstücke, die er Autoren unterschiedlichster Provenienz entnahm (linguistic model), im Hinblick auf ein übergeordnetes Modell (thematic model) aus. Dabei lässt die Wahl der models auf die stilistischen Postulate Polizianos schließen. (A.2.1) Die wesentlichen Merkmale des poetischen Stils Polizianos sind in der Ilias-Übersetzung präfiguriert. Zunächst die anschauliche, auf Erregung von Affekten zielende Darstellung (evidentia/ enargia), die auf antike Rhetoriktheorie (v.a. Quintilian) und Stilkritik (Macrobius) zurückgeht; sodann die Zurschau‐ stellung fachmännischer Expertise auf sämtlichen Wissensgebieten (enkyklios paideia), die sich vornehmlich in der philologischen Erschließung und Abbil‐ dung der Fachterminologie des homerischen Textes manifestiert. Als geeignete und bevorzugte Mittel für die Zusammenführung von Evidenz, Enzyklopädie und Philologie erweisen sich der Vergleich (comparatio) und der Katalog (cata‐ logus), deren Bedeutung in den Marginalien theoretisch erschlossen und deren Anspruch in der Übersetzung umgesetzt wird. Die weitgehende Ablehnung philosophischer oder theologischer Allegorese, die in den Randnotizen evident wird, komplettiert das präsentische Dichtungsprogramm Polizianos. (A.2.2) Ausgehend von diesen Grundbestimmungen konnte eine Entwicklungslinie für das eigenständige poetische Werk des Dichters beschrieben werden, wobei die poetologischen Komponenten, die jedem seiner Werke eignen, vom Autor unterschiedlich gewichtet werden: So wurde für die Frühphase die Evidenz als bestimmendes Merkmal beobachtet (Sylva in scabiem), für die mittlere Phase der Erweis fachmännischer Expertise in Art der Lehrdichtung (Rusticus) und für die letzte Phase der philologische Zuschnitt (Nutricia). (A.3.1-3) Im zweiten Teil der Arbeit wurde Polizianos ‚homerische‘ Poetologie in die platonisch geprägte Dichtungstheorie eingeordnet, die ihre Wurzeln im Früh‐ humanismus hat und in Florenz prominent von Ficino und Landino vertreten wurde. Zentral ist die Berücksichtigung der kommunikativen Interaktion zwi‐ schen den Gelehrten, wobei Dialog und Polemik als charakteristische Merkmale der renaissancezeitlichen Gelehrtenkultur in den Mittelpunkt gerückt wurden. In der polemischen Auseinandersetzung Polizianos mit den Vertretern der pla‐ tonischen Dichtungstradition, die sich zu einem Grundsatzkonflikt mit den Ge‐ lehrten am Florentiner Studio und am Medicihof ausweitete, sah sich Poliziano genötigt, seine Überzeugungen als Dichter wie als Gelehrter in ein schärfer konturiertes Profil zu überführen. Die Entwicklung von impliziter Ablehnung zu expliziter Polemik vollzieht sich innerhalb und aufgrund der spezifischen Gelehrtenkultur der Renaissance, die unter dem Paradigma der Autorisierung des eigenen Profils bei gleichzeitiger Gefahr der Verdrängung steht. (B.1.1-2) Hierbei wurde zunächst ausgegangen von den vulgärsprachlichen Dich‐ tungen Polizianos. Das Volgare hatte sich durch den Einfluss von Ficinos De amore zur bevorzugten Sprache für allegorisches Dichten entwickelt. Gleich‐ wohl sind Polizianos Stanze per la giostra, so hat sich entgegen anerkannten Forschungsmeinungen gezeigt, von der ficinianischen Dichtungstheorie weit‐ gehend unbeeinflusst geblieben. Im ersten Teil des 1. Stanze-Buchs, der nach epischen Motiven gestalteten Begegnung von Iulio und Cupido, ist eine Um‐ 266 C. Ergebnisse kehrung der ficinianischen Liebes- und Aszendenzphilosophie festzustellen: Die Liebesgötter geben dem Liebestrieb nach und nutzen das Konzept des amor di‐ vinus als Hilfsmittel, um den menschlichen Liebenden zu bestrafen. Ferner konnten zentrale Schilderungen des zweiten Teils, des regno di Venere, die bis‐ lang als ‚neuplatonische‘ Allegorien angesehen wurde, als Ausdruck einer Po‐ etologie der Evidenz erwiesen werden, der es an metaphysischen Deutungen nicht gelegen ist und die stattdessen die emotionale Affizierung des Lesers zum Ziel hat. So konnte beispielsweise die Bettszene von Mars und Venus in eine andere als die astrologische oder naturphilosophische Deutungstradition ein‐ geordnet werden, und zwar in die des burlesken Karnevalsliedes, wo nicht das allegorische Potential, sondern die unmittelbare Affizierung des Rezipienten im Vordergrund steht. In der Beschreibung des Portals des Venuspalastes, worin man bislang häufig neuplatonische Aszendenztheoreme verarbeitet gesehen hat, wurde vielmehr, gestützt durch entsprechende Reflexionen in Polizianos Kommentierung des Caligula Suetons, eine deutliche Ablehnung des ficinia‐ nisch-platonischen Wahrheitsbegriffs zugunsten einer affektiven Dichtung evi‐ dent. (B.2.1) Dasselbe gilt für die Fabula di Orfeo: Obwohl Poliziano auf eine reiche Tra‐ dition allegorischer Orpheusauslegung zurückgreifen konnte, schloss er theo‐ logische und moralphilosophische Untertöne aus. Hatte etwa Boccaccio in Or‐ pheus und Aristaeus die christlichen Tugendhelden repräsentiert gesehen, die vor der Sünde, Eurydike, fliehen, und hatten zeitgenössische Deutungen etwa durch Lorenzo die Episode platonisch-christlich zu interpretieren versucht, so stellt Poliziano Orpheus als Antihelden in einem Satyrspiel auf die Bühne, wobei die Rollen vertauscht werden: Die Unterwelt ist in Karnevalsstimmung, Eury‐ dike eine überirdische Schönheit, Aristaeus wird als verbrecherische Gestalt gezeichnet, Orpheus zu einer lächerlichen Figur destruiert, die ihre mythische Sangesgabe nutzt, um groteske Lieder wider die Frauen und für die Knabenliebe zu singen. Dabei autorisierte Poliziano die ovidische Variante der Homosexua‐ lität des Orpheus, die die vorangegangene Rezeption weitgehend ausgespart hatte. (B.2.2) Während die beiden Gedichte als dichterischer Ausdruck des bewusst voll‐ zogenen Bruchs mit der humanistischen Tradition gelten können, holte Poli‐ ziano die Ablehnung zeitgenössischer Dichtungskonzepte schließlich auch the‐ oretisch ein. In den Kommentaren zu den Silven des Statius und zu Ovids Fasti korrigierte er die platonische, von Ficino vertretene enthusiasmós-Lehre zur Vorstellung einer inflammatio animi, durch die der Dichter einem Gegenstand affektive Qualität verleiht. Voraussetzung ist nicht ein Gnadenakt Gottes, son‐ dern die Begabung, ingenium, des Dichters. Poliziano entwickelt ein triadisches 267 C. Ergebnisse Konkurrenzmodell auf der Grundlage der antiken Rhetoriktheorie, wonach der Dichter nach emotionaler Affizierung des Rezipienten streben müsse, indem er kraft seiner gegebenen Einbildungskraft (phantasia) Anschaulichkeit (evidentia/ enargia) erzeugt. Als Paradebeispiel des ingenium-Dichters fungiert Homer und wird als Autorität für Polizianos antificinianischen Dichtertypus eingeführt. (B.3.1) In den Nutricia schließlich nahm sich Poliziano der platonischen furor-Dok‐ trin erneut reinterpretierend an. Während der erste, einleitende Teil der silva Kernkonzepte der platonischen Dichtungstheorie in anspruchsvolle Hexameter kleidet, also Lehrdichtung über Inspirationsdichtung ist, erfährt die Vorstellung magnethafter Begeisterung aus dem Ion eine Uminterpretation: Die Übertra‐ gung des enthusiasmós wird nicht länger vertikal, vom Gott über den Dichter zum Rezipienten vorgestellt, sondern horizontal zwischen den Dichtern. Poli‐ ziano ersetzt die platonische Dogmatik einer sich explizierenden prisca theologia durch die Vorstellung einer Nachahmungsästhetik, die durch Rezeption und Überbietung (imitatio, invidia) der Vorgänger zustande kommt. Die Geschicht‐ lichkeit von Dichtung wird über ihren Wahrheitsanspruch gestellt - damit stellte sich Poliziano in scharfen Kontrast sowohl zu den Frühhumanisten, die im Nachweis der göttlichen Qualität der Dichtung ihr bevorzugtes apologeti‐ sches Instrument wider die Scholastiker gesehen hatten, als auch zu den zeit‐ genössischen platonischen Theorien, die am Medicihof und am Studio en vogue waren. (B.3.2) In das Jahr 1485 datierte Poliziano selbst den Beginn seiner invektivischen Angriffe gegen die Philosophen seiner Zeit, worunter explizit Ficino gezählt wird. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre kann eine allmähliche Abkehr von der Dichtererklärung hin zur Exegese sämtlicher Textgenera festgestellt werden. Zunächst reaktiviert Poliziano seinen früheren Ehrentitel des homericus adulescens, den er sich als junger Mann mit seiner Ilias-Übersetzung erworben hatte. Homer, den er als seinen ‚Nährvater‘ bezeichnete, machte er in der Folge (Ambra, Oratio in expositione Homeri, Praefatio in Charmidem) zur sichtbaren Galionsfigur und zum Sturmbock seiner humanistischen Überzeugungen. So legte er den Fokus verstärkt auf den Homerus philosophus, womit er das Postulat verband, dass es zur Beschäftigung mit der Philosophie philologischer Texter‐ schließung und historisch-kritischer Exegese bedürfe. In der Autorisierung Ho‐ mers als Vater aller Philosophen, die er in der Schrift De Homero vorexerziert fand, sah Poliziano die Möglichkeit, den Wandel vom Dichtungserklärer zum Ausleger aller Textgattungen, insbesondere philosophischer Literatur, zu voll‐ ziehen. (B.4.1) 268 C. Ergebnisse Die Vorwürfe der akademischen Grenzüberschreitung, adrogatio, denen sich Poliziano bald von verschiedenen Seiten, besonders der philosophischen, aus‐ gesetzt sah, nötigten schließlich einen klaren Positionsbezug ab, den der Ge‐ lehrte in mehreren Schriften (Praefatio in Charmidem, Miscellaneorum Centuria prima, Praefatio in Suetoni expositionem, Lamia) lieferte: Er erhob die Philologie vor der Philosophie zur Leitdisziplin, stilisierte sich selber unter Berufung auf Quintilian zum grammaticus, d.h. zum enzyklopädisch gebildeten Wahrer und Erklärer des antiken Erbes, und brachte sein philologisches Credo damit auf den Begriff. Zu den Aufgaben des grammaticus zählt die textkritische Vorarbeit zur Herstellung des besten Textes, dessen linguistische Analyse und letztlich die historisch-kritische Interpretation. An den Begriff des grammaticus knüpfte Po‐ liziano ferner sein bereits an der Homerübertragung geschultes interdiszipli‐ näres Textverständnis, das er nun in ein radikalenzyklopädisches Programm (Lamia, Panepistemon) überführte: Selbst einfache Handwerksberufe und nie‐ dere Künste verdienen es, in eine Systematik der Künste und Wissenschaften aufgenommen zu werden. (B.4.2) Der grammaticus war die neue und im Gelehrtenstreit belastbarere Bezeich‐ nung als das Mitte der 80er Jahre reaktivierte Etikett des homericus adulescens, unter dem Poliziano zunächst in Grenzstreit mit den Philosophen getreten war. Die Programmatik, die sich hinter beiden Begriffen verbirgt, unterscheidet sich indes nicht voneinander: Die philologisch-enzyklopädische grammaticus-Kon‐ zeption verweist auf Polizianos jugendliche Beschäftigung mit Homer, die die Grundlagen sowohl seiner Poetologie wie der theoretischen Beschäftigung mit Texten gelegt hat. In der Vorstellung des grammaticus hat Poliziano den wirk‐ mächtigsten Ausdruck für ein Programm gefunden, das geeignet war, die mit‐ telalterliche Lektüre und Textanalyse zugunsten einer schrankenlosen, inter‐ disziplinären Auffassung des Textes zu überwinden. Durch die früh erlernte philologische Betrachtungsweise des Textes geriet er zum Feind jeglicher Ka‐ nones, brach mit traditionellen Interpretationsmustern, die sich seit dem frühen Humanismus gehalten hatten, und ebnete so den Weg zur modernen Philologie. 269 C. Ergebnisse Literaturverzeichnis Editionen, Übersetzungen, Textsammlungen Poliziano Omnia opera Angeli Politiani, et alia quaedam lectu digna […], Venetiis: Aldus Manutius, 1498. Angeli Politiani opera, quae quidem extitere hactenus […], Basileae: Nicolaus Episcopus, 1553. Poliziano, Angelo: Prose volgari inedite e poesie latine e greche edite e inedite, a cura di Isidoro Del Lungo, Firenze 1867 (= Del Lungo 1867). Poliziano, Angelo: Sylva in scabiem, a cura di A. 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Ilias 10, 14-115, 143, 148, 152, 169, 185, 222 f., 232, 246, 265 Miscellaneorum Centuria prima 19 f., 107, 220, 223 f., 242 f., 248, 250, 252, 269 Miscellaneorum Centuria secunda 113, 180, 242 Odae In anum 71, 88 In puellam suam 88 Orfeo 12, 45, 119, 174-188, 267 Praelectiones De dialectica 237 In Andriam Terenti 26 In Persium 246 In Suetoni expositionem 171, 173, 217, 242 ff., 269 Lamia 45, 210, 221 f., 230, 232, 235 ff., 240-ff., 247-257, 269 Oratio in expositione Homeri 20, 128, 198, 209, 221-227, 239, 245-f., 268 Oratio super Fabio Quintiliano et Statii Silvis 191 Panepistemon 232, 254 ff., 269 Silvae Ambra 19, 53, 62, 100, 108, 147, 201 f., 209, 215 f., 221 f., 228 ff., 239, 245 f., 268 Manto 12, 53, 100, 168 Nutricia 43 f., 53, 86 f., 89 f., 100, 108-115, 120, 168, 188, 202-206, 209-213, 216-219, 222, 246, 266, 268 Rusticus 12, 49, 51, 65, 87, 100 ff., 104, 106f., 266 Sylva in scabiem 20, 71, 86 ff., 90 ff., 96, 98-101, 106, 108, 229, 266 Stanze 11 f., 45, 88, 119, 142-174, 178f., 182, 184-188, 203, 266 Alberti, Leon Battista 180 Alighieri, Dante 135 Conv. 135 Div. Comm. 135, 156, 158, 183 Vita Nova 156 Antiquari, Jacopo 126, 258, 261 Aphthonios 107, 108 Apollonios Rhodios 32, 159 Apostolios, Michael 39 Apuleius 65, 233 Argyropulos, Johannes 19, 34, 127, 255 Aristipp 139, 141, 227 Aristophanes von Byzanz 249 Aristoteles 25, 33-36, 39, 74, 124f., 130f., 196, 217, 226, 242-245, 248 APo. 221 APr. 221 Cat. 221 E.E. 255 EN 221, 254 G.C. 34 H.A. 242 Int. 221 Metaph. 130 Phys. 221 Poet. 13, 25, 196, 217 Pol. 36 Probl. 124, 244 S.E. 124, 221 Top. 74 Augustinus von Dänemark 131 Bade, Josse 237 Barbaro, Ermolao 220f. Basini, Basinio 24 Benci (de’), Ginevra 177 Benivieni, Girolamo 140 Beroaldo d.Ä., Filippo 215 Bessarion (Kardinal) 32, 39 f. Bibbiena (Bernardo Dovizi) 185 Blumenberg, Hans 121 f. Boccaccio, Giovanni 21, 23, 40, 131 f., 176 ff., 181 f., 189, 267 Fiam. 154 Gen. deor. gent. 23, 131, 176 f. Boethius 176 Bonciani, Antonio 156 Bourbon, Nicolas 250 Braccesi, Alessandro 172 Bracciolini, Poggio 124, 126, 139 Bruni, Leonardo 24 f., 124, 132, 189 Dial. ad Petr. Hist. 124 Budé, Guillaume 226 Burckhardt, Jacob 121, 126 Caesar 43 Calderini, Domizio 98, 108, 112, 126, 190, 198, 215 Calpurnius Siculus 53, 175, 186 Campano, Giannantonio 255 Cassian, Johannes 131 Castiglione, Baldassare 185 Cato d.Ä. 96, 101 Catull 53 Cavalcanti, Giovanni 140 Cavalcanti, Guido 138, 140 Celsus, Aulus Cornelius 95 f. Chalkokondyles, Demetrios 225, 247 Chrysoloras, Manuel 23 f. Cicero 21, 42 f., 61, 84, 132, 134, 191 ff., 210, 215 Arch. 131 Brut. 192 f. de orat. 134, 191 f. Namensverzeichnis div. 134, 191, 215 inv. 206 Tusc. 22, 221, 252 Claudian rapt. 107, 148, 159 Columella 35 f., 53, 60, 95 f., 101-104, 257 Cortesi, Paolo 42, 44, 218 f. Cossa, Francesco 166 Decembrio, Pier Candido 24 f. Della Porta, Giovanni Battista 247 Demetrios von Phaleron 180 Demokrit 134, 191 f., 195 f., 200, 227, 229 Diogenes Laertios 172 Dioskurides, Pedanios 95 Donà, Girolamo 220 f. Ennius 132 Epikur 139, 227 Euripides Cycl. 179 ff., 184 ff. Eusebius von Caesarea 109 Eustathios von Thessalonike 38, 62, 73, 78, 85, 96 f., 109, 113, 241 Comm. Il. 32, 72 ff., 97, 256 Ficino, Marsilio 10 f., 13, 19, 21, 28, 34, 39 f., 119, 127 ff., 132-144, 152, 155, 158, 160, 163- 173, 177 f., 187, 189 f., 196 f., 203-214, 220 f., 223, 236-240, 244, 246 f., 253 f., 257, 260 f., 266 ff. Chr. rel. 240 epist. 21, 128, 132, 134 f., 141, 165, 172, 210, 212, 239, 251 In Plat. Charm. 238 In Plat. Ion. 133, 212, 214 In Plat. Prot. 209 In Plat. Symp. (de amore) 135-140, 142, 144 f., 155, 160, 164, 177, 266 In Plot. Epit. 39 In symb. Pyth. 253 Theol. Plat. 133, 138, 196 f. Fonzio, Bartolomeo 31, 34, 42, 44, 247 f. Galen 59, 61, 95, 245 Gazes, Theodoros 242 f. Gilbert von Poitiers 221 Giovannino da Mantova 131 Guarini, Guarino 24 Hermias von Alexandria 201 Herodot (Ps.-) Vita Homeri 199, 226 Hesiod 32, 51 ff., 100, 133, 172, 217 f., 233, 239 Hieronymus (Kirchenvater) 57, 109 Hippokrates 61 Homer 10-115, 133, 147 ff., 151, 165, 170, 172-f., 177, 195, 199-203, 211, 215 f., 218, 220-224, 226-230, 233, 239 ff., 246, 254, 256, 265 f., 268 f. Il. 24-32, 47, 55-84, 90 f., 96 ff., 106, 152, 157, 169, 185, 220, 226, 233, 241, 256 Od. 25, 220, 226 Batr. 94, 226 Marg. 25, 226 Horaz ars 207 f. Huizinga, Johan 121 Hutten, Ulrich von 126 Iamblich 237 Isidor von Sevilla 59 Kallistos, Andronikos 14, 29-40, 54, 59 f., 74, 78, 115, 143, 225, 241, 246, 265 Arist. G.C. 34 f., 37 ff., 232 Kleanthes (Stoiker) 249 Namensverzeichnis 291 Korinna 112 f. Kristeller, Paul Oskar 125 Landino, Cristoforo 11, 40, 64, 119, 127, 135, 139, 143 f., 168, 187, 189, 198, 203, 206 f., 231, 241, 247, 251 f., 261, 266 Comm. Dant. Proem. 208 Disp. Camald. 135, 139, 143, 251 f. Praef. in Cic. Tusc. 252, 255 Prol. Dant. 190 Prol. Petr. 208 Lascaris, Giano 226 Leoni, Pierleone 61 Libanios 107 Livius 43 Lukrez 50 f., 53, 80, 105, 133, 139, 141, 159 f., 162 f., 206, 213 Mabilio da Novate 247 Machiavelli, Niccolò 126 Macrobius 21 f., 37 f., 63 f., 72, 78, 80 f., 93, 212, 241, 266 Sat. 22 f., 37, 64, 72, 77, 81 Somn. 212 Mai, Angelo 10 Manilius 36, 206 Marcellus, Nonius 60 Marrasio, Giovanni 132 Marsuppini, Carlo 22, 24 f. Martial 46, 107 f. Maximus von Tyros 111 Medici (de’), Cosimo 39, 128 Medici (de’), Giuliano 11, 143, 145 Medici (de’), Lorenzo 10 f., 34 f., 41, 100, 107 ff., 127, 129, 136, 143 f., 147, 177, 232 ff., 246, 257-261 Cant. carn. 165, 183 Com. de’ miei sonetti 140, 177 f. Rime 177 Medici (de’), Piero 238 Medici (de’), Piero di Lorenzo 10, 20, 225, 260 Merula, Giorgio 42, 112 Michelet, Jules 121 Mussato, Albertino 130 ff. Nemesian 53 Nikolaus V. (Papst) 24 Nikolaus von Kues 197 f. Nonnos 107 f. Origenes 131 Orsini, Fulvio 26 Ovid 70, 152, 159, 161, 182 f., 195 f., 257 am. 154, 221 ars 93, 159 fast. 86, 195, 267 her. 70, 111 met. 22, 48 f., 51, 53, 67, 94, 101, 150, 161, 182, 184, 186, 265 Pont. 100 Palladius 101 Paolo del Rosso 140 Paulus von Middelburg 128 Persius 49, 180 Petrarca, Francesco 21 ff., 37, 40, 131 f., 135 f., 154, 177, 183 Afr. 23 Buc. 23 Rer. fam. 132 Rer. mem. 23 RVF 156, 183 Sen. 177 Tr. Cup. 154, 156 Petreio 20, 62, 215 Photios I. 147 Pico della Mirandola, Giovanni 19, 128, 136, 140 f., 164 f., 177, 209, 220-f., 257, 260 f. Or. de hom. dign. 209 292 Namensverzeichnis Sopra una canzone 140 f., 177 Pilato, Leonzio 23 Pindar 113, 133 Platon 13, 39, 132, 134, 136, 141, 163, 171 ff., 205, 211-214, 221, 226, 233-236, 238-f., 254 ff. Apol. 133 Charm. 233, 238 Ion 132 f., 173, 191, 196, 208, 212-215, 268 Phaedr. 24, 132 f., 138, 191, 195, 201, 208 Resp. 173, 210, 212 Symp. 136, 177 Tim. 210 Plethon, Georgios Gemistos 39 Plinius d.Ä. 43, 85, 95 Plinius d.J. 43 Plotin 39, 128, 136, 164, 237 Plutarch (Ps.-) De Homero 25, 32, 37, 62, 74 ff., 164, 226 f., 265, 268 Porphyrios 221 Prisciani, Pellegrino 180 Proklos 28, 209 In Plat. Tim. 28 Ptolemaios Chennos 147 Pulci, Luigi 127, 140 ff., 146 f., 156 Pythagoras 172, 226, 233, 239, 253-256 Quintilian 43, 63 f., 71, 73, 75, 84, 101, 190 f., 194, 216 f., 219, 221, 227, 250 f., 266, 269 Sallust 43 Salutati, Coluccio 23, 40, 124, 131 f., 189 De lab. Herc. 131 Sappho 109-114 Scala, Bartolomeo 42, 124, 261 Seneca d.J. 43 Phaedr. 150, 153 f. Sigeros, Nikolaos 22 Silius Italicus 53, 58, 70 Statius 85, 163, 193, 199 silv.65, 85, 96, 98, 107, 111, 124, 158, 162, 180, 190 f. Theb. 68, 93, 148 Strabon 85 Suda 109, 111 Sueton 173, 221, 247 Thomas von Aquin 130 Tornabuoni, Lorenzo 222 Trapezuntios, Georgios 39 Triklinios, Demetrios 28 Tzetzes, Johannes 38, 180, 241 Valerius Flaccus 148 Valla, Lorenzo 24, 124 ff., 198, 219 Varro 96, 101-104, 249 ling. 60, 248 f. rust. 60, 102 ff. Vergil 49, 53, 61, 63 ff., 72, 77, 81, 93 f., 100- 108, 148, 168, 182 f., 199 f., 217, 257 Aen. 51, 53, 60, 64 f., 68 f., 71 f., 77 ff., 82, 93, 150, 158, 243 ecl. 52 georg. 36, 49, 51, 53, 61, 64, 72, 77, 80, 91, 95, 100-103, 105, 176, 182 Culex 92 De rosis nasc. 107 Veronese, Paolo 166 Vespucci, Simonetta 144 Vitruv 49, 180 Namensverzeichnis 293 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 66, 31, c. 134r (Detail)..................................................................................................... 56 Abb. 2: Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 66, 31, c. 134v (Detail)..................................................................................................... 56 Su concessione del MiBACT E’ vietata ogni ulteriore riproduzione con qualsiasi mezzo. NeoLatina herausgegeben von Thomas Baier, Wolfgang Kofler, Eckard Lefèvre und Stefan Tilg Die NeoLatina wurde im Jahr 2000 ins Leben gerufen und hat sich seither zu einem maßgeblichen Organ auf dem Gebiet der neulateinischen Studien entwickelt. In die Reihe finden einschlägige Monographien, kommentierte Textausgaben sowie Sammelbände zu klar umgrenzten Gebieten Eingang. Von Interesse ist die gesamte lateinische Literatur und Kultur seit der Frührenaissance, z.B. die Rezeption antiker Autoren oder die Stellung des Neulateins im Kontext der aufkommenden Nationalliteraturen. Die Reihe ist für Klassische Philologen, Neuphilologen, Historiker sowie alle auf dem Gebiet der Frühen Neuzeit Forschenden von Bedeutung. Seit 2017 werden alle Bände einem Single Blind Peer-Review-Verfahren mit zwei Gutachtern unterzogen. Bereits erschienen: 1 Ulrike Auhagen / Eckard Lefèvre / Eckart Schäfer (Hrsg.) Horaz und Celtis 2000, 338 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-8233-5791-9 2 Ulrike Auhagen / Eckart Schäfer (Hrsg.) Lotichius und die römische Elegie 2001, 322 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-8233-5792-6 3 Eckard Lefèvre / Karin Haß / Rolf Hartkamp (Hrsg.) Balde und Horaz 2002, 393 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-5793-3 4 Thomas Baier (Hrsg.) Pontano und Catull 2002, 321 seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-5794-0 5 Eckart Schäfer (Hrsg.) Johannes Secundus und die römische Liebeslyrik 2004, 370 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6080-3 6 Joachim Camerarius Eclogae / Die Eklogen herausgegeben von Lothar Mundt 2004, XXXVII, 327 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6081-0 7 Tamara Visser Antike und Christentum in Petrarcas Africa 2004, V, 411 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6117-6 8 Gérard Freyburger / Eckard Lefèvre (Hrsg.) Balde und die römische Satire/ Balde et la satire romaine 2005, 343 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6141-1 9 Ulrike Auhagen / Stefan Faller / Florian Hurka (Hrsg.) Petrarca und die römische Literatur 2005, 337 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6142-8 10 Eckart Schäfer (Hrsg.) Sannazaro und die Augusteische Dichtung 2005, 278 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6193-0 11 Eckart Schäfer (Hrsg.) Sarbiewski Der polnische Horaz 2006, 321 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6224-1 12 Reinhold Glei (Hrsg.) Virgilius Cothurnatus - Vergil im Schauspielhaus Drei lateinische Tragödien von Michael Maittaire 2006, 220 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6238-8 13 Eckard Lefèvre / Eckart Schäfer (Hrsg.) Daniel Heinsius Klassischer Philologe und Poet 2007, 443 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6339-2 14 Thorsten Fuchs Philipp Melanchthon als neulateinischer Dichter in der Zeit der Reformation 2007, 428 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6340-8 15 Eckart Schäfer / Eckard Lefèvre (Hrsg.) Michael Marullus Ein Grieche als Renaissancedichter in Italien 2008, 288 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6435-1 16 Eckart Schäfer (Hrsg.) Conrad Celtis: Oden / Epoden / Jahrhundertlied Libri Odarum quattuor, cum Epodo et Saeculari Carmine (1513) 2012, 394 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6635-5 17 Eckard Lefèvre / Eckart Schäfer (Hrsg.) Ianus Dousa Neulateinischer Dichter und Klassischer Philologe 2009, 360 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6525-9 18 Eckard Lefèvre / Eckart Schäfer (Hrsg.) Beiträge zu den Sylvae des neulateinischen Barockdichters Jakob Balde 2010, 351 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6614-0 19 Marie-France Guipponi-Gineste / Wolfgang Kofler / Anna Novokhatko / Gilles Polizzi (Hrsg.) Die neulateinische Dichtung in Frankreich zur Zeit der Pléiade / La Poésie néo-latine en France au temps de la Pléiade 2015, 340 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6702-4 20 Wolfgang Kofler / Anna Novokhatko (Hrsg.) Cristoforo Landinos Xandra und die Transformationen römischer Liebesdichtung im Florenz des Quattrocento 2016, 300 Seiten ca. €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6785-7 21 Stefan Tilg / Isabella Walser (Hrsg.) Der neulateinische Roman als Medium seiner Zeit/ The Neo-Latin Novel in its Time 2013, VIII, 262 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6792-5 22 Iris Heckel (Hrsg.) Floris van Schoonhoven Lalage sive Amores Pastorales - Lalage oder Bukolische Liebesgedichte (1613) 2014, 468 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6897-7 23 Thomas Baier / Jochen Schultheiß (Hrsg.) Würzburger Humanismus 2015, X, 295 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6898-4 24 Thomas Baier / Tobias Dänzer / Ferdinand Stürner (Hrsg.) Angelo Poliziano Dichter und Gelehrter 2015, X, 278 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6977-6 25 Patrick Lucky Hadley Athens in Rome, Rome in Germany Nicodemus Frischlin and the Rehabilitation of Aristophanes in the 16th Century 2015, 185 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6923-3 26 Philipp Weiß Jacob Balde Epithalamion 2015, 195 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6993-6 27 Thomas Baier (Hrsg.) Camerarius Polyhistor Wissensvermittlung im deutschen Humanismus 2017, 363 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8109-9 28 Tobias Dänzer Poetik und Polemik Angelo Polizianos Dichtung im Kontext der Gelehrtenkultur der Renaissance 2018, 295 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8163-1 29 Werner Suerbaum Vergils Epos als Drama Die Gattungstransformation der Inclyta Aeneis in der Tragicocomoedia des Johannes Lucienberger, Frankfurt 1576 2018, 514 Seiten €[D] 118,- ISBN 978-3-8233-8225-6 Der Florentiner Humanist Angelo Poliziano (1454-1494) zählt zu den zentralen Figuren der Renaissance. Bedeutende Leistungen vollbrachte er auf dem Gebiet der Philologie, als Dichter schuf er bleibende Werke auf Griechisch, Latein und im Volgare. Er war Professor an der Florentiner Universität und gehörte zum engsten Kreis des Medicifürsten Lorenzo il Magnifico. Dieser Band trägt dazu bei, das vielfältige poetische und akademische Werk Polizianos, ausgehend von seiner Dichtungskonzeption und mit besonderem Fokus auf eine nahezu unbeachtete Schaffensphase, auf eine neue Grundlage zu stellen. Den Ausgangspunkt bildet die frühe Übersetzung der homerischen Ilias in lateinische Hexameter: Durch sie entwickelte Poliziano einen radikalen enzyklopädischen Zugang zum antiken Text, den er zur Maxime seines humanistischen Denkens erhob und später in scharfen Gelehrtenfehden behauptete. Indem die epochale Rolle der Polemik anhand eines der wichtigsten italienischen Humanisten exemplifiziert wird, leistet der Band einen Beitrag zum Verständnis der Epochenstruktur der Renaissance. ISBN 978-3-8233-8163-1