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Literarische Dimensionen der Menschenwürde

2017
978-3-7720-5634-5
A. Francke Verlag 
Max Graff

Der für den heutigen Wertekanon zentrale Begriff der Menschenwürde wird zwar kontrovers diskutiert, bleibt aber unscharf. Die Literatur - als Medium, das in der Uneindeutigkeit und in der Doppelbödigkeit erst seine vollen Sinnpotentiale entfaltet - pflegt spätestens seit der Frühaufklärung einen eigenen Menschenwürdediskurs, der nicht bloß außerliterarische Argumentationen reproduziert, sondern die Frage nach der Menschenwürde auf eigene Weise, mit genuin literarischen Mitteln, beantwortet. Die Studie zeichnet die bislang vernachlässigten literarischen Dimensionen der Menschenwürde nach, anhand eines breiten Textcorpus, das von der Frühaufklärung bis in die Gegenwart reicht und unter anderem Texte von Gottsched, Schiller, Kotzebue, Büchner, Benn, P. Weiss, Schlink, Jelinek und von Schirach beinhaltet.

Der für den heutigen Wertekanon zentrale Begriff der Menschenwürde wird zwar kontrovers diskutiert, bleibt aber unscharf. Die Literatur - als Medium, das in der Uneindeutigkeit und in der Doppelbödigkeit erst seine vollen Sinnpotentiale entfaltet - pflegt spätestens seit der Frühaufklärung einen eigenen Menschenwürdediskurs, der nicht bloß außerliterarische Argumentationen reproduziert, sondern die Frage nach der Menschenwürde auf eigene Weise, mit genuin literarischen Mitteln, beantwortet. Die Studie zeichnet die bislang vernachlässigten literarischen Dimensionen der Menschenwürde nach, anhand eines breiten Textcorpus, das von der Frühaufklärung bis in die Gegenwart reicht und unter anderem Texte von Gottsched, Schiller, Kotzebue, Büchner, Benn, P. Weiss, Schlink, Jelinek und von Schirach beinhaltet. ISBN 978-3-7720-8634-2 Graff Literarische Dimensionen der Menschenwürde Max Graff Literarische Dimensionen der Menschenwürde Exemplarische Analysen zur Bedeutung des Menschenwürdebegriffs in der deutschsprachigen Literatur seit der Frühaufklärung Literarische Dimensionen der Menschenwürde Max Graff Literarische Dimensionen der Menschenwürde Exemplarische Analysen zur Bedeutung des Menschenwürdebegriffs in der deutschsprachigen Literatur seit der Frühaufklärung Umschlagabbildung: Marcos Morales © 2017. Abdruck mit freundlicher Genehmigung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb. de abrufbar. Zugl.: Dissertation, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 2016 © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-5634-5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Prolog: Die Menschenwürde als ästhetisches Problem - Ferdinand von Schirachs Terror (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I. Menschenwürde - Annäherung an einen unscharfen Begriff . . . . . . . 17 II. Facetten des Menschenwürdebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 III. Menschenwürde als ästhetisches Problem - Zu Vorgehen, Korpus und Erkenntnisziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 IV. Terminologische Zwischenbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 V. Menschenwürde und die Schöne Literatur - Forschungsüberblick . 38 B. Literarische Dimensionen der Menschenwürde: Exemplarische Analysen . . . 47 I. „Was sich vor mich nicht schickt, das werd ich auch nicht tun“-- Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732) . . . . . . . . . . . . . . 49 I.1. Gottscheds akademische Reden über den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 49 I.2. Exkurs I: Die Menschenwürde in den moralischen Wochenschriften der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I.3. Exkurs II : Die Ständeklausel - kontingente Würde als problematische Voraussetzung für Tragödienfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 I.4. Sterbender Cato . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 I.4.1. Catos Handeln als Beweis und Garant seiner Menschenwürde 55 I.4.2. Die problematische Bewertung der Figur Cato . . . . . . . . . . . . . . . . 60 I.4.3. Die Dramatisierung des Suizids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 I.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Gottsched . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts und als Auftrag der Literatur (1750 - 1810) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 II.1. Friedrich Schiller: Die Künstler (1789) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 II.2. Die Menschenwürde im 18. Jahrhundert zwischen Philosophie, Anthropologie und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 II.3. Lessings Poetik der Identifikation und des Mitleids . . . . . . . . . . . . . . . . 83 II.4. Menschenwürde, Sinnlichkeit und Tat bei J. M. R. Lenz . . . . . . . . . . . . 88 II.5. Ästhetische Menschenwürde: Karl Philipp Moritz . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 II.7. Ausblick: Die Menschenwürde bei Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 6 Inhaltsverzeichnis III. „Sage mir Bruder, hältst du deine Sklaven für Menschen? “- - Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) . 125 III.1. Bemerkungen zu Vorbericht und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 III.2. Die diskursive Begründung der Menschenwürde in Dialogen der Figuren William und John . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 III.3. Die literarische Konstitution von Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . 136 III.4. Menschenwürdeverletzungen und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . 143 III.5. Kindsmord und Freitod als dramatische Prüfsteine der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 III.6. Problematisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 III.7. Dimensionen der Menschenwürde in Kotzebues Die Negersklaven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 IV.1. Die Menschenwürde in Büchners Schulschriften und -reden über den Freitod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV.2. Die verletzte Menschenwürde - Der Hessische Landbote (1834) . . 157 IV.2.1. Die Rhetorik der Entwürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 IV.2.2. Die naturrechtlich begründete Menschenwürde . . . . . . . . . . . . 161 IV.2.3. Menschenwürde und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 IV.3. „Man muß die Menschheit lieben“ - Die literarische Konstitution von Menschenwürde im Lenz (1835 / 39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 IV.3.1. Lenz als vermeintlich würdelose Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 IV.3.2. Die Konstitution von Menschenwürde durch erzählerische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 IV.3.3. Die Menschenwürde und das Kunstgespräch . . . . . . . . . . . . . . . 171 IV.4. „Bin ich ein Mensch? “ - Grenzprobleme im Woyzeck (1836 / 37) . . 173 IV.4.1. Das vermenschte Tier, der vertierte Mensch: die Jahrmarktszene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 IV.4.2. Der Menschenversuch und seine innerfiktionale Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 IV.4.3. Entwürdigung = Würdelosigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 IV.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Büchner . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 V.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde für die Literatur des Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 V.1.1. Theoretische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 V.1.2. Exkurs: Menschenwürde und Mitleid in der Philosophie Arthur Schopenhauers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 V.1.3. Arno Holz’ kunsttheoretische Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Inhaltsverzeichnis 7 V.1.4. Die Menschenwürde in poetologischen Aussagen Gerhart Hauptmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 V.2.1. „So’n Hundeleben! “ - Arno Holz / Johannes Schlaf: Papa Hamlet (1889) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 V.2.2. Das naturalistische Postulat der Willensunfreiheit und seine Problematisierung in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 V.2.3. Holz / Schlaf: Die Familie Selicke (1890) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 V.3. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur des Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus . . . . . . . . . . . . . . 227 VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde im Expressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 VI.1.1. Nietzsches Kritik am Begriff der Menschenwürde . . . . . . . . . . 227 VI.1.2. Die Menschenwürde in programmatischen Texten des Expressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 VI.1.3. Exkurs: Die Ästhetik der Würdelosigkeit bei Charles Baudelaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 246 VI.2.1. Der würdelose Mensch als literarisches Sujet . . . . . . . . . . . . . . . 246 VI.2.2. „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“ - Die Reduktion des Menschen, der würdelose menschliche Körper und die Destruktion der Menschenwürde . . . . . . . . . . 250 VI.2.3. Neue Menschen(würde)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 VI.2.4. Kriegserfahrung in der expressionistischen Lyrik . . . . . . . . . . 263 VI.2.5. Der vertierte Mensch im Expressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 VI.3. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur des Expressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 VII.1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 VII.1.1. Sprache, Menschenwürde und Nationalsozialismus . . . . . . . . 279 VII.1.2. Exkurs I: Menschenwürde nach dem Nationalsozialismus: Jean Amérys Essaysammlung Jenseits von Schuld und Sühne (1966) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 VII.1.3. Die Menschenwürde und die ‚Literatur nach Auschwitz‘ - Forschungspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 8 Inhaltsverzeichnis VII.1.4. Die Menschenwürde und die ‚Literatur nach Auschwitz‘ - ein poetologisches Problem (Borchert, Böll, Schlink) . . . . . . 293 VII.1.5. Exkurs II : Die Flugblätter der Weißen Rose, Schiller und die Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 VII.2. Textanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 VII.2.1. Lagerromane (Seghers, Levi, Remarque, Müller) . . . . . . . . . . . 304 VII.2.2. Exekutionsszenen und ihre ästhetischen Implikationen: Alfred Neumann und Peter Weiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 VII.2.3. Die Sprache der Täter und ihre Dekonstruktion: Peter Weissʼ Die Ermittlung (1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 VII.2.4. Die Menschenwürde der Täter (Fallada, Schlink) . . . . . . . . . . 366 VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution - Bertolt Brecht, Arthur Koestler und Heiner Müller . . . . . . . . . . . . . 380 VII.3.1. Bertolt Brechts Lehrstück Die Maßnahme (1930) . . . . . . . . . . . 381 VII.3.2. Heiner Müller: Mauser (1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 VII.4. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur über den Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 VIII. Die Ästhetik der Entwürdigung und der Würdelosigkeit: Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks . . . . . . . . . . . 405 VIII.1. Jelineks Essayistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 VIII.2. Die Klavierspielerin (1983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 VIII.2.1. Entwürdigung und Verfügungsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 VIII.2.2. Die menschliche Würdelosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 VIII.3. Lust (1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 VIII.3.1. Sexuelle Gewalt und Entwürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 VIII.3.2. Der Wert des Menschen: Menschenwürde und Kapitalismuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 VIII.3.3. Der Mann als Schöpfer-Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 VIII.3.4. „[W]er deutet uns das? “ - Die Erzählerin . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 VIII.4. Über Tiere (2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 VIII.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Jelinek . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 C. Zusammenschau: Literarische Dimensionen der Menschenwürde-- Zehn Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur . . . . . . . . . . 455 D. Siglen und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 I. Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 II. Primärwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 III. Lexika, sonstige und Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 IV. Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2016 / 2017 von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde das Manuskript geringfügig überarbeitet und um einen Exkurs erweitert. Mein Dissertationsprojekt wurde großzügig von einem AFR -Stipendium des Fonds National de Recherche Luxembourg gefördert. Zur Entstehung und zum Abschluss dieser Arbeit haben viele Menschen beigetragen. Ein besonderer Dank gebührt zunächst meinen Betreuern und Gutachtern, Prof. Karin Tebben und Prof. Helmuth Kiesel, die mir die Beschäftigung mit der Menschenwürde in ihrer literarischen Verhandlung bereits für meine Magisterarbeit vorgeschlagen und mir so ermöglicht haben, mich über mehrere Jahre mit einem attraktiven, ergiebigen und begeisternden Thema auseinanderzusetzen. Prof. Tebben hat mich auf stets hilfreiche und beruhigende Weise betreut und mit Kritik, Anregungen, Hinweisen und Ratschlägen unterstützt. Herzlich danken möchte ich auch Prof. Thomas Wilhelmi, der mich auf Kotzebue hingewiesen und zahlreiche Verbesserungsvorschläge beigesteuert hat. Anregende Gespräche durfte ich zudem mit Dr. Matthias Attig sowie den Organisatoren und Teilnehmern des Maurice Halbwachs Summer Institute in Göttingen 2015 und des Workshops „Collecting Cases“ an der Universität Gent 2016 führen. Von unschätzbarem Wert für die Genese der Dissertation war zudem der regelmäßige Austausch mit Gleichgesinnten. Für intensive und herausfordernde Diskussionen, Kritik und Bestätigung danke ich meinen wunderbaren Freunden und Kommilitonen Friederike Mayer-Lindenberg, die zu meinem großen Glück auch die Aufgabe der letzten Korrektur übernahm, Bastian Blakowski, Samuel Hamen und Moritz Barske. Schließlich will ich jenen danken, die mir während der letzten Jahre, auch in komplizierten und unangenehmen Situationen, immer ein geduldiger und liebevoller Rückhalt waren: meiner Lebensgefährtin Nadja und meiner Familie. Meinen Eltern Eugenie und Gilbert ist diese Studie in tiefster Dankbarkeit gewidmet. Max Graff Heidelberg, im Oktober 2017 Prolog: Die Menschenwürde als ästhetisches Problem-- Ferdinand von Schirachs Terror (2015) Im Oktober 2015 wurde in Frankfurt am Main und in Berlin das Stück Terror des Schriftstellers und Juristen Ferdinand von Schirach uraufgeführt. 1 Die dramatische Situation wirkt zunächst wie ein exemplarisches Szenario aus der juristischen Fachliteratur zum Begriff der Menschenwürde: Ein Major der Luftwaffe hat eigenmächtig und in bewusster Missachtung eines Befehls ein von Terroristen entführtes Flugzeug abgeschossen. Um Tausende Menschen in einem Fußballstadion - dem Ziel der Terroristen - zu retten, hat er den Tod aller Passagiere der Maschine in Kauf genommen. 2 Die Bühne wird zum Gerichtssaal; das Stück ist die Fiktionalisierung eines Gedankenexperiments, eine imaginierte Verhandlung des Falles, der sich, mit den Worten des Verteidigers, um die Frage dreht: „Ist es richtig, das Prinzip der Menschenwürde über die Rettung von Menschenleben zu stellen? “ 3 Das Stück - im wahrsten Sinne des Wortes ein Schau prozess - behandelt eines der virulentesten verfassungsrechtlichen Themen, nämlich die Frage nach der (Un-)Abwägbarkeit der Menschenwürde. 4 Gilt 1 Vgl. hierzu Andreas Wilink, Schirach-Theaterstück „Terror“: Die Ermittlung, in: Spiegel Online, 04. 10. 2015 (http: / / www.spiegel.de / kultur / gesellschaft / terror-von-ferdinand-von-schirach-premiere-am-schauspiel-frankfurt-a-1 055 972.html; letzter Zugriff: 03. 04. 2017). 2 Hintergrund ist das (später vom Bundesverfassungsgericht kassierte) Luftsicherheitsgesetz aus dem Jahr 2005, das den Abschuss eines von Terroristen gekaperten Flugzeugs als ultima ratio erlaubte (§ 14, Abs. 3); vgl. dazu etwa Josef Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, in: Archiv des öffentlichen Rechts 131 (2006), S. 173-218, hier S. 191-193 und Dietmar von der Pfordten, Menschenwürde, München 2016, S. 114-115. - Schirach selbst hatte dieses Szenario bereits in einem Essay diskutiert. Vgl. Die Würde ist antastbar. Warum der Terrorismus über die Demokratie entscheidet, in: Die Würde ist antastbar. Essays, München 2014, S. 5-17. Gedanken und Argumente aus diesem Essay integriert Schirach teilweise wortgetreu in sein Stück. - Der innerfiktional verhandelte Flugzeugabschuss findet nach der Kassation des Gesetzes statt. 3 Ferdinand von Schirach, Terror. Ein Theaterstück und eine Rede, München 2015, S. 125. 4 Anlässlich der Neubearbeitung des Grundgesetzkommentars von Matthias Herdegen entbrannte im Jahr 2003 eine sowohl öffentliche als auch in Fachkreisen geführte Kontroverse. Herdegen hatte bei seinem Kommentar zu Art. 1, Abs. 1 GG die Absolutheit des Menschenwürdegrundsatzes relativiert und zwischen Kern- und Randbereich der Menschenwürde unterschieden. Vgl. dazu etwa Isensee, Menschenwürde, S. 198-199; Oliver W. Lembcke, Über die doppelte Normativität der Menschenwürde, in: Das Dogma der Unantastbarkeit. Eine Auseinandersetzung mit dem Absolutheitsanspruch der Würde, hg. v. R. Gröschner u. O. W. L., Tübingen 2009, S. 235-268, hier S. 254-257; Susanne Baer, Menschenwürde zwischen Recht, Prinzip und Referenz. Die Bedeutung von Enttabuisierungen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53.4 (2005), S. 571-588, hier S. 575 (mit Literaturangaben in Anm. 23 und 24). Vgl. weiterhin Dieter Birnbacher, Ferdinand von Schirachs Terror (2015) 11 das Verfassungsprinzip der Menschenwürde absolut, wie die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer darlegt, ist der Major zu bestrafen, denn er hat Menschenleben gegeneinander abgewogen und somit juristisch falsch gehandelt. Aus der Perspektive der Verteidigung hat sich der Angeklagte ethisch richtig verhalten; da der Verteidiger das Dogma der absoluten Unantastbarkeit der Menschenwürde hinterfragt, fordert er auch aus juristischer Sicht einen Freispruch. Das entscheidende Moment des Stücks, das bis hierhin konventionell konstruiert ist, ist nun keineswegs, dass im Medium Literatur rechtsphilosophische oder verfassungsrechtliche Probleme durchgespielt werden; die Literatur leistet mehr als die bloße Veranschaulichung oder Illustration theoretischer Konstellationen. Tatsächlich weisen an zwei Stellen Dramenfiguren indirekt auf eine Art ‚Medienwechsel‘ hin. Zu Beginn des ersten Aktes tritt der Vorsitzende vor den Vorhang und wendet sich ans Publikum; zunächst weist er auf die strukturelle Ähnlichkeit von Bühne und Gerichtssaal hin, nur um dann zu verkünden: „Natürlich führen wir kein Theaterstück auf, wir sind ja schließlich keine Schauspieler. Wir spielen die Tat durch Sprache nach, das ist unsere Art, sie zu erfassen.“ 5 Gegen Ende seines Schlussplädoyers wiederum erklärt der Verteidiger: „Die Welt ist nun einmal kein Seminar für Rechtsstudenten.“ 6 Diese Sätze muten provokativ sentenzhaft an, sind aber zentral: Natürlich wird gerade ein Theaterstück aufgeführt, und natürlich ist auch die Bühne kein Seminar für Rechtsstudenten. Überdeutlich weist der Text auf seine eigene Literarizität hin 7 - und stellt damit die Frage in den Raum: Wie fragt die Literatur nach der Menschenwürde? Kann die Literatur, kann die Kunst anders, mit ihren ureigenen Mitteln, nach der Menschenwürde fragen und womöglich ganz eigene Perspektiven liefern? Anders als die juristische Realität, in der das Szenario des gekaperten Flugzeugs bereits auf höchster verfassungsrechtlicher Ebene entschieden wurde, 8 bietet das Stück Alternativen für den Schluss - und genau hier etabliert sich Menschenwürde - abwägbar oder unabwägbar? , in: Biomedizin und Menschenwürde, hg. v. M. Kettner, Frankfurt / M. 2004, S. 249-271; Nils Teifke, Das Prinzip Menschenwürde. Zur Abwägungsfähigkeit des Höchstrangigen, Tübingen 2011; Rolf Gröschner / Oliver W. Lembcke (Hgg.), Das Dogma der Unantastbarkeit (wie oben). 5 Schirach, Terror, S. 8. 6 Ebd., S. 128-129. 7 Ähnliches konstatiert Manuel Bauer in Bezug auf Schirachs Prosatexte. Vgl. Der geschundene Mensch: Ferdinand von Schirach oder Der Anwalt als Erzähler, in: Dichterjuristen. Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis 21. Jahrhundert, hg. v. Y. Nilges, Würzburg 2014, S. 281-296, hier S. 282-283. 8 Vgl. BVerfG, 1 BvR 357 / 05 vom 15. 2. 2006, in: Neue Juristische Wochenschrift 59.11 (2006), S. 751-761. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass ein Abschuss eines entführten Flugzeugs verfassungsrechtlich unzulässig sei und verwies auf die unantastbare Menschenwürde der Passagiere und der Crew, die nicht zu reinen Objekten staatlichen 12 Prolog: Die Menschenwürde als ästhetisches Problem die Literatur als eigenständiges Reflexionsmedium. Das Telos eines jeden Gerichtsprozesses - das Urteil - ist vom Text nicht zwingend vorgegeben, sondern richtet sich nach dem ad hoc -Votum des Publikums; das Stück enthält dementsprechend zwei Schlussvarianten, Schuldspruch und Freispruch. Das Publikum wird an einer Stelle vom Richter gar direkt als „[m]eine Damen und Herren Schöffen“ angesprochen. 9 Die vermeintlich klar definierte dramatische Kommunikationssituation wird dadurch auf spektakuläre Weise unterminiert, die Ebenen (Aufführung - Rezeption; Fiktion - Realität; innerfiktionale Figuren - außerfiktionales Publikum) verschwimmen. Mit der demonstrativen Illusionsdurchbrechung bei gleichzeitiger expliziter Integration des Publikums in den Fortgang und die Struktur des Textes rückt das ästhetische Moment in den Fokus, wird sogar innerhalb des wohldefinierten Kontexts - Theater, Aufführung, Dramentext usw. - zum entscheidenden Kriterium erklärt. Nicht mehr rationalformalistische, rechtsphilosophische oder rein ethische Faktoren allein sind für die Frage nach der Menschenwürde entscheidend, sondern eben auch emotional-sinnliche, mit denen der literarische Text bewusst operiert. Bestimmte dramaturgische Mittel - Kontrasteffekte, 10 Details mit hoher affektiver Potenz, 11 die Integration von Gegenpositionen, die den Zuschauer schockhaft-emotional ansprechen sollen, 12 illusionsdurchbrechende Elemente - sorgen für jene Konkurrenz, Überlagerung und Vermengung unterschiedlicher Argumentationsebenen, die im literarischen Diskurs möglich, im juristischen hingegen ausgeschlossen sind. Handelns werden dürften. - Isensee kritisiert diese Argumentation (vgl. Menschenwürde, S. 192-193). 9 Schirach, Terror, S. 80. Der Vorsitzende unterbricht die Befragung des Angeklagten durch die Staatsanwältin und wendet sich mit den genannten Worten ans Publikum. 10 So fragt etwa der Zeuge Lauterbach nach Abschluss seiner Aussage, wo er den „Antrag auf Zeugenentschädigung“ einreichen kann (Schirach, Terror, S. 62); an mehreren Stellen wird zudem über die Akustik im Sitzungssaal (ebd., S. 63), ein zu öffnendes Fenster, die defekte Umluftanlage und den Straßenlärm diskutiert (z. B. ebd., S. 13). Diese Kontrasteffekte beruhen auf der evidenten Diskrepanz zwischen den für das demokratische Selbstverständnis der Gesellschaft grundlegenden Fragen des Prozesses und den belanglosen Nebengeräuschen. 11 So schildert der Angeklagte, wie die „Hitze der Explosion […] Teile der Außenhaut des Flugzeugs abgeschmolzen“ hat und „vier Passagiere“ herausgeschleudert wurden (ebd., S. 74). Die Nebenklägerin berichtet, dass sie von ihrem Mann, der im Flugzeug ums Leben kam, nur den „linken Schuh“ wiederbekommen habe (ebd., S. 108). 12 Die Figur der Nebenklägerin, die ihren Mann bei der Explosion des Flugzeugs verlor, trägt zur juristischen Bewertung des Falles augenscheinlich nichts Wesentliches bei; ihre dramatische Funktion ist dafür umso bedeutsamer, da sie das Geschehen nicht aus beruflicher Perspektive oder ‚Tätersicht‘ kommentiert, sondern aus der Sicht der unmittelbar persönlich Betroffenen. Ferdinand von Schirachs Terror (2015) 13 Die Antwort auf die Frage nach der Menschenwürde ist in Terror keine philosophische, keine juristische, sondern eine genuin literarische: Die Literatur, in diesem Fall das Theater, eröffnet einen Raum, in dem ein hochkomplexes Thema mit eigenen Mitteln betrachtet wird - und in dem eine eigene, von anderen gesellschaftlichen Diskursen essentiell zu unterscheidende Antwort gegeben wird. Die Menschenwürde wird zu einem genuin ästhetischen Problem - und zu einem Gegenstand der Literaturwissenschaft. Prolog: Die Menschenwürde als ästhetisches Problem-- Ferdinand von Schirachs Terror (2015) 1 5 A. Einleitung I. Menschenwürde-- Annäherung an einen unscharfen Begriff Die Menschenwürde ist ein „Begriff der Irritation“. 1 Wie bei kaum einem anderen Begriff trifft die Versuchung, ihm uneingeschränkte Allgemeingültigkeit zuzusprechen und ihn zur Maxime allen Handelns zu erklären, auf den Verdacht, dass er letztlich nichtssagend und allzu leicht zu instrumentalisieren ist, eine Leerformel, 2 die bloß von ihrer Aura lebt. Die fast 2000 Jahre währende Auseinandersetzung mit der Menschenwürde - zunächst in Philosophie und Theologie, dann in der Rechtsphilosophie und dem (Verfassungs-)Recht, in den politischen und sozialen Wissenschaften, aktuell vor allem in der Angewandten Ethik, der Medizin- und Bioethik - hat (man möchte fast sagen: zwangsläufig) nicht zu einer abschließenden Klärung geführt. Nachdem man von der antiken Lehre der Stoa bis zur Aufklärung glaubte, die Quellen der Menschenwürde benennen und folglich sowohl ihre Erscheinungsformen als auch Verstöße gegen sie definieren zu können, lässt sich spätestens in den Schriften Nietzsches eine tiefgreifende Verunsicherung bis hin zur radikalen Negierung beobachten. Heute ist der Begriff geradezu notorisch unklar und umkämpft. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Menschenwürde, ganz gleich, in welcher Disziplin, kommt um einige grundlegende Vorbemerkungen kaum herum. Diese Topoi des Menschenwürdediskurses 3 bedürfen einer kurzen, grundsätzlichen Einordnung. 1. Die eminente Bedeutung der Menschenwürde als „Bezugspunkt in der Normbegründung“ (Burkhard), als „Schlagwort der Gegenwart“ (Wetz) und „moderne Inklusionsformel“ (Lembcke), als „ Sehnsuchtsbegriff “ (Schlink) oder gar als Teil des kulturellen Gedächtnisses (Weitin) 4 ist kaum zu leugnen und oft herausgestellt worden. Auf der tiefen Verankerung der Menschenwürde im Werte- 1 Baer, Menschenwürde zwischen Recht, Prinzip und Referenz, S. 572 (mit Verweis auf eine Formulierung von Matthias Kettner). 2 Vgl. Birnbacher, Menschenwürde - abwägbar oder unabwägbar? , S. 249. 3 Von einem „discours de la dignité humaine“ spricht auch Jean-Luc Martinet. Vgl. Montaigne et la dignité humaine. Contribution à une histoire du discours de la dignité humaine, Paris 2007. 4 Franz-Peter Burkard, Art. Würde, in: Metzler Lexikon Philosophie, hg. v. P. Prechtl u. F.-P. B., Stuttgart / Weimar 3 2008, S. 690-693, hier S. 690-691; Franz Josef Wetz, Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts, Stuttgart 2005, S. 10; Lembcke, Über die doppelte Normativität der Menschenwürde, S. 235; Bernhard Schlink, The Concept of Human Dignity: Current Usages, Future Discourses, in: Understanding Human Dignity, hg. v. C. McCrudden, Oxford 2013, S. 631-636, hier S. 634; Thomas Weitin, Freier Grund. Die Würde des Menschen nach Goethes Faust , Konstanz 2013, S. 22 (in Bezug auf den Menschenwürdebegriff Kants). 18 A. Einleitung kanon besonders der deutschsprachigen Öffentlichkeit, 5 aber auch auf ihrer Kodifizierung in grundlegenden Konventionen der internationalen Gemeinschaft, gründen ihre ungemeine Leuchtkraft, ihr charismatischer, expressiver, ja appellativer Charakter. Bisweilen wird ihr gar eine „universelle normative Geltungskraft“ attestiert. 6 Als zutiefst normativ besetztes Ideal prägt sie auch aktuelle gesellschaftliche Debatten über Sterbehilfe, Pflege, Flüchtlingskrisen, humanitäre Katastrophen, Gleichberechtigung usw. 2. Dabei ist der „genuin philosophische[]“ 7 Begriff der Menschenwürde in mancherlei Hinsicht überdeterminiert. Es gibt nicht den einen Menschenwürdebegriff. Vielmehr ist das Lexem Menschenwürde extrem vieldeutig, da es sich auf ganz unterschiedliche historische wie zeitgenössische Menschenwürdebegriffe oder -konzepte beziehen kann. Die Begriffsgeschichte ist lang und gut erforscht; angesichts der Vielzahl von Publikationen unterschiedlicher Fachrichtungen wäre es vollkommen redundant, sie nachzeichnen zu wollen. 8 Gleichwohl sollte man sich zumindest die immer wieder genannten 5 Zur besonderen Bedeutung des Begriffs im deutschen - v. a. im Gegensatz zum angelsächsischen - Sprachraum vgl. Peter Kunzmann, Würde - Nuancen und Varianten einer Universalie, in: Würde - dignité - godność - dignity. Die Menschenwürde im internationalen Vergleich, hg. v. C. Baumbach u. P. K., München 2010, S. 19-40. 6 Vgl. Weitin, Freier Grund, S. 10; vgl. ähnlich Lembcke, Über die doppelte Normativität der Menschenwürde, S. 237. - Den Charisma-Begriff verwendet Isensee, Menschenwürde, S. 187. - Zum Einwand, Menschenwürde und Menschenrechte seien westliche Konzepte und ihre Durchsetzung Werteimperialismus, vgl. z. B. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt 1998. 7 Paul Tiedemann, Was ist Menschenwürde? Eine Einführung, Darmstadt 2006, S. 51. 8 Ein vollständiger Überblick über die uferlose multidisziplinäre Forschungsliteratur zum Thema Menschenwürde kann und soll in einer literaturwissenschaftlichen Arbeit nicht angestrebt werden. Vielmehr wird vorrangig auf solche Monographien und Beiträge verwiesen, die ihrerseits bereits vorhandene Literatur auswerten und an diese anknüpfen. - Als überblicksartige Darstellungen und multiperspektivische Sammelbände seien genannt: Viktor Pöschl / Panajotis Kondylis, Art. Würde, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. O. Brunner, W. Conze u. R. Koselleck, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 637-677; Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung, Berlin 3 2012; ders., Was ist Menschenwürde? ; Matthias Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, Baden- Baden 2008; Christian Thies (Hg.), Der Wert der Menschenwürde, Paderborn [u. a.] 2009; Peter Schaber, Menschenwürde, Stuttgart 2012; Michael Rosen, Dignity. Its History and Meaning, Cambridge [u. a.] 2012; Marcus Düwell [u. a.] (Hgg.), The Cambridge Handbook of Human Dignity. Interdisciplinary Perspectives, Cambridge 2014; Michael Fischer (Hg.), Der Begriff der Menschenwürde. Definition, Belastbarkeit und Grenzen, Frankfurt / M. [u. a.] 2 2005; Gerd Brudermüller / Kurt Seelmann (Hgg.), Menschenwürde. Begründung, Konturen, Geschichte, Würzburg 2008; Jan C. Joerden [u. a.] (Hg.), Menschenwürde und moderne Medizinethik, Baden-Baden 2011; Walter Schweidler, Über Menschenwürde. Der Ursprung der Person und die Kultur des Lebens, Wiesbaden 2012; I. Menschenwürde-- Annäherung an einen unscharfen Begriff 19 ‚Protagonisten‘ des Menschenwürdediskurses vor Augen führen: Der Beginn der Begriffsgeschichte wird gemeinhin bei der antiken Stoa und Ciceros dignitas -Begriff 9 gesetzt. Genannt werden anschließend meist Kirchenväter (besonders Augustin), 10 die mittelalterliche Scholastik (Thomas von Aquin), 11 die italienische Renaissance (Manetti, Ficino, Pico della Mirandola), 12 die frühneuzeitlichen Naturrechtler (z. B. Pufendorf), 13 die Aufklärer (allen voran Kant), 14 Jan C. Joerden [u. a.] (Hg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2013; Hans Jörg Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte. Über die Verletzbarkeit und den Schutz des Menschen, Freiburg / München 2 2015; McCrudden (Hg.), Understanding Human Dignity; von der Pfordten, Menschenwürde; Manfred Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde. Die Debatten seit 1949, Berlin 2016. - Bibliographien finden sich auch online auf der Homepage der Stiftung Menschenwürde weltweit (Monographien und Sammelbände bis 2011; http: / / www.menschenwuerde.info / literatur. html) sowie der Zeitschrift Information Philosophie (hier unter dem Stichwort „Würde“; http: / / www.information-philosophie.de/ ? a=1&t=7152&n=2&y=2&c=51; letzter Zugriff: jeweils 03. 04. 2017). - Mit geradezu enzyklopädischem Anspruch stellt das von R. Gröschner, A. Kapust und O. W. Lembcke herausgegebene Wörterbuch der Würde (München / Paderborn 2013; im Folgenden: WdW) eine beeindruckende Bandbreite an Facetten der Menschenwürde zur Verfügung. 9 Vgl. etwa Viktor Pöschl, Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, Heidelberg 1989 und von der Pfordten, Menschenwürde, S. 11-21. - Vgl. dagegen Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 105-108, der die attische Tragödie (Sophokles’ Antigone ) - und somit einen literarischen Text! - an den Anfang seiner historischen Rekonstruktion stellt, aber auch auf die Texte des Pentateuch, die jüdische Tradition sowie hinduistische, buddhistische und konfuzianistische Vorstellungen eingeht. 10 Vgl. etwa Richard Bruch, Die Würde des Menschen in der patristischen und scholastischen Tradition, in: Person und Menschenwürde. Ethik im lehrgeschichtlichen Überblick, Münster 1998, S. 9-29. - Zur Origines-Rezeption vgl. Alfons Fürst (Hg.), Autonomie und Menschenwürde. Origines in der Philosophie der Neuzeit, Münster 2012. 11 Vgl. etwa Bruch, Die Würde des Menschen. - Zur Mystik Meister Eckharts, zum spätmittelalterlichen Völkerrecht und zu deren Beiträgen zum Menschenwürdediskurs vgl. Dietmar Mieth, Menschenwürde - vormoderne Perspektiven am Beispiel zweier Impulse des Spätmittelalters, in: Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität, hg. v. K. Ridder u. S. Patzold, Berlin 2013, S. 319-340. 12 Vgl. etwa Rolf Gröschner / Stephan Kirste / Oliver W. Lembcke (Hgg.), Des Menschen Würde - entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, Tübingen 2008; Paul Oskar Kristeller, The dignity of Man, in: Renaissance Concepts of Man and Other Essays, New York [u. a.] 1972, S. 1-21. 13 Vgl. Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 56-58; Marietta Auer, Art. Samuel Pufendorf, in: WdW, S. 36. 14 Vgl. Joachim Hruschka, Die Würde des Menschen bei Kant, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 88 (2002), S. 463-480; Dietmar von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, in: Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, Paderborn 2009, S. 9-26; Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 61-64; Schaber, Menschenwürde, S. 39-47; Hruschka, Art. Immanuel Kant, in: WdW, S. 40; Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, S. 45-79 und 158-162; Oliver Sensen, Kant on Human Dignity, Berlin [u. a.] 2011; Mario A. Cattaneo, Menschenwürde bei Kant, in: Menschenwürde als Rechtsbegriff, hg. 20 A. Einleitung der deutsche Idealismus (Schiller, Fichte, Hegel), 15 kritische Stimmen im 19. Jahrhundert (Schopenhauer, Nietzsche), 16 schließlich moderne und zeitgenössische Positionen (Bloch, Arendt, Margalit, Spaemann, Nussbaum). 17 Spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts tritt die Menschenwürde dann zunehmend in den Fokus anderer Disziplinen: Recht, Politik, Ethik. 3. Der Verdacht, Menschenwürde sei eine bloße Leerformel, findet sich in polemischer Form und mit einer Spitze gegen Kant bereits bei Arthur Schopenhauer. Dieser mokierte sich über den feierlich-prätentiösen Klang des Ausdrucks, der vom eigentlichen (und vermeintlich nebulösen) Inhalt ablenke. 18 Ist die Menschenwürde tatsächlich eine Worthülse, die von ihrem Pathos und ihrer diffusen Vieldeutigkeit zehrt und somit „bloßer Sprachfetisch“ ist (Wetz), 19 ergeben sich zwei weitere Risiken: die Gefahr einer Instrumentalisierung der Menschenwürde als „rhetorische Keule“ und „ideologische Waffe“ (Hoerster), die als „conversation stopper“ (Birnbacher) und „Totschlagargument“ (Schmidt- Jortzig) missbraucht werden, sowie, damit zusammenhängend, das Risiko, dass der Begriff der Menschenwürde in die Nähe des Tabus rückt und so Diskussion und kritische Reflexion eher verhindert als fördert. 20 4. In Bezug auf Status und Funktionszusammenhang der Menschenwürde konkurrieren differierende Perspektiven, die jeweils eigene Akzentuierungen implizieren. v. K. Seelmann, Stuttgart 2004, S. 24-32; Horst Folkers, Menschenwürde. Hintergründe und Grenzen eines Begriffs, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 87.3 (2001), S. 328-337; Markus Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts. Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion, Tübingen 2015, S. 145-206. - Zu Kant vgl. auch unten, S. 74 - 75. 15 Zu Schiller vgl. unten, Kap. B.II.1. und B.II.6. - Zu Hegel vgl. etwa Kurt Seelmann, Person und Menschenwürde in der Philosophie Hegels, in: Philosophie des Rechts und Verfassungstheorie. Geburtstagssymposion für Hasso Hofmann, hg. v. H. Dreier, Berlin 2000, S. 125-145. Zu Fichte vgl. Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, S. 207-239 und Christoph Binkelmann, Art. Johann Gottlieb Fichte, in: WdW, S. 41-42. Vgl. weiterhin Gerhard Luf, Menschenwürde in der Philosophie des Deutschen Idealismus, in: Menschenwürde als Rechtsbegriff (wie Anm. 14), S. 82-92. 16 Vgl. etwa Stefan Lorenz Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche. Die Geschichte eines Begriffs, Darmstadt 2010; Beatrix Vogel (Hg.), Umwertung der Menschenwürde - Kontroversen mit und nach Nietzsche, Freiburg / München 2014. - Zu Schopenhauer und Nietzsche vgl. auch unten, Kap. B. V.1.2. bzw. B.VI.1.1. 17 Vgl. die ausführliche Diskussion moderner Theorien im WdW, S. 55-123. 18 Zu Schopenhauers Revision des Menschenwürdebegriffs s. unten, Kap. B. V.1.2. 19 Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 11. 20 Norbert Hoerster, Wie schutzwürdig ist der Embryo? Zu Abtreibung, PID und Embryonenforschung, Göttingen 2013, S. 20 und 22; Birnbacher, Menschenwürde - abwägbar I. Menschenwürde-- Annäherung an einen unscharfen Begriff 21 a) Ihren Stellenwert verdankt die Menschenwürde nicht zuletzt ihrem spektakulären Aufstieg zum juristischen, verfassungsrechtlichen Begriff im Laufe des 20. Jahrhunderts. Nachdem sie in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 erstmals in einem konstitutionellen Kontext erschien, freilich mit einer dezidiert sozialpolitischen Färbung, 21 fand die Menschenwürde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Eingang in erste europäische Verfassungen. 22 Doch erst in Folge der entsetzlichen Verbrechen des Nationalsozialismus wurde sie zum „oberste[n] Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts“, 23 exponiert kodifiziert in Verfassungen der deutschen Nachkriegs-Bundesländer, in den Präambeln der UN -Charta (1945) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), schließlich 1949 in Art. 1 Abs. 1 des bundesrepublikanischen Grundgesetzes. 24 Theodor Heuss, einer der Väter des Grundgesetzes, bestimmte die Menschenwürde als „nicht interpretierte These“, als Begriff mit „quasi-axiomatische[m] oder unabwägbar? , S. 250; Edzard Schmidt-Jortzig, „Menschenwürde“ als Zauberwort der öffentlichen Debatte, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 52.1 (2008), S. 50-56, hier S. 51. - Vgl. ähnlich Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 7-13; Thilo Rensmann, Die Menschenwürde als universaler Rechtsbegriff, in: Der Wert der Menschenwürde (wie Anm. 8), S. 75-92, hier S. 77-79; Eric Hilgendorf, Die mißbrauchte Menschenwürde. Probleme des Menschenwürdetopos am Beispiel der bioethischen Diskussion, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 7 (1999), S. 137-158. - Zur Tabuisierungsfunktion der Menschenwürde vgl. etwa Konrad Schüttauf, Menschenwürde. Zur Struktur und Geschichte des Begriffs, in: Brudermüller / Seelmann (Hgg.), Menschenwürde (wie Anm. 8), S. 25-41, hier S. 25; Weitin, Freier Grund, S. 13-27; Baer, Menschenwürde, S. 571-588; Isensee, Menschenwürde, S. 179-180; Birnbacher, Menschenwürde - abwägbar oder unabwägbar? , S. 250. - „Kritische Stimmen“ versammelt Franz Josef Wetz (Hg.), Texte zur Menschenwürde, Stuttgart 2011, S. 275-307. 21 Vgl. Jörg Kilian, Demokratische Sprache zwischen Tradition und Neuanfang. Am Beispiel des Grundrechte-Diskurses 1948 / 49, Tübingen 1997, S. 315-317 und Angela Augustin, Argumentationsmuster: Menschenwürde im Zusammenspiel von Recht und Philosophie, in: Menschenwürde. Annäherung an einen Begriff, hg. v. R. Stoecker, Wien 2003, S. 103-118, hier S. 104 Anm. 1 (mit der falschen Jahresangabe 1871). 22 1933 nimmt die - „ständestaatlich-faschistische[]“ - portugiesische Verfassung Bezug auf die Menschenwürde, 1937 die Präambel der irischen Verfassung. Vgl. Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 59. Wetz listet ebd., S. 112-114 jene EU-Mitgliedsstaaten auf, deren Verfassungen sich auf die Menschenwürde beziehen (Stand 2005). 23 So Günter Dürig in seinem Grundgesetzkommentar von 1958 (zit. nach: Isensee, Menschenwürde, S. 186). 24 Kilian spricht von einem „lexikalisch-semantische[n] Neuanfang mit dem Wort Menschenwürde 1948 / 49“ (Demokratische Sprache, S. 318). - Vgl. auch Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 56-90. Wetz stellt die Frage, ob „die Würde als Rechtswert hauptsächlich ein Krisenphänomen“ sei (ebd., S. 70). Vgl. weiterhin Wilfried Härle, Würde. Groß vom Menschen denken, München 2010, S. 24-30; Rensmann, Die Menschenwürde als universaler Rechtsbegriff; Augustin, Argumentationsmuster, S. 103-105; Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 13-32. 22 A. Einleitung Charakter“ ohne weitere „Vorbestimmung“ (so O. W. Lembcke). 25 Nicht nur die inhaltliche Präzisierung, sondern auch der genaue Status bleibt jedoch unter Juristen umstritten: Handelt es sich um einen Grundsatz, ein Grundrecht, ein Prinzip, eine Fundamentalnorm? Oder muss der „Doppelcharakter“ der Menschenwürde als Rechtsbegriff und Rechtsidee (Teifke), als „Konstitutionsprinzip und Verfassungsprinzip“ (Lembcke) betont werden? 26 Ist die Menschenwürde „[p]ositiviertes überpositives Recht“, der „Grund der Grundrechte“, eine „ratio iuris“ (Isensee)? 27 Zudem steht - wie in Ferdinand von Schirachs Terror - die Frage nach der Absolutheit bzw. der Abwägbarkeit der Menschenwürde im Fokus der Debatte. 28 Ist die Menschenwürde tatsächlich „unantastbar“, wie es Art. 1 Abs. 1 GG postuliert? Und was genau heißt eigentlich „unantastbar“? b) Eng mit der juristischen verwoben ist die politische Dimension der Menschenwürde. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wird Menschenwürde zu einem Schlüsselbegriff sozialistischer Politik. 29 Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stehen Menschenwürde und Menschenrechte in einem engen Begründungszusammenhang. 30 Beide dienen zumindest in der Theorie als programmatische 25 Das Heuss-Zitat findet sich in: 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen (23. 9. 1948), in: Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Bd. 5 / I: Ausschuß für Grundsatzfragen, bearb. v. E. Pikart u. W. Werner, Boppard am Rhein 1993, S. 72. Vgl. dazu Lembcke, Über die doppelte Normativität der Menschenwürde, S. 237. - Vgl. auch Kilian, Demokratische Sprache, S. 322: Die lexikalisch-semantische Arbeit des für die Erarbeitung des Grundgesetzes zuständigen Ausschusses „bestand nicht darin zu ergründen, was Menschenwürde wesentlich sei, was das Wort Menschenwürde bedeute. Die weltanschaulich speziellere Verortung sollte […] offen gelassen werden, über die vorstaatliche Existenz der Menschenwürde herrschte grundsätzlicher Konsens und die zeitgenössischen Konkretionen der Figuration ‚wesentliches Attribut des Menschen‘ bedurften nur vier Jahre nach der Befreiung von Auschwitz keiner expliziten Bedeutungserklärungen.“ 26 Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. V; Lembcke, Über die doppelte Normativität der Menschenwürde, S. 257. - Zu den juristischen Einschätzungen vgl. etwa Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff; Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, hier bes. S. 9-100; Baer, Menschenwürde zwischen Recht, Prinzip und Referenz, S. 575-585; Isensee, Menschenwürde, S. 173-199; Veit Thomas, Würde als absoluter und relationaler Begriff, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 87.3 (2001), S. 299-310; Horst Dreier, Konsens und Dissens bei der Interpretation der Menschenwürde. Eine verfassungsrechtliche Skizze, in: Biopolitik. Die Positionen, hg. v. C. Geyer, Frankfurt / M. 2001, S. 232-239; Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts. 27 Isensee, Menschenwürde, S. 175, 209 und 211. 28 Vgl. oben, S. 10 - 11 mit Anm. 4 sowie Martin Nettesheim, Art. Abwägbarkeit, in: WdW, S. 327-328. 29 Vgl. dazu unten, S. 189. 30 Vgl. etwa Heiner Bielefeldt, Menschenwürde. Der Grund der Menschenrechte, Berlin 2012; Arnd Pollmann, Art. Menschenwürde, in: Politische Theorie. 22 umkämpfte Be- I. Menschenwürde-- Annäherung an einen unscharfen Begriff 23 Leit- und Orientierungsnormen des innenwie außenpolitischen Handelns. 31 Fungiert die Menschenwürde in diesem Sinne als „politische Referenz“, dann öffnet sie sich den „Mechanismen der Macht“, muss mithin nicht mehr klar definiert sein, sondern vertraut auf ihren „appellativen“ Charakter und ihr Potential zur „Skandalisierung“. 32 Das Risiko einer Instrumentalisierung - und somit einer unweigerlichen Relativierung - liegt auf der Hand. c) Immanuel Kant bestimmte die Menschenwürde als essentiell ethischen Begriff . 33 Von dieser normativ-ethischen Dimension können sich weder juristische noch politische Sichtweisen lösen. Rasante naturwissenschaftliche und medizinische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte - Stammzellenforschung, Humangenetik, Palliativmedizin - werfen heikle und komplexe Fragen nach der Trägerschaft und der Reichweite der Menschenwürde auf. Umstritten ist, ab welchem und bis zu welchem Zeitpunkt einem Menschen Würde zukommt - und viel grundlegender, ab welchem und bis zu welchem Zeitpunkt ein Mensch ein Mensch ist. Zu klären ist zudem, ob Würde an das Individuum, die Person oder die menschliche Gattung gebunden ist. 34 Trotz des Vorwurfs des Speziesismus bleibt Würde in der Regel ein anthropozentrisches Konzept; von einer griffe zur Einführung, hg. v. G. Göhler, M. Iser u. I. Kerner, Wiesbaden 2004, S. 262-279; Wilfried Härle (Hg.), Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten, Freiburg [u. a.] 2008; Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, S. 271-302; Hans-Helmuth Gander (Hg.), Menschenrechte. Philosophische und juristische Positionen, Freiburg / München 2009. Zur Geschichte der Menschenrechte vgl. Eike Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, Stuttgart 2009 sowie Akira Iriye / Petra Goedde / William I. Hitchcock (Hgg.), The Human Rights Revolution. An International History, Oxford 2012. Die von Hans Joas beschriebene „affirmative Genealogie“ der Menschenrechte zeichnet deren Entstehungsgeschichte seit den ersten Kodifizierungen im 18. Jahrhundert nach. Vgl. Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011 und dazu Bernhard Laux (Hg.), Heiligkeit und Menschenwürde. Hans Joas’ neue Genealogie der Menschenrechte im theologischen Gespräch, Freiburg [u. a.] 2013 sowie Hermann-Josef Große Kracht (Hg.), Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014. 31 Vgl. etwa die „Grundsätze deutscher Menschenrechtspolitik“ des deutschen Auswärtigen Amtes. Unter Hinweis auf Art. 1 GG heißt es dort: „Es gilt also, nicht nur innerstaatlich, sondern auch international die Würde und Grundfreiheiten aller Menschen zu schützen“ (http: / / www.auswaertiges-amt.de / DE / Aussenpolitik / Menschenrechte / GrundsaetzeMRpolitik_node.html; letzter Zugriff: 03. 04. 2017). 32 Baer, Menschenwürde zwischen Recht, Prinzip und Referenz, S. 572-573. 33 Vgl. dazu Schaber, Menschenwürde, S. 28. 34 Zum Problem der Trägerschaft vgl. etwa Härle, Würde, S. 91-143; Lembcke, Über die doppelte Normativität der Menschenwürde, S. 245-247; Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 45-49 sowie Matthias Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt / M. 2004 (hier bes. die Beiträge von K. Seelmann, F. J. Wetz, D. Birnbacher und M. Kettner). - Zum Begriff der Person vgl. etwa Wilfried Härle, Menschsein als Person- 24 A. Einleitung „Würde der Kreatur“ zu sprechen, wie es die schweizerische Verfassung seit 1992 tut, hat sich weder in der Forschung noch in der internationalen (Rechts-) Praxis durchgesetzt. 35 d) Im Begriff der Menschenwürde prallen der Ballast jahrhundertelanger Tradition, moderne Anforderungen an die rechtsstaatliche, pluralistische Demokratie und ein immer stärker naturalisiertes Weltbild aufeinander. Nicht nur können evolutionsgeschichtliche und neurowissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlagen der Menschenwürde 36 und somit die Berechtigung des Begriffs an sich in Frage stellen. 37 Deutet man Menschenwürde und Menschenrechte ausschließlich als „Derivate“ der jüdisch-christlichen Tradition 38 und somit als notwendig metaphysische Begriffe, die ohne metaphysische Absicherung undenkbar sind, 39 wird ihre Aussagekraft in Diskursen säkularer Gesellschaften fraglich. Andererseits scheint der Menschenwürde der eigenartige Status eines zivilreligiösen „Glaubensartikel[s]“ zu eignen, der „transsäkulare[] Bedürfnisse“ anspricht und stillt. 40 Demgegenüber steht ein Verständnis der Menschenwürde als primär sein, in: Formen menschlicher Personalität. Eine interdisziplinäre Gegenüberstellung, hg. v. A. T. v. Poser, T. Fuchs u. J. Wassmann, Heidelberg 2012, S. 93-114. 35 Zum anthropozentrischen Konzept der Würde vgl. Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche, S. 19-21. Zur „Würde der Kreatur“ vgl. Philipp Balzer / Klaus Peter Rippe / Peter Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur. Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen, Freiburg / München 1998. Zum von Peter Singer nachdrücklich erhobenen Vorwurf des Speziesismus vgl. (kritisch) Härle, Würde, S. 57-61 und 88-89. 36 Vgl. dazu unten, S. 29 - 31. 37 Vgl. dazu etwa Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 162: „Heute ist die Menschenwürde nicht mehr allein in praktischer Hinsicht bedroht, sondern auch theoretisch gefährdet.“ Die drängende Frage sei daher, „wie trotz weltanschaulichem Neutralismus , überspanntem Anthropozentrismus und säkularem Naturalismus die Idee der Menschenwürde dennoch lebendig bleiben könnte“ (ebd., S. 192; Herv. i. O.) 38 Isensee, Menschenwürde, S. 206, bezeichnet die Menschenrechte als „Derivate des Christentums“. 39 Vgl. hierzu etwa Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 115-124. Vgl. weiterhin Weitin, Freier Grund, S. 18-27, der bestreitet, dass das „Säkularisierungsnarrativ als historische Verlaufsthese einer Entsubstantialisierung“ gültig ist. Dieses besagt, dass das Christentum „die Substanz der Menschenwürde“ begründete, seit der Aufklärung aber nur noch „der Begriff“ bleibe. 40 So Isensee, Menschenwürde, S. 179 bzw. 178, der zudem die vielsagende Bedeutung religiösen Vokabulars im Menschenwürdediskurs hervorhebt (vgl. ebd., S. 177). I. Menschenwürde-- Annäherung an einen unscharfen Begriff 25 praktisches oder pragmatisches Problem, das dem konkret-subjektiven Moment den klaren Vorrang vor systematischen theoretischen Bemühungen gibt. 41 e) Mehrere Interpreten erklären das Eigentümliche der Menschenwürde, indem sie sie als „absolute Metapher“ im Sinne Hans Blumenbergs beschreiben. 42 Diese Charakterisierung ist in zweifacher Hinsicht glücklich: Zum einen konzeptualisiert sie die schwer konkret fassbare begriffliche Polyvalenz der Menschenwürde und den Eindruck, dass sie intuitiv eben doch recht klar begreifbar ist. 43 Zum anderen eröffnet der Gebrauch eines ursprünglich rhetorischen Begriffs („Metapher“) eine neue Diskussionsebene: Menschenwürde wäre demnach nicht nur streng positivistisch und logisch-rational erfassbar, sondern eben auch ein „empfundener Begriff“ (Schreiber), den man erleben und erfahren kann. 44 Zudem scheint gerade ein rhetorischer Gebrauch von Sprache zum Verständnis der Menschenwürde Entscheidendes beitragen zu können. Menschenwürde wäre somit ein ästhetischer Begriff in einem doppelten Sinne: ein Begriff, der eine auch sinnlich anschaubare Dimension besitzt, der überdies gerade in seiner künstlerisch-sprachlichen Verhandlung und der dadurch beim Rezipienten provozierten Reflexion erst vollständig erfasst werden kann. 45 f) Huizing beschreibt das Verhältnis zwischen Menschenwürde und Kunst wie folgt: [Ich] behaupte, daß ethische und rechtswissenschaftliche Untersuchungen zum Thema ‚Menschenwürde‘ darauf angewiesen sind, ästhetische Darstellungen auf- 41 Vgl. etwa Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 244. 42 Vgl. Baer, Menschenwürde zwischen Recht, Prinzip und Referenz, S. 573 (mit Hinweis auf eine Studie von G. Löhrer) sowie, im Anschluss daran, Weitin, Freier Grund, S. 30-38. Weitin macht den Bezug zu Blumenbergs Metaphorologie explizit und den Begriff der „absoluten Metapher“ zum Ausgangspunkt seiner Faust -Lektüre. 43 Auf die Bedeutung der Intuition für das Verständnis der Menschenwürde weisen etwa Peter Schaber, Menschenwürde als Recht, nicht erniedrigt zu werden, in: Menschenwürde (wie Anm. 21), S. 119-131, hier S. 121, sowie Antje Kapust, Das Unantastbare: Menschenwürde im Diskurs der Philosophie, in: Das Dogma der Unantastbarkeit (wie S. 10, Anm. 4), S. 269-313, hier S. 293-294 hin. 44 Schreiber, Würde, S. 48. Vgl. außerdem Matthias Schlossberger, Anthropologie der Würde, in: Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, hg. v. O. Müller u. G. Maio, Göttingen 2015, S. 228-240. Die Begriffsfelder des Erlebens und der Erfahrung dominieren auch bei Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, München 2013. 45 Vgl. dazu Matthias Mahlmann, The Good Sense of Dignity: Six Antidotes to Dignity Fatigue in Ethics and Law, in: Understanding Human Dignity (wie Anm. 4), S. 593-614, hier S. 595-596. Mahlmann betont die Bedeutung von Kunstwerken für den Menschenwürdediskurs. 26 A. Einleitung zusuchen, um die eigene Sensibilität für Wahrnehmungen kritischer Situationen zu schulen, damit die ethische oder juristische Urteilsfähigkeit geschmeidig bleibt für die Aufnahme individueller Schicksale. 46 Literatura ancilla theologiae, philosophiae et doctrinae juris ? Die vorliegende Arbeit wird zeigen, dass Selbstverständnis, Funktion und Potential der Literatur essentiell über jene einer Hilfsdisziplin und eines bloßen Sensibilisierungsmediums hinausreichen, und genuin ästhetisch-literarische Dimensionen der Menschenwürde herausarbeiten. II. Facetten des Menschenwürdebegriffs Menschenwürde ist ein „offener Begriff ohne Randschärfe“; Versuche einer abschließenden inhaltlichen Definition müssen notwendigerweise scheitern. 47 Soll sie als analytische Kategorie taugen, muss dennoch der „Sinnhorizont des Würdebegriffs“ 48 - mit seiner geistesgeschichtlichen Vorbelastung und seiner vermeintlichen Schwammigkeit - möglichst präzise abgesteckt werden. Diese systematische Annäherung erfolgt in drei Schritten, indem 1. konzeptuelle Differenzierungen vorgestellt, 2. grundlegende Begründungsmuster eingeführt und 3. Konkretisierungen der Menschenwürde anhand von Leitbegriffen und -vorstellungen genannt werden. Auf das eingeführte Vokabular wird im Laufe der Argumentation immer wieder Bezug genommen werden. 1. Die Literatur zur Menschenwürde unterscheidet zwei große Linien. Diese beiden übergeordneten Konzeptualisierungen stehen sich dichotomisch gegenüber, sind tendenziell den Kategorien der Realität auf der einen und der Idealität auf der anderen Seite zuzurechnen und erscheinen in unterschiedlichen terminologischen Akzentuierungen. Zu unterscheiden ist demnach zwischen einer Form der Würde, die dem Menschen als Menschen und ohne Vorbedingung eigen ist, und einem Würdeverständnis, das dem antiken dignitas -Begriff 49 näher steht. Dies führt zu folgenden Dichotomien: 46 Klaas Huizing, Six Feet Under. Die Menschenwürde und die Medien, in: Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven, hg. v. P. Bahr u. H. M. Heinig, Tübingen 2006, S. 335-349, hier S. 336. Vgl. ähnlich ebd., S. 345. 47 Isensee, Menschenwürde, S. 214. 48 Gröschner / Kapust / Lembcke, Vorwort, in: WdW, S. 11. - Zu terminologischen Fragen vgl. unten, S. 34 - 38. 49 Vgl. hierzu Pöschl / Kondylis, Art. Würde, S. 637: „‚Würde‘ (‚dignitas‘) ist in Rom zunächst ein politischer Begriff. Zugehörigkeit zur Nobilität, amtliche Funktion, Verdienste um das II. Facetten des Menschenwürdebegriffs 27 • angeborene vs. erworbene Würde • inhärente / notwendige vs. kontingente Würde 50 • apriorische vs. aposteriorische Würde 51 • autonomische vs. heteronomische Würdebegriffe 52 • deskriptive vs. normative Würdebegriffe • Würde als abstraktes Wesensmerkmal vs. Würde als konkreter Gestaltungsauftrag 53 • Würde-Haben vs. Würde-Verdienen 54 • Würde als Moment des Menschseins vs. Würde als Moment der Sozialität des Menschen 55 • Würde als Eigenschaft oder Anrecht vs. Würde als Lebensform 56 . Tendenziell ist Würde im ersten Fall eine unverlierbare, nicht abstufbare, absolute Qualität, im zweiten eine prekäre, graduierbare, die eingebüßt werden Gemeinwesen, aber auch Würde des Auftretens, der Ausdrucksweise, der Lebensführung sind wesentliche Merkmale der römischen dignitas.“ 50 Vgl. Balzer / Rippe / Schaber, Menschenwürde vs. Würde der Kreatur, S. 17-20; Schaber, Menschenwürde, S. 19-20; Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche, S. 15-19. - Sorgner bevorzugt die Kennzeichnung „notwendige Würde“, da er die Rede von der inhärenten Würde für sprachlich problematisch hält. - Balzer, Rippe und Schaber unterscheiden drei Formen kontingenter Würde: ästhetische (in Bezug auf die „ästhetischen Eigenschaften der Gravität, Monumentalität und des In-Sich-Ruhens“ bei Menschen, anderen Lebewesen und Gegenständen), soziale (in Bezug auf „ein angesehenes öffentliches Amt oder eine hohe Position in einer sozialen Hierarchie“) und expressive, im Verhalten einer Person zum Ausdruck kommende Würde (Menschenwürde vs. Würde der Kreatur, S. 18-19). - Härle bezeichnet kontingente Würde als „differenzierte[] und differenzierende[] Formen von Würde“ (Würde, S. 11). 51 Vgl. dazu Pollmann, Art. Menschenwürde, S. 270-272. Pollmann fügt jeweils die Unterscheidung „graduierbar“ vs. „nicht-graduierbar“ hinzu; so ergeben sich vier „Grundpositionen“ (ebd., S. 270). 52 Vgl. Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 39-45 und S. 51-67. Tiedemann bezieht sich mit diesem Begriffspaar zunächst auf die ältere juristische Diskussion, dann aber auch auf die philosophische Begriffsgeschichte. 53 Vgl. Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 15. Vgl. auch ders. (Hg.), Texte zur Menschenwürde, S. 16 (Einleitung). 54 Vgl. Henning Ottmann, Die Würde des Menschen. Fragen zu einem fraglos anerkannten Begriff, in: Rationalität und Prärationalität. Festschrift für Alfred Schöpf, hg. v. J. Beaufort u. P. Prechtl, Würzburg 1998, S. 167-183, hier S. 175-176; vgl. dazu auch Lembcke, Über die doppelte Normativität der Menschenwürde, S. 237. 55 Vgl. ebd., S. 241. 56 Bieri, Eine Art zu leben, S. 11-12. Bieris Buch ist weniger der Versuch einer systematischen Definition der Würde als eine multiperspektivische Annäherung an den alltagssprachlichen Gebrauch des Begriffs. Im Zentrum steht die Absicht, das „Geflecht der Erfahrungen“, das mit dem Begriff verbunden ist, zu beschreiben. Insofern nennt Bieri die Würde eine „Lebensform“, die als „existentielle Antwort auf die existentielle Erfahrung der Gefährdung“ „ erfunden “ wurde. Vgl. ebd., S. 15 bzw. 14 (Herv. i. O.). 28 A. Einleitung kann. Franz Josef Wetz betont, dass - aus begriffs- und kulturgeschichtlicher Perspektive - die beiden Pole nur selten in Reinform auftreten und sich meist verbinden: Würde also als angeborene Qualität, derer sich der Mensch würdig erweisen muss. 57 Dietmar von der Pfordten schlägt eine Auffächerung in vier „(Teil-)Begriffe[] der Menschenwürde“ vor und unterscheidet eine große , eine kleine , eine mittlere und eine ökonomische Würde. Die große Menschenwürde bezeichnet eine „ nichtkörperliche, innere, im Kern unveränderliche, notwendige und allgemeine Eigenschaft des Menschen “, während die kleine Würde die „ nichtkörperliche, äußere, veränderliche Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung und Leistung eines Menschen“ meint. Die mittlere Würde hingegen beschreibt die „ äußere Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung der Menschen“ bei gleichzeitiger Betonung der „ natürliche [n] und damit im Prinzip unveränderliche [n] Gleichheit dieser sozialen Stellung aller Menschen“. Die ökonomische Würde fokussiert die ökonomischen Bedingungen der Menschenwürde. 58 Um die vielfältigen Interpretationen der Menschenwürde zu kategorisieren, hat sich schließlich eine weitere Begriffsreihe etabliert. So unterscheidet man zwischen Leistungstheorien (oder Leistungskonzepten ), die Würde an ein bestimmtes Verdienst knüpfen, Mitgift- oder Werttheorien , die Würde als eine dem Menschen verliehene oder inhärente Qualität definieren, Kommunikations- oder Anerkennungstheorien , denen zufolge Würde erst durch soziale Interaktion und Wahrnehmung entsteht, und (seltener) Bedürfnistheorien , die an konkrete Bedürfnisse des Menschen anknüpfen. 59 2. Um zu erklären, worauf die Menschenwürde in concreto gründet, werden verschiedene Paradigmata ins Spiel gebracht. Wetz unterscheidet drei „Bilder“ der Menschenwürde: religiös-christliche, vernunftphilosophische und säkularethische. 60 Ganz ähnlich argumentiert Schaber, der die drei Schlagworte Vernunft , Gottebenbildlichkeit und Freiheit anführt. 61 Sorgner konzentriert sich auf 57 Vgl. dazu Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 15. 58 Vgl. von der Pfordten, Menschenwürde, S. 9-10 (Herv. i. O.). Als Beispiele für die große Würde nennt von der Pfordten die Würdebegriffe Ciceros, der christlichen Theologie, der italienischen Renaissance und vor allem Kants. Sie sei als „ Selbstbestimmung über die eigenen Belange “ zu erklären (Herv. i. O.). Die kleine Würde ist vor allem mit dem dignitas - Begriff verbunden, die mittlere findet man etwa bei Pufendorf. Auf die ökonomischen Würdebedingungen zielen z. B. die sozialistischen Denker des 19. Jahrhunderts ab. 59 Vgl. hierzu etwa Augustin, Argumentationsmuster, S. 111-117; Teifke, Das Prinzip Menschenwürde, S. 45-52. 60 Wetz (Hg.), Texte zur Menschenwürde, S. 16 (Einleitung). 61 Vgl. Schaber, Menschenwürde, S. 21-26. - Zum Begriff der Gottebenbildlichkeit vgl. z. B. Claudia Welz (Hg.), Ethics of In-Visibility. Imago Dei, Memory, and Human Dignity in II. Facetten des Menschenwürdebegriffs 29 vier paradigmatische Grundpositionen, die vier Begründungsstrategien entsprechen: die menschliche Vernunftfähigkeit in Verbindung mit der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch (mit dem paradigmatischen Vertreter Cicero), die Gottebenbildlichkeit (Manetti), der freie Wille (Pico della Mirandola), schließlich die Autonomiefähigkeit (Kant). 62 Schüttauf spricht von drei ideengeschichtlichen Hauptlinien, die er mit jeweils einem Adjektiv qualifiziert: Der Mensch besitzt entweder Würde, weil er gut, frei oder brüderlich ist. 63 3. Wie auch immer die Menschenwürde letztlich begründet wird, findet sie ihre Konkretisierung in einer Vielzahl von Begriffs- und Erfahrungsfeldern, in „Momente[n] der Würde“, 64 deren Bestimmung und Beschreibung selbst wiederum untrennbar zu bestimmten Menschenwürdekonzepten gehören. Diese ‚Leitbegriffe‘ 65 gilt es im Auge zu behalten, wenn nach Dimensionen der Menschenwürde in einem literarischen Text gefragt wird. Sie konstituieren das semantische Feld der Menschenwürde, dessen einzelne, bisweilen äußerst disparate Elemente im Sinne der Wittgensteinschen Familienähnlichkeit aufeinander bezogen bleiben. 66 Jewish and Christian Thought, Tübingen 2015; Michael Welker, Person, Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit, in: Menschenwürde (= Jahrbuch für Biblische Theologie 15 (2000)), S. 247-262; Hans-Christoph Schmitt: Der Mensch als „Ebenbild Gottes“. Das biblische Verständnis der Würde des Menschen in den Schöpfungserzählungen 1. Mose 1-3, in: Die Würde des Menschen. Fünf Vorträge, hg. v. H. Kössler, Erlangen 1998, S. 13-32; Wolfgang Vögele, Art. Gottebenbildlichkeit, in: WdW, S. 158-159. Zur reformatorischen Kritik an der Vorstellung der Gottebenbildlichkeit als Grund menschlicher Würde vgl. Martin Leiner, Menschenwürde und Reformation, in: Des Menschen Würde (wie Anm. 12), S. 49-61. 62 Vgl. Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche, S. 13 und 30-108. 63 Vgl. Schüttauf, Menschenwürde, S. 35. - Martinet spricht (in Bezug auf den Menschenwürdediskurs der Renaissance) von vier „archétypes anthropologiques“: der Mensch als „ imago dei “, der „ homo contemplativus “, der „ homo faber “ und der „ homo hierarchicus “ (vgl. Montaigne et la dignité humaine, S. 92-121). 64 Isensee, Menschenwürde, S. 212. 65 Auch das Wörterbuch der Würde widmet eine Abteilung einer Vielzahl von „Leitbegriffe[n]“ (vgl. WdW, S. 125-214). - Konkretisierungen der Menschenwürde, die teilweise von der hier vorgeschlagenen Systematik abweichen, finden sich auch bei Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 119-143; Härle, Würde, S. 35-48; Isensee, Menschenwürde, S. 214-217 („inhaltliche Momente“); Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 329-515. 66 Vgl. dazu knapp Ralf Goeres, Art. Familienähnlichkeit, in: Handwörterbuch Philosophie, hg. v. W. D. Rehfus, Göttingen 2003, S. 353-354. - Birnbacher, Menschenwürde - abwägbar oder unabwägbar? , S. 253 rekurriert auf das Konzept einer „‚Begriffsfamilie‘ im Wittgensteinschen Sinne“, um die drei Bedeutungen von Menschenwürde, die er darlegt, miteinander in Beziehung zu setzen. Er unterscheidet einen normativ starken Begriff, der „alle geborenen lebenden Menschen [umfasst]“, einen schwächeren, der „alle der 30 A. Einleitung a) Der Mensch nimmt als Ebenbild Gottes und Krone der Schöpfung eine kosmische Sonderstellung ein; er ist durch seinen besonderen Rang dem Tier wie auch der Natur an sich übergeordnet. b) Der Mensch ist aufgrund seines absoluten Werts und seines moralischen Status im Sinne des Kantschen Kategorischen Imperativs stets als Selbstzweck zu betrachten. c) Den vernunftfähigen Menschen zeichnet seine Personalität aus; er ist autonomes Subjekt seiner Handlungen. d) Menschenwürde impliziert Willens- und Entscheidungsfreiheit ; der Mensch besitzt ein Recht auf Selbstbestimmung , Selbstverfügung und leibseelische Integrität . 67 e) Die Menschenwürde verpflichtet die Menschen zu gegenseitiger Achtung und Anerkennung ; diese manifestieren sich in Kommunikation und Interaktion . Nur so ist auch Selbstachtung als Voraussetzung von Verantwortung und geistiger Integrität möglich. Achtung und Selbstachtung setzen zudem ein Recht auf Intimität und Privatsphäre voraus. f) Menschenwürde ist ein universelles, egalitäres Konzept, das die Gleichheit aller menschlichen Wesen als Rechtssubjekte und Toleranz gegenüber allen menschlichen Wesen postuliert. g) Jedes menschliche Leben ist in seiner Würde zu respektieren; jedem Menschen müssen zumindest minimale materielle Existenzgrundlagen zugestanden werden. h) Demütigungen , Erniedrigungen und Instrumentalisierungen sind grobe Verstöße gegen die Menschenwürde. Die Bestimmung und Beschreibung von Menschenwürdeverletzungen sind ein hilfreicher Weg, um die Menschenwürde ex negativo zu konkretisieren. 68 biologischen Gattung nach menschlichen Wesen einschließlich menschlicher Leichname und menschlicher Embryonen von der befruchteten Eizelle an [umfasst]“, schließlich einen dritten, der sich auf „die menschliche Gattung als ganze“ bezieht. 67 Zur Vorstellung körperlicher Integrität vgl. Sibylle van der Walt / Christoph Menke (Hgg.), Die Unversehrtheit des Körpers. Geschichte und Theorie eines elementaren Menschenrechts, Frankfurt / M. / New York 2007, bes. den Beitrag von Wolfgang Vögele, Gottesebenbildlichkeit, Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit (ebd., S. 136-149). - Zum (angesichts des naturwissenschaftlichen Determinismus) umstrittenen Konzept der Willensfreiheit vgl. Geert Keil, Willensfreiheit, Berlin [u. a.] 2 2013. 68 Der Behelf, die Menschenwürde durch die Beschreibung von ‚Verletzungsvorgängen‘ zu konkretisieren, geht zurück auf die von Günter Dürig aufgestellte, an Kants Kategorischem Imperativ orientierte sog. Objektformel: „ Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird “ (Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: Archiv des öffentlichen Rechts 81 (1956), S. 117-157, hier S. 127; Herv. i. O.). - Ebenfalls vom Kategorischen Imperativ inspiriert ist das sog. Instrumentalisierungsverbot, das die Menschen- III. Vorgehen, Korpus und Erkenntnisziel 31 Diese thesenartigen Formulierungen sind nicht als Versatzstücke einer Definition intendiert; sie machen vielmehr den „Sinnhorizont“ der Menschenwürde sichtbar und sichern ihn als Grundlage für das weitere Vorgehen. Gleichzeitig wird die Gefahr eines inflationären Gebrauchs des Menschenwürdebegriffs offensichtlich; wenn er benutzt wird, müssen sein Gehalt, sein Status und sein Funktionszusammenhang stets präzise umrissen werden. III. Menschenwürde als ästhetisches Problem-- Zu Vorgehen, Korpus und Erkenntnisziel Die vorliegende Studie fragt nach den literarisch-ästhetischen Dimensionen und Implikationen des so wirkmächtigen wie unscharfen Begriffs der Menschenwürde. Sie stellt dem vielstimmigen Menschenwürdediskurs einen genuin literarischen zur Seite und bestimmt die Relevanz des Menschenwürdebegriffs für die Produktion, Rezeption und Interpretation von Literatur. Aufgrund ihrer Vieldeutigkeit ist die Menschenwürde als analytische Kategorie für eine literaturwissenschaftliche Analyse prädestiniert; die Literatur hält Doppelbödigkeit, Ambiguität und das Fehlen endgültiger Lösungen nicht nur aus, sondern kalkuliert bewusst damit und entfaltet erst so ihre Sinnpotentiale. Die Literatur ist in dieser Sichtweise ein Medium, das gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurse aufnimmt und spiegelt, aber - und darauf kommt es an - auch eigene Lösungen anbietet. Eine Untersuchung, die diachron literarische Dimensionen der Menschenwürde nachvollziehen will, steht vor zwei grundsätzlichen Schwierigkeiten: Zum einen ist der Begriff keineswegs scharf umrissen, sondern sowohl umstritten als auch historisch einem ständigen Wandel unterworfen. An das Textkorpus mit einem engen oder einem bestimmten historischen Verständnis der Menschenwürde (etwa Picos oder Kants) heranzutreten und dessen literarische Rezeption zu rekonstruieren, wäre zweifellos erkenntnisreich, würde aber stets nur eine bestimmte Dimension der Menschenwürde erfassen. Ebenso wenig führt eine positivistische Suche nach bestimmten Lexemen - ‚(Menschen-) würde verletzt sieht, wenn der Mensch zu einem bloßen Mittel zu einem ihm fremden Zweck missbraucht wird. Vgl. hierzu präzise Dieter Birnbacher, Annäherungen an das Instrumentalisierungsverbot, in: Menschenwürde (wie Anm. 8), S. 9-24 sowie Schaber, Instrumentalisierung und Würde, Paderborn 2010. Eine kritische Einschätzung der Objektformel und des Instrumentalisierungsbegriffs bietet Hilgendorf, Die mißbrauchte Menschenwürde. 32 A. Einleitung Würde‘, ‚würdig‘, ‚unwürdig‘ usw. - an der Textoberfläche zum Ziel, 69 auch wenn solche Belegstellen, falls es sie gibt, einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Den Analysen liegt vielmehr ein abstrakter, inhaltsoffener Menschenwürdebegriff zugrunde, der der oben umrissenen Vieldeutigkeit des Konzepts Rechnung trägt. So können unterschiedliche Aktualisierungen, Perspektivierungen und Konzeptualisierungen der Menschenwürde sowie historische Entwicklungen in ihrer literarischen Verhandlung und ästhetischen Vermittlung erfasst werden. 70 Intendiert ist ein analytischer Balanceakt: Die Begriffsgeschichte und Problematisierungen durch die Forschung werden zur Kenntnis genommen, gleichzeitig und vor allem aber soll die Literatur ‚unbefangen‘ zu Wort kommen. Das Korpus der zu untersuchenden Texte ist bewusst breit und heterogen, d. h. gattungs- und epochenübergreifend angelegt. Die literarischen Texte werden in manchen Kapiteln von poetologischen oder anderen theoretischen Schriften flankiert, um die Wechselwirkungen zwischen programmatischen Positionierungen und literarischer Produktion beobachten zu können. Gelegentliche Exkurse und Seitenblicke, etwa auf die Philosophie Schopenhauers und Nietzsches oder die Flugblätter der Weißen Rose, sollen den literarischen Diskurs kontextualisieren. Angestrebt wurde eine Mischung aus kanonischen und eher weniger beachteten Texten, und dies mit der doppelten Absicht, sowohl zu neuen Perspektiven auf stark rezipierte Werke zu gelangen als auch zu zeigen, dass die Menschenwürde abseits des Kanons ein zentrales literarisches Thema ist. Ausdrücklich sollen exemplarische Analysen vorgelegt werden; das vollständige Abdecken aller literarischen Epochen und Strömungen seit der Renaissance ist weder intendiert noch im vorliegenden Rahmen realisierbar. Dass der Frühaufklärer Gottsched am Anfang steht, ist nicht zuletzt mit dem Selbstbewusstsein, mit dem er den Neuanfang eines dezidiert deutschen Theaters proklamiert, zu begründen. Dabei steht außer Frage, dass auch eine Beschäftigung mit der frühneuzeitlichen Literatur - etwa mit rhetorischen Delegitimationsstrategien in 69 Eine Ausnahme zu diesem Grundsatz bildet in mancher Hinsicht das Kapitel über die Literatur zwischen 1750 und 1810. Ausgehend von der manifesten und eminenten Bedeutung des Würdebegriffs in Schillers theoretischem Werk wird in programmatischen ästhetischen und poetologischen Schriften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach dem Vorkommen, der poetologischen Stellung und den ästhetischen Implikationen des Würdebegriffs gefragt. Vgl. unten, Kap. B.II. 70 Ganz ähnlich geht Udo Ebert bei seiner Auseinandersetzung mit der Menschenwürde im Werk Schillers vor (vgl. dazu unten, S. 42 mit Anm. 99). - Thomas Berger operiert in seiner Studie zum Humanitätsgedanken in der Literatur der Spätaufklärung ähnlich. Seine Untersuchung dreht sich „weniger um den Begriff der Humanität als um den Humanitätsdiskurs“. Bergers Prämisse lautet, dass eine „ indirekte Auseinandersetzung mit dem Humanitätsbegriff […] in den literarischen Werken dieses Diskurses statt[findet]“. Vgl. Der Humanitätsgedanke in der Literatur der deutschen Spätaufklärung, Heidelberg 2008, S. 19 (Herv. i. O.). III. Vorgehen, Korpus und Erkenntnisziel 33 Flugblättern und -schriften, mit grobianischer Literatur oder Märtyrerdramen - im Hinblick auf die Menschenwürde überaus fruchtbar wäre. Die einzelnen Kapitel der Arbeit zeichnen paradigmatische Stationen des literarischen Menschenwürdediskurses bis in die Gegenwart nach. Anhand der ausgewählten Texte lassen sich bestimmte literarische Dimensionen der Menschenwürde mit besonderer Anschaulichkeit exemplifizieren. Die Kapitel sind als in sich abgeschlossene Analysen intendiert. Um die Fruchtbarkeit der Analysekategorie Menschenwürde zu illustrieren, stehen ausführliche Detailanalysen einzelner Werke neben tendenziell summarischen und vergleichend konzipierten Untersuchungen mehrerer Texte. Am Ende der Arbeit bündelt eine Zusammenschau die Ergebnisse thesenhaft. Dass dabei literaturhistorische Lücken entstehen - so fehlen etwa eingehende Analysen zur Literatur der Romantik, des Realismus und der Wiener Moderne, zu Goethe, Kleist, Thomas Mann, zur Post-DDR-Literatur -, ist zu beklagen, soll aber auch ein Anknüpfungspunkt für weitergehende Studien sein. Ausgangspunkt für die Analyse des Korpus sind grundlegende Fragen: Wie verhält sich ein bestimmter Text - sei es ein poetologischer oder ein literarischer - zur Vorstellung einer besonderen Würde des Menschen? Wird diese vorausgesetzt, problematisiert, verworfen oder mit literarischen Mitteln inszeniert bzw. wiederhergestellt? Methodisch orientiert sich die Untersuchung an einem doppelten Leitfaden: Zunächst stützt sie sich auf die genaue und eingehende Arbeit am einzelnen Text, auf die präzise Beschreibung bestimmter literarischer Verfahrensweisen oder Mechanismen, um den genuin literarischen Umgang mit für den Fragehorizont einschlägigen Konzepten zu eruieren und deren sprachlich-rhetorische Verarbeitung aufzuzeigen. Dieser bewusste Verzicht auf komplexe theoretische Voraussetzungen und Zugänge lenkt den Fokus auf den eigentlichen Gegenstand literaturwissenschaftlicher Arbeit: den literarischen Text, der in seiner Konstruiertheit und in seinem Kunstcharakter ernstgenommen wird. Im Vordergrund steht die Frage, was die Literatur zum Menschenwürdediskurs beiträgt, worin genau ihre Leistung liegt. Daneben ermöglicht der Blick auf den geistes- und literaturgeschichtlichen Kontext, die spezifische Qualität eines Textes und damit seinen speziellen Beitrag zum Menschenwürdediskurs genauer zu fassen. Stets gilt jedoch das Hauptinteresse der Menschenwürde als literarisch-ästhetischem Problem und nicht vorrangig als inhaltlichem, stoff- oder geistesgeschichtlichem. Ultimatives Erkenntnisziel dieser Studie ist keine Sammlung von Textstellen zur Menschenwürde, auch keine Begründung oder Definition der Menschenwürde, sondern eine Zusammenstellung von Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur, zur Bedeutung der Menschenwürde für die Literatur 34 A. Einleitung und vice versa - Umrisse einer Ästhetik der Menschenwürde, d. h. der Mittel und Funktionen ihrer literarischen Inszenierung. IV. Terminologische Zwischenbemerkungen Bevor die eigentliche literaturwissenschaftliche Analyse beginnen kann, sind einige terminologische und begriffliche Reflexionen geboten. Die Lexeme ‚Würde‘ und ‚Menschenwürde‘ wurden bislang synonym gebraucht; in unterschiedlichen Fachdiskursen werden, um das Konzept eines absoluten inneren menschlichen Werts zu bezeichnen, sowohl diese beiden Substantive als auch die Genitivphrase ‚Würde des Menschen‘ verwendet. Die folgenden semantischen Präzisierungen gelten zunächst dem Paar Würde / Menschenwürde, sodann dem Kompositum und der Phrase, schließlich zwei von der Forschung herausgestellten Paradoxa. Tiedemann deutet das Kompositum ‚Menschenwürde‘ als „metasprachlichen Namen“ für den Satz: „Dem Menschen kommt Würde zu.“ 71 Dieser impliziert zwei Fragen, und zwar jene, was der Mensch, und jene, was Würde ist. Letztere ist an dieser Stelle von Belang: Würde (ahd. wirda , wirdî , werdî ; mhd. wirde , werde ) ist das Abstraktum zum Adjektiv ‚wert‘. 72 Würde kommt also zunächst und ganz allgemein jemandem zu, der einen Wert besitzt. Der heutige Sprachgebrauch, so Tiedemann, unterscheidet drei Nuancen des Lexems ‚Würde‘: Würde „im Sinne von Rang, Status, Amt, Dienstgrad oder Titel“, Würde „als Wertprädikat“ in Bezug auf ein Verhalten oder eine Handlung, schließlich Würde als innerer Wert, der auf eine Gleichrangigkeit ihrer Träger abzielt. 73 In den ersten beiden Fällen ist Würde kontingent, mit hierarchischen Implikationen. Die dritte Facette ist jene, die im Determinativkompositum ‚Menschenwürde‘ zum Tragen kommt: Diese innere Würde wird als eine spezifisch ‚menschliche‘, ‚dem 71 Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 68. Zum Folgenden vgl. ebd., S. 68-71. 72 Vgl. Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. E. Seebold, Berlin / New York 24 2002, S. 998. 73 Vgl. Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 70 (in Anlehnung an Dunja Jaber). Bei der dritten Bedeutung der Würde stellt Tiedemann (mit Jaber) den Begriff der Selbstachtung ins Zentrum der Erläuterung. Tiedemann führt weiter aus, dass der Satz: „Dem Menschen kommt Würde zu“ ein absolutes Werturteil ist; der Mensch werde, gemessen an einem absoluten Wertmaßstab, für wertvoll erklärt (vgl. ebd., S. 71-83). Dieser absolute Wertmaßstab ist für Tiedemann der freie Wille (ebd., S. 84). Ausgehend davon formuliert er seine „Identitätstheorie der Menschenwürde“ (ebd., S. 101-102). Die Menschenwürdeklauseln in Verfassungen versteht Tiedemann nicht als normative Regelungen, sondern als „konstative Prädikationen“, die nicht zuletzt der „Selbstvergewisserung der Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft“ dienen (ebd., S. 77-78). IV. Terminologische Zwischenbemerkungen 35 Menschen eigene‘ gekennzeichnet; der Mensch ist also Träger dieser Würde. Ein Blick auf die lexikographische Geschichte des Kompositums bestätigt dies. Zum ersten Mal erscheint es als Lexem 1809 bei Campe: „Menschenwürde“ wird dort definiert als „die Würde des Menschen als eines vernünftigen über alle Erdgeschöpfe erhabenen Wesens; besonders die sittliche Würde des Menschen“. 74 Das Grimmsche Wörterbuch erläutert knapp: „sittliche und geistige würde des menschen“. 75 Der Duden schließlich verbucht ganz ähnlich: „geistig-sittliche Würde des Menschen“. 76 Alle drei genannten Wörterbücher lösen demnach das Kompositum als Genitivphrase mit erklärendem, deutendem Zusatz auf - wohl nicht zuletzt, um deutlich zu machen, dass eben nicht eine kontingente, sozial konnotierte Form der Würde, sondern eine dem Menschsein innewohnende gemeint ist. Gleichwohl ist festzuhalten, dass alle drei Bedeutungen der Würde zur Begriffsgeschichte der Menschenwürde gehören - kaum eine Darstellung verzichtet darauf, kontingente Formen der Würde zu diskutieren, und sei es nur als Mittel der Abgrenzung. In der vorliegenden Untersuchung wird stets klar sein, welche Art der Würde gerade thematisiert wird: Ist es eine kontingente Form, wird dies explizit herausgestellt, dient ‚Würde‘ als Synonym für ‚Menschenwürde‘, wird der Kontext dies zweifelsfrei erkennen lassen. Die in den Wörterbüchern - wie ja auch in Art. 1 GG - benutzte Genitivphrase verweist jedoch auf ein weiteres Problem: Besteht ein semantischer Unterschied zum Kompositum? In wissenschaftlichen Untersuchungen, Verfassungstexten und Urteilen des Bundesverfassungsgerichts werden ‚Menschenwürde‘ und ‚Würde‘ (mit oder ohne Genitivattribut ‚des Menschen‘) gemeinhin als quasiaustauschbare Ausdrücke verwendet. 77 Dabei sind die zwei Formulierungen keineswegs identisch - nur kann rein linguistisch und ohne Berücksichtigung des Kontexts nur schwer scharf differenziert werden. 78 Dennoch kann man sich versuchsweise annähern: Die Genitivphrase, wenn auch nicht so griffig wie das 74 Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 3, Hildesheim / New York 1969 [Nachdruck der Ausgabe Braunschweig 1809], S. 269. Vgl. dazu auch Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes, hg. v. H. Henne, H. Kämper u. G. Objartel, Tübingen 10 2002, S. 653. In J. C. Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der hochdeutschen Mundart findet sich noch kein entsprechender Eintrag, ebenso wenig in J. H. Zedlers Grossem Vollständigen Universal- Lexikon ; Zedlers Artikel „Würde“ behandelt nur die sozialhierarchische Bedeutung. 75 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854-1961, hier Bd. 12, Sp. 2075. 76 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim [u. a.] 6 2007, S. 1135. 77 Vgl. etwa die in Anm. 8 genannte Literatur. - Zu den Menschenwürdeklauseln in den Verfassungen der deutschen Bundesländer vgl. Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 61-63. - Auszüge aus einschlägigen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts bietet Wetz (Hg.), Texte zur Menschenwürde, S. 198-210. 78 Für diesen und die folgenden Hinweise danke ich Herrn Dr. Matthias Attig. 36 A. Einleitung Kompositum, scheint sich aufgrund ihrer deiktischen Qualität (‚ des Menschen‘) durch eine größere Emphase auszuzeichnen. Kritisch könnte man allerdings fragen, ob sie nicht durch ihre Bestimmtheit bereits ein philosophisches Programm impliziert - der Mensch etwa als intelligibles Wesen im Sinne Kants - oder normative Konnotationen zulässt. Das Determinativkompositum hat demgegenüber nicht mehr dieselbe semiotische Identität und semantische Klarheit wie die Genitivphrase. Es wirkt wie eine Art Verallgemeinerung der Aussage; nominale Komposita haben eine Tendenz zur Wechselbezüglichkeit und zu perspektivischen Verschiebungen, da die semantische Beziehung zwischen Determinans und Determinatum relativ offen ist. 79 So könnte ‚Menschenwürde‘ theoretisch nicht nur die Würde des Menschen, sondern auch eines Menschen, der Menschen oder aller Menschen bedeuten. Der Schritt zu einer Formulierung wie ‚die Würde der Mensch heit ‘, v. a. im 18. Jahrhundert durchaus geläufig, ist nicht weit. Die Genitivphrase betont demnach eher den einzelnen Menschen als Träger der Würde, möglicherweise mit besonderem Akzent auf dem jeweiligen ideengeschichtlichen Hintergrund und dem damit verbundenen Menschenbild; das Kompositum konzipiert Würde eher als eine dem Menschen an sich eignende, egalitäre Qualität. Kurz: Eine Differenz ist durchaus theoretisch beschreibbar und kontextabhängig relevant; für das weitere Vorgehen dürfte sie allerdings kaum von analytischer Virulenz sein. * Das Nachdenken über die Menschenwürde lässt bisweilen Paradoxa hervortreten. So beschreibt Franz Josef Wetz das Paradox der Unantastbarkeit der Menschenwürde: Das „Dogma der Unantastbarkeit“ 80 des deutschen Grundgesetzes lässt sich sprachlich auf zweifache Art deuten - deskriptiv (die Würde des Menschen kann nicht angetastet werden) und normativ (die Würde des Menschen soll / darf nicht angetastet werden). Dies lässt sich, so Wetz, auf die doppelte Konzeptualisierung der Menschenwürde als unzerstörbares menschliches Wesensmerkmal sowie als Achtung und Schutz verlangenden Gestaltungsauftrag zurückführen. 81 Ein Blick auf die alltägliche Realität - nicht nur in Krisengebieten, sondern auch in vermeintlich friedlichen Gesellschaften - führt zudem schmerzhaft vor Augen, dass die als unantastbar geltende Menschenwürde laufend ‚angetastet‘ wird. Wetz führt aus: Wenn auch die Würde des Menschen unzerstörbar ist, so kann sie offenbar doch verletzt werden, und aus diesem Grund heraus bleibt sie auf staatlichen Schutz ange- 79 Vgl. hierzu Elke Donalies, Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick, Tübingen 2 2005, S. 61-64. 80 Vgl. Rolf Gröschner / Oliver W. Lembcke (Hgg.), Das Dogma der Unantastbarkeit. 81 Vgl. Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 98-99. IV. Terminologische Zwischenbemerkungen 37 wiesen. Vielleicht darf man sagen: Nur weil die Würde verletzlich ist, wurde sie als unverletzlich normiert […]. 82 Ralf Stoecker weist in seiner Auseinandersetzung mit Avishai Margalit auf das „Paradox der Entwürdigung“ hin. 83 Im spezifischen Kontext des Würdebegriffs Margalits, der eng mit dem Begriff der Selbstachtung zusammenhängt, meint dieses Paradox folgendes: „[E]s wirkt paradox anzunehmen, dass eine Behandlung durch andere unsere eigene Selbstachtung beschädigen können sollte.“ 84 Anders formuliert: Es ist fraglich, wie im Hinblick auf einen entwürdigenden Vorgang die objektive von der subjektiven Ebene klar zu trennen ist, ob eine Entwürdigung überhaupt objektiv bestimmt werden kann oder stets eine Beschreibung vom subjektiven Standpunkt des vermeintlich Entwürdigten notwendig ist. Wilfried Härle veranlassen ähnliche Überlegungen zu sprachlichen Betrachtungen. Er versteht Menschenwürde als „Anrecht auf Achtung als Mensch“. 85 Dieses Anrecht ist tatsächlich unantastbar; insofern ergibt es wenig Sinn, von ‚Entwürdigung‘, ‚Würdeverlust‘, ‚Würdeverletzung‘, dem ‚Wiedergewinnen‘ von Würde o. Ä. zu sprechen. All dies würde implizieren, dass die Menschenwürde angetastet werden kann. Stattdessen kann laut Härle nur davon gesprochen werden, dass die Würde ‚missachtet‘ oder ‚abgesprochen‘ wird oder dass etwas mit der Menschenwürde ‚unvereinbar‘ ist: Mit solchen Formulierungen bewegt man sich auf der zutreffenden sprachlichen Ebene, auf der es nicht um das Antasten des Anrechts auf Achtung des Menschseins geht, sondern ‚nur‘ um die (Miss-)Achtung dieses Anrechts . 86 * Nun sind solche Überlegungen maßgeblich von ihrem historischen Kontext beeinflusst; im gegenwärtigen Diskurs ist die Menschenwürde kaum noch isoliert von ihrer nationalen wie internationalen verfassungs- und völkerrechtlichen Relevanz und den damit verbundenen Begrifflichkeiten betrachtbar. Der literarische Diskurs ist demgegenüber viel weniger festgelegt; für jeden zu untersuchenden Text wird zu fragen sein, ob er die Menschenwürde als unantastbar, 82 Ebd., S. 99. - Ebd., S. 100 führt Wetz aus, dass die Menschenwürde als „zwar unzerstörbar […], nicht aber unverwundbar“ sei. - Zu diesem Begriff vgl. auch Florian Weber, Art. Unantastbarkeit, in: WdW, S. 198-199. 83 Vgl. Stoecker, Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung, in: Menschenwürde (wie Anm. 21), S. 133-151, hier 139-141. Die Formulierung übernimmt Stoecker von Margalit. 84 Ebd., S. 141. 85 Härle, Würde, S. 20 (Herv. i. O.). 86 Ebd., S. 52 (Herv. i. O.). Zum Vorhergehenden vgl. ebd., S. 50-52. 38 A. Einleitung verlierbar, verletzbar oder gänzlich zerstörbar konzeptualisiert und wie er dies dann literarisch inszeniert. Die Analyse kann deshalb nicht darauf verzichten, ggf. von ‚Entwürdigung‘ - hier und im Folgenden verstanden als Prozess des Angriffs auf oder des Absprechens von Würde - oder von ‚Würdelosigkeit‘ - verstanden als Zustand der Abwesenheit oder des Verlusts von Würde - zu sprechen. V. Menschenwürde und die Schöne Literatur-- Forschungsüberblick Das ausgeprägte multidisziplinäre Interesse am Begriff der Menschenwürde hat in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren eine erstaunliche Anzahl an Monographien, Sammelbänden und Aufsätzen hervorgebracht. Literaturwissenschaftliche Perspektiven nehmen hier jedoch nur einen marginalen Platz ein. So erscheint etwa im Wörterbuch der Würde lediglich ein Artikel zu Schiller 87 - ein Indiz für das mangelnde Bewusstsein eines genuin literarischen Menschenwürdediskurses. Eine systematische Untersuchung der literarischen Dimensionen der Menschenwürde liegt noch nicht vor, auch wenn es nicht an Ansätzen fehlt. In der Tat lassen sich unterschiedliche Typen der Auseinandersetzung mit dem Komplex ‚Menschenwürde und Schöne Literatur‘ ausmachen. 1. Hans-Joachim Simm und Franz Josef Wetz haben jeweils eine Anthologie mit Texten zum Thema Menschenwürde herausgegeben. Simm bietet eine Art Florilegium, das zeigen will, „was Theologen, Philosophen, Juristen und Dichter […] zu verschiedenen Zeiten unter Würde verstanden haben“. 88 Wetzʼ Textsammlung versteht sich als „Überblick über die religiöse, philosophische, politische und rechtliche Entwicklung der Würdeidee von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart“. 89 Dass die Dichter nicht einmal eigens erwähnt werden, obwohl doch Texte von Petrarca, Shakespeare, Schiller, Gorki und Thomas Mann zitiert werden, ist bezeichnend: Die Literatur wird eher als Spiegel- und Illustrationsmedium denn als eigener Diskurs mit eigenen Mitteln und Aussagen wahrgenommen. 2. Einige monographische Darstellungen, besonders solche, die sich nicht an ein Fach-, sondern an ein größeres Publikum richten, bedienen sich literarischer 87 Vgl. Udo Ebert, Art. Friedrich Schiller, in: WdW, S. 40-41. 88 Simm (Hg.), Lektüre zwischen den Jahren. Von der Würde des Menschen, Frankfurt / M. / Leipzig 1997, S. 151 (Nachwort). 89 Wetz (Hg.), Texte zur Menschenwürde, S. 24. V. Menschenwürde und die Schöne Literatur-- Forschungsüberblick 39 Verweise, um ihre Ausführungen zu illustrieren. Peter Bieri etwa entwickelt seine Vorstellung von Würde als einer „Art zu leben“ anhand ausführlich beschriebener literarischer (und filmischer) Szenen. 90 Bisweilen werden auch isolierte Zitate aus literarischen Werken als Argumentationshilfe oder als rhetorischer Schmuck funktionalisiert. 91 In solchen Fällen steht primär der Inhalt des literarischen Textes, die reine ‚Aussage‘, und nicht die untrennbare Verzahnung von Mitteilung und formaler Gestaltung im Fokus. 3. Eine ganze Reihe von Literaten wurde in unterschiedlichen Kontexten mit dem Prädikat ‚Dichter der Menschenwürde‘ oder ähnlichen Formulierungen belegt. So wurde etwa Friedrich Schiller „Kämpfer für Menschenwürde und Freiheit“ genannt, Friedrich Hebbel als Dichter der „verletzte[n] Menschenwürde“ charakterisiert; ein Ausstellungskatalog zu Leben und Werk Ludwig Börnes trägt den Untertitel „Freiheit, Recht und Menschenwürde“, Joseph Roth wurde attestiert, er schreibe von der „Würde des Unscheinbaren“, Siegfried Lenz von der „Würde der Verlierer“. 92 Solche Auszeichnungen, aus inhaltlichen Gründen zweifellos berechtigt, sind auch der Versuch einer besonderen ‚Würdigung‘ eines Autors durch den auratischen Begriff der Würde. 4. Literaturwissenschaftliche Beiträge, die die Menschenwürde thematisieren, tun dies mit unterschiedlicher Intensität und verschiedenartigem Anspruch. Bisweilen wird der Begriff prominent in Interpretationen verwendet, ohne dass 90 Bieri bespricht u. a. Textpassagen von Seneca, Gottfried Keller, Henrik Ibsen, Robert Walser, Franz Kafka, Heinrich Mann, Alfred Andersch, George Orwell, Arthur Miller, Vladimir Nabokov, Max Frisch, Christa Wolf, Friedrich Dürrenmatt und Joseph Conrad. - Schreiber nennt in Bezug auf das vermeintlich Unwürdige in der Kunst (freilich ohne konkrete Textanalysen) etwa Sibylle Lewitscharoff, Charlotte Roche und Henry Miller, geht in anderen Zusammenhängen auf Cervantes, Kleist, Schiller und Martin Mosebach ein, nennt schließlich Johann Peter Hebel als Beispiel für eine ‚würdige‘ Einfachheit der Sprache und des Erzählens (vgl. Schreiber, Würde, S. 144-146, 152-153, 162-164, 173-175, 208). 91 Weitin übt heftige Kritik an Autoren, die literarische Texte „offenbar nur der Illustration für würdig [halten]“. Konkret kritisiert er den „methodisch katastrophale[n] Umgang“ mit einem Faust -Zitat in einem Beitrag J. Isensees (vgl. Freier Grund, S. 34). 92 Vgl. Benno Kettner-Agahd (Hg.), Friedrich v. Schiller, der Kämpfer für Menschenwürde und Freiheit, Dortmund o. J.; Lion Feuchtwanger, Die Geschwister Oppermann. Roman, Berlin / Weimar 1993, S. 172; Alfred Estermann (Bearb.), Ludwig Börne. 1786-1837, im Auftr. des Dezernats für Kultur u. Freizeit der Stadt Frankfurt am Main hg. v. d. Stadtu. Universitätsbibliothek, Frankfurt / M. 1986; Esther Steinmann, Von der Würde des Unscheinbaren. Sinnerfahrung bei Josef Roth, Tübingen 1984; Gerhard Köpf, Vom Ende der Sieger und der Würde der Verlierer, in: Anmerkungen zu Siegfried Lenz, hg. v. C. Schlicht, Oberhausen 1998, S. 27-34. - Diese Feststellung gilt für Hebbel mit der Einschränkung, dass es sich um die innerfiktionale Aussage einer Romanfigur handelt. 40 A. Einleitung er jedoch als zentrale analytische Kategorie dient und ohne dass er auf seine spezifisch literarischen Dimensionen hin befragt wird - sein Stellenwert bleibt so eher punktuell. 93 Größere Aufmerksamkeit wurde der Menschenwürde im Zusammenhang mit der Literarisierung des Sterbens und des Todes gewidmet. Walter Jens beschreibt schlaglichtartig „[d]ie Literatur über Würde und Würde- 93 Als Beispiele seien angeführt: Itta Shedletzky sowie Ralf Peter Anders und Britta Dittmann kommentieren die Motive des Antisemitismus und der Majestätsbeleidigung in Heinrich Manns Der Untertan ausgehend von einer Notiz des Autors, in der dieser das „Sinken der Menschenwürde unter jedes bekannte Maß“ beklagt (vgl. Shedletzky, Majestätsbeleidigung und Menschenwürde. Die Fatalität des Antisemitismus in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 86 (1990), S. 67-81; Anders / Dittmann, Heinrich Manns Roman Der Untertan und „das Sinken der Menschenwürde unter jedes bekannte Maß“ am Beispiel des politischen Delikts der Majestätsbeleidigung, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 30 (2012), S. 147-172). Maria Carolina Foi interpretiert Schillers Wilhelm Tell , besonders die Frauenfiguren, vor dem Hintergrund der Menschenwürde (Schillers Wilhelm Tell : Menschenrechte, Menschenwürde und die Würde der Frauen, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 45 (2001), S. 193-223). Wolfgang Emmerich rekurriert auf den Begriff der Menschenwürde in seiner Diskussion der Verstrickung ostdeutscher Schriftsteller der Generation Christa Wolfs in den Spitzelapparat des Ministeriums für Staatssicherheit (Übergriff und Menschenwürde. Autoren der mittleren Generation zwischen Stasi-Kooperation und Verweigerung, in: Die Stasi in der deutschen Literatur, hg. v. F. Huberth, Tübingen 2003, S. 87-110). Gerda Benesch- Tschanett beschreibt die physische und psychische Gewalt gegen Frauen in Friedrich Hebbels Dramen Genoveva und Herodes und Mariamne als für die patriarchalische Gesellschaft typische entwürdigende Verdinglichung und Depersonalisierung (Genoveva und Marianme. Menschenwürde und Gewalt im „Ehedrama“, in: Hebbel - Mensch und Dichter im Werk. Problemdrama und Postmoderne, hg. v. I. Koller-Andorf u. H. Grundmann, Münster 1998, S. 115-130; vgl. ähnlich Ida Koller-Andorf, „Hebbel als Dichter der Frau“. Von Würde und Emanzipation, in: Hebbel - Mensch und Dichter im Werk. Wegweiser zu neuem Humanismus, hg. v. I. K.-A., Wien 1987, S. 129-145). Thomas Sprecher polarisiert seine Darstellung von Thomas Manns Aussagen über, Fiktionalisierungen von und Identifizierungen mit Goethes Leidenschaft für die junge Ulrike von Levetzow anhand der Begriffe ‚Entwürdigung‘ und ‚Würde‘ (Altersliebe als Entwürdigung und Grösse. Thomas Mann in Marienbad, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 22 (2009), S. 23-44). Burghard Dedner beschreibt verschiedene „Verlach- und Entwürdigungsszenen“ in Texten Thomas Manns. Der Begriff „Entwürdigung“, den Dedner in Anlehnung an Thomas Mann benutzt, bezeichnet recht unspezifisch Situationen des sozialen Scheiterns oder der sozialen Exklusion (Entwürdigung. Die Angst vor dem Gelächter in Thomas Manns Werk, in: „Heimsuchung und süßes Gift“. Erotik und Poetik bei Thomas Mann, hg. v. G. Härle, Frankfurt / M. 1992, S. 87-102). In seiner Interpretation der Judenbuche Annette von Droste-Hülshoffs verweist Günther Bonheim an zwei Stellen auf den Würdebegriff (Von der Würde der Lebenden und der Toten. Annette von Droste-Hülshoffs ‚Die Judenbuche‘, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2012), S. 212-239, hier bes. S. 229-235). - Auch eine altphilologische Studie soll erwähnt werden: Günter Dietz, Menschenwürde bei Homer. Vorträge und Aufsätze, Heidelberg 2000, S. 172-208. V. Menschenwürde und die Schöne Literatur-- Forschungsüberblick 41 losigkeit des Sterbens“. 94 Helmuth Kiesel und Christine Steinhoff untersuchen in überblicksartigen Beiträgen, wie die deutschsprachige Literatur in unterschiedlichen Epochen das würdevolle bzw. würdelose Sterben imaginiert und welche Konsequenzen sich daraus für die literarische Darstellung ergeben. 95 Karin Tebben beschreibt den Suizid als paradigmatisches Motiv des literarischen Menschenwürdediskurses und stellt fest: Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wird in der Literatur kein aktiver Beitrag zum rechten Verständnis menschlicher Würde geliefert, sondern ein implizit-passiver: den literarischen Figuren ist die Würde genommen; sie sind Verzweifelte, die die Last des Weiterlebens nicht mehr ertragen können. 96 Die Grundthese, dass die nachklassische bzw. nachromantische Literatur die Vorstellung der Menschenwürde nur noch ex negativo aufruft, wird im Folgenden zu prüfen sein. Eine genuin ästhetische Dimension der Menschenwürde bestimmt Gilbert D. Chaitin in seinem Beitrag über die innovative, ja revolutionäre Qualität des style indirect libre in Émile Zolas LʼAssommoir (1877). Indem Zola nicht nur aus der Innensicht des Proletariats erzähle, sondern auch dessen Sprache in den discours (Genette) aufnehme, verleihe er gerade den in prekären Verhältnissen lebenden Figuren jene für eine demokratische Gesellschaft unerlässliche Menschenwürde. 97 Daneben stellen einige Interpreten den Begriff der Menschenwürde durchaus ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung mit einem einzelnen oder dem Gesamt- 94 Walter Jens, Si vis vitam para mortem. Die Literatur über Würde und Würdelosigkeit des Sterbens, in: Hans Küng / W. J., Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung. Mit Beiträgen von I. Jens, A. Eser u. D. Niethammer, München / Zürich 2 2009, S. 85-121. 95 Vgl. Helmuth Kiesel, Sterben in der Schönen Literatur, in: Menschenbild und Menschenwürde am Ende des Lebens, hg. v. T. Fuchs, A. Kruse u. G. Schwarzkopf, Heidelberg 2010, S. 199-210 und Christine Steinhoff, Art. Literarische Sterbeszenen, in: Handbuch Sterben und Menschenwürde, hg. v. M. Anderheiden u. W. U. Eckart, Berlin [u. a.] 2012, Bd. 3, S. 1797-1813. 96 Karin Tebben, Art. Suizid in der Neueren deutschen Literatur, in: Handbuch Sterben und Menschenwürde (wie Anm. 95), Bd. 3, S. 1833-1844, hier S. 1837. 97 Vgl. Gilbert D. Chaitin, Listening Power: Flaubert, Zola, and the Politics of style indirect libre , in: The French Review 72.6 (1999), S. 1023-1037, hier bes. S. 1035: „[B]y allowing popular language into the narration, he [i. e. Zola; MG] endorses it. By letting the characters speak for themselves from within the narration, he gradually refrains from that ‚objective‘ narration which consists of looking at oneʼs characters from the outside as though they were specimens on the dissecting table, and from isolating, condemning, or condescending to them and their language, as his predecessors Balzac, Sue, and even Hugo had done. Instead, he grants them the autonomy and dignity fundamental to a democratic view of humanity.“ 42 A. Einleitung werk eines Dichters. Heinz Müller-Dietz untersucht das Werk Georg Büchners aus der Perspektive der naturrechtlichen Menschenwürdevorstellung. 98 Udo Ebert - wie Müller-Dietz bezeichnenderweise Rechtswissenschaftler - hat eine Darstellung der unterschiedlichen Facetten der Menschenwürde bei Schiller vorgelegt, deren methodische Grundvoraussetzung sich mit jener der vorliegenden Studie deckt: Seinen Ausführungen liegt ein abstrakter, inhaltsoffener Würdebegriff zugrunde, dessen Konkretisierungen und Nuancierungen in verschiedenen Schriften Schillers nachvollzogen werden. 99 Als Schlüsselbegriff einer eingehenden Faust -Deutung dient die Menschenwürde Thomas Weitin. Er beschreibt Goethes Drama als „Gründungstext[], der für die Selbstbehauptung der Menschenwürde am Beginn der normativen Moderne ausschlaggebend ist“, und zeigt, „wie die Menschenwürde ihre universelle normative Geltungskraft aus der Übertragungsleistung einer absoluten Metapher gewinnt“. Weitin betont auch die darstellungsästhetischen Implikationen der Menschenwürde, die im Faust „als etwas [inszeniert werde], das sich der repräsentativen Verkörperung durch eine dramatische Person entzieht“. 100 Weniger auf konkrete literarische Verfahrensweisen als auf Status und Potential der Literatur fokussieren sich zwei Ansätze aus der amerikanischen Literaturwissenschaft. Joseph R. Slaughter konstatiert eine „narratologische Allianz“ zwischen dem Bildungsroman der deutschen Klassik und dem internationalen Menschenrechtsdiskurs: 101 „Human rights and the Bildungsroman are mutually enabling fictions: each projects an image of the human personality that ratifies the otherʼs vision of the ideal relations between individual and society.“ 102 Als ‚demarginalisierende‘ Gattung stelle der Bildungsroman ein „kulturelles Sur- 98 Vgl. Heinz Müller-Dietz, Naturrecht und Menschenwürde. Anmerkungen zum Werk Georg Büchners, in: Grenzüberschreitungen. Beiträge zur Beziehung zwischen Literatur und Recht, Baden-Baden 1990, S. 259-279. - Zum Werk Georg Büchners vgl. unten, Kap. B.IV. 99 Vgl. Udo Ebert, Schiller und die Menschenwürde, in: Der ganze Schiller - Programm ästhetischer Erziehung, hg. v. K. Manger in Verb. mit N. Immer, Heidelberg 2006, S. 131-154, hier S. 131. - Zur Menschenwürde bei Schiller (in Anknüpfung an Eberts Ergebnisse) vgl. unten, Kap. B.II.1. und B.II.6. 100 Weitin, Freier Grund, S. 9-10 (Herv. i. O.). Zu Weitins Studie vgl. auch unten, S. 123 - 124. 101 Vgl. Joseph R. Slaughter, Enabling Fictions and Novel Subjects: The Bildungsroman and International Human Rights Law, in: PMLA 121.5 (2006), S. 1405-1423, hier S. 1408 („narratological alliance between human rights and the Bildungsroman “). 102 Ebd., S. 1407. Slaughter spricht von einer „neglected discursive genealogy of international human rights law that intersects with German idealism and its particular nomination of the bourgeois, white male citizen to universal subject. The assumptions about that subject shared by normative human rights law and the idealist Bildungsroman manifest themselves in a common conceptual vocabulary, humanist social vision, and narrative grammar of free and full human personality development“. V. Menschenwürde und die Schöne Literatur-- Forschungsüberblick 43 rogat“ dar, das den Glauben an Menschenwürde, Menschenrechte und deren Allgemeingültigkeit fördert - jenseits rein juristischer Erwägungen, sondern im Prozess der Rezeption und der Diskussion des literarischen Texts. 103 In eine ähnliche Richtung geht Elizabeth S. Anker in ihrer Studie Fictions of Dignity , jedoch unter anderen methodologischen Vorzeichen. Ihre dezidiert postkoloniale Herangehensweise ist der Phänomenologie Merleau-Pontys verpflichtet und hinterfragt den „widersprüchlichen Status des Körpers“ im Menschenrechtsdiskurs. 104 Anker beklagt, dass liberale Menschenrechtsvorstellungen auf der doppelten Fiktion menschlicher Würde und körperlicher Integrität beruhen, das Individuum hier also quasi körperlos gedacht und die Vorstellung eines „Embodiment“ menschlichen Bewusstseins und Erlebens vernachlässigt wird. 105 Ihre Interpretation vierer postkolonialer Romane 106 versteht Anker als „embodied politics of reading“; indem sie zeigt, wie literarische Texte ästhetisch das Bewusstsein der körperlichen Verfasstheit des Menschen wiederherstellen, will Anker die vermeintlich vorherrschende Menschenwürdevorstellung, die untrennbar an die körperliche Integrität des Einzelnen geknüpft ist, korrigieren. 107 Im Hinblick auf den Anspruch der vorliegenden Arbeit erscheinen diese beiden Positionen ambivalent: Einerseits gehen sie zu Recht davon aus, dass es einen genuin literarischen Menschenwürdebzw. Menschenrechtsdiskurs 103 Vgl. ebd., S. 1417: Der Bildungsroman fungiere „as a kind of cultural surrogate for the missing warrant and executive sanction of human rights law and supplying (in content and form) a certain symbolic legitimacy for the lawʼs tautologies. As one of the primary carriers of human rights culture, the novel of demarginalization […] is said to perform what it thematizes, imagined to effect in the reader the modernizing process of personality development that it narrates for the protagonist.“ Vgl. ebd., S. 1419: „[O]ur reading acts have implications not only for the imagination but also for the legislation of an international community constituted on human rights. That is, the texts we read and how we read, teach, and write about them impact (however unpredictably) the possibility that the projection of a world in which ‚recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human familiy‘ might become legible, articulable, and perhaps even commonsensical.“ - Vgl. weiterhin Elizabeth S. Anker, Art. Human Rights in Literature, in: The SAGE Handbook of Human Rights, hg. v. A. Mihr u. M. Gibney, Los Angeles 2014, S. 460-478; Ian Ward (Hg.), Literature and Human Rights. The Law, the Language and the Limitations of Human Rights, Berlin 2015; Sophia A. McClennen / Alexandra Schultheis Moore (Hgg.), The Routledge Companion to Literature and Human Rights, London 2016. 104 Vgl. Elizabeth S. Anker, Fictions of Dignity. Embodying Human Rights in World Literature, Ithaca / London 2012, S. 2 („the contradictory status of the body within dominant definitions of human rights“). 105 Vgl. ebd. 106 Folgende Romane werden untersucht: Salman Rushdie, Midnightʼs Children (1981), Nawal El Saadawi, Woman at Point Zero (1973), J. M. Coetzee, Disgrace (1999) sowie Arundhati Roy, The God of Small Things (1997). 107 Vgl. Anker, Fictions of Dignity, S. 2-3. 44 A. Einleitung gibt und dass dieser als solcher ernst genommen werden muss. Andererseits betrachten sie die Literatur dann doch vor allen Dingen als Korrektur- oder Sensibilisierungsinstanz und beschreiben ihre Funktion für sowie ihren Einfluss auf außerliterarische Diskurse. Gegenüber der präzisen Beschreibung ästhetischer Verfahrensweisen und literarischer Inszenierungen der Menschenwürde tritt das mentalitäts- und bewusstseinsbildende Potential der Literatur in den Vordergrund. 108 Paul Michael Lützeler schließlich hat eine Studie vorgelegt, die anhand deutschsprachiger Gegenwartsromane, die sich mit internationalen Bürgerkriegssituationen auseinandersetzen, das Verhältnis von Literatur und einem „Menschenrechtsethos, das auf dem Schutz der Menschenwürde basiert“, untersucht. 109 Bei der Analyse dieser Texte, die „Menschenrechtsverletzungen in den Mittelpunk ihrer Darstellungen [rücken]“, greift Lützeler auf ein „Zusammenspiel von Textlektüre, theoretischer Bemühung und historischer Rekonstruktion“ zurück. Er liest die untersuchten Romane als „Teil eines aktuellen Menschenrechtsdiskurses“, an dem Schriftsteller mit ihren eigenen Mitteln, die sich von jenen anderer Disziplinen wesenhaft unterscheiden, partizipieren. Lützeler betont zudem den „ästhetischen Mehrwert“ des literarischen Texts 110 - und wählt somit ein Vorgehen, das dem in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen nahe kommt. 5. Von rein rechtlicher Relevanz ist die Menschenwürde, wenn die Literatur ins Zentrum juristischer Auseinandersetzungen rückt. Das prominenteste Beispiel der letzten Jahre ist Maxim Billers autobiographisch gefärbter Roman Esra (2003), dessen Verbot 2007 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde, da es Intimsphäre und Persönlichkeitsrechte der ehemaligen Lebensgefährtin des 108 Vgl. z. B. ebd., S. 14: Hier spricht Anker von „literatureʼs intimate bearing on social justice and human rights“. Literatur beschreibt sie zudem als „imaginative remapping of human rights, in the process expanding their purview beyond the orbit of their narrowly liberal formulations“. 109 Vgl. Paul Michael Lützeler, Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman, München 2009, S. 25. Lützeler untersucht Romane von Norbert Gstrein, Lukas Bärfuss, Hans Christoph Buch, Jeannette Lander, Dieter Kühn, Nicolas Born, Christian Kracht, Michael Roes, Gert Hofmann, Friedrich Christian Delius, Uwe Timm und Erich Hackl. 110 Ebd., S. 19, 25 bzw. 41. - Lützeler weist auf Ansätze hin, die jenen Slaughters und Ankers ähneln. So nennt er z. B. die Studie Inventing Human Rights: A History von Lynn Hunt (2007). Vgl. ebd., S. 61-62 mit Anm. 30. - Beim 25. Germanistentag 2016 in Bayreuth fand ein Panel unter dem Titel „Menschenrechte erzählen. Menschenrechtsnarrative in fiktionalen und faktualen Texten vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ statt. Vgl. dazu Kyung-Ho Cha (Hg.), Menschenrechte erzählen. Menschenrecht und Menschenwürde in der Literatur, Göttingen 2016. V. Menschenwürde und die Schöne Literatur-- Forschungsüberblick 45 Autors, die im Roman als titelgebende Figur auftritt, verletzt sah. Konkret konfligierten in diesem Fall die Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG ), das absolute Menschenwürdepostulat (Art. 1 GG ) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 GG ). 111 6. Gerade wenn den Textanalysen ein inhaltsoffener Menschenwürdebegriff zugrunde gelegt wird, ist die Nähe zu verwandten Fragestellungen groß, etwa zu Fragen nach den Begriffen der Humanität oder des Subjekts, nach dem Status des Individuums und bestimmter Menschenbilder, nach der Literarisierung und der Legitimität von Gewalt, Hässlichkeit und Obszönität, nach dem Verhältnis von Literatur und Recht, nach pornographischen oder grobianischen Motiven, nach dem in der Kunst Erlaubten. 112 Umso nachdrücklicher müssen im Folgenden textuelle Befunde auf den Begriff der Würde fokussiert und auf ihren spezifischen Beitrag zum Menschenwürdediskurs hin befragt werden. 111 Der zweite paradigmatische Fall, der in der Forschung immer wieder genannt wird, ist Klaus Manns Roman Mephisto . - Vgl. Albert Meier, Kunstfreiheit vs. Persönlichkeitsschutz: Maxim Billers Esra zwischen Poesie und Justiz, in: Literaturskandale, hg. v. H.- E. Friedrich, Frankfurt / M. 2009, S. 217-230 (mit ausführlichen Zitaten aus den Urteilen der verschiedenen Instanzen). Vgl. ebenso David-Alexander Busch, Romanverbote - Zu den Grenzen der Privatzensur, in: AfP. Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht 35.3 (2004), S. 203-211; Anja Schiemann, Persönlichkeitsrechtsverletzung contra Kunstfreiheit - Die Mephisto -Entscheidung und ihre Auswirkung auf die neuere Rechtsprechung, in: Justitiabilität und Rechtmäßigkeit. Verrechtlichungsprozesse von Literatur und Film in der Moderne, hg. v. C. D. Conter, Amsterdam 2010, S. 27-45; Eva Inés Obergfell, Der Fall Esra - Eine Neujustierung des Verhältnisses von Persönlichkeitsrecht und literarischer Kunstfreiheit? , in: Justitiabilität und Rechtmäßigkeit (wie vorher), S. 65-81; Albrecht Götz von Olenhusen, Satire, Parodie, das ewige Recht und andere Unglücksfälle. Zur Problematik juristischer Begriffsbestimmungen im Feld der Literatur, in: literaturkritik.de 17.7 (2015) (http: / / literaturkritik.de / id / 20 769); Gertrud Maria Rösch, Justiz und Fiktion. Recht als Gegenstand der Literatur und Literatur als Gegenstand des Rechts, in: literaturkritik.de 17.7 (2015) (http: / / literaturkritik.de / id / 20 731; letzter Zugriff jeweils: 03. 04. 2017). 112 Vgl. etwa Bernhard Gajek, „Ein pornographischer Roman kann Kunst sein“. Zur jüngeren Geschichte des Verhältnisses von Literatur und Recht, in: literaturkritik.de 17.7 (2015) (http: / / literaturkritik.de / id / 20 740; letzter Zugriff: 03. 04. 2017). - Zum Verhältnis von Literatur und Recht vgl. z. B. Conter (Hg.), Justitiabilität und Rechtmäßigkeit (wie Anm. 111; hier v. a. die Einleitung des Herausgebers); Thomas Weitin, Zeugenschaft. Das Recht der Literatur, München / Paderborn 2009; ders., Recht und Literatur, Münster 2010; Bodo Pieroth, Recht und Literatur, München 2015 (mit den Literaturangaben S. 285-288). Pieroth bezieht sich in seiner Darstellung an mehreren Stellen auf den Begriff der Menschenwürde (vgl. etwa ebd., S. 4, 111, 224, 243, 276, 282). Meist handelt es sich allerdings um direkte Verweise auf Art. 1 GG, da Pieroth „das juristische Problem“ der besprochenen Texte aus der Sicht des Juristen bewertet. V. Menschenwürde und die Schöne Literatur-- Forschungsüberblick 47 B. Literarische Dimensionen der Menschenwürde: Exemplarische Analysen I.1. Gottscheds akademische Reden über den Menschen 49 I. „Was sich vor mich nicht schickt, das werd ich auch nicht tun“-- Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732) Im deutschsprachigen literarischen Menschenwürdediskurs nimmt der Frühaufklärer und Literaturreformer Johann Christoph Gottsched eine Schwellenposition ein. Auf der einen Seite bestimmt er mit einer für den Rationalismus der Frühaufklärung typischen Systematik die Funktion der Dichtkunst gerade auch im Hinblick auf den Menschen, sein Wesen und seine moralische Disposition. Auf der anderen Seite ist der Begriff der Menschenwürde zwar zentral für sein Verständnis von Literatur und für die Interpretation seiner ‚Mustertragödie‘ Sterbender Cato ; die intensive theoretische Fundierung und die explizite programmatische Bedeutung, die die Menschenwürde bei Kant bzw. bei Schiller erlangt, ist bei Gottsched jedoch lediglich in Ansätzen nachweisbar. Zudem unterscheidet sich das frühaufklärerische Würdeverständnis noch wesentlich von Kants Begriff einer genuin inhärenten Menschenwürde. I.1. Gottscheds akademische Reden über den Menschen In den drei Leipziger „Akademische[n] Rede[n], zur Vertheidigung Gottes und des menschlichen Geschlechts“ (1730), 1 die zeitlich dem Erscheinen der Critischen Dichtkunst (1730) sowie der Arbeit am Sterbenden Cato (1732) nahe stehen, entfaltet Gottsched mit hohem rhetorischen Aufwand und großem rednerischen Pathos seine Sicht auf Status, Wesen und Würde des Menschen - auch wenn er die Vokabel ‚(Menschen-)Würde‘ nicht explizit benutzt. Der Menschenwürdebegriff dieser Reden ist eklektisch. Den besonderen Status des Menschen macht der Theologe Gottsched nicht überraschend zunächst am göttlichen Schöpfungsakt fest ( AW IX / 2, 454). Doch nicht nur als Gottes Geschöpf ist der Mensch ausgezeichnet; Gott hat ihn vielmehr zur ‚Krone der 1 Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke, begr. v. J. Birke, später hg. v. P. M. Mitchell, Berlin 1968 ff.; hier Band IX / 2, S. 414-455. Wird im Folgenden diese Ausgabe benutzt, dann werden Zitate im Text in der Form (AW Band, Seitenangabe) belegt. - Vgl. hierzu auch die knappen Bemerkungen bei Werner Rieck, Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes, Berlin 1972, S. 190-191. 50 B.I. Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732) Schöpfung‘ auserkoren. Die Menschen sind „die Meisterstu ͤ cke der go ͤ ttlichen Weisheit, Macht und Gu ͤ te“ ( AW IX / 2, 418), die „Gott zum Fu ͤ rsten aller u ͤ brigen [Geschöpfe] bestimmet, und de[nen] zum Besten er alles u ͤ brige so wunderwu ͤ rdig eingerichtet und angeordnet hat“ ( AW IX / 2, 420-421). Zwar ist der Mensch auch nur eines „unter den u ͤ brigen Thieren“ ( AW IX / 2, 421), er besitzt aber, gleichsam ein zweiter Schöpfer - wohl in Anlehnung an den Renaissance-Philosophen Pico della Mirandola -, die Fähigkeit, mit seiner Umwelt schöpferisch, gestaltend und unterwerfend umzugehen. 2 Schließlich beruft sich Gottsched auf die klassische biblische Menschenwürdedefinition; der Mensch sei „die kleine Gottheit auf Erden, das Ebenbild des allerho ͤ chsten Wesens“ ( AW IX / 2, 425). Neben diesem christlichen Begründungsmuster steht das für den Rationalismus der frühen Aufklärung typische vernunftphilosophische: Die Vernunft, meine Herren, bloß die Vernunft ist dasjenige, was den Menschen zum Ko ͤ nige aller andern Thiere gemachet hat. Die Vernunft ist das Werkzeug, wodurch er alle seine erstaunlichen Thaten tut. ( AW IX / 2, 422) 3 Allerdings assoziiert Gottsched mit der Vernunftbegabung des Menschen keine unverlierbare, allen Menschen gleichermaßen eignende inhärente Würde. Das belegen drei Sachverhalte. Erstens wird mit Verweis auf die Vernunft gerade auch die kontingente soziale, auf der gesellschaftlichen Hierarchie beruhende Würde legitimiert: [Die Vernunft] unterwirft die Knechte ihren Herrschaften, zu Befo ͤ rderung ihres beyderseitigen Wohls […]. Selbst Republiken, Fu ͤ rstenthu ͤ mer, Ko ͤ nigreiche und Kaiserthu ͤ mer sind bloß ihr Werk. ( AW IX / 2, 422-423) Zweitens wird die Vernunft begabung allein keineswegs als Grund für einen bereits a priori eingeräumten Sonderstatus gedeutet. „[W]ilde[] Menschen“, die außerhalb der menschlichen Zivilisation aufwachsen und ihre Vernunft nicht durch den Umgang mit verständigen Menschen schulen, bezeichnet Gottsched als „Bestien“ ( AW IX / 2, 434). Eindeutig ist die Erlangung von Würde also an ein heteronomes Ideal gebunden; sie ist Ergebnis eines Bildungsprozesses. 2 Eindrucksvoll illustriert wird diese Fähigkeit durch den Gebrauch unzähliger aktive Handlung denotierender Verben (vgl. AW IX / 2, 421-422). - Im Gegensatz zu Pico spricht Gottsched an dieser Stelle jedoch nicht vom freien Willen. Dieser wird eher im Kontext moralphilosophischer Überlegungen behandelt (vgl. Erste Gru ͤ nde der gesammten Weltweisheit, Theoretischer Teil, 975. §, AW V / 1, 546-554). 3 Die Radikalität dieser Aussage („bloß die Vernunft“) steht allerdings in gewissem Widerspruch dazu, dass außerdem die bereits im Schöpfungsakt dem Menschen verliehene Sonderstellung ihn über das Tier erhebt. I.1. Gottscheds akademische Reden über den Menschen 51 Darin äußert sich der Glaube an die Möglichkeit - aber auch die Forderung nach - einer geistigen und sittlichen Vervollkommnung des Menschen. Drittens schließlich bezieht sich die moralische Bewertung des Menschen auf das Naturrecht. 4 Die Vernunft „unterscheidet Laster und Tugend“ ( AW IX / 2, 422). Maßstab für ein sittliches Urteil ist dabei „das ewige Gesetz der Natur“. Dieses definiert Gottsched als das „Gesetz der Glu ͤ ckseligkeit, welches allen Menschen ins Herz geschrieben ist“ (AW IX / 2, 447). 5 Das ultimative Ziel der Glückseligkeit ist jedoch bereits bei Christian Wolff nicht auf die subjektive Ebene beschränkt; es ist die naturrechtliche Pflicht des Menschen, für die Glückseligkeit und die Vervollkommnung der gesamten Gesellschaft zu sorgen. 6 Die folgende Maxime des 7. Stückes der moralischen Wochenschrift Der Mensch ließe sich demnach auf Gottscheds Ausführungen übertragen: „Je mehr jemand tugendhaft ist, je mehr ist er ein Mensch. Je weniger man tugendhaft ist, je weiter entfernt man sich von der Menschheit und ihrer Wu ͤ rde.“ 7 Den dritten „Vorzug“ des Menschen - neben seiner Eigenschaft als ‚Krone der Schöpfung‘ und seiner Vernunftbegabung - findet Gottsched schließlich „in seinem scho ͤ nen, starken und dauerhaften Ko ͤ rper“ (AW IX / 2, 428), wobei er den Körper und dessen Bau streng teleologisch deutet. Schönheit und Zweckmäßigkeit des menschlichen Körpers als Zeichen der Würde und des planvollen göttlichen Wirkens - diese Argumentation knüpft unverkennbar an humanistisches Erbe an. 8 Den Einwand, dass der Körper des Menschen doch schwach und an- 4 Zur engen Verbindung des Gottschedschen Denkens mit dem Christian Wolffs vgl. etwa Heide Hollmer, Johann Christoph Gottsched: Sterbender Cato , in: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 177-199, hier S. 180-182. 5 Vgl. auch Erste Gru ͤ nde der gesammten Weltweisheit, Praktischer Teil, 32. § (AW V / 2, 88). Hier wird das Gesetz der Natur wie folgt definiert: „Thu e alle s d a s , wa s die Vollkomm e nh eit b ey dir und b ey a nd ern b efo ͤ rd ert; und unterlaß hing e g e n alle s d a sje nig e, wa s dir o d er a nd ern zur Unvollkomm e nh eit g ereich et.“ Später definiert Gottsched im 50. § „Tugend“ als „ ein e F ertigkeit, s ein e Handlung e n n a ch d e m G e s etz e d er Natur einzurichte n “ (AW V / 2, 96). 6 Vgl. dazu ebd., 219. § (AW V / 2, 185): „[…] s o sind wir a uch verbund e n, a nd ere Me n s ch e n vollkomm e n er zu ma ch e n. […] folglich sind wir a uch verbund e n, and erer L e ute Glu ͤ cks eligkeit zu b efo ͤ rd ern.“ - Zu Wolffs Naturrechtslehre, insbesondere in Verbindung mit dem Begriff der Menschenwürde, vgl. Hanns-Martin Bachmann, Zur Wolffschen Naturrechtslehre, in: Christian Wolff (1679-1754). Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, hg. v. W. Scheiders, Hamburg 2 1986, S. 161-170. 7 Der Mensch, eine moralische Wochenschrift, hg. v. S. G. Lange u. G. F. Meier, 12 Tle., Halle 1751-1756, neu hg. v. W. Martens, Hildesheim [u. a.] 1992, hier Erster Theil, 7. Stück, S. 56. Vgl. auch Wolfgang Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, S. 233-234. 8 Vgl. etwa Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 30-31; Wetz verweist auf Petrarca und auf Manetti, der überschwänglich die Beschaffenheit der menschlichen Hand pries. - Das 77. 52 B.I. Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732) fällig sei, sieht Gottsched nicht als Widerspruch, sondern dreht ihn geradezu um: „[D]er Mensch [hat] nothwendig so schwach gebohren werden mu ͤ ssen; damit er ein vernu ͤ nftiges Geschöpf, und ein Herr aller andern Thiere werden ko ͤ nnte“ ( AW IX / 2, 433). Die Krankheit, mithin das Prekäre und Hässliche der menschlichen Existenz, ist lediglich der Ausnahmefall, der Schönheit und Vollkommenheit des Menschen und seines Körpers bestätigt (vgl. AW IX / 2, 435). Gottsched spricht dem Menschen also Würde zu - wenn auch keine eindeutig inhärente - und begründet dies theologisch, vernunftphilosophisch, naturrechtlich und anthropologisch. 9 Die Auseinandersetzung mit Wesen und Würde des Menschen ist für Gottsched nun kein rein philosophisches, sondern auch ein ästhetisch-poetologisches Unterfangen, heißt es doch in seiner Critischen Dichtkunst : „Vor allen Dingen aber ist einem wahren Dichter eine gru ͤ ndliche Erkenntniß des Menschen no ͤ thig, ja ganz unentbehrlich“ (AW VI / 1, 156). Wenn der Mensch nämlich der moralischen Vervollkommnung fähig ist, so hat in diesem Prozess nicht zuletzt die Kunst einen wesentlichen Beitrag zu leisten. 10 Stück der Wochenschrift Der Mensch setzt die Bildung und die Schönheit des menschlichen Körpers in einen expliziten Zusammenhang mit seiner Würde. Über das Tier, dessen Schönheit gleichfalls gepriesen wird, erhebt den Menschen wie bei Gottsched die Teleologie seines Körperbaus und das Zusammenspiel der einzelnen Glieder und Körperteile. So wird die „Wu ͤ rde des Menschen“ anhand „seiner leiblichen Bildung“ demonstriert: Besonders hervorgehoben werden das „menschliche Antlitz“, die „aufgerichtete Gestalt“, die Hände, die „Gestalt seines Co ͤ rpers“, die Füße, der Arm - das „gewisseste Kennzeichen seiner ko ͤ niglichen Wu ͤ rde“ -, der Magen - „ein Zeichen der Hoheit und Wu ͤ rde des Menschen“ -, der Mund. Interessanterweise dient auch die Sprache als Beleg „seiner hohen Wu ͤ rde“. Gegen Ende des Textes heißt es allerdings relativierend: „Die Scho ͤ nheit ist kein nothwendiges Stu ͦ ck [sic] zur Hoheit“. Der Mensch, Zweyter Theil, 77. Stück, S. 305-312. 9 Wenn Gottsched das Substantiv „Würde“ benutzt, dann fast ausschließlich im Sinne einer rein kontingenten Würde, die auf soziale Stellung und Ansehen eines Menschen abzielt, so etwa in seinen Akademie-Reden über Sokrates und Cato. Dort heißt es z. B., Sokrates habe die „Wu ͤ rde“ besessen, „Mitglied[] in der atheniensischen Regierung“ zu sein (AW IX / 2, 478), und Gottsched verspricht, die Standhaftigkeit des Sokrates „nach Wu ͤ rden“ zu beschreiben (AW IX / 2, 479). In Bezug auf Cato stellt er die sogleich beantwortete Frage, wer dieser denn, „seiner Wu ͤ rde nach“, gewesen sei (AW IX / 2, 484). - In der Vorrede zum Cato berichtet Gottsched, dass er, nachdem er Lohensteins Dramen gelesen hatte, „diese Art der Poesie in ihren Würden und Unwürden beruhen“ ließ. Würde bezeichnet hier den (literarischen, ästhetischen) Wert der Dichtung. Vgl. Sterbender Cato. Im Anhang: Auszüge aus der zeitgenössischen Diskussion über Gottscheds Drama, hg. v. H. Steinmetz, Stuttgart 2009, S. 6. 10 Vgl. auch Rieck, Gottsched, S. 190-191 sowie Horst Steinmetz, Das deutsche Drama von Gottsched bis Lessing: ein historischer Überblick, Stuttgart 1987, S. 32. I.2. Die Menschenwürde in den moralischen Wochenschriften der Aufklärung 53 I.2. Exkurs I: Die Menschenwürde in den moralischen Wochenschriften der Aufklärung Anders als Gottscheds Reden thematisieren die moralischen Wochenschriften der Aufklärung auch explizit die „Würde des Menschen“; die inhaltlichen Überschneidungen sind deutlich. 11 Beispielhaft illustriert das 5. Stück des Leipziger Zuschauers (1759) diese Vorstellung von Menschenwürde. Der Grundtenor ähnelt dem der Reden: Der Mensch soll gegenüber jenen verteidigt werden, die „die Wu ͤ rde des Menschen, und seine erhabne Bestimmung“ 12 verkennen und seine Schwächen und Laster hervorheben. An die „Sittenlehrer“ ergeht die Aufforderung, die menschliche Natur in ihrer Wu ͤ rde zu zeigen, […] ihren Muth anzufeuern, die ebnen Wege der Tugend zu gehn, ihnen die Bewegungsgru ͤ nde zum Guten aus dem Verhaͤltniß, in welchem der Mensch mit seinem Scho ͤ pfer steht, so dringend vorzustellen, daß das Uebergewicht seiner Neigung auf die Seite der Tugend ausschlu ͤ ge. 13 Menschenwürde wird jedoch, und hier besteht ein gewichtiger Unterschied zu Gottsched, ganz explizit sowohl als „angeborne[]“ Qualität als auch Auftrag an den Einzelnen konzeptualisiert: Der Mensch ist Gottes Ebenbild, doch wenn er „seine Wu ͤ rde verkennt“, gereicht ihm dies zur „Schande“. 14 Der „tugendhafte“ Mensch nähert sich dem „Engel“ an, der „lasterhafte“ dem „Thier“. 15 Ziel des Menschen muss es sein, „Gott, die Tugend, und den unschaͤtzbaren Werth seiner Seele kennen [zu] lern[en]“. 16 Auch hier ist Würde letztlich heteronom definiert; der Mensch ist zwar ein würdevolles Wesen, riskiert aber, diesen Status zu verlieren, wenn er sein Potential nicht ausschöpft und die Tugend verfehlt. Der Leipziger Zuschauer verbindet nun den menschlichen Auftrag zur Vervollkomm- 11 In seiner Studie über die moralischen Wochenschriften der Aufklärung widmet Wolfgang Martens der „Würde des Menschen“ ein eigenes, kurzes Kapitel (Die Botschaft der Tugend, S. 231-246). Martens vermerkt, dass Formulierungen wie „die Würde des Menschen“ oder „erhabene Bestimmung“ in den Wochenschriften vor 1740 kaum auftauchen, „die Überzeugungen auch der früheren Blätter“ aber „bereits auf dieser Linie“ liegen (ebd., S. 231). - Vgl. weiterhin ebd., S. 246: „Der tugendhafte, sich vernünftig gebietende, nach Vervollkommnung - statt nach dem christlichen Heil - strebende Mensch der Wochenschriften präludiert deutlich dem Bild des freien, seiner selbst mächtigen, harmonischen, die Welt ordnenden Menschen des deutschen Idealismus. Den Vorstellungen von der Würde und Schönheit des Menschen, denen die deutsche Klassik huldigt, arbeiten die Wochenschriften vor.“ 12 Der Leipziger Zuschauer, Leipzig 1759, S. 33. - Martens bezieht sich u. a. auf diesen Text. 13 Der Leipziger Zuschauer, S. 34. 14 Ebd., S. 38. 15 Ebd., S. 39. 16 Ebd., S. 40. 54 B.I. Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732) nung mit den Wirkmöglichkeiten der Literatur; nicht nur die „Sittenlehrer“ sind in der Pflicht, den Menschen an seine Würde zu erinnern, sondern auch die Dichter. 17 I.3. Exkurs II: Die Ständeklausel-- kontingente Würde als problematische Voraussetzung für Tragödienfähigkeit In seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst stellt Gottsched unmissverständlich klar, wie der Held einer Tragödie (im Gegensatz zur Komödie) gestaltet werden muss. Um seinen moralischen Lehrsatz zu illustrieren, „sucht [der Dichter] in der Historie […] beru ͤ hmte Leute“, die dafür geeignet scheinen, „und von diesen entlehnet er die Namen, fu ͤ r die Personen seiner Fabel, um derselben also ein Ansehen zu geben“ ( AW VI / 2, 317). Es sind die „Großen dieser Welt“ ( AW VI / 2, 312), an deren Schicksal Gottscheds Wirkintention gekoppelt ist. Der Held der Tragödie muss einen hohen sozialen Status haben und moralisch vorbildlich sein; trotzdem muss er auch ein mittlerer Held sein, d. h. gemäß des hamartia -Modells des Aristoteles einen charakterlichen Fehler haben, der sein Scheitern erklärt, rechtfertigt und somit die erhoffte Reflexion beim Publikum in Gang setzt. 18 Im Hinblick auf die Würdeproblematik formuliert: Kontingente Formen der Würde (soziale Würde, Ansehen, Annäherung an ein Tugendideal) werden zur wirkästhetischen Voraussetzung der Tragödie. Die Würde (sowohl die soziale als auch die sittliche) des Protagonisten muss bewundert, sein Scheitern betrauert werden, damit der Zuschauer, nachdem er aus dem beklagten Scheitern die richtigen Schlüsse gezogen hat, zur Nachahmung angeregt wird. Doch dies führt zu einem Widerspruch: Kontingente Würde ist auf der einen Seite Bedingung für die Tragödienfähigkeit eines Charakters, was durch Berufung auf tradierte Regeln legitimiert wird; auf der anderen Seite ist das Ziel des Aufklärers die Förderung und Verankerung eines für alle Menschen geltenden Norm- und Tugendsystems. 19 Durch diesen Widerspruch entsteht eine logische Spannung, die der Dichter ästhetisch bewältigen muss. 20 17 Vgl. ebd., S. 36-37. Als positives Beispiel wird neben anderen Christoph Martin Wieland genannt. 18 Vgl. ähnlich Hollmer, Gottsched: Sterbender Cato , S. 185. 19 Ob dadurch die „Realisierung eines neuen Menschenbildes in der Literatur von vorneherein ausgeschlossen“ ist, sei dahingestellt. Vgl. Rieck, Gottsched, S. 238; zudem seien die „Themen-, Stoff- und Heldenwahl von vorneherein eingeschränkt und Entscheidungen in der Traditionswahl begrenzt“ (ebd.). 20 Marie-Hélène Quéval betont hingegen, dass Gottsched in Sterbender Cato das Bürgertum an den Adel annähere: „Mit Cato wurde der Adel moralisch gewertet: Nicht die Geburt, sondern die Tugend bestimmte den Adel des tragischen Helden.“ Durch diese „gewaltige I.4. Sterbender Cato 55 I.4. Sterbender Cato Gottscheds zunächst erfolgreiche und wirkmächtige Tragödie Sterbender Cato wird heute meist mit Skepsis betrachtet. Die Forschung prangert die kühle Regelhaftigkeit des vermeintlich unoriginellen Dramas an und weist auf konzeptionelle Schwächen in der Figurenzeichnung hin. 21 Gottscheds in der Vorrede formulierte Wirkabsicht, Bewunderung und zugleich „Mitleiden“, „Schrecken und Erstaunen“ zu wecken, 22 gehe vollkommen fehl. Tatsächlich liegen dieser Wirkabsicht unterschiedliche Aspekte des Gottschedschen Menschenwürdebegriffs zugrunde, die unauflösliche Widersprüche zur Folge haben. Die unterschiedlichen Auslegungen der Menschenwürde spitzen sich in der Bewertung des Freitods Catos zu; die Art der Inszenierung des Suizids an sich bringt schließlich eine zusätzliche darstellungs- und rezeptionsästhetische Dimension der Menschenwürde ins Spiel. Die Herausforderung des Sterbenden Cato ist demnach die Explikation der Grundspannung des Dramas, die sich aus folgenden Faktoren ergibt: der vermeintlich vorbildlichen Tugendhaftigkeit des Protagonisten, dem eindeutig als Fehlhandlung verstandenen Suizid, der genauen Bestimmung des tragischen Fehlers des Helden sowie der von der historischen Überlieferung merklich abweichenden Darstellung des Selbstmordes. I.4.1. Catos Handeln als Beweis und Garant seiner Menschenwürde Damit Cato außerfiktional zum bewundernswerten und somit letztlich zum „mitleidswürdig[en]“ ( SC 112) Helden der Tragödie werden kann, muss sein Handeln innerfiktional so geschildert werden, dass er tugendhaft und würdig erscheint, und zwar nicht nur im Sinne des Stoizismus (bei aller Kritik Gott- Korrektur“ der Ständeklausel ebne Gottsched gar „indirekt den Weg zum bürgerlichen Trauerspiel“ ( Johann Christoph Gottsched - Maß und Gesetz, in: Aufklärung. Epoche - Autoren - Werke, hg. v. M. Hofmann, Darmstadt 2013, S. 11-25, hier S. 18-19). 21 Vgl. etwa Renate von Heydebrand, Johann Christoph Gottscheds Trauerspiel Der sterbende Cato [sic! ] und die Kritik. Analyse eines Kräftespiels, in: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag, hg. v. W. Rasch, Bern [u. a.] 1972, S. 553 und Peter-André Alt, Aufklärung, Stuttgart / Weimar 2 2001, S. 196. 22 Johann Christoph Gottsched, Sterbender Cato (wie Anm. 9), S. 17. Im Folgenden wird diese Ausgabe der Edition in den Ausgewählten Werken (dort Bd. II) vorgezogen, da sie, im Gegensatz zur letzteren, auf der Erstausgabe von 1732 basiert. Zitate werden im Text in der Form (SC Seitenangabe, ggf. V. Versangabe) belegt. - Diese Wirkabsicht entspricht der in der Critischen Dichtkunst aufgestellten Definition (AW VI / 2, 312). 56 B.I. Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732) scheds an dieser Doktrin), sondern auch und vor allem im Sinne des bereits umrissenen frühaufklärerischen Menschenbildes. 23 Deshalb muss der Suizid, an dessen Illegitimität für Gottsched keine Zweifel bestehen, 24 zumindest als Folge einer nachvollziehbar positiv besetzten Eigenschaft inszeniert werden. Dies soll dadurch gelingen, dass Cato als standhafter, seine Affekte reflektierender und überwindender Charakter gezeichnet wird, der autonom entscheidet und handelt. Arsene / Portia dient in dieser Hinsicht als Spiegelfigur, die gleichzeitig als vorsichtiges Korrektiv angelegt ist. In Szene I,4, in der Cato und sein Diener Phocas die Enthüllung der wahren Identität Arsenes diskutieren, wird das, was Cato als bewundernswerte Figur, die menschenwürdig handelt, auszeichnen soll, besonders augenfällig. Die Nachricht, dass seine totgeglaubte Tochter Portia lebt, jedoch als Königin der Parther seinem republikanischen Ideal zutiefst widerspricht, ruft heftigste Emotionen hervor: „Wie? Soll mein eigen Blut mir Brust und Herz zerreißen? “ ( SC 28, V. 209). Vaterliebe und politische Gesinnung konfligieren: „Mein Blut erlaubt es zwar“, Portia zu lieben, „doch Rom“, und das heißt: seine tiefsten politisch-moralischen Überzeugungen, „verbeut es allen! “ ( SC 28, V. 218). Dass Cato seinen Überzeugungen den Vorrang vor jeder affektiven Regung gibt, wird noch deutlicher, als er die Versuchung, mit Hilfe der Königin Portia Cäsar zu bekämpfen, ablehnt. „Was recht und billig ist, sonst rührt mich nichts auf Erden! “ ( SC 29, V. 246) - der Zweck heiligt also keineswegs die Mittel, denn: „[…] wer die Tugend liebt, geht lieber selbst darauf “ ( SC 29, V. 248). Cato legt seinem Handeln und seinem Entscheiden eine strenge sittliche Maxime zugrunde, die zu diesem Zeitpunkt durchaus bewundernswert erscheint, gleichzeitig aber proleptisch auf seinen Tod verweist - ein Signal, dass seine standhafte Tugendhaftigkeit später zu problematisieren sein wird. Noch aussagekräftiger ist Catos Reaktion auf Phocasʼ Vorschlag, die Götter durch ein Opfer um Rat zu fragen. „Die Götter fehlen nie“, so Phocas ( SC 29, V. 254), doch Cato lehnt es ab, in „toten Opfertieren / Des Gottes, der mich treibt, Befehl und Willen [zu] spüren“ ( SC 30, V. 261-262). Dieser Gott habe ihm […] doch damals schon, eh ich das Licht erblickt, Den Trieb zur Billigkeit in Herz und Sinn gedrückt. Der lenkt ohn Unterlaß mein Tichten und mein Trachten 23 Wenn hier und im weiteren Verlauf der Untersuchung zwischen der innerfiktionalen und der außerfiktionalen Betrachtungsweise eines innerfiktionalen Sachverhalts unterschieden wird, so folgt diese Unterscheidung dem von Horst-Jürgen Gerigk entwickelten Begriff der „poetologischen Differenz“ als Grundlage der Interpretation von literarischen Texten. Vgl. Lesen und Interpretieren, Heidelberg 3 2013, hier S. 17-40. 24 Vgl. dazu unten, S. 60 -62. I.4. Sterbender Cato 57 Und treibt mich, lebenslang die Tugend hoch zu achten, Dem Laster feind zu sein, so mächtig es auch ist; Gesetzt, daß ich dabei zugrunde gehen müßt! Der lehrt mich, Rom sei nur zur Freiheit auserkoren Und habe die Gewalt der Könige verschworen. Ja, der beut uns auch itzt der Parther Zepter an, Zur Prüfung, ob man ihn beherzt verschmähen kann? Drum laßt uns standhaft sein und solchen Beistand fliehen! Die Tugend weiß uns schon aus der Gefahr zu ziehen. ( SC 30, V. 263-274) Auffälligerweise spricht Cato an dieser Stelle von einem Gott, 25 und dieser „treibe“ ihn; dass dies aber nicht bedeutet, dass Cato nicht alleiniger Herr seiner Handlungen ist, beweisen zum einen die gehäufte Anzahl von Personal- und Possessivpronomina der ersten Person Singular, zum anderen seine weiteren Ausführungen. Er spricht von seinem ihm in einem Schöpfungsakt von diesem Gott verliehenen Willen, einem Streben nach Tugendhaftigkeit - eine bemerkenswerte (anachronistische) Anspielung auf die christliche Vorstellung der menschlichen Gottebenbildlichkeit als Grund von Willensfreiheit, Tugendfähigkeit und Menschenwürde. Die stoische Konzeption des vernunftautonom tugendhaft handelnden, nicht affektgebundenen Menschen wird damit nicht aufgehoben, jedoch um eine dezidiert christliche Dimension ergänzt. Indem Cato aber ausdrücklich ablehnt, sich von einer metaphysischen Entität nach dem Schöpfungsakt noch in seinem Handeln bestimmen zu lassen, sich vielmehr einem streng rationalen - dem ‚göttlichen Trieb‘ korrespondierenden - Moralkodex verpflichtet sieht, entspricht er der Würdevorstellung des frühaufklärerischen Publikums. 26 Die absolute, beinahe rücksichtslose Freiheit seines Willens bildet auch die Peripetie der Tragödie: „Wenn ich nicht hoffen darf, die Freiheit zu erwerben, / So bin ich alt genung und will ganz freudig sterben“ (SC 55, V. 943-944; m. H.). Kurz darauf noch einmal: „ Ich will viel lieber sterben“ 25 Im Gegensatz zu Phocas einige Verse zuvor und zu Cäsar in III,3 (SC 54 u. 57, V. 914 u. 955), aber auch im Gegensatz zu seinen eigenen Äußerungen etwa am Anfang der Szene I,4 (SC 28, V. 211), in der Szene III,3 (SC 56 u. 57, V. 954 u. 982) und in der Szene IV,2 (SC 64, V. 1197). 26 Unter diesen Vorzeichen lässt sich die Anlage der Figur Cäsar als Gegenspieler Catos präzisieren. Mit Worten, die an Catos erinnern, beschreibt er sich selbst: „Denn Cäsar ist ein Mann, / Der auch sein eigen Herz zur Not bezwingen kann“ (SC 47, V. 701-702). Cäsar überwindet seine Affekte aber nicht mit Blick auf eine Art von Würde, die man als autonome, vernünftige Tugendhaftigkeit bezeichnen könnte, sondern mit Blick auf die „Ehre“ (SC 47, V. 701), also eine soziale Form von Würde. Während Cato im großen Duell des dritten Aktes zudem streng rational unter Rückgriff auf die römische Geschichte argumentiert, gesteht Cäsar den Göttern in seinem Weltbild den Status von lenkenden, ihren Willen äußernden Wesen zu. 58 B.I. Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732) ( SC 57, V. 1008; m. H.), als auf Cäsars Angebot einzugehen. So wird Catos Suizid zu einem mehrfach angekündigten „Akt der Freiheit“, 27 der es ihm erlaubt, seine Würde zu wahren - und damit ist hier eine kontingente Form der Würde gemeint, die durch autonomes Handeln 28 begründet wird, jedoch von heteronomen Idealen abhängt. Als reflektierter Akt der Freiheit, als eine Handlung, die Cato „mit Wis s e n und Wille n thu[t]“, die „ein gewisses vorhergehendes Erkenntniß [sic], und ein Urtheil des Verstandes zum Voraus setzet“ 29 und die sich letztlich aus der rationalen Tugendhaftigkeit des Protagonisten erklären lässt, ist der Suizid prinzipiell nachvollziehbar. Dass die Bewertung Catos trotzdem schnell zu kippen droht, beweist der Dialog mit Portia in IV ,2. Bereits in der ersten Szene des Dramas ist Portia / Arsene als mündige, selbstbestimmt und reflektiert handelnde Frau eingeführt worden, die sehr genau um ihren Platz in der Gesellschaft und die damit verbundenen Handlungsspielräume weiß. Als sie in der Szene IV ,2 erfährt, dass sie Catos Tochter ist, leugnet sie keineswegs die Existenz von Affekten und starken Emotionen ( SC 61, V. 1163), doch indem sie diese verbalisiert und reflektiert, schafft sie die Basis für einen souveränen, autonomen Umgang damit. Aufschlussreich ist ihre Reaktion auf Catos Forderung, ihre „Schwäche“ (SC 66, V. 1203), d. h. ihre Emotionen, zu überwinden: „Ich bin dein Vater nicht, wo Cäsars Liebe noch / In deiner Seelen brennt. Ersticke solche Flammen! “ ( SC 65, V. 1198-1199). In der folgenden Passage wird Catos innerfiktionaler Menschenwürdebegriff, der darauf beruht, seine Affekte freiwillig der Tugend unterzuordnen, in Frage gestellt, indem Portia ihn polemisch zuspitzt und zeigt, wie er sich ins Unmenschliche wandeln kann: „Sagt, muß ein Römer denn, um Rom getreu zu scheinen, / In seiner Seelen gar die Menschlichkeit verneinen / Und unempfindlich sein? “ (SC 66, V. 1211-1213). Portia bringt hier den entscheidenden Begriff der „Menschlichkeit“ ins Spiel, der Catos kühl-rationaler, tugendbasierter Menschenwürdevorstellung eine versöhnlich-weibliche Revisionsmöglichkeit entgegenstellt. Cato jedoch beharrt auf seinem Standpunkt und postuliert eine klare Hierarchie 27 Tebben, Art. Suizid, S. 1835. Vgl. ähnlich Harald Neumeyer, Anomalien, Autonomien und das Unbewusste. Selbstmord in Wissenschaft und Literatur von 1700 bis 1800, Göttingen 2009, S. 84, dort allerdings in Verknüpfung mit der Kritik am Suizid, auf die weiter unten noch eingegangen wird. 28 Vgl. dagegen das Handlungskonzept, das laut Orsolya Kiss Gottscheds Tragödienbegriff zugrunde liegt. ‚Handeln‘ heiße bei Gottsched lediglich, dass sich die Figuren dem in ihrem Charakter zum Ausdruck kommenden Charakterzug entsprechend verhalten; die Entscheidung einer Figur werde somit weniger als Wahl eines bestimmten Handlungsverlaufs verstanden, sondern vielmehr als Wahl einer bestimmten Identität (Reinventing the Plot: J. C. Gottschedʼs Sterbender Cato , in: DVjs 84.4 (2010), S. 507-525). 29 So definiert Gottsched die ‚freie Handlung‘ (Erste Gru ͤ nde der gesammten Weltweisheit, Theoretischer Teil, in: AW V / 1, S. 553-554). I.4. Sterbender Cato 59 Tugend > Natur: „Was sagst du? Rede nun! / Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun? “ ( SC 66, V. 1213-1214). Für einen kurzen Moment scheint Portia die Möglichkeit eines Kompromisses zu sehen: „Und muß die Tugend denn Natur und Trieb ersticken? “ ( SC 66, V. 1215). Sie erkennt klar den Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, der für das nach-kantische, klassische Drama kennzeichnend sein wird; wahre Menschlichkeit, mithin sogar Würde, ist für Portia in einem harmonischen Verhältnis von Trieb 30 und Tugend denkbar. Doch es bleibt bei diesem kurzen, geradezu utopischen Moment; bereitwillig ergibt sie sich schließlich Catos Forderung und will „mein eigen Herz und Cäsars Glut bekämpfen“ ( SC 66, V. 1220). 31 Dass Cato selbst den Freitod als logische und einzig mögliche Konsequenz seiner Lage und somit nicht nur als legitime, sondern als eine seine Würde in keiner Weise verletzende Handlung versteht, belegt sein längster Monolog, zu Beginn des fünften Aktes. Nachdem er sich diskursiv und mit Bezug auf Plato von der Unsterblichkeit der Seele zu überzeugen versucht hat und nun zuversichtlich dem Tode und der Möglichkeit, die letzte Unsicherheit ob der Existenz Gottes 32 durch eigene Erfahrung zu beseitigen, entgegentritt, will er sich ausruhen: Ich überlasse mich dem Schlummer, den ich merke; Daß mein erwachter Geist hernach mit voller Stärke Die Flucht ergreifen kann und denn an Kräften neu Dem Himmel, den er ehrt, ein würdig Opfer sei. 30 Wenn in Sterbender Cato von „Trieben“ die Rede ist, so ist der „unschuldvolle[] Trieb“ (SC 22, V. 30) des Herzens gemeint und nicht die menschliche Sexualität oder das Unbewusste. Schlagwörter wie „Trieb“, „Liebe“ oder „Herz“ sind stets mit ‚Vernunftüberbau‘ gedacht. Vgl. ähnlich Sabine Doering, Märtyrer mit Familie. Gottscheds ‚Sterbender Cato‘ im Gattungsspektrum des Aufklärungsdramas, in: Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag, hg. v. S. D. [u. a.], Würzburg 2000, S. 47-59, hier bes. S. 57. Doering stellt richtig fest, dass „der charakterlose Pharnaces“ der einzige Repräsentant der „triebhafte[n] Liebe“ ist (ebd., S. 56). 31 Trotz dieses Moments individueller Meinungsäußerung bleibt Portia, wie die Forschung üblicherweise anmerkt, ein recht flacher Charakter. - Wolfgang Lukas betont in seiner Deutung die Ambivalenzen der Figur Portia und des Naturbegriffs, auf den das Stück rekurriert, aber auch die in der Forschung meist übersehene, merkwürdige Positivierung der Figur Cäsar (Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730-1770), Göttingen 2005, S. 55-63). 32 Wieder spricht Cato an einer zentralen Stelle des Textes von Gott im Singular: „Gibt es ein höchstes Wesen - / Jedoch Natur und Welt läßt tausend Proben lesen / Und ruft: Es ist ein Gott! - so folgt auch zweifelsfrei, / Daß Gott der Tugend auch geneigt und gnädig sei“ (SC 75, V. 1437-1440). Gottsched ist also an Stellen, die zumindest die rationale Nachvollziehbarkeit des Suizids unterstreichen sollen, darauf bedacht, antike Vorstellungen vorsichtig zu ‚verchristlichen‘, um so das Aufbringen von Bewunderung zu erleichtern. 60 B.I. Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732) Wen sein Gewissen plagt, dem stört die Angst den Schlummer: Davon weiß Cato nichts. Kein Laster macht mir Kummer! ( SC 76, V. 1461-1466) „Ein würdig Opfer“ - im Sinne seines persönlichen, stoischen Würdeverständnisses handelt er „würdig“, da er selbstbestimmt, überlegt, kühl-rational und aktiv („ergreifen“) zu sterben beschließt, um seine Würde, die persönliche und politische Freiheit, zu bewahren. 33 I.4.2. Die problematische Bewertung der Figur Cato Wenn der bewundernswerte, tugendhafte Held am Ende den Freitod wählt, mithin für seine Ideale eher in den Tod gehen will, als sie zu kompromittieren, dann nähert sich die Tragödie dem Schema des Märtyrerdramas an. 34 Doch gerade das bestreitet Gottsched in seiner „Vorrede“: Er habe Cato keineswegs als „vollkommenes Tugendmuster“ darstellen wollen, vielmehr sei er Aristotelesʼ hamartia -Konzept gefolgt. Cato sei ein „regelmäßiger Held“, der zwar „sehr tugendhaft“ sei, doch „gewisse Fehler an sich“ habe: Man bewundert, man liebet und ehret ihn: Man wünscht ihm daher auch einen glücklichen Ausgang seiner Sachen. Allein, er treibet seine Liebe zur Freiheit zu hoch, so daß sie sich in einen Eigensinn verwandelt. Dazu kommt seine stoische Meinung von dem erlaubten Selbstmorde. Und also begeht er einen Fehler, wird unglücklich und stirbt: Wodurch er also das Mitleiden seiner Zuhörer erwecket, ja Schrecken und Erstaunen zuwege bringet. ( SC 17) Demnach geht Catos Fehler auf eben jene Quellen zurück, die auch seine Tugend begründen: seine Freiheitsliebe, seine Standhaftigkeit. 35 Anders formuliert: 33 Eventuell erhält das Adverb „würdig“ auch eine leise christliche Note; immerhin ist es in Catos Monolog mit einem Assoziationsfeld verknüpft, das durchaus in diese Richtung zeigt (Himmel, Glaube, Vertrauen, Hoffnung). 34 Vgl. Alt, Tragödie der Aufklärung, S. 113; Karl Otto Conrady, Gottsched: Sterbender Cato, in: Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen, hg. v. B. v. Wiese, Bd. 1, S. 61-79, hier S. 75; Heydebrand, Gottscheds Trauerspiel, S. 555-557. 35 Vgl. dazu Albert Meiers entscheidenden Hinweis, dass in Gottscheds Denken nicht der antike Stoizismus, sondern dessen christlich geprägte Adaption in der Frühen Neuzeit, der Neustoizismus, eine Rolle spielt. Dieser wird etwa von Justus Lipsius vertreten und unterscheidet „zwischen einer richtigen und einer falschen Standhaftigkeit“; so werde „das Paradoxe am ‚vorbildlichen Cato mit Fehler‘“ erklärbar (Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt / M. 1993, S. 99). - Dass sowohl Fehler als auch Tugendhaftigkeit auf dieselbe Eigenschaft zurückgeführt werden, kennzeichnen manche Interpreten als entscheidende Schwäche des Dramas, da dem Zuschauer so mehr zugemutet werde, als er kognitiv-interpretatorisch leisten kann, oder gar als logischen Fehler. Vgl. etwa Heydebrand, Gottscheds Trauerspiel, S. 557. I.4. Sterbender Cato 61 Sein vermeintlich menschenwürdiges Verhalten führt zu einer aus Gottscheds Sicht als menschenunwürdig zu bewertenden Handlung: „[N]ein, den Selbstmord wollen wir niemals entschuldigen, geschweige denn loben“ ( SC 17). In einer Akademie-Rede führt Gottsched seine Kritik an Cato aus: Die Liebe zur ro ͤ mischen Freyheit, muß seinem Eigensinne zum Vorwande dienen; und die Begierde, sich durch eine unerho ͤ rte That einen unsterblichen Namen zu erwerben, muß mit dem Deckmantel einer stoischen Großmuth verhu ͤ llet werden. So siegete denn die Furcht vor der Sklaverey, u ͤ ber die Liebe des Lebens; die Zaghaftigkeit u ͤ ber die Großmuth; die Verzweiflung u ͤ ber die Weisheit und Tugend. Cato stirbt; aber nicht aus Verachtung des Todes, sondern aus Ueberdruß eines unglu ͤ cklichen Lebens. ( AW IX / 2, 489) 36 So entpuppt sich Catos vermeintlich bewundernswerte und vernunftgeleitete Tugendhaftigkeit als verstecktes Laster, als affektgeleiteter „Eigensinn“. 37 Dies steht jedoch in eklatantem Widerspruch zu der oben aufgestellten These, dass Cato durchaus die stoische und frühaufklärerische Würdeauffassung erfüllt, sein Suizid somit für den Zuschauer zumindest nachvollziehbar ist. Wenn sich Cato aber doch von seinen Affekten leiten lässt, also keineswegs ‚erhaben‘ und autonom handelt, ist sein Handeln auch nicht menschenwürdig. Der Selbstmord wäre dann nicht nachvollziehbar, sondern vollkommen illegitim - was Gottsched selbst in seiner Vorrede bestätigt. 38 Diese doch beachtliche Diskre- 36 Bereits zuvor hatte es geheißen: „Cato ist von seinen eigenen Leidenschaften beunruhiget, bestu ͤ rmet und besieget worden: folglich ist er nicht unu ͤ berwindlich gewesen: folglich ist sein Tod aus Verzweiflung, Furcht und Zaghaftigkeit entstanden; folglich ist er einem großmu ͤ thig sterbenden Sokrates, Phocion, Regulus, Cicero und Seneca gar nicht an die Seite [zu] setzen“ (AW IX / 2, 487). - An weiteren aufschlussreichen Stellen nennt Gottsched Cato „stolz“ (AW IX / 2, 489), spricht von seinem „heimliche[n] Hochmuth“ (AW IX / 2, 488) und davon, dass er als „Verzweifelnde[r]“ stirbt (IX / 2, 490). Das führt jedoch zu einem merkwürdigen Widerspruch zur „Vorrede“ des Sterbenden Cato , den man laut Meier kaum auflösen kann (vgl. Meier, Dramaturgie der Bewunderung, S. 101, Anm. 19). In der „Vorrede“ kritisiert Gottsched an Deschampsʼ Figurengestaltung gerade die Tatsache, dass Cato als „Verzweifelnde[r]“ sterbe (SC 15). Entsprechend erkennt Meier auch eine Bearbeitungstendenz Gottscheds, gegenüber seinen Quellen Deschamps und Addison „Catos Eigensinnigkeit und Selbstbezogenheit hervor[zu]heben“ (ebd., S. 104; vgl. ebd. S. 104-106 für die Analyse einiger Beispielstellen.) - Zur Cato-Rede vgl. auch Rieck, Gottsched, S. 210-212. 37 Vgl. auch Meier, Dramaturgie der Bewunderung, S. 100-101; Heiko Buhr, „Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun? “ Studien zum Freitod im 17. und 18. Jahrhundert, Würzburg 1998, S. 81, 87-93 und 97; Heide Hollmer, Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds „Deutscher Schaubühne“, Tübingen 1994, S. 128; Hollmer, Gottsched: Sterbender Cato , S. 190; Neumeyer, Anomalien, S. 84. 38 Vgl. dazu ebenfalls: Erste Gru ͤ nde der gesammten Weltweisheit, Praktischer Teil, 201. § (AW V / 2, 176); hier wird der Suizid explizit verboten. Vgl. auch den 202. § (ebd., 176-177): 62 B.I. Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732) panz legt präzise das Grundproblem der dramatischen Konzeption offen: Um beim Rezipienten Bewunderung hervorzurufen, muss Gottsched seinen Cato, dessen Geschichte und Ende ja historisch fixiert sind, autonom handeln lassen und sein Handeln als Beleg seiner Menschenwürde inszenieren; gleichzeitig unterläuft sein Bemühen, Cato mit einem Fehler auszustatten, um den Zuschauer zum Mitleiden anzuregen und Schrecken hervorzurufen, diese Darstellung, und Cato wird, vor dem Hintergrund der Würdeauffassung der Stoa und der Frühaufklärung, zu einem höchst fragwürdigen Charakter. 39 Ein nicht nur fragwürdiger, sondern von Gottsched eindeutig als Verstoß gegen die Menschenwürde gekennzeichneter Akt ist der Suizid Catos zudem auf einer Ebene, die die Forschung nicht immer gebührend beachtet. 40 In seiner Cato-Rede verweist Gottsched auf einen für seine Menschenwürdevorstellung und seine Moralphilosophie bedeutenden Aspekt: Der Mensch, lehren die Stoiker, lebt nicht fu ͤ r sich, sondern fu ͤ r andere. Er ist ein Glied in der Kette aller Dinge; ein Theil der Welt, ein Bu ͤ rger in der Republik aller vernu ͤ nftigen Gescho ͤ pfe. So lange er nun diesen nu ͤ tzen und dienen kann, muß er sie seines Beystandes durchaus nicht berauben. ( AW IX / 2, 490) Der Mensch ist, nicht nur als Mitglied eines gesellschaftlich-staatlichen Gebildes, verpflichtet, „and erer L e ute Glu ͤ cks eligkeit zu b efo ͤ rd ern “. 41 Dieses naturrechtliche, auf die Philosophie Wolffs zurückgehende Gebot wird in dem Moment missachtet, in dem Cato es vorzieht, für seine Ideale oder aus Sturheit und Eigensinn - je nach Sichtweise - zu sterben, statt sich im Sinne der Gemeinschaft verhandlungsbereit zu zeigen. 42 Diese Kritik ist zentral für die Interpretation der Tragödie - wie der Blick auf die Art der Darstellung des Suizids belegt. „G e duld und S tandhaftigkeit “ werden hier als Alternativen zum Selbstmord gesetzt, „Standhaftigkeit“ bedeutet hier aber die Hoffnung auf Besserung des Zustandes. Catos Standhaftigkeit, die im Suizid endet, folgt Gottscheds Logik also nicht. 39 Vgl. dazu auch Alt, Tragödie der Aufklärung, S. 119-120. - Prinzipiell ist auch Hollmer zuzustimmen: „Im Trauerspiel wird - mit Rücksicht auf die Affektstrategie - d[as] harsche Verdikt [der Cato-Rede] wenigstens partiell zurückgenommen“ (Anmut und Nutzen, S. 195). 40 Ausnahmen sind etwa Steinmetz, der allerdings nur allgemein von Gottscheds „Leitideen über den Menschen als soziales Wesen“ spricht (Das deutsche Drama, S. 32), auch Buhr („Sprich, soll denn …“, S. 84) und Hollmer, die ihre Interpretation mit dem Zitat aus Gottscheds Cato-Rede, das im Folgenden herangezogen wird, schließt (Gottsched: Sterbender Cato , S. 198). 41 Erste Gru ͤ nde der gesammten Weltweisheit, Praktischer Teil, 219. § (AW V / 2, 185). Vgl. auch ebd., 633. §. (AW V / 2, 399). - Vgl. dazu auch Buhr, „Sprich, soll denn …“, S. 81 und Heydebrand, Gottscheds Trauerspiel, S. 559. 42 Vgl. ähnlich Quéval, Gottsched - Maß und Gesetz, S. 17. I.4. Sterbender Cato 63 I.4.3. Die Dramatisierung des Suizids „Was sich vor mich nicht schickt, das werd ich auch nicht tun“, verkündet Cato in V,2 ( SC 78, V. 1498). Innerfiktional ist dieser Ausspruch die Apologie des Suizids im stoischen Würdeverständnis der Figur Cato: Die bewusste, reflektierte Entscheidung zum Freitod ist nicht nur eine moralisch erlaubte, sondern eine würdevolle Handlung. Außerfiktional gelesen, wird der Satz zum metadramatischen Kommentar über die Art und Weise, wie Gottsched Catos Selbsttötung inszeniert. Bei der dramatischen Gestaltung des Suizids weicht der Dichter merklich von den grausigen Umständen ab, die etwa bei Plutarch und Seneca überliefert sind. 43 Statt sich ‚aufzuschlitzen‘, sodass die Eingeweide herausquellen, sich sogar einen zweiten Stich zu setzen, um schneller zu sterben, tötet sich Cato hinter einem inneren Vorhang, der ihn auf der Bühne verdeckt. „( Man höret einen Tumult drinnen )“ ( SC 82, nach V. 1588) - dann verkündet Portius: „Er hat sich selbst entleibet! “ ( SC 82, V. 1600). In einer zeitgenössischen Rezension wird Gottsched diese Missachtung der historischen Wahrheit explizit angekreidet, und er sieht sich veranlasst, sein Vorgehen zu rechtfertigen. Nicht nur sei Cato „kein historischer, sondern ein poetischer“ Charakter, was Abweichungen von der historischen Wahrheit erlaube, 44 wenn es der Vermittlung der „Sittenlehre“ diene; außerdem ließe sich der historisch überlieferte „schreckliche“ Suizid „auf der Schaubühne unmöglich zeigen“, da Cato sonst zum „Scheusal“ würde, von dem sich die Rezipienten sofort distanzieren ( SC 111-112). 45 Wirkästhetische 43 Vgl. dazu SC 109-112 und Alt, Tragödie der Aufklärung, S. 109. 44 Zu Gottscheds Umgang mit der historischen Wahrheit vgl. Conrady, Gottsched: Sterbender Cato, S. 71 sowie Rieck, Gottsched, S. 201. 45 Vgl. Gottscheds Erläuterung: „Es ließ sich aber diese Todesart des Cato deswegen nicht so, wie sie gewesen, vorstellen: Weil sie sich auf der Schaubühne unmöglich zeigen ließ. Wie hätte man das schreckliche Spektakel ertragen können, daß ein Mann seinen Bauch mit eigenen Händen aufreißt und das Eingeweide herauszerret, um desto gewisser und eher zu sterben? Nur den bloßen Tod, nachdem der tödliche Stich schon geschehen war, vor den Zuschauern erfolgen zu lassen, das ist schon eine Verwegenheit, die einigen zärtlichen Kunstrichtern verwerflich vorkommt. Man soll ja, wie sie glauben, gar keinen Todesfall auf der Bühne vorstellen […]. […] Nun könnte man zwar sagen: Es hätte wenigstens dieser schreckliche Umstand des Catonischen Selbstmordes können erzehlet werden […]. Allein, auch dieses ließ sich nach den Absichten der Tragödie nicht tun. Man will Cato nicht zum Scheusal der Zuschauer machen, sondern zu einem herzhaften Stoiker, der den Tod nicht fürchtet und die Freiheit mehr als sein Leben liebt. Hierzu ist genug, daß er das Herz hat, sich zu ermorden. Daß es auf eine grausame Art geschehe, ist gar nicht nötig. Dieses würde ihn nicht mitleidenswürdig machen: Jenes aber läßt ihm noch einiges Erbarmen bei dem Zuschauer übrig, wenn man seine Umstände in Betrachtung zieht“ (SC 111-112). - Auch diese Erklärung charakterisiert der grundlegende Konflikt: Der Suizid ist zu verurteilen; trotzdem darf der Zuschauer die Sympathie für Cato nicht vollends verlieren und muss seine Motive grundsätzlich akzeptieren. 64 B.I. Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732) Überlegungen, die über bloße Abwägungen in Bezug auf die Angemessenheit, das aptum oder decorum hinausgehen, stehen eindeutig über dem Gebot der historischen Wahrheit. 46 Das Verlegen der Entleibung hinter den inneren Vorhang entzieht dem Akt letztlich die Legitimation. 47 Denn bevor Cato sterbend seine letzten Worte spricht, betonen andere Figuren auf der Bühne, allen voran Portius und Portia, dass gerade ein lebender Cato für das Wohlergehen sowohl der eigenen Familie als auch Roms die letzte Hoffnung darstellt. 48 Durch diesen dramaturgischen Kniff wird besonders deutlich, dass Cato mit seinem Suizid seine Mitmenschen und Mitbürger im Stich lässt; 49 er entzieht sich der naturrechtlichen Pflicht, sein Handeln an der Maxime der Glückseligkeit aller Menschen auszurichten. Catos Sich-Entziehen wird durch das auffällige Aussparen optischer Details gleichsam negativ visualisiert. Er handelt demnach falsch und egoistisch; er 46 Es geht Gottsched nicht primär darum, die „Forderung nach Dezenz ( bienséance )“ zu respektieren (Hollmer, Gottsched: Sterbender Cato, S. 191). Vgl. ähnlich Hollmer, Anmut und Nutzen, S. 116. - In der barocken Tragödie war es durchaus möglich, den Suizid auf offener Bühne darzustellen, wie Neumeyer ausführlich zeigt. In Daniel Casper von Lohensteins Cleopatra (1661) etwa rettet die Protagonistin durch den Selbstmord „ihre Dignität als Herrscherin“. Allerdings stelle der Selbstmord keinen autonomen Akt dar, da er in Übereinstimmung mit der Vorsehung der Götter geschehe. Interessant ist Neumeyers Kommentar über die Art der Darstellung: „Die Inszenierung des Selbstmordes auf der Bühne dient […] dazu, dessen Legitimität vorzuführen und ihn als heroische Handlung auszuweisen“ (Anomalien, S. 20-21). Gerade hier wird der Unterschied zu Gottsched deutlich; dieser beruft sich auf die Autorität des Horaz, der verboten habe, die in Medea und Thyestes beschriebenen Gräuel auf der Bühne darzustellen, und liefert sogar das entsprechende Zitat (SC 112). Vgl. auch Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, München 2004, S. 99-100. 47 Vgl. dazu auch die überzeugende Analyse Neumeyers, Anomalien, bes. S. 22-23: „Was auf der Bühne gezeigt wird, sind die Begründung und die Konsequenzen des Selbstmords; was der Selbstmörder vor dem Publikum verlauten lassen darf, sind allein seine letzten Worte.“ 48 Vgl. ebd., S. 24-25; folgende Stellen sind gemeint: SC 78, V 1505-1509; SC 80, V. 1547; SC 81, V. 1563-1564. 49 Vgl. dazu die Überlegungen Simon Goldhills (Der Ort der Gewalt: Was sehen wir auf der Bühne? , in: Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik, hg. v. B. Seidenstricker u. M. Vöhler, Berlin / New York 2006, S. 149-168). Ebd., S. 167-168 heißt es zusammenfassend: „Die griechische Tragödie stellt Gewalt […] nicht explizit auf der Bühne dar - außer in einigen wenigen, schockierenden Fällen. Sie spricht jedoch wiederholt und lebhaft davon. Sie versagt sich das Schockerlebnis der explizit auf der Bühne dargestellten Gewalt in der Absicht, die Ursachen, Motivationen, Folgen und moralischen Kontexte menschlicher Gewaltverbrechen zu reflektieren.“ Gottscheds Tragödie spricht nicht einmal besonders explizit von der Gewalt, die Cato sich und seinem Körper antut; dass dadurch die Motivationen des Protagonisten hinterfragt werden, trifft aber auch hier zu. I.4. Sterbender Cato 65 verstößt gegen einen wesentlichen Aspekt der frühaufklärerischen Menschenwürdevorstellung. Als der tödlich verwundete Cato schließlich auf die Bühne getragen wird, setzt er zu einem letzten Monolog an, in dem er dann doch Selbstzweifel äußert: […] Ihr Götter! hab ich hier Vielleicht zu viel getan: Ach! So vergebt es mir! Ihr kennt ja unser Herz und prüfet die Gedanken! Der Beste kann ja leicht vom Tugendpfade wanken. Doch ihr seid voller Huld. Erbarmt euch! - - Ha! Der Rückgriff auf die Götter, d. h. vorchristliche Vorstellungen einer höheren Macht, erlaubt Gottsched, Cato als im letzten Moment doch verunsicherten Menschen zu zeigen, sodass der moraldidaktische Impetus umso stärker wirksam werden kann. 50 Dass nun aber an dieser entscheidenden Stelle nicht mehr von „Gott“ im Singular, sondern von „Göttern“ die Rede ist, Cato also deutlich als ‚Heide‘ gekennzeichnet wird, hat den bemerkenswerten und widersprüchlichen Effekt, dass genau in dem Moment, in dem seine Unsicherheit ihn mitleidswürdig werden lässt, eine deutliche Distanz zum christlichen Rezipienten entsteht, die zur Reflexion auffordert und die Legitimation des Suizids wirkungsvoll in Frage stellt. Auch Cato zweifelt nun an der Legitimität seines Handelns, das bis hierhin problemlos mit seinem Würdeverständnis vereinbar war. Angesichts einer doch noch möglichen Rettung erscheint der Freitod als vorschnell. 51 Doch obwohl der Suizid eindeutig als schwerer moralischer Fehler verurteilt wird, der mit vernünftiger Reflexion unvereinbar ist, 52 will Gottsched den Selbstmörder Cato ganz offensichtlich nicht, wie es in der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts üblich ist, in die Nähe des Tieres rücken 53 - sonst hätte sich Cato durchaus auf offener Bühne und möglichst grausam entleiben können. Nicht einmal per Botenbericht oder Teichoskopie wird die historisch und li- 50 Vgl. dazu auch Frank Krause, Stoische Ungeduld. Johann Christoph Gottsched: Der sterbende Cato (1732) [sic! ], in: German Life and Letters 54.3 (2001), S. 191-209, hier S. 196. 51 Vgl. ähnlich Neumeyer, Anomalien, S. 25-26. - Heydebrand weist darauf hin, dass der Selbstmord Catos an sich in der zeitgenössischen Diskussion über das Drama nicht auf allgemeine Skepsis oder Ablehnung stieß. In einer pedantischen Rezension habe G. Stolle den „Selbstmord offenbar [für] völlig unanstößig“ befunden (Gottscheds Trauerspiel, S. 562). 52 Vgl. auch Neumeyer, Anomalien, S. 29 und 75-76. 53 Vgl. dazu ebd. S. 60. Neumeyer zitiert aus einer Schrift des Mediziners Osiander, der den Selbstmord als „Handlung der Thierheit“ verdammt (zit. nach: ebd.). - Als Tier erscheint Cato übrigens auch in einer Passage des 2. Buches von Opitzʼ Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges (1633), die auch Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst zitiert. Dort heißt es, Cato werfe „wie ein toller Hund die Därmer in die Schoß“ (zit. nach Meier, Dramaturgie der Bewunderung, S. 100, Anm. 16). 66 B.I. Die Menschenwürde in Gottscheds Sterbender Cato (1732) terarisch verbürgte Todes art geschildert. Grund für das Verbergen und die Abschwächung der Grausamkeit ist ebenjene widerspruchsvolle wirkästhetische Strategie, die dem Drama geradezu eingeschrieben ist. Catos Charakter und Handeln müssen sowohl bewundernswert als auch fehlerhaft sein; trotz seines unwürdigen Fehlers darf er nicht verachtungswürdig, 54 also auch nicht würdelos und tierhaft, erscheinen. Für die dramatische Darstellung bedeutet das konkret: Der menschliche Körper darf als etwas an sich Schönes und Würdiges nicht angetastet werden. Durch das Aussparen des Gewaltaktes, der radikal auf den Körper zielt und damit einen der Vorzüge des menschlichen Geschlechts kompromittiert, bleibt die Menschenwürde unangetastet im wörtlichen Sinne; der grundsätzliche Wert des Menschen sowie seine Überlegenheit über den Rest der Schöpfung werden bestätigt. 55 In Ansätzen deutet dieses Postulat mit seinen poetologischen Implikationen vielleicht sogar auf das Konzept einer inhärenten Würde voraus, gerade weil ein möglicher Verstoß nicht im Hinblick auf poetische Aussagen funktionalisiert wird. Dass Gottsched bei aller moralischen Verurteilung Catos den Menschen prinzipiell als bewundernswertes Wesen ansieht, ist Ausdruck seines optimistischen Weltbildes, in dem der Mensch eindeutig Würde besitzt und ihm gerade deshalb die Aufgabe zukommt, sich persönlich und moralisch zu vervollkommnen. 56 I.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Gottsched Gottscheds Menschenwürdebegriff, wie er in seinen Akademiereden explizitiert wird, ist eklektisch; er vereint theologische, vernunftphilosophische, naturrechtliche, humanistische und ethische Dimensionen. In der Tragödie Sterbender Cato wird die Menschenwürde insofern zu einem ästhetischen Problem , als verschiedene Aspekte dieses Menschenwürdebegriffs eine bisweilen konfligierende Rolle spielen. Catos Suizid wird als prinzipiell nachvollziehbare Handlung geschildert, indem er - als vernunftgeleiteter, reflektierter und freier Akt - als Beweis seines menschenwürdigen Handelns und als Garant seiner Menschenwürde, und das heißt hier: seiner Freiheit und Tugend, erscheint. Obwohl der Suizid an sich für Gottsched inakzeptabel ist, überschneidet sich der innerfiktionale Menschenwürdebegriff der Dramenfigur Cato mit dem frühaufklärerischen - so wird die 54 Vgl. ähnlich Neumeyer, Anomalien, S. 23-24 (in Anlehnung an Gottscheds eigene Erklärung). 55 Kapust weist darauf hin, dass Christian Wolff von einer naturrechtlichen Verpflichtung des Menschen, seine körperliche Integrität zu wahren, spricht, ohne dies jedoch mit dem Begriff der Würde zu verbinden (Das Unantastbare, S. 304). 56 Vgl. ähnlich Rieck, Gottsched, S. 236. I.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Gottsched 67 Bewunderung des Protagonisten ermöglicht. Gleichzeitig unterminiert Catos Fehler im aristotelischen Sinne, sein Starr- und Eigensinn, die vernunftgeleitete Reflektiertheit und Triebkontrolle und stellt somit - vor dem Horizont beider Menschenwürdebegriffe - Catos Handeln ernsthaft in Frage. Zudem missachtet Cato sträflich seine naturrechtliche Pflicht, die Glückseligkeit aller Menschen zu befördern. Cato muss also gegen bestimmte Aspekte der frühaufklärerischen Menschenwürdevorstellung verstoßen, damit sein Niedergang gerechtfertigt ist - und das Mitleiden der Zuschauer geweckt werden kann. Dass Gottsched bei der Dramatisierung des Suizids von der historischen Überlieferung abweicht, hat schließlich drei Gründe. Cato entzieht sich dem Gebot, für das Wohl seiner Mitmenschen zu kämpfen; dies wird in seiner Absenz von der Bühne augen- und sinnfällig. Um die Bemühungen, den Helden sowohl bewundernswert als auch mitleidswürdig zu zeichnen, nicht vollkommen zu konterkarieren, wird der Suizid nicht auf eine abstoßende, schockartige Weise inszeniert. So bleibt das Bild des Menschen als schönes Wesen mit einem schönen, intakten Körper letztlich unbeschädigt. Dass Cato, trotz seines moralisch eindeutig verurteilten Freitods, die Vorstellung einer besonderen Würde des Menschen nicht vollständig kompromittieren darf, um den Wirkimpetus des Dramas nicht zu gefährden, belegt, dass Menschenwürde, gemäß dem moraldidaktischen Optimismus der Aufklärung, vor allem als Auftrag des einzelnen Individuums verstanden wird. 68 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts und als Auftrag der Literatur (1750 - 1810) II.1. Friedrich Schiller: Die Künstler (1789) Schillers programmatisches Lehrgedicht Die Künstler , mit dem er 1789 „feierlich die Schwelle zur Klassik [überschreitet]“, 1 offenbart exemplarisch, in welchen diskursiven Kontext der Begriff der Menschenwürde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingebettet ist: In diesem (literarischen! ) Text verbinden sich (Geschichts-)Philosophie, Ästhetik und Anthropologie auf eine nicht nur für Schiller, sondern für diese Zeit im Allgemeinen typische Weise. Entscheidend sind nun zwei Aspekte der Künstler : das von Schiller entworfene Menschenbild und die Stellung der Menschenwürde im Verhältnis zu seiner Bestimmung der Funktion von Kunst. Auffällig und für den Würdediskurs zwischen Aufklärung und Klassik geradezu symptomatisch sind die dem Gedicht eigenen gegenläufigen, ja widersprüchlichen Grundpositionen. Der Text beginnt mit einer hymnischen, uneingeschränkt positiven Charakterisierung des aufgeklärten Menschen am Ende des 18. Jahrhunderts: „Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige / stehst du an des Jahrhunderts Neige“. 2 Der Mensch, der „reifste Sohn der Zeit“ ( NA 1, 1 Claude David, Schillers Gedicht „Die Künstler“. Ein Kreuzweg der deutschen Literatur, in: Ordnung des Kunstwerks. Aufsätze zur deutschsprachigen Literatur zwischen Goethe und Kafka, hg. v. T. Buck u. E. Mazingue, Göttingen 1983, S. 45-61, hier S. 45. - Vgl. außerdem Jörg Robert, Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption, Berlin [u. a.] 2011, S. 223-292 (hier auch eine Problematisierung des Terminus „Lehrgedicht“, S. 226-232); Hans-Jürgen Malles, Fortschrittsglaube und Ästhetik, in: Gedichte von Friedrich Schiller. Interpretationen, hg. v. N. Oellers, Stuttgart 1996, S. 98-113; Alessandro Costazza, „Wenn er auf einen Hügel mit euch steiget / Und seinem Auge sich, in mildem Abendschein, / Das malerische Tal - auf einmal zeiget.“ Die ästhetische Theorie in Schillers Gedicht Die Künstler , in: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings, hg. v. P.-A. Alt, Würzburg 2002, S. 239-264; Peter-André Alt, Schiller. Leben - Werk - Zeit, Bd. 2, München 2000, S. 268-271; David Pugh, Dialectic of Love. Platonism in Schillerʼs Aesthetics, Montreal [u. a.] 1997, S. 205-238 (mit Blick auf den Würdebegriff bes. S. 229-238). 2 Friedrich Schiller, Die Künstler, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begr. v. J. Petersen, fortgef. v. L. Blumenthal u. B. v. Wiese, hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik u. des Schiller-Nationalmuseums Marbach v. N. Oellers, Weimar 1943 ff., hier Bd. 1, II.1. Friedrich Schiller: Die Künstler (1789) 69 201, V. 6), ist auf seiner derzeitigen Entwicklungsstufe quasi vollkommen - das suggerieren der Superlativ („reifste“) und die ihm zugeschriebenen Attribute: Er ist „frey durch Vernunft, stark durch Gesetze“ (NA 1, 201, V. 7), hat die Natur gebändigt und unterworfen („Herr der Natur, die deine Fesseln liebet“ [ NA 1, 201, V. 10]) und wird in dieser ersten Strophe mit zahlreichen auszeichnenden, fast verherrlichenden Adjektiven belegt. 3 In den ersten Versen zeichnet Schiller als überzeugter Aufklärer den Menschen als in höchstem Maße würdiges Wesen; diese Würde wird präzisiert als „Geisterwürde“ ( NA 1, 201, V. 18), d. h. als in der besonderen, schrankenlosen Vernunftfähigkeit des Menschen begründeter Wesenszug, auf dem seine Schönheit, seine „erhabne[] Tugend“ ( NA 1, 201, V. 24) und seine Emanzipation vom „schwere[n] Sinnenpfad“ ( NA 1, 202, V. 69) beruhen. Doch unmittelbar darauf schlägt Schiller bereits die entscheidende Volte: Was den Menschen vor allen anderen Wesen auszeichnet, mithin seine Würde ausmacht, 4 ist die Kunst - „die Kun st, o Mensch, hast du allein“ ( NA 1, 201, V. 33). Sie wird zur „fundamentale[n] anthropologische[n] Kategorie“, 5 denn im Schönen liegen die Keime der Erkenntnis, der Wahrheit, der Sittlichkeit, der Freiheit und der menschlichen Bestimmung - für den Menschen intuitiv erfassbar, noch bevor sie von der Vernunft erschlossen werden. 6 Die Künstler werden voller Pathos zu Vorkämpfern der wiederholt beschworenen Harmonie 7 erklärt - Harmonie zwischen Schönheit und Wahrheit, zwischen Freiheit und Sittlichkeit, zwischen dem autonomen Menschen und den Gesetzen der Natur. Schillers Gedicht präsentiert sich in der Folge als kulturhistorischer Abriss: Die in der Antike auf idealtypische Weise vorhandene Einheit von Schönheit und Erkenntnis ist im Laufe der Menschheitsentwicklung verloren gegangen, dank des Wirkens der Künstler wieder errungen worden, droht in der Gegenwart aber wieder verfehlt zu werden. Der kulturgeschichtliche Abriss mündet S. 201-214, hier S. 201, V. 1-2. - Im Folgenden werden Schillers Texte stets nach der Nationalausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (NA Band, Seitenangabe, ggf. V. Vers-angabe) belegt. Für die vorliegende Analyse wird die 1789 veröffentlichte Fassung herangezogen. Für die Fassung letzter Hand vgl. NA 2 I, 383-396. - Zur langwierigen Entstehungsgeschichte des Gedichts vgl. NA 2 II A, 178-193 und zusammenfassend Alt, Schiller, Bd. 2, S. 268-269. 3 Vgl. NA 1, 201: „schön“ (V. 1), „in edler stolzer Männlichkeit“ (V. 3), „Mit aufgeschloßnem Sinn“ (V. 4), „voll milden Ernsts, in thatenreicher Stille“ (V. 5), „frey“, „stark“ (V. 7), „groß“, „reich“ (V. 8). 4 Vgl. ebenso Robert, Vor der Klassik, S. 258. 5 Sven-Aage Jørgensen, Vermischte Anmerkungen zu Schillers Gedicht „Die Künstler“, in: Text und Kontext 6,1 / 6,2 (1978), S. 86-100, hier S. 91. 6 Vgl. etwa NA 1, 202, V. 34-35: „Nur durch das Morgenthor des Schönen / drangst du in der Erkenntniß Land“ sowie V. 64-65: „was wir als Schönheit hier empfunden, / wird einst als Wahrh eit uns entgegen gehen“. 7 Vgl. etwa NA 1, 201-214, V. 103, 119, 238, 257, 289, 299, 316, 414, 459, 473 und 479. 70 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) demnach gerade nicht in das in den Anfangsversen beschworene Bild des schönen, aufrechten, aufgeklärten Menschen; aus Kulturgeschichte wird vielmehr Kulturkritik. Grund für die Skepsis, die nicht zuletzt Skepsis gegenüber einer verabsolutierten Vernunft ist, ist die Marginalisierung der Kunst, die als Folge des Siegeszuges der Wissenschaften den „ersten Sklavenplatz“ ( NA 1, 211, V. 390) bekleidet. Die Errungenschaften des „Forscher[s]“ ( NA 1, 211, V. 384) und des „Denker[s]“ ( NA 1, 212, 402) müssen jedoch „der Schönheit zugereifet, / zum Kunstwerk […] geadelt“ ( NA 1, 212, V. 404-405) werden - dann erst kann die Menschheit ihre wahre Bestimmung erreichen. Auf dem Höhepunkt des Gedichts 8 wird diese Schlusspointe als emphatischer Appell an die Künstler formuliert: Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird die Gesunkene sich heben! Der Dichtung heilige Magie dient einem weisen Weltenplane, still lenke sie zum Ozeane der großen Harmonie! ( NA 1, 213, V. 443-449) Nicht weniger als die Würde der Menschheit steht auf dem Spiel, die, das impliziert der Text, (noch) nicht vollständig (wieder)hergestellt ist. „[D]er Vollendung Krone / schwebt glänzend“ über dem „Haupt“ der Künstler ( NA 1, 212, V. 391-392); sie sind es, die den „Einen Bund der Wahrheit“ ( NA 1, 214, V. 480) gründen sollen. Der sakralisierten Kunst, hier der Dichtung, fällt so eine ungeheure Aufgabe zu: Nur sie kann das menschheitsgeschichtliche Ziel verwirklichen. Als eben solches wird die Menschenwürde gekennzeichnet: „[A]m reifen Ziel der Zeiten“ ( NA 1, 213, V. 429) - das wieder aufgenommene Adjektiv „reif “ (vgl. V. 6) revidiert die am Anfang des Gedichts entfaltete Menschenwürdevorstellung! - werden sich „Wahrh eit “ und „Schönheit“ vereinigen ( NA 1, 213, V. 432 bzw. 212, V. 404), und genau diese zukünftige Vereinigung bedeutet den Aufschwung des Menschen zu wahrer Würde. Sprachlich markiert werden diese Vorstellungen durch den Gebrauch des Futurs und des Imperativs 9 sowie durch 8 August Wilhelm Schlegel, der Schillers Künstler im Oktober 1790 lobend rezensierte, nannte die Schlusspassage, die mit den im Folgenden zitierten Versen beginnt, den „triumphirende[n] Schluß“ des Gedichts. „Alles vorhergesagte“, so Schlegel, „diente zur Vorbereitung auf diesen; und alles vorhergesagte vereinigt sich hier wie in einem Brennpunkte. Dies ist gleichsam das Band, welches die ganze Rhapsodie zusammenhält“ (Ueber die Künstler, ein Gedicht von Schiller, in: Oscar Fambach, Schiller und sein Kreis in der Kritik ihrer Zeit, Berlin 1957, S. 74-89, hier S. 88-89). 9 Vgl. etwa NA 1, 212-214, V. 403, 405, 432 und 445 bzw. 450, 452, 455, 456, 459, 461, 463, 466 und 468. II.1. Friedrich Schiller: Die Künstler (1789) 71 eine vor allem das letzte Fünftel des Gedichts durchziehende Motivik der Erhebung, der räumlichen Aufstiegsbewegung. 10 Die Menschenwürde hat in Schillers Schwellentext eine vielsagende doppelte Stellung: Sie ist - im Sinne des Gedichtanfangs - sowohl eine Qualität des Menschen als auch - im Sinne des weiteren Textverlaufs - sein Entwicklungsziel, ein utopisches Ideal, das, wenn überhaupt, nur über den Weg der Kunst zu erreichen ist. Insofern ist Menschenwürde tatsächlich ein genuin ästhetisches Problem, ein Problem der Ästhetik, nämlich Aufgabe und Ziel der Kunst. 11 * Schillers „Programm einer kunsttheoretisch erweiterten Aufklärung“ 12 repräsentiert allerdings nur eine - wenn auch besonders konsequente und elaborierte - der spezifisch ästhetischen Dimensionen der Menschenwürde im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Die folgenden Seiten rekonstruieren diese literarisch-ästhetischen Facetten und Implikationen des Menschenwürdebegriffs im Zeitalter der Aufklärung und der Klassik, stets vor dem Hintergrund der für Definition und Legitimation der Menschenwürde eminent wichtigen geistesgeschichtlichen Kontexte. Kaum eine Periode der deutschen Literaturgeschichte hat eine derart lange, umfangreiche und tiefgehende wissenschaftliche Durchleuchtung erfahren wie die Jahrzehnte zwischen 1750 und 1810, von den ersten literarischen Versuchen Lessings bis hin zu den großen Werken der Weimarer Klassiker Goethe und Schiller. Anstelle einer (redundanten) erneuten Detailanalyse kanonischer Texte stehen daher im Folgenden die literarischen und literaturtheoretischen Implikationen der Menschenwürde im Vordergrund - unter Berücksichtigung der wichtigsten Forschungsliteratur und mit kurzen Blicken auf die wichtigsten Primärtexte. 10 Vgl. v. a. die Verben und Adverbien mit räumlichen Konnotationen sowie die Komparativ- und Superlativformulierungen im letzten Teil des Gedichts (NA 1, 211-214, V. 383-481). 11 Treffend ist dabei Roberts Kommentar: „Es geht um den Status, nicht die Struktur der Kunst. Alles Technische und Poetologische im engeren Sinne bleibt ausgespart. Nie wird deutlich, wie Kunst und näherhin Dichtung auszusehen hätte […]“ (Vor der Klassik, S. 225-226). 12 Alt, Schiller, Bd. 2, S. 270. 72 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) II.2. Die Menschenwürde im 18. Jahrhundert zwischen Philosophie, Anthropologie und Literatur Im Jahr 1809 erscheint das Lexem „Menschenwürde“ erstmals in einem deutschen Wörterbuch. In Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der Deutschen Sprache wird es definiert als „die Würde des Menschen als eines vernünftigen über alle Erdgeschöpfe erhabenen Wesens; besonders die sittliche Würde des Menschen“. Auch die Belege im Grimmschen Wörterbuch lassen auf eine erste Blüte des Begriffs um 1800 schließen. 13 In den Jahrzehnten davor - literaturgeschichtlich gesprochen: im Zeitalter der Aufklärung, der Empfindsamkeit, des Sturm und Drang, schließlich der Weimarer Klassik - war der Menschenwürdediskurs demnach virulent, auch wenn das Wort selbst nicht unbedingt explizit im Zentrum stand. Dieser Diskurs war nicht zuletzt ein literarischer, ästhetischer. * Begreift man die Aufklärung nicht einseitig als Zeitalter eines strengen Vernunftoptimismus, sondern als eines, das von grundlegenden Spannungen geprägt ist (Rationalismus vs. Empirismus, Vernunftideal vs. radikale ‚Rehabilitation der Sinnlichkeit‘, Intellektualisierung vs. Naturalisierung des Menschen, Normativität vs. Kausalität, Sollen vs. Sein), 14 ergeben sich für die Auseinandersetzung mit der Vorstellung der Menschenwürde - und v. a. mit ihrer Beziehung zur Literatur - aufschlussreiche Perspektiven. In einer Epoche, die dezidiert den Menschen ins Zentrum des philosophischen wie literarischen Interesses stellt, befindet sich dieser in einer merkwürdig ambivalenten Stellung: Wird er einerseits als Vernunftwesen emphatisch über die Natur erhoben und aus den Fesseln der religiösen Orthodoxie und der staatlichen wie gesellschaftlichen Bevormundung emanzipiert, droht ihm andererseits die Erniedrigung zu einem von rein triebhaften Zwängen bestimmten Naturwesen. Die geistesgeschichtliche Stellung und die Wirkmächtigkeit des Menschenwürdebegriffs in der Aufklärung lassen sich anhand von drei Beobachtungen bestimmen. Zunächst verliert die primär theologische Begründung der Menschenwürde zunehmend an Bedeutung. Das Theologem der Gottebenbildlichkeit des Menschen sowie die daran gekoppelte Lehre von der Erbsünde, die die Sündhaftigkeit und die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen erklärt, sind für 13 Vgl. dazu oben, S. 35 mit Anm. 74 und 75. Die Belegstellen, die im Grimmschen Wörterbuch angeführt werden, stammen aus Friedrich Christoph Schlossers Weltgeschichte (1815-1824), Schillers Don Karlos sowie Gedichten von Seume, Voß und Blumauer. 14 Vgl. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986. II.2. Die Menschenwürde zwischen Philosophie, Anthropologie und Literatur 73 die Vorstellung einer besonderen Menschenwürde nicht mehr entscheidend. 15 Weiterhin spielt die Menschenwürde in den Werken der großen europäischen Aufklärer überraschenderweise eine eher untergeordnete oder vielmehr implizite Rolle. 16 Ausnahmen bilden die Naturrechtslehre des Frühaufklärers und Juristen Samuel Pufendorf und die Moralphilosophie Immanuel Kants. Kants Würdeverständnis prägt den Würdediskurs der folgenden Jahrhunderte, markiert ideengeschichtlich betrachtet aber eher einen Kulminationspunkt der aufklärerischen Philosophie am Übergang zum Idealismus. 17 Schließlich hat der Begriff der Menschenwürde im 18. Jahrhundert, und diese These ist für die weiteren Ausführungen entscheidend, eine doppelte Stoßrichtung: Er bezeichnet sowohl ein Wesensmerkmal des einzelnen Menschen als auch einen Gestaltungsauftrag für das Individuum und das gesamte Menschengeschlecht. 18 Die kosmische Sonderstellung des Menschen wird im 17. und im 18. Jahrhundert nicht mehr durch den Verweis auf seinen göttlichen Schöpfer garantiert; auf der anderen Seite erscheint der Mensch im Lichte naturwissenschaftlicher Erkenntnisse als Teil der Natur, mithin als den Naturnotwendigkeiten vollkommen unterworfen. Die Berufung auf die Vernunft erlaubt es nun, diese beiden ‚Angriffe‘ auf die Würde des Menschen abzuwehren, indem sie aus ihm ein autonomes, nicht determiniertes Wesen macht - was für die Moralphilosophie im Besonderen unerlässlich ist. Die vernunftanthropologische Argumentation findet sich etwa in der Naturrechtsphilosophie Pufendorfs. Würde hat der Mensch als rationales Wesen; gleichzeitig ist sie an das Befolgen der Prinzipien von Moral und Naturrecht gekoppelt. Jeder Mensch besitzt Würde; hieraus ergibt sich die Gleichheit aller Menschen, aber auch die Verpflichtung zu gegenseitiger Achtung und zu sozialem Handeln. 19 Auch für Christian Wolff, den für 15 Vgl. Pöschl / Kondylis, Art. Würde, S. 665-666. - Julia Schöll deutet Lavaters Physiognomik als Versuch, „den Topos von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen von der vormodernen in eine moderne Form zu transferieren“ (Interessiertes Wohlgefallen. Ethik und Ästhetik um 1800, Paderborn 2015, S. 378; vgl. ebd., S. 217-243). 16 Vgl. Pöschl / Kondylis, Art. Würde, S. 665 und Neil Roughley, Art. Würde, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. v. J. Mittelstraß, Bd. 4, Stuttgart / Weimar 1996, S. 784-787, hier S. 785-786; bei Hobbes und Hume kommt der Begriff zwar vor, aber nicht in einer solch herausragenden systematischen Stellung wie bei Kant. - Im deutschsprachigen Raum kommt dem Menschenwürdebegriff während der Aufklärung insgesamt eine größere Bedeutung zu als in anderen westeuropäischen Ländern. Vgl. Pöschl / Kondylis, Art. Würde, S. 666. 17 Kondylis spricht von der „geistigen Isoliertheit Kants“, der keineswegs paradigmatisch für die deutsche Spätaufklärung stehe (Die Aufklärung, S. 557). 18 Zu diesem Begriffspaar vgl. oben, S. 26 - 28. Vgl. zudem Wetz (Hg.), Texte zur Menschenwürde, S. 95-158. 19 Zwar verdankt auch bei Pufendorf der Mensch seine Würde Gott, doch nicht nur, sind es doch auch seine Freiheit und seine moralische Personalität, die ihn neben seiner Ver- 74 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) die Popularisierung aufklärerischen Gedankenguts bedeutendsten deutschen Philosophen vor 1750, besitzen alle Menschen als von Gott als Gleiche erschaffene vernünftige Wesen Würde. Zudem ist Würde aber ein zu erreichendes Ziel des sich stets perfektionierenden Menschen; 20 Wolff glaubt wie Gottsched an die Unfehlbarkeit der Vernunft, die die Vervollkommnung des Menschen - seines Wissens, seiner Tugend, seiner Glückseligkeit - garantieren soll. 21 Im Zuge der Säkularisierung der philosophischen Argumentationsverfahren 22 verschiebt sich auch der Fokus des Menschenwürdebegriffs hin zu einer immer stärkeren Betonung der Aspekte Moral, Autonomie und Freiheit. Paradigmatisch heißt es in der moralischen Wochenschrift Der Mensch : „Ein vernu ͤ nftiger Mensch muß als freyes Wesen die Tugend ausu ͤ ben.“ 23 Christian Fürchtegott Gellert definiert 1767 die „Tugend“ gar als „die wahre Würde“. 24 Systematischen Charakter bekommt die Verbindung von Würde, Freiheit und Moral in der Philosophie Kants, der versucht, eine unabhängig von der Anerkennung der Naturgesetze gültige und verbindliche Sittenlehre zu entwerfen. 25 Sein Menschenbild ist streng nunft auszeichnen; zudem ist Würde nun kein theologischer oder metaphysischer, sondern ein dezidiert rechtsphilosophischer und ethischer Begriff. Vgl. Wetz (Hg.), Texte zur Menschenwürde, S. 101-102; Marietta Auer, Art. Samuel Pufendorf, in: WdW, S. 36; Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 56-58; Pöschl / Kondylis, Art. Würde, S. 663-664. - Als wichtige Vertreter vernunftanthropologischer Argumentationen im Rationalismus des 17. Jahrhunderts sind zudem René Descartes und Blaise Pascal zu nennen. Zu letzterem vgl. Rudolf Behrens, Art. Blaise Pascal, in: WdW, S. 35-36 und Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 35-37. 20 Vgl. hierzu Klaus-Gert Lutterbeck, Art. Christian Wolff, in: WdW, S. 38-39 und Pöschl / Kondylis, Art. Würde, S. 664-665. 21 Der Begriff der Glückseligkeit ist in Gottscheds philosophischem Großwerk Erste Gr u ͤ nde der gesammten Weltweisheit (1762) zentral. Die „Weltweisheit“ definiert er hier als „Wiss e n s ch aft d er Glu ͤ cks eligkeit “ (AW V / 1, 19). Schon Alexander Pope hatte die Glückseligkeit als Ziel der Menschheit bezeichnet („Oh Happiness! our beingʼs end and aim! “; Essay on Man, hg. v. A. H. Thompson, Cambridge 1913 [urspr. 1734], Epistle IV, V. 1). - Vgl. hierzu etwa Wilhelm Kühlmann, Moralische Aufklärung im 18. Jahrhundert. Ziele, Medien, Aporien, in: Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum, hg. v. M. S. Doms u. B. Walcher, Bern [u. a.] 2012, S. 15-46, hier S. 39. 22 Zum Prozess der Säkularisierung vgl. zusammenfassend Alt, Aufklärung, S. 12-14. 23 Der Mensch, eine moralische Wochenschrift. Zweyter Theil, Halle 1751, 86. Stück, S. 408. Zu den moralischen Wochenschriften vgl. grundlegend Martens, Die Botschaft der Tugend und Kühlmann, Moralische Aufklärung. 24 Zit. nach Pöschl / Kondylis, Art. Würde, S. 667. Vgl. auch Simm (Hg.), Lektüre zwischen den Jahren, S. 39. 25 Zum Folgenden vgl. Hruschka, Die Würde des Menschen bei Kant und von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant. Zu Stellung und Bedeutung des Menschenwürdebegriffs im Werk Kants vgl. außerdem die oben, S. 19 - 20, Anm. 14 angegebene Literatur. Kant entfaltet seinen Menschenwürdebegriff v. a. in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und in der Metaphysik der Sitten (1797). II.2. Die Menschenwürde zwischen Philosophie, Anthropologie und Literatur 75 dualistisch: Als Sinneswesen und selbst als vernünftiges Wesen ( homo phaenomenon ) ist der Mensch Teil des Systems Natur, verhaftet in seiner Tierhaftigkeit. Als geistiges Vernunftwesen ( homo noumenon ) jedoch besitzt der Mensch Personalität, ist Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft und nicht von sinnlichen Reizen und Trieben determiniert. Das Vernunftwesen Mensch besitzt die Fähigkeit, sich selbst die moralischen (kategorischen) Imperative aufzuerlegen, an dem es sein vernünftiges - und das heißt: sittlich richtiges - Handeln ausrichtet; es handelt autonom (selbstbestimmt) sittlich. Die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung begründet die Würde des Menschen; diese ist ein absoluter, unverlierbarer innerer Wert, der von anderen, aber auch in der eigenen Person geachtet werden muss. Würde ist somit ein subjektives und objektives moralisches Prinzip; sie ist Grund für das eigene sittliche Handeln und stellt ein Verhaltensideal gegenüber Mitmenschen dar. 26 Die Menschenwürde hat im Jahrhundert der Aufklärung demnach einen Status begrifflicher Ambivalenz: Sie wird sowohl als inhärente Qualität des Menschen, 27 die dem Menschen als Menschen zukommt, als auch als kontingente Eigenschaft, als normatives Ideal, verstanden. * Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gewinnt eine philosophische und akademische Disziplin an Bedeutung, die einen vollkommen anderen Blick auf den Menschen und seine Würde wirft: die Anthropologie. 28 Ihr Ausgangspunkt ist die Doppelnatur des Menschen, doch betrachtet sie diese nicht im Sinne des wirkmächtig von René Descartes entworfenen, streng zwischen Körper und 26 Vgl. dazu auch Pöschl / Kondylis, Art. Würde, S. 667-669. - Roughley unterscheidet sieben Komponenten des Kantschen Würdebegriffs: 1) Rechte und 2) Pflichten des würdigen Wesens; 3) die Achtung, die dem mit Würde Begabten geschuldet ist (vgl. auch die zweite Formulierung des Kategorischen Imperativs); 4) Würde als absoluter Wert; 5) die rationale Handlungsfähigkeit und die Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen; 6) die Überlegenheit des würdigen Wesens gegenüber dem Tier; 7) die Personalität als Grund der Würde. Vgl. Art. Würde, S. 784. - Laut von der Pfordten lassen sich bei Kant zwei unterschiedlich akzentuierte Würdebegriffe belegen: ein früherer, der auf die Autonomie und Selbstgesetzgebung des Menschen abzielt, und ein späterer, der den Menschen als Selbstzweck setzt. Vgl. Zur Würde des Menschen bei Kant. 27 Laut Schaber kann man erst bei Kant tatsächlich von inhärenter Würde sprechen; Würde ist erst jetzt ein genuin moralischer Begriff, da er einen Anspruch auf Achtung enthält. Vgl. Menschenwürde, S. 14 und 26-28. 28 Vgl. dazu etwa Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, DFG-Symposion 1992, Stuttgart / Weimar 1994 (hier v. a. die Einleitung des Herausgebers, S. 1-6); Carsten Zelle, Anthropologisches Wissen in der Aufklärung, in: Aufklärung (wie S. 55, Anm. 20), S. 191-207 (mitsamt den dortigen Literaturangaben); Alexander Košenina, Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, S. 7-17. Vgl. auch Pöschl / Kondylis, Art. Würde, S. 665. 76 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) Seele / Geist differenzierenden dualistischen Menschenbildes, 29 das letztlich die Vormachtstellung des Geistes gegenüber dem Körper sichern soll, sondern sie bemüht sich um eine angemessene Würdigung des Menschen in seiner durchaus spannungsvollen Gesamtheit. Programmatisch formuliert diese Lehre vom ‚ganzen Menschen‘ - eine Wendung, die sowohl bei Schiller als auch bei Goethe belegt und auch in der Forschung zum Schlagwort geworden ist 30 - 1772 der ‚philosophische Arzt‘ Ernst Platner. 31 Schillers medizinische Dissertation aus dem Jahr 1780 ( Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen [ NA 20, 37-75]) wird von einem ähnlichen Impetus getragen. 32 Diese anthropologische Sicht auf den Menschen bewirkt nicht nur eine radikale Aufwertung des Körpers und der Sinnlichkeit - auch und besonders als Erkenntnisvermögen, wie bereits in der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens 33 -, sondern auch eine Hinwendung zum „Anderen der Vernunft“, d. h. zu all jenem, was die einseitige Betonung der Vernunft als unvernünftig aus- 29 Descartes begründet die strikte Trennung von res cogitans und res extensa . In der Folge bietet die Philosophie hauptsächlich zwei Lösungen für die Frage nach dem leibseelischen Zusammenhang: „die Idee einer von Gott vorherbestimmten Harmonie oder eines gelegentlichen Eingreifens äußerer Ursachen (Gott)“ (Košenina, Literarische Anthropologie, S. 13). 30 Vgl. z. B. NA 20, 359 und NA 22, 245. Schiller formuliert zudem die Vorstellung einer „vollständigen anthropologischen Schätzung“ des Menschen (NA 20, 316). Goethe spricht vom ‚ganzen Menschen‘ etwa in Winkelmann und sein Jahrhundert sowie im zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit . Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, hg. v. D. Borchmeyer [u. a.], 40 Bde. in zwei Abt., Frankfurt / M. 1985 ff., hier Bd. 19, S. 182 bzw. Bd. 14, S. 394. - In Bezug auf die Forschung vgl. v. a. Schings (Hg.), Der ganze Mensch (Hg.); vgl. ebenso Stefan Hermes / Sebastian Kaufmann (Hgg.), Der ganze Mensch - die ganze Menschheit. Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800, Berlin [u. a.] 2014. 31 Mit Platner beginnt eine „anthropologische Bewegung […], die gegen die Tradition der Schulphilosophie die Grenze zwischen Leib und Seele neu zu bestimmen versucht. An die Stelle des strengen cartesianischen Dualismus treten unterschiedliche Modelle der Durchlässigkeit oder Kommunikation der Substanzen“. Das anthropologische Nachdenken über das „ commercium mentis et corporis “ führt zu einer „Neubestimmung der inneren Grenze des Menschen“ und bietet eine Alternative zur Reduktion des Menschen zu reiner, maschinenhafter Körperlichkeit durch die französischen Materialisten wie La Mettrie. Vgl. Maximilian Bergengruen / Roland Borgards / Johannes Friedrich Lehmann, Einleitung, in: dies. (Hgg.), Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001, S. 7-8. Vgl. auch Košenina, Literarische Anthropologie, S. 13-14 und Wolfgang Riedel, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 6. Sonderheft (1994), S. 93-157, hier S. 103-105. 32 Vgl. hierzu Wolfgang Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“, Würzburg 1985. 33 Vgl. hierzu Košenina, Literarische Anthropologie, S. 12. II.2. Die Menschenwürde zwischen Philosophie, Anthropologie und Literatur 77 schließt und verdrängt. 34 Diese Neubestimmung des Menschen, seines Wesens und seiner Grenzen 35 - ein Ansatz, von dem sich Kant übrigens scharf distanziert 36 - hat Folgen für die Vorstellung der Menschenwürde: Wiewohl seit je um die Bestimmung der ‚Sonderstellung‘ des Menschen im Kosmos, der ‚dignitas hominis‘, bemüht, sind Anthropologie und anthropologisches Denken […] dadurch gekennzeichnet, daß sie diese Würde des Menschen nicht um den Preis der Negation seines tellurischen Teils, seiner ‚tierischen Natur‘, erkaufen wollen. 37 Neben dem vernunftphilosophischen der Kantschen Transzendentalphilosophie existiert mit dem anthropologischen demnach noch ein weiteres einflussreiches Menschenwürdeparadigma. Auch dieses impliziert jedoch eine Ziel- oder Idealvorstellung: die harmonische Vereinigung aller Kräfte und Vermögen des Menschen, wie sie Herder oder Schiller vorschwebt. * Nun stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Menschenwürde zu einem Schlüsselbegriff des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts: dem für die Literatur der Weimarer Klassik entscheidenden Begriff der Humanität. Dieser hat besonders im Werk Johann Gottfried Herders eine überragende Bedeutung: 38 Humanität beschreibt sowohl das Wesen der Mittelgattung Mensch zwischen „Angelität“ und „Brutalität“ als auch das geschichtliche Entwicklungsziel des 34 Vgl. hierzu grundlegend Hartmut Böhme / Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt / M. 1983, bes. S. 13: „Das Andere der Vernunft: von der Vernunft her gesehen ist es das Irrationale, ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische. Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle - oder besser: alles dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht angeeignet hat.“ 35 Vgl. dazu Bergengruen / Borgards / Lehmann (Hgg.), Die Grenzen des Menschen. Košenina spricht von der „Neuentdeckung des Menschen“ bzw. von der „Entdeckung des Menschen als Mensch “ (Košenina, Literarische Anthropologie, hier der Untertitel und passim bzw. S. 10; Herv. i. O.). 36 Kant lässt die Anthropologie nur „in pragmatischer Hinsicht“ gelten (so seine Schrift von 1798). Vgl. dazu Košenina, Literarische Anthropologie, S. 13. 37 Riedel, Anthropologie und Literatur, S. 94. 38 Zum Humanitätsbegriff vgl. grundlegend Hans Erich Bödeker, Art. Menschheit, Humanität, Humanismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie S. 18, Anm. 8), Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 1063-1128, hier bes. S. 1079-1107. Zur Bedeutung des Begriffs bei Herder vgl. Anne Löchte, Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen , Humanitätsbriefe und Adrastea , Würzburg 2005, hier bes. S. 48-74. Zur Bedeutung des Begriffs der Humanität im Kontext der Literatur von Lessing bis Goethe vgl. Berger, Der Humanitätsgedanke. Die hier in Bezug auf die Menschenwürde, den ‚ganzen Menschen‘ und den Humanitätsbegriff vorgetragenen Thesen stimmen weitgehend mit jenen Bergers überein. Vgl. bes. ebd., S. 411-419. 78 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) Menschen - und offenbart die gleiche Ambivalenz wie die Menschenwürde. 39 Explizit verbindet Herder sogar die Begriffe Humanität und Menschenwürde, jedoch in unterschiedlicher Akzentuierung. Einerseits ist Humanität der „Zweck der Menschen-Natur“; daher kann Herder die „ganze Geschichte der Völker“ als „Schule des Wettlaufs zu [sic] Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde“ betrachten. 40 Humanität und Menschenwürde (wie auch „Vernunft und Billigkeit“ 41 ) erscheinen hier als fast synonyme Umschreibungen eines teleologischen Endpunkts. Später definiert Herder andererseits „ Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe“ als „Teilbegriffe“ des „Wort[s] Humanität“. 42 In Bezug auf den menschlichen Ist-Zustand ist Herders Diagnose niederschmetternd: „Das Menschengeschlecht, wie es jetzt ist und wahrscheinlich lange noch sein wird, hat seinem größesten Teil nach keine Würde; man darf es eher bemitleiden als verehren. Es soll aber zum Charakter seines Geschlechts, mithin auch zu dessen Wert und Würde gebildet werden.“ 43 Menschenwürde ist - wie ihr Oberbegriff Humanität - in dieser Hinsicht eine zu fördernde und herauszubildende Anlage des Menschen. Wenn die Menschenwürde derart deutlich in den Dunstkreis des Humanitätsbegriffs tritt, sich sogar mit ihm überschneiden kann, erweitert sich auch ihr Bedeutungsinhalt: Neben den bereits genannten sowie traditionellen Begriffskomponenten wie Vernunft, Freiheit und Tugend können Aspekte wie Toleranz, Glückseligkeit, Bildung, Kultur, Wahrheit, Schönheit und sogar Religion hinzukommen. 44 Das Ideal, das am Ende der menschlichen Entwicklung steht, ist jenes der neuen Anthropologie: der ganzheitliche Mensch, der selbstbestimmt die unterschiedlichen in ihm wirkenden Vermögen auf harmonische Weise syntheti- 39 Vgl. hierzu auch ebd., S. 412. - Ähnliches gilt für die typisch aufklärerische Formulierung „Bestimmung des Menschen“; auch sie bezeichnet sowohl die Beschreibung des Menschen und seiner Eigenschaften als auch seinen Endzweck, sein finales Entwicklungsziel. Vgl. hierzu Laura Anna Macor, Die Herausforderung der Sprache. Die umstrittene ‚Bestimmung des Menschen‘ (1748-1800), in: Monatshefte 106.4 (2014), S. 547-562. 40 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Werke in zehn Bänden, hg. v. M. Bollacher, J. Brummach [u. a.], Frankfurt / M. 1985-2000, hier: Bd. 6, S. 630 bzw. 635. 41 Vgl. zu diesen Begriffen bes. ebd., S. 647-664. 42 Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität, in: Werke, Bd. 7, S. 147-148 (Herv. i. O.). 43 Ebd. (Herv. i. O.). 44 Vgl. Bödeker, Art. Menschheit, S. 1090 und Löchte, Herder, S. 48. - Im 4. Buch der Ideen bestimmt Herder sieben Merkmale der Humanität: die Friedlichkeit des Menschen, den Geschlechtstrieb, die menschliche Empathiefähigkeit, die menschliche Sozialität, die inneren Richtwerte Vernunft und Billigkeit, die „Wohlanständigkeit des Menschen“, schließlich die Religion. Vgl. dazu Löchte, Herder, S. 51-53 sowie Herder, Ideen, S. 154-165. II.2. Die Menschenwürde zwischen Philosophie, Anthropologie und Literatur 79 siert. 45 Herder steht insofern prototypisch für das Denken der deutschen (Spät-) Aufklärung, als er die Auseinandersetzung mit dem Menschen auf den Prozess der Humanisierung - im vorliegenden Kontext könnte man präzisieren: des Aufstiegs zu wahrer und vollkommener Menschenwürde - fokussiert. 46 Diese begreift Herder als Bildungsprozess, bei dem gerade die Auseinandersetzung mit den „ schöne [n] Wissenschaften “ - „ Sprachen und Poesie , Rhetorik und Geschichte “ sowie Philosophie - dazu beitragen soll, sich dem „ Gefühl der Menschlichkeit “, dem „ Sinn der Menschheit “ zu nähern. 47 * Das Nachdenken über die Menschenwürde hat im 18. Jahrhundert auch weitreichende politische und soziale Konsequenzen. Aus der menschlichen Vernunftfähigkeit und dem Vermögen zur Selbstbestimmung wird nun das Recht auf Selbstbestimmung, Selbstgestaltung und Selbstzweckhaftigkeit des einzelnen Menschen abgeleitet. Das Individuum und sein absoluter Wert, unabhängig von Kontingenzen wie Stand, Herkunft oder Ehre, werden als relevante Größen politischen Handelns und gesellschaftlichen Gestaltens eingefordert und in der Idee allgemeiner Menschen- und Bürgerrechte 1789 in Frankreich kodifiziert. Vor allem aber ist die Menschenwürde in dieser Hinsicht ein genuin bürgerlicher Begriff, der sowohl emanzipatorische (gegenüber dem Adel) als auch abgrenzende (gegenüber den unteren sozialen Schichten) Funktion hat 48 - und insofern aus heutiger Sicht nicht unproblematisch ist, als er auf diese Weise 45 Auch die Aufwertung des sinnlichen Erlebens und Erkennens lässt sich bei Herder belegen. Vgl. dazu seinen kurzen Text Zum Sinn des Gefühls (in: Werke, Bd. 4, S. 235-242; vgl. ebd., S. 236: „ Ich fühle mich! Ich bin! “ [Herv. i. O.]). Vgl. ebenso Kondylis, Die Aufklärung, S. 617-620. 46 Vgl. dazu Manfred Riedel, Bürgerlichkeit und Humanität, in: Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, hg. v. R. Vierhaus, Heidelberg 1981, S. 13-34, hier S. 22. 47 Herder, Über den Einfluß der schönen in die höhern Wissenschaften, in: Werke, Bd. 4, S. 215-232, hier S. 230-231 (Herv. i. O.). - Zur Bedeutung der Sprache für Herders Anthropologie vgl. etwa Jens Heise, Art. Johann Gottfried Herder, in: Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, hg. v. E. Bohlken u. C. Thies, Stuttgart / Weimar 2009, S. 17-22, hier S. 18-19. 48 Vgl. hierzu Bödeker, Art. Menschheit, S. 1082-1083. Der Begriff der Menschenwürde formuliere das „historische Konzept bürgerlicher Subjektivität“. Bödeker hebt zudem die politisch-soziale Dimension des Begriffs hervor, der keineswegs durchweg als inhärente Qualität jedes Einzelnen gedeutet werde: „‚Menschenwürde‘ als Selbstzweckhaftigkeit, Selbstbestimmung, Selbstgestaltung wird als gelungene Selbstdarstellung bürgerlicher Subjektivität verstanden. Der Begriff ‚Menschenwürde‘ markiert die Differenz zu den Unterschichten wie das Selbstbewußtsein gegenüber dem Adel als Selbstverständnis und als emanzipatorischer Anspruch.“ - Zur Entstehung der Menschenrechte vgl. auch Hans Joasʼ „affirmative Genealogie“ ( Joas, Die Sakralität der Person). Joas betont, dass die Idee der Menschenrechte nicht erst 1789 in Frankreich, sondern bereits 1776 in der Virginia Bill of Rights kodifiziert wurde. 80 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) die Idee einer allen Menschen als inhärente Qualität eignenden Würde konterkariert. 49 Gleichwohl werden Menschenwürde und Menschenrechte Schlagworte in der publizistisch-literarischen Auseinandersetzung mit der französischen Revolution, ihren Motiven und Folgen, etwa bei Johann Heinrich Voß. Schon als er sich um den Posten des badischen Hofpoeten bewirbt, avisiert er, seine literarische Tätigkeit in den Dienst der Menschenwürde der sozial Benachteiligten zu stellen, indem er „dem verachteten Landmann feinere Begriffe und ein regeres Gefühl seiner Würde beizubringen“ beabsichtige. 50 In seinem Gesang der Deutschen beschwört er einen revolutionären Umsturz in Deutschland - mit einschlägigen Vokabeln: „Der Wild […] / Wird Mensch“, die „Vernunft, durch Willkür erst befehdet“, „redet / von Menschenrecht, von Bürgerbund“. Der Begriff der Würde wird neu definiert: „Nur Tugend, nicht Geburt, gibt Würde“ - dann kann das „Volk“ „[v]eredelt“ zur „Freiheit“ aufsteigen. 51 Würde wird somit abgekoppelt von der sozialen Stellung, bleibt allerdings kontingent, ist doch auch die Tugend als Grund der Würde ein heteronomes Ideal. 52 Im „4ten Jahr der Frankenrepublik“ erscheinen ohne Ortsangabe die Poetische [n] Sammlungen zur Erweckung des Gefu ͤ hls fu ͤ r Menschenwu ͤ rde , eine Zusammenstellung deutschsprachiger lyrischer Texte und Fabeln. 53 In seiner Vor- 49 Zu solchen „Widersprüche[n] und Ambivalenzen der Aufklärung“ vgl. auch Barbara Stollberg-Rilinger, Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2 2011, S. 256-284. Stollberg-Rilinger geht auf drei Personengruppen ein, für die Menschenwürde und Menschenrechte nur eingeschränkt gelten: Juden, Sklaven und Frauen. 50 So in seiner Bittschrift an den badischen Markgrafen Karl Friedrich. Zit. nach: Walter Grab, Johann Heinrich Voß in der französischen Revolution, in: Freiheit durch Aufklärung: Johann Heinrich Voß (1751-1826), hg. v. W. Beutin u. K. Lüders, Frankfurt / M. [u. a.] 1995, S. 17-32, hier S. 18-19. 51 Johann Heinrich Voß, Gesang der Deutschen, in: Werke in einem Band, ausgew. u. eingel. v. H. Voegt, Berlin / Weimar 1966, S. 229-230, V. 6-7, 13-15, 31, 41, 45. - Auch nach der Machtübernahme der Jakobiner bleibt Voß der Revolution verpflichtet und preist ihre Ideale. Vgl. dazu Grab, Voß in der französischen Revolution, S. 26. 52 Grab weist auf die jakobinische Prägung dieser Vorstellung hin (ebd., S. 29). - In seinem Gedicht Vaterlandsliebe formuliert Voß einen ganz ähnlichen Vers: „Erteilt Verdienst, nicht Anspruch, Würde: / Dann lieber arm im Vaterland / Als fern in Sklavenprunk verbannt! “ (in: Werke, S. 256-257, hier S. 257, V. 38-40). - Zu Voß und seiner politischen Lyrik vgl. Grab, Voß in der französischen Revolution sowie - deutlich kritischer - Dieter Lohmeier, Voß - ein politischer Dichter? , in: Johann Heinrich Voß (1751-1826). Beiträge zum Eutiner Symposium im Oktober 1994, hg. v. F. Baudach u. G. Häntzschel, Eutin 1997, S. 193-205. - Vgl. weiterhin Voßʼ Epigramme Stand und Würde (1784), Die Menschlichkeit (1791) und Würde und Wert (1801) sowie die längeren Gedichte Dem Genius der Menschlichkeit (1790) und Die erneuete Menschheit (1794) (in: Werke, S. 287, 288, 291, 226-227 bzw. 239-243). 53 Poetische Sammlungen zur Erweckung des Gefu ͤ hls fu ͤ r Menschenwu ͤ rde, s. l. 1795. Der Band enthält vor- und nachrevolutionäre Texte, u. a. von Herder, Lessing, Voß, Pfeffel, II.2. Die Menschenwürde zwischen Philosophie, Anthropologie und Literatur 81 rede gibt der anonyme Herausgeber an, die Texte wollten für die „unterdru ͤ ckte Menschenwu ͤ rde“ werben. Zwar preist er die Demokratie als die der „hohe[n] Wu ͤ rde der Menschheit“ angemessenste Staatsform; als Aufruf zum Aufruhr will er seine Sammlung jedoch nicht verstanden wissen. Vielmehr dienen die Texte als „redender Beweis“, dass die Ideale der französischen Revolution - „Gleichheit, Freyheit, Haß gegen gekro ͤ nte und ungekro ͤ nte Tyrannen“, Menschenrechte und Menschenwürde - bestimmende Themen und Anliegen der deutschen Literatur, auch vor der Revolution, waren und sind. 54 * Die Spannung, die durch den doppelten Impetus des Menschenwürdebegriffs am Ende des 18. Jahrhunderts (Wesenszug und Ideal, Eigenschaft und Zielvorstellung) entsteht, macht ihn für die Literatur in Theorie und Praxis besonders attraktiv und fruchtbar. Der Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Literatur eröffnet nun drei grundsätzliche Perspektiven: 1. Literatur fungiert nicht nur als Spiegelmedium, in dem sich zeittypische Diskurse niederschlagen - anders formuliert: Die Literatur der Aufklärung thematisiert nicht nur die Menschenwürde, ihre Bedingungen und Grenzen. Vielmehr versteht sie sich auch als Mittel, den Menschen zu bessern, ja zu vervollkommnen, und das heißt: ihn durch die genuin ästhetischen Potentiale der Literatur 55 dem Ideal der wahren Menschenwürde anzunähern. Dies führt speziell in der Weimarer Klassik zu regelrechten literarischen Bildungsprogrammen und zu Schillers ästhetischer Theorie, die die Menschenwürde explizit ins Zentrum stellt. Die Literatur als gesellschaftliche Kraft, gleichsam als Institution, erfährt durch ihren Auftrag, die Menschenwürde als Ziel des Menschengeschlechts zu fördern, eine ungeheure Aufwertung. 56 2. Diese hehren Ziele bergen die Gefahr eines verengten, normativ höchst aufgeladenen Literaturverständnisses, das bestimmte Themen, Lebens- und Erfahrungsbereiche, aber auch Darstellungsweisen als unwürdig ausschließt - un- Meißner, Gleim, Matthisson, Ewald, Hölty, Bürger, E. v. Kleist, Hagedorn, Klopstock, Lavater. Neben kürzeren Sinngedichten, umfangreicheren lyrischen Formen und Fabeln ist das Lied eine häufig auftauchende Gattung. 54 Ebd., S. [i-vii]. 55 Vgl. hierzu auch Klaus W. Hempfer, Zum Verhältnis von ‚Literatur‘ und ‚Aufklärung‘, in: Aufklärung, hg. v. R. Galle u. H. Pfeiffer, München 2007, S. 15-54, hier bes. S. 20-22. 56 Dass der Literatur die Funktion zufällt, den Menschen zu bessern, ist keineswegs eine Erfindung der Aufklärung. Die Emphase, mit der dieser programmatische Anspruch - auch und gerade in Bezug auf die Literatur - verkündet wird, ist jedoch durchaus epochentypisch. Vgl. dazu etwa Leopold Klepacki / Jörg Zirfas, Das Zeitalter der Aufklärung. Oder: Die Popularisierung der Ästhetischen Bildung, in: J. Z. / L. K. / D. Lohwasser, Geschichte der Ästhetischen Bildung, Bd. 3 / 1, Paderborn 2014, S. 7-29. Vgl. ebenso Berger, Der Humanitätsgedanke, S. 415-416. 82 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) würdig in einem doppelten Sinne, nämlich die Würde des Menschen verletzend und deshalb der künstlerischen Darstellung nicht würdig. Die Menschenwürde droht so im literarischen Diskurs und in der Literaturkritik zu einer Art Totschlagargument zu werden, das dazu dient, ein bestimmtes Bild von Literatur zu konservieren. 57 3. Diametral steht dem die sog. „literarische Anthropologie“ entgegen. 58 Aus ihrer Sicht ist Literatur „der Diskurs des Anderen der Vernunft“, 59 neben der philosophischen oder medizinischen Anthropologie also ein eigenes anthropologisches Medium, das den Menschen in seiner Gesamtheit anspricht, darstellt und untersucht, gerade auch das vermeintlich Unwürdige und Grenzwertige als Erkenntnisfelder mit eigener Berechtigung betrachtet und so dem Wissen um den Menschen und das Menschliche dient. Dies hat zum einen Konsequenzen für die Beschaffenheit der Literatur selbst, etwa durch das Aufkommen neuer Gattungen - (Auto-)Biographie, Fallgeschichte, Roman 60 -, zum anderen für die Vorstellung der Menschenwürde. Lehmann hat zu Recht festgestellt, „daß die anthropologische Offensive zur Herstellung des sogenannten ganzen Menschen die Tendenz hat, eben diesen Menschen in seiner Dignität bzw. seiner Sonderstellung in der Natur zu unterminieren“. 61 Wenn das Wissen um und das Bild vom Menschen erweitert werden, steht auch die Definition seiner Würde zur Diskussion. 57 Als Beispiel kann etwa Gottscheds bereits diskutierte Weigerung dienen, Catos blutigen Suizid auf der Bühne zu zeigen (vgl. dazu oben, S. 63 - 66), sowie Schillers Ablehnung gegenüber der „sinnliche[n] Lust“ (NA 20, 135) als Gegenstand der Kunst. Vgl. hierzu Hans Richard Brittnacher, der von Schillers „keusche[n] Theorie des Ästhetischen“ spricht (Art. Über Anmut und Würde, in: Schiller-Handbuch, hg. v. H. Koopmann, Stuttgart 2 2011, S. 625-648, hier S. 630-631). 58 Vgl. grundlegend Košenina, Literarische Anthropologie sowie Harald Neumeyer, Art. Literarische Anthropologie, in: Handbuch Anthropologie (wie Anm. 47), S. 177-182. Die Formulierung ‚literarische Anthropologie‘ hat eine doppelte Bedeutung: „Zum einen kennzeichnet [sie] den Sachverhalt, dass Literatur ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt anthropologische Fragestellungen erörtert. Zum anderen charakterisiert [sie] ein Forschungsprogramm, das entweder die Darstellungen des Menschen in der Literatur bzw. die Literatur selbst als ein anthropologisches Moment untersucht oder den Menschen als eine kulturelle Konstruktion versteht, nach deren Voraussetzungen zu fragen ist“ (ebd., S. 177). Vgl. ebenfalls Riedel, Anthropologie und Literatur, S. 93-157. 59 Ebd., S. 101. Vgl. ebd.: „In diesem Sinne ‚ist‘ Literatur Anthropologie (nicht nur, aber eben immer auch).“ 60 Vgl. dazu etwa Košenina, Literarische Anthropologie, S. 20 (mit Hinweis auf Herder). 61 Johannes Friedrich Lehmann, Vom Fall des Menschen. Sexualität und Ästhetik bei J. M. R. Lenz und J. G. Herder, in: Die Grenzen des Menschen (wie Anm. 31), S. 15-35, hier S. 15-16. II.3. Lessings Poetik der Identifikation und des Mitleids 83 II.3. Lessings Poetik der Identifikation und des Mitleids Lessings literarisches und publizistisches Schaffen kann zweifellos als Kampf für die Menschenwürde gelesen werden - als Kampf für die politische wie gesellschaftliche Emanzipation des Einzelnen, gegen den vernunftwidrigen und menschenfeindlichen religiösen Dogmatismus, für Toleranz und Menschlichkeit, für eine Erziehung des Menschen zu Selbstbestimmtheit und Freiheit. 62 Eine tatsächlich poetologische und ästhetische Bedeutung erhält die Menschenwürde jedoch in Lessings Ablehnung der Ständeklausel und in der Begründung der Mitleidspoetik. 63 Die konzeptionelle Widersprüchlichkeit der Ständeklausel 64 beruht auf der problematischen Tatsache, dass kontingente Würde die Voraussetzung für Tragödienfähigkeit darstellt, die Tragödie gleichzeitig aber beansprucht, für den Menschen an sich relevante moralische Lehren zu vermitteln. Lessing und andere Theoretiker des sich als eigene Gattung etablierenden bürgerlichen Trauerspiels erkennen diese Diskrepanz - und fokussieren sie auf den Begriff der Würde. Grundlegend ist Lessings wirkästhetische Bestimmung der Tragödie: „ Die Tragödie soll Leidenschaften erregen .“ 65 Um beim Zuschauer „Rührung“ zu provozieren, führt Lessing im 14. Stück der Hamburgischen Dramaturgie aus, sind die „Namen von Fürsten und Helden“ jedoch nicht nötig, ja sie erschweren sogar die unerlässliche Identifikation mit den Bühnenfiguren: „Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als 62 Vgl. etwa Michael Hofmann, Lessing: Literarische Aufklärung als Wahrheitssuche, in: Aufklärung. Tendenzen - Autoren - Texte, Stuttgart 1999, S. 147-190, hier S. 149; Leopold Klepacki, Zur Ästhetik des Mitleidens. Die moralische Wirkung der Kunst bei Gotthold Ephraim Lessing, in: Geschichte der Ästhetischen Bildung, Bd. 3 / 1 (wie Anm. 56), S. 157-171; Thomas Dreßler, Dramaturgie der Menschheit - Lessing, Stuttgart / Weimar 1996, hier etwa S. 344. 63 Vgl. grundlegend Hans-Jürgen Schings, Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, Würzburg 2 2012, hier S. 35-47 und Martin Schenkel, Lessings Poetik des Mitleids im bürgerlichen Trauerspiel „Miß Sara Sampson“: poetisch-poetologische Reflexionen. Mit Interpretationen zu Pirandello, Brecht und Handke, Bonn 1984. Vgl. weiterhin Monika Fick, Lessing-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart / Weimar 2 2004, hier bes. S. 135-146 (betr. den Briefwechsel über das Trauerspiel ) und S. 279-298 (betr. die Hamburgische Dramaturgie ); Dreßler, Dramaturgie der Menschheit, S. 24-31 (zur Ständeklausel). 64 Vgl. oben, S. 54. 65 Gotthold Ephraim Lessing, Briefwechsel über das Trauerspiel mit Mendelssohn und Nicolai, in: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. W. Barner zus. mit K. Bohnen [u. a.], Frankfurt / M. 1985-2003, Bd. 3, S. 662-736, hier Brief an Friedrich Nicolai (November 1756), S. 669 (Herv. i. O.). 84 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) mit Königen.“ 66 Dramenpoetisch relevant sind Figuren, insbesondere Helden, nicht aufgrund ihres Standes, sondern allein als Menschen . In Anlehnung an den französischen Schriftsteller Marmontel stellt Lessing fest, dass der „geheiligte[] Name[] […] des Menschen überhaupt […] pathetischer, als alles“ sei; einer in Not geratenen Familie etwa fehle nichts, „um der Tragödie würdig zu seyn“. 67 Poetische oder tragische Dignität sind demnach nicht von kontingenten sozialen Formen von Würde abhängig; tragische Würde spricht Lessing vielmehr dem Menschen an sich zu. 68 Den Stoff für die Tragödie liefern das Allgemeinmenschliche sowie grundlegende, ständeübergreifende menschliche Probleme und Situationen. 69 Christian Garve lehnt in seinen Ausführungen zum bürgerlichen Trauerspiel die Fixierung auf die vermeintlich „größre Würde der Könige“ als Voraussetzung für Tragödienfähigkeit mit einem vielsagenden Argument ab: „In der Tat, bei dem aufgeklärten edlern Teile der Zuschauer existiert diese Idee von Würde gar nicht […].“ 70 Garve zufolge ist in den Augen des aufgeklärten, selbstbewussten - bürgerlichen - Publikums die Vorstellung einer besonderen, auf gesellschaftlicher Stellung, Herkunft oder Macht beruhenden Würde, die sich eben nicht nur in der realen politisch-sozialen Realität, sondern auch in der 66 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, in: Werke und Briefe, Bd. 6, 14. Stück, S. 251. 67 Ebd., S. 251-252. - Dreßler weist darauf hin, dass sämtliche Kommentare zur Ständeklausel im 14. Stück der Hamburgischen Dramaturgie nicht eigentlich von Lessing stammen, er vielmehr zustimmend eine französische Rezension seiner Miß Sara Sampson aus dem Journal étranger (Dezember 1761) sowie eine Passage aus Marmontels Poétique française wiedergibt. Vgl. Dramaturgie der Menschheit, S. 29-30. 68 Vgl. hierzu auch Alois Wierlacher, Das bürgerliche Drama. Seine theoretische Begründung im 18. Jahrhundert, München 1968, S. 44-56. Wierlacher beschreibt den ‚neuen Helden‘, der sich durch das bürgerliche Trauerspiel etabliert. Dieser ist vor allem, und auch bei Lessing, ein menschlicher Held, der dem empfindsamen Menschenbild entspricht. Es kommt daher zu einer „systematische[n] Neubegründung von Größe“ (ebd., S. 49); diese wird neu bestimmt als „persönliche Qualität, menschliches Gewicht“ (ebd., S. 51). Das hat auch Einfluss auf die Bedeutung des Würdebegriffs: Das „Tragödienmonopol“ von sozial hochgestellten Figuren, „die ihre eigene Würde haben“, wird in Frage gestellt durch den Nachweis, „daß a) auch nichtheroische Personen ‚Würde‘ besitzen, die sie tragödienfähig macht, und b) eben diese Würde nicht nur abgeleitete, sondern wahre, echte, eigentliche ‚Erhabenheit‘ darstellt, welcher die sozial begründete per definitionem nachsteht“ (ebd., S. 50). Bleibt jedoch ‚Größe‘ Voraussetzung für Tragödienfähigkeit, konterkariert dies wieder den Gedanken einer allgemeinen menschlichen Würde, denn auch Größe stellt ein heteronomes Ideal dar - wenn auch ein Verdienst und kein vererbbares Privileg. 69 Das Adjektiv „bürgerlich“ in der Gattungsbezeichnung „bürgerliches Trauerspiel“ bezieht sich nach Wierlacher weder primär auf den bürgerlichen Stand des Dramenpersonals noch auf jenen des Dichters, sondern ist als Synonym für „menschlich“ oder „allgemeinmenschlich“ zu betrachten (vgl. Das bürgerliche Drama, S. 75-77). 70 Christian Garve, Einige Gedanken über das Interessierende [1771], in: Die Entwicklung des bürgerlichen Dramas im 18. Jahrhundert. Ausgewählte Texte, mit einem Nachwort hg. v. J. Mathes, Tübingen 1974, S. 73-78, hier S. 76. II.3. Lessings Poetik der Identifikation und des Mitleids 85 dramatischen Praxis manifestiert, obsolet geworden. Dies impliziert aber auch: Es existiert eine andere Idee von Würde, ein essentiell anderer Würdebegriff, eine Würde nämlich, die ‚dem Menschen‘ (im Singular! ) eignet - und diese Idee der allgemeinen Menschenwürde äußert sich poetologisch im Postulat der Tragödienwürdigkeit ‚des Menschen‘. 71 Diese Redefinition der Tragödienwürdigkeit, die das Moment der Identifikation des Zuschauers mit der Bühnenfigur betont, hängt nun unmittelbar mit jenem Begriff zusammen, den Lessing ins Zentrum seiner Wirkästhetik stellt: dem Mitleid. Lessing präzisiert seine Tragödiendefinition; diese soll nicht nur Leidenschaften erregen, sondern „sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern “. 72 Beim Zuschauer Mitleid hervorzurufen, ist allerdings nur möglich, wenn sich dieser mit dem Bühnengeschehen und den Bühnenfiguren identifizieren kann. Dies ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil Lessing das Mitleid und die Mitleidfähigkeit als zentrale Momente einer Idealvorstellung des Menschen definiert: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch , zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder - es tut jenes, um dieses tun zu können. 73 Dieses vielzitierte Theorem enthält ein eindeutiges relatives Werturteil: Sowohl das Mitleid als auch das Menschsein sind abstufbar; impliziert wird ein Entwicklungs-, ein Vervollkommnungsziel, 74 das über das ästhetische Spiel erreicht 71 Auch Lessing benutzt das Wort „Würde“ freilich in anderen Kontexten, etwa, wenn er von der „Würde“ eines Stoffes oder der Tragödie spricht oder „Würde“ ausschließlich den sozialen Rang eines Menschen bezeichnet. Vgl. z. B. Briefwechsel über das Trauerspiel, Brief an Nicolai (November 1756), S. 669; Hamburgische Dramaturgie, 19. Stück, S. 276; 59. Stück, S. 475; 74. Stück, S. 553. 72 Lessing, Briefwechsel über das Trauerspiel, Brief an Nicolai (November 1756), S. 671 (Herv. i. O.). - Vgl. auch die ähnliche Bestimmung im 77. Stück der Hamburgischen Dramaturgie : „[…] daß die Tragödie, mit einem Worte, ein Gedicht ist, welches Mitleid erreget. Ihrem Geschlechte nach, ist sie die Nachahmung einer Handlung; so wie die Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung“ (Hamburgische Dramaturgie, S. 567). 73 Lessing, Briefwechsel über das Trauerspiel, Brief an Nicolai (November 1756), S. 671 (Herv. i. O.). - Zu Quellen, Kontexten und Auslegung dieser Stelle vgl. Schenkel, Poetik des Mitleids, S. 202-223. 74 Die Idee der Vervollkommnung des Menschen ist zentral für Lessings Werk. Hugh Barr Nisbet spricht in diesem Kontext von „Lessings Hauptmetapher der Erziehung“ (Gotthold Ephraim Lessing, in: Aufklärung (wie S. 55, Anm. 20), S. 75-90, hier S. 86); exemplarisch entfaltet er diese in seiner religionsphilosophischen Hauptschrift Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777 / 1780). Die „Erziehung zur Vollkommenheit“ ist zwar ein aufklärerisches Grundmotiv, doch gerade in Bezug auf Lessing hat die Forschung 86 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) werden soll. Vervollkommnungspotential eignet dem Mitleid, wenn der Zuschauer sich auf der Bühne wiedererkennt, eine Beziehung zur eigenen Existenz herstellt und deshalb Furcht empfindet: „Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.“ 75 Mitleids würdig ist eine Bühnenfigur also nur, wenn der Zuschauer sie als (Mit-)Menschen er- und anerkennt. 76 Dies ist insofern ein genuin ästhetischer Beitrag zum Menschenwürdediskurs, als die vorausgesetzte mitleidende Identifikation mit der Bühnenfigur der dramatischen Kunst zwei Möglichkeiten eröffnet: Im Prozess der Identifikation, die sich bei der Rezeption einstellt, steht zum einen die Menschenwürde - sowohl als abstrakte Vorstellung als auch als Eigenschaft des einzelnen Menschen - zur Diskussion. 77 Lessings Mitleid ist reflexiv. Der Zuschauer soll nicht nur die dramatisierten Affekte nachvollziehen, sondern selbst empfinden und sich so seines Menschseins bewusst werden; 78 das Mitleid ist die „sich fühlende[] Menschlichkeit“. 79 Dies führt zu einer Integration vermeintlicher und tatsächlicher menschlicher Charakterschwächen, Fehler und Deformationen, die auf der Bühne thematisiert werden, in den Würdebegriff. 80 Da vorausgesetzt werden kann, dass der Zuschauer seine eigene Menschenwürde ganz selbstverständlich den Erziehungsgedanken stark gemacht. Vgl. ebenfalls Christoph Lüth, Erziehung und Menschenbild bei Lessing, Oldenburg 1991 (Zitat S. 7) und Klepacki, Zur Ästhetik des Mitleidens, S. 166-171. 75 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück, S. 557. 76 Vgl. dazu auch Lessings berühmte Aristoteles-Auslegung; dieser erkläre „das Fürchterliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fürchterlich, was, wenn es einem andern begegnet wäre, oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken würde: und alles das finden wir mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstünde“. Deshalb sei Identifikation mit dem Objekt des Mitleids Voraussetzung für die intendierte Wirkung; diese stelle sich nur ein, „wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen ebenso ähnlich werden könne, als wir ihm zu sein uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe“ (Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück, S. 558-559). 77 Vgl. ähnlich Riedel, Bürgerlichkeit und Humanität, S. 24-26. Hier werden die Revision der Ständeklausel und die Konzentration auf das tragische Mitleid als „Suche nach dem Menschen“ gedeutet. 78 Zur Reflexivität des Mitleids vgl. ausführlich Schenkel, Poetik des Mitleids, S. 189-237. 79 Lessing, Des Herrn Jacob Thomson sämtliche Trauerspiele, in: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 755-761, hier S. 757. 80 Vgl. Lessing, Briefwechsel über das Trauerspiel, Brief an Nicolai (November 1756), S. 671: Die Tragödie „soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß“. - Vgl. dazu Schenkel, Poetik des Mitleids, S. 192-193: „[I]m Mitleid kommt dem Unglück, der Unvollkommenheit, das entscheidende Gewicht zu […] [.] […] [D]er Gegenstand der dramatischen Handlung ist nicht die Demonstration vollkommener Tugendhaftigkeit, sondern die Darstellung der ‚gefallenen Tugend‘.“ II.3. Lessings Poetik der Identifikation und des Mitleids 87 behaupten und im Zweifelsfall auch verteidigen würde, erlaubt Lessings Bestimmung der Tragödie somit eine Verhandlung des Menschenwürdebegriffs im Bereich der Ästhetik, gleichsam in der ästhetischen Erfahrung, mit dem tendenziellen Ziel, dem Menschen als Menschen Würde zuzuschreiben und streng normative Würdevorstellungen zu transzendieren. 81 Zum anderen, und durchaus in einem gewissen Widerspruch hierzu, dient das Erhöhen der Mitleidfähigkeit der Vervollkommnung des Menschen (des Zuschauers! ) - und ist somit doch wiederum an einem Ideal orientiert. Lessings Mitleid ist eine spontane sinnliche, prärationale 82 und genau deshalb zutiefst menschliche Empfindung, die durch die Tragödie zwingend geweckt und gefördert werden soll - und die einen a priori moralischen Charakter besitzt. 83 Die aristotelische kátharsis , die Lessing als Fähigkeit der Affekte deutet, sich selbst zu reinigen und dadurch zu mäßigen, bewirkt die „Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten“. 84 Entscheidend ist, dass diese Tugendhaftigkeit ihren Ursprung in der menschlichen Sinnlichkeit hat, und genau deshalb kommt dem ästhetischen Medium, das diese Sinnlichkeit anregt, mehr als eine Vermittlerfunktion zu. Die Ästhetik, die Kunst, die Literatur - sie haben überragende anthropologische Bedeutung. Das Tugendideal, das Lessings Dramentheorie zugrunde liegt, ist somit auch kein kaltes, vernünftelnd-abstraktes, sondern das einer empfindsamen, praktisch orientierten Menschlichkeit. 85 81 Fick weist auf einen wichtigen Unterschied zwischen dem Briefwechsel über das Trauerspiel und der Hamburgischen Dramaturgie hin: In jenem ist der Mitleidbegriff radikaler, in dieser ist das Mitleid „an die Mitleid-Würdigkeit der Charaktere“ gebunden, also tendenziell enger und normativer. Tatsächlich will Lessing „den Bösewicht aus dem Drama verbannen. Denn das Böse ist für ihn das Unmotivierte schlechthin; es durchbricht die natürliche Kausalität“ (Lessing-Handbuch, S. 290). 82 Dazu ausführlich und unter der Betonung des Einflusses Rousseaus Schenkel, Poetik des Mitleids, S. 205-222. Zu Rousseaus Ablehnung des theatralischen Mitleids vgl. ebd., S. 213-215. 83 Vgl. hierzu ausführlich Schings, Der mitleidigste Mensch, S. 35-47 sowie Alt, Aufklärung, S. 212-215. Alt nennt drei unterschiedliche Quellen für Lessings Mitleidkonzeption: die britische moral sense -Philosophie, Moses Mendelssohns Briefe über die Empfindungen (1755) sowie Jean-Jacques Rousseaus Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755). 84 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 78. Stück, S. 168. 85 Ein Grundproblem der Lessingphilologie ist die offensichtliche Diskrepanz zwischen der Dramentheorie und ihrer praktischen Umsetzung durch Lessing selbst. Nisbet stellt fest, dass „nur eines seiner Dramen, nämlich ‚Miss Sara Sampson‘, Lessings eigenen oder den damals geläufigen dramatischen Theorien […] zu entsprechen scheint. Der Hauptgrund für diese Diskrepanz liegt darin, dass Lessing in den meisten seiner Stücke stillschweigend dem Ziel folgt, moralische, politische, soziale oder religiöse Probleme zu behandeln, die in seinen dramatischen Theorien nicht vorgesehen oder mit denen sie sogar unvereinbar sind“ (Lessing, S. 77-78). 88 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) Diese Aufwertung der Sinnlichkeit ist zwar bemerkenswert, doch keineswegs radikal. Zwar ist sie - im Sinne empfindsamer Menschlichkeit und Empathiefähigkeit - wesentlicher Bestandteil der Vorstellung menschlicher Würde; die menschliche Sexualität etwa und die sensualistische Triebhaftigkeit bleiben von dieser Vorstellung aber vollkommen ausgeschlossen. 86 Lessings Poetik spiegelt die Ambivalenz des aufklärerischen Menschenwürdebegriffs: Die Ablehnung der Ständeklausel, die Betonung von Identifikation und Mitleidswürdigkeit deuten die Idee inhärenter Würde an; das Beharren auf der zu befördernden Mitleidfähigkeit und der daraus abgeleiteten Tugendhaftigkeit verweisen auf ein Würdeideal, das weiterhin als Gestaltungsauftrag verstanden wird. II.4. Menschenwürde, Sinnlichkeit und Tat bei J. M. R. Lenz Jakob Michael Reinhold Lenzʼ ästhetische Schriften illustrieren eine bemerkenswerte Akzentverschiebung innerhalb der aufklärerischen Auseinandersetzung mit Wesen und Würde des Menschen. In der Eingangspassage seines Textes Über Götz von Berlichingen 87 formuliert Lenz eine Diagnose des zeitgenössischen Menschenlebens. „Wir werden geboren -“, und in der Folge verläuft die menschliche Existenz in festgelegten, vorhersehbaren sozialen, beruflichen und familiären Bahnen, die kaum Raum für die Entfaltung von Individualität lassen: „und was bleibt nun der Mensch noch anders als eine vorzüglichkünstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen besser oder schlimmer hineinpaßt“ (LW 2, 637). Lenz beklagt die totale Entfremdung des Menschen von seiner Bestimmung, mithin seiner - aus der Sicht des Theologen letztlich von Gott gegebenen - Würde: „Aber heißt das gelebt? heißt das seine Existenz gefühlt, seine selbstständige Existenz, den Funken von Gott? “ ( LW 2, 637-638). Das Verfehlen des ‚wahren Lebens‘ stürzt den Menschen gar in eine „ewige Sklaverei“, eine „nur künstlichere, eine vernünftige aber eben um dessentwillen desto elendere Tierschaft“ ( LW 2, 638). Die sprachliche Präsentation dieser Diagnose verweist eindringlich auf für die 86 Hofmann weist zu Recht darauf hin, dass in Lessings erstem bürgerlichen Trauerspiel Miß Sara Sampson (1755) „die empfindsame Moral die Würde des Individuums durch die Verdrängung des sinnlichen Begehrens zu bewahren sucht“, während eine „Vermittlung“ der „sensualistische[n] Apologie der Sinnlichkeit mit dem moralischen Diskurs“ unmöglich ist (Lessing, S. 163). 87 Jakob Michael Reinhold Lenz, Über Götz von Berlichingen, in: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. S. Damm, Leipzig 1987, hier Bd. 2, S. 637-641. Lenzʼ Texte werden im Folgenden stets nach dieser Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (LW Band, Seitenangabe) belegt. II.4. Menschenwürde, Sinnlichkeit und Tat bei J. M. R. Lenz 89 gesamte Bewegung des Sturm und Drang leitmotivische Gedanken. Die erste Person Plural suggeriert die Unmöglichkeit von Individualität und Selbstgestaltung, das Passiv die Einbuße von Handlungsmacht, 88 die den Menschen nicht zum Subjekt seiner eigenen Handlungen, sondern zum Objekt von fremdgesteuerten Vorgängen macht. Die dreifach variierte Metaphorik - der Mensch als Maschine, 89 als Sklave und als Tier - weist in dieselbe Richtung: Sie beschreibt eine Degradierung des Menschen, ein Nicht-Erfüllen von Anlagen und Möglichkeiten. Die hieran geknüpfte Kritik ist ebenfalls eine dreifache: Zunächst zielt sie ganz allgemein auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die dem Individuum eine unabhängige Selbstverwirklichung verwehren. Konkret ist es dann die zunehmende Rationalisierung, die mechanische Organisation der Existenz, die paradoxerweise den menschlichen Handlungs- und Entscheidungsspielraum massiv beschneidet. Auf einer anthropologischen Ebene greift Lenz schließlich das mechanistische Menschenbild des französischen Materialismus an, das den Menschen zu einer dem Tier ähnlichen, determinierten Maschine reduziert. Energisch stellt Lenz seiner Diagnose die Utopie des handelnden Menschen entgegen: Was lernen wir hieraus? Das lernen wir hieraus, daß handeln, handeln die Seele der Welt sei, nicht genießen, nicht empfindeln, nicht spitzfündeln, daß wir dadurch allein Gott ähnlich werden, der unaufhörlich handelt und unaufhörlich an seinen Werken sich ergötzt: das lernen wir daraus, daß die in uns handelnde Kraft, unser Geist, unser höchstes Anteil sei, daß die allein unserm Körper mit allen seinen Sinnlichkeiten und Empfindungen das wahre Leben, die wahre Konsistenz den wahren Wert gebe […]. ( LW 2, 628) Formal geschickt ist die rhetorische Gestaltung: Die subiectio sowie die zahlreichen Wiederholungsfiguren untermauern den Vortragsgestus, sodass die fundamentalen Bestimmungen in dieser Passage selbst zu einer Art (Sprech-) Handlung werden. Inhaltlich bemerkenswert sind die Kommentare zu Geist und Körper. Ersteren definiert Lenz hier nicht etwa als erkennende oder urteilende, sondern als im Menschen „handelnde Kraft“. Diese ist zum einen ein analogon jener Handlungs- oder Bewegungskraft, 90 die die „Seele der Welt“ ist; 88 Vgl. ähnlich Georg-Michael Schulz, Jakob Michael Reinhold Lenz, Stuttgart 2001, S. 273. 89 Zur Maschinenmetaphorik im Sturm und Drang vgl. Jürgen Zenke, Maschinen-Stürmer? Zur Metaphorik von Determination und Freiheit im Sturm und Drang, in: Literarische Utopie-Entwürfe, hg. v. H. Gnüg, Frankfurt / M. 1982, S. 146-157 (zu Lenzʼ Text vgl. ebd., S. 147-148). 90 Zur Bedeutung des Begriffs der Bewegung im französischen Materialismus und bei Lenz vgl. Heinrich Bosse / Johannes Friedrich Lehmann, Sublimierung bei Jakob Michael Reinhold Lenz, in: Kunst - Zeugung - Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, hg. v. C. Begemann u. D. E. Wellbery, Freiburg 2002, S. 177-201, 90 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) zum anderen ist es aber auch das Handeln, und nicht primär die Tugend, die Vernunftfähigkeit, das Denken o. Ä., das den Menschen adelt und aus der Schöpfung heraushebt. Der handelnde Geist schließlich verleiht nun auch dem Körper seinen „wahren Wert“. Bedeutsam ist nicht nur, wie selbstverständlich Lenz den Körper aufwertet, sondern auch, dass er ausdrücklich die Sinnlichkeiten - im Plural, ja sogar „alle“ - in die Vorstellung des Menschen als wertvolles Wesen integriert sehen will. Die Forschung beschreibt Lenzʼ Menschenbild, wie er es vor allem in seinen moralischen und theologischen Schriften entwickelt, meist im Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit den französischen Materialisten Holbach, Helvétius und La Mettrie. 91 Deren Apologie des Körpers und der Leidenschaften nimmt Lenz auf, verwirft jedoch ihren strengen Determinismus. Auch für Lenz ist Bewegung eine anthropologische Fundamentalkategorie; die Leidenschaften, das menschliche Begehren werden als gottgewollter Motor von Bewegung legitimiert. Die „Konkupiszenz“ ist somit Ursprung und Anlass jeder menschlichen Handlung - trotzdem handelt der Mensch nicht unfrei. Vielmehr ist die Konkupiszenz in ständigem Konflikt mit dem göttlichen Verbot, und genau in diesem Spannungsfeld erwächst die Freiheit des Menschen. 92 So ist das Begehren, auch und vor allem das sexuelle, gar die Voraussetzung für menschliche Freiheit. Der Trieb soll keineswegs unterdrückt, sondern muss sublimiert werden 93 - dann ist moralisches Handeln möglich. 94 Aus dieser Perspektive besteht kein hier S. 179-182. Lehmann spricht an anderer Stelle von der „kinetischen Anthropologie“ der französischen Materialisten (Leidenschaft und Sexualität: Materialistische Anthropologie im Sturm und Drang. J. M. R. Lenzʼ Die Soldaten und Zerbin , in: Sturm und Drang. Epochen - Autoren - Werke, hg. v. M. Buschmeier u. K. Kauffmann, Darmstadt 2013, S. 180-202, hier S. 181). 91 Vgl. hierzu v. a. die Beiträge von Bosse / Lehmann, Sublimierung; Lehmann, Vom Fall des Menschen; ders., Leidenschaft und Sexualität; Schulz, Lenz, S. 234-255. Das Folgende in Anlehnung an diese Arbeiten. - Die französischen Materialisten verstehen den Menschen als vollkommen von seinem Körper und somit von Naturnotwendigkeiten gesteuertes Wesen, dessen Handeln von den vorbehaltlos affirmierten Leidenschaften determiniert und ausschließlich auf Selbsterhaltung und Glücksstreben gerichtet ist. 92 Vgl. Lehmann, Vom Fall des Menschen, S. 21. 93 Zum Begriff der Sublimierung vgl. v. a. Bosse / Lehmann, Sublimierung. Das sublimierte Begehren ist kein eigentlich sexuelles mehr, sondern ein über die Einsicht in die göttliche Vollkommenheit des Universums vermitteltes Streben nach idealer Schönheit und nach Nachahmung. Diese setzt die „Kraft zur ästhetischen Distanz“ voraus. Diese Nachahmung bezieht sich jedoch gerade nicht auf die poetische Produktion, sondern ist zu verstehen als ästhetische Wahrnehmung und als „ imitatio Christi “, d. h. als „freie moralische Handlung“. Vgl. ebd., S. 186 und 191 (mit Hinweisen auf die einschlägigen Stellen). 94 Bosse und Lehmann sprechen von einer „antimaterialistische[n] Moral auf der Basis des Materialismus“ (ebd., S. 177). - Vgl. dazu auch Lehmann, Glückseligkeit. Energie und Li- II.4. Menschenwürde, Sinnlichkeit und Tat bei J. M. R. Lenz 91 Antagonismus zwischen Trieb und Leidenschaften auf der einen und Vernunft und Verstand auf der anderen Seite; jene setzen diese erst in Bewegung. 95 Unter diesen Voraussetzungen wird Lenzʼ enthusiasmierte Apologie der Handlung und der Tat in Über Götz von Berlichingen verständlich. Gegen das Pathos zeitgenössischer Dramen und gegen deren Helden polemisiert er heftig: „Schurken und keine Helden! was habt ihr g etan, daß ihr Helden heißt? “ ( LW 2, 638). Die Vehemenz erklärt sich aus der streng wirkästhetischen Argumentation; Lenz lenkt den Blick auf die „Folgen“ und die „Wirkung“ der Dramen. Von diesen verlangt er einen „le b e ndig e[n] Eindruck, der sich in Gesinnungen, Taten und Handlung e n hernach einmischt“, einen „prometheische[n] Funken“ (LW 2, 639), der auf den Zuschauer überspringt und dessen zukünftiges Verhalten beeinflusst. Genau deshalb verteidigt er Goethes Götz : „[D]a ist der ganze Mann, immer weg geschäftig, tätig“. Geschäftigkeit, Tätigkeit, Handeln, Bewegung - „Wer so gelebt hat, wahrlich, der hat seine Bestimmung erfüllt“ ( LW 2, 640), und zwar aus folgendem Grund: „Freiheit“ besteht für den Menschen nur dort, wo die „handelnde Kraft“ im Menschen „Platz zu handeln“ findet. Kultiviert er die handelnde Kraft in solchem Maße, dass er frei handeln kann, ahmt der Mensch Gott nach und erreicht den Gipfel menschlichen Seins: „Seligkeit! Seligkeit! Göttergefühl das! “ ( LW 2, 638). Als Handelnder erweist sich der Mensch seiner Würde würdig; genau deshalb kann das Theater, in dem „alles auf Handlung an[kommt]“ ( LW 2, 641), nicht nur zu einem analogon , sondern sogar zur schönsten „Vorübung“ für das „große[] Schauspiel des Lebens“ werden ( LW 2, 640). Denn hier lernt der Mensch das Handeln, wenn der „prometheische Funken“ überspringt. In den Anmerkungen übers Theater (1774), seiner Auseinandersetzung mit Aristotelesʼ Poetik und deren Rezeption, stellt Lenz - ähnlich wie später Arno Holz 96 - nicht so sehr die Begriffe des Handelns und der Tat, sondern jene des Charakters und des Individuums in den Fokus. Zunächst liefert er eine spezifisch auf den poetischen Kontext gemünzte Definition des Menschen. Der Mensch, die „erste Sprosse auf der Leiter der freihandelnden selbstständigen Geschöpfe“ ( LW 2, 645), ist, mit Aristoteles, ein zur Mimesis neigendes Wesen, ja empfindet überhaupt nur durch Nachahmung Vergnügen 97 und unterscheidet sich genau dadurch vom Tier. 98 Dies begründet den „Wert“ des Dramas ( LW 2, 642) und den teratur bei J. M. R. Lenz, in: „Die Wunde Lenz“. J. M. R. Lenz. Leben, Werk und Rezeption, hg. v. I. Stephan u. H.-G. Winter, Bern [u. a.] 2003, S. 285-305, hier v. a. S. 292-295. 95 Vgl. Lehmann, Leidenschaft und Sexualität, S. 183. 96 S. dazu unten, Kap. B. V.1.3. 97 Vgl. LW 2, 650. Als Ausnahme lässt Lenz lediglich „tierische Befriedigungen“ gelten. 98 Vgl. LW 2, 645-646. Lenz zitiert Aristoteles: „Denn es ist dem Menschen von Kindesbeinen an eigen, nachzuahmen. Und in diesem Stück liegt sein Unterscheidungszeichen von 92 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) „Reiz“ der Poesie ( LW 2, 645), ist deren „Wesen“ doch ebenfalls Nachahmung (LW 2, 645), und zwar durch den Dichter, der „Standpunkt [nimmt]“ (LW 2, 648) und „alles scharf durchdacht, durchforscht, durch s cha ut - und dann in g e tre u er Nachahmung zum andernmal wieder hervorgebracht“ ( LW 2, 649). Seiner Aristoteles-Exegese legt Lenz nun die Leitfrage zugrunde, ob „der Mensch“ oder das „Schicksal des Menschen“ „Hauptgegenstand der Nachahmung“ sei ( LW 2, 650). Lenz positioniert sich deutlich, und das ist die entscheidende Akzentuierung: Weder das Schicksal, eine für Lenz durch und durch antike Vorstellung, noch die Begebenheiten, noch die Fabel oder Handlung im poetologischdramaturgischen Sinne, noch „bloß Leidenschaften“ oder allgemeinmenschliche Lehren und „Gesetze der menschlichen Seele“ ( LW 2, 652) machen die Tragödie aus, sondern die Charaktere in ihrer Individualität. In deutlicher Abgrenzung zu Lessing formuliert Lenz: „[D]ie Hauptempfindung in der Tragödie ist die Person, die Schöpfer ihrer Begebenheiten“ ( LW 2, 668). 99 Charaktere sind jene, „die sich ihre Begebenheiten erschaffen, die selbstständig und unveränderlich die ganze große Maschine selbst drehen“, sich also nicht durch Umstände und äußere Faktoren in ihren Handlungen bestimmen lassen und nicht, wie Lenz im Götz -Text klagt, selbst nur Rädchen einer großen Maschine sind. In diesem Fall spricht man „nicht von Bildern, von Marionettenpuppen - von Menschen“ ( LW 2, 654). Der Gedankenstrich legt nahe, die Vokabel „Menschen“ hier in einem ganz emphatischen Sinn zu lesen; nur solche Charaktere, die tatsächlich autonom, tatkräftig und frei, gleichsam als selbstbewusste, emanzipierte Subjekte, handeln, übrigens unabhängig von ständischen Überlegungen, entsprechen vollständig den Tieren. Der Mensch ist ein Tier, das vorzüglich geschickt ist, nachzuahmen“ - und fügt hinzu: „Ein Glück, daß er vorzüglich sagt, denn was würde sonst aus den Affen werden? “ Lenzʼ rhetorische, wohl nicht ganz humorlos gemeinte Frage ist bei genauerem Hinsehen keineswegs harmlos, lenkt sie doch die Aufmerksamkeit auf die gerade im anthropologischen Diskurs der Spätaufklärung so virulente Frage nach der Grenze zwischen Mensch und Tier. Weder Aristotelesʼ Definition noch Lenzʼ Kommentar sorgen für Eindeutigkeit, sie stiften eher Verwirrung. Einige Abschnitte später nimmt Lenz den Gedanken wieder auf, als er von der „Schöpfungskraft“ des „p o etis ch e n G e nie s “ spricht: „Denn […] das Vermögen nachzuahmen, ist nicht das, was bei allen Tieren schon im Ansatz - nicht Mechanik - nicht Echo - - nicht was es, um Otem zu sparen, bei unsern Poeten“. Der Mensch als ein Wesen, das der poetischen, künstlerischen Nachahmung fähig ist - das ist nun in der Tat eine klare Abgrenzung zum Tier. 99 Die „Hauptempfindung in der Komödie“ ist dagegen „immer die Begebenheit“ (LW 2, 668). Vgl. auch die Komödiendefinition in Lenzʼ Selbstrezension Rezension des neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt (LW 2, 699-704): „Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden“ (ebd., 703). Hier artikuliert Lenz auch seine Auffassung, die „deutschen Komödienschreiber“ müssten „komisch und tragisch zugleich schreiben“ (ebd.). II.4. Menschenwürde, Sinnlichkeit und Tat bei J. M. R. Lenz 93 Lenzʼ Menschenwürdevorstellung 100 - die durch die Darstellung in der Tragödie propagiert werden soll. In der Figur des Brutus aus Shakespeares Julius Caesar erkennt Lenz einen Charakter, der seinen Vorstellungen entspricht, und lobt sie - lakonisch, aber mit bedeutungsschweren Worten: „[W]em die Würde menschlicher Natur nicht dabei im Busen aufschwellt und ihm den ganzen Umfang des Worts: ‚Mensch‘ - fühlen läßt -“ ( LW 2, 665). 101 Somit macht Lenz den Zusammenhang zwischen seiner Auffassung des Charakters, der Literatur und der Menschenwürde explizit. Würde und Menschsein bestimmt er dabei gerade nicht als rational erschlossene oder erkannte Konzepte, sondern als zu fühlende , betont also ihre ästhetischen Dimensionen. Gleichzeitig legt er besonderen Wert darauf, jede Tendenz zur Idealisierung und zur Typisierung zu delegitimieren. „Genauigkeit und Wahrheit“ ( LW 2, 653) sind die obersten Kriterien der Figurenzeichnung; die „Mannigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien“ ( LW 2, 661) ist es, die das Genie reizt. Es geht, um einen Erzählerkommentar aus Lenzʼ Zerbin abzuwandeln, nicht primär um die Würde der Gattung, sondern um die Würde der Individuen. 102 Würde und Freiheit des Individuums postuliert Lenz freilich in seiner eigenen Dramenproduktion ex negativo . Seine Dramen Der Hofmeister (1774) und Die Soldaten (1776) etwa sind keine konventionellen Tragödien; vielmehr entwickelt Lenz in der Praxis eine tendenziell offene Dramenform, 103 die es ihm erlaubt, den 100 Vgl. ähnlich LW 2, 656. Auch hier benutzt Lenz den Begriff „Mensch“ emphatisch: „Was können wir dafür, daß wir an abgerissenen Handlungen kein Vergnügen mehr finden, sondern alt genug geworden sind, ein Ganzes zu wünschen? daß wir den Menschen sehen wollen, wo jene nur das unwandelbare Schicksal und seine geheimen Einflüsse sahen. Oder scheuen Sie sich, meine Herren! einen Menschen zu sehen? “ 101 Zu Lenzʼ Shakespeare-Rezeption in den Anmerkungen als Signum seiner Modernität vgl. Rüdiger Zymner, Shakespeare und Lenz, in: Jakob Michael Reinhold Lenz. Vom Sturm und Drang zur Moderne, hg. v. A. Meier, Heidelberg 2001, S. 11-21. - Lenz spielt Shakespeares Cäsar-Drama gegen jenes Voltaires aus. Vgl. hierzu Stefan Schmalhaus, Literarische Anspielungen als Darstellungsprinzip. Studien zur Schreibmethodik von Jakob Michael Reinhold Lenz, Münster / Hamburg 1994, S. 109-112. 102 Vgl. LW 2, 354-379, hier S. 354. 103 Vgl. hierzu etwa Carsten Zelle, Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Drei Bemerkungen dazu, was bei Lenz gespielt wird, in: J. R. M. [sic] Lenz als Alternative? Positionsanalysen zum 200. Todestag, hg. u. eingel. v. K. A. Wurst, Köln [u. a.] 1992, S. 138-157 (mit den dortigen Literaturhinweisen). Vgl. ebd., S. 149: „Lenz konfrontiert mithin ein idealistisches Menschenbild voller Subjekt-Autonomie, für das er sich den dramatischen Gestaltungsraum einer neuen Trauerspielform imaginiert, mit der materialistischen Diagnose vollständiger Subjekt-Determination, die er einerseits mit der Unterwerfung des Einzelnen unters fatum in der antiken Tragödie gespiegelt sah, und die er andererseits in seiner Komödientheorie anvisierte, vor allem aber in seinen Komödien auch gestaltet hat.“ - Vgl. auch die Beschreibung der Verschränkung von Komödie und Tragödie bei Matthias Luserke, Lenz-Studien. Literaturgeschichte - Werke - Themen, St. Ingbert 2001, S. 90-92. 94 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) Blick auf das Individuum - die „Hauptempfindung“ der Tragödie - und auf die „Begebenheiten“ - die „Hauptempfindung“ der Komödie - zu lenken, d. h. jene Umstände, Bedingungen, Verhältnisse und inneren Pathologien, die das freie Handeln in Frage stellen. Prägnant formuliert: Lenzʼ Werk durchzieht zum einen die Idee, dass die Anerkennung des menschlichen Triebes, seiner Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Sexualität die Vorstellung der menschlichen Wesenswürde nicht konterkariert, sondern vielmehr ihre notwendige Korrektur darstellt. Zum anderen inszeniert Lenz das Scheitern des Menschen daran, seiner Würde vollends gerecht zu werden - und aktiviert so das sozialkritische Potential der Literatur, lenkt er doch den Blick auf jene Zwänge und Hindernisse, die die Sublimierung des menschlichen Triebes und somit emanzipiertes, autonomes Handeln verhindern. 104 Würde ist in diesem Sinne ein Gestaltungsauftrag nicht nur für das Individuum, sondern für die gesamte Gesellschaft. 105 II.5. Ästhetische Menschenwürde: Karl Philipp Moritz Karl Philipp Moritzʼ Beiträge zum Menschenwürdediskurs sind insofern von grundlegender Bedeutung, als der vielseitige, produktive Autor unterschiedliche, mitunter konfligierende Positionen artikuliert und so beispielhaft für die geistes- und literaturgeschichtlichen Strömungen zwischen Aufklärung und Weimarer Klassik und darüber hinaus steht. 106 Moritzʼ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793) war die erste deutsche psychologische Zeitschrift. In einer Ankündigung seines Projekts skizziert 104 Vgl. ähnlich Lehmann, Vom Fall des Menschen, S. 33-34. - Zu den Begriffen des Handelns und der Handlung bei Lenz vgl. auch Thorsten Unger, Handeln im Drama. Theorie und Praxis bei J. Chr. Gottsched und J. M. R. Lenz, Göttingen 1993. 105 Vgl. dazu Hans Graubner, Theologische Anthropologie bei Hamann und Lenz, in: „Die Wunde Lenz“ (wie Anm. 94), S. 185-193, hier S. 191: Graubner konstatiert zu Recht, dass bei Lenz „die Perfektibilitätsanthropologie der Aufklärung, verknüpft mit Herders Selbstbildungskonzept, nach dem sich der Mensch zum Gott oder doch zu Gott emporbilden soll, überall durchschlägt“. 106 Zu Moritz vgl. grundlegend Thomas P. Saine, Die ästhetische Theodizee. Karl Philipp Moritz und die Philosophie des 18. Jahrhunderts, München 1971; Hans Joachim Schrimpf, Karl Philipp Moritz, Stuttgart 1980; Peter Rau, Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion. Studien zum Werk von Karl Philipp Moritz, Frankfurt / M. 1983; Hartmut Scheible, Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 190-222; Alo Allkemper, Ästhetische Lösungen. Studien zu Karl Philipp Moritz, München 1990; Albert Meier, Karl Philipp Moritz, Stuttgart 2000. II.5. Ästhetische Menschenwürde: Karl Philipp Moritz 95 er das Menschenbild, das das Interesse an den „Krankheiten der Seele“ 107 rechtfertigt - und verbindet damit auch programmatische Aussagen zur Literatur. Methodisch setzt Moritz bei seinem Unternehmen, das er als ein dezidiert moralisches mit „praktischem Nutzen“ versteht, auf „Beobachtungen und Erfahrungen“ (MW 1, 794) statt auf ein apriorisches System. 108 Das Individuum als Objekt der Beobachtung, als Nutznießer der erfahrungsseelenkundlerischen Praxis, aber auch als Subjekt von Moral, erhält eine emphatische Aufwertung 109 - zunächst unabhängig von normativen Vorstellungen des Menschlichen. Gerade vermeintlich Würdelose wie Verbrecher, Selbstmörder, sozial Benachteiligte, Charakterschwache, Lasterhafte, Verrückte, wie auch immer Beeinträchtigte - d. h. all jene Menschen, die von der ‚Norm‘ abweichen oder menschliche Grenzbereiche und Dysfunktionen verkörpern - rücken in den Fokus der Beobachtung. Auch „Karaktere und Gesinnungen aus vorzüglich guten Romanen und dramatischen Stücken, […] welche ein Beitrag zur innern Geschichte des Menschen sind“, lässt Moritz als Erkenntnisquelle gelten, freilich mit der Einschränkung, dass der „praktische Wert“ von „Beobachtungen aus der wirklichen Welt“ um ein Vielfaches höher sei ( MW 1, 796). Tatsächlich formuliert Moritz ein anthropologisches Realismuspostulat; 110 den Hang zur Idealisierung des Menschen gerade in der Fiktion kritisiert er als realitätsfern und -verfälschend. 111 Vielmehr solle - und dies ist eine Bestimmung von zentraler Bedeutung - „auch den geringsten Individuis“ ihr Wert bewusst gemacht werden ( MW 1, 804). Denn obwohl Moritz sowohl in der Natur als Ganzem als auch innerhalb der Menschheit von natürlichen Rangunterschieden ausgeht, ist der Mensch trotz aller „Verschiedenheit“ stets ein würdevolles Wesen: „Der Aller- 107 Karl Philipp Moritz, Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde, in: Werke in zwei Bänden, hg. v. H. Hollmer u. A. Meier, Frankfurt / M. 1997-1999, Bd. 1, S. 793-809, hier S. 793. - Im Folgenden wird stets nach dieser Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (MW Band, Seitenangabe) belegt. 108 In dieser Hinsicht stellt Moritzʼ Projekt einen radikalen Gegenentwurf zu Kants kurz zuvor erschienener Kritik der reinen Vernunft dar. Vgl. dazu auch Scheible, Wahrheit und Subjekt, S. 192. 109 Vgl. MW 1, S. 794: „Was ist unsre ganze Moral, wenn sie nicht von Individuis abstrahiert ist? “ - Meier spricht von „Moritzʼ Zentralthese vom Primat des Individuellen“, die an Lessing anknüpfe (Moritz, S. 161). 110 Vgl. MW 1, 801: „Von jedem Hang, sich in eine idealische Welt hinüber zu träumen, muß er [i. e. der Menschenbeobachter; MG] sich äußerst hüten; er muß in keine idealische, sondern in seine eigne wirkliche Welt immer tiefer einzudringen suchen“. - Vgl. ähnlich Rau, Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion, S. 153. 111 Vgl. MW 1, 804: „Die Nachahmungssucht [des Menschen; MG] erstreckt sich gar so weit, daß man Ideale aus Büchern in sein Leben hinüber trägt. Ja nichts macht die Menschen wohl mehr unwahr, als eben die vielen Bücher.“ - In der Vorrede zu seiner Zeitschrift gibt Moritz an, er liefere „Fakta, und kein moralisches Geschwätz, keinen Roman, und keine Komödie […]“ (Vorrede zum Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, in: MW 1, 811). 96 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) unterste auf der Staffel der Menschheit bliebe doch noch immer ein Meisterstück auf Erden, wenn er der einzige in seiner Art wäre“ ( MW 1, 807). 112 Diesen „Gedanke[n]“ - nämlich die „Würde“ bzw. den „Wert der Menschheit“ ( MW 1, 808 bzw. 809) - bezeichnet Moritz als „versöhn[end]“; er stiftet das „Herz“ zu „Liebe“ an, statt „Haß und Verachtung“ gegenüber menschlichen Pathologien und Deformationen hervorzurufen (MW 1, 808). Zwei Aspekte sind auffällig: Die Würde der Menschheit ist in diesem Text zum einen etwas, das, wie bereits bei Herder und Lenz, 113 „[ge]fühl[t]“ ( MW 1, 808), mithin sinnlich empfunden wird, also ein durchaus ästhetisches Konzept - und nicht (nur) Inhalt philosophischer oder theologischer Überlegungen. Zum anderen erscheint Menschenwürde an dieser Stelle als eine von ethischen Bestimmungen unabhängige Qualität. 114 Das Verhältnis von Erfahrungsseelenkunde und Literatur ist für Moritz klar definiert. Literatur als solche ist nur bedingt geeignet, die Kenntnisse vom Menschen zu erweitern. Gerade deshalb muss sie sich zwingend an der neuen Disziplin orientieren: „[Der] Dichter und Romanenschreiber wird sich genötigt sehn, erst vorher Erfahrungsseelenlehre zu studieren, ehe er sich an eigene Ausarbeitungen wagt“ ( MW 1, 798). Diese nicht nur wissenschaftlich-philosophische, sondern indirekt auch literarische Aufwertung des vermeintlich Würdelosen, die bereits bei Lenz vorbereitet ist, weist voraus auf Büchner, der seine Figur Lenz im Kunstgespräch postulieren lässt, dass „einem keiner zu gering“ sein dürfe, aber auch auf den Naturalismus und den Expressionismus 115 - jedoch 112 Vgl. MW 1, 807: „Welch ein Abstand vom Menschen bis zum Wurme, vom Wurme bis zum leblosen Steine! und dann wieder von den weisesten unter den Menschen bis zum wilden Bewohner der Wüste; und unter dieser kleinen Anzahl von aufkeimenden, werdenden Menschen, die ich vor mir sehe, welch eine Verschiedenheit! Vom Lebhaftesten unter diesen bis zum Trägsten; von der feinsten Organisation bis zur gröbsten; vom feurigsten Blick bis zum kältesten; und von der aufstrebendsten Stärke bis zur hinfälligsten Schwäche - und doch dies alles nur verhältnismäßige Begriffe - jeder ist gut, und kann gut sein, in seiner Art.“ - Hier klingt Alexander Popes Idee einer „chain of being“ an, die laut Thomas P. Saine für Moritzʼ Werk grundlegend ist. Vgl. Saine, Die ästhetische Theodizee, S. 52-57 (mit Hinweis auf die Studie The Great Chain of Being von A. O. Lovejoy) sowie Pope, Essay on Man, hier etwa die „Epistle I“, V. 33, 237 und 245. 113 S. dazu oben, S. 79 und 93. Herder hatte vom „ Gefühl der Menschlichkeit “ gesprochen. 114 Darauf deuten die von Moritz in der folgenden Passage kursivierten Adjektive hin: „Die Würde der Menschheit ganz zu fühlen, das hat mir oft Mut und Stärke gegeben, Haß und Verachtung gegen manchen in meiner Brust zu unterdrücken, gegen den sich meine ganze Seele empörte, so oft ich ihn sahe; durch diesen Gedanken gelingt es mir, mein Herz mit gleicher Liebe, einer so sehr untermischten Anzahl zu eröffnen, wie ich sie oft vor mir sehe. Ich suche meine Gedanken zu gewöhnen, daß sie nicht besser und gut , mit gut und böse verwechseln […]“ (MW 1, 808). Die ethischen Kategorien „gut“ und „böse“ weist Moritz zurück; das Menschsein an sich ist bereits in einem viel grundlegenderen Sinne „gut“ - was nicht ausschließt, dass es auch „bessere“ Menschen gibt. 115 Vgl. dazu unten, Kap. B.IV., B. V., und B.VI. II.5. Ästhetische Menschenwürde: Karl Philipp Moritz 97 besteht ein entscheidender Unterschied: Das Bestehen auf der Menschenwürde auch des Geringsten bleibt im Endeffekt doch stets untrennbar an das Ziel der Vervollkommnung der Menschheit als Gattung gekoppelt. Sein Magazin, so Moritz, sei deshalb ein „wichtiges Werk für die Menschheit“, weil durch ein solches Projekt „das menschliche Geschlecht durch sich selber mit sich selber bekannter werden, und sich zu einem höhern Grade der Vollkommenheit empor schwingen könnte“ ( MW 1, 797). 116 Würde ist demnach noch kein eindeutig absoluter Wert. Gleichwohl ist Moritz ein „radikale[r] Anthropozentriker“, 117 der mit dem Hinweis auf die Menschenwürde bisweilen scharfe Gesellschaftskritik übt. Explizit problematisiert und missbilligt er etwa die Vorstellung kontingenter sozialer Würde; 118 sein reges Interesse gilt den sozial Benachteiligten und den Unterdrückten. Nachdrücklich postuliert Moritz die Autonomie und die freie Selbstbestimmung 119 des Individuums als unmittelbar mit der Menschenwürde verbundene Wesenszüge; als Entwürdigung geißelt er deren Einschränkung oder Negation durch Gesellschaftsordnung und Staat. 120 In seinem moralphilosophischen Essay Das Edelste in der Natur (1786) 121 begründet Moritz - freilich ohne den Begriff zu benutzen - die Menschenwürde als (auch) ästhetische Qualität: 116 Ähnlich formuliert Moritz den „Endzweck“ des Magazins in einem Beitrag, der als eine Art Zwischenfazit fungiert. Die „Erforschung unsers Wesens“ diene dazu, „den Kreis des menschlichen Denkens überhaupt zu veredeln, und zu verschönern, und allen übrigen Dingen im Leben mehr Interesse, und Würde zu geben“ (Über den Endzweck des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde; MW 2, 899). Würde ist also durchaus keine absolute Qualität, sondern bleibt stets relativ auf ein Ideal menschlicher Vervollkommnung bezogen. 117 Rau, Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion, S. 297. 118 Vgl. den im ersten Band der Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen (1786) erschienenen kurzen Text Über deutsche Titulaturen (MW 2, 50-51). Hier stellt Moritz polemisch den ‚Zufall‘ der hohen Geburt der „angestammte[n] Würde“ einer Nation gegenüber, die sich seiner „sklavischen Gesinnung“ - gemeint ist die „dumme Verehrung“ von Adelstiteln - entledigen soll. 119 Vgl. hierzu Rau, Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion, S. 290 bzw. 313. 120 Vgl. zu diesem Absatz die ausführliche, mit etlichen Zitaten belegte Darstellung bei Rau, ebd., S. 145-165 und 286-361. Vgl. auch Saine, Die ästhetische Theodizee, S. 84-90, der jedoch betont, dass Moritzʼ radikaler Gesellschaftskritik jeder revolutionäre Impetus fehlt. 121 MW 2, 15-22. - Der Text entstand noch vor Moritzʼ Italienreise und erschien 1786, ursprünglich ohne Titel, im ersten Band der Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen . 98 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) Was gibt es Edleres und Schöneres in der ganzen Natur, als den Geist des Menschen, auf dessen Vervollkommnung alles übrige unablässig hinarbeitet, und in welchem sich die Natur gleichsam selbst zu übertreffen strebt. ( MW 2, 15) Moritzʼ Bestimmung der Würde des Menschen stützt sich hier gleich auf mehrere Motive: Es ist die ratio - und nicht der Körper -, die den Menschen aus dem übrigen Naturzusammenhang heraushebt, deren „Vervollkommnung“ gleichzeitig auch das Telos der Natur darstellt. Den Geist belegt Moritz mit Epitheta, die ihn als ethisch („edel“) und ästhetisch („schön“) auszeichnen. Darüber hinaus ist der menschliche Geist ein zweiter Schöpfer, der nicht nur die ihm untertane Natur formt und transformiert, sondern künstlerisch „im Kleinen“ nachahmt und so „ihre Schönheiten im verjüngten Maßstabe dar[stellt]“ (MW 2, 16). Der Künstler 122 schafft das die Schönheit der in sich vollendeten Natur spiegelnd aktualisierende Kunstwerk und ist deshalb der Gipfel der Schöpfung, der Würdigste unter allen Würdigen (vgl. MW 2, 17); 123 durch die „Betrachtung [der] Kunstwerke“ kann wiederum der „menschliche Geist“ „veredelt und verfeinert werden“ ( MW 2, 18). 124 Zudem nimmt Moritz die von Kant kurz zuvor formulierte Selbstzweckformel auf: „Der einzelne Mensch muß schlechterdings niemals als ein bloß nützliches sondern zugleich als ein edles Wesen betrachtet werden, das seinen eigentümlichen Wert in sich selbst hat […]“ (MW 2, 19; Herv. i. O.). Die Selbstzweckhaftigkeit aller „denkenden Wesen“, die wiederum eine prinzipielle Gleichheit aller Menschen insinuiert, muss der Mensch „empfinden“ und „fühlen“ (! ) (MW 2, 18). Grund dieser Selbstzweckhaftigkeit ist die Tatsache, dass der menschliche Geist „ein in sich selbst vollendetes Ganze [sic]“ ist (MW 2, 19) - und genau das ist Moritzʼ Definition der genuin ästhetischen, von allen Nützlichkeitsabwägungen freien Qualität eines Kunstwerks. 125 Moritz parallelisiert somit die Würde des Menschen mit der Würde des Kunstwerks. Noch deutlicher als oben wird die Menschenwürde zu einem ästhetischen Begriff: Zwar wird sie argumentativ begründet und definiert als Selbstzweckhaftigkeit des rationalen und schöpferischen Menschen, der - in seiner 122 Im Text ist es eigentlich der Dichter, wie das Klopstock-Zitat belegt. Moritz zitiert die erste Strophe der Ode Der Zürchersee (1750). Vgl. MW 2, 1069. 123 Vgl. ähnlich Allkemper, Ästhetische Lösungen, S. 272. 124 Vgl. ebd., S. 261: „Das ästhetische Interesse wird […] zum Kriterium des Humanen: menschlich im emphatischen Sinne ist das ästhetische Interesse, die Betrachtung des Schönen.“ 125 Vgl. Moritz, Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten (MW 2, 943-949). - Das Schöne wird, so Moritz, sinnlich wahrgenommen, hat aber trotzdem höchsten Erkenntniswert. Damit knüpft er an die Ästhetik Baumgartens an. Vgl. dazu etwa Saine, Die ästhetische Theodizee, S. 151-154. II.5. Ästhetische Menschenwürde: Karl Philipp Moritz 99 Rationalität! - ein in sich selbst vollendetes Ganzes ist, vom Einzelnen jedoch soll sie mit den unteren Erkenntnisvermögen sinnlich empfunden werden. In seiner großen ästhetischen Programmschrift Über die bildende Nachahmung des Schönen , während Moritzʼ Italienreise entstanden und 1788 publiziert, erhält das Verhältnis von Schönheit, Kunst und Menschenwürde schließlich eine folgenschwere Präzision. Der Text, eine für die Weimarer Klassik grundlegende ästhetische Positionierung, postuliert die Autonomie der Kunst sowie die Zweckfreiheit des Schönen und explizitiert die bereits in Moritzʼ früheren Schriften umrissene Vorstellung, dass das Schöne ein nicht rational, sondern ausschließlich mit den unteren Erkenntnisvermögen erfassbares Phänomen ist. 126 Zunächst taucht die Vokabel „Würde“ auf, als Moritz das Verhältnis zwischen den Begriffen „schön“ und „edel“ untersucht. Zwar beziehe sich dieser auf die „innre Seelenschönheit“, jener auf die „Schönheit auf der Oberfläche“, und deshalb bedürfe der Mensch, „um edel zu sein, der körperlichen Schönheit nicht“. Trotzdem sei - eine Art physiognomische Gleichung - die äußere ein Spiegel innerer Schönheit, die Moritz auch als „innere Seelenwürde“ bezeichnet. Diese Korrelation dient sogar als Erklärung des „edlen Stils in Kunstwerken“; diesen bestimmt Moritz als Schönheit, die zugleich die „innre Seelenwürde des hervorbringenden Genies“ sichtbar macht ( MW 2, 961). Diese eigentlich recht konventionelle Argumentation in der Tradition Winckelmanns und der Antikerezeption des 18. Jahrhunderts 127 weist dem Begriff der Würde im Kontext der Ästhetik einen bestimmten Rang zu: Die Seelenwürde als Synonym des Edlen bezeichnet eine Art erhabene Würde, eine ethische Grundhaltung, die innere Größe - oder, um einen strapazierten Begriff zu benutzen: die Humanität - eines Menschen. Durch diesen „Mittelbegriff des Edeln“, so Moritz, „wird der Begriff des Schönen […] zum Moralischen hinübergezogen und gleichsam daran 126 Interpretationen der Bildenden Nachahmung bieten Paine, Die ästhetische Theodizee, S. 161-173; Rau, Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion, S. 397-430; Schrimpf, Moritz, S. 94-104; Meier, Moritz, S. 180-190; Scheible, Wahrheit und Subjekt, S. 212-222; Allkemper, Ästhetische Lösungen, S. 266-291; Alessandro Costazza, Karl Philipp Moritz und die tragische Kunst, in: Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert. Bestandsaufnahmen - Korrekturen - Neuansätze, hg. v. M. Fontius u. A. Klingenberg, Tübingen 1995, S. 145-176; Hans Adler, Karl Philipp Moritz’ Ästhetik und der universale Metabolismus, in: Karl Philipp Moritz. Signaturen des Denkens, hg. v. A. Krupp, Amsterdam [u. a.] 2010, S. 195-204. 127 Vgl. Moritzʼ Kommentar über den Apoll von Belvedere im dritten Teil der Reisen eines Deutschen in Italien : „Nicht das Unmenschliche und Ungeheure, sondern gerade das Menschliche in seiner höchsten Erhabenheit und Würde, war bei den Alten das höchste Ziel der Kunst; dadurch erhielt alles auf den Geist der Menschen eine unmittelbar zurückwirkende Kraft, und die Griechen arbeiteten sich dadurch zu einem Grade von Kultur empor, welchen nach ihnen noch kein Volk erreicht hat“ (MW 2, 689-690). Vgl. auch Rau, Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion, S. 421-422. 100 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) festgekettet“ ( MW 2, 962). Dieser enge Würdebegriff hat Auswirkungen darauf, was als schön gelten darf. Gleichzeitig ist er mit einem ganz konkreten Ideal verbunden: Die „höchste[] Mischung“ von äußerer und innerer Schönheit, „da wo das äußere Schöne ganz in Ausdruck innrer Würde und Hoheit übergeht“ ( MW 2, 968), kennzeichnet Moritz als das „Majestätische“. Dieses ist der Gipfel der Schönheit und, realiter , der Schöpfung, mithin auch der Menschheit. Von dem tendenziell integrativen Würdebegriff des Erfahrungsseelenkundlers unterscheidet sich diese Würde merklich. Doch von viel größerer Tragweite als die Bedeutungsverengung an dieser Stelle ist die Verbindung von Ästhetik und Geschichtsphilosophie, die den Schluss des Textes prägt und die Vorstellung der Menschenwürde und der unbedingten Hochschätzung des Individuums und seiner Selbstzweckhaftigkeit vollkommen zu kompromittieren scheint. Ausgangspunkt ist die Idee eines universellen Naturzusammenhangs, in dem alle Dinge und Wesen verkettet sind und den ein ständiger Vollendungsprozess in Bewegung hält. Dieser Vollendungs- oder Vervollkommnungsprozess basiert auf den Prinzipien Zerstörung und Bildung: „Daher ergreift jede höhere Organisation, ihrer Natur nach, die ihr untergeordnete, und trägt sie in ihr Wesen über“ (MW 2, 979). 128 Von diesem Naturgesetz ist der Mensch nicht ausgenommen. Entsprechend rücken das Leiden und die Zerstörung des Individuums in den Fokus - und ihre mögliche ästhetische Rechtfertigung. 129 „[D]as Individuum muß dulden, wenn die Gattung sich erheben soll“; letzteres ist notwendig, weil sie ihren „Endzweck […] nicht mehr außer sich, sondern in sich hat“ und deshalb „bis zur Empfindung und Hervorbringung des Schönen, sich in sich selber vollenden muß “ ( MW 2, 985; Herv. i. O.). Die Selbstzweckhaftigkeit des Individuums überlagert der Endzweck der Gattung; diesen Endzweck beschreibt Moritz zum einen anhand seines eigenen Schönheitsbegriffs, nämlich des in sich selbst Vollendeten, zum anderen definiert er die Vollendung in Bezug auf die künstlerisch-ästhetische Affinität und Produktivität der Menschheit. Für die Vollendung der Gattung ist „das duldende Individuum“ notwendig; 130 in der (künstlerischen) „Darstellung“ aber, so Moritz, wenn das Leiden des Einzelnen in die „Erscheinung“ überführt wird und sich „dem höchsten Vollendungspunkt des Schönen“ annähert, „löst“ es sich „auf “ ( MW 2, 985). Durch die Darstellung werde auch die individuelle Dimension überhöht: 128 Vgl. Adler, Moritzʼ Ästhetik, S. 201, der von einem „universale[n] Metabolismus“ spricht, „in dem die Teile dem Ganzen zwangsweise anverwandelt werden“. 129 In der Forschung wurden die einflussreichen und durchaus treffenden Begriffe der „ästhetischen Theodizee“ (Saine) bzw. der „ästhetischen Anthropodizee“ (Rau, Schrimpf) geprägt. Vgl. Saine, Die ästhetische Theodizee bzw. Rau, Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion, S. 421 und Schrimpf, Moritz, S. 114-115. 130 Moritz spricht explizit von der „Notwendigkeit der Dinge“ (MW 2, 986). II.5. Ästhetische Menschenwürde: Karl Philipp Moritz 101 Sie zeitigt das „erhabnere Mitleiden“, das wiederum die Vollendung der Gattung fördert ( MW 2, 985). Das Mitleid stellt nämlich eine Verbindung zwischen dem Leiden und einem Rezipienten her - und garantiert so die Überhöhung. 131 Die sowohl als ästhetisch vermittelt gedachte als auch ästhetisch konzeptualisierte Vervollkommnung der Gattung hat demnach absoluten Vorrang vor der Wirklichkeit des Individuums und seines Leidens 132 - doch was bedeutet dies für die Vorstellung einer besonderen, individuellen Menschenwürde? Die „Zerstörung des Einzelnen“ - als „Zerstörung des Schwächern durch das Stärkre, und des Unvollkommnern, durch das Vollkommnere“ - ist geradezu die Voraussetzung für die Gattungsvervollkommnung, für das Schöne - und für die Kunst. 133 Für die „Nachwelt“ hebt diese den „Jammer der Vorwelt […] wie ein köstliches Kleinod“ auf, integriert es und sichert dadurch den „Wert“ der Menschheit; ebenso löst sich der tragische Stoff der Dichtkunst „in der Veredlung unsres Wesens durch das Mitleid“ auf ( MW 2, 987). Anders formuliert: Die reale Entwürdigung des Individuums wird nicht nur akzeptiert, sondern gerechtfertigt, insofern ihre künstlerische Sublimierung im Dienst der Gattung steht; 134 deren schöne Vollendung ist der höchste Wert - und keineswegs das Individuum selbst. Diese hochproblematische Sicht auf den Menschen versucht Moritz nun am Ende des Textes mit einer kühnen Wendung ins Ontologische 135 zu legitimieren. Das „Schöne, in welches die Zerstörung selbst sich wieder auflöst“, verweist, im Einklang mit Moritzʼ früheren Schriften, auf die dem Menschen weder rational noch sinnlich zugängliche Vollkommenheit der Natur, des ‚großen Ganzen‘, 136 und jene utopische „Harmonie, in welche Bildung und Zerstörung einst Hand in Hand, hinüber gehn“ ( MW 2, 990; m. H.). Die „immerwährende Zerstörung“ des schwachen, unvollkommenen Individuums scheint somit „dem ewigen“ - d. h. dem Menschen unerreichbaren - „Schönen nach- 131 Vgl. hierzu auch Saine, Die ästhetische Theodizee, S. 171-172. - Für eine Interpretation, die vom Begriff des Erhabenen ausgeht, vgl. Costazza, Moritz und die tragische Kunst. 132 Vgl. MW 2, 986: „Sobald die Erscheinung in der Gattung, über die Wirklichkeit in dem Individuum gesiegt hat, geht das bitterste Leiden, durch das über die Individualität erhabne Mitleid, in die süßeste Wehmut über; und der Begriff des höchsten Schädlichen in der Wirklichkeit, löst sich in den Begriff des höchsten Schönen in der Erscheinung, auf.“ 133 Scheible spricht von einer „enthemmten Verherrlichung des Rechtes des Stärkeren“ (Wahrheit und Subjekt, S. 216). 134 Vgl. auch Meier, Moritz, S. 189. 135 Schrimpf spricht von einer „ästhetische[n] Ontologie des menschlichen Daseins“ sowie einer „Existenzphilosophie“ (Moritz, S. 103; vgl. auch Adler, Moritzʼ Ästhetik, S. 196). 136 Vgl. hierzu Adler, ebd., S. 197, der das Verhältnis von Teil und Ganzem ins Zentrum seiner Interpretation stellt. 102 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) zuahmen “, das „über Zerstörung und Bildung selbst erhaben“ ist ( MW 2, 990; Herv. i. O.). Dies ist die Prämisse für Moritzʼ exaltierte Schlussbetrachtung: 137 Tod und Zerstörung selbst verlieren sich in den Begriff der ewig bildenden Nachahmung des über die Bildung selbst erhabnen Schönen , dem nicht anders als, durch immerwährend sich verjüngendes Dasein , nachgeahmt werden kann. Durch dies sich stets verjüngende Dasein, sind wir selber . Daß wir selber sind , ist unser höchster und edelster Gedanke. - Und von sterblichen Lippen, läßt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen, als: es ist ! ( MW 2, 991; Herv. i. O.) Die Überführung von Zerstörung und Leiden des Individuums in Kunst, deren ästhetische Transformation, ist, insofern sie die Vollendung des Daseins an sich spiegelt, gleichzeitig überhaupt erst Garant für den Gedanken, dass eine solche Vervollkommnung möglich ist. Mehr noch: Das menschliche Dasein - jenes der Gattung, nicht des einzelnen Menschen, denn Moritz benutzt hier auffälligerweise das Pluralpronomen „wir“ - ist inklusive Zerstörung und Leiden überhaupt erst dadurch gerechtfertigt, dass das autonome (! ) Schöne „ist“. 138 Durch dieses ontologische Postulat erlangt auch die Menschenwürde ihre Legitimation. Ein Begriff wie Menschenwürde ist erst durch das Schöne, ja im Schönen, in der Kunst denkbar 139 - und zwar als genuin ästhetischer, gattungsbezogener, und nicht als realer, individueller Begriff. War Moritzʼ zuvor beschriebener Menschenwürdebegriff insofern ästhetisch, als er Menschenwürde und Schönheit parallelisierte und jene wie diese als zu empfindende, zu fühlende Qualität definierte, kommt es hier zu einer epochalen Verschiebung: Menschenwürde ist ästhetisch, weil die Ästhetik und das Schöne die Bedingungen ihrer Möglichkeit sind. 137 Zum Schluss des Textes und seinen rezeptionsgeschichtlichen Problemen vgl. etwa Saine, Die ästhetische Theodizee, S. 162-163. 138 Vgl. hierzu treffend Adler, Moritzʼ Ästhetik, S. 203: „Kunst ist nicht schön - ‚sein‘ ist in diesem Zusammenhang bei Moritz keine Kopula - Kunst ist ein analogon pulchritatis : Sie weist darauf hin, dass es Schönheit - das Ganze nämlich - im Sinne von esse , nicht: existere , überhaupt gibt. Damit ist auch evident, dass angesichts des ‚Höchsten‘, das heisst [sic], der ontologischen Aussage, dass das Schöne ‚ist‘, alle Diskurse verstummen, beziehungsweise auf das tautologische ‚es ist‘ reduziert sind. Diese syntaktische Singularität ist der gnoseologische Offenbarungseid der anthropologischen Wende des 18. Jahrhunderts und zugleich der Ausgangspunkt für den Humanitätsdiskurs, mit dem Geschichte als ‚Geschichte der Menschheit‘ denkbar wird.“ - Vgl. auch Allkemper, Ästhetische Lösungen, S. 285: „Die Aufopferung des Individuellen ist ethisch gefordert, ästhetisch dargestellt und metaphysisch legitimiert; das Edle / Schöne ist nur unter Absehen individualistischen Interesses.“ 139 Manche Interpreten sehen hier Parallelen zu Nietzsches Vorstellung, die Welt sei nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt. Vgl. etwa Meier, Moritz, S. 189. II.5. Ästhetische Menschenwürde: Karl Philipp Moritz 103 Statt um die Würde des Menschen geht es Moritz nun um die Würde der Menschheit . 140 Man könnte dies eine ästhetisch motivierte, idealisierende Radikalisierung nennen: Moritzʼ früherer Begriff der Selbstzweckhaftigkeit des Individuums, der trotzdem stets auf die Vollendung der Menschheit an sich bezogen war, wird zu einem durch die Kunst vermittelten und zu vermittelnden Ideal der Würde der menschlichen Gattung, das vom Individuum abstrahiert und dessen Zerstörung als notwendiges, zu billigendes Übel ansieht. 141 Auch wenn die Kunst somit auf jeglichen direkten Nutzen, d. h. wirkästhetische Überlegungen zu Bewegung, Belehrung und Besserung des Rezipienten u. Ä. verzichtet, 142 ist ihr Stellenwert als grundlegender anthropologischer Faktor enorm. Moritz vollzieht in der Bildenden Nachahmung , auch in Bezug auf den Menschenwürdebegriff, den Übergang von der aufklärerischen zur klassischen Ästhetik. Dass Moritz damit einer inhumanen Ästhetik Bahn bricht, die den Wert des Individuums vollends aufgibt, indem sie gleichsam eine Flucht vor der Realität des Leidens und der Menschenwürdeverletzung in die Kunst postuliert, die noch dazu jeden unmittelbaren Einfluss auf die soziale Realität und jede außerästhetische Wirkung verweigert, 143 wirkt besonders im Hinblick auf seine früheren moralphilosophischen und pädagogischen Schriften überraschend und unbefriedigend. Die Forschung hat diese Deutung bisweilen relativiert: Die „Verklärung des Leidens im Schein“ sei „zugleich Protest“, da das ‚scheinhaft Schöne‘ auf die Missstände in der Wirklichkeit verweise; 144 den „inhumanen Grundgedanken seiner Ästhetik“ entschärfe Moritz „wenigstens teilweise“ dadurch, dass sein Vollendungsgedanke nicht den historischen Fortschritt der Menschheit meine, sondern den Fortschritt der unzerstörbaren Geisterwelt; 145 das „rigoristische Autonomie-Postulat“ erscheine „als eine emanzipatorische regulative Utopie“, die Moritz - keineswegs eskapistisch, sondern mit dem Impetus des Veränderungswillens - „der schlechten zeitgeschichtlichen Wirklichkeit entgegensetzt“. 146 Aus einer solchen Sicht sind es letztlich das Schöne und das Ideal der Würde der Menschheit, die, gleichsam über den Umweg der Zerstörung des Einzelnen, die Möglichkeit individueller Würde garantieren können. Wenn jedoch Menschenwürde entweder ausschließlich als ästhetische Qualität vor- 140 Auch im Vorschlag spricht Moritz bereits von der „Würde“ und dem „Wert der Menschheit“ (MW 1, 808 bzw. 809); aus dem Kontext wird jedoch klar, dass er dort keineswegs das Individuum abwerten will. 141 Vgl. dagegen Schrimpf, Moritz, S. 103. 142 Genau deshalb unterscheidet sich Moritzʼ Mitleidsbegriff fundamental von jenem Lessings. Vgl. dazu Costazza, Moritz und die tragische Kunst, S. 170-171. 143 Vgl. Scheible, Wahrheit und Subjekt, S. 220. 144 Vgl. Rau, Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion, S. 419-420. 145 Vgl. Scheible, Wahrheit und Subjekt, S. 218; vgl. ebd., S. 216-220. 146 Vgl. Schrimpf, Moritz, S. 116. 104 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) stellbar ist und nur im ästhetischen Bereich uneingeschränkte Gültigkeit besitzt oder einer derart schmerzhaften ästhetischen Vermittlung bedarf, dann bleibt sie eine hochgradig prekäre Konstruktion. 147 II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller Schillers philosophische, kunsttheoretische und literarische Werke umkreisen immer wieder die (Menschen-)Würde, sowohl das konkrete Wort als auch den Begriff . 148 Definitorisch einheitlich sind seine Ausführungen freilich nicht; vielmehr erhält der Kern der Vorstellung unterschiedliche Nuancierungen. Stellung und Bedeutung der Menschenwürde bei Schiller erschließen sich erst nach dem Blick auf einige Prämissen. 147 Einleuchtend ist der Vorschlag Jutta Osinskis, Moritzʼ psychologische Schriften kategorisch von seinen ästhetischen zu trennen: „Als Ästhetiker will Moritz die Bildung zum Schönen. Als Psychologe sieht er die Leiden des Individuums, dem autonome Kunst nichts nützt.“ Insofern seien beide Disziplinen bei Moritz notwendig komplementär: „Die Autonomieästhetik kompensiert das Sinndefizit der Erfahrungsseelenkunde. Dabei gerät das real existierende Individuum aus dem Blick. Das Kompensationsmuster selbst ist nicht etwa im Sinne einer Entwicklung von der Erfahrungsseelenkunde zur Autonomieästhetik mißzuverstehen; beide Bereiche bestehen in Moritzʼ Werk nebeneinander, bedingen einander und sind, für sich betrachtet, nicht weiter entwicklungsfähig: Das Leiden des Individuums relativiert der ästhetischen Theorie nach ebensowenig die Autonomie der Kunst, wie diese umgekehrt der empirisch-psychologischen Theorie nach das Leiden des Individuums verringern könnte“ (Psychologie und Ästhetik bei Karl Philipp Moritz, in: Karl Philipp Moritz (wie Anm. 126), S. 201-214, hier S. 207 und 211). 148 An welchen Stellen Schiller das Wort „Würde“ in seinen ‚Philosophischen Schriften‘ benutzt, verrät das Sachregister in NA 21, 510. - Zu Schillers theoretischen Texten, die im Folgenden im Vordergrund stehen werden, vgl. etwa Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart / Weimar 1995, S. 147-184; Alt, Schiller, Bd. 2, hier v. a. S. 92-153; Walter Hinderer, Utopische Elemente in Schillers Anthropologie, in: Literarische Utopie-Entwürfe (wie Anm. 89), S. 173-186; Pugh, Dialectic of Love; Holger Bösmann, Projekt Mensch. Anthropologischer Diskurs und Moderneproblematik bei Friedrich Schiller, Würzburg 2005; Jörg Zirfas, Die Faszination des schönen Scheins. Friedrich Schillers Bildungsmodell zwischen Anthropologie, Moral, Ästhetik und Politik, in: Geschichte der Ästhetischen Bildung, Bd. 3 / 1 (wie Anm. 56), S. 197-217; Thomas Ulrich, Anthropologie und Ästhetik in Schillers Staat. Schiller im politischen Dialog mit Wilhelm von Humboldt und Carl Theodor von Dalberg, Frankfurt / M. [u. a.] 2011; Robert, Vor der Klassik; Schöll, Interessiertes Wohlgefallen; Lars Meier, Konzepte ästhetischer Erziehung bei Schiller und Hölderlin, Bielefeld 2015 sowie die einschlägigen Artikel in den beiden großen Schiller-Handbüchern (Schiller-Handbuch, hg. v. H. Koopmann, Stuttgart 2 2011 und Schiller-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, hg. v. M. Luserke-Jaqui, Stuttgart / Weimar 2011). II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller 105 1. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants 149 hat Schiller zweifellos die Grundzüge von dessen Würdebegriff vermittelt, der auf den Feststellungen beruht, dass der Mensch als Vernunftwesen in der Lage ist, sich selbst jene Gesetze aufzuerlegen, nach denen er autonom sittlich handelt, er deshalb einen absoluten inneren Wert hat und von sich selbst und anderen als Selbstzweck zu achten ist. 150 Schon vor der Kant-Lektüre artikuliert Schiller ein streng dualistisches Menschenbild , das den Menschen als Misch- und mittleres Wesen konzeptualisiert. 151 Die ‚Natur‘ des Menschen ist tierisch und geistig - diese grundlegende Vorstellung prägt Schillers dritte medizinische Dissertation genauso wie die frühe Schaubühnen-Rede und die späteren ästhetischen Schriften. 152 Die Bestimmung des Verhältnisses dieser beiden getrennten und doch untrennbar miteinander verbundenen menschlichen Sphären durchzieht Schillers Anthropologie, Philosophie und Ästhetik. In Anlehnung an den dichtenden Mediziner Albrecht von Haller situiert Schiller den Menschen zudem hierarchisch als „das 149 Vgl. dazu etwa Cathleen Muehleck-Müller, Schönheit und Freiheit. Die Vollendung der Moderne in der Kunst. Schiller - Kant, Würzburg 1989; Hans Feger, Durch Schönheit zur Freiheit. Wie Schiller Kant liest, in: Monatshefte 97.3 (2005), S. 439-449; Anke Thyen, Pflicht zwischen Anmut und Würde. Schillers Ästhetisierung der Sittlichkeit und ihre Folgen, in: Des Gesetzes Gespenst steht an der Könige Thron, hg. v. S. Däschler-Seiler u. K. Fingerhut, Freiburg i. Br. 2005, S. 15-37; Klaus Düsing, Ästhetische Freiheit und menschliche Natur bei Kant und Schiller, in: Der Mensch als Konstrukt. Festschrift für Rudolf Drux zum 60. Geburtstag, hg. v. R. Füllmann [u. a.], Bielefeld 2008, S. 199-210; Bernhard Greiner, Kant und die deutsche Klassik, in: Erkenntnis und Darstellung. Formen der Philosophie und der Literatur, Paderborn 2011, S. 41-61. Marion Heinz betont die Vermittlerrolle Karl Leonhard Reinholds und seines Kantverständnisses („Die Harmonie des Menschen mit der Gottheit“ - Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Reinhold und Schiller, in: Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker, hg. v. G. Bollenbeck u. L. Ehrlich, Köln [u. a.] 2007, S. 27-37). Die Bedeutung der ‚vorkantischen‘ Zeit für Schillers spätere Ästhetik und Anthropologie betont Robert, Vor der Klassik. 150 Vgl. dazu oben, S. 74 - 75 mit der dort angegebenen Literatur. 151 Vgl. dazu Zelle, Die doppelte Ästhetik, S. 159-160 und Ulrich, Anthropologie und Ästhetik, S. 375. 152 Vgl. den Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (NA 20, 37-75), ebenso die „Vorlesung“ Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (NA 20, 87-100). Hier spricht Schiller etwa vom „B e dürfniß d e s Thierm e n s ch e n “ und dem „B e dürfniß d e s G eiste s “ (NA 20, 88) und erklärt in Anlehnung an Sulzer die Entstehung des Theaters mit einem Hinweis auf die Doppelnatur des Menschen: „Unsre Natur, gleich unfähig, länger im Zustand des Thiers fortzudauren, als die feinern Arbeiten des Verstands fortzusetzen, verlangte einen mittleren Zustand, der beide widersprechenden Enden vereinigte […]. Diesen Nuzen leistet überhaupt nur der ästhetische Sinn, oder das Gefühl für das Schöne“ (NA 20, 90). - Zu Schillers Dissertation vgl. etwa Gottfried Willems, „Vom Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“. Das medizinische Wissen des 18. Jahrhunderts und der Menschenbildner Schiller, in: Schiller im Gespräch der Wissenschaften, hg. v. K. Manger u. G. W., Heidelberg 2005, S. 57-77, bes. S. 69-73. 106 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) unseelige Mittelding von Vieh und Engel“ ( NA 20, 47). 153 In dieser Zwischenstellung muss der Mensch seine Menschlichkeit und seine Würde selbstbewusst verwirklichen: „Zwingt doch der thierische Gefährte / Den gottgebornen Geist in Sklavenmauren ein - / Er wehrt mir, daß ich Eng el werde; / Ich will ihm folgen Me n s ch zu seyn“ ( An einen Moralisten ; NA 1, 87). 2. Schiller analysiert die zeitgenössische Realität kultur- und zivilisationskritisch mit einem Gestus der Diagnose , die er auf den Begriff der Würde fokussiert. 154 In Die Künstler (1789; s. o.) erscheint die Würde der Menschheit als prekär, da die Harmonie zwischen Wahrheit und Schönheit (und somit das menschheitsgeschichtliche Ziel) kompromittiert wurde. Zwei Jahre zuvor, in Don Karlos , hatte Schiller den Marquis von Posa seine Diagnose menschlicher Erniedrigung und „Verstümmelung“ als politisches Problem formulieren lassen. 155 Mit Blick auf 153 Vgl. Albrecht von Haller, Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben, in: Die Alpen und andere Gedichte, Ausw. u. Nachw. v. A. Elschenbroich, Stuttgart 1965, S. 23-38, hier S. 24, V. 17 sowie ders., Über den Ursprung des Übels (1734), Zweites Buch, V. 107 (ebd., S. 53-74, hier S. 63). Ähnlich hatte übrigens auch Christoph Martin Wieland den Menschen als Mittelding verortet. Vgl. Walter Hinderer, Von der Idee des Menschen. Über Friedrich Schiller, Würzburg 1998, S. 61. - Vgl. auch Pope, Essay on Man, „Epistle II“, V. 3 und 8-9 („In doubt to deem himself a god, or beast; / In doubt his mind or body to prefer“). - Vgl. schließlich den Kommentar Alts: „Im Gegensatz zu den anthropologischen Lehren der Frühaufklärung möchte Schiller in der psychophysischen Doppelnatur des Individuums keine beschwerende Erblast erkennen. […] Die leibseelische Doppelnatur des Individuums ist für Schiller nicht ‚unselig‘, weil sie die Voraussetzung geistiger Kreativität und seelischer Harmonie ausmacht“ (Schiller, Bd. 1, S. 180). 154 Zu Schillers „Gegenwartskritik als Kulturkritik“ vgl. auch Meier, Konzepte ästhetischer Erziehung, S. 98-108; vgl. weiterhin Georg Bollenbeck, Von der Universalgeschichte zur Kulturkritik, in: Friedrich Schiller (wie Anm. 149), S. 11-26 (unter Berücksichtigung Rousseaus). 155 Vgl. Posas Rede im Dialog mit dem König (III,10; zit. nach der Erstausgabe von 1787): „Ich höre, Sire, wie klein, / wie niedrig Sie von Menschenwürde denken, / […] und / mir däucht, ich weiß, wer Sie dazu berechtigt. / Die Menschen zwangen Sie dazu; sie haben / freiwillig Ihres Adels sich begeben, / Freiwillig sich auf diese niedre Stufe / herabgestellt. […] / Wie konnten Sie in dieser traurigen / Verstümmlung - Menschen ehren? “ (NA 5, 186). Seinen berühmten Ausruf „Geben Sie / Gedankenfreiheit -“ (NA 5, 191) ergänzt Posa um eine Forderung, deren Sprache sowohl an Schillers spätere Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen als auch an den Dunstkreis des Würdediskurses erinnert und dabei durch die Terminologie des aufklärerischen Menschenrechtsdiskurses akzentuiert wird: „[…] Stellen Sie der Menschheit / verlornen Adel wieder her. Der Bürger / sei wiederum, was er zuvor gewesen, / der Krone Zweck - ihn binde keine Pflicht, / als seiner Brüder gleich ehrwürdʼge Rechte“ (NA 5, 193). Um sein Königreich „zum glücklichsten der Welt“ zu machen, müsse der König dafür sorgen, dass „der Mensch […] sich selbst zurückgegeben [werde], / zu seines Werths Gefühl erwach[e] - der Freiheit / erhabne, stolze Tugenden gedeihen -“ (ebd.). II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller 107 den ernüchternden Verlauf der Französischen Revolution 156 wird die Frage nach Freiheit und menschlichem Fortschritt virulent. In einem Brief an den Prinzen von Augustenburg ( Juli 1793) klagt Schiller: Der Versuch des Französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen, und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht, und nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen beträchtlichen Theil Europens, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarey und Knechtschaft zurückgeschleudert. ( NA 26, 262) Dass die hehren Ziele der Revolution letztlich in blutige Gewalt umschlagen, ist Symptom der menschlichen „Unwürdigkeit“; 157 der Mensch ist noch nicht in der Lage, seine sinnlich-tierische Natur auf der einen und seine geistig-vernünftige auf der anderen Seite in ein Verhältnis zu setzen, das wahre sittliche wie politische Freiheit ermöglicht. Die Lösung liegt in Schillers Augen in der Förderung der „ästhetische[n] Kultur“ ( NA 26, 266). In den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), die die Gedanken der Augustenburger Briefe systematisieren, formuliert Schiller wieder eine Diagnose der menschlichen Würdelosigkeit, diesmal nicht so sehr mit Blick auf die konkreten politisch-historischen Ereignisse, sondern aus allgemeinerer Perspektive. Im fünften und sechsten Brief zeichnet Schiller sein Zeitalter als würdelos, seiner Bestimmung entfremdet und degeneriert. 158 Die „gegenwärtigen Ereignisse“ in Frankreich entlarven „Verwilderung“ und „Erschlaffung“ der Menschen, „die zwey Aeussersten des menschlichen Verfalls“ (5. Brief; NA 20, 319). 159 Grund sei der Verlust an „Totalität“ ( NA 20, 322), sowohl innerhalb der Gattung als auch innerhalb des Individuums. Die Folge menschlichen Fortschritts und wissen- 156 Zu Schillers Frustration über den Revolutionsverlauf vgl. etwa Alt, Schiller, Bd. 2, S. 111-125; Meier, Konzepte ästhetischer Erziehung, S. 68-72; Zelle, Art. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), in: Schiller-Handbuch (hg. v. M. Luserke-Jaqui; wie Anm. 148), S. 409-445, hier S. 412-415. 157 Vgl. auch Schillers Verdikt in seinem Brief an Johann Benjamin Erhard vom 26. Mai 1794 (NA 27, 41). - Zu Erhard, seinem Verhältnis zu Schiller und dem genannten Brief vgl. Foi, Schillers Wilhelm Tell : Menschenrechte, Menschenwürde und die Würde der Frauen, S. 203-212. 158 Vgl. Zelle, Art. Über die ästhetische Erziehung , S. 420-422. 159 Vgl. NA 20, 319-320 (5. Brief): „In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich uns rohe gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln, und mit unlenksamer Wuth zu ihrer thierischen Befriedigung eilen. […] Auf der andern Seite geben uns die civilisirten Klassen den noch widrigern Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist.“ - Vgl. hierzu (sowie zu den Begriffen der schmelzenden und energischen Schönheit) Zelle, Die doppelte Ästhetik, S. 170-177. Vgl. weiterhin Alt, Schiller, Bd. 2, S. 139-140. 108 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) schaftlicher Spezialisierung ist eine Gesellschaft, in der der einzelne Mensch nur ein „Bruchstück“ des Ganzen ist (6. Brief; NA 20, 323) und auch seine eigene Natur nur noch fragmentarisch ausbildet. 160 Solange diese „Trennung in dem innern Menschen“ nicht „aufgehoben“ ist, muss jede politische Revolution scheitern (7. Brief; NA 20, 329). Anthropologische Voraussetzung jeder Verbesserung ist daher die Überwindung dieser „tiefen Entwürdigung“, 161 die den „Charakter der Zeit“ ausmacht ( NA 20, 329). Um die „Totalität in unserer Natur, welche die Kunst“ - gemeint sind weniger die schönen Künste als vielmehr Wissenschaft, Technik, Handwerk usw. - „zerstört hat“, wiederherzustellen, bedarf es einer „höheren Kunst“ (6. Brief; NA 20, 328). Die „schöne Kunst“ ist das „Werkzeug“ (9. Brief; NA 20, 332), das heilend und erziehend wirken soll; dem Künstler, wie im erwähnten Gedicht emphatisch apostrophiert, kommt die Aufgabe zu, der Menschheit, die „ihre Würde verloren [hat]“ ( NA 20, 334), die „Richtung zum Guten“ vorzugeben ( NA 20, 335). 162 3. Der Topos der diagnostizierten menschlichen Würdelosigkeit, der bereits bei Herder und Lenz zu beobachten war und der sich später unter anderen Voraussetzungen im Naturalismus, im Expressionismus, bei Fallada und bei Jelinek findet, 163 ist für Schiller der programmatische Ausgangspunkt seiner an- 160 Schiller ist sich der Ambivalenz des menschlichen Fortschritts bewusst: „Einseitigkeit in Uebung der Kräfte führt zwar das Individuum unausbleiblich zum Irrthum, aber die Gattung zur Wahrheit“ (6. Brief; NA 20, 327). - Vgl. ähnlich die Rezension Über Bürgers Gedichte ; NA 22, 245. 161 Auch im neunten Brief spricht Schiller von der „Entwürdigung“ des Menschen (NA 20, 335). 162 Tatsächlich gibt Schiller im neunten Brief ein historisches Beispiel: Den „Schandthaten eines N ero und Kommo du s “ stellt er den „edle[n] Styl des Gebäudes, das seine Hülle dazu gab“, entgegen. Deshalb kann er behaupten: „Die Menschheit hat ihre Würde verloren, aber die Kunst hat sie gerettet und aufbewahrt in bedeutenden Steinen […].“ Da die „edle Kunst die edle Natur üb erle bte“, also inmitten von Depravation und Grausamkeit noch greifbar war, kann sie diese wieder „bildend und erweckend“ vorbereiten (NA 20, 334). Der Künstler sei zwar „Sohn seiner Zeit“ und solle den „Stoff […] von der Gegenwart nehmen“, die „Form“ jedoch müsse er „von einer edleren Zeit, ja jenseits aller Zeit, von der absoluten unwandelbaren Einheit seines Wesens entlehnen“ (NA 20, 333). Das „Urtheil“ seiner Zeit muss der Künstler ausblenden: „Er blicke aufwärts nach seiner Würde und dem Gesetz, nicht niederwärts nach dem Glück und nach dem Bedürfniß“ (NA 20, 334). Das diesen Ausführungen zugrunde liegende Ideal ist die Kunst der griechischen Antike - nicht so sehr jedoch als konkretes artistisches, sondern eher als abstraktes Ideal, das er „anthropologisch-individuell als Harmonie von Sinnlichkeit und Verstand, staatstheoretisch als die von Bürger und Gemeinschaft und kunsttheoretisch als Schönheit, als sinnlichen Ausgleich von Einheit und Mannigfaltigkeit“ begreift (so der Kommentar Stefan Matuscheks zu diesem Brief; Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Frankfurt / M. 2009, S. 170-173, hier S. 171; vgl. auch Meier, Konzepte ästhetischer Erziehung, S. 115-116). 163 Vgl. oben, S. 77 - 79, Kap. B.II.4. sowie unten, Kap. B. V., B.VI., B.VII.2.4.1 und B.VIII. II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller 109 thropologisch-ästhetischen Antwort. Schillers theoretische Schriften entfalten, wie es Carsten Zelle genannt hat, eine „doppelte Ästhetik“ des Schönen und des Erhabenen. 164 Zelle argumentiert, dass eine einseitige Bestimmung seiner Ästhetik als utopische Versöhnung des entzweiten Menschen durch das Schöne und im Spiel unterschlägt, dass die Kategorie der Erhabenheit jede Möglichkeit von Harmonie und Versöhnung negiert und die bedingungslose Unterordnung der sinnlichen unter die vernünftige Natur fordert. 165 Nur die Berücksichtigung dieser „gegenläufige[n] Bewegung“ 166 beschreibt Schillers Ästhetik adäquat und erklärt die parallelen dichotomischen Begriffsreihen, die die einzelnen Texte wie das theoretische Werk als Ganzes prägen. Auf der einen Seite zielt Schiller auf die Schönheit ab, die mit der Vorstellung des ganzen, in sich ausgeglichenen Menschen sowie den Begriffen Anmut, schmelzende Schönheit und Naivität verbunden ist, auf der anderen setzt er auf die Kategorie der Erhabenheit, die den „ zerrissenen Menschen“ sowie die Begriffe Würde, energische Schönheit und Sentimentalität in den Blick nimmt. 167 Diese doppelte Ästhetik hat nun einen doppelten Freiheitsbegriff - Freiheit als harmonisches Dasein im schönen Spiel und Freiheit als „Entschluß, gegen die Sinne zu handeln“ 168 - und eine 164 Vgl. Zelle, Die doppelte Ästhetik, S. 147-184. Vgl. auch ders., Art. Über die ästhetische Erziehung , S. 426-427. - In Zelles Deutung lassen sich zumindest manche der in der Forschung immer wieder herausgestellten Widersprüche in Schillers kunsttheoretischen Schriften fassen und erklären. Zu diesen Widersprüchen vgl. etwa Meier, Konzepte ästhetischer Erziehung, S. 58-63 und 232-234; Rolf-Peter Janz, Art. Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Schiller-Handbuch (hg. v. H. Koopmann; wie Anm. 148), S. 649-666, hier S. 662-663. - Zu Schillers Begriff des Erhabenen, auch im Hinblick auf das Erhabene bei Mendelssohn, Kant u. a., vgl. Paul Barone, Schiller und die Tradition des Erhabenen, Berlin 2004; vgl. außerdem Zelle, Art. Vom Erhabenen (1793) / Über das Pathetische (1801), in: Schiller-Handbuch (hg. v. M. Luserke-Jaqui; wie Anm. 148), S. 398-405. 165 Vgl. Zelle, Die doppelte Ästhetik, S. 150-155. 166 Ebd., S. 151. - Auch David Pugh geht in seiner Untersuchung der Schillerschen Ästhetik von einer Antithese aus, die er mit dem platonischen Begriff methexis (vgl. die Ästhetik des Schönen und der Harmonie) und dem post-platonischen Begriff chorismos (vgl. die Ästhetik des Erhabenen und des Kampfes der beiden menschlichen Sphären) zu fassen versucht (Dialectic of Love, S. 239 und passim). Nach Pugh charakterisiert sein „equal commitment to chorismos and methexis “ Schillers „philosophical dilemma“ (ebd., S. 312). 167 Zelle, Die doppelte Ästhetik, S. 151 (Herv. i. O.); vgl. ebd., S. 161-162. - Die drei parallelen Begriffe beziehen sich auf die drei großen Abhandlungen Ueber Anmuth und Würde (1793), Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) und Ueber naive und sentimentalische Dichtung (1795 / 96). 168 Ebd., S. 154 (Herv. i. O.). - Vgl. auch ebd., S. 155: „[E]inerseits versucht Schiller in der Begriffsbildung, jenes dualistische Menschenbild aufzuheben, das bereits der Medizinstudent seinen Überlegungen zugrunde gelegt, freilich mittels einer angenommenen ‚Mittelkraft‘ zugleich auch zu überwinden getrachtet hatte, andererseits knüpfen die begrifflichen Verdopplungen des Jenaer Ästhetikprofessors […] an das Wissen einer doppelten 110 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) doppelte Anthropologie, nämlich eine utopische und eine tragische, zur Folge. 169 Dies ist deshalb so entscheidend, weil Schillers Würdebegriff keineswegs nur das beinhaltet, was er auch tatsächlich „Würde“ im Sinne der beschriebenen Dichotomie nennt; vielmehr beschreiben die beiden Argumentationsstränge unterschiedliche Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller. * Diese Dimensionen der Menschenwürde hat Udo Ebert prägnant herausgearbeitet. Ebert unterscheidet nicht weniger als zehn Nuancierungen des Würdebegriffs in Schillers Werk: „Anthropologische Würde“, „Würde des Ausdrucks“, „[m]oralische Würde“, „[e]rhabene Würde“, „[g]esellschaftliche Würde“, „Subjektwürde“, „[p]olitische Würde“, „Würden“, „[ä]sthetische Würde“, schließlich „[l]eibliche Bedingungen der Würde“. 170 Was den Menschen vom Tier abgrenzt, so Schiller in Ueber Anmuth und Würde , ist der Wille, der verhindert, dass sein Handeln und Verhalten dem „Gesetz der Natur“ ( NA 20, 290) unterliegen. Der „Geschlechtscharakter des Menschen“ ( Ueber das Erhabene ; NA 21, 38) - seine anthropologische Würde - ist demnach seine Fähigkeit, den natürlichen Trieben mithilfe seines Willens zu begegnen. 171 Der autonome Wille des Menschen macht ihn zur Person; als solche ist der Mensch „s elb st Ursache, und zwar absolut letzte Ursache seiner Zustände“ ( Ueber Anmuth und Würde ; NA 20, 262) - der Nachhall der Würdedefinition Ästhetik von Schönheit und Erhabenheit an, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ausgebildet worden war.“ 169 Vgl. ebd., S. 161-162. - Zudem stellt Zelle die beiden widersprüchlichen Ziele der Ästhetik heraus: Diese ist als ästhetische Erziehung einerseits „Mittel zum politischen Zweck“, indem sie den Menschen auf den zukünftigen, höherentwickelten Staat der freien Sittlichkeit vorbereiten soll. Andererseits ist Ästhetik „Selbstzweck“, eine Art utopische „Totalitätsvergegenwärtigung“ und „Medium ganzheitlicher Selbstwahrnehmung im Zustand der Entfremdung“. Vgl. hierzu Zelle, Art. Über die ästhetische Erziehung , S. 422-424. 170 Vgl. Ebert, Schiller und die Menschenwürde. - Eberts Beitrag stellt eine Ausnahme dar; es handelt sich um nahezu die einzige Arbeit, die den Würdebegriff ins Zentrum einer systematischen und methodisch einleuchtenden literaturwissenschaftlichen Analyse stellt. Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich an diesem erkenntisreichen und in mancher Hinsicht erschöpfenden Beitrag, verzichten aber nicht darauf, eigene Beobachtungen und Belege zu liefern. - Vgl. auch den Beitrag Michael Hofmanns, der den Zusammenhang von Humanitätsdenken und Menschenwürde gerade für das Spätwerk Schillers und Goethes beleuchtet: Hofmann, Die Wege der Humanität. Krise und Erneuerung des Humanitäts-Paradigmas im Werk Goethes und Schillers, in: „Verteufelt human“? Zum Humanitätsideal der Weimarer Klassik, hg. v. V. C. Dörr u. M. H., Berlin 2008, S. 141-159 (vgl. dazu auch unten, S. 122 - 123). - Den Zusammenhang zwischen Naturrecht, Menschenrechten und Menschenwürde unter besonderer Berücksichtigung des Dramas Wilhelm Tell beleuchtet Foi, Schillers Wilhelm Tell : Menschenrechte, Menschenwürde und die Würde der Frauen. 171 Vgl. Ebert, Schiller und die Menschenwürde, S. 135. II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller 111 Kants ist unüberhörbar. Zudem säkularisiert Schiller einen Renaissance-Topos: Der Mensch könne nur als „S chöpfer “ - aufklärerisch aufgefasst als „Selbsturheber seines Zustandes“ - und nicht als „G e s chöpf[]“ „ehrwürdig“ sein ( NA 20, 277). Diese anthropologische Würde wird sichtbar in der Würde des Ausdrucks , jener „Würde“, die Schiller der „Anmuth“ entgegenstellt. Diese ist „die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freyheit“ ( NA 20, 264), wie sie sich etwa in „willkürlichen“ Bewegungen äußert: „Grazie ist […] die Schönheit der durch Freih eit b ewe gte n G e stalt “ ( NA 20, 265). 172 Würde hingegen ist der „Ausdruck einer erhabenen Gesinnung“ ( NA 20, 289), das äußere Signum der Fähigkeit des menschlichen Willens, die „Triebe durch die moralische Kraft“ zu beherrschen ( NA 20, 294). 173 In der Würde triumphiert der Mensch über die sinnlichen Affekte: „Anmuth liegt also in der Freyh eit d er willkührlich e n B ewe gung e n; Würde in der B e h errs chung d er unwillkührlich e n “ ( NA 20, 297). Die Würde des Ausdrucks definiert Schiller zudem als „R uh e im L eid e n “ ( NA 20, 296), die die Überlegenheit der vernünftig-sittlichen Natur des Menschen widerspiegelt. 174 Anthropologische Würde und Würde des Ausdrucks sind moralisch wertfrei. Bewirkt nun aber der freie Wille ein sittliches Verhalten, so garantiert er die moralische Würde des Menschen, eine Art „Steigerung“ 175 der anthropologischen Würde: „Schon der bloße Wille erhebt den Menschen über die Thierheit; der 172 Die Begriffe Grazie und Anmut sind für Schiller offenbar quasi synonym. - Die Anmut ist bei Schiller auch eine moralische Kategorie. Vgl. die kritische Lektüre von Thyen, Pflicht zwischen Anmut und Würde, hier v. a. S. 29. Vgl. ebenso Diana Schilling, Art. Über Anmut und Würde (1793), in: Schiller-Handbuch (hg. v. M. Luserke-Jaqui; wie Anm. 148), S. 388-398; Fred Lönker, Ästhetik und Moral. Über Anmut und Würde , in: Schiller. Werk - Interpretationen, hg. v. G. Sasse, Heidelberg 2005, S. 199-219; Zelle, Die doppelte Ästhetik, S. 163-170. 173 Vgl. NA 20, 294: „Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist G eiste sfreih eit, und Würd e heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung.“ Ebert bemerkt zu Recht, dass das Adjektiv „moralisch“ hier einfach die geistige Freiheit des vernünftigen Wesens Mensch meint (Schiller und die Menschenwürde, S. 135 mit Anm. 15). 174 Diese Würdevorstellung orientiert sich an Winckelmann und an der Laokoon-Gruppe. Zu Schillers Verhältnis zur bildenden Kunst und seiner Anlehnung an Winckelmann vgl. Helmut Pfotenhauer, Würdige Anmut. Schillers ästhetische Verlegenheiten und philosophische Emphasen im Kontext bildender Kunst, in: Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik, Tübingen 1991, S. 157-178. - Zum problematischen begrifflichen Verhältnis von Anmut und Würde vgl. Zelle, Die doppelte Ästhetik, S. 169-170; Pugh, Dialectic of Love, S. 276-282; Brittnacher, Art. Über Anmut und Würde, S. 645-647. 175 Ebert, Schiller und die Menschenwürde, S. 137. Ebert weist allerdings darauf hin, dass Schiller, obwohl er die moralische Neutralität seines anthropologischen Würdebegriffs an mehreren Stellen betont, den „unmoralischen (oder was hier bei ihm das Gleiche heißt, unvernünftigen) Gebrauch des freien Willens als ‚unwürdig‘ bezeichnet“ (ebd., S. 136 mit Hinweis auf NA 20, 291-292). 112 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) moralis ch e erhebt ihn zur Gottheit“ (NA 20, 290). Eine „Anlage zum Sittlichen“ ( Ueber naive und sentimentale Dichtung ; NA 20, 415) besitzt jeder Mensch - nur muss dieses Potential auch aktiviert werden. Indem Schiller diese Würde an sittliches Handeln knüpft, nähert er sich Kants Würdebegriff an. 176 Die erhabene Würde ist eine genuin dramenpoetische Kategorie, die dramenpoetische Anwendung der anthropologischen Würde und der Würde des Ausdrucks. Im Konzept des Pathetisch-Erhabenen konkretisiert Schiller seine Vorstellung der negativen Darstellung erhabener Freiheit als Zweck der Tragödie. 177 Die dramatische Darstellung großer physischer Bedrohung und überwältigenden Leids dient dazu, die Fähigkeit moralischen Widerstands der übersinnlichen Natur des Menschen zu demonstrieren und so dem Rezipienten die Spielräume des freien Willens und der freien Handlungsmacht in Extremsituationen aufzuzeigen - meist effektvoll inszeniert in einem Monolog des Helden. 178 „[A]lles Erhabene stammt nur aus der Vernunft“ ( Ueber das Pathetische ; NA 20, 201) - die erhabene Würde resultiert aus dem Widerstand des „eindrucksvoll starken und freien Wille[ns]“, der „moralischen oder Vernunftkräfte“ gegen die „sinnliche Natur des Menschen“, 179 wenn der Mensch seine „moralische Selbstständigkeit“ ( NA 20, 205) beweist. Um die Überlegenheit des freien Willens gegenüber der Sinnlichkeit vorzuführen, sind sogar Figuren, die willentlich unsittlich handeln, ästhetisch (nicht: moralisch) gerechtfertigt und können ästhetisch (nicht: moralisch) gefallen - solange sie geeignet sind, die (in diesem Fall ausschließlich ästhetisch gültige) erhabene Würde des Menschen zu illustrieren. 180 Der Unterschied zwischen der anthropologischen und der erhabenen Würde ist, wie Ebert bemerkt, jener „zwischen Potentialität und Aktualität“ 181 - man könnte ergänzen: zwischen Potentialität und dramatisch-fiktional vermittelter Aktualität. Die gesellschaftliche Würde und die an den antiken dignitas -Begriff erinnernden Würden sind rein kontingente Formen der Würde. Sie bezeichnen das ge- 176 Vgl. ebd., S. 137 sowie oben, S. 74 - 75. - Schillers Rede von der „Gottheit“ ist metaphorisch zu verstehen; tatsächlich zielt er nicht auf eine Erhebung des Menschen über das Menschliche hinaus. Vgl. dazu Heinz, „Die Harmonie des Menschen mit der Gottheit“, S. 36. 177 Vgl. Zelle, Art. Vom Erhabenen / Über das Pathetische , S. 402-403 und ders., Die doppelte Ästhetik, S. 168; vgl. ebenso Schings, Der mitleidigste Mensch, S. 49-57; Alt, Schiller, Bd. 2, S. 92-99; Nikolas Immer, Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie, Heidelberg 2008, zusammenfassend S. 435-436. 178 Vgl. hierzu Zelle, Art. Vom Erhabenen / Über das Pathetische , S. 403. - Vgl. auch Immer, Der inszenierte Held, S. 441. 179 Ebert, Schiller und die Menschenwürde, S. 138 bzw. 139. 180 Vgl. NA 20, 220 und dazu Zelle, Art. Vom Erhabenen / Über das Pathetische , S. 404-405. Eberts Beispiele sind die Figuren Karl Moor und Fiesko (Schiller und die Menschenwürde, S. 138-139). 181 Ebd., S. 140. II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller 113 sellschaftliche Ansehen eines Menschen, seine Stellung, sein Verhalten, seine Ehre - und können daher, wie in der Erzählung vom Sonnenwirt Christian Wolf, eingebüßt werden. 182 Der Verlust gesellschaftlicher Würde tangiert jedoch nicht die Subjektwürde des einzelnen Menschen. Wird der Mensch nicht als Selbstzweck betrachtet, so Schiller in seiner historischen Abhandlung Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon , werden die „Grundveste des Naturrechts und der Sittlichkeit“ ( NA 17, 425) zerstört. 183 An diesem Punkt berührt Schiller am unmittelbarsten Kants Würdebegriff: Nicht nur nimmt er die Selbstzweckformel auf, 184 sondern auch die Vorstellung der Würde als eines absoluten, unbedingt zu achtenden Werts des Individuums. Die Subjektwürde erhält als politische Würde eine dezidiert staatstheoretisch-politische Akzentuierung. Den Staat definiert Schiller lediglich als „Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann“, und dieser Zweck ist „die Ausbildung aller Kräfte des Menschen“ ( NA 17, 423). Wenn also der Marquis von Posa von König Philipp „Gedankenfreyheit“ fordert und dass der Bürger „der Krone Zweck“ sei, der „seiner Brüder gleich ehrwürdʼge Rechte“ genieße ( NA 5, 191 bzw. 193), dann leitet Schiller aus der Menschenwürde des Einzelnen politische und Freiheitsrechte ab. 185 182 Vgl. ebd., S. 141 und S. 145-147. Wohl aus argumentativen Gründen trennt Ebert die „gesellschaftliche Würde“ von den „Würden“; da sich beide Begriffe aber auf soziale, kontingente Formen der Würde beziehen, wurden sie hier zusammengefasst. Die „Würden“ begegnen prominent im so betitelten Epigramm (NA 2 / I, 319). Im zehnten Brief der Ästhetischen Erziehung spricht Schiller von der „Würde des Betragens“ (NA 20, 337); auch sie ist eine äußerliche, den hier genannten Würdeformen ähnlich. 183 Vgl. auch Ebert, Schiller und die Menschenwürde, S. 141-142. - Zu dieser Schrift im Kontext der zeitgenössischen Republikanismusdiskussion sowie Schillers Ästhetischer Erziehung vgl. Alexander Schmidt, Athen oder Sparta? Friedrich Schiller und der Republikanismus, in: Der ganze Schiller (wie S. 42, Anm. 99), S. 103-130 sowie Yvonne Nilges, Schiller und das Recht, Göttingen 2012, S. 115-133. - Zu den intertextuellen Verweisen auf Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon in den Flugblättern der Weißen Rose vgl. unten, Kap. B.VII.1.5. 184 Vgl. ebenso Ebert, Schiller und die Menschenwürde, S. 141 mit Anm. 28. 185 Vgl. ebd., S. 142-145. Ebert weist zu Recht auf die Modernität Schillers hin: Schiller verknüpfe im Don Karlos die „Freiheitsrechte des Bürgers ausdrücklich mit dessen Würde“, während diese Verbindung in den zeitgenössischen amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen fehle. Erst im 20. Jh. wird die Ableitung bestimmter Menschen- und Bürgerrechte aus der Menschenwürde explizit vorgenommen. - Noch in den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen heißt Schiller das Motiv der Revolution - dass der Mensch „mit nachdrücklicher Stimmenmehrheit […] die Wiederherstellung in seine unverlierbaren Rechte“ fordert (5. Brief; NA 20, 319) - gut, äußert aber seine Bestürzung über ihren Verlauf. - In seinem Gedicht Die unüberwindliche Flotte über den Untergang der spanischen Armada bezeichnet Schiller Großbritannien als „der Freiheit Paradies / der Menschenwürde starker Schirm“ (NA 1, 174). Offensichtlich spielt er damit auf die Magna Charta, die vor allem im Kontext der amerikanischen Verfassung 114 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) In seiner theoretischen Hauptschrift, den nach dem desillusionierenden Verlauf der Revolution entstandenen Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen , vollzieht Schiller einen radikalen Perspektivwechsel. Er knüpft nun nicht mehr politische Forderungen an die Menschenwürde; Ziel seines Erziehungsprogramms ist vielmehr, die verlorene Würde durch die Ästhetik, in der ästhetischen Erfahrung zu restituieren. Die ästhetische Würde 186 ist demnach die angestrebte Überwindung des diagnostizierten Totalitätsverlusts mit dem Ziel „wahre[r] politische[r] Freyheit“ ( NA 20, 311). 187 Die Ästhetik ist dabei zwar nicht unbedingt ein Ersatz für die historische Wirklichkeit, aber doch ein notwendiger Umweg (2. Brief; vgl. NA 20, 312). Um den Extremen menschlicher Entzweiung, den exzessiv sinnlich getriebenen „Wilde[n]“ und den exzessiv von reinen Vernunftgesetzen geleiteten „Barbar[en]“ (4. Brief; NA 20, 318) gleichermaßen entgegenzuwirken, will Schiller das menschliche „Empfindungsvermögen[]“ ausbilden (8. Brief; NA 20, 332) - durch die „schöne Kultur“, die „zugleich anspannen und auflösen“ (10. Brief; NA 20, 336) soll. Um die beiden menschlichen Pole zu harmonisieren und in ein reziprokes, sich gegenseitig befruchtendes Verhältnis zu bringen, postuliert Schiller einen „mittlere n Zustand “ bzw. eine „mittlere Stimmung“ (18. bzw. 20. Brief; NA 20, 366 bzw. 375). 188 Der vermittelnde Spieltrieb hebt den Antagonismus zwischen sinnlichem Stoffwieder an Bedeutung gewann, aber auch die philosophische Tradition (Liberalismus, Staatstheorie) an. 186 Der Begriff der ästhetischen Würde wird hier mit Ebert und gewissermaßen gegen Schiller selbst verwendet. Schiller benutzt tatsächlich an einigen Stellen die Formulierung „ästhetische Würde“, meint damit aber vornehmlich den außerordentlichen Wert der Kunst und die daraus abgeleiteten Ansprüche an Kunstwerke, Darstellungsarten, Stoffe u. Ä. (vgl. NA 20, 246, 461, 464). Schwieriger ist eine Stelle in der Rezension Über Matthissons Gedichte : Durch einen „symbolischen Akt[]“ gelänge es der Musik, die „innern Bewegungen des Gemüts durch analogische äußere zu begleiten und zu versinnlichen“. Auf diese Weise könnten „die gemeinen Naturphänomene des Schalles und des Lichts von der ästhetischen Würde der Menschennatur partizipieren“ (NA 22, 272). Hier spricht Schiller dem Menschen also einen besonderen Wert als Quelle und Ziel künstlerischer Produktion zu. 187 Auch Ebert spricht von der Diagnose als „Ausgangspunkt“ der ästhetischen Erziehung (Schiller und die Menschenwürde, S. 147). - Vgl. auch Schillers Idealvorstellung am Ende des vierten Briefes: „Totalität des Charakters muß also bey dem Volke gefunden werden, welches fähig und würdig seyn soll, den Staat der Noth mit dem Staat der Freyheit zu vertauschen“ (NA 20, 318; m. H.). 188 Bereits in seiner Schaubühnen-Rede spricht Schiller von einem „mittleren Zustand“, der die beiden Pole der menschlichen Natur „zu sanfter Harmonie herabstimmte“ (NA 20, 90). In der Rezension Über Bürgers Gedichte fordert er, dass der Dichter den Rezipienten in eine „wohltätige harmonische Stimmung“ versetze (NA 22, 256). - Zur Dichotomie Wilder - Barbar vgl. Sebastian Kaufmann, „Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freie Lust ihm entlockt? “ Völkerkundliche Anthropologie und ästhetische Theorie in Kants Kritik der Urteilskraft und Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Men- II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller 115 trieb und Formtrieb (vgl. 12.-15. Brief; NA 20, 344-360), zwischen Neigung und moralischem Pflichtgefühl (vgl. 12. Brief; NA 20, 346), zwischen Sinnlichkeit und Vernunft (vgl. 20. Brief; NA 20, 375) zumindest zeitweise auf. Nur im Spiel, d. h. im freien ästhetischen Erlebnis, das dem Menschen die Schönheit „in weitester Bedeutung“ (NA 20, 355) zugänglich macht und „seine doppelte Natur auf einmal entfaltet“ ( NA 20, 358), ist er „g anz Me n s ch “ ( NA 20, 359). 189 Diese Vereinigung der Gegensätze konzeptualisiert Schiller als Vollendung des „Begriff[s] der Menschheit“ (15. Brief; NA 20, 356), als Annäherung an die „Id e e s ein er [i. e. des Menschen] Me n s chh eit “ (14. Brief; NA 20, 353). Die ästhetische Kultur vermag, dieses menschliche Potential zu aktivieren, mithin den Menschen in die Lage zu versetzen, seine - durchaus normativ gedachte - Würde wiederzuerlangen: Durch die ästhetische Kultur bleibt also der persönliche Werth eines Menschen, oder seine Würde, insofern diese nur von ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm nunmehr, von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will - daß ihm die Freyheit, zu seyn, was er seyn soll , vollkommen zurückgegeben ist. (21. Brief; NA 20, 377-378; m. H.) 190 Die ästhetische Würde ist die Fähigkeit zur vollkommen freien Selbstbestimmung des mit sich versöhnten, ‚totalen‘ Menschen. 191 Schillers Projekt der ässchen , in: Der ganze Mensch - die ganze Menschheit (wie Anm. 30), S. 183-211, hier bes. 200-211. 189 Vgl. Hinderer, Utopische Momente, S. 175-176 und 184-185. Zum Begriff des Spiels vgl. Meier, Konzepte ästhetischer Erziehung, S. 210-219. - Meier weist darauf hin, dass bei Schiller die Schönheit jene Funktion einnimmt, die bei Descartes Gott zukam, nämlich die „Verbindung der beiden Substanzen“ zu garantieren. Meier spricht daher von einer „Metaphysik ohne Gott“ und vom „Ästhetische[n] als eine[r] Art Ersatzreligion“, die auf Hölderlin und die Frühromantik vorausweise (ebd., S. 196). 190 Vgl. auch NA 20, 378: Das „Vermögen“, welches dem Menschen „in der ästhetischen Stimmung zurückgegeben wird“, ist laut Schiller „die höchste aller Schenkungen“, nämlich die „Schenkung der Menschheit“. Deshalb gilt weiterhin: „Es ist also nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweyte Schöpferin nennt. Denn ob sie uns gleich die Menschheit bloß möglich macht, und es im übrigen unserm freyen Willen anheim stellt, in wie weit wir sie wirklich machen wollen, so hat sie dieses ja mit unsrer ursprünglichen Schöpferin, der Natur gemein, die uns gleichfalls nichts weiter, als das Vermögen zur Menschheit ertheilte, den Gebrauch desselben aber auf unsere eigene Willensbestimmung ankommen läßt.“ 191 Für eine kritische Deutung der Vorstellung einer harmonischen Versöhnung von körperlicher Sinnlichkeit und geistiger Vernunft (in Bezug auf Ueber Anmuth und Würde ) sowie des Begriffs der architektonischen Schönheit vgl. Torsten Hoffmann, Versöhnt und vernichtet. Schillers moderne Theorie der Körperbemächtigung durch die Vernunft in Über Anmut und Würde , in: Euphorion 13 (2009), S. 449-484, hier bes. S. 465: „Der Einfluss der Vernunft wird in Schillers vermeintlich harmonischer Anthropologie im Vergleich zu Kant […] erweitert statt beschränkt, die offene Unterdrückung durch eine ‚Versöhnung‘ 116 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) thetischen Erziehung wird so zum Garanten von Freiheit und Menschenwürde, zunächst in anthropologischer, ultimativ jedoch auch in politischer Hinsicht, soll der ästhetische Mensch doch Bürger des ästhetischen Staats werden, eines Staats der Freiheit, in dem sich der „Wille[] des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht“ (27. Brief; NA 20, 410). 192 Die letzte Facette der Würde, die Ebert in seiner Analyse nennt, zielt auf ihre leiblichen Bedingungen und zeigt den Idealisten und Ästhetiker Schiller als pragmatischen Realisten, ja Materialisten. 193 In Würde des Menschen , einem Distichon von bemerkenswerter Lakonik, ‚erdet‘ er seine komplexen theoretischen Ausführungen - und zwar 1796, also nach Fertigstellung der Ästhetischen Erziehung : „Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, / Habt ihr die Blöße bedeckt, giebt sich die Würde von selbst“ ( NA 1, 278). 194 Rezeptionsgeschichtlich wird diese Dimension des Schillerschen Würdebegriffs jedoch eindeutig von anderen überlagert. 195 * genannte subtilere Form der Unterdrückung ersetzt.“ Das Verhältnis zwischen Vernunft und Sinnlichkeit sei nur „oberflächlich harmonisch[]“ (ebd., S. 470); vielmehr verdecke Schiller bloß rhetorisch geschickt den unangetasteten Primat der Vernunft. 192 Vgl. dazu auch Borchmeyer, Weimarer Klassik, S. 286-298, der von der „[ä]sthetischen Erziehung als politische[r] Propädeutik“ spricht. 193 Als „Exponenten des Deutschen Idealismus“, zugleich auch als „einen, zwar exzeptionellen, Exponenten der zeitgenössischen Anthropologie […], und das heißt, im Blick auf den Menschen, seine Natur und seine Möglichkeiten, einen Realisten “ sieht Wolfgang Riedel Schiller (Die anthropologische Wende: Schillers Modernität, in: Friedrich Schiller. Die Realität des Idealisten, hg. v. H. Feger, Heidelberg 2006, S. 35-60, hier S. 40-41; Herv. i. O.). 194 Vgl. Ebert, Schiller und die Menschenwürde, S. 150-151. - Vgl. auch den ähnlichen Befund Schillers im Brief an den Augustenburger vom 11. November 1793 (NA 26, 299): „Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und sich satt gegeßen hat, aber er muß warm wohnen, und satt zu essen haben, wenn sich die beßre Natur in ihm regen soll.“ 195 Ausgeklammert wurde in der bisherigen Darstellung eine nicht unproblematische Verwendung des Wortes „Würde“, die eng an eine durchaus prominente Facette des Schillerschen Denkens geknüpft ist. Gemeint sind Gedichte wie Würde der Frauen (NA 1, 240-243 bzw. 2 I, 205-206) und Männerwürde (NA 2 I, 144-146 und NA 1, 96-99, dort unter dem früheren Titel Kastraten und Männer ). Dazu nur einige thesenhafte Feststellungen: (1) Seine grundlegende begriffliche Unterscheidung zwischen Anmut und Würde kombiniert Schiller an etlichen Stellen mit einer Geschlechtertypologie - die Anmut (Grazie, Schönheit, Seele, Harmonie, Gefühl etc.) ist weiblich, die Würde (Vernunft, Erhabenheit, Gesetz, Kraft, Kampf etc.) männlich konzeptualisiert. So heißt es etwa in Macht des Weibes : „Kraft erwartʼ ich vom Mann, des Gesetzes Würde behauptʼ er, / Aber durch Anmuth allein herrschet und herrsche das Weib“ (NA 1, 286). (2) Vor dem Hintergrund des Menschenwürdebegriffs, der ja bei Schiller durchaus auch auf Freiheit, Gleichheit, Selbstermächtigung und Selbstbestimmung zielt, wirken Gedichte wie Würde der Frauen und Männerwürde mit ihren Klischees, bürgerlich-antiquierten Rollenbildern und Zuschreibungen befremdlich. Wenn von der „Würde“ der Frauen die Rede ist, ist dies - II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller 117 Grundsätzlich - und darin ist Schiller voll und ganz ein Sohn des 18. Jahrhunderts 196 - ist die Menschenwürde auf zwei Arten bestimmt. Sie ist einerseits naturrechtlich grundierte Eigenschaft des Menschen als potentiell vernünftigem Nicht-Tier, die ihm Rechte und Achtung garantiert. Andererseits aber ist sie auch bei Schiller noch ein anthropologisches Ideal, und als eben solches wird sie zu einer ästhetischen Grundkategorie, die sich wiederum durch einen doppelten Impetus, eine grundlegende begriffliche Ambivalenz kennzeichnet: die erhabene Würde auf der einen, die ästhetische Würde auf der anderen Seite. Jene bezieht sich einseitig auf den vernünftig-sittlichen Menschen und seine freie, selbstbestimmte, natürliche Affekte negierende Handlungsmacht. Wenn Schiller das Wort „Würde“ benutzt, meint er überwiegend diese erhabene Würde. Die ästhetische Würde jedoch ist genau jenes Ideal, das Schillers Diagnosen der menschlichen Würdelosigkeit zugrunde liegt; der ‚verlorenen Würde‘ entspricht die ästhetische Totalität des Menschen. Welches ist demnach das Verhältnis zwischen erhabener und ästhetischer Würde? Wenn Schiller im 23. der Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen als Ziel der ästhetischen Kultur eine Menschheitsstufe vorschwebt, auf der der Mensch gelernt hat, „e dler [zu] begehren, damit er nicht nöthig habe, erha b e n zu wolle n “ ( NA 20, 388), dann erscheint die erhabene Würde als ein nur vorläufig notwendiges Konzept, das irgendwann obsolet werden soll - nämlich dann, wenn der Mensch aus freien Stücken und ohne Willensanstrengung stets moralisch handelt. Diese Vorstellung nähert sich der „schönen Seele“ an, die Schiller in Ueber Anmuth und Würde als „das Siegel der vollendeten Menschheit“ bezeichnet, da in ihr „Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmoniren“ ( NA 20, 287-288). 197 Diese „reifste Frucht [der] Humanität“ kennzeichnet er jedoch ausdrücklich als „bloß eine Idee“, nach der der Mensch zwar „mit anhaltender zumindest im Rahmen des genannten Gedichtes - keineswegs ein emanzipatorischer Begriff; vielmehr schreibt das Gedicht stereotype Geschlechterrollen fest. (3) Zu Schillers Verteidigung muss man vorbringen, dass die übergeordnete Folie solcher Begriffe die Vorstellung einer gegenseitigen Ergänzung, einer Komplementarität von ‚weiblichen‘ und ‚männlichen‘ Theoremen ist; sie finden, bei aller plakativen und eindimensionalen Ausführung, ihre konzeptionelle Entsprechung in den oben vorgestellten Kategorien der ästhetischen und erhabenen Würde. - Zu dieser Problematik vgl. etwa Helmut Brandt, Angriff auf den schwächsten Punkt: Friedrich Schlegels Kritik an Schillers Würde der Frauen , in: Aurora 53 (1993), S. 108-125; Hofmann, Die Wege der Humanität; für Hofmann ist die „Unterdrückung des Weiblichen“ eine der „Aporien der Humanität“, die er in der Jungfrau von Orleans überwunden sieht. 196 Zu Schillers Verhältnis zur Aufklärung vgl. Hans-Jürgen Schings, Schiller und die Aufklärung, in: Friedrich Schiller (wie Anm. 193), S. 13-34 und Volker C. Dörr, Friedrich Schiller und die Aufklärung, in: Aufklärung (wie S. 55, Anm. 20), S. 229-246. 197 Zum Begriff der schönen Seele vgl. Schilling, Art. Über Anmut und Würde , S. 394-395. - Bezugsgröße ist das im 18. Jh. einflussreiche Ideal der Kalokagathie. Zum Einfluss Wie- 118 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) Wachsamkeit streben“ soll, die er aber explizit „bey aller Anstrengung nie ganz erreichen kann“ ( NA 20, 289). 198 Im 24. Brief der Ästhetischen Erziehung variiert Schiller diesen Gedanken sowohl logisch als auch begrifflich, ohne jedoch das Verhältnis von erhabener und ästhetischer Würde grundlegend zu revidieren: Es ist dem Menschen einmal eigen, das Höchste und das Niedrigste in seiner Natur zu vereinigen, und wenn seine Würde auf einer strengen Unterscheidung des einen von dem andern beruht, so beruht auf einer geschickten Aufhebung dieses Unterschieds seine Glückseligkeit. Die Kultur, welche seine Würde mit seiner Glückseligkeit in Uebereinstimmung bringen soll, wird also für die höchste Reinheit jener beyden Principien in ihrer innigsten Vermischung zu sorgen haben. ( NA 20, 392) Schiller umreißt noch einmal die zwei Optionen, mit denen er das Verhältnis der beiden Naturen des Menschen konzeptualisiert: Das, was Schiller hier „Würde“ nennt - und was in der vorangegangen Analyse als erhabene Würde bezeichnet wurde -, meint den absoluten Primat des „Höchste[n]“, der vernünftigen Natur. Die Harmonie, der Ausgleich der Doppelnatur - die ästhetische Würde - figuriert hier (bezeichnenderweise in typisch aufklärerischer Terminologie) als „Glückseligkeit“. Das anvisierte Telos der Menschheitsgeschichte, das Schiller an dieser Stelle keineswegs als per se unerreichbares Ideal beschreibt, sondern indikativisch formuliert, ist hier aber nicht die Ablösung der erhabenen durch die ästhetische Würde, sondern deren Zusammenführung - auch wenn Schiller keine nähere Bestimmung dieser Zusammenführung liefert. 199 Gleichwohl bleibt die Aussage des vierten Briefes, dass jeder Mensch „einen reinen idealischen“ - oder: einen würdigen - „Menschen in sich“ trage ( NA 20, 316), gültig; Aufgabe der Kunst ist es, diesen hervorzubringen. lands auf Schillers ästhetische Theorie und die Vorstellung der schönen Seele vgl. Hinderer, Von der Idee des Menschen, S. 41-75, hier bes. S. 69. 198 So wie die antike griechische Kunst für Schiller vorbildlich ist, sieht er auch sein Menschheitsideal in der griechischen Skulptur, genauer in der Statue der Juno Ludovisi, die er sowohl in Ueber Anmuth und Würde als auch in den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung beschreibt, repräsentiert. Vgl. dazu z. B. Meier, Konzepte ästhetischer Erziehung, S. 217-218. Nicht unproblematisch ist jedoch, dass Schiller gerade ein „Götterbild zum Ideal seiner […] Kunstauffassung erklärt“. 199 Vgl. ähnlich Heinz, „Die Harmonie des Menschen mit der Gottheit“, S. 35. - Auf ähnlich unklare und letztlich widersprüchliche Weise versucht Schiller auch Anmut und Würde zusammenzuführen (vgl. etwa NA 20, 294). Vgl. dazu etwa Zelle, Die doppelte Ästhetik, S. 169-170. - In den Nachschriften zu Schillers Ästhetikvorlesungen aus dem Winter 1792 / 93 findet sich noch eine andere Akzentuierung, die die (erhabene) Würde eindeutig über die Glückseligkeit stellt: „Glückseligkeit zu suchen, ist nicht der höchste Zweck des Menschen. […] Alles kommt hierbei an auf den Begriff von der Würd e d e s Me n s ch e n, welche auf der Selbstthätigkeit seiner Vernunft, auf seiner Freiheit von sinnlichen Antrieben beruht“ (NA 21, 67). II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller 119 Zusammengefasst und auf die Frage nach der Menschenwürde zugespitzt hieße das: Die ästhetische Würde bleibt tendenziell eine utopische Kategorie, die die eminente gesellschaftliche Stellung und politische Bedeutung der Kunst und des Dichters 200 legitimiert. In der literarischen Praxis bleibt jedoch die erhabene Würde die entscheidendere Kategorie, die mit einer klaren (dramen)poetischen Wirkabsicht verbunden ist. 201 * Schillers Betonung der ästhetischen Würde des Menschen sowie der erhabenen Würde und ihrer ästhetischen Implikationen birgt die Gefahr einer idealistischen Verkürzung des Menschenwürdebegriffs, die vom Individuum, seinem sozialen Kontext und seiner sozialen Bedingtheit zugunsten des normativen Ideals abstrahiert. 202 Obwohl Schiller die Menschenwürde durchaus auch als inhärente 200 Nach Pugh, Dialectic of Love, S. 235 ist „the trend underlying Schillerʼs thought“ gar die „redefinition of the dignity of man as the dignity of the artist“. Pugh weist (ebd., S. 236) auf einen Brief Schillers an Goethe hin, in dem er in Bezug auf Wilhelm Meisters Lehrjahre die synthetisierende Kraft der Dichtkunst preist und den „Dichter“ als den „einzig wahre[n] Mensch[en]“ bezeichnet (7. Januar 1795; NA 27, 116). - Vgl. auch Wilhelm von Humboldts Kommentar (in Bezug auf Ueber Anmuth und Würde und die Ästhetische Erziehung ): „Kunst und Dichtung waren unmittelbar an das Edelste im Menschen geknüpft, dargestellt als dasjenige, woran er erst zum Bewusstseyn der ihm innewohnenden, über die Endlichkeit hinaus strebenden Natur erwacht. So waren beide auf die Höhe gestellt, welcher sie wirklich entstammen“ (Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung, in: Werke in fünf Bänden, hg. v. A. Flitner u. K. Giel, Bd. 2, Darmstadt 1961, S. 357-394, hier S. 368). - Robert hebt das resignative Moment des Schlusses der Ästhetischen Erziehung hervor, das sich darin zeige, „dass in ganz skandalöser Weise unklar bleibt, wer eigentlich die ästhetische Erziehung und mit welchen Mitteln bewerkstelligen soll“ (Vor der Klassik, S. 418; Herv. i. O.). 201 Vgl. ähnlich Zelle, Die doppelte Ästhetik, S. 155: „Das Erhabene bleibt daher für Schiller gegenüber dem Schönen ultima ratio und Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat.“ Vgl. auch ebd., S. 168. - In seiner dramenpoetischen Schrift Ueber das Erhabene formuliert Schiller dies prägnant und kategorisch: „Ohne das Erhabene würde uns die Schönheit unserer Würde vergessen machen“ (NA 21, 53). Eine etwas andere Nuancierung, letztlich aber denselben Grundtenor hat das Distichon Die moralische Kraft : „Kannst du nicht schön empfinden, dir bleibt doch vernünftig zu wollen, / Und als ein Geist zu thun, was du als Mensch nicht vermagst“ (NA 1, 292). 202 Dazu mag beitragen, dass Schiller den Begriff der Würde häufig in Verbindung mit den Bereichen der Kunst und der Ästhetik benutzt - möglicherweise auch, weil er gerade auf der Autonomie der Kunst und der ästhetischen Erfahrung beharrt. So spricht er u. a. von der „Würde dieser Unternehmung [i. e. der Ästhetischen Erziehung ; MG]“ (1. Brief; NA 20, 309), von der „Würde der Schönheit“ (15. Brief; NA 20, 357), von der Würde der Einbildungskraft (vgl. 26. Brief; NA 20, 404) und des Dichters (vgl. 9. Brief; NA 20, 334), außerdem von der „Würde der Dichtkunst“ und von „poetische[r] Würde“ ( Ueber naive und sentimentalische Dichtung ; NA 20, 444 und 450), schließlich von der Würde der Kunst (Schaubühnen-Rede; NA 20, 89 und Über Bürgers Gedichte ; NA 22, 248) und der „würdige[n] Bestimmung“ der Dichtkunst, speziell der lyrischen ( Über Bürgers Gedichte ; NA 22, 245). - Schiller will - wie Moritz - mit seinen ästhetischen Beiträgen keine konkreten, 120 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) Qualität denkt, besteht das Risiko, dass sie nur noch als Ideal, als menschliche Potentialität, als Auftrag erscheint, in demselben Maße, in dem Kunst zu einer eskapistischen, elitären, auf jeden Anspruch auf realgesellschaftliche Relevanz verzichtenden Ersatzwelt zu werden droht. 203 Genau diese Vorstellung - Würde als rein ästhetisches Ideal 204 - und ihre bildungsbürgerliche Aneignung werden zur Angriffsfläche für radikal antiklassische literarische Gegenentwürfe, u. a. bei Büchner, Kleist, den Naturalisten und Expressionisten. II.7. Ausblick: Die Menschenwürde bei Goethe Dem Lexem ‚(Menschen-)Würde‘ kommt bei Goethe nicht der zentrale gedanklich-programmatische Stellenwert zu, den es in Schillers Werk einnimmt. 205 Dabei sind jene Fragen, die Schillers Auseinandersetzung mit der Würde fundieren, natürlich auch Goethes Themen: die persönliche Autonomie des Menschen, Konflikte von Rationalität und Gefühl, von Sollen und Wollen, die Bedingungen ‚handwerklichen‘, strukturellen Aussagen zur Produktion von Kunstwerken treffen; vielmehr stehen Wesen, Status, Funktion und Wirkmöglichkeiten der Kunst per se im Fokus. Vgl. Borchmeyer, Weimarer Klassik, S. 286. Klar ist allerdings, dass Schiller gegenüber Stoff und Inhalt der Form absoluten Vorrang einräumt (vgl. 22. Brief; NA 20, 382 und dazu Alt, Schiller, Bd. 2, S. 143). 203 Vgl. hierzu etwa Scheible, Wahrheit und Subjekt, S. 189, der von einer „Enteignung des Subjekts“ durch Schillers „elitären Ästhetizismus“ spricht und konstatiert: „Schiller vollzieht die Preisgabe des Erkenntnisanspruchs der Kunst.“ Meier spricht in Bezug auf die von Schiller gegen Ende der Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen eingeführte Kategorie des Scheins von einer „Parallelwelt, die nicht nur der Flucht aus der Wirklichkeit, sondern letztlich sogar zu deren Legitimation dient“ (Konzepte ästhetischer Erziehung, S. 238; vgl. auch ebd., S. 238-247). - Zur Rezeption und Bewertung der Briefe vgl. etwa die Ausgabe von Matuschek, hier S. 223-239. Zu den Forschungskontroversen der vergangenen Jahrzehnte vgl. ebd., S. 240-248. Matuschek weist darauf hin, dass jener Deutungsansatz, der die Kunst kritisch als bloße Kompensation sozialer Realitäten sieht und Schiller den Vorwurf des elitären Eskapismus macht, in letzter Zeit von Arbeiten abgelöst wurde, die „eine durchaus praktisch handlungsorientierte und keineswegs utopische Perspektive auf Politik“ eröffnen (ebd., S. 246). 204 Vgl. dazu ähnlich ebd., S. 241. - Vgl. auch Adornos Kritik an der „sich ausbreitende[n] Herrschaft des von Kant inaugurierten, konsequent erst von Schiller und Hegel in die Ästhetik transplantierten Begriffs von Freiheit und Menschenwürde, demzufolge nichts in der Welt zu achten sei, als was das autonome Subjekt sich selbst verdankt. […] Nicht sind die Menschen mit Würde positiv ausstaffiert, sondern sie wäre einzig, was sie noch nicht sind“ (Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. G. Adorno u. R. Tiedemann, Frankfurt / M. 1980, S. 98-99). 205 Das Goethe-Wörterbuch nennt nur zwei Belege für das Kompositum. Vgl. Goethe-Wörterbuch, hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart 1978 ff., hier Bd. 6, Sp. 82. II.7. Die Menschenwürde bei Goethe 121 der Möglichkeit freier Sittlichkeit, die Stellung des Subjekts und sein Verhältnis zur Natur usw. - nur fokussiert Goethe diese nicht wie Schiller auf den Begriff der Menschenwürde. Auch die Goethe-Philologie hat ihre Analysen meist auf andere Termini zugespitzt: Humanität, Bildung, Geselligkeit, Entsagung. 206 Besonders die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten , teilweise parallel zu Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen in den Horen publiziert, wurden als „Gegenentwurf “ gelesen, 207 der statt geschichtsphilosophisch perspektivierter Erziehung durch die Kunst das Ideal individueller Bildung, auch des Dichters, propagiert, gleichsam eine Pragmatisierung und Konkretisierung des Schillerschen Projekts, seiner Sicht auf Rolle und Einflussmöglichkeit des Künstlers - und nicht zuletzt seines Würdeideals. Goethes bereits 1783 in Das Göttliche formulierter Imperativ: „Edel sei der Mensch, / Hülfreich und gut! “ ist programmatisch. Die menschliche Fähigkeit zur Moralität ist zwar auch an ein Ideal gebunden, doch weiß das Gedicht genau um den ‚Ort‘ des Menschen: „Nach ewigen, ehrnen, / Großen Gesetzen / Müssen wir alle / Unseres Daseins / Kreise vollenden“, der „unfühlend[en] / […] Natur“ und dem „Glück“ ausgeliefert. Nur in diesen engen, innerweltlichen ‚Grenzen‘ kann der Mensch versuchen, ein „Vorbild / Jener geahndeten Wesen“ zu sein. 208 Wenn Adorno an Goethes Huma- 206 Vgl. hierzu einführend Hans-Jochen Gamm, Art. Bildung, in: Goethe-Handbuch, hg. v. B. Witte [u. a.], Bd. 4 / 1, Stuttgart / Weimar 2004, S. 130-131; ders., Art. Entsagung, in: ebd., S. 268-270; Hans-Dietrich Dahnke / Margarete Marthaus, Art. Geselligkeit, in: ebd., S. 372-375; Thomas Zabka, Art. Humanität, in: ebd., S. 498-501; vgl. weiterhin Art. Bildung, in: Goethe-Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 698-711, hier bes. Sp. 704-709; Art. Humanität, in: ebd., Bd. 4, Sp. 1432. - Zur Charakterisierung der Iphigenie als Humanitätsdrama vgl. z. B. Volker C. Dörr, „Ganz verteufelt human“. Bemerkungen zur Humanität beim klassischen Goethe, in: „Verteufelt human“? (wie Anm. 170), S. 101-114, hier S. 101-104 (mit den dortigen Verweisen). 207 Ulrich Gaier, Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung. Goethes Rahmen der „Unterhaltungen“ als satirische Antithese zu Schillers „Ästhetischen Briefen“ I-IX, in: Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins, hg. v. H. Bachmaier u. T. Rentsch, Stuttgart 1987, S. 207-272, hier S. 211. - Vgl. weiterhin etwa Katharina Mommsen, „Märchen des Utopien“. Goethes ‚Märchen‘ und Schillers ‚Ästhetische Briefe‘, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, Redaktionskollegium: J. Brummack [u. a.], Tübingen 1981, S. 244-257; Bernd Witte, Das Opfer der Schlange. Zur Auseinandersetzung Goethes mit Schiller in den ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘ und im ‚Märchen‘, in: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, hg. v. W. Barner, E. Lämmert u. N. Oellers, Stuttgart 1984, S. 461-484; Bernd Bräutigam, Die ästhetische Erziehung der deutschen Ausgewanderten, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 96 (1977), S. 508-539; Sigrid Bauschinger, Art. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Goethe-Handbuch (wie Anm. 206), Bd. 3, S. 232-252. 208 Goethe, Das Göttliche, in: Sämtliche Werke (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 333-335, hier V. 1-2, 31-35, 12-13, 25 bzw. 58-59. Vgl. hierzu Michael Titzmann, Vom ‚Sturm und Drang‘ zur ‚Klassik‘: Grenzen der Menschheit und Das Göttliche - Lyrik als Schnittpunkt der Diskur- 122 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) nitätsdrama Iphigenie auf Tauris mit Blick auf die Taurer bemängelt, dass „[d]ie Opfer des zivilisatorischen Prozesses, die, welche er herabdrückt und welche die Zeche der Zivilisation zu bezahlen haben, […] um deren Früchte geprellt worden [sind], gefangen im vorzivilisatorischen Zustand“, dann verweist er auf eine Diskrepanz zwischen dem Anspruch des Humanitätsideals und seiner Anwendbarkeit auf die soziohistorische Realität; 209 wenn nun Goethe, wenn auch unter anderen Vorzeichen, gegenüber Schillers ästhetischem Erziehungsprojekt ähnliche Vorbehalte hat, dass nämlich Humanität und Menschenwürde als utopische Ideale, reine Abstraktionen oder gedankliche Konstruktionen nur schwer in die Realität zu transponieren sind, entbehrt dies nicht einer gewissen Ironie. Und doch ist diese Konstellation bezeichnend und in einem doppelten Sinne entscheidend für die Bewertung der Menschenwürde in der Zeit der Weimarer Klassik. Ist sie ein ästhetisches Problem in dem Sinne, dass sie durch die Kunst und die Literatur hervorzubringen oder zu fördern ist, stellt sich die Frage nach ihrer konkreten literarischen Inszenierung - etwa durch ‚lebensechte‘ Figuren, die eben nicht nur reine Ideenträger sind wie Iphigenie. Ist Menschenwürde insofern ein ästhetisches Problem, als sie überhaupt nur in der und durch die Kunst denkbar ist, etwa weil es dem Theoretiker (Schiller, Moritz) primär um die Kunst an sich, ihren Rang und ihre Apologie geht, dann rückt die Frage nach Praktikabilität und Relevanz der Menschenwürde in der ‚Wirklichkeit‘ in den Hintergrund. Diese Aporien des klassischen Humanitäts- und Menschenwürdediskurses gewinnen vor der Folie der noch zu untersuchenden Texte Kotzebues und v. a. Büchners umso schärfere Gestalt. * Zwei Forschungsstimmen zielen pointiert auf den Begriff der Menschenwürde ab; sie nehmen die angedeuteten Aporien in den Blick und zeigen Ansätze ihrer Überwindung auf. Michael Hofmann beschreibt, wie Goethe und Schiller gegen Ende der Weimarer Klassik das „Humanitäts-Paradigma“ erneuern - indem sie den Menschenwürdebegriff ausweiten: Ein wesentliches Problem des konventionellen Humanitäts-Denkens erkennen Schiller und Goethe […] in der Unterordnung des Einzelnen unter Allgemeines, unter eine teleologisch verstandene Entwicklung der Menschheit oder unter ein objektivistisch verstandenes Ganzes der Natur. Die Würde des einzelnen Menschen wurde in der Aufse, in: M. T., Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte, hg. v. W. Lukas u. C.-M. Ort, Berlin [u. a.] 2012, S. 487-506. 209 Theodor W. Adorno, Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, in: Gesammelte Schriften, Bd. 11, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt / M. 1981, S. 495-514, hier S. 507; vgl. Thomas Zabka, Art. Goethe: Dialektik des Klassizismus, in: Adorno-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, hg. v. R. Klein [u. a.], Stuttgart / Weimar 2011, S. 175-183. klärung und in den Humanitäts-Entwürfen der frühen Weimarer Klassik als Teilhabe an dem Prozess der ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ oder in seiner Integration in ein sinnvoll geordnetes Naturganzes gesehen. 210 In ihrem Spätwerk entwickelten die Weimarer Dioskuren dagegen einen integrativen Menschenwürdebegriff, der auf vier „Aporien der ‚Humanität‘“ reagiere: die „Aporie eines ‚Despotismus der Freiheit‘“, der den einzelnen Menschen einer übergeordneten Idee opfere; die „Aporie der ‚schönen Seele‘“, die die Frau gleichzeitig idealisiert und reduziert; die „Aporie des ausgeschlossenen Barbaren“; schließlich die „Aporie einer Ästhetik des ausgeschlossenen Verdrängten“. 211 Korrigierende Tendenzen sieht Hofmann im Faust , in der Jungfrau von Orleans , im West-Östlichen Divan bzw. in der Nänie : „Was vom Humanitäts- Denken bleibt und was stärker gemacht wird als vorher, ist der Gedanke der Menschenwürde, der in einem neuen Sinne universalisiert wird, indem er auch gegenüber dem Fremden, Bedrohlichen geöffnet wird.“ 212 Freilich sollte man von einer Universalisierung in Ansätzen sprechen, die alles andere als radikal ist, zumindest aber ein Bewusstsein für die Inkommensurabilität von Würdeideal und politisch-sozialer Realität zeigt. Thomas Weitin interpretiert Goethes Faust als Schlüsseldokument des Menschenwürdediskurses, als „Gründungstext[], der für die Selbstbehauptung der Menschenwürde am Beginn der normativen Moderne ausschlaggebend ist“. 213 Fausts Ausspruch während des Osterspaziergangs: „Hier bin ich Mensch, hier darf ichʼs sein“ deutet Weitin als performativen Sprechakt, als „Selbstbeobachtung eines seiner Menschlichkeit gewahr werdenden Subjekts, das sich als solches erkennt, benennt und in der sprachlichen Bezugnahme auf sich augenblicklich aufersteht“ und somit „die Menschenwürde hervorbringt“. 214 Für Weitins Lektüre sind die Begriffe „Selbstbehauptung“, „Selbstschöpfung“ und 210 Hofmann, Die Wege der Humanität, S. 145. Hofmann geht nicht auf Schillers theoretische Auseinandersetzung mit dem Würdebegriff ein. - Vgl. ebd., S. 145-146: „Indem Schiller und Goethe […] einsehen, dass das Menschliche und die Humanität nicht nur mit Modellen des Geordneten und Harmonischen in Verbindung steht [sic], akzeptieren sie die Notwendigkeit, das sich starren Vorstellungen von Ordnung, Rationalität und Harmonie Widersetzende in das Bild des Humanen einzuschließen: Das Unvernünftige, das Wilde, das Leidenschaftliche, das verpönte Weibliche wird ebenso wie das vermeintlich ausschweifende und unbegrenzte Orientalische zu einem Moment des Humanen.“ 211 Ebd., S. 148-149. 212 Ebd., S. 146. 213 Weitin, Freier Grund, S. 9. 214 Goethe, Faust, in: Sämtliche Werke (wie Anm. 30), Bd. 7 / 1, S. 52, V. 940 bzw. Weitin, Freier Grund, S. 45 und 100. Vgl. ebd., S. 45: In der Osterszene werde der „Schritt zur Menschenwürde vollzogen, die nun auf keine Rangordnung mehr zielt, sondern als Position menschheitlicher Selbstbezüglichkeit für jeden aus der ‚Menge‘ möglich ist“. II.7. Die Menschenwürde bei Goethe 123 124 B.II. Die Menschenwürde als idealisches Ziel des Menschengeschlechts (1750 - 1810) „Selbstgesetzgebung“ zentral; gleichwohl sieht er Faust mitnichten als Sympathie weckende „Ideal-Figur“. 215 Ebenso wenig kann Menschenwürde in Weitins Argumentation dramatisiert, d. h. durch eine Figur verkörpert werden: Die universelle Würde hat nichts Repräsentatives, keine ästhetische Anmut, sie tritt nicht auf und ‚ist‘ überhaupt nur für den, der sie, wie Faust im Osterspaziergang, beobachtet. Die Menschenwürde ist eine Konstruktion menschlicher Selbstbezüglichkeit, deren Universalität daher rührt, dass sie jedem auf die gleiche Weise möglich ist und möglich sein soll. Sie kommt ohne Unterschied jedem zu. […] Personale Autonomie garantiert sie, weil ihrem Konzept nach im Hier und Jetzt jeder sagen kann: Ich bin ein Mensch. Und weil auch jeder so behandelt werden muss. Das gilt für alle - eben auch für den, der sich so würdelos verhält wie Faust. 216 Durch eine „Übertragungsleistung, die die wörtliche Würde, die auftreten muss, zur Metapher der Menschenwürde emanzipiert“, erhalte die Menschenwürde in Goethes epochalem Text ihre spezifisch neue Qualität; 217 „im Zeichen der absoluten Metapher Menschenwürde“ muss am Ende sogar Faust, „der würdeloseste Mensch, […] dem nichts heilig ist und der seine grausamen Taten nicht einmal bereut, erlöst werden […], wenn die Würde des Menschen unantastbar sein soll“. 218 Aus dieser Perspektive erhält der Menschenwürdebegriff im Faust tatsächlich eine signifikante Erweiterung: Nicht nur umfasst er das (moralisch wie ästhetisch) Hässliche, sondern er wird auf eine geradezu moderne Art und Weise universalisiert: Menschenwürde als das, „was noch das Menschsein des letzten Menschen ausmacht“. 219 Radikalisiert und ästhetisch-literarisch innovativ gestaltet wird dieser Gedanke freilich erst bei Büchner oder den Naturalisten. 215 Vgl. ebd., S. 35 und passim bzw. 100. 216 Ebd., S. 85 (Herv. i. O.). 217 Ebd., S. 96. 218 Ebd., S. 10-11. Vgl. weiterhin ebd., S. 96: „Dass Schillers klassizistische Verbindung von Freiheit und guter Regierung im Namen des Schönen und seiner Erscheinungsweisen zur Zeit der Vollendung des Faust obsolet geworden war, weil sich längst abgezeichnet hatte, dass Freiheit immer ihre hässlichen Seiten haben würde […], bedeutet nicht, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Normativen sich erledigt hat. […] Der Würdebegriff gewinnt im Faust eine neue normative Bedeutung, weil er sich von der habituell konkreten, offensichtlichen Form im Auftritt würdevoller Personen, die Herrscherrollen einnehmen, loslöst.“ Vgl. ähnlich ebd., S. 117. 219 Ebd., S. 111. - Den Schluss des Dramas will Weitin auch nicht als Rückfall in christliche Denkmuster verstanden wissen: „Was hier entsteht, ist kein Gleichnis, sondern unbeschreiblich neu. Das Unbeschreibliche ist die Allperspektive der Menschheitlichkeit, die die Würde hier allein trägt“ (ebd., S. 106). III. „Sage mir Bruder, hältst du deine Sklaven für Menschen? “- - Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) In seiner „affirmativen Genealogie der Menschenrechte“ beleuchtet Hans Joas, wie sich aus der Erfahrung von Gewalt und Menschenwürdeverletzungen rechtliche Normen entwickeln. Die Antisklavereibewegung, stark religiös geprägt und im 18. Jahrhundert vor allem in Großbritannien virulent, beschreibt er dabei als „Modell einer moralischen Mobilisierung“. Als einen entscheidenden Faktor für den Erfolg der Bewegung nennt Joas „die Herstellung einer globalen Öffentlichkeit, die es möglich machte, Verstöße gegen die Menschenwürde zu skandalisieren“. 1 Das Theater und der literarische Diskurs bilden eine Form der bürgerlichen Öffentlichkeit, die, folgt man Habermas, die Grundlage der politischen darstellt, dieser also gewissermaßen vorausgeht; 2 zumindest aber eröffnen Literatur und Theater einen Raum, in dem moralische Probleme ohne juristische oder politische Festlegungen mit genuin künstlerischen Mitteln verhandelt werden. Tatsächlich erschienen in den Jahren um 1800 auch mehrere deutschsprachige Dramen, die das Thema der Sklaverei aufgriffen. 3 Dieses erlaubte den Dichtern, sowohl die in den Deklarationen der Französischen Revolution kulminierenden Freiheitsideale zu diskutieren als auch aktuelle gesellschaftspolitische Fragestellungen analogisch zu behandeln. 4 Neben Karl Freyherr von Reitzenstein, Ernst 1 Joas, Die Sakralität der Person, S. 21, 132 bzw. 144. Vgl. auch ebd., S. 134, Anm. 25 für Literaturangaben zur Geschichte der Antisklavereibewegung. - Zum „Prozeß der Anerkennung des überseeischen Menschen als Menschen“ vgl. auch Bödeker, Art. Menschheit, S. 1088-1089. 2 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt / M. 1990 [urspr. 1962]. 3 Kaufmann weist darauf hin, dass „[d]ie Präsenz von ‚Wilden‘, ‚Barbaren‘, ‚Negern‘ usw. in der deutschen Kunst- und Schönheitstheorie um 1800 […] erstaunlich groß“ ist („Was ist der Mensch…“, S. 184). 4 Barbara Riesche schlägt aufgrund des politischen und sozialkritischen Anspruchs der Autoren für solche Dramen statt abwertend konnotierter Bezeichnungen wie „Trivialtheater“ den Terminus „Gebrauchsstück“ vor. Vgl. Schöne Mohrinnen, edle Sklaven, schwarze Rächer. Schwarzendarstellung und Sklavereithematik im deutschen Unterhaltungstheater (1770-1840), Diss. München 2007, S. 6-14. Nach Riesche handelt es sich beim „Sklavenstück“ um 1800 um ein eigenes Genre; sie nennt zwanzig Beispiele aus den Jahren um 1800. Vgl. die Inhaltsangaben ebd., S. 316-335. - Uta Sadji beschreibt 126 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) Lorenz Michael Rathlef, Gustav Hagemann u. a. verfasste auch August von Kotzebue mehrere Sklavenstücke. 5 In seinem „historisch-dramatische[n] Gemaͤhlde“ Die Negersklaven (1794) gestaltet Kotzebue die Menschenwürde als zentrales Thema. 6 Anschaulich und publikumswirksam stellt der Dramatiker die Frage nach der Bedeutung und der Reichweite des Begriffs - auch jenseits des exotischen Themas. 7 Im Gegensatz zum vermeintlich elitären und intellektuell fordernden Theater Goethes und Schillers weiß der „Volksdichter“ und „Theaterpraktiker“ genau, 8 was dem gemeinen Zuschauer tatsächlich zuzumuten ist - sowohl auf der Ebene der Reflexion und der Interpretation als auch auf der Ebene der Darstellung. Die Grundfrage des Stückes ist recht einfach: Sind Sklaven Menschen, die eine zu achtende Würde haben? Diese Position vertritt der aufgeklärte, in Europa die Negersklaven-Stücke als „zeitgenössische politische Dichtung“ (Der Mohr auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts, Anif / Salzburg 1992, S. 286). 5 Neben den Negersklaven nennt Riesche Kotzebues Der Papagoy (1792) und Der Besuch oder Die Sucht zu glänzen (1801) sowie, neben einigen anderen, Reitzensteins Negersklaven (1794), Rathlefs Die Mohrinn zu Hamburg (1776) und Hagemanns Seliko und Berißa oder Die Liebe unter den Negern (1799). 6 Nach Riesches Versuch der Systematisierung handelt es sich bei Kotzebues Negersklaven um ein „Plantagenstück“, das das Leid der Sklaven, aber auch Liebesbeziehungen thematisiert, in dem die „Außenseiter“ die Weißen sind und das Elemente des Rührstücks aufgreift (Schöne Mohrinnen, S. 136-137). 7 Mit seinem Stück partizipiert Kotzebue zudem am europäischen Diskurs über das auch in seiner beruflichen Heimat Estland aktuelle Problem der Leibeigenschaft und der Bauernbefreiung. Insofern beanspruchen seine Überlegungen in Bezug auf den Menschen, sein Wesen und seine Rechte eine über das exotische Thema der Sklaverei hinausreichende, universelle Gültigkeit. Vgl. dazu etwa Otto-Heinrich Elias, August von Kotzebue als politischer Dichter, in: Baltische Literaturen in der Goethezeit, hg. v. H. Bosse, O.-H. E. u. T. Taterka, Würzburg 2011, S. 255-289, hier S. 275: „In dieser Zeit [den 1780er Jahren in Livland; MG] entdecken die entschiedenen Gegner der Leibeigenschaft eine neue Waffe, den Vergleich der Verhältnisse in den Ostseeprovinzen mit der Negersklaverei, wie sie in Amerika und auf den westindischen Inseln üblich war.“ Ebd., S. 287: „Die Negersklaven sind ein eminent kritisches Stück und forderten zum Vergleich exotischer Drittweltgreuel mit europäischen Mißständen auf.“ 8 Johannes Birgfeld / Julia Bohnengel / Alexander Košenina (Hgg.), Kotzebues Dramen. Ein Lexikon, Hannover 2011, S. X. Der Dichter war, so die Herausgeber des Lexikons Kotzebues Dramen , „der mit Abstand erfolgreichste deutschsprachige Dramatiker seiner Zeit“ und „bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts der beliebteste Dramatiker beim deutschen Publikum“ (ebd., S. IX). - Vgl. auch die Aufführungszahlen bei Armin Gebhardt, August von Kotzebue. Theatergenie zur Goethezeit, Marburg 2003, S. 142 und 144. Auf der Weimarer Bühne unter der Direktion Goethes gab es weit über 600 Kotzebue-Aufführungen (gegen 330 von Schiller- und ca. 150 von Goethe-Stücken). - Für eine Analyse des Trivialtheaters um 1800, insbesondere auch der Stellung Kotzebues, vgl. Markus Krause, Das Trivialdrama der Goethezeit 1780-1805. Produktion und Rezeption, Bonn 1982. Vgl. ebd., S. 174 (mit Literaturangaben) für eine Übersicht über die überaus starke Kotzebue-Rezeption außerhalb des deutschsprachigen Raums. III.1. Bemerkungen zu Vorbericht und Quellen 127 geschulte William, der auf Jamaika mit den Gräueln der Sklaverei konfrontiert wird. Oder sind die „Negersklaven“, wie es sein Bruder, der grausame Plantagenbesitzer John, behauptet, eher Tiere oder Waren, die weder Würde noch Rechte besitzen? Dieser dramatische Konflikt - hier prallen zwei Weltsichten und vor allem Menschenbilder aufeinander, die zumindest subjektiv gleichwertig erscheinen 9 - ist der Ausgangspunkt für einen Plot, der zum einen konventionelle Erwartungen des Publikums erfüllt und handlungsreich, spannend, bunt, bisweilen schockierend, aber auch hochpathetisch und rührselig ist, zum anderen jedoch immer wieder die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf den Begriff der Menschenwürde und seine anthropologischen, ethischen, theologischen und juristischen Implikationen lenkt. Der horazischen Maxime folgend versucht das Stück, das delectare und das prodesse massentauglich zu verbinden. III.1. Bemerkungen zu Vorbericht und Quellen Im Vorbericht stimmt Kotzebue „Leser, Zuschauer und Recensenten“ auf das zu Erwartende ein. Sein Text sei „nicht blos“ ein „Schauspiel“, sondern „bestimmt, alle die fu ͤ rchterlichen Grausamkeiten, welche man sich gegen unsre schwarzen Bru ͤ der erlaubt, in einer einzigen Gruppe darzustellen“. 10 Kotzebue verspricht mehr als bloße illusionistische Unterhaltung; er erhebt - wie bereits die Gattungsbezeichnung suggeriert - nicht nur Anspruch auf historische Genauigkeit, sondern auch auf außerliterarische Relevanz. Das programmatische Substantiv „Bru ͤ der“ nimmt die Aussage des Stückes vorweg: Die schwarzen Sklaven gehören, im Sinne der revolutionären Maxime der fraternité , gleichberechtigt zur Menschheitsfamilie. Versklavung und menschenunwürdige Behandlung sind somit verwerflich; sie werden zum ästhetischen Stimulans, zum Anlass der literarischen Produktion. „[L]eider“ gebe es, so Kotzebue, „keine einzige Thatsache in diesem Stu ͤ cke […], die nicht buchstaͤblich wahr waͤre“ (NS 4). 11 Dieses Berufen auf ein striktes Wahr- 9 Problematisch ist freilich, dass zwei Weiße diesen diskursiven Konflikt über den Status des dunkelhäutigen Menschen austragen. Riesche bemängelt daher, dass die „Schwarzen […] lediglich der Anlass“ sind und mit ihren Geschichten und Erfahrungen anschauliches Material liefern (Schöne Mohrinnen, S. 280-281). 10 August von Kotzebue, Die Negersklaven. Ein historisch-dramatisches Gemaͤ hlde in drey Akten, Leipzig 1796, S. 3. Im Folgenden wird stets nach dieser Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (NS Seitenangabe) belegt. - Laut Ulrich Kittstein, Art. Die Negersklaven, in: Kotzebues Dramen (wie Anm. 8), S. 150-151 wurde das Drama bereits 1794 aufgeführt und 1796 erstmals gedruckt. 11 Der Gestus des Aufklärers, des Aufdeckers von Missständen prägt auch einen thematisch ähnlichen Text Kotzebues. Im kurzen, fast reportageartigen Text Die Galeeren-Sclaven 128 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) heitspostulat rechtfertigt implizit die dramatische Darstellung von vermeintlich Anstößigem, Unästhetischem oder Undarstellbarem, mithin von Vorgängen, die den aufklärerischen Regelpoetikern als mit der Würde des Menschen unvereinbare Grenzüberschreitungen oder Tabubrüche gegolten hätten. Auf der Bühne werden Menschen geschlagen und misshandelt, ein totes Kind wird gezeigt, Trauriges und Grausames mit großem Pathos beweint und beklagt, Emotionen werden ungeniert ausgedrückt. 12 Zwischen Wirkintention und darstellungsästhetischen Überlegungen besteht jedoch ein direkter Zusammenhang; gerade eklatante Verletzungen der Menschenwürde setzt Kotzebue bewusst und mit wirkästhetischen Hintergedanken ein. Am Ende der Vorrede macht Kotzebue dann eine signifikante Einschränkung: Da viele Zu ͤ ge in diesem Schauspiele allzugraͤßlich sind, so ist bey der Auffu ͤ hrung manches weggelassen worden. Das mag fu ͤ r die Bühne gelten; im Druck aber sah sich der Verfasser geno ͤ thigt, alles Weggelassene wieder herzustellen, wenn seine Arbeit anders den Titel eines historischen Gemaͤhldes verdienen sollte. ( NS 6-7; m. H.) Die Bewertung von potentiell Tabuisiertem ist demnach vom literarischen Medium abhängig: Auf der Bühne, in der dramatischen Darstellung, ist weniger ‚erlaubt‘ als im Druck, der die Wirkung gewissermaßen abmildert. Hier gibt es - das verlangt das Postulat der historischen Wahrheit - keinen Grund mehr, aus Rücksicht auf das Publikum bestimmte Details oder Szenen wegzulassen oder zu verharmlosen. Zudem nennt Kotzebue die Quellen, die ihm „den Stoff geliefert“ haben (NS 3). 13 Nicht als Quelle erwähnt, im Laufe des Stückes von Namensvetter William aber mehrmals als Gewährsmann und Hoffnungsträger genannt ( NS 55 und 65) wird William Wilberforce, der sich u. a. im Mai 1789 im britischen House of Commons für die Abschaffung der Sklaverei aussprach; seine Rede muss Kotzebue werden, wieder unter Berufung auf schriftliche Quellen, die Leiden der Sklaven, die auf den Galeeren arbeiten, beschrieben. Diese sind nicht nur unmenschlichen Arbeitsbedingungen ausgesetzt, sondern werden wie Tiere behandelt, dienen der allgemeinen Belustigung und werden zu Tode gefoltert. Am Ende des Textes steht allerdings kein Aufruf zu Protest oder Mitleid, sondern eine Wendung ins Allegorische: Die Galeere mit den gequälten, entwürdigten Sklaven steht für die Menschheit, der grausame Kapitän ist Gott. Damit büßt der Text seinen potentiellen Appellcharakter fast vollständig ein. Vgl. Die Galeeren-Sclaven, in: Die Biene. Eine Quartalschrift von A. v. K., 2. Bd., 4. Heft, Königsberg 1808, S. 66-71. 12 Zur Funktion des Exotischen bei Kotzebue vgl. auch Krause, Das Trivialdrama, S. 188-193. 13 „R aynals histoire philo sophique, Selle’s Geschichte des Negerhandels, Sprengel vom Negerhandel, Iserts Reise nach Guinea, der famo ͤ se Co de noir, und einige in periodischen Schriften zerstreute Aufsaͤ tze haben ihm [i. e. dem Verfasser; MG] den Stoff geliefert“ (NS 3). Als in Bezug auf den plot wichtigste Quelle nennt die Forschung die Erzählung „Zimeo“ von Johann Ernst Kolb. Vgl. etwa Kittstein, Art. Die Negersklaven, S. 150. gekannt haben. 14 Die Figur William, gleichsam der Held des Dramas, 15 dient als fiktionales Sprachrohr des historischen Wilberforce, den „sein edles Herz zum Redner der Menschheit aufforderte“ (NS 55) und „der euch [i. e. die Sklaven; MG] liebt; der Tag und Nacht auf eure Befreyung sinnt, und von der scho ͤ nen Glut der Menschenliebe erwaͤrmt, mit feuriger Beredsamkeit eure Rechte vertritt“ ( NS 65). Am historischen Wilberforce lobt William zwei Eigenschaften: seine rhetorischen Fähigkeiten und seine humanitas , sein argumentatives und sein emotionales Engagement für die Sache der Sklaven. Ebendiese beiden Strategien verfolgt auch Kotzebues Drama. 14 Wilberforce ruft seine Zuhörer im Namen der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und der Freiheit dazu auf, den Sklavenhandel einzustellen, der Menschen lediglich als Waren und Besitz behandelt. Die unmenschliche Behandlung der Sklaven, die von manchen als nicht- oder untermenschliche Wesen betrachtet werden, widerspreche der Vernunft und dem allgemeinen Menschenverstand; letztlich treffe die moralische Schuld an Ausbeutung und Grausamkeiten alle, die den Sklavenhandel tolerieren. Vgl. The Speech of William Wilberforce, Esq. &c. on the Abolition of the Slave Trade, London 1789. Es handelt sich hierbei um eine Art Protokoll (in der 3. Person Singular), in dem die Debatte um einen am 12. Mai 1789 von Wilberforce vorgelegten Antrag für die Abschaffung der Sklaverei festgehalten wurde. Nicht nur hebt Kotzebue bei beiden Nennungen Wilberforces im Text seine Eigenschaft und sein Talent gerade als Redner hervor; zwischen der Rede und dem Dramentext bestehen zudem einige eklatante motivische Übereinstimmungen. Wilberforce bezieht sich vor allem auf Zahlen über Sklaven in Jamaika; dort ist auch Kotzebues Stück angesiedelt. Als einen der Gründe für den Handel mit Sklaven nennt er die Tatsache, dass die afrikanischen Könige und Prinzen „fond of our commodities“ seien und Kriege führten „for the purpose of obtaining what we had made their necessaries“ (Speech, S. 7); in Szene II,3, in der William den Namen Wilberforce nennt, beklagt ein Sklave, dass die Weißen „uns so reich an Bedu ͤ rfnissen gemacht (haben), daß wir u ͤ berall Mangel leiden“ (NS 69). Ayos’ Erzählung von der Schifffahrt nach Jamaika entspricht in einigen markanten Details den Schilderungen Wilberforces, wenn etwa die Enge beschrieben wird, die bewirkt, dass niemand aufstehen kann, ohne auf alle anderen zu treten (NS 75; vgl. Speech, S. 9), oder die Verpflegung, die aus „English horse-beans“ (Speech, S. 9) bzw. „Erbsen und Bohnen“ (NS 75) bestand. Beiden Texten ist zudem das Motiv des durch Peitschenhiebe erzwungenen Tanzes und Gesanges gemeinsam (Speech, S. 9; NS 91). Schließlich scheint Kotzebue Wilberforces Verurteilung der Sklaverei mit dem Hinweis auf das göttliche Gebot „Du sollst nicht töten“ (Speech, S. 14) in seinem eindringlichen tragischen Schluss aufzunehmen. Vgl. dazu auch unten, S. 148. - Angemerkt sei auch, dass Karl von Reitzenstein seinem Drama Negersklaven (1794) eine englische Widmung an Wilberforce voranstellt. Vgl. dazu Riesche, Schöne Mohrinnen, S. 265-266. 15 Die Frage nach dem eigentlichen Helden des Dramas ist nicht leicht zu beantworten. Der plot besteht aus drei Handlungssträngen (die Auseinandersetzung der beiden Brüder John und William, die Wiedervereinigung der getrennten Liebenden Ada und Zameo und jene von Vater und Sohn, d. h. Ayos und Zameo), die sich am Ende gewissermaßen verbinden. William tritt in allen drei Strängen in Erscheinung, als Handelnder, Kommentierender oder innerfiktionaler Zeuge. III.1. Bemerkungen zu Vorbericht und Quellen 129 130 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) III.2. Die diskursive Begründung der Menschenwürde in Dialogen der Figuren William und John Nachdem in den ersten beiden Szenen des ersten Aktes ausschließlich Sklavenfiguren zu Wort kommen, die expositorisch von ihrem Leid und von dem sich anbahnenden Konflikt um Johns Liebe für die Sklavin Ada berichten, deren Herz jedoch dem in Afrika zurückgelassenen Gatten Zameo gehört, werden die ungleichen Brüder William und John eingeführt. In zwei Dialogen (in den Szenen I,3 und I,6) stehen sich die beiden in einem ‚ideologischen Duell‘ gegenüber. Diese Dialoge muten wie eine argumentative Exposition an, fügen sie der eigentlichen Handlung um die Sklaven doch einen interpretatorischen, theoretischen Rahmen hinzu: William und John entfalten zwei entgegengesetzte Ansichten über das Wesen und den Status der Sklaven und stecken somit den begrifflichen Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Wahrnehmung und Bewertung der Sklaven durch die Rezipienten bewegen soll. Vorbereitet wird die Schlüsselszene I,6 durch einen kurzen Wortwechsel in Szene I,3: John. (im Gespraͤch begriffen) Nein Bruder, das verstehst du nicht. Ich habe den Cicero nie gelesen; aber wenn ich, statt Hunger und Peitsche, mir einen Redner halten wollte, der die Sklaven an ihre Pflichten erinnerte - William. (zwischen den Zaͤhnen murmelnd) Haben Sklaven auch Pflichten? John. Thut der englische Bauer recht, wenn er seinen Ochsen vor den Pflug spannt, und die Peitsche u ͤ ber ihm schwingt? William. Ein herrliches Gleichniß. ( NS 17-18) In den Augen des Plantagenbesitzers sind Sklaven Tiere; Zweck ihres Daseins ist, für ihren Besitzer zu arbeiten. William weist sarkastisch auf den argumentativen Fehler seines Bruders hin: John spricht von den „Pflichten“ der Sklaven, dabei ist die Pflicht weniger eine ontische Kategorie als eine Zuschreibung, die auf bestimmten Voraussetzungen beruht. Ironischerweise bezieht sich John selbst in seiner Rede auf Cicero; dieser grenzt in seiner Schrift De officiis (dt. „Von den Pflichten“ oder freier „Vom rechten Handeln“), die gemeinhin als Beginn der Begriffsgeschichte der (Menschen-)Würde betrachtet wird, 16 den Menschen gerade wegen seiner Fähigkeit, richtig und pflichtgemäß zu handeln, vom Tier ab. 17 Wenn John also den Sklaven Pflichten, auch im Sinne moralischer Ver- 16 Vgl. dazu etwa Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 51-53. 17 „Intelligendum etiam est duabus quasi nos a natura indutos esse personis; quarum una communis est ex eo, quod omnes participes sumus rationis praestantiaeque eius, qua antecellimus bestiis, a qua omne honestum decorumque trahitur et ex qua ratio inveniendi officii exquiritur, altera autem, quae propie singulis est tributa. […]“ („Man muß auch III.2. Die diskursive Begründung der Menschenwürde 131 pflichtungen, zuschreiben will, muss er ihren Status als Menschen, die Würde und Rechte besitzen, anerkennen - was er nicht tut, vergleicht er doch unmittelbar danach den Sklaven mit einem Ochsen. Die Regieanweisung („zwischen den Zaͤhnen murmelnd“) beschreibt nicht nur Williams eigene Gemütslage, sondern suggeriert dem Publikum, dass Johns Position und ihre Legitimation zumindest problematisch sind. Noch wird die Rechtfertigung der Sklaverei nicht direkt negiert; William belässt es bei einem sarkastischen Kommentar („Ein herrliches Gleichniß“). In Szene I,6 verteidigt William explizit die Menschenwürde der Sklaven und prangert ihre menschenunwürdige Behandlung an. Der Dialog zwischen den Brüdern wird zum veritablen ‚Rededuell‘, das die jeweiligen Positionen profiliert. William entfaltet seine Auffassung von der Menschenwürde nicht monologartig, sondern greift mit verschiedenen Argumenten und Einwürfen seinen Gegenspieler John an. Die Figuren arbeiten einen Gedanken nach dem anderen, ein Argument nach dem anderen regelrecht ab. Kotzebue wollte offenbar sicherstellen, dass die Rezipienten den Gedankengängen folgen können - nicht nur die Leser des gedruckten Textes, sondern auch die Zuschauer im Theater, die die kognitive Verarbeitung des Gehörten in kürzerer Zeit leisten müssen. John plagt kein schlechtes Gewissen; an die Schreie der misshandelten Sklaven hat er sich längst gewöhnt. Schockiert ruft sein Bruder aus: „[K]ann nur der Mensch allein sich an Alles gewo ͤ hnen, und von Allem entwo ͤ hnen, sogar von der Menschheit! “ (NS 33). Im 18. und 19. Jahrhundert meint das Lexem „Menschheit“ das, was den Menschen als Menschen ausmacht. 18 Bei Kant besteht sogar ein direkter Zusammenhang zwischen „Menschheit“ und Würde: „Die Menschheit selbst ist eine Würde […]“. 19 Wenn sich John in Williams Augen von der erkennen, daß wir von der Natur gleichsam mit zwei Rollen betraut worden sind. Die eine von ihnen ist gemeinsam, daher, daß wir alle teilhaben an der Vernunft und dem Vorrang, durch den wir von den Tieren herausragen, von dem sich alles Ehrenvolle und Schickliche leitet und aus dem die Methode, das rechte Handeln zu finden, entwickelt wird. Die andere aber ist die, die einem jeden eigentümlich zugewiesen ist. […]“); Cicero, De officiis I, 107, zit. nach der Ausgabe: Marcus Tullius Cicero, Vom rechten Handeln, lat. u. dt., hg. u. übers. v. K. Büchner, München / Zürich 3 1987, S. 91-93. Unmittelbar davor (I, 106) spricht Cicero von der „Würde […] unserer Natur“ („quae sit in natura <nostra> […] dignitas“). - Der Begriff der Vernunft spielt in Kotzebues Stück allerdings kaum eine Rolle. 18 Vgl. Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 653. 19 Kant, Metaphysik der Sitten, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Abt. 1: Werke, 9 Bde., Berlin / Leipzig 1902-1923 (Akademieausgabe, im Folgenden: AA), hier Bd. 6, S. 462. - Zur Bedeutung des Wortes „Menschheit“ für den Würdebegriff Kants vgl. von der Pfordten, Zur Würde des Menschen bei Kant, S. 22-23. - Zu Kants problematischer Rassentheorie vgl. Kaufmann, „Was ist der Mensch…“, S. 188-200. Kant sah außereuropäische Völker nicht auf dersel- 132 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) Menschheit entwöhnt hat, hat dies eine doppelte Bedeutung: John sieht in den Sklaven keine Menschen (mehr) - vermutlich hat er es nie getan. Vor allem aber äußert sich in seinem Umgang mit den Sklaven ein vollkommenes Fehlen von Menschlichkeit , von Achtung vor dem Gegenüber - denn diese setzen die Anerkennung des Anderen als Menschen voraus. Insofern er diese vermissen lässt, kompromittiert er seine eigene Menschenwürde. Kurz darauf fragt William explizit nach dem Status der Sklaven: Will. - Sage mir Bruder, haͤltst du deine Sklaven für Menschen? […] John. Ich behandle sie wie Menschen. […] Will. (spo ͤ ttisch) Wu ͤ rklich? John. Ich gebe ihnen zu essen und zu trinken. Will. Das giebst du deinen Hunden auch. John. Sie sind auch nicht viel besser als Hunde. Glaube mir, Bruder, es ist eine eigene Race zur Sklaverey gebohren. ( NS 33-34) Johns Behauptung ist zynisch; er entmenschlicht seine Sklaven - auch sprachlich. John und der Meisterknecht, dem als Schwarzer in Diensten der Weißen die problematische Rolle des grausamen Sadisten zukommt, verwenden immer wieder Tiermetaphern und -vergleiche. Diese gewaltsame sprachliche Theriomorphisierung der Sklaven, die ihrer Behandlung durch die Sprechenden entspricht, durchzieht das Stück. Auch die Sklaven selbst vergleichen sich mit Nutz- oder Haustieren. 20 John reduziert das Menschsein und die Menschenwürde zu rein physiologischen, mechanistischen Begriffen: Die (gerade noch arbeitsfähigen) Sklaven sind, was ihre Körperfunktionen betrifft, Menschen. Tatsächlich verschwimmt dann die Grenze zu den zumindest physiologisch ähnlich beschaffenen Nutz- und Haustieren - was John wie selbstverständlich bestätigt. Seine Argumentation ist jedoch zutiefst inkonsequent: Einerseits stellt er zynisch die menschliche Identität der Sklaven fest, wenn es um ihren Unterhalt geht. Andererseits betont er die Differenz zwischen Sklaven und europäischstämmigen Menschen, um die Sklaverei an sich und die entwürdigende Behandlung der Sklaven zu rechtfertigen. 21 Denn Afrikaner stellen laut John eine eigene „Race“ dar, die ben Stufe wie europäische; er hielt sie der moralischen und geistigen Vervollkommnung wie der Wahrnehmung des Schönen für unfähig. 20 So rückt etwa John die Sklaven in die Nähe von „Ochsen“ (NS 18), die Sklavin Lilli beklagt, dass Sklavenkinder wie „Pferde“ vor den Wagen gespannt werden (NS 51), der Meisterknecht nennt Zameo, den er eben misshandelt hat, einen „Hund“ (NS 82). Verben wie „füttern“, „mästen“, „auffressen“ (NS 26) und „winseln“ (NS 30) reduzieren die Sklaven zu Tieren. 21 Dieselbe Form der Argumentation wird in Büchners Woyzeck benutzt, um den Menschenversuch innerfiktional zu rechtfertigen. Für den Arzt eignet sich Woyzeck als III.2. Die diskursive Begründung der Menschenwürde 133 sich von jener der europäischen Kolonialherren wesenhaft unterscheidet und deren Mitglieder keineswegs als Selbstzweck, sondern als Mittel zu einem bestimmten Zweck - „zur Sklaverey“ - zu betrachten seien. Die Regieanweisung („spo ͤ ttisch“) gibt nicht nur die unmittelbare Reaktion der innerfiktionalen Figur William vor, sondern deutet auch an, wie die Rezipienten auf John reagieren sollen: ablehnend. Dieser moraldidaktische Impetus wird in der sehr konstruiert wirkenden Szene überdeutlich. Auf teilweise stichwortartige Fragen Johns 22 folgen jeweils mehr oder weniger ausführliche Widerlegungen Williams. Johns anaphorisches „Aber“ (vgl. NS 35-36), mit dem er seine Argumente und Fragen einleitet, wirkt lächerlich, macht aber die Funktion des Wortwechsels klar: Es geht um die Kreation einer schroffen (auch rhetorischen) Opposition, deren Positionen implizit eindeutig bewertet werden. Das didaktische Prinzip These - Antithese oder argumentatio - refutatio , das scheinbar allgemeine Vorurteile oder mögliche Einwände des Rezipienten vorwegnimmt und verbalisiert, wirkt in seiner Holzschnittartigkeit zwar plump, lässt die dem Stück zugrundeliegende Intention jedoch umso schärfer hervortreten. In Johns Zynismus mischen sich unverhohlen rassistische Vorurteile und eine pseudotheologische Begründung: Gott habe die Afrikaner als Nachfahren des Brudermörders Kain (und nicht nach seinem Ebenbild) geschaffen, deshalb seien sie „schwarz“, „spitzbu ͤ bisch, boshaft und dumm“ ( NS 34). 23 Diese pauschal zugeschriebenen Eigenschaften negiert William nicht (! ), begründet sie aber nicht aus dem Wesen der Sklaven, sondern stellt sie als Folge der Entwürdigung durch die weißen ‚Besitzer‘ dar: „O ihr habt Alles gethan, um diese Unglu ͤ cklichen herabzuwu ͤ rdigen, und dann beklagt ihr euch noch, daß sie dumm und boshaft sind“ ( NS 34). Danach nimmt der Dialog Bezug auf einen Aspekt des Menschenwürdebegriffs, der gerade im Kontext des Sklaven handels bedeutsam ist. Zunächst stellt William - geradezu naturrechtlich, aber an der sozialen Realität vorbei - fest, dass auch Schwarze frei geboren werden. Johns Legitimierungsstrategie ist perfide: Er rekurriert auf Schlagworte des Menschenwürdediskurses, um sein Menschenbild zu verteidigen. So wirft er ein, dass, wenn ein Sklave sein natürliches Recht auf Selbstbestimmung wahrnimmt und sich und seine Freiheit verkauft, der ‚Käufer‘ nicht zu kritisieren sei. William versucht ihn - seinerseits mit einschlägiger Wortwahl - zu widerlegen: menschlicher Proband vorzüglich für die durchzuführenden Experimente. Gleichzeitig spricht er Woyzeck unter Rückgriff auf das idealistische Menschenbild die Würde ab und kann ihn somit wie ein Tier ausnutzen. Vgl. dazu unten, IV.4.2. 22 Vgl. NS 35: „Aber die Neger wurden als Sklaven gebohren? “ und NS 36: „Machen es denn die u ͤ brigen Nationen besser als wir Englaͤ nder? “ 23 Vgl. dazu auch Riesche, Schöne Mohrinnen, S. 277-278. 134 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) Will. Die Freyheit des Menschen hat keinen Preiß. John. Desto schlimmer fu ͤ r ihn, wenn er mir ein kostbares Ding wohlfeil verkauft. […] Will. Verkaufen? Das d arf er nicht, weil er nicht Alles darf, was ein ungerechter Herr als Sklave von ihm fordern ko ͤ nnte. Er geho ͤ rt seinem ersten Herrn, G ott! Der ihn nie frey ließ. Der Mensch kann sein L e b e n verkaufen, wie der Soldat, aber nicht den Mißbra uch s ein e s L e b e n s , wie der Sklave. ( NS 35) Eindeutig auf kantische Terminologie bezieht sich die Rede vom „Preiß“. Bei Kant ist es jedoch nicht die Freiheit des Menschen, sondern der Mensch selbst, „als P ers on betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft“, der „über allen Preis erhaben“ ist - und genau deshalb „Würde“ besitzt. 24 Aufgrund dieser Würde verdient er Achtung; diese darf er auch selbst nicht kompromittieren. Seine „Würde verleugnen“ würde er u. a., wenn er sich „knechtisch“ machte und so die Pflicht der Selbstachtung verletzte. 25 Wenn der Mensch „die höchste Selbstschätzung als Gefühl seines inneren Werts ( valor ), nach welchem er für keinen Preis ( pretium ) feil ist“, missachtet, verstößt er gegen die ihm durch seine „unverlierbare Würde ( dignitas interna )“ auferlegte Pflicht der Selbstachtung. Zur Illustration dieses Gedankens zitiert Kant einen Bibelvers (I Kor 7,23): „Werdet nicht der Menschen Knechte.“ 26 Der Sklave wird so zu einem negativen Paradigma des kantischen Menschenwürdebegriffs. In Johns Argumentation wird der sich selbst entwürdigende Mensch, der freiwillig und selbstbestimmt seine eigene Würde missachtet, durch eigenes Verschulden zum Tier. Da er, mit Kant gesprochen, „einen gemeinen Wert ( pretium vulgare )“ oder „einen äußere n Wert seiner Brauchbarkeit ( pretium usus )“ erhält, 27 zur Ware verkommt und - paradoxerweise - durch einen personalen Akt auf seine Personalität verzichtet, 28 darf er ohne Bedenken und ohne Gewissensbisse wie ein Tier behandelt werden. Genau das bestreitet William: Sich selbst zu verkaufen verbietet in seinen Augen nicht primär die Selbstachtung, auch nicht unbedingt die Menschenwürde, sondern das Gebot Gottes. „Ihr seid teuer erkauft“, heißt es unmittelbar vor der von Kant zitierten Passage im ersten Korintherbrief - nur Christi Knecht soll der Mensch sein. Auf diese metapho- 24 Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: AA 6, S. 434-435. - Riesche bezieht Williams Äußerung auf Lockes Freiheitskonzept, demzufolge die menschliche Freiheit unveräußerlich ist. Diese Argumentationsstrategie sei typisch für zeitgenössische englische Gerichtsfälle mit Bezug zur Sklaverei. Vgl. Schöne Mohrinnen, S. 274. 25 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, in: AA 6, S. 435. 26 Ebd., S. 436. 27 Ebd., S. 434. 28 Vgl. auch Zameos Aussagen über den Ursprung seines Sklavendaseins: „[…] mein freyer Wille gab mir Sklavenketten“ (NS 71). Das Insistieren auf dem freien Willen erinnert an Kants Definition der Person und ihrer Würde. III.2. Die diskursive Begründung der Menschenwürde 135 rische Knechtschaft spielt auch William an: „Gott“ ist der metaphorische ‚Besitzer‘ („geho ͤ rt“) des Menschen. Zwar könne ein Mensch, so William, sein Leben verkaufen (wie der Soldat oder Söldner), den „Mißbrauch“ desselben aber nicht. Diese Unterscheidung bleibt zunächst unklar, denn auch den Einsatz eines Soldaten in einem Krieg kann man als Missbrauch, als Herabwürdigung zum Mittel zu einem bestimmten Zweck (z. B. dem Sieg in der Schlacht) deuten. William zielt aber hier auf etwas anderes ab: auf die Unmöglichkeit, sich durch einen Verkauf oder eine unmenschliche Behandlung seiner Menschheit und somit seiner Würde berauben zu lassen. Ein Indiz dafür ist das benutzte Modalverb: Er spricht nicht davon, dass der Mensch seine Freiheit oder den „Mißbrauch seines Lebens“ nicht verkaufen darf , sondern davon, dass er es nicht kann . Der Mensch besitzt also eine (von Kant so bezeichnete) „unverlierbare Würde“. 29 Eine menschenunwürdige Behandlung ist niemals zu rechtfertigen, auch nicht durch Johns Gedankenkonstrukte. Der Dialog greift aber auch ein immer noch aktuelles begriffliches Problem der Menschenwürde auf: Sie wird einerseits verstanden als unveräußerliches Wesensmerkmal, andererseits als Anspruch gegenüber anderen, der missachtet oder verletzt werden kann. 30 William weist in der Folge noch weitere Argumente seines Bruders zurück. 31 Sklavenhalter laden in seinen Augen unweigerlich Schuld auf sich. Auch die Missionierung von Andersgläubigen lässt er als Rechtfertigung nicht gelten: „Wenn die Religion Verbrechen heiligt, hinweg mit ihr auf ewig! “ ( NS 37). Innerfiktional profiliert dieser Dialog John und William als Protagonisten und Antagonisten, deren unterschiedliche Positionen das dramatische Geschehen um die Sklaven überhaupt erst ermöglichen. Außerfiktional betrachtet, markiert 29 Diese zweifellos zentrale Textstelle ist nicht nur die Antwort auf ein der Selbstverteidigung dienendes Gedankenspiel Johns, das sich auf den doch wohl eher als Ausnahme zu betrachtenden Fall bezieht, dass sich ein Mensch freiwillig als Sklave verkauft: Zum einen wird die entwürdigende Behandlung eines Menschen als Ware auch diskursiv geächtet, zum anderen verweist die Stelle proleptisch auf spätere Szenen. So erfährt der Zuschauer etwa, dass einst Zameo sich freiwillig an Stelle seines Vaters Ayos als Sklave zur Verfügung stellte und dass nun Ayos seinerseits seinem Sohn durch freiwillige Versklavung die Freiheit ‚ertauschen‘ will (II,6; NS 85-88). Wieder kollidieren die Meinungen der Brüder: Während John, belustigt und sarkastisch, sein „Recht“ auf Zameo behaupten will, fordert William ihn auf: „[H]andle menschlich! “ (NS 87). Eindeutig ist keine Kritik an den sich freiwillig Versklavenden intendiert; vielmehr erscheint der Pflanzer umso unmoralischer, als wahrhafter Bösewicht, und sein Bruder, dieser „gute[] weisse[] Mensch[]“ (NS 88), wird zum entgegengesetzten Extrem stilisiert. 30 Vgl. dazu oben, S. 36 - 37. 31 Auch vermeintliche Verbrecher dürften nicht als Sklaven missbraucht werden; in den Kolonien gehe es den Sklaven keineswegs besser als in Afrika; auch die Tatsache, dass andere Nationen ähnliche Praktiken pflegen, mindere nicht ihre moralische Anstößigkeit. 136 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) die Konfrontation zum einen die Frage nach der Definition des Menschseins und der Begründung der Menschenwürde als Leitmotiv der Rezeption, zum anderen etabliert sie den begrifflichen Bewertungsrahmen für die im Drama vorgeführten Figuren. Dem Rezipienten wurde - zunächst sprachlich-argumentativ und unter Rückgriff auf naturrechtliche, theologische, aber auch moralphilosophische Argumente - bewiesen, dass die Sklaven Menschen sind, die es in ihrer Würde zu achten gilt. Der Sklaverei wurde dialogisch ihre ideologische Grundlage entzogen. Das Ende der Szene problematisiert die vermeintlich klare Aussage jedoch in zweifacher Hinsicht: Zum einen bemerkt John mit bissigem Spott, dass auch Williams Vermögen das Resultat von Sklavenausbeutung ist, „und es behagt dir wohl, nicht wahr? “ ( NS 37). Zum anderen verhöhnt er William für sein Vertrauen in die eigene Überzeugungskraft: „Afterphilosophie“ seien seine Ausführungen, „eitel Declamation von hohen Schulen mitgebracht“ ( NS 37). Nachdrücklich verweist John auf die Diskrepanz von Theorie und Praxis, von Ideal und Wirklichkeit - ein Vorwurf, den man auch gegenüber den hochtrabenden klassisch-idealistischen Programmen vorbringen könnte. In Bezug auf das konkrete Drama lenken sie jedoch den Fokus auf jene künstlerischen Mittel, die über das reine Artikulieren von bestimmten Ansichten hinausgehen: auf die spezifische Leistung der Literatur, die die Menschenwürde mit ihren Mitteln konstituiert. III.3. Die literarische Konstitution von Menschenwürde Kotzebues Stück ist kein Ideendrama. Es ist allerdings auch keine bloße Effekthascherei; vielmehr zieht der Dramatiker bei der Gestaltung seiner Sklavenfiguren unterschiedliche Register, um ihre Menschenwürde im dramatischen Spiel entstehen zu lassen und als Faktum im Rezeptionsvorgang zu transportieren. Kotzebue kreiert ein Zusammenspiel von mentalitätsgeschichtlichen und literaturhistorischen Aspekten, innerfiktionalen Elementen und intertextuellen Verweisen, um, aus der außerfiktionalen Perspektive betrachtet, eine anthropologische Gleichheit zwischen Figuren und Rezipienten herzustellen. In seinem Vorbericht bekennt der Verfasser, dass er, „waͤhrend er dieses Schauspiel schrieb, tausend Thraͤnen vergossen“ habe, und schließt daran die Hoffnung, des Zuschauers Tränen möchten sich mit seinen „mischen“ (NS 4). Dies ist aus produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive aufschlussreich: Bewusst schreibt sich der Dichter in eine bestimmte Tradition ein - den Gefühlskult der Empfindsamkeit, das weinerliche Lustspiel, das Rührstück, die radikale III.3. Die literarische Konstitution von Menschenwürde 137 Affektbetonung des Sturm und Drang 32 - und erwartet ein Publikum, das diese Rezeptionshaltung kennt und kultiviert. Mit der Gestaltung von Handlung und Figuren aktiviert er ein (möglicherweise diffuses, aber doch vorauszusetzendes) Wissen über Theaterkonventionen und Literaturgeschichte und kann so mit bestimmten Effekten kalkulieren. Bereits die ersten beiden expositorischen Szenen, die bezeichnenderweise die beiden Sklavinnen Ada und Lilli in den Blick nehmen, sollen ein bestimmtes Bild der schwarzen Sklaven evozieren. Die beiden Frauenfiguren werden nicht als exotische oder tierähnliche Fremde gezeichnet; Ada, die weibliche Hauptfigur des Stücks, ist eine Reflektierende, aber mehr noch Fühlende, Liebende. Ihr „Leiden“ ( NS 15) ist kein primär physisches, sondern ein emotionales: Getrennt von ihrem Geliebten, wird sie von John sexuell bedrängt. Gedanken und Gefühle artikuliert sie ausgiebig - in genau jener Sprache, die man auch von einer weiblichen Figur europäischen Hintergrunds in einem Stück auf einer deutschen Bühne in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erwarten würde. 33 Die Prosa ihrer Rede ist wohlklingend, gefühlsbetont, von Interjektionen („Weh mir! “, „Ach! “; NS 10-13), Parallelismen und Anaphern ( NS 11) gekennzeichnet, vor allem aber durchaus poetisch und bildreich. 34 Die Reden der Sklavenfiguren durchziehen zudem Schlagworte des bürgerlichen Verhaltens-, Werte- und Befindlichkeitskanons: Immer wieder ist von Treue, Tugend, Liebe, Hoffnung, 32 Die Negersklaven (1794, Druck 1796) fällt in die erste der von Robert L. Kahn vorgeschlagenen Schaffensperioden Kotzebues (1785-1798), die von Rousseau und vom Sturm und Drang beeinflusst war. Vgl. dazu Elias, Kotzebue als politischer Dichter, S. 258. - Auffällig (aber im Sinne der vorliegenden Argumentation keineswegs überraschend) ist, dass im Stück keine vernunftphilosophische Begründung der Menschenwürde oder der Gleichheit aller Menschen gegeben wird. - Zu Kotzebues Anleihen am Gefühlskult und Wortschatz der Empfindsamkeit vgl. auch Kittstein, Art. Die Negersklaven, S. 151 und Krause, Das Trivialdrama, S. 180. 33 Dieser Aspekt ist durchaus zu problematisieren. Denn obwohl auf diese Weise der aufklärerische Gedanke der Gleichrangigkeit aller Menschen illustriert wird, wird den afrikanischen Sklaven keine „echte Fremdheit im Sinne einer kulturellen Andersartigkeit“ zugestanden (Kittstein, Art. Die Negersklaven, S. 151). - Andererseits ist diese Art der Darstellung, die auch in anderen Sklavenstücken begegnet, laut Riesche ein gewichtiger Unterschied zu früheren Schwarzenrollen, die oft stereotyp und vorurteilsbeladen deren vermeintliche Andersartigkeit, Animalität, Dämonie u. Ä. betonten. Vgl. Schöne Mohrinnen, S. 8-9. 34 Zudem formulieren Lilli und Ada recht elaborierte Vergleiche. Lilli beschreibt „Mann und Weib“ als ein „Ganzes“, das dem „Polypen gleichen“ soll: „[S]chneide ihn auseinander und jeder Theil lebt fu ͤ r sich“ (NS 12). In einer späteren Szene beschreibt Ada ihr früheres Zuhause als paradiesischen locus amoenus (NS 39-40). 138 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) Unschuld u. Ä. die Rede. 35 Besonders auffällig sind in dieser Hinsicht zwei Leitmotive: das Herz 36 und das Weinen. Alle Hauptfiguren sprechen zu irgendeinem Zeitpunkt, meist wiederholt, von ihrem Herzen. Vielsagend sind dabei die Bedeutungsunterschiede: Während für die Sklaven - und William! - das Herz eine Metapher für die eigene Emotionalität, den Schmerz, den Instinkt oder eine auf das gesamte Individuum, die Person, das Ich verweisende Synekdoche darstellt, verspottet John den Gebrauch des Worts. Charakteristisch ist Szene I,3. William ist schockiert über Johns menschenverachtendes Sklavenbild: William. Meine Lippen schweigen, aber mein Herz widerspricht laut. John. Das Herz! das Herz! Leerer Schnickschnack […] Das Herz ist ein Klumpen Fleisch, weiter nichts. Es gehorcht dem Willen eben so gut als Arme und Beine. (NS 18) Kurz darauf versucht Ada, sich gegen Johns Zudringlichkeiten zu wehren: John. Du scherzest mein Kind. Ada. Scherzt man auch mit thraͤnenden Augen und blutendem Herzen? John. Da haben wirs! da ist das Herz schon wieder. Eine verdammte Redensart! Ich wette, dein Herz blutet nicht um einen Tropfen mehr als vorher. ( NS 19-20) John ridikulisiert den metaphorischen Rekurs auf das Herz, indem er ihn als gefühlsduseliges Gerede brandmarkt und ihm ein wörtliches, mechanistisches Verständnis gegenüber stellt. Statt im Herzen den Ursprung von Empathiefähigkeit und Menschlichkeit zu sehen, reduziert er es, seinem Bild des Sklaven entsprechend, auf das rein Körperlich-Materielle. 37 Kotzebue profiliert so die Figur John - vor der Folie der empfindsamen Affektbejahung - zum eigentlichen ‚Unmenschen‘. 38 Dies bedeutet im Umkehrschluss: Jene, die sich auf ihr Herz berufen können, sind würdige Menschen. Ähnliches gilt für das Weinen. Im Drama weinen viele, Ada, Lilli, Truro, Ayos 39 - also die schwarzen Sklaven - und William. Als eine Sklavin die erschütternde Geschichte erzählt, wie sie ihr eigenes Kind umgebracht hat, 40 reagiert William zunächst „zerknirscht“: „Mein Herz will mir springen! “ Truro wischt 35 Vgl. hierzu z. B. NS 10 und 108-109. 36 Auch Kittstein weist darauf hin, dass „Herz“ ein Schlüsselwort des Textes ist (Art. Die Negersklaven, S. 151). 37 Vgl. NS 113. - Deswegen spricht die Figur Lilli auch vom „verriegelt[en]“ Herzen „der Weissen“ (NS 100). 38 Zur Apostrophe „Unmensch“ vgl. unten, S. 142. Neben John wird der grausame Meisterknecht zur zweiten negativ gezeichneten Figur. - Bezeichnenderweise schreibt William auch dem bereits erwähnten Wilberforce (s. oben, S. 128 - 129) ein „edles Herz“ zu (NS 55). 39 Vgl. z. B. NS 22, 44, 46, 51, 79, 124. 40 Vgl. dazu unten, S. 147. III.3. Die literarische Konstitution von Menschenwürde 139 sich eine Träne aus den Augen, William „verhu ͤ llt sein Gesicht“ und weint. Einer der Sklaven kommentiert diese Reaktion aufgeregt: „[…] wahrhaftig es sind Thraͤnen. […] Sieh da, ein Weißer, der auch ein Mensch ist“ ( NS 60-61). Die wirkästhetische Logik dieser Szene ist bemerkenswert: Indem William beweist, dass er des „Mitleiden[s]“ ( NS 60) fähig ist - die Vokabel wird im Text explizit genannt 41 -, wird er - in den Augen der Sklaven! - erst zum Menschen. Dem Rezipienten wird mehr als deutlich signalisiert, dass das Beweinen und Mitleiden die moralisch angebrachte Reaktion ist. Wie bei Lessing hat das Mitleid hier einen reziproken Effekt: Jene, die angesichts des geschilderten und dargestellten Leids weinen - wie William, aber auch der Dichter und, so die in der Vorrede geäußerte Hoffnung, die Zuschauer -, sind Menschen. Dadurch, dass die Sklaven und ihr Schicksal be weint werden, werden sie als gleichwertige, mitleids würdige Menschen wahrgenommen. Die Menschlichkeit der Sklaven, mithin ihre Würde, wird demnach nicht nur innerfiktional, indem sie selbst als emotionsfähige Figuren gezeigt werden, sondern auch im ästhetischen Moment, im Rezeptionsvorgang, konstituiert. Lessings Maxime, dass der mitleidigste Mensch der beste Mensch sei, hat auch hier volle Gültigkeit. Dieses Prinzip wird nun durch mehrere Faktoren verstärkt. Zum einen enthält das Drama eine Vielzahl von epischen Elementen, kurze ‚Binnenerzählungen‘, in denen Sklavenfiguren ihre persönliche Biographie rekonstruieren oder Einblick in den Sklavenalltag geben, meist gespickt mit grauenhaften, abstoßenden Details. 42 Als ‚historische‘ Anekdoten liefern diese Passagen Faktenwissen über die bestürzende Situation der Sklaven. Durch das Erzählen behaupten sich die entwürdigten, zu Arbeitstieren degradierten Sklaven zudem als Personen, die ihre eigene Leidensgeschichte nicht nur reflektieren, sondern auch sprachmächtig und rhetorisch versiert verbalisieren können. Schließlich - und das ist vielleicht der entscheidende Effekt - verleihen sie dem abstrakten Faktum der menschenwürdeverletzenden Qualität der Sklaverei auf der Bühne einen verkörperten Ausdruck. Indem die Geschichten auf der Bühne von einer Figur erzählt werden, erhalten sie einen Körper - und werden so zur Projektionsfläche für das Mitleid der Zuschauer. Diese Rezeptionshaltung wird, und dies ist der zweite Faktor, im Text auf recht offensichtliche Art und Weise gesteuert. Innerfiktionaler Adressat der Erzählungen ist in den meisten Fällen die Figur William; in seinen „mitleidig[en]“ ( NS 44) Reaktionen - verbal in seiner Rede 41 Vgl. auch NS 44, 70. 42 Vgl. dazu unten, S. 143 - 144. - Ayos erzählt die Geschichte seiner Versklavung (NS 30-31 und 74-76), wie auch Lilli (NS 42) und Ada (NS 12 und 39-41). Truro erzählt „[e]in paar alltaͤ gliche Geschichtgen“ (NS 46-49), ebenso andere Sklaven (NS 67-69). Auch Zameo erzählt vom Sklavendasein (NS 78-79). 140 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) oder gestisch in Regieanweisungen - ist die erwartete Reaktion des Rezipienten vorweggenommen und vorgegeben. 43 Zum dritten erfährt die Figurenzeichnung im Verlauf des Stücks eine merkliche Entwicklung. Wurden die Sklaven, besonders Ada, als empfindsame Menschen eingeführt, wird diese Empfindsamkeit gegen Ende hin zu extremem Pathos gesteigert. Bereits die Wiedervereinigungsszenen im zweiten Akt zwischen Vater (Ayos) und Sohn (Zameo) bzw. Mann (Zameo) und Frau (Ada) waren von affektiver Erregung geprägt; 44 der Höhepunkt ist jedoch der tragische Schluss des Stückes. John hat gedroht, Adas Ehemann Zameo zu töten, sollte sie sich ihm nicht hingeben. Ada ist verzweifelt, zaudert, sucht nach einem Ausweg, bittet ihre Freundin Lilli um ein Messer, überlegt sogar, John nachzugeben. Schließlich überredet sie ihren geliebten Zameo, sie umzubringen, um sie nicht zur „Buhlerin eines Unmenschen [zu] erniedrigen“ ( NS 133), was sie zu einer Art Liebesbeweis, aber auch zu einem Akt des Mitleids (! ) (vgl. NS 130) hochstilisiert. Merklich verändern sich im dritten, finalen Akt ihre Sprache und Gestik. In manchen Passagen redet sie nur noch in exclamationes , Aposiopesen, rhetorischen Fragen, unterbrochen von Interjektionen, Geminationen und etlichen Pausen - graphisch markiert durch eine Vielzahl von Ausrufezeichen und Gedankenstrichen. 45 Gehäufte Regieanweisungen beschreiben Gesten der Verzweiflung und schnelle Bewegungen auf der Bühne. 46 Gleich zweimal fällt sie sogar in Ohnmacht. 47 Kotzebue inszeniert Adas extreme Emotionslage mit großem dramaturgischem Aufwand. Die Figur selbst kommentiert die eigene Gemütslage: „[S]ieh mich an! sieh wie jede Nerve zittert, fu ͤ hle meine Wange wie sie glu ͤ ht, meine Brust wie sie klopft; kann ich meinem Puls gebieten? “ ( NS 107). Ada verkörpert zu diesem Zeitpunkt keineswegs das klassische Ideal der ‚stillen Größe‘, der ‚Ruhe im Leiden‘ oder der Schillerschen ‚Würde des Ausdrucks‘ - was die Figur trotzdem nicht delegitimiert. Ihre fehlende Affektkontrolle ist, vor dem Hintergrund des im Stück entwickelten Menschenbildes und der Definition von Emotionalität und Empathiefähigkeit als Grundlage der Menschenwürde, zwar extrem, aber in sich stimmig und konsequent. Daher wirkt es zunächst merkwürdig, wenn sich Ada in der Folge zweimal selbst als „ruhig“ beschreibt ( NS 110, 121). Verständlich wird dies erst mit Blick auf ihren Tod. Dieser ist ein Zitat; Kotzebue gestaltet Ada als Nachfolgerin Emi- 43 Vgl. z. B. NS 47, 51, 60-62. 44 Vgl. NS 72-81 und 96-98. Das Pathos wird nicht zuletzt durch die vielen Regieanweisungen, die Ton, Gesten und Bewegungen der Figuren vorschreiben, erzeugt. 45 Vgl. z. B. die Szenen III,1, III,2, III,7, III,8. 46 Vgl. hier v. a. NS 99-101. 47 Vgl. NS 97 und 117. III.3. Die literarische Konstitution von Menschenwürde 141 lia Galottis. Ihr Tod, so Ada, sei das einzige „Mittel, meine Unschuld zu retten“ ( NS 123). Gegenüber Zameo präzisiert sie: Ada. Ich habe dir ewige Treue geschworen, ich habe meinen Schwur gehalten, aber wer steht mir für die Zukunft? wer schu ͤ tzt mich vor Gewalt? wer vor den sanfteren Regungen des Mitleids, wenn die Gefaͤhrten unsers Elends um mich her knieen, und mit blutigen Thraͤnen das Opfer meiner Unschuld heischen? - Wessen Arm soll ich auffodern, wenn der deinige mich zuru ͤ cksto ͤ ßt? […] ( NS 129) 48 Aufschlussreich ist genau der Punkt, an dem Ada von Emilia abweicht: Sie hat keine Angst vor der eigenen Sexualität, vor den Wallungen des eigenen Blutes, die ihre Unschuld kompromittieren könnten, sondern vor den „Regungen des Mitleids“ für ihre Leidensgenossen. Da sie diese nicht verbannen kann, ohne ihre eigene Würde zu gefährden, will sie sterben. Ihr Todeswunsch, wenn auch pathetisch formuliert, ist keine Kurzschlussreaktion, keine Affekthandlung, sondern wird im Stück mehrfach vorweggenommen. In diesem Sinne ist Ada „ruhig“; sie ist „Herr[in] [ihres] Schicksals“ ( NS 110). Ihr Tod ist die autonome Entscheidung einer zwar leidenschaftlichen, aber doch der Reflexion fähigen Figur. * Doch Kotzebue gestaltet die Sklavenfiguren nicht nur als dem Rezipienten emotional-affektiv gleiche Menschen. In einem Dialog über die Qualen ihrer Existenz führen die Sklaven die anatomisch-physiologische Gleichheit zwischen Europäern und Afrikanern als Beweis für die Unrechtmäßigkeit von Ausbeutung und Entwürdigung an: Truro. So geht man mit uns um, weil wir schwarz sind. Lilli. Und doch war die Muttermilch, welche wir gesogen, auch weiß. Ada. Und unser Blut ist auch warm und roth. ( NS 48) Hatte John im Rededuell mit William die Menschlichkeit der Sklaven auf basale physiologische Prozesse reduziert und auch das Berufen aufs Herz entmetaphorisiert, so drehen die Sklaven diese Denkfigur hier um. Die Farbmotivik verbindet sich mit der Opposition innen vs. außen: Äußerlich sind die Sklaven anders, innerlich nicht. Gerade das Körperlich-Kreatürliche untermauert die grundsätzliche Identität aller Menschen und den Anspruch auf Achtung ihrer Würde. 48 Zur Ähnlichkeit mit dem Ende von Lessings bürgerlichem Trauerspiel Emilia Galotti vgl. auch Riesche, Schöne Mohrinnen, S. 324 und Sadji, Der Mohr, S. 350, die bemerkt, dass „Lessing-Reminiszenzen“ in den Mohrenstücken dieser Zeit „sehr häufig“ sind. 142 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) Schließlich betont Kotzebue die moralische Gleichheit, wenn nicht sogar Überlegenheit, der Sklaven, die er bereits im Vorbericht mit „zwey wahre[n] Anecdoten“ zu belegen versucht (vgl. NS 4-6). Im Stück soll der Zuschauer zum einen Adas Treue und Tugendhaftigkeit bewundern, zum anderen die spontane, vorreflexive Moralität des Zameo. Kurz nachdem ihn der Meisterknecht misshandelt hat, rettet er diesen vor einem tödlichen Schlangenbiss; eine Belohnung lehnt er ab. William preist den „edle[n] Ju ͤ ngling“ ( NS 83): „Mensch! ich glaubte immer, Gott habe aus Einem Stoffe uns geformt; ich irrte mich, er schuf euch besser! “ ( NS 84). 49 Die Benennung oder „Anrufung“ 50 Zameos als „Mensch“, die, als Sprechakt gedeutet, diesen durch Sprache als solchen konstituiert, ist ein direkter Verweis auf die Apostrophierung des Meisterknechts als „Unmensch“ ( NS 81; vgl. NS 110). Dies weist auf die Ambiguität der Apostrophen und der Metaphern hin, die sich auf die Sklaven und ihre Herren beziehen. Während die Sklaven in der sprachlichen Benennung durch ihre Peiniger, aber auch in der Versprachlichung ihrer eigenen Erfahrungen immer wieder in die Nähe von Tieren gerückt werden, passiert ganz Ähnliches mit den Sklavenhaltern. Ada nennt John spielerisch „Affe“ ( NS 21); den Meisterknecht fleht sie an: „Tyger! du hast ein menschlich Antlitz! Erbarme dich! “ ( NS 102). Diese Klimax ist signifikant: Spricht Ada dem Meisterknecht zunächst jede Menschlichkeit ab, indem sie ihn theriomorphisiert, weist sie sodann auf sein „menschlich Antlitz“ hin, eine Formulierung, die ihn mit ihren religiösen Konnotationen daran erinnern soll, dass er als würdiges Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Ihr abschließender Appell ist die Forderung, sich der menschlichen Würde würdig zu erweisen - indem er Mitleid zeigt. Den Rezipienten fordert dieses Oszillieren zwischen Mensch und Un-/ Nicht- Mensch sowohl in Bezug auf die Sklaven als auch auf die Sklavenhalter nachdrücklich zur Beurteilung der Frage auf, wer hier eigentlich keine Würde hat: der Entwürdigte oder der Entwürdigende, den das Erniedrigen Anderer zum 49 In einer der „Neger-Idyllen“ des 114. von Herders Briefen zu Beförderung der Humanität mit dem Titel „Die Brüder“ wird ein ähnliches rhetorisches Verfahren angewendet; auch hier wird der brutale Weiße, der den Schwarzen jagt, zum „Leu“ und zum „Tiger“ (in: Werke, Bd. 7, S. 674-685). Herder greift in einer anderen „Neger-Idylle“ genau wie Kotzebue auf Kolbs Zimeo-Stoff zurück. Zu Herders Text, auch in Verbindung mit Kotzebues Stück, vgl. Susanne M. Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770-1870), Berlin 1999, S. 174-180; zu Herders widersprüchlichem Bild des Schwarzafrikaners vgl. Sadji, Der Mohr, S. 28-31. 50 Zum Begriff der Anrufung und der performativen Qualität von Sprache vgl. Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt / M. 4 2013 [urspr. 1997], hier S. 9-71. Der Begriff stammt ursprünglich von Louis Althusser. Butler orientiert sich bei der Beschreibung performativer Sprechakte eher an J. L. Austin als an J. Searle. III.4. Menschenwürdeverletzungen und Menschenrechte 143 amoralischen Tier degradiert. 51 Das Oszillieren zeigt sich auch in der Figurenkonstellation: Im Drama stehen sich nicht die weißen Kolonialherren auf der einen und die schwarzen Sklaven auf der anderen Seite entgegen. Vielmehr steht der schwarze Meisterknecht dem weißen Sklavenhalter John in Bezug auf Menschenverachtung, Sadismus und Brutalität in nichts nach; William hingegen solidarisiert sich mit den Sklaven und wird von diesen akzeptiert und geschätzt. Menschlichkeit und Menschenwürde haben demnach nichts mit Herkunft, „Race“ oder äußerlichen Merkmalen zu tun. III.4. Menschenwürdeverletzungen und Menschenrechte Menschenwürdeverletzungen in Form von extremer, sadistischer Gewalt und Erniedrigung werden in Die Negersklaven - zumindest im Text des Druckes - keineswegs ausgeklammert oder nur angedeutet. Mit bisweilen expliziter, schockierender Drastik werden sie zum einen in der Figurenrede beschrieben oder narrativ erinnert, zum anderen in konkreten Szenen auf der Bühne dramatisiert. So erzählt z. B. John, wie er ein „wildes Maͤdchen“ durch sadistische Folter dazu brachte, sich ihm hinzugeben: „Ich ließ ihr den ganzen Leib mit Stecknadeln sanft zerprickeln. Dann wurde ihr in Oel getauchte Baumwolle um die Finger gewickelt, und angezu ͤ ndet“ ( NS 20). Nur wenig später berichtet der Meisterknecht, der John an Brutalität sogar noch übertrifft, wie er einem alten Sklaven, der seine Arbeit nicht zufriedenstellend verrichtete, den Rücken „auf[ge]hauen [hat], und Salz und spanischen Pfeffer hinein streuen“ ließ ( NS 25). Es folgt ein kurzer, menschenverachtender Dialog: 51 Der Auffassung Krauses, dass es Kotzebue „in erster Linie […] nicht um die künstlerische Gestaltung bestimmter Probleme mit Hilfe ästhetischer Mittel, denen die Masse der Zuschauer nicht mehr zu folgen vermochte“, ging, ist zumindest in Bezug auf Die Negersklaven mit Nachdruck zu widersprechen (vgl. Das Trivialdrama, S. 176). Krause zufolge verzichtet Kotzebue in Die Negersklaven „von vorneherein auf jede tiefergehende intellektuelle Diskussion. Autor wie Rezipient kamen überein in dem rein emotionalen Bedauern über die unmenschlichen Zustände“. „[D]er Rückzug ins Sentimentale“ verhindere „die eigentliche politische Erkenntnis und die Umsetzung der auf der Bühne propagierten Werte in die Realität“ (ebd., S. 180). Die vorliegende Untersuchung hat jedoch bereits gezeigt, dass eine intellektuelle Argumentation durchaus vorhanden ist; über ihr Niveau lässt sich natürlich streiten. Trotzdem beweist diese Analyse, dass sich in diesem Stück - ganz abgesehen von der tatsächlichen Rezeption - intellektuelle Argumentation und emotionale Vereinnahmung ergänzen sollen. 144 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) John. […] warum befahlst du nicht ihn aufzuwinden, so haͤtte er es besser gefu ͤ hlt. M. Kn. War nicht no ͤ thig. Die Feuerglut, bey welcher er ewig schwitzt, hat ihn so ausgedo ͤ rrt, daß bey jedem Hiebe die Haut sich von den Knochen lo ͤ st, wie die Schaale von einer Kaffeebohne. […] John. Er wird schon zu alt, man muß ihn nach und nach ruhig sterben lassen. […] Ich lasse ihn weniger arbeiten, und gebe ihm weniger zu essen, so verlischt er endlich wie ein Licht. ( NS 25-26) Gewalt und Folter sind alles andere als abstrakte Vorgänge. Mit technokratischer Detailversessenheit werden genüsslich Folterpraktiken diskutiert. Das onomatopoetische Verb „zerprickeln“, die Nennung von Körperteilen und körperlichen Phänomenen, entmenschlichende Vergleiche, schließlich Verben und Nomina der Gewalt evozieren ein frappierendes Bild des Schreckens, angesichts dessen das Publikum vielleicht sogar zunächst eine Art voyeuristische Faszination für das Ekelhaft-Abstoßende verspürt. Die Sklaven erscheinen in diesen Beschreibungen nicht als Personen oder Subjekte, sondern werden zu reinen Objekten sadistischer Lust- und Machtphantasien degradiert, auf ihre Kreatürlichkeit reduziert oder, wenn z. B. kurz darauf vom „Negerleder“ ( NS 27) die Rede ist, verdinglicht. John verfügt über seinen materiellen Besitz - die Sklaven - nach Belieben und quasi spielerisch. Einen ‚Wert‘ hat ein Sklave perverserweise nur, wenn er verdinglicht wird: als Arbeitskraft und als Lustobjekt - sei es sexuelle Lust 52 (Ada) oder der Genuss, den John aus Misshandlung und Qual zieht. Die Geschichten, die die Sklaven selbst aus ihrem Alltag oder ihrer Vergangenheit erzählen, haben denselben Effekt. Sie berichten von Misshandlungen, von gescheiterten Fluchtversuchen, von Verstümmelungen, von Menschenjagd, vom Status der Sklaven, die den Herren weniger als Hunde gelten oder wie Pferde vor den Wagen gespannt werden (vgl. NS 46-52 und 67-68). Alle diese Passagen mit ihren grausigen Details haben eine Kontrastfunktion: Sie dienen als negative Folie für die diskursive wie literarische Konstitution der Menschenwürde. Die explizit verbalisierte und rekapitulierte Missachtung lässt die Behauptung der Menschenwürde umso virulenter erscheinen. Es besteht eine Interdependenz zwischen der Einsicht in die Würde der Sklaven und der Empörung über die geschilderten Würdeverletzungen; deren Darstellung wird durch die Wirkintention gerechtfertigt, eben die Feststellung, dass die Behandlung der Sklaven menschenunwürdig und daher moralisch zu verurteilen ist. 52 John würdigt Ada auch rhetorisch zum Lustobjekt herab, wenn er sie mit einem Vergleich verdinglicht: „[I]ch breche eine Rose, die Dornen stechen ein wenig, aber ich breche sie doch, und sie duftet drum nicht minder scho ͤ n“ (NS 23). III.4. Menschenwürdeverletzungen und Menschenrechte 145 Phänomenologisch betrachtet schildert Kotzebues Drama unterschiedliche Formen körperlicher Gewalt. 53 Die Entführungen zum Zweck der Ausbeutung durch Zwangsarbeit in Kolonien, von denen etwa Ayos und Zameo erzählen, sind eine Form lozierender Gewalt ; der Körper wird zur „verschiebbaren Masse“. Raptive Gewalt - das Benutzen des Körpers mit dem Ziel des sexuellen Lustgewinns - droht der Figur Ada von Seiten Johns. Was John und der Meisterknecht den Sklaven antun, ist autotelische Gewalt : Das Beschädigen oder Zerstören der körperlichen Integrität dient nicht wirklich einem bestimmten Ziel - die Gewalt selbst wird zum Zweck. 54 Gemeinsam ist allen drei Formen der Gewalt, dass sie die Sklaven depersonalisieren und auf ihren als ‚Ding‘ wahrgenommenen Körper reduzieren. Die Figur William verkörpert indes, wie bereits erwähnt, innerfiktional die vom Publikum erwartete Reaktion. In einer Regieanweisung heißt es: „([…] Sein Gesicht glu ͤ ht von Unwillen)“ ( NS 26). Der Zuschauer soll wie William mit Betroffenheit registrieren, dass die Sklaven nicht nur entwürdigt werden, sondern - und hier kommt nun eine entscheidende Dimension hinzu - quasi rechtelos sind. Als das Drama 1794 uraufgeführt wurde, war die Frage nach den Menschenrechten, ihrer Kodifizierung und Gültigkeit äußerst aktuell und politisch brisant. 55 Im Text wird sie nicht nur implizit verhandelt, sondern ausdrücklich angesprochen. Auf Williams naive Frage, ob die Sklaven nicht einen Gerichtshof anrufen könnten, erwidert Truro: Ein Gerichtshof? - Nicht einmal als Zeugen du ͤ rfen wir auftreten, vielweniger als Klaͤ ger. Ein Neger hat nie Recht. Jeder Europaͤ er, selbst der Fremdling, darf ihn ungestraft peitschen, und hebt der Neger die Hand gegen ihn auf, so ist er des Todes. ( NS 50) Für die Sklaven gelten die Bürger- und Menschenrechte nicht; weder vor Recht und Gesetz noch von den Kolonialherren werden sie als gleichwertige Rechtssubjekte anerkannt. De facto stehen sie außerhalb des Gesetzes. Deshalb reagiert John spöttisch auf Ayos’ Versuch, sich gegen Willkür und Ungerechtigkeit zu wehren: Ayos. […] ich verklage dich. John. (laͤchelnd) Wo? Ayos. Vor Gott! ( NS 87) 53 Vgl. hierzu die Kategorisierung in: Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2013 [urspr. 2008], S. 104-124. 54 Vgl. ebd., S. 106, 116, 124 und 133. 55 Zu Kotzebues ambivalentem Verhältnis zur Französischen Revolution und ihren Idealen vgl. Elias, Kotzebue als politischer Dichter, S. 268-274. Zur Frage der Umsetzung der 1789 proklamierten Menschenrechte vgl. Bödeker, Art. Menschheit, S. 1106-1107. 146 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) John geht hierauf nicht einmal ein; für eine solche Argumentation ist er, der in den Sklaven eine von Gott wesenhaft anders erschaffene Rasse sieht, nicht empfänglich. Wenn dieser Ausspruch demnach keine primär innerfiktionale Funktion hat, bleibt als Adressat nur der außerfiktionale Rezipient. Bereits im Dialog mit John (I,6) hatte William eine Aufforderung formuliert, die man durchaus als Durchbrechen der innerfiktionalen Kommunikationssituation deuten könnte: „Redet laut, ihr Diener der Kirche! widersprecht laut! “ ( NS 37). Da das positive Recht ebenso wie die koloniale Praxis die Gleichheit aller Menschen ignoriert, ist Gott die letzte Instanz. Doch selbst diese ultimative Garantie - die Gleichheit aller Menschen vor Gott - lässt nicht auf eine Veränderung im Diesseits hoffen. Die Zeit, in der „die Natur wieder in ihre Rechte tritt“, 56 wie es Ada formuliert, in der mit Lillis Worten „die Farbe kein Verbrechen mehr ist“, in der also die natürliche Gleichheit aller Menschen uneingeschränkt respektiert wird, bleibt innerfiktional eine erst für das Jenseits zu erhoffende Utopie ( NS 52). Außerfiktional kann jedoch die Empörung des Rezipienten - über die brutalen Entwürdigungen und das christlichen Grundsätzen widersprechende Menschenbild - zu einem Movens für Veränderung werden. Indem das Stück hier ex negativo die Forderung nach der universellen Gültigkeit elementarer Rechte wie dem Recht auf leibseelische Integrität oder der Anerkennung der Sklaven als Rechtssubjekte entwickelt, entfaltet es am deutlichsten sein sozialkritisches Potential. III.5. Kindsmord und Freitod als dramatische Prüfsteine der Menschenwürde Schockierendes wird auch direkt auf offener Bühne dargestellt. Szenen wie die Misshandlung Zameos ( NS 81-82) delegitimieren das Verhalten der Kolonialherren; diese werden als unmenschlich gebrandmarkt, weil sie die Sklaven, die als würdige Menschen Empathie und Mitleid verdienen, entwürdigen. Die im Folgenden analysierten Szenen jedoch gestalten Mord und Suizid als einzig mögliche Formen des autonomen Widerstandes gegen das entwürdigende System der Sklaverei. Der Tod als aktiv und selbstbestimmt zu suchende Möglichkeit des Entkommens begleitet die Handlung. 57 Am deutlichsten formuliert Ayos das Recht 56 Vgl. dazu auch Riesche, Schöne Mohrinnen, S. 273. 57 Bereits in I,1 sprechen Ada und Lilli mit an Shakespeares Hamlet erinnernden Worten über den Tod: „Lilli. […] Was meynst du Ada? Wer doch nur immer schlummern ko ͤ nnte! / Ada. Im Grabe? / Lilli. Nicht doch. Auf Blumen. / Ada. Kommt das nicht auf Eins heraus? Der Tod ist ein Schlummer ohne Atemholen“ (NS 10). Lilli erweist sich später geradezu als Stoikerin: „[D]as Leben ist nur ein Spielzeug; wir sind keine Kinder mehr, wir werfen III.5. Kindsmord und Freitod als dramatische Prüfsteine der Menschenwürde 147 des Einzelnen, den Tod zu wählen: „Alle Wohlthaten des Himmels darf ein Tyrann uns vorenthalten, nur nicht den Tod! Verbittern kann er ihn, aber nicht hemmen! “ ( NS 77). Diese Position wird innerfiktional nicht in Frage gestellt; der Freitod als einzig mögliche selbstbestimmte Handlung wird zum Beweis der eigenen Würde, gleichzeitig auch zum Mittel, die eigene Würde zu wahren. Die Kritik trifft also nicht jene, die den Tod wählen, sondern jene, die für die Umstände, die zu dieser Entscheidung führen, verantwortlich sind: die weißen Sklavenhalter. Dies illustriert etwa die Sympathielenkung in Szene II ,2, in der eine Sklavin ihren drei Tage alten Säugling, den sie mit eigenen Händen ermordet hat, auf die Bühne bringt. „[L]aͤchelnd“ erzählt sie ihre abstoßende Geschichte: Kurz nach der Entbindung wurde sie vom Meisterknecht ausgepeitscht, stillte infolgedessen das Kind zwei Tage lang mit Blut; um ihm die bevorstehenden Qualen der Sklavenexistenz zu ersparen, drückt sie ihm einen Nagel ins Herz. Den Kindsmord begreift sie als Beweis ihrer Mutterliebe, als ihre „Pflicht“. Sie selbst wünscht sich, ihre Mutter hätte Ähnliches mit ihr getan. Doch sie wurde als Kind entführt, „fu ͤ r einen kupfernen Kessel“ verkauft, zur Arbeit gezwungen, schließlich zu einer Gebärmaschine degradiert, „um noch mehr Sklaven in die Welt zu setzen“. Auch als Hochschwangere musste sie arbeiten; 58 angesichts dieser Entwürdigungen scheint ihr der Kindsmord die einzig mögliche würdige Handlung, ein Akt der Liebe und Fürsorge zu sein. Das Intentum dieser Szene wird in Regieanweisungen für andere Charaktere explizit gemacht: William ist zunächst „aufspringend“, dann „schaudernd“, später „zerknirscht“, schließlich „verhu ͤ llt [er] sein Gesicht, und wirft sich auf die Bank in der Laube“; Truro wischt „sich eine Thraͤne aus den Augen“ ( NS 57-61). Das Schreckliche, Ungeheuerliche der Tat soll den Zuschauer schockieren und rühren. Die Mutter wird nicht verurteilt, sondern mitleidig betrachtet; die eigentliche Schuld trifft das System der Sklaverei und der Ausbeutung. 59 Auch der Schluss des Stücks fügt sich in dieses Bild. Das Affektive und Hochpathetische des Dialogs zwischen Ada und Zameo, sprachlich untermalt durch die Vielzahl von kurzen Parataxen und exclamationes , der im von Ada erflehten es weg“ (NS 41). Auch Zameo spricht von den Vorzügen des Todes: „Der Tod macht frey“ (NS 66); ähnlich klingt das Lied der Negersklaven am Anfang des zweiten Akts: „Komm, lieber Bruder Tod! / Ach! komm’ uns zu befreyn! “ (NS 53). Vgl. weiterhin NS 16, 22, 45, 76, 97, 101, 107, 120, 122. 58 Sogar der Jagdhund dürfte, wenn er werfen soll, zu Hause bleiben, so die Sklavin (NS 59) - eine der vielen Stellen, die darauf abzielen, dass den Sklaven weniger Wert als einem Haustier beigemessen wird. 59 Krause merkt hingegen an, dass, da Kotzebue der Rührung des Zuschauers den absoluten wirkästhetischen Vorrang einräumt, die Diskussion soziopolitischer Probleme scheitern muss (Das Trivialdrama, S. 180). 148 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) Mord Zameos an seiner Frau endet, soll die Tat und die Figuren nicht delegitimieren. Ada will sterben, um ihre Würde zu wahren; Zameos Tat wird zum ultimativen Liebesbeweis. Nach der Tötung Adas gerät Zameo in einen Schockzustand: „Der Ko ͤ rper zittert, das Auge rollt“ (NS 134). Es ist das einzige Mal, dass eine der Figuren nicht mehr Herr seiner selbst ist, aufgrund seiner verlorenen Autonomie sogar würdelos erscheinen könnte. Zameo ist dem Wahnsinn nahe, hat eine Vision, in der ihn Ada zu sich zu rufen scheint ( NS 135-136). Die Szene ist voller Pathos, zielt aber nicht darauf, Zameo als Mörder zu zeichnen, der die Kontrolle verloren hat. Vielmehr enthüllt seine Verzweiflung die Ausweglosigkeit seiner Situation. Er sah sich gezwungen, einen geliebten Menschen zu töten, um ihn zu retten. Sein Suizid ist letztlich konsequent: Angesichts der sich nähernden Schergen Johns und der zu erwartenden Strafe ist der Tod auch seine letzte Fluchtmöglichkeit. Wie die Sympathie des Zuschauers gelenkt werden soll, belegen die letzten Worte des Textes: Will. (hastig fortstu ͤ rzend zu John) Fluch dir Mo ͤ rder! (Alle stehn unbeweglich. Der Vorhang faͤllt.) ( NS 137) Ein tableau vivant beendet das Drama und steigert die Wirkung der letzten Worte. Der als „Mo ͤ rder“ Angeklagte ist jedoch nicht Zameo, sondern John. Somit wird er zum Urheber allen Leids; ihn trifft in der Logik des Stücks die Schuld an der Katastrophe. III.6. Problematisierungen Die Aussage des Stückes scheint bis hierhin eindeutig. Die Sklaverei ist ein Herrschaftssystem, das den Opfern die Anerkennung ihrer Menschenwürde verweigert, sie entwürdigt und deshalb abzuschaffen ist. Damit stellt Kotzebue seinem Publikum auch eine Folie zur Verfügung, die sich auf das Problem der Leibeigenschaft und der Bauernbefreiung in seiner estnischen Wahlheimat übertragen lässt. Analysen, die sich den postcolonial studies verpflichtet fühlen, stellen die Radikalität der Kritik Kotzebues allerdings ernsthaft in Frage und problematisieren die entworfenen Schwarzen- und Weißenrollenbilder. Kotzebues Intention und die hohe affektive Potenz des Stücks werden zwar nicht bestritten; dennoch stellt etwa Susanne M. Zantop die Frage, ob Kotzebues Darstellung jene sozialen Strukturen, die sie anprangert, nicht indirekt zementiere. 60 60 Vgl. Zantop, Kolonialphantasien, S. 178. Vgl. auch Zantops anregende Analyse der im Stück dargestellten (mutterlosen) Familien (ebd., S. 178-179). - Sadji widerspricht einer solchen Lesart, die weder von Kotzebue beabsichtigt noch frei von Wertungen aus einer historisch späteren Perspektive sei (vgl. Der Mohr, S. 284-285). III.6. Problematisierungen 149 Bei genauerem Hinsehen entpuppe sich der Philanthrop William als Vertreter einer patriarchal organisierten Gesellschaft, in der weiter Abhängigkeitsverhältnisse bestehen. Als die Sklaven William anflehen, ihr Herr zu werden, erwidert er: „Ich danke euch Kinder ! ich will euer Schicksal zu erleichtern suchen“ ( NS 65; m. H.). Und nachdem er Zameos Freiheit erkauft hat, wirft sich ihm dieser zu Füßen mit den Worten: Zameo. (umfaßt Williams Kniee) Wer durch Wohlthaten fesselt, der bedarf keiner Ketten. Du hast mich frey gelassen, und ich bin dein Sklave auf ewig; mit gebundenen Armen haͤtte ich entlaufen ko ͤ nnen, aber du fesseltest mein Herz - ich weiche nimmer von dir! ( NS 89) Dass der freigelassene Sklave, der eine menschliche, liebevolle Behandlung erfahren hat, noch bessere Arbeit leistet, sei ein im 18. Jahrhundert weit verbreitetes Klischee. 61 Der Sklave ist zwar rechtlich frei; als Arbeiter wird er aber immer noch ausgenutzt. Das suggeriert auch die Figur des verstorbenen Vaters der beiden Brüder. Die Sklaven verehrten ihn als idealen, menschlichen, mitfühlenden Herren, ja als Vater - trotzdem verdankt er natürlich der Sklaverei seinen Reichtum. 62 Deshalb ist auch der alternative, melodramatische Schluss des Dramas hochproblematisch: Als William Ada (wie vorher bereits Zameo) freikauft, also durchaus einen Preis für einen Menschen bezahlt, bestätigt er indirekt - wenn auch gegen seine eigene Absicht - das bestehende System. Als einziges wirkliches Entkommen bliebe demnach das selbstbestimmte Sterben. Nach Dieter Borchmeyer ist dieser alternative Schluss der Negersklaven ohnehin ein Paradebeispiel für das, was die Trivialliteratur künstlerisch-ästhetisch zweifelhaft macht - und ihren Erfolg begründet. Indem sie „den Bedürfnissen der Leser nach einer Flucht aus den gesellschaftlichen Alltagsrealitäten entgegenkommt, dieses Bedürfnis durch Möglichkeiten der Harmonisierung im fiktionalen Bereich befriedigt und so zu einer Versöhnung mit dem bestehenden Gesellschaftszustand führt“, büßt sie ihr sozialkritisches, intellektuelles Poten- 61 Vgl. Zantop, Kolonialphantasien, S. 178. 62 Vgl. dazu auch Riesche, Schöne Mohrinnen, S. 268: „[Kotzebues] Vorstellungen von der Zeit nach dem Sklavenhandel beinhalten keine grundsätzliche Gleichstellung der Sklaven, sondern ein harmonisches Zusammenleben und -arbeiten von Schwarzen und Weißen, wobei letztere verantwortungsvoll die ihnen ‚natürlicherweise‘ zukommende Vater- und Vorgesetztenrolle übernehmen.“ - Laut Zantop steht dahinter die Überzeugung, dass deutsche Kolonisatoren, im Gegensatz zu den im Text geächteten englischen, spanischen und französischen, mit ihrer Rolle als väterliche Herren der Sklaven besser umgehen würden (vgl. Kolonialphantasien, S. 180). 150 B.III. Die Menschenwürde in August von Kotzebues Die Negersklaven (1794) tial, das in der ‚tragischen Version‘ ja zweifelsohne vorhanden ist, willentlich ein. 63 Tatsächlich ist Kotzebues Drama nicht frei von aus moderner Perspektive schwer hinnehmbaren Klischees, Vorurteilen und Gemeinplätzen - etwa in Bezug auf die Beziehung von Mann und Frau oder das Verhältnis verschiedener Ethnien. 64 Auch der entschärfte Schluss ist - wenn man ihm keine „ironisierende Funktion“ zugestehen will 65 - angesichts des dramaturgischen Aufwands, den Kotzebue vorher betreibt, kaum akzeptabel. Diese offensichtlichen Defizite sollten jedoch nicht den Blick für das verstellen, was das Stück dann doch leistet: eine durchaus bemerkenswerte begriffliche wie ästhetische Auseinandersetzung mit der Menschenwürde. Kotzebues Drama will wohl nicht radikal revolutionär sein und einen Aufstand oder Umsturz vorantreiben. Indem es aber sowohl an den Sklavereials auch an den Menschenwürdediskurs anknüpft, schafft es für beide ein öffentliches Bewusstsein. 66 III.7. Dimensionen der Menschenwürde in Kotzebues Die Negersklaven Kotzebues Drama macht deutlich, wie Literatur und Theater sich als eigenständige Diskurse entwerfen. Es begründet und konstituiert die Menschenwürde der Sklaven, die außerliterarisch missachtet und bestritten wird. 63 Borchmeyer, Weimarer Klassik, S. 369. 64 Vgl. z. B. Truros Aussagen: „[I]ch beneide die Weiber. Was der Mann nur aus Liebe giebt, darf das Weib aus Gehorsam gewaͤ hren, und es gilt fu ͤ r Liebe“ (NS 15) sowie: „Der Neger bedarf so wenig zur Freude“ (NS 56). 65 Nach Jörg F. Meyer haben die harmonisierenden Happy Ends in Kotzebues Stücken eine meistens übersehene „ironisierende Funktion“: „Was provokativ als künstliches und erzwungenes Angebot an das Publikum ausgestellt ist, das kann nur wider besseres Wissen zur Herstellung der ersehnten Harmonie benutzt werden.“ Die „eklatante Künstlichkeit“ und die „psychologische[n] Unwahrscheinlichkeiten“ solcher Enden heben also keineswegs, wie es die Literaturgeschichtsschreibung Kotzebue immer wieder vorwirft, die sozialkritische Intention der Texte auf, sondern sie fördern sie, indem sie das Happy End als bedrückend unglaubwürdig darstellen. Vgl. Verehrt. Verdammt. Vergessen. August von Kotzebue. Werk und Wirkung, Frankfurt / M. 2005, S. 93-95. 66 Menschenwürde und Menschenrechte schließen für Kotzebue eine streng hierarchisierte und durch Abhängigkeitsverhältnisse geprägte Gesellschaft - solange sie dem Gebot der Menschlichkeit unterliegt - offenbar nicht aus. Nach Riesche geht es Kotzebue vor allem um Reformen innerhalb eines bestehenden Systems, das es humaner zu gestalten gilt. Damit komme der Autor dem pädagogischen System der Weimarer Klassik nahe. Vgl. Schöne Mohrinnen, S. 290-291 (mit Verweis auf Norbert Otto Eke). III.7. Dimensionen der Menschenwürde in Kotzebues Die Negersklaven 151 Die Dialoge zwischen den Figuren John und William etablieren die Menschenwürde als zentrales Thema des Stücks; diskursiv begründet William in deutlicher Abgrenzung zu seinem Bruder die Würde der Sklaven. Deren literarische Konstitution gelingt durch mehrere Strategien: Kotzebue strebt durch die Zeichnung seiner schwarzen Sklavenfiguren als empfindsame, der europäischen Mentalität entsprechende Menschen ( via Sprache, Gestik, Affekthaushalt, Normenhorizont) die Identifikation des Rezipienten mit den Sklaven an. Identifikation ermöglicht Mitleid - dieses wird nicht nur als menschenwürdige, sondern auch als die Menschenwürde des Bemitleideten sichtbar machende und garantierende Geisteshaltung markiert. Sympathie und Rezeptionshaltung lenkt Kotzebue recht explizit: durch Regieanweisungen, ausdrücklich formuliert in Redeanteilen, durch Kontrasteffekte. Die Figur William wird als innerfiktionaler Stellvertreter des Rezipienten angeboten; ihre Reaktionen und Bewertungen sollen übernommen und nachgeahmt werden. Die rhetorische Herabwürdigung der Sklaven durch Sprechakte (Tiervergleiche, sowohl in der Fremdals auch in der Selbstbeschreibung, und Verdinglichungen) sowie die Szenen und Erzählungen extremer Gewalt gegen die Sklaven führen die Entwürdigungen drastisch vor Augen - und dienen ex negativo als Plädoyer für Gleichheit und Menschlichkeit. Nachdrücklich demonstriert das Stück: Die Entwürdigten sind keineswegs würdelos . Vielmehr sind es jene, die Urheber von Entwürdigungen sind sowie des Mitleidens und der Empathie unfähig sind, die ihre Menschenwürde kompromittieren. 152 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners Die Menschenwürde ist das zentrale Thema im Oeuvre Georg Büchners. 1 Mit beeindruckender Vehemenz fordern seine Texte die Achtung der Würde des Einzelnen ein. Sein literarisch-ästhetischer Umgang mit diesem Begriff lässt sich als konsequente Abkehr vom Menschenwürdeverständnis der von Heine geächteten „Kunstperiode“ beschreiben, als Distanzierung von seinem „Lieblingsfeind“, 2 dem „Idealdichter“ 3 Schiller, und dessen Würdebegriff. Doch das greift zu kurz: Zum einen ist in den Gymnasialschriften Schiller durchaus noch die entscheidende Bezugsgröße, zum anderen greift Büchner Tendenzen auf, die auf den vorangegangenen Seiten benannt wurden: die Apologie des Individuums, die bei J. M. R. Lenz und K. P. Moritz (in der Erfahrungsseelenkunde) zu beobachten ist, der Fokus auf die Kreatürlichkeit und die soziale Bedingtheit des Menschen, die Lenz betont, die von Lessing formulierte Mitleids- und Empathiepoetik, die in gesteigerter Form auch bei Kotzebue zu finden ist, schließlich literarisch artikulierte und ästhetisch transportierte Kritik an Ausbeutung und Gewalt. In den im Folgenden analysierten Texten - den Gymnasialschriften über den Freitod, dem Hessischen Landboten , Lenz und schließlich Woyzeck -, die jeweils einen ganz eigenen Beitrag zum Menschenwürdediskurs liefern, radikalisiert Büchner diese Ansätze. Zusammen ergeben sie die Dimensionen einer revolutionären Ästhetik der Menschenwürde. 1 In Ansätzen hat die Forschung bereits hierauf hingewiesen. So schreibt etwa Heinz Müller-Dietz, dass Büchner „immer wieder der Gedanke an Menschenrechte und Menschenwürde des ausgebeuteten, unterdrückten und geknechteten Individuums umtreibt“ (Naturrecht und Menschenwürde, S. 279). Ähnlich Patrick Fortmann: „[…] Büchner’s writings […] seek[] human dignity amidst the turmoil of poverty and pathology“ (Introduction: Georg Büchner’s Perpetual Contemporaneity, in: Commitment and Compassion. Essays on Georg Büchner. Festschrift for Gerhard P. Knapp, hg. v. P. F. u. M. B. Helfer, Amsterdam [u. a.] 2012, S. 15-20, hier S. 16). 2 Hans Otto Rößer, Die kritische Perspektive aufs Subjekt in Büchners Lenz , in: Georg- Büchner-Jahrbuch 10 (2004-2005), S. 173-205, hier S. 178. - Zu Büchners antiklassischer und antiidealistischer Ästhetik vgl. etwa Schings, Der mitleidigste Mensch, S. 75 und Walter Hinderer, Die Philosophie der Ärzte und die Rhetorik der Dichter. Zu Schillers und Büchners ideologisch-ästhetischen Positionen, in: Wege zu Büchner. Internationales Kolloquium der Akademie der Wissenschaften (Berlin-Ost) 1988, hg. v. H. Poschmann unter Mitarb. v. C. Malende, Berlin [u. a.] 1992, S. 27-44, hier S. 27. 3 Brief Büchners an die Familie vom 28. Juli 1835, in: Georg Büchner, Werke und Briefe. Münchner Ausgabe, hg. v. K. Pörnbacher, G. Schaub, H.-J. Simm u. E. Ziegler, München 13 2009, S. 305-307 (Nr. 45), hier S. 306. - Im Folgenden wird stets nach dieser Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (MA Seitenangabe) belegt. IV.1. Die Menschenwürde in Büchners Schulschriften und -reden 153 IV.1. Die Menschenwürde in Büchners Schulschriften und -reden über den Freitod Der junge Büchner ist noch in traditionellen Denk- und Deutungsmustern verhaftet. In den Schriften und Reden des Gymnasiasten manifestieren sich jedoch bereits Aspekte, die für seine spätere Menschenwürdeauffassung entscheidend sind. In seiner Ende 1829 / Anfang 1830 entstandenen Schulrede Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer verherrlicht Büchner die kollektive Selbstaufopferung eines Pforzheimer Heeres im Dreißigjährigen Krieg als freie Entscheidung autonomer Individuen, für eine Idee in den Tod zu gehen. 4 Am Anfang des Textes steht eine Definition des Erhabenen, die stark an Schillers Terminologie erinnert. In dessen Schriften findet sich neben anderen der Begriff der „erhabenen Würde“; sie ist eine dramenpoetische Kategorie, die auf der anthropologischen Grundannahme beruht, dass der Mensch mit Hilfe seines Willens und seiner Vernunft in der Lage ist, sich über die Zwänge der Natur hinwegzusetzen. 5 Büchner nimmt diesen Gedanken auf: Erhaben ist es, den Menschen im Kampfe mit der Natur zu sehen, wenn er mit gewaltiger Kraft sich stemmt gegen die Wut der entfesselten Elemente und, vertrauend der Kraft seines Geistes nach seinem Willen die Kräfte der Natur zügelt. ( MA 17) Das Erhabene ist an dieser Stelle sowohl anthropologisch als auch ästhetisch zu verstehen: Erhaben ist zum einen der Mensch, dessen Geist und Willen mit der Natur kämpfen, zum anderen - und aus syntaktischer Perspektive zuallererst - das „[S]ehen“, die Wahrnehmung des kämpfenden Menschen. Was Büchner hier beschreibt, ist also auch ein ästhetisches Phänomen: Der Mensch in seiner ästhetischen Wahrnehmung rückt in den Fokus. „[N]och erhabner“ sei der Kampf mit dem Schicksal, das Eingreifen in die Geschichte und die Aufopferung des eigenen Lebens für einen Zweck, der den Helden einen „rühmlichen Tod“ und „Unsterblichkeit“ einbringe ( MA 17): den 4 Das dem Text vorangestellte Motto zitiert ein Gedicht des Stürmers und Drängers Gottfried August Bürger. In dessen Version sterben die Männer „[f]ür Tugend, Menschenrecht und Menschen-Freiheit“ (so das Motto in MA 17), und zwar typischerweise „[i]m Drange des Gefühls“ (Die Tode, in: Sämtliche Werke, hg. v. G. u. H. Häntzschel, München / Wien 1987, S. 385-386, hier S. 385, V. 16). 5 Zu den Dimensionen der Menschenwürde bei Schiller vgl. oben, Kap. B.II.1. und B.II.6. - Die Parallele zu Schillers ästhetischen Schriften registriert auch Hinderer (Die Philosophie der Ärzte, S. 35-36). - Zum Verhältnis von Idealismus und Sinnlichkeit in Büchners Rede vgl. Sandro Holzheimer, „Riesenbild“ - Figuration und Defiguration des Heroischen bei Büchner, in: Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden, hg. v. N. Immer u. M. v. Marwyck, Bielefeld 2013, S. 149-172, hier S. 156-162. 154 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners Kampf „für Glaubens-Freiheit“, „für das Licht der Aufklärung, […] für das, was dem Menschen das Höchste und heiligste ist“ ( MA 19). Das Eintreten „für das heiligste Recht der Menschheit“ ( MA 22-23), mithin für das Recht auf Wissen und eigenständiges Denken, sei Frucht der Reformation. Erst durch ihr Verdienst „erkannte die Menschheit ihre Rechte und ihren Wert“, ohne sie wäre das „Menschen-Geschlecht, das sich jetzt zu immer freieren, zu immer erhabneren Gedanken erhebt, dem Tiere gleich, seiner Menschen-Würde verlustig“ (MA 19). Dass die Pforzheimer den Tod frei und mit großer Überzeugung wählten, ist für den jungen Büchner eine zutiefst menschenwürdige Handlung. Sie „trieb nicht Wut nicht Verzweiflung zum Kampf auf Leben und Tod (dies sind zwei Motive die den Menschen statt ihn zu erheben zum Tiere erniedrigen)“; vielmehr „hatten [sie] freie Wahl, und sie wählten den Tod“ ( MA 21-22). Er fährt fort: Dies ist das große, dies ist das erhabne an ihrer Tat; dies zeugt von einem Adel der Gesinnung, der weit erhaben ist über die niedrige Sphäre des Alltagsmenschen, dem sein Selbst das Höchste ist, sein Wohlsein der einzige Zweck, der jedes höheren Gefühls unfähig und verlustig der wahren Menschen-Würde, seine Vernunft nur gebraucht um tierischer als das Tier zu sein. ( MA 22) 6 Gleich zweimal benutzt Büchner das Kompositum „Menschen-Würde“, das in seinem Werk ansonsten nicht vorkommt. 7 Was er darunter versteht, bleibt dem Würdebegriff der Aufklärung und der Klassik verpflichtet: Er greift die traditionelle Bindung der Würde an die Vernunftfähigkeit des Menschen auf („Kraft seines Geistes“), die es ihm erlaubt, seine Wünsche zu reflektieren und autonom zu handeln. Die Grenze zwischen Mensch und Tier ist eindeutig; wer seine Menschenwürde verliert, wird zum Tier, ja fällt sogar noch eine Stufe tiefer. Aus dem besonderen „Wert“ des Menschen ergeben sich die mehrfach erwähnten „heiligsten Rechte“, die hier eine recht unbestimmte „Freiheit“ bezeichnen. Bemerkenswert sind die politischen Folgerungen des Gymnasiasten: Den Aufständischen der Französischen Revolution, ebenso Vorbilder wie die Pforzheimer, war „ein freier Tod lieber als ein sklavisches Leben“ (MA 18). Denn das Schlimmste, was einem Staat passieren könne, sei der „Verlust [der] geistigen Selbstständigkeit“ ( MA 24). Das Funktionieren des Staates ist demnach an die Achtung und Gewährleistung der individuellen Menschenwürde notwendig gebunden - hier scheint geradezu eine politische Utopie auf. 6 Die Anspielung auf Goethes Faust I, V. 286 verstärkt den Eindruck, dass sich Büchner hier noch eindeutig im gedanklichen Horizont der aufklärerisch-klassischen Menschenwürdevorstellung bewegt. 7 1809 erscheint das Lexem „Menschenwürde“ erstmals in einem deutschen Wörterbuch, und zwar im dritten Band von Campes Wörterbuch der Deutschen Sprache . Vgl. dazu oben, S. 35. In der im September 1830 gehaltenen Rede zur Verteidigung des Kato von Utika rechtfertigt Büchner leidenschaftlich (und ohne Bezug auf Gottscheds Drama) den Suizid des Cato, indem er ihn als „besonnene[]“ ( MA 29) Tat eines großen, freiheitsliebenden Charakters darstellt. „Vaterland, Ehre und Freiheit“ sind die Ideale, die Cato verkörpert; wenn Freiheit der einzig mögliche Zweck der menschlichen Existenz ist, dann ist auch der Freitod als Mittel, diese Freiheit zu wahren, erlaubt. Gleich mehrfach verbindet Büchner Catos Handlung mit der Vokabel „Würde“: Der Tod wird als das „Einzig-würdige“ bezeichnet ( MA 29), als ein „würdige[r] Schlußstein“ ( MA 30), der „seines ganzen Lebens würdig“ ist ( MA 31) und der „Würde seines Lebens geziemte“ ( MA 32). Im Kontext der stoischen Würdevorstellung, die er im Text referiert und somit als den einzigen zulässigen Bewertungsrahmen festsetzt, hält der Gymnasiast den Freitod für legitim: Neben dem drohenden Verlust der Freiheit 8 nennt Büchner Catos „Unvermögen, sich in eine seinen heiligsten Rechten, seinen heiligsten Grundsätzen widersprechende Lage zu finden“ ( MA 33), als nachzuvollziehenden Beweggrund für den Suizid. Der Mensch besitzt demnach unveräußerliche Rechte; eines davon ist das Recht auf Freiheit, also auch auf eine freie Willensentscheidung, auf die Möglichkeit, selbst über sein Leben zu bestimmen - und das schließt den Freitod ein. Büchner verteidigt Cato, weil er ihn „subjektiv“ (vgl. MA 28, 35) im Recht sieht. 9 In der Rezension eines Aufsatzes, den ein Mitschüler über den Selbstmord geschrieben hat, modifiziert er diese Auffassung jedoch. Die Teleologiekritik seiner Zürcher Probevorlesung Über Schädelnerven von 1836 vorwegnehmend (vgl. MA 259-260) führt Büchner an, dass der einzige von der Natur vorgegebene „Zweck“ des menschlichen Lebens das Leben selbst sei, dass es also nicht etwa nur eine Durchgangsstation, ein Mittel auf dem Weg ins Jenseits darstelle; so rechtfertigt in Büchners Augen die christliche Theologie das irdische Leiden. Insofern verstößt der Suizid gegen die Bestimmung, den Zweck des Menschen (und der Natur). Das erinnert an Kants Selbstzweckformel und 8 Der Begriff der Freiheit dominiert den Text. Er entspricht zwar der republikanischen Gesinnung des Cato, gewinnt aber auch vor dem Hintergrund des Menschenwürdediskurses eine besondere Bedeutung. Vgl. dazu Josef Römelt, Art. Freiheit, in: WdW, S. 149-150. Freiheit ist ein den Menschen auszeichnendes „Grundvermögen“, das bereits in der Antike „als eigenständige Potenz neben der Vernunft“ auf die Selbstbestimmung des Menschen abzielt. Entscheidend ist auch - gerade bei Büchner - die Bedeutung des Begriffs der Freiheit als Grundlage und Zweck des Rechtsstaats und der demokratischen Ordnung. 9 Büchner interessiert bei der Bewertung des Suizids weder der christliche (vgl. MA 28 und 35) noch der „politisch-juridische[]“ Standpunkt. Vgl. Michael Niehaus, Art. Recht und Strafe, in: Büchner-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, hg. v. R. Borgards u. H. Neumeyer, Stuttgart / Weimar 2009, S. 191-198, hier v. a. S. 192. IV.1. Die Menschenwürde in Büchners Schulschriften und -reden 155 156 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners an seine ganz ähnlich begründete Verurteilung des Suizids. 10 Allerdings besteht ein entscheidender Unterschied: Während bei Kant die Selbstzweckformel und das Suizidverbot an das Sittengesetz gebunden sind, herrscht bei Büchner das Bemühen um Verständnis vor, ein psychologisch motiviertes Interesse für den Einzelfall - und Empathie. Denn Büchner verurteilt weder Cato noch jene Selbstmörder, die sich „ aus physischen oder psychischen Leiden “ ( MA 37; Herv. i. O.) töten. Diese handeln zwar keineswegs nur aus freiem Willen; im Gegensatz zur zeitgenössischen Bewertung des Suizids werden sie bei Büchner jedoch nicht kriminalisiert, 11 sondern als Verständnis verdienende Menschen anerkannt. Darauf zielt der letzte Satz der Rezension, der auf einen in der begutachteten Arbeit formulierten „erhabne[n] Gedanke[n]“ anspielt, „welcher dem Menschen allein im Schlamme des Lebens die wahre Würde bewahren kann“ ( MA 38). Dabei geht es wohl um „den Begriff ächter und wahrer Menschenliebe“, die den Selbstmörder eben nicht sittlich verurteilt, sondern „die Gebrechen und Mängel des armen Sterblichen“ bedauert und den „Verirrten“ bemitleidet ( MA 38). Hier postuliert der 18-jährige Gymnasiast eine inhärente („wahre“) Form der Würde, die dem Menschen von niemandem genommen werden und durch nichts, auch nicht durch elende Umstände oder vermeintlich unsittliche Handlungen, kompromittiert werden kann. Der junge Büchner ist in der idealistischen Tradition verwurzelt. Seine Schulreden feiern die uneingeschränkte Handlungsfreiheit des Subjekts. Das Leben des Menschen selbst wird mit Rückgriff auf das idealistische, vernunftphilosophische Erbe als der höchste Zweck seiner Existenz gesetzt; daher müssen ihm Freiheit, die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und bestimmte Rechte zugestanden werden. Gleichzeitig ist bereits Büchners Interesse für den (bisweilen anormalen) Einzelfall spürbar, für die bedrohte Würde des Individuums. 10 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA 4, S. 421-422 und 429; ders., Metaphysik der Sitten, in: AA 6, S. 422-424. 11 Vgl. dazu Harald Neumeyer, Art. Selbstmord, in: Büchner-Handbuch (wie Anm. 9), S. 249-254, hier v. a. S. 250. Laut Neumeyer spielen die drei „Wahrnehmungsparadigmen“, die dem frühen 19. Jh. bei der Bewertung von Suiziden zur Verfügung stehen - das theologische, das souveränpolitische und das biopolitische -, bei Büchner allesamt keine Rolle. IV.2. Die verletzte Menschenwürde-- Der Hessische Landbote (1834) 157 IV.2. Die verletzte Menschenwürde-- Der Hessische Landbote (1834) Der Hessische Landbote 12 will im Gegensatz zu den Autonomiebestrebungen der Weimarer Klassik direkt und engagiert politische sowie gesellschaftliche Missstände entlarven und bekämpfen. Der Text verfolgt eine „persuasive Strategie“, 13 die den Rezipienten emotional ansprechen und bei ihm die Empörung, die für Büchner und Mitverfasser Weidig gleichsam die Triebfeder des Schreibens ist, hervorrufen soll. 14 Als wichtigsten Bezugsrahmen hat die Forschung neben dem statistischen Material über das Großherzogtum Hessen vielfach die Bibel mit ihren affektiven, den Bauern (als eigentlichen Adressaten der Flugschrift) vertrauten Formeln und Bildern ausgemacht. Mit Blick auf die vielen Bezüge zum Würdediskurs lässt sich die eigentliche Funktion der Bibelreferenzen genauer bestimmen als ‚Köder‘, als Wortmaterial, in das Büchner seinen Würdebegriff verpackt. Gleich zweimal nennt der Text explizit die Vokabel „Würde“. Zunächst berichtet der Exkurs über die Französische Revolution, dass „die Franzosen die erbliche Königswürde [abgeschafft haben]“ ( MA 52); kurz darauf heißt es über den Großherzog: „Seine Würde ist erblich in seiner Familie“ ( MA 56). Nicht zu überhören ist hier der Spott Büchners: Die Würde, um die es hier geht, ist 12 Betrachtet wird nur die Juli-Fassung; die Änderungen an der späteren Fassung stammen nicht von Büchner. - Büchner verfasste den Text 1834 zusammen mit dem Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig (1791-1837). Ein großer Teil der Forschung widmet sich der Frage nach der Zuordnung der einzelnen Textteile; der erste Teil der Schrift wird gemeinhin Büchner zugeschrieben, der zweite mitsamt des emphatischen Schlusses sowie die Vorbemerkungen Weidig. Vgl. den Forschungsüberblick in der von Henri Poschmann besorgten Ausgabe: Georg Büchner, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, Bd. 2, hg. v. H. P. unter Mitarb. v. R. Poschmann, Frankfurt / M. 2006, S. 804-825. - In einem rezenten Beitrag spricht Burghard Dedner Büchner (gegen Thomas Michael Mayer) erheblich mehr Textanteile zu, auch einige der Stellen, die im Folgenden herangezogen werden (etwa der historische Exkurs zur Französischen Revolution und Stellen, die die Menschenrechte erwähnen). Vgl. Dedner, Zu den Textanteilen Büchners und Weidigs im Hessischen Landboten, in: Georg-Büchner-Jahrbuch 12 (2009-2012), S. 77-141, hier bes. S. 92 und Mayer, Büchner und Weidig - Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des „Hessischen Landboten“, in: Text + Kritik. Sonderband. Georg Büchner I / II, hg. v. H. L. Arnold, München 1979, S. 16-298. Im vorliegenden Zusammenhang fällt auf, dass die Untersuchung des Würdediskurses die Thesen Dedners und seine Textzuordnung auf den ersten Blick bestätigt. Im Folgenden wird aus Gründen der Leserfreundlichkeit meist von Büchner als Autor gesprochen. 13 Dietmar Till, „Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies seyn.“ Die Rhetorik der Revolution im Hessischen Landboten , in: Georg-Büchner-Jahrbuch 12 (2009-2012), S. 3-24, hier S. 15. 14 Vgl. Christian Neuhuber, Georg Büchner. Das literarische Werk, Berlin 2009, S. 13-19 zum historischen Kontext. 158 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners eigentlich keine, sie ist „erblich“, also kontingent. Die besondere Würde der herrschenden Schichten, die ihre herausgehobene gesellschaftliche Stellung begründet, beruht ausschließlich auf ihrer Abstammung und nicht einmal auf persönlichen Verdiensten; sie ist vollkommen unverdient. Umso schwerer wiegt deshalb, dass am anderen Ende der sozialen Leiter der vollkommen entwürdigte, in seiner Würde nicht geachtete Bauer steht. Büchner nutzt diese Diskrepanz rhetorisch, indem er erstens die Entwürdigung des einfachen Volkes drastisch veranschaulicht, zweitens die kontingente Würde der Herrschenden rhetorischästhetisch destruiert und drittens eine Menschenwürdevorstellung entwickelt, die auf Gleichheit und der Freiheit des Einzelnen basiert. IV.2.1. Die Rhetorik der Entwürdigung Inhaltlich umkreist der Hessische Landbote die Würde des Menschen, ihre Bedrohung, Verletzung und Behauptung. Sprachlich benutzen die Autoren die Bibelreferenzen als rhetorisches Vehikel, als Verpackung des eigentlich naturrechtlichen Würdebegriffs. Eine politische, philosophische oder juristische Argumentation hat der Bürgersohn Büchner den einfachen Bauern offenbar nicht zugetraut. Dies zeigt sich bereits am Anfang des Textes; hier wird mit Pathos auf die Schöpfungsgeschichte verwiesen. Im Hessen des Jahres 1834 wird „die Bibel Lügen gestraft“. Nicht der Mensch als solcher erscheint als die ‚Krone der Schöpfung‘, sondern nur die „Fürsten und Vornehmen“; die Handwerker und Bauern hingegen, wie das „Getier“ und das „Gewürm“ am fünften Tag erschaffen, werden von jenen beherrscht ( MA 40). Die dem Schöpfungsbericht entlehnte Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grund seiner Würde - dem einfachen Volk ohne Zweifel geläufig - scheint für die unteren Schichten nicht zu gelten. Der vermeintlich herausgehobene menschliche Status wird den Bauern durch zahlreiche eindringliche Bilder abgesprochen: Sie werden metaphorisch zu Tieren, zu bedauernswerten Kreaturen degradiert. Die Bauern werden „mit den Ochsen am Pflug [getrieben]“ ( MA 40) und „zu Ackergäulen und Pflugstieren gemacht“ ( MA 42). Verantwortlich für diese Entwürdigung sind der Großherzog und die Beamten: „Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder“ (ebd.). 15 Als vertierte Subjekte sind die Bauern der physischen Gewalt der Regierung ausgesetzt: Man „schinde[t]“ sie ( MA 44), 15 Vgl. auch „Vieh“ (MA 46) und „Ackergäule“ (MA 44); auch das französische Volk lehnte sich auf, um nicht mehr „Schindmähre des Königs“ (MA 52) zu sein. - Vgl. dazu auch Roland Borgards, Art. Tiere, in: Büchner-Handbuch (wie Anm. 9), S. 222: „Der Hessische Landbote formuliert die Theriomorphisierung (d. h. Vertierlichung) des Menschen als politische Kritik.“ IV.2. Die verletzte Menschenwürde-- Der Hessische Landbote (1834) 159 „[]züchtigt“ ( MA 50) sie mit der „Zuchtrute“ ( MA 54), mutet ihnen „Armut und Erniedrigung“ zu ( MA 44). Die Sprache der Kreatürlichkeit verdeutlicht das Ausmaß von Entwürdigung, Erniedrigung und Gewalt. Der Text nennt Körperflüssigkeiten, die als Folge von Angst, Trauer und Verletzung auftreten. 16 Verben, die sich auf schwere körperliche Arbeit, Ausbeutung, Unterdrückung und Gebrechen beziehen, 17 zeigen an, wie die Bauern bis an den Rand der physischen und psychischen Erschöpfung ausgenutzt werden. Schließlich werden Körperteile erwähnt, um zu suggerieren, dass die Regierung in die Privatsphäre des Einzelnen eindringt und ihm die Verfügung über den eigenen Leib entzieht. 18 Die körperliche Integrität der Bauern wird in diesen ‚Gleichnissen‘ radikal bedroht; ihre Existenz ist bestimmt von Angst, Terror und Leid. Dieses Schreckensbild wird an einer markanten Stelle durch eine Metaphorik des Ekelhaften noch gesteigert: Von den „Herren“ heißt es, dass sie ihre mit dem Brot der Bauern gesättigten „Bäuche[]“ mit „schönen Kleidern“ bedecken, „die in ihrem [i. e. der Weiber und Kinder; MG ] Schweiß gefärbt“ wurden, dass sie sich mit „zierlichen Bändern“ schmücken, „die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind“, dass sie in „stattlichen Häusern“ wohnen, „die aus den Knochen des Volks gebaut“ wurden, dass sie schließlich „Lampen“ benutzen, „aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminiert“ ( MA 50). Die Bauern sind bloße Objekte, Menschenmaterial, das von den „Herren“ restlos und zum eigenen Profit verwertet wird. Sie werden zu bloßen Mitteln zum Zweck herabgewürdigt. Darauf laufen auch die vielen statistischen Daten letztlich hinaus: Das Volk wird als Mittel, den Staat - genauer: die Regierung - zu unterhalten, missbraucht. 19 Da es nicht einmal über den eigenen Leib verfügen kann, ist es „willenlos“ ( MA 64) der „Willkür“ ( MA 62) 16 Vgl. „Schweiß“ (MA 40, 44, 50), „die Tränen der Witwen und Waisen“, „der Blutzehnte“ (MA 42). 17 Vgl. „schwitzen, stöhnen und hungern“, „hungern und geschunden werden“ (MA 42), „kriecht“, „bückt“ (MA 50). 18 Vgl. MA 46: „Der Boden unter euren Füßen, der Bissen zwischen euren Zähnen ist besteuert. […] sie legen die Hände an seine [i. e. des Volkes; MG] Lenden und Schultern und rechnen aus, wie viel es noch tragen kann“. 19 Diese Behandlung der Bauern widerspricht Kants kategorischem Imperativ, der postuliert, den Menschen stets als Zweck (und niemals als bloßes Mittel) einer Handlung zu betrachten. Dass Büchner Kants Würdebegriff kannte, ist wahrscheinlich - immerhin beschäftigte er sich in seinem wissenschaftlichen Leben mit der Geschichte der Philosophie. - In der Komödie Leonce und Lena sind die Bauern zu reiner Staffage, zu Schmuck degradiert, um der bevorstehenden Hochzeit einen feierlichen Charakter zu verleihen (III,2; MA 182); auch hier sind die Bauern nur Mittel zu einem herrschaftlichen Zweck. - Zu der auf Kants Moralphilosophie zurückgehenden (und seither wirkmächtigen) Objektformel vgl. Ulfried Neumann, Art. Objektformel, in: WdW, S. 334-336. 160 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners der Regierung unterworfen. Der Staat ist auf der Missachtung der Würde seiner Untertanen aufgebaut. Der Text will nun insinuieren, dass die Bauern an diesem unhaltbaren Zustand eine Mitschuld tragen, da sie die kontingente Würde der Herrschenden allzu kritiklos akzeptieren. 20 Der revolutionäre Aufruf zur Gegenwehr wird daher rhetorisch unterstützt durch die Delegitimierung der kontingenten Würde: 21 Da die Tiermetaphorik, die Metaphorik des Ekelhaften und die Sprache der Kreatürlichkeit auch auf den Großherzog und sein Gefolge bezogen werden, nur in einem deutlich schärferen, anklagenderen Ton, entsteht wieder eine Gleichheit zwischen den entwürdigten Bauern und der Regierung; dem gesamten Herrscherapparat wird ebenfalls - allein durch die sprachliche Präsentation - die Würde abgesprochen: Der Fürst ist der Kopf des Blutigels, der über euch hinkriecht, die Minister sind seine Zähne und die Beamten sein Schwanz. Die hungrigen Mägen aller vornehmen Herren […] sind Schröpfköpfe, die er dem Lande setzt. Das L. was unter seinen Verordnungen steht, ist das Malzeichen des Tieres, das die Götzendiener unserer Zeit anbeten. Der Fürstenmantel ist der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe in ihrer Geilheit übereinander wälzen - mit Orden und Bändern decken sie ihre Geschwüre und mit kostbaren Gewändern bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber. Die Töchter des Volks sind ihre Mägde und Huren, die Söhne des Volks ihre Lakaien und Soldaten. ( MA 50) 22 An einer zentralen Stelle prallen zwei unterschiedliche Definitionen des Menschen aufeinander: 20 Vgl. MA 50. Dass es sich um eine Würde handelt, die auf der Vertikalen, der sozialen Hierarchie beruht, wird durch lokal konnotierte Präpositionen und Adverbien, welche die Regierung und das Volk in ein Oben und ein Unten einteilen, suggeriert („ über menschliche Geschlechter“ [MA 50], der Großherzog hat den „Fuß auf {eurem} Nacken“ [MA 48; Wort von den Hgg. ergänzt]; m. H.). - Vgl. ähnlich Joachim Franz, Ein Programmzettel zum Theater der Mächtigen. Zur Kritik an herrschaftstragenden Inszenierungen im Hessischen Landboten , in: Georg-Büchner-Jahrbuch 12 (2009-2012), S. 25-44, hier S. 37. 21 Bödeker, Art. Menschheit, S. 1086 weist darauf hin, dass Johann Georg Hamann in seiner Schrift Au Salomon de Prusse (1772) ganz ähnlich argumentiert. - In Büchners materialistischem Weltbild kann kontingente Würde nur als zufällig erscheinen. Vgl. dazu den Brief an die Familie vom Februar 1834: „ Ich verachte Niemanden , am wenigsten wegen seines Verstandes oder seiner Bildung, weil es in Niemands Gewalt liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, - weil wir durch gleiche Umstände wohl alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen“ (MA 285; Herv. i. O.). 22 Weitere Tiermetaphern werden verwendet, wenn der Großherzog in die Nähe eines „Krokodil[s]“ gerückt wird, das die Untertanen zerreißt (MA 50), wenn König Ludwig von Bayern als „Schwein“ und als „Wolf “ bezeichnet wird (MA 60) und wenn von den „Raubgeier[n] in Wien und Berlin“ die Rede ist (MA 58). IV.2. Die verletzte Menschenwürde-- Der Hessische Landbote (1834) 161 Im Namen des Großherzogs sagen sie [i. e. die großherzoglichen Diener; MG ], und der Mensch , den sie so nennen, heißt: unverletzlich, heilig, souverän, königliche Hoheit. Aber tretet zu dem Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel. Es ißt, wenn es hungert, und schläft wenn sein Auge dunkel wird. Sehet, es kroch so nackt und weich in die Welt, wie ihr und wird so hart und steif hinausgetragen, wie ihr, und doch hat es seinen Fuß auf {eurem} Nacken […]. ( MA 48; m. H.) Hier wird paradigmatisch zwischen einer kontingenten, sozialen Würde einerseits und einer Würde, die in religiös gefärbte Sprache gekleidet („Sehet“, „Menschenkinde“), letztlich aber naturrechtlich begründet ist, andererseits differenziert. Letztere ist jedem Menschen eigen. Die dahinterstehende (politische) Aussage ist folgende: Alle Menschen sind prinzipiell gleich; Ausbeutung, Gewalt, Unterdrückung und Herabwürdigung beruhen auf künstlich hergestellten Hierarchien und verstoßen (in der suggerierten biblischen Deutung) gegen Gottes Willen. IV.2.2. Die naturrechtlich begründete Menschenwürde Heinz Müller-Dietz sieht das Hauptanliegen des Büchnerschen Gesamtwerkes in der Rettung und der Restitution der Menschenwürde und der Menschenrechte aus naturrechtlicher Sicht. 23 Der Hessische Landbote beziehe „um der Menschenrechte und -würde des ausgebeuteten und unterdrückten Volkes willen unmißverständlich gegen die herrschende Rechts- und Gesellschaftsordnung Stellung“ 24 und rufe zum Umsturz auf. Dieser Befund lässt sich präzisieren: Der naturrechtlich geprägte Menschenwürdebegriff wird im Text ex negativo entwickelt, durch den Nachweis, dass die naturrechtliche Idee eines die gleiche Würde aller Menschen garantierenden und respektierenden Staates in der Realität vollkommen pervertiert ist. Diesen Gedanken kleidet Büchner in das Bild- und Sprachmaterial der Bibel: „Gott [schuf] alle Menschen frei und gleich 23 Büchner propagiere „das elementare Recht des Menschen […], frei von Ausbeutung und Fesseln seiner Würde gemäß zu leben“ (Müller-Dietz, Naturrecht und Menschenwürde, S. 262). - Büchner hörte in Gießen Vorlesungen über das Naturrecht (vgl. Niehaus, Art. Recht und Strafe, S. 192). - Zu Büchners Verhältnis zum Naturrecht vgl. auch Gideon Stiening, „Man muß in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen“. Recht und Gesetz nach Büchner, in: Commitment and Compassion (wie Anm. 1), S. 21-45, hier v. a. S. 25-29. 24 Müller-Dietz, Naturrecht und Menschenwürde, S. 272. - Der Hessische Landbote äußert in scharfem Ton Rechtskritik; vgl. z. B. MA S. 44: „Die Justiz ist in Deutschland seit Jahrhunderten die Hure der deutschen Fürsten.“ - Stiening relativiert die Angemessenheit dieser Kritik deutlich („Man muß …“, S. 35-36). 162 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners in ihren Rechten“ ( MA 58), heißt es in der zweiten Hälfte des Textes. 25 Doch die politisch-soziale Wirklichkeit sieht anders aus: „Ihr seid nichts, ihr habt nichts! Ihr seid rechtlos“ ( MA 62). Solche auf das Provozieren von Empörung und Wut abzielenden Oppositionen werden häufiger verwendet: „ Ihnen gebt ihr 6,000,000 fl. Abgaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d. h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben“ (MA 42 und 44; m. H.). Von gegenseitiger Verantwortung und Pflichterfüllung, wie sie in der rationalistischen Naturrechtlehre Pufendorfs aus der dem Menschenwürdebegriff zugeordneten socialitas folgen, 26 kann also nicht die Rede sein. Insofern verhalten sich die Herrschenden, die die Würde ihrer Untergebenen nicht achten, selbst menschenunwürdig. Im kurzen staatstheoretischen Exkurs skizziert Büchner ein Ideal, das nur kurz darauf ironisch gebrochen wird: „Was ist denn nun das für ein gewaltiges Ding: der Staat? […] Der Staat also sind Alle ; die Ordner im Staate sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird, und die aus dem Wohl Aller hervorgehen sollen“ ( MA 42; Herv. i. O.). 27 Die Bauern zahlen zwar horrende Steuern, um die Ordnung des Staates aufrecht zu erhalten, doch: „In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden“ ( MA 42), die Gesetze garantieren also keineswegs die Sicherung unveräußerlicher Menschenrechte und ein menschenwürdiges Leben. Die deutschen Fürsten werden als gewalttätige, gar illegitime Obrigkeit gebrandmarkt: „Sie zertreten das Land und zerschlagen die Person des Elenden“ ( MA 52). Dies ist sowohl ein Bibelzitat 28 als auch ein Verweis auf den für den Menschenwürdediskurs einschlägigen Begriff der „Person“. 29 Er beruht auf der Autonomie des Vernunft- 25 Ähnliche Formulierungen kommen noch häufiger vor; vgl. MA 46 („daß ihr freie Menschen seid“) und MA 54 („dem Gotte […], der die Menschen frei und gleich geschaffen“). - Dedner zeigt, dass die Begründungsmuster (Gott / göttliche Schöpfung und Naturrecht - in Bezug auf die Menschenrechte) beide von Büchner stammen können. Das erste sei eine „terminologische Variante“ des zweiten. Vgl. Dedner, Textanteile, S. 123-128. Anders ausgedrückt: Naturrechtliche Argumente werden über eine biblisch-christlich inspirierte Sprache transportiert. 26 Zu Pufendorf vgl. oben, S. 19 und 73. 27 Dasselbe Argument findet sich im Abschnitt über die Französische Revolution, die aus der Meinung, „ein König sei ein Mensch wie ein anderer “ (m. H.), entstand. Man erklärte „die Rechte des Menschen“; u. a. wird die kontingente Würde („ein Recht vor dem andern“) zurückgewiesen und der Staat wie folgt definiert: „Die höchste Gewalt ist in dem Willen Aller oder der Mehrzahl.“ Das Recht auf freie Wahlen wird aus „der Vernunft und der heiligen Schrift“ abgeleitet (MA 52); diese doppelte Legitimation entspricht der Strategie des Textes, revolutionäres Gedankengut unter Rückgriff auf Bibel und christlichen Glauben zu transportieren. 28 Jes 3,15; vgl. MA 466. 29 Vgl. dazu Nikolaj Plotnikov, Art. Person, in: WdW, S. 181-183. Als eines der drei „semantische[n] Grundmodelle“ des Verständnisses von Person nennt Plotnikov Kants Autonomiemodell, das in diesem Zusammenhang das entscheidende ist. Nach Kant ist IV.2. Die verletzte Menschenwürde-- Der Hessische Landbote (1834) 163 menschen; dass er hier im Kontext der politischen Partizipation durch Wahlen benutzt wird, entlarvt die Beeinträchtigung sowohl der Selbstbestimmung des Einzelnen als auch seines Rechtes auf freie Meinungsäußerung durch politische Mitbestimmung als ein Mittel der Herrschaft und der Unterdrückung. Freiheit wird präzisiert als Selbstbestimmung, 30 als Recht auf freie Entscheidungen. Dies muss gegeben sein, um der Würde des Menschen Rechnung zu tragen. IV.2.3. Menschenwürde und Menschenrechte Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts, in Ansätzen jedoch bereits im Zeitalter der Aufklärung werden aus der Menschenwürde bestimmte Menschenrechte abgeleitet. 31 Auch der Hessischen Landboten impliziert einen unmittelbaren Zusammenhang. Im Zuge der Französischen Revolution seien die „Rechte des Menschen“ erklärt worden, und diese werden auch kurz ausgeführt: Alle Menschen sind von Geburt aus gleich, der Einzelne hat ein Recht auf politische Partizipation, politische Entscheidungen müssen immer Mehrheitsentscheidungen sein und durch Repräsentation den Willen der Mehrzahl widerspiegeln ( MA 52). Daher seien die aktuellen Wahlgesetze „Verletzungen der Bürger- und Menschenrechte“ ( MA 56). 32 Diese letzte Formulierung ist eine recht eindeutige Anspielung auf die revolutionäre Déclaration des droits de lʼhomme et du citoyen derjenige eine Person, der „Subjekt seiner Handlungen“ ist. Person ist somit eine „moral- und rechtsphilosophische Kategorie“. Die als Vernunftwesen handelnde Person zeigt sich empirisch als „Subjekt der Freiheit, das zugleich einer Zurechnung fähig ist“ (ebd., S. 182). 30 Die Idee der Selbstbestimmung wird allerdings bereits im Hessischen Landboten relativiert. Die politische Situation gewährt nämlich nicht einmal einem „ehrliche[n] Minister“ Handlungsspielraum; er wäre, wie die anderen Beamten, die „nur Werkzeuge, nur Diener“ sind, eine „Drahtpuppe, an der die fürstliche Puppe zieht“ (MA 48). Auch der Fürst ist also nur beschränkt handlungsfähig. Hier deutet sich schon die Problematisierung der Möglichkeit einer Einflussnahme auf das politische und historische Geschehen durch das handelnde Individuum an, die in Dantons Tod virulent wird. 31 Vgl. dazu oben, S. 22 - 23, 79 - 81 und 113. - Büchner gründete sowohl in Gießen als auch in Darmstadt eine „Gesellschaft für Menschenrechte“ und las dort offenbar neuen Mitgliedern die französische Menschenrechtserklärung von 1793 vor. „Büchner soll einzig eine republikanische Verfassung für menschenwürdig gehalten haben“ (Michael Glebke, Die Philosophie Georg Büchners, Darmstadt 2 2010, S. 96; Glebke bezieht sich auf Zeugenaussagen von Gefährten Büchners). Vgl. auch Thomas Michael Mayer, Die ‚Gesellschaft der Menschenrechte‘ und Der Hessische Landbote , in: Georg Büchner. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler 1813-1837. Katalog der Ausstellung Darmstadt 1987, hg. v. S. Lehmann [u. a.], Basel / Frankfurt / M. 1987, S. 168-186. 32 Zwei weitere Belege finden sich MA 44. - Alle vier Belege sind mit Dedner wohl Büchner zuzuordnen. Dies ist von entscheidender Bedeutung, will man die Entwicklung von Büchners Umgang mit der Menschenwürde bewerten. Tatsächlich stammen nämlich, wenn man Dedners Argumentation folgt, die allermeisten Aussagen mit Bezug zur Menschenwürde aus der alleinigen Feder Büchners. 164 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners (1789), deckt sich auf der Ebene der politischen Rechte aber durchaus auch mit dem, was der moderne Begriff der Menschenrechte umfasst. Büchners spezifische Position ist aber viel grundlegender: Die eindringliche Schilderung der menschlichen Kreatürlichkeit (nicht nur im Landboten ) verweist auf das, was in seinem Weltbild der „erste Beweger“ 33 ist: der Hunger . Das ganz basale Recht des Einzelnen auf ein Minimum an materieller Versorgung steht noch vor jedem Gedanken an politische Reformen. Genau das ist der Ausgangspunkt für die Kritik an der menschenunwürdigen Existenz im Hessischen Landboten . 34 In einem kurz nach der Entstehung des Hessischen Landboten verfassten Brief an die Familie empört sich Büchner über die behördlichen Maßnahmen gegen ihn im Zuge der Ermittlungen wegen der Flugschrift, die auch zu einer Durchsuchung seines Zimmers führten: Ich bin empört über ein solches Benehmen, es wird mir übel, wenn ich meine heiligsten Geheimnisse in den Händen dieser schmutzigen Menschen denke. […] Auf einen vagen Verdacht hin verletzte man die heiligsten Rechte […]. ( MA 293; Nr. 29) 35 Zwar gehören diese Äußerungen zur pragmatischen, auf private Kommunikation abzielenden Textsorte Brief und stehen überdies im Kontext eines Rechtfertigungsdrucks gegenüber den Eltern, doch die Wortwahl gleicht jener des Landboten . Zum einen argumentiert Büchner im Hinblick auf bestehendes Recht und beklagt, dass seine festgeschriebenen Rechte nicht respektiert wurden. Zum anderen postuliert er jenseits jeder positiven Gesetzgebung ein Recht auf Wahrung der Privatsphäre, ein Recht auf einen Raum, in den niemand eindringen 33 Alfons Glück, Über politische „Grundsätze“ Georg Büchners Der Hessische Landbote und Sätze axiomatischen Charakters in den Briefen, in: Georg-Büchner-Jahrbuch 12 (2009-2012), S. 45-75, hier v. a. S. 62-64. Glück bezieht sich auf Büchners Bemerkung in einem Brief an Gutzkow im Juni 1836, dass „man […] in sozialen Dingen von einem absoluten Rechts grundsatz ausgehen“ müsse (MA 320; Herv. i. O.) und vermutet hierin eine Anspielung auf die französische Menschenrechtserklärung in der überarbeiteten Form von 1793. Im Einklang mit Saint-Just und Heine fordere Büchner die dort nicht zugesicherte existenzielle Sicherheit für den Einzelnen. - Stiening hingegen vermutet, dass sich Büchner hier auf „die Rechtsstaats- und Gesetzesbestimmungen der radikalen Demokraten der 1830er Jahre bezieht“ („Man muß …“, S. 43). 34 Vgl. Niehaus, Art. Recht und Strafe, S. 193: Die einzige Bedeutung, die man der Aussage über den „absoluten Rechtsgrundsatz“ zuschreiben könne, sei der Bezug zum Naturrecht. Insofern das Naturrecht von unveräußerlichen Rechten des Menschen ausgeht und die französischen Menschenrechtserklärungen auf ebendieser Annahme beruhen, steht das Naturrecht über dem in Hessen geltenden Gesetz. Wenn Büchner von Menschenrechten spricht, meine er das Naturrecht. 35 Brief vom August 1834. Ähnlich auch in einem weiteren Brief vom 8. August 1834, ebenfalls an die Eltern: „Das Verletzen meiner heiligsten Rechte und das Einbrechen in alle meine Geheimnisse, das Berühren von Papieren, die mir Heiligtümer sind, empörten mich zu tief […]“ (MA 294; Nr. 30). IV.2. Die verletzte Menschenwürde-- Der Hessische Landbote (1834) 165 und über den nur der Einzelne selbst verfügen darf. 36 Dies korreliert, nun nicht mehr auf der Ebene des einfachen Bauern, sondern auf jener des Bürgersohns, mit dem bereits im Landboten scharf kritisierten Eindringen der Regierung in den persönlichen Bereich des Einzelnen und ihrer Verfügungsgewalt über die Privatsphäre, über den Körper der Armen. Wenn er von Menschenrechten spricht, benutzt Büchner immer wieder das Epitheton „heilig“, manchmal sogar im Superlativ. Diese Kollokation erinnert an die von Hans Joas vorgeschlagene These, die den Glauben an die Menschenrechte als „Geschichte der Sakralisierung der Person“ beschreibt. Zwar nennt Büchner die Menschenrechte selbst, nicht ihre Träger, „heilig“; doch für ihn besitzen die Menschenrechte eben jene Qualitäten, die nach Joas „für die Sakralität charakteristisch sind: subjektive Evidenz und affektive Intensität“. 37 Die Geltung der Menschenrechte für alle Menschen wird von Büchner nachdrücklich behauptet; implizit begründet wird diese Überzeugung durch den für das Zielpublikum in biblischer Sprache formulierten naturrechtlichen Menschenwürdebegriff. * Mit großem ästhetisch-rhetorischen Aufwand inszenieren die Autoren des Hessischen Landboten die Menschenwürde und ihre Verletzung und instrumentalisieren sie für ihre Zwecke. Als implizites Ideal liegt dem Text ein Menschenwürdebegriff zugrunde, der Freiheit, Gleichheit und das Recht auf Selbstbestimmung postuliert: 38 Für jeden Menschen müssen in seiner konkreten Situation bestimmte Umstände zwingend gegeben sein, damit er ein würdiges Leben führen kann. Im Text wird diese Definition ex negativo entwickelt, indem drastisch die Verstöße gegen diese Menschenwürdevorstellung aufgezeigt werden. Transportiert werden sowohl das implizite Ideal als auch die empörenden Menschenwürdeverletzungen durch eine Sprache, die mit ihrer Drastik und ihren Anleihen aus der Bibel stark affektiv anspricht. So wird die ‚ästhetische Verletzung‘ der Menschenwürde innerhalb eines sprachlichen Gebildes zu einer subversiven, bewusst eingesetzten Strategie. 36 Auch Stiening deutet die „heiligsten Rechte“ als Persönlichkeitsrechte, sieht als Alternative aber auch das Recht auf Eigentum; jedenfalls verstehe Büchner diese Rechte naturrechtlich (vgl. „Man muß …“, S. 25-29). 37 Joas, Die Sakralität der Person, S. 18. Insofern ist der Begriff „heilig“ bei Büchner nicht primär christlich konnotiert. 38 Gegenüber früheren, aufklärerisch-idealistisch geprägten Würdebegriffen kommt es zu einer entscheidenden Akzentverschiebung. Nicht mehr das theoretische Potential des Menschen und daran anknüpfende moralische Forderungen sind entscheidend; Büchner denkt viel materialistischer, auf einer viel basaleren Ebene und verbindet mit der Menschenwürde konkrete soziale und politisch-juristische Forderungen. 166 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners IV.3. „Man muß die Menschheit lieben“-- Die literarische Konstitution von Menschenwürde im Lenz (1835 / 39) In der Philosophie Immanuel Kants ist die Autonomie des reflektiert handelnden Vernunftwesens der Grund seiner Würde, das, was es zur Person macht. 39 Auch bei Schiller ist der Begriff der Würde eng verbunden mit der Vorstellung eines von Naturnotwendigkeiten und -trieben nicht determinierten freien Willens. Büchners Lenz kann als literarische Auseinandersetzung mit solchen aufklärerisch-idealistischen Menschenwürdedefinitionen gelesen werden. Der Text problematisiert diese Begründungsmuster; entsprechend dienen sie Büchner auch nicht als letztgültige Bewertungsrahmen für seine Figur. Vielmehr relativiert der Text die Vorstellung von der Autonomie des Individuums als Grund seiner Würde deutlich. Gleichzeitig wird die Würde der Figur Lenz durch genuin literarische Mittel konstituiert. Büchners Text zeigt auf beeindruckende Art und Weise, wie das Einklagen von Empathie ästhetisch funktioniert. IV.3.1. Lenz als vermeintlich würdelose Figur Der aufklärerische Blick auf Lenz prägt den historischen Bericht des Pfarrers Oberlin, Büchners Hauptquelle; auch im fiktionalen Text ist dieser Bewertungsrahmen präsent, durch die Figuren Oberlin und Kaufmann. 40 Aus einem solchen Blickwinkel kann die psychisch labile Figur Lenz aufgrund ihres weitgehenden Autonomieverlusts würdelos wirken. Durch bestimmte syntaktische Konstruktionen schafft Büchner tatsächlich den Eindruck einer Fremdbestimmtheit. Die Figur Lenz erscheint als von einer nicht genauer definierten oder definierbaren Entität gesteuert, sodass sie nicht mehr, oder zumindest nicht immer, selbstbestimmt handeln kann. Besonders auffällig sind die häufigen Syntagmen mit vorangestelltem „es“. 41 Diese Häu- 39 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA 6, S. 436: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“. Zu Kants Würdebegriff vgl. oben, S. 74 - 75. 40 Wenn von Lenz die Rede ist, muss stets klar sein, auf welcher Ebene die Auseinandersetzung stattfindet, d. h. ‚welcher Lenz gemeint ist‘: die historische Figur, die von Büchner geschaffene literarische Figur, die vom Erzähler und anderen innerfiktionalen Charakteren wahrgenommene Figur oder Lenz als Künstlerfigur. 41 Die genaue linguistische Beschreibung solcher Syntagmen ist nicht immer einfach und eindeutig. Daniel Sanders geht in seinem Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten der deutschen Sprache (Berlin 18 1888) nicht von ungefähr an mehreren Stellen darauf ein. Sein Versuch, klar zwischen dem „es“, das auf ein nachstehendes Subjekt verweist, und dem „es“, das in Syntagmen mit einem „sogenannte[n] unpersönliche[n] Zeitwort“ enthalten ist, zu unterscheiden, bleibt jedoch zu unpräzise (vgl. ebd., S. 127, 142 und 270; vgl. dazu Matthias Attig, Spuren des Erinnerns und des Vergessens in funktionalen Texten, in: IV.3. Die literarische Konstitution von Menschenwürde im Lenz (1835 / 39) 167 fungen stimmen meist mit den Phasen der „Bewegung“, der physischen und psychischen Unruhe überein. 42 In manchen dieser Syntagmen verweist das vorangestellte „es“ auf das nachfolgende Subjekt: 43 „Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß“ ( MA 137); „es faßte ihn eine namenlose Angst“ ( MA 138) - allerdings ist dieses Subjekt dann selbst nicht näher bestimm- oder beschreibbar. In den meisten Fällen handelt es sich beim „es“ aber um das eigentliche Subjekt, das entweder Teil einer Zustandsbeschreibung oder Wahrnehmung Lenz’ ist, wie in den folgenden Beispielen: „Es war naßkalt“, „es lag ihm nichts am Weg“ (MA 137) 44 - oder tatsächlich ‚aktiv‘ wird: „Anfangs drängte es ihm in der Brust“, „es drängte in ihm“, „Nur manchmal […] riß es ihm in der Brust“ ( MA 137), „es zuckte ihm in den Augen und um den Mund“ ( MA 138). In allen Fällen aber bezeichnet das „es“ „ein Unbekanntes, Geheimnisvolles, nur aus seinen Wirkungen Erkennbares“; 45 es verweist auf das „Erlebnis des Unbestimmten, dem sich das sinnlich Wahrnehmbare entschält und welches […] so stark ist, daß es sich des Subjektcharakters bemächtigt“. 46 Wenn aber das Pronomen die Funktion des Subjekts übernimmt, dann wird Lenz („ihm“) zum Objekt reduziert, und zwar sowohl hinsichtlich der Wahrnehmungen als auch der Handlungen. Lenz droht die Deutungshoheit über seine Wahrnehmungen zu verlieren. 47 Dass das „es“ zuweilen in ihm verortet wird, mithin als nicht-rationaler, triebhafter Teil seines Wesens erscheint, stützt jene Diagnosen, die Lenz als schizophrenen oder Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen, hg. v. E. Felder, Berlin / Boston 2013, S. 287-308, hier S. 299-302). Nach Sanders hat sich Karl Kraus in zwei Aufsätzen mit dem „Es“ beschäftigt. Kraus versucht die von Sanders angestrebte klare Differenzierung zu leisten, stößt aber ebenfalls an Grenzen. Vgl. Es, in: Werke, Bd. 2, hg. v. H. Fischer, München 1954, S. 74-81 sowie Subjekt und Prädikat, in: ebd., S. 289-336. Vgl. auch hierzu Attig, Spuren, S. 301-302. 42 Anhand der Begriffe „Bewegung“ und „Ruhe“ analysiert Peter Hasubek den Lenz auf stilistischer Ebene. Vgl. „Ruhe“ und „Bewegung“. Versuch einer Stilanalyse von Georg Büchners „Lenz“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 50 / N. F. 19 (1969), S. 33-59. - In Momenten der Ruhe finden sich auffallend wenige „es“-Konstruktionen. Vgl. etwa die Szene nach der Ankunft bei Oberlin bis zur erneuten Isolation, die zunächst positiv verlaufende Predigt oder das Kunstgespräch. 43 Vgl. Sanders, Hauptschwierigkeiten, S. 270 / 2. 44 Einige weitere Beispiele der ersten Seiten: „dann zog es weit von ihm“, „Es war als ginge ihm was nach“, „es wurde ihm leichter“, „es war ihm als müsse das Licht von ihnen ausstrahlen“ (MA 138), „es war ihm wie ein Schatten, ein Traum, und es wurde ihm leer“ (MA 139). 45 Sanders, Hauptschwierigkeiten, S. 127 / 1. 46 Kraus, Es, S. 78. 47 Yvonne Wübben weist auf den auffälligen Wechsel der Pronomina „er“ und „es“ hin und kommentiert ebenfalls die Verwendung des „es“, das sie mit Erkenntnissen der zeitgenössischen Psychiatrie in Verbindung bringt und als Signum der „Unfreiheit“ Lenzʼ begreift (Büchners „Lenz“. Geschichte eines Falls, Konstanz 2016, S. 84-92). 168 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners psychotischen Charakter beschreiben. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die zahlreichen Formulierungen, die das Reflexivpronomen „sich“ enthalten: „[E]r wühlte sich ins All hinein“ ( MA 137), „er wollte mit sich sprechen“, „er riß sich auf “ (MA 138). Insinuieren diese Formulierungen eine Doppelung des Ichs, 48 die eine Fremdbestimmung ‚von innen her‘ bewirkt, widersprechen andere diesem Befund, indem der Figur äußerliche Kräfte im Spiel zu sein scheinen: „Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm“ (MA 138). Diese abstrakten Pronomina („was“, „etwas“) haben subjektähnliche Qualitäten, vor denen Lenz’ Sprach- und Benennfähigkeit versagt. Durch den auktorialen Vergleich wird Lenz’ Zustand dann eindeutig pathologisiert. Lenz ist nicht mehr immer eindeutig das Subjekt seiner Handlungen und Wahrnehmungen; er wirkt determiniert. Als Subjekt, dessen Autonomie fraglich geworden ist, nähert sich Lenz dem Tier an. Die ‚Konfrontation‘ zwischen Lenz und der Katze der Oberlins wird, so Roland Borgards, zur „Szene des Wiedererkennens, [zu] einer Anagnorisis von Mensch und Tier“: [P]lötzlich wurden seine Augen starr, er hielt sie unverrückt auf das Tier gerichtet, dann glitt er langsam den Stuhl herunter, die Katze ebenfalls, sie war wie bezaubert von seinem Blick, sie geriet in ungeheure Angst, sie sträubte sich scheu, Lenz mit den nämlichen Tönen, mit fürchterlich entstelltem Gesicht, wie in Verzweiflung stürzten Beide auf einander los […]. ( MA 155) Die von „Instinkt“ und „Trieb“ gesteuerte Figur Lenz, die schon zuvor mit einem Tier verglichen wurde („wie ein Hirsch“ [ MA 154]), unterliegt einer „Dynamik der Animalisierung“. 49 48 Hasubek geht ebenfalls auf die häufigen Reflexivkonstruktionen ein. Diese zeigten „den Zerfall der inneren Substanz des Lenz, die Aufspaltung der Einheit seiner Person in eine Zweiheit als fortschreitenden Prozeß im Verlaufe der Erzählung“ an. „Die innere Zerrissenheit, der Dualismus in Lenz’ Ich“ führe zu einem „Identitätsverlust“; dieser „veranschaulicht den Riß, der durch die Schöpfung geht“ („Ruhe“ und „Bewegung“, S. 48-49). Auf die „es“-Konstruktionen geht Hasubek nicht ein. Allerdings nennt er ein anderes Stilmittel: Durch Verbellipsen wird an manchen Stellen eine starke Beschleunigung suggeriert und zusätzlich der Anschein erweckt, es „agiere nicht das Subjekt […] selbst, sondern ein Anderes, Unbekanntes und Unbewußtes“ (ebd., S. 39; ein Beispiel: „Man saß am Tische, er hinein“ [MA 138]). Wenn auch das Subjekt fehlt, wie in dem Satz: „Dann rasch in’s praktische Leben“ (MA 140), komme es „zusätzlich [zu] eine[r] Entpersönlichung“ (ebd., S. 40). 49 „Das Wiedererkennen ist wechselseitig. Lenz kann das Tier erkennen, weil er selbst ein Tier ist. […] Mensch und Tier [begegnen sich] genau in der Grenz- und Schwellenzone, die sie mehr miteinander verbindet als voneinander trennt: Während Lenz t[h]erio- IV.3. Die literarische Konstitution von Menschenwürde im Lenz (1835 / 39) 169 Die Grenze zwischen Mensch und Tier, die in den Schulreden noch scharf definiert war, im Hessischen Landboten aber bereits mit sozialkritischem, aufwieglerischem Impetus rhetorisch in Frage gestellt wurde, wird hier weiter verwischt. Im Woyzeck kulminiert diese Strategie. Neben Textstellen, die Lenz insofern würdelos erscheinen lassen, als er kein handelndes Subjekt mehr ist, d. h. er sich nicht mehr mit Hilfe seiner Vernunft und seines Willens über das Triebhaft-Unbewusste hinwegsetzen kann, 50 und die ihn als Getriebenen, als Objekt innerer Zwänge zeichnen, stehen solche, die Lenz gleichzeitig als sich intuitiv Wehrenden zeigen: [E]r konnte sich nicht mehr finden, ein dunkler Instinkt trieb ihn, sich zu retten, er stieß an die Steine, er riß sich mit den Nägeln, der Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wiederzugeben, er stürzte sich in den Brunnstein, aber das Wasser war nicht tief, er patschte darin. ( MA 139) Was er tat, tat er mit Bewußtsein und doch zwang ihn ein innerer Instinkt. ( MA 155) Eigentlich nicht er selbst tat es, sondern ein mächtiger Erhaltungstrieb, es war als sei er doppelt und der eine Teil suchte den andern zu retten, und rief sich selbst zu […]. ( MA 156) Bezeichnenderweise ist von Vernunft oder Willen schon gar nicht mehr die Rede; was Lenz dazu bringt, sein „Bewußtsein“ - mithin seine ‚Autonomie‘ - wiederzuerlangen, ist der „ Trieb der geistigen Erhaltung“ ( MA 156; m. H.). So oder so ist Lenz von nicht-rationalen ‚Mächten‘, die er nicht unmittelbar beeinflussen kann, determiniert. 51 Lenz ist also ein Getriebener. Diese ‚innere Determination‘ findet ihre Entsprechung in konkreten äußeren Zwängen: Der Vater, im Text vertreten durch Kaufmann und seine Briefe, drängt Lenz zu einem bürgerlichen Normen entsprechenden Lebenswandel. Über Lenz’ eigenen Willen wird nicht nur vom Vater, sondern auch von Kaufmann und Oberlin ein ihm fremder gesetzt. Lenz reagiert „heftig“: „Hier weg, weg! nach Haus? Toll werden dort? […] Ich würde toll! toll! Laßt mich doch in Ruhe! […] da will ich bleiben; […] was will mein Vater? Kann er mir geben? Unmöglich! “ ( MA 146). Lenzʼ Wille ist ganz offenmorph, d. h. tierförmig agiert […], reagiert die Katze anthropomorph, d. h. menschenähnlich.“ Alle Zitate von Borgards, Art. Tiere, S. 224. 50 Vgl. etwa folgende Beispiele: „[E]r stand nun am Abgrund, wo eine wahnsinnige Lust ihn trieb, immer wieder hineinzuschauen, und sich diese Qual zu wiederholen“ (MA 151); „Der Wahnsinn packte ihn“ (MA 156); er spürt „einen unendlichen Trieb, mit Allem um ihn im Geist willkürlich umzugehen“, sowie „einen unwiderstehlichen Drang, das Ding auszuführen, und dann schnitt er entsetzliche Fratzen“ (MA 155). 51 Vgl. dazu auch Rößer, Die kritische Perspektive, S. 187. - Auch Lenz’ gelegentliche aktive Versuche, das „Bewusstsein“ durch Konzentration auf das, was ihm am nächsten ist, nämlich die Kunst, wiederzuerlangen, etwa wenn er Shakespeare rezitiert, scheitern. 170 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners sichtlich nicht das Entscheidende. Auf der innerfiktionalen Ebene, genauer: im innerfiktional durch andere Figuren repräsentierten Bewertungshorizont, wird Lenz’ Menschenwürde somit schwer in Zweifel gezogen. IV.3.2. Die Konstitution von Menschenwürde durch erzählerische Verfahren Lenz’ Autonomieverlust lässt sich auch beschreiben als Verlust seiner kommunikativen, kreativen, kognitiven und expressiven Fähigkeiten. Nicht nur kann er seine Erlebnisse, Ängste und Wahrnehmungen zu keiner Zeit literarisch verarbeiten, vielmehr scheinen ihm bereits die dafür notwendigen sprachlichen Fähigkeiten zu entgleiten. Seine „Angst“ ist eine „namenlose“ ( MA 138), „unnennbare“ ( MA 139), „unbeschreibliche“ ( MA 155), die sich auch nicht denkend erfassen und artikulieren lässt. Immer seltener spricht er „ganz vernünftig und […] ruhig“ ( MA 157); er redet „meist nur in abgebrochenen Sätzen“ ( MA 150), „mit ängstlicher Hast“ ( MA 152), oder er „stockte […] oft“ ( MA 155). Zwar sieht er sprachliche Zeichen („Hieroglyphen, Hieroglyphen“ [ MA 154]), doch diese können nur von Eingeweihten gedeutet und verstanden werden - Lenz findet dafür keine adäquaten Ausdrücke. Und doch sind seine Eindrücke, Emotionen und Ängste für den Leser nachvollziehbar: durch den Erzähler, der den Rezipienten durch sein personales Erzählverhalten Lenz’ Empfindungen und Wahrnehmungen mitfühlen und -sehen lässt sowie auktorial Metaphern und Vergleiche hierfür findet. Als ‚zwischengeschaltete‘ Instanz sorgt er dafür, dass Lenz als das wahrgenommen wird, was er ist: ein empfindender Mensch. Diese Verschränkung von personalen Beschreibungen von Lenz’ Befindlichkeiten und auktorialen Einschüben, die mit Bildern zur Sprache bringen, was Lenz selbstständig nicht formulieren kann, zeigt sich bereits zu Beginn des Textes: „Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen […]“ ( MA 137). Im ersten Teil des Satzes wird durch personales Erzählverhalten („so“) die Subjektivität der Wahrnehmung, aber auch das Intim- Kreatürliche betont. Der zweite, auktoriale, bildhafte Teil expliziert das von Lenz empfundene Gefühl der Zärtlichkeit angesichts der erfahrenen Natur, das sich mit Hilflosigkeit, auch mit Ängstlichkeit mischt. Diese Angst, die für Lenz nur „namenlos[]“ ( MA 138) und „sonderbar[]“ ( MA 140) ist, wird vom Erzähler in Bilder gefasst. Wenn „der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm [herjagt]“ ( MA 138) oder „der Alp des Wahnsinns […] sich zu seinen Füßen [setzt]“ ( MA 140), dann sind das einerseits starke Bilder für die sich innerfiktional entfaltende Psychose und Lenz’ totalen Autonomieverlust; andererseits, vom außerfiktionalen Standpunkt her betrachtet, bezeichnen diese Einschübe Lenz’ existenzielle Angst, den Schrecken und die Ohnmacht, die er empfindet. Dass Lenz so empfindet, genau IV.3. Die literarische Konstitution von Menschenwürde im Lenz (1835 / 39) 171 das macht ihn zum Menschen. Lenz’ scheinbare Würde losigkeit wird erzählerisch überwunden, durch das Gestalten einer Erzählsituation, die aufgrund ihrer personalen Züge Mitleid, Verständnis und „kreatürliche[] Solidarität“ 52 einfordert und durch auktoriale Einschübe der Differenziertheit der Empfindungen einen sichtbaren, bilderwuchtigen Ausdruck verleiht. Erst diese eindrucksvolle Differenziertheit verdeutlicht, dass es hier um die Empfindungen eines Menschen geht und nicht um die reflex- oder instinktartigen Empfindungen eines Tieres. Büchners Text ist somit der fiktionale Versuch, einem vermeintlich würdelosen Menschen seine Würde zurückzugeben. 53 Die Figur Lenz wird als Mensch geschildert, durch eine Erzählhaltung, die Menschlichkeit einfordert; da Lenz eine ‚menschliche‘ Bewertung verdient, besitzt er Würde. Menschenwürde wird hier literarisch konstituiert. IV.3.3. Die Menschenwürde und das Kunstgespräch An einer zentralen Stelle des Textes gelingt es Lenz dann doch, sich relativ zusammenhängend zu äußern: im Kunstgespräch mit Kaufmann. 54 Hier erhält der Begriff der Menschenwürde eine inhaltliche Konkretisierung. Die Aussagen zu Kunst und Ästhetik sind weder dem historischen Lenz noch Büchner selbst uneingeschränkt zuzuschreiben; gleichwohl sind die hier formulierten Gedanken und der postulierte „humanitäre[] Gehalt“ 55 der Kunst gerade für die Frage nach der Menschenwürde zentral. Zwei Aspekte dominieren: die Idealismuskritik und das „moralische[] Gebot zur Menschenliebe, zum Mitleid“. 56 „Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur“, urteilt die literarische Künstlerfigur Lenz (MA 144). Lenz denunziert die klassisch-idealistische Kunstauffassung Schillers 57 und die mit ihr verknüpfte Sicht auf den Menschen - und seine Würde. Das Kunstgespräch kennzeichnet das dualistische idealistische Menschenbild und die idealistische Würdeauffassung als fragwürdig, da sie die 52 Schings, Der mitleidigste Mensch, S. 91. 53 Ähnlich deutet Peter Ludwig den Woyzeck als Versuch, der Figur des Woyzeck auf der Bühne seine geraubte Individualität und Autonomie zurückzugeben. Vgl. „Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft“. Naturwissenschaft und Dichtung bei Georg Büchner, St. Ingbert 1998, S. 270. 54 Für Verwirrung beim Leser sorgen allerdings das ständige Changieren zwischen indirekter und direkter Rede (letztere ohne Anführungszeichen) und der Wechsel zwischen unterschiedlichen Pronomina und Zeitformen. 55 Albert Meier, Georg Büchners Ästhetik, München 1983, S. 159. 56 Schings, Der mitleidigste Mensch, S. 86. 57 Vgl. Barbara Neymeyr, Ästhetik als Therapeutikum. Zur Funktion der realistischen Programmatik in Büchners Erzählung Lenz , in: Georg Büchner. Neue Wege der Forschung, hg. v. B. N., Darmstadt 2013, S. 210-230, hier 219-220; Neymeyr weist darauf hin, dass Winckelmann im Zentrum der Kritik der Figur Lenz steht. 172 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners zu überwindende ‚tierische Natur‘ des Menschen von vorneherein delegitimieren. Im Gegensatz dazu erfährt nun das vermeintlich ‚Niedrige‘, Abweichende, Nicht-Normale eine - moralische wie ästhetische - Apologie. 58 Büchners, oder besser, der dem Text zugrundeliegende Menschenwürdebegriff ist wesentlich anders, er umfasst eben auch das, was der idealistische ausschließt. „Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen […]“, so Büchners Lenz ( MA 145; m. H.). Das Kompositum „Menschheit“ bezeichnet hier - wie bereits im oben analysierten Drama Kotzebues - das, was den Menschen ausmacht, sein Wesen, seine Natur. 59 Das Gebot („muß“) der Liebe, auch des Respekts und der Achtung, gilt also dem ‚Menschsein‘ an sich, ohne weitere Bedingungen . Würde (und das heißt hier: das Recht auf Liebe, Respekt, Achtung) kommt dem Menschen als solchem zu. Jeder Mensch verdient als Mensch Achtung und Verständnis 60 („verstehen“). Diese Würdeauffassung ist eine moderne: Menschenwürde als jedem einzelnen Menschen angeborene, inhärente, unantastbare Qualität. Im Text wird dies weiter präzisiert. Zunächst ist Lenz’ ästhetische Auffassung streng egalitär: Alle, selbst „die prosaischsten Menschen unter der Sonne“ ( MA 144), sind sowohl kunstfähig als auch in ihrer Würde zu achten, denn: „[D]ie Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich“ (MA 144). Eine zutiefst menschliche Emotionalität, Empathie- und Mitleidfähigkeit werden zum Signum der Menschenwürde. Wie im Hessischen Landboten bildet die prinzipielle Gleichheit aller Menschen die ideologische Grundlage für die vertretene Würde- (und hier nun auch Kunst-)Auffassung. Der Verweis auf 58 Vgl. Rößer, Die kritische Perspektive, S. 181: „Die Aufspaltung menschlicher Sinnlichkeit in ‚menschliche‘ und ‚tierische‘ Sinnlichkeit ist theoretisch problematisch, sie dient der praktischen Unterdrückung von Teilen menschlicher Sinnlichkeit, und sie blockiert die ernsthafte Auseinandersetzung mit Widersprüchen des Subjekts, da eben Anteile dieses Subjekts von vorneherein als nicht-‚menschliche‘ ausgeschlossen werden.“ Vgl. außerdem Schings, Der mitleidigste Mensch, S. 83: „Indem der Klassizismus das ‚Gemeine‘ und ‚Niedrige‘ abstößt (oder nur unter bestimmten Kautelen wie der des Lächerlichen zuläßt), macht er sich in Lenz [sic]/ Büchners Augen des Hochmuts schuldig, wird das sublime Stilprinzip zum moralischen Defekt und inhuman […].“ 59 Vgl. oben, S. 131 - 132. - Dies war im frühen 19. Jahrhundert die vorherrschende Bedeutung. Vgl. die Kommentare der MA (S. 546) und der Marburger Ausgabe (Bd. 5, S. 426-427) sowie Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 653. 60 Das Verständnis für den Einzelfall und die Normabweichung kennzeichnet bereits Büchners oben diskutierte Schulschriften, bei aller Differenz in Bezug auf die dort vertretene Würdevorstellung. - Schings beschreibt Büchners Ästhetik als spezifische Verbindung von Realismus und Mitleid (vgl. Der mitleidigste Mensch). - Darauf, dass beim einzelnen Leser um Verständnis und Mitleid geworben werden soll, deutet die Verwendung des Pronomens „uns“ (MA 140) hin. - Dass gerade die christliche Religion und die Institution Kirche (verkörpert durch Oberlin) zu diesem Verständnis nicht gewillt oder fähig sind, ist Teil der im Text artikulierten Religionskritik. IV.4. Grenzprobleme im Woyzeck (1836 / 37) 173 die niederländischen Maler, den Schings folgendermaßen deutet, unterstreicht dies: Die Verteidigung der niederländischen Maler ist ein Rechtfertigungs-Topos, der die Ausbildung und theoretische Begründung einer realistischen Schreibweise zu begleiten pflegt. […] Demnach gehört Büchner zu den Anhängern einer Argumentationsform, die Demetz [in seiner Studie Defenses of Dutch Painting and the Theory of Realism ; MG ] die antihierarchisch-ontologische nennt. Man verteidigt die Niederländer, weil man auf der eigenen Würde auch des Niedrigen und Vergessenen besteht. 61 Hier ist mehr gemeint als eine lediglich expressive Würde, eine würdevolle, edle Haltung; hier wird die inhärente Würde jedes Menschen behauptet und verteidigt. Das Kunstgespräch postuliert somit eine Ästhetik, eine Poetik der Menschenwürde. Theo Buck beschreibt Büchners Ästhetik als sozial engagierten, „ethischen“ Realismus. 62 Wenn Lenz ausruft: „Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut“ ( MA 144), artikuliere er „den Anspruch auf ein anderes, besseres Leben […], - auf eine überhaupt menschenwürdige Möglichkeit des Daseins“. 63 Die zunächst anthropologische und ästhetische Argumentation wird sozialethisch zugespitzt: In Büchners visionärem Ideal einer Gesellschaft wird einem jeden die „Möglichkeit des Daseins“ in Würde gegeben. Das, was im Lenz die Würde des Protagonisten gefährdet, ist das fragwürdige, der aufklärerisch-klassischen Tradition entlehnte bürgerliche Menschenbild mit seinen sozialen Konsequenzen. IV.4. „Bin ich ein Mensch? “-- Grenzprobleme im Woyzeck (1836 / 37) Maries Ausspruch „Bin ich ein Mensch? “ ist die Kernfrage des Dramas. Als sie diese Frage in der Textfassung H4,4 ( MA 222) stellt, ist sie kein Versuch der Selbstvergewisserung oder der Selbstreflexion - dazu sind die Figuren in Büchners Fragment nicht mehr fähig -, sondern eine rhetorische Frage, eine ärgerliche Reaktion auf Woyzecks (berechtigte) Eifersucht. Gleichwohl hat sie leitmotivische Qualität 64 und variiert zudem ironisierend sowohl ein Bibelwort 61 Schings, Der mitleidigste Mensch, S. 85 (und Anm. 41, S. 125). 62 Buck, „Man muß die Menschheit lieben“. Zum ästhetischen Programm Georg Büchners, in: Text + Kritik. Sonderband. Georg Büchner III, hg. v. H. L. Arnold, München 1981, S. 15-34, hier S. 20. 63 Ebd. 64 Vgl. ähnlich Martens, Zum Menschenbild Georg Büchners, S. 379. 174 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners (Ps 8,5) als auch eines der philosophischen Grundprobleme Kants, nämlich die Frage: „Was ist der Mensch? “ 65 Büchner ist allerdings keineswegs an einer anthropologisch-idealistischen Antwort interessiert, sondern behandelt die Frage in einem dezidiert gesellschaftlich akzentuierten Kontext. Nicht der Mensch an sich, sondern das Individuum und seine Gefährdung durch bestimmte soziale Realitäten und Konstellationen stehen im Fokus. Bezeichnend ist auch das Genus des Substantivs „Mensch“ in Maries Frage, das wohl als Neutrum zu deuten ist. 66 Zwar ist dies ein durchaus geläufiger, pejorativer Ausdruck für eine Dirne, eine Hure - genau darum geht es ja in der Eifersuchtsszene zwischen Woyzeck und Marie -; gleichwohl lässt sich die Passage aus außerfiktionaler Sicht als Hinweis auf ein zentrales Thema des Dramas deuten: die ‚Versächlichung‘, die Verdinglichung des Menschen. Woyzeck ist ein in seiner Würde zutiefst verletztes, animalisiertes, zum bloßen Menschenmaterial reduziertes Wesen. Ausgehend von der Jahrmarktszene wird im Folgenden gezeigt, wie die Grenze zwischen Mensch und Tier problematisiert und wie Woyzeck im Menschenversuch nicht nur zum Tier, sondern zum bloßen Objekt degradiert wird. Gleichzeitig wird deutlich, wie im Text bestimmte Vokabeln anzeigen, dass die herrschenden Klassen den aufklärerisch-idealistischen Menschenwürdebegriff hochhalten, aber vollkommen pervertieren. IV.4.1. Das vermenschte Tier, der vertierte Mensch: die Jahrmarktszene Für den jungen Büchner war die Grenze zwischen Mensch und Tier klar definiert; Menschenwürde zu besitzen bedeutete, kein Tier zu sein. Eine ähnlich deutliche Abgrenzung begegnete ihm in der dualistischen Philosophie Descartes’ (Mensch vs. Tier, Seele vs. Leib), mit der er sich als junger Universitätsdozent in Exzerpten für eine geplante Vorlesung auseinandersetzte. Die Jahrmarktszene stellt diese Perspektive entschieden in Frage. 67 Diese Szene bzw. Szenenfolge hat 65 Vgl. die vier Fragen Kants in seiner Logik : „1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? “ (AA 9, S. 25). - In der Szene H1,10 der ersten Entwurfsstufe stellt der Barbier diese Frage sogar wortgetreu und gibt eine alles andere als idealistische Antwort: „Was ist der Mensch? Knochen! Staub, Sand, Dreck“ (MA 203). 66 Vgl. dazu den Kommentar in der Marburger Büchner-Ausgabe (Bd. 7,2, hier S. 500). 67 Nach Descartes unterscheiden sich ein mechanischer Körper oder Automat und ein tierischer Körper vom Menschen durch zwei Dinge: Der Mensch vermag mit Worten („paroles“) und anderen Zeichen („d’autres signes“) seine Gedanken mitzuteilen; zudem besitzt er mit der Vernunft („raison“) ein von Gott gegebenes Werkzeug („instrument universel“), das es ihm erlaubt, sein Handeln unabhängig von seinem Körper und seiner IV.4. Grenzprobleme im Woyzeck (1836 / 37) 175 expositorischen Charakter; 68 die Worte des Ausrufers sind programmatisch für die ständige Unsicherheit in Bezug auf den Status der im Drama vorgestellten Figuren. Er kündigt nicht nur lautstark seine Vorstellung an, sondern formuliert auch grundsätzliche Gedanken über das Verhältnis von Mensch und Tier. Die „Kunst“ (H1,1; MA 199) und die „Erziehung“ (H2,3; MA 211) nähern die von Gott geschaffene, aber nicht mit menschlichen Fähigkeiten ausgestattete „Kreatur“ (H1,1; MA 199) dem Menschen an. Der vorgeführte Affe kann nicht nur menschliches Verhalten nachahmen (aufrechter Gang, Gruß, Kuss, Weissagen, Abfeuern einer Pistole, Musikalität), sondern adaptiert auch äußerliche Merkmale des Menschen („Rock und Hosen“, „Säbel“ [H1,1; MA 199]). Die außerfiktionale Funktion dieser Grenzverwischung ist es, zu verdeutlichen, wie durch Dressur, also eine Form der Determination, das Tier quasi zum Menschen werden kann; umgekehrt werden Menschen (Woyzeck, Marie) durch soziale Determination quasi zu Tieren - dem vermenschten Tier entspricht im Drama der vertierte Mensch. Der aufklärerische Grundgedanke der Perfektibilität - des einzelnen Menschen, aber auch der Gattung - wird hier auf das Tier übertragen. Im Grenzbereich ist der Übergang scheinbar fließend, hier treffen sich Mensch und Tier auf einer Stufe: „Der Aff’ ist schon ei Soldat, s’ ist noch nit viel, unterst Stuf von menschliche Geschlecht! “ (H2,3; MA 211). Zwei Gedanken sind hier enthalten, der kontinuierliche Übergang vom Tier zum Menschen 69 und die wie natürlich erscheinende Hierarchie innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Damit werden Menschenwürdevorstellungen, die das Zuschreiben von Würde an metaphysische Kategorien knüpfen (Seele, Vernunft, Denkfähigkeit) in Zweifel gezogen, indem ihr großes Problem, nämlich jenes der Grenzziehung, offenge- Natur selbst nach seinem Willen und seiner Erfahrung zu gestalten. Vgl. Discours de la méthode. Texte et commentaire, hg. v. É. Gilson, Paris 5 1976, hier bes. der fünfte Teil, S. 55-60. - Descartes spricht in seinem Discours nicht direkt von der Würde des Menschen; vielmehr begründet er die natürliche Hierarchie in der Welt. - Die Anlehnung an Descartes vermerkt etwa Günter Oesterle, Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophie- und gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der ‚voie physiologique‘ in Georg Büchners Woyzeck , in: Georg-Büchner-Jahrbuch 3 (1983), S. 200-239, hier S. 211. Oesterle zitiert ebd. auch das Vorlesungsskript Büchners. 68 In H1 steht sie ganz am Anfang (H1,1-2; „Buden. Volk“ und „Das Innere der Bude“), in H2 („Öffentlicher Platz. Buden. Lichter“) und H4 („Buden. Lichter. Volk“, allerdings ohne Text) immerhin noch an dritter Stelle. Die Interpretation dieser Szene offenbart die Schwierigkeiten im Umgang mit den verschiedenen Entwurfsstufen. Die von Lehmann erarbeitete und in der MA wiedergegebene „Lesefassung“ kompiliert für Szene 3 Textmaterial aus H1,1-2, H2,3 und H2,5. Im Folgenden wird stets angegeben, aus welcher Entwurfsstufe die einzelnen Zitate stammen. Dieses Vorgehen mag problematisch erscheinen; eine detaillierte textkritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Textstadien ist allerdings nicht das Ziel dieser Arbeit. 69 Oesterle sieht hierin eine Anspielung auf La Mettrie, für den „das Tier […] prinzipiell zur Vervollkommnung in der Lage“ sei (Das Komischwerden, S. 213). 176 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners legt wird. Das gilt zum einen für die hier mit satirisch-groteskem 70 Einschlag verhandelte Unterscheidung von Mensch und dressiertem Tier, weist zum anderen aber bereits voraus auf moderne Diskussionen um die Menschenwürde am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens. Prägnant formuliert der Ausrufer dieses Problem in oxymorischen Kollokationen: „Alles Erziehung, haben eine viehische Vernunft, oder vielmehr eine ganze vernünftige Viehigkeit, ist kei viehdummes Individuum wie viel Person […]“ (H2,3; MA 211). Im „Innere[n] der Bude“ (H1,2; MA 199) treibt Büchner diesen Gedanken auf die Spitze. 71 Das dressierte Pferd wird, obwohl seine tierhaften Züge hervorgehoben werden („Schwanz am Leib, auf sei 4 Hufe“ [H1,2; MA 199]), als ein die menschliche Gesellschaft beschämendes Wesen gepriesen, das nicht nur über eine „viehische Vernünftigkeit“ verfügt, sondern aufgrund seiner Fähigkeit, den „Verstand“ einzusetzen, geradezu als Gelehrter zu betrachten sei (H1,2; MA 199): „Ja das ist kei viehdummes Individuum, das ist ei Person! Ei Mensch, ei tierische Mensch und doch ei Vieh, ei bête […]“ (H1,2; MA 199). Das bestätigt zwar gewissermaßen die intuitive Gültigkeit der Orientierungskategorien Mensch und Tier („und doch“), benennt das Tier aber im Gegenzug mit zwei Begriffen, die die Differenz wieder nivellieren: Auch das Pferd ist ein „Individuum“, 72 eine „Person“. Mithin müsste dem Pferd also Würde zugesprochen werden, wenn man an den Begriff der Person bei Kant denkt! 73 Selbst die animalische Triebhaftigkeit ist kein Gegenargument, sondern wird verklärt, als das Pferd sich „ ungebührlich “ aufführt und offenbar uriniert: „Sehn Sie das Vieh ist noch Natur unverdorbe Natur! “ (H1,2; MA 199). So wird erstens der Mensch zu einem Tier unter anderen Tieren, 74 70 Vgl. dazu in H2,3 die Aussagen des Narren („Grotesk! Sehr grotesk.“) und die folgenden Repliken (MA 211-212). Zum Begriff des Grotesken vgl. auch Oesterle, Das Komischwerden, S. 217. 71 Von einer Verschärfung zu sprechen, ergibt nur Sinn, wenn man von der „Lesefassung“ ausgeht und ihr unterstellt, auch Büchner hätte an der für Szene 3 vorgesehenen Stelle in der vorläufigen Reinschrift (H4) die Szenen H1,1-2 und H2,3 kombiniert. Auch denkbar ist, dass Büchner die Szene im Inneren der Bude nicht übernehmen wollte, immerhin finden sich in der Überarbeitung der Szenen H1,1-2 in H2,3 Formulierungen, die ursprünglich im Inneren der Bude, nun aber vom Ausrufer vor der Bude benutzt werden. 72 Vgl. dazu Nicolas Pethes, „Viehdummes Individuum“, „unsterbliche Experimente“. Elements for a Cultural History of Human Experimentation in Georg Büchner’s Case Study Woyzeck , in: Monatshefte 58 (2006), S. 68-82, hier S. 75; Pethes zeigt, dass man „viehdumm“ als Anagramm des Nomens „Individuum“ lesen sollte. 73 Vgl. oben, S. 166. Vgl. dazu auch Niehaus, Art. Recht und Strafe, S. 197; dort wird der Begriff der Person auch im Zusammenhang mit der Zurechnungsfähigkeit Woyzecks angesprochen. 74 Vgl. dazu die von Wolfgang Martens zitierte Notiz Büchners: „Boire sans soif et faire l’amour en tout temps, il n’y a que ce qui nous distingue des autres bêtes“ (Zum Menschenbild Georg Büchners, S. 379, Anm. 11). IV.4. Grenzprobleme im Woyzeck (1836 / 37) 177 ist also nicht mehr die unangefochtene ‚Krone der Schöpfung‘. 75 Gleichzeitig kommt es zweitens zu einer „philosophischen Rechtfertigung des Tierischen im Menschen“: Die Verdrängung und Unterdrückung des Tierischen im Menschen, die die Komik der zweiten Budenszene einklagt, reproduziert sich in der Behandlung der Tiere, in ihrer lächerlichen Dressur zur Menschenebenbildlichkeit in der ersten Budenszene. Der Mensch entlastet sich von seiner eigenen Unterdrückung, indem er das Tier unterjochend sich gleichmacht. 76 Der Akzeptanz der Triebhaftigkeit des vermenschlichten Tieres entspricht in negativer Spiegelung das Verdammen der Triebnatur des vertierten Menschen Woyzeck durch den Doktor. Das (pseudo)philosophische Programm des Ausrufers stellt demnach die Frage nach dem Wesen des Menschen; gleichzeitig verlieren jene vermeintlich klaren Kategorien, an die die Zuschreibung von Würde in aufklärerischen und idealistischen Entwürfen geknüpft wird, jede systematische Gültigkeit. Allerdings nennt der Ausrufer ein Distinktionsmerkmal, das das Tier dann doch vom Menschen trennt und das bereits Descartes und Herder 77 postulierten: die Sprachfähigkeit. „Kann sich nur nit ausdrücke, nur nit expliziern, ist ein verwandlter Mensch! “ (H1,2; MA 199). 78 Doch auch diese Kategorie wird 75 Dieses bereits im Hessischen Landboten benutzte, dort aber als politische Kritik intendierte Motiv zielt im Woyzeck eher auf die Abkehr von einem idealistischen hin zu einem materialistischen Menschenbild. - Vgl. auch den Barbier in H1,10 (MA 203; s. oben, Anm. 65). - Man fühlt sich erinnert an Gottfried Benns Gedicht Der Arzt ; dort heißt es: „Die Kröne der Schöpfung, das Schwein, der Mensch -: / Geht doch mit anderen Tieren um! “ (vgl. unten, S. 223 - 234 und Kap. B.VI.2.2). 76 Oesterle, Das Komischwerden, S. 216 und 211. 77 Zu Herders Sprachphilosophie vgl. zusammenfassend Heise, Art. Johann Gottfried Herder, S. 18-19. - Dass erst die Sprachfähigkeit den Menschen zum Nicht-Tier macht, widerlegte bereits Karl Philipp Moritz. In Beiträgen seines Magazins zur Erfahrungsseelenkunde beschreibt er, wie er einen taubstumm geborenen Jungen beobachtet und feststellt, dass dieser - auch ohne die Fähigkeit, sich sprachlich zu artikulieren - über Begriffe, moralisches Urteilsvermögen und Phantasie verfügt. Vgl. dazu Scheible, Wahrheit und Subjekt, S. 191. 78 Der Text der Marburger Ausgabe weicht an dieser Stelle ab. Statt „verwandlter Mensch“ steht hier „verwandter Mensch“; der Blick in die Handschrift bestätigt diese Lesung (vgl. Bd. 7,2, S. 3 sowie Bd. 7,1 für eine Reproduktion der Handschrift). Die benutzte Münchner Ausgabe macht jedoch keinen Eingriff in den Text kenntlich, sodass wohl von einer Fehllesung ausgegangen werden muss. Die Abweichung wiegt schwer; ob das Pferd - gleichsam protoevolutionstheoretisch - dem Menschen „verwandt“ oder aber ein „verwandelter“ Mensch ist, ist ein beträchtlicher semantischer Unterschied. Für den vorliegenden Zusammenhang ist diese Differenz jedoch nicht entscheidend; in beiden Fällen wird die vermeintlich klare Grenze zwischen Tier und Mensch in Zweifel gezogen. 178 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners im Stück hochproblematisch: Dass das einfache Volk, allen voran Woyzeck, eine dialektal gefärbte, von emotionalen Ausbrüchen geprägte Sprache spricht, kennzeichnet diese keinesfalls schlicht als „natürlich“ oder „naturalistisch“; vielmehr äußert sich darin die „Bewußtseinsverfassung der Ausgebeuteten und Unterdrückten“. 79 In der Logik der Jahrmarktszenen ist die Sprache Spiegel der Vertierlichung des Menschen. Was in den Budenszenen noch als eher (pseudo)philosophisches Programm mit deutlich komischem Einschlag erscheint, wird im weiteren Verlauf als reales Resultat sozialer Determination und Ausbeutung aufgedeckt. Die „Thematik von der inneren Vertiertheit des Menschen [erweitert sich] zur Erniedrigtheit des Menschen zum Tier durch den Mitmenschen“ 80 - und nähert sich somit der Funktion der Theriomorphisierung im Landboten an. Was der Mensch ist, ob, wann und warum er Würde besitzt und worin diese besteht, ist an diesem Punkt äußerst fraglich. Auf den Mensch-Tier-Diskurs, der in der Jahrmarktszene programmatisch eröffnet wird, rekurriert das Stück immer wieder. 81 So vergleicht etwa Marie den Tambourmajor mit einem Löwen (H4,2; MA 220 und H4,6; MA 224), dieser apostrophiert die offenbar sexuell erregte Marie als „[w]ild Tier“ (H4,6; MA 225); der jüdische Händler nennt Woyzeck einen „Hund“ (H4,15; MA 231), und dieser will schließlich nicht Marie, sondern das Tierisch-Triebhafte in ihr, die „Zickwolfin“ (H4,12; MA 229) töten. 82 Das Tierische ist - zumindest in diesem sozialen Milieu - allgegenwärtig. Nun führt das Stück vor, wie in einem konkreten Fall ein Mensch (Woyzeck) zum Tier (und weiter! ) degradiert wird; ganz intuitiv begreift man sein Schicksal als Menschenwürdeverletzung. Dieses intuitive Verständnis sowohl der Verletzung der Würde als auch der Würde selbst inszeniert 79 „Woyzecks Stammeln und Stottern, Sprachunfälle […], sein plötzliches Abbrechen, Versanden und Versickern, psychotische Wiederholungszwänge […] - diese Sprache der ‚Zuckungen‘ ist der Spiegel der Entfremdung, Echo der Schläge und Einschläge“ (Alfons Glück, Woyzeck . Ein Mensch als Objekt, in: Georg Büchner. Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena, Woyzeck. Interpretationen, Stuttgart 2005, S. 179-220, hier S. 210 und 211). - Vgl. dazu auch Borgards, Art. Tiere, S. 222 und Pethes, „Viehdummes Individuum“, S. 75. - Büchner behandelt Sprache und Sprachfähigkeit auch andernorts im Kontext der Würde. So wird im Hessischen Landboten mehrmals erwähnt, dass sich die Herrschenden durch eine eigene Sprache vom einfachen Volk unterscheiden (MA 40, 44). Für den Lenz wurde die Verbindung von Menschenwürde, Autonomie und Sprache bereits oben diskutiert. 80 Martens, Zum Menschenbild Georg Büchners, S. 378. 81 Vgl. auch ebd., S. 377. 82 Vgl. ebd. für weitere Beispiele. Zu ergänzen wäre, dass in H1,6 Louis Stimmen hört, die ihn auffordern, die „Woyzecke“ zu erstechen (MA 201), und dass Marie die Kinder in H1,14 (MA 204) als „Krabbe“ bezeichnet. - Gerade Marie verkörpert für Oesterle das Triebhafte im Menschen (Das Komischwerden, S. 218). IV.4. Grenzprobleme im Woyzeck (1836 / 37) 179 Büchners Drama eindrücklich. Die Analyse des Falls Woyzeck zeigt, wie man den Menschenwürdebegriff des Textes ex negativo inhaltlich präzisieren kann. 83 IV.4.2. Der Menschenversuch und seine innerfiktionale Rechtfertigung „[W]as […] über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ 84 Würde zu haben, bedeutet also nach Kant, keinen Preis zu haben. Das menschliche Leben und der menschliche Körper haben in Büchners Drama jedoch einen Preis, und zwar in zweierlei Hinsicht. In der Messerkaufszene zahlt Woyzeck zum einen zwei Groschen für das Messer, mit dem er Marie töten wird, weil die Pistole zu teuer ist; hier ist nicht nur das Leben, sondern sogar der Tod Thema „ökonomische[r]“ (H4,15; MA 231) Überlegungen. 85 Zum anderen sind jene zwei Groschen genau der Betrag, den Woyzeck dafür erhält, 83 Die Automatenszene am Ende der Komödie Leonce und Lena thematisiert die zweite von Descartes behandelte Abgrenzung, jene des Menschen von der Maschine, vom Automaten, teilweise mit ähnlichen Formulierungen wie in den Schaubudenszenen. In seinem Monolog (MA 186) stellt Valerio das maskierte Prinzenpaar als „die zwei weltberühmten Automaten“ vor, sich selbst „vielleicht“ als dritten. Seine Charakterisierung dieser Automaten vermischt menschliche, sogar würdeverleihende Eigenschaften mit solchen, die Menschlichkeit und Würde absprechen; auch hier werden Grenzen verwischt. Zwar fehlt es den Automaten angeblich an Selbst-Bewusstsein - Valerio weiß „selbst gar nichts von dem […], was [er] rede[t]“ - und an Autonomie - er redet nicht selbst, sondern es ist ein „Es“, „eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche“, „[n]ichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern“. Trotzdem werden sie als „Personen“, mithin als autonome Wesen, bezeichnet, die man „eigentlich zu Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machen“ könnte. Sie seien sogar „sehr edel“, „sehr moralisch“ und „sehr gebildet“. Die Begriffe des Adels, der Moral und der Bildung werden satirisch reduziert auf reine Äußerlichkeiten: das Sprechen der hochdeutschen Sprache (eine auch poetologisch-ästhetische Aussage, vergleichbar mit Camilles Kritik an den Marionetten, die „bei jedem Schritt in fünffüßigen Jamben krachen“ [MA 95]), das bloße Funktionieren der „Mechanik“ und das Erfüllen von gesellschaftlichen Normen und Erwartungen. Der Monolog läuft auf die Frage hinaus: Wie definiert sich das Menschsein? Ist ein Wesen, das nicht mehr autonom und selbstbestimmt handeln kann, also determiniert ist, sei es durch seine tierische Triebhaftigkeit oder seinen mechanischen Körper, noch ein Mensch? Verdient es Achtung, die Zuschreibung von Würde? Ist Würde vielleicht nicht mehr als soziales Konstrukt? Die Motiv- und Wortparallelen zwischen dieser und den Schaubudenszenen sind frappierend: der marktschreierische Sprachduktus Valerios („Sehen Sie hier meine Herren und Damen“), der Vorschlag, die Automaten als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu betrachten, das Thematisieren von Sprache, Wortparallelen („Kunst“, „Person“). Die Fragen, die sie aufwerfen, sind identisch. 84 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA 6, S. 434. 85 Vgl. Peter Schnyder, Art. Ökonomie, in: Büchner-Handbuch (wie Anm. 9), S. 182. 180 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners dass er sich, seinen Körper und letztlich sein Leben für Humanexperimente 86 zur Verfügung stellt. Die Verfügung über den eigenen Körper gibt er - vertraglich geregelt (vgl. H4,8; MA 226) - ab, gezwungen durch seine große Armut, 87 die Überlegungen über die Freiwilligkeit dieser Handlung wie Hohn erscheinen lässt. Woyzeck ist doppelt fremdbestimmt: durch das Tierhafte in ihm und durch das Experiment, das ganz offensichtlich seine leibseelische Integrität zerstört. Innerfiktional rechtfertigen gleich drei philosophische Phrasendrescher - der Hauptmann, der Doktor und der Professor - den Menschenversuch auf perfideste Art und Weise. 88 Die ersten beiden spielen sogar direkt auf Menschenwürdevorstellungen an, indem sie dem vom Ausrufer entworfenen Menschenbild ein idealistisches entgegenstellen. Der Hauptmann spricht, bezeichnenderweise „ mit Würde “ (! ) (H4,5; MA 223), über Moral. Er wirft Woyzeck vor, ein Kind „ohne den Segen d. Kirche“ (H4,5; MA 223) und somit „keine Moral“ zu haben; dieser antwortet mit einem doppelten Einwand. Erst versucht er, seine Vorstellung eines mitleidigen, allliebenden Gottes zu formulieren, der seine Zuwendung nicht von Äußerlichkeiten abhängig macht. Dann bemerkt er, dass für die „arme Leut“ (H4,5; MA 224) „Moral“ und „Tugend“ leere Begriffe darstellen, da sie nur in Verhältnissen materieller Sicherheit denkbar und möglich sind. Die Armen aber sind auf ihre Kreatürlichkeit, ihre Triebhaftigkeit, ihr „Fleisch und Blut“ zurückgeworfen (H4,5; MA 224); „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, wie es bei Brecht heißt. 89 „[E]s kommt einem nur so die Natur“, klagt Woyzeck. Doch der Hauptmann lässt dies nicht gelten, kein Wort mehr vom Lob der „unverdorbe Natur“. Er insistiert vielmehr: „Ich hab auch Fleisch und Blut. Aber Woyzeck, die Tugend, die Tugend! “ (H4,5; MA 224). Tugend und Moral als Überwindung der Natur und der Notwendigkeit der Bedürfnisse - der 86 Zum Menschenversuch vgl. etwa Alfons Glück, Der Menschenversuch. Die Rolle der Wissenschaft in Georg Büchners Woyzeck , in: Georg-Büchner-Jahrbuch 5 (1985), S. 139-182; Pethes, „Viehdummes Individuum“; Harald Neumeyer, „Hat er schon seine Erbsen gegessen? “ Georg Büchners Woyzeck und die Ernährungsexperimente im ersten Drittel des 19. Jahrhundert, in: DVjs 83.2 (2009), S. 218-245. 87 Vgl. dazu auch Glück, Der Menschenversuch, S. 168 und ders., Woyzeck , S. 185. - Vgl. zudem die „Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen“, die 1931 erlassen und v. a. von Julius Moses aufgesetzt wurden. Sie spiegeln die Notwendigkeit wider, Menschenversuche angesichts ethischer und juristischer Kontroversen im 19. und frühen 20. Jahrhundert besser zu regeln. Dort heißt es u. a., dass „jede Ausnutzung der sozialen Notlage“ des Probanden gegen die ärztliche Ethik verstößt (in: Menschenversuche. Eine Anthologie (1750-2000), hg. v. N. Pethes [u. a.], Frankfurt / M. 2008, S. 517-521, hier S. 518). 88 Vgl. Alfons Glück, „Herrschende Ideen“: Die Rolle der Ideologie, Indoktrination und Desorientierung in Georg Büchners Woyzeck , in: Georg-Büchner-Jahrbuch 5 (1985), S. 54-137, hier S. 93. 89 Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper, Berlin 10 1974, S. 69. IV.4. Grenzprobleme im Woyzeck (1836 / 37) 181 Hauptmann greift hier ein von der Stoa bis zur Klassik topisches Begründungsmuster der Menschenwürde auf. Ganz ähnlich philosophiert der Doktor. Als er Woyzeck schilt, der „wie ein Hund“ „an die Wand gepißt“ hat, und dieser sich wieder verteidigt: „Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur so kommt“ (H4,8; MA 225), entwirft er ein Bild des Menschen, das naturwissenschaftliche und idealistische Elemente verbindet: D oktor . D ie Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab’ ich nicht nachgewiesen, daß der musculus constrictor vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Den Harn nicht halten können! (H4,8; MA 225) Der freie Wille als Ausdruck der Freiheit des autonomen Individuums, als Voraussetzung von Moral und als Grund der Menschenwürde - das ist die Philosophie Kants, 90 aber auch die Basis des Würdebegriffs Schillers: „Schon der bloße Wille erhebt den Menschen über die Thierheit; der moralis ch e erhebt ihn zur Gottheit“ ( NA 20, 290). Der Doktor definiert Woyzeck jedoch keineswegs als in seiner Würde zu achtendes und von der Medizin zu therapierendes Wesen. Vielmehr weiß er genau, dass der Proband Woyzeck kurz vor dem Kollaps steht, reagiert sogar mit zynischer Begeisterung darauf, dass er psychische Aussetzer zeigt und trotzdem noch ‚funktioniert‘ (H4,8; MA 226). Hier ist die medizinische Forschung bewusst pathogen, denn sie legt es darauf an, den Körper (und letztlich auch die Psyche) Woyzecks zu manipulieren und die krankhaften Symptome zu beobachten. 91 Dabei wird der Körper des Probanden instrumentalisiert, denn die Forschung ist keineswegs Selbstzweck: Ziel ist es, eine möglichst kostengünstige Ernährung für die Armee zu finden. 92 Medizinische Forschung ist also ein Herrschaftsinstrument; die Soldaten sollen zu (gerade noch) funktionierenden, möglichst rationell unterhaltenen Maschinen werden. Wieder ist das Leben des einzelnen Menschen Objekt ökonomischer Überlegungen; es hat einen Preis, und dieser soll möglichst gering sein. Die Menschenwürde des Probanden Woyzeck und der Soldaten ist der Staatsökonomie untergeordnet. Nicht primär das Individuum Woyzeck und seine Psyche zählen, sondern die Daten, die sein Körper auf physiologisch-kreatürlicher Ebene liefert. Nicolas Pethes beschreibt das ‚doppelte Menschenbild‘ des Doktors als Diskrepanz 90 Vgl. etwa Pethes, Art. Individuum, S. 199. - Auch Glück ( Woyzeck , S. 198-199) verweist darauf, dass die Szenen H3,1 und H4,8 Begriffe enthalten, die „Anspielungen auf die Sprache Kants und Schellings“ sind; „Kant und Schelling sind verdreht und verfälscht zur Rechtfertigung der Entmenschung.“ 91 Vgl. Glück, Der Menschenversuch, S. 149. 92 Vgl. Glück, Woyzeck , S. 196. 182 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners zwischen der tierischen Natur des Menschen und dem an ihn herangetragenen ethischen Anspruch; Experimente könnten also nur an Menschen durchgeführt werden, die diesem Anspruch nicht genügten. 93 Insofern sich Woyzeck, gemessen am Menschenwürdebegriff des Doktors, als würdelos erweist, rechtfertigt sein Verhalten seine Benutzung als Versuchsobjekt - freilich erst a posteriori , da seine vermeintliche Würdelosigkeit mindestens zum Teil auf den Folgen des Versuchs selbst beruht. Da Woyzeck nicht mehr als Mensch angesehen wird, kann er bedenkenlos wie ein Tier ausgenutzt werden. 94 Die Entwürdigung Woyzecks erfolgt stufenweise. Er wird dem Tier gleichgesetzt, sein Körper wird partialisiert, indem nur bestimmte Körperfunktionen beobachtet werden, und schließlich verdinglicht, weil letztlich nur die statistischen Daten von Interesse sind. 95 Das Leben Woyzecks besitzt für den Doktor keinen intrinsischen Wert. 96 Das rein auf physiologische Daten gerichtete Erkenntnisinteresse ist ein Zweck, dem Woyzeck als Mittel geopfert wird. In diesem Sinn ist Woyzeck ein „guter Mensch“, wie der Hauptmann sagt (H 4,5; MA 224) - nicht in einem ethischen Sinne, sondern im Hinblick auf seine Nützlichkeit für Vorgesetzte, Militär und Staat, die ihn ‚bis auf den letzten Tropfen‘ ausnutzen. 97 93 Pethes, „Viehdummes Individuum“, S. 78: „Humans are defined as both physiologically animal-like and ethically exceptional. Because of the ethical notion, experiments can only be conducted on persons that are not humans in the full sense of the word.“ 94 Vgl. ähnlich Nicolas Pethes, der von einem „diskursiven Entzug von Moral- und Freiheitsfähigkeit“ spricht („Er ist ein interessanter casus, Subjekt Woyzeck“. Büchners Fallgeschichten, in: Commitment and Compassion (wie Anm. 1), S. 212-229, hier S. 226). Vgl. weiterhin Košenina, Literarische Anthropologie, S. 211: „Woyzeck […] wird nicht mehr als menschenwürdiges Wesen, sondern als Körpermaschine im Räderwerk des Militärapparats und eines wissenschaftlichen Experiments behandelt.“ 95 Vgl. dazu die hervorragende Analyse von Neumeyer, „Hat er schon seine Erbsen gegessen? “, bes. S. 225-226. - Die Gleichsetzung Woyzecks mit einem Tier wird in der Professorenszene sinnfällig. Hier wird Woyzeck, wie die Katze und die Laus, zum Vorführungsobjekt. Als er nicht sofort, wie vom Doktor verlangt, mit den Ohren wackelt, schilt ihn dieser als „Bestie“, wie davor die Katze. Genüsslich stellt der Doktor die immer deutlicher als pathologische Symptome zu Tage tretenden Folgen des Erbsenexperiments fest und beschreibt das Untersuchungsobjekt Woyzeck mit den Worten: „So meine Herren, das sind so Übergänge zum Esel […]“ (H3,1; MA 219). 96 Vgl. dazu die Äußerung des Arztes: „Behüte wer wird sich über einen Menschen ärgern, ein Menschen! Wenn es noch ein Proteus wäre, der einem krepiert! “ (H4,8; MA 226). 97 Vgl. Glück, Woyzeck , S. 190: „Man kann sagen: Dieser Mann wird restlos verwertet .“ - Wie im Hessischen Landboten lässt sich die Entwürdigung anhand der Selbstzweckformel Kants und seines kategorischen Imperativs beschreiben, auch wenn Büchner das Menschenbild Kants demontiert. - Direkt mit dem Begriff der Menschenwürde verknüpft Pethes seine Interpretation des Menschenversuchs („Viehdummes Individuum“, S. 75): „The Doktor’s statement on science, affects, and animals reveals the two epistemological elements that structure a human experiment: one is the perspective on humans as organisms that mechanically respond to stimuli, the perspective on animal functions. IV.4. Grenzprobleme im Woyzeck (1836 / 37) 183 IV.4.3. Entwürdigung-= Würdelosigkeit? Im Lenz konstituiert Büchner die Menschenwürde der vermeintlich würdelosen Titelfigur mit ästhetischen Mitteln. Im Woyzeck wird die Würde des zutiefst entwürdigten, doppelt fremdbestimmten Protagonisten sowohl innerals auch außerfiktional wiederhergestellt. Im Dialog mit dem Hauptmann (H4,5; MA 223-224) schafft es Woyzeck - ähnlich wie Lenz im Kunstgespräch - sich doch recht zusammenhängend zu artikulieren. Nachdem er zunächst nur mechanisch und gleichsam besinnungslos antwortet (vgl. das anaphorische „Ja wohl, Herr Hauptmann“ sowie die wiederholte Apostrophe „Herr Hauptmann“) und der Hauptmann den „ganz abscheulich dumm[en]“ Untergebenen lächerlich macht, widerspricht Woyzeck dessen Ansichten über Moral. Freilich überzeugt er den Hauptmann, der Woyzecks Argumentation mit verstörender Ignoranz übergeht, nicht; immerhin aber hat ihn der „Diskurs […] ganz angegriffen“. Bedeutsamer aber als das innerfiktionale Scheitern des Dialogs ist der außerfiktionale Effekt: Woyzeck entlarvt das Gefasel des Hauptmanns als hohle Phrasen, seine „ Würde “ als leere Pose. Woyzecks Einwände - Armut, Kreatürlichkeit, Hoffnungslosigkeit - sind schlagend, weil sie der bürgerlichen Vorstellung von Moral und Würde die nackte soziale Realität gegenüberstellen. 98 Dem Zuschauer des Dramas stellt sich zudem die Frage, ob der Mord an Marie überhaupt eine Tat , eine selbstbestimmte Handlung einer autonomen und verantwortlichen Person oder eher die notwendige Folge der Manipulation eines vollkommen determinierten, entwürdigten Menschen ist. Das zweite Gutachten, das der Mediziner Clarus über den historischen Fall anfertigte, der Büchner als Vorlage diente, stellt fest, „daß bei ihm [i. e. Woyzeck; MG ] die Freiheit des Willens in diesem Zustande keineswegs aufgehoben gewesen sei“ ( MA 647). Dieser Beurteilung liegt ein normatives, kantisches Menschenwürdeverständnis zugrunde: Da Woyzeck ein Mensch ist, ist er ein potentiell vernunftfähiges Wesen, besitzt theoretisch einen uneingeschränkt freien Willen und ist somit The other is the matrix that serves to interpret the experimental data, statistics and the notion of ‚average normality‘ that goes with it. Both these elements contradict the notion of the individual dignity of a human being who according to enlightened philosophy is supposed to be rational and exceptional rather than average animal.“ 98 Der Dialog mit dem Doktor wurde ähnlich gedeutet. Vgl. Pethes, „Viehdummes Individuum“, S. 75, der Woyzecks Bemühen, sich und seine „Natur“ diskursiv zu rechtfertigen, als „attempt to regain human dignity“ bezeichnet; doch bereits auf sprachlicher Ebene scheitert Woyzeck. Vgl. auch Arne Höcker, Das Drama des Falls. The Making of Woyzeck , in: Tötungsarten und Ermittlungspraktiken. Zum literarischen und kriminalistischen Wissen von Mord und Detektion, hg. v. M. Bergengruen [u. a.], Freiburg i. Br. [u. a.] 2015, S. 189-204, hier S. 202-203. 184 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners moralischen Handelns fähig. Seine Tat basiert auf einer freien Entscheidung, demnach muss er bestraft werden. Die bisherige Forschung macht jedoch bisweilen geltend, dass der Mord an Marie keineswegs als „Tat“ 99 zu betrachten sei, der eine freie, autonome Entscheidung vorausging. Büchners Fiktionalisierung des historischen Falles enthüllt zum einen, wie verlogen eine Gesellschaft ist, die auf der einen Seite von Autonomie, Willensfreiheit, ja Menschenwürde redet, auf der anderen Seite aber nicht einmal in der Lage ist, die grundlegendsten existenziellen Bedürfnisse des Einzelnen zu stillen: Versorgungssicherheit für sich und seine Familie. Objekt der Kritik sind die Umstände und das Gesellschaftssystem, die Menschen produzieren, die tierähnliche, ohnmächtige Existenzen führen müssen. So wird das tragische Ende des Dramas zwar nicht entschuldbar, aber erklärbar und nachvollziehbar. Zum anderen stellt Büchner - in einer geradezu perversen dramatischen Wendung - Woyzecks Mord an Marie tatsächlich als Tat, als bewusste Handlung dar, als letzten möglichen autonomen Akt der Würde eines vollkommen entwürdigten Menschen. 100 In der innerfiktionalen Welt ist Woyzeck Opfer tiefster Menschenwürdeverletzungen. Die Gesellschaft bringt ihn in eine Situation, die ein Mensch nicht aushalten kann; der Mord wird zum letzten Ausweg, zur letzten Möglichkeit, die eigene Würde wiederherzustellen. Dass Woyzeck dabei gerade den Menschen, den er am meisten liebt, umbringt, legt das ganze Ausmaß der sozialen Katastrophe offen. Dass Woyzecks Handlung tatsächlich eine autonome, planmäßige ist, beweist die Vorbereitung durch den Messerkauf. Auch die Art des Tötens ist vielsagend: Büchner lässt Woyzeck Marie nicht etwa auf eine distanzierte Art, z. B. mit einer Pistole, ermorden, sondern mit einem Messer, was vom Täter ein sehr aktives, unmittelbares Töten erfordert. Auf solche Weise wird etwa Wild erlegt oder Nutzvieh geschlachtet. Woyzeck behauptet sich durch den Mord also als Mensch, setzt sich durch die Art des Tötens vom Tier, zu dem ihn die Gesellschaft macht, ab. Auf eine juristische Bewertung oder eine Bestrafung Woyzecks verzichtet Büchner in der innerfiktionalen Welt bewusst; der Fokus liegt vielmehr darauf, was mit dem Menschen Woyzeck passiert. 99 So etwa Glück in Anlehnung an W. Lehmann (vgl. Woyzeck , S. 179). Lehmann bezieht diese Feststellung bereits auf den ersten Entwurf H1. - Insofern wäre der Begriff des „Helden“ in Bezug auf Woyzeck zu relativieren, wie es auch Arnd Beise tut (Einführung in das Werk Georg Büchners, Darmstadt 2010, S. 117). 100 Maria Carolina Foi deutet Wilhelm Tells Mord an Gessler in Schillers Drama ebenfalls als Akt der Würde, freilich unter anderen Vorzeichen: „Die Selbstverteidigung, zu der er [i. e. Tell; MG] greift, ist […] Frucht seiner Entscheidung: Töten zur Wiedererlangung der eigenen Menschenwürde. Um die Rechte des Menschen zu verteidigen, muß Tell sich mit dem Bösen messen. Um wiederhergestellt zu werden, muß die Menschlichkeit in diesem Fall suspendiert werden“ (Schillers Wilhelm Tell , S. 222). IV.4. Grenzprobleme im Woyzeck (1836 / 37) 185 Innerfiktional kann Woyzeck seine Würde demnach - pervers genug - nur durch den Mord an einem geliebten Menschen behaupten. Außerfiktional, auf der Ebene der Rezeption, rehabilitiert die Art der literarischen Darstellung seine Würde. 101 Nicht nur wird Woyzeck - dieser Mann ohne jede kontingente Würde - vom Dichter als literaturfähig betrachtet, und zwar nicht als Figur, die verlacht oder verdammt wird, sondern als mit Mitleid, Verständnis und Bewusstsein für die Umstände seiner Situation zu betrachtender Mensch. Vor allem lässt Büchner in kurzen Momenten zutiefst menschliche Reaktionen und Empfindungen aufscheinen. In der Wirtshausszene beobachtet Woyzeck die mit dem Tambourmajor tanzende Marie; seine Eifersucht zeugt von seiner Verletztheit, von seiner enttäuschten Liebe: „W oyzeck ( erstickt ). Immer zu - immer zu. ( fährt heftig auf und sinkt zurück auf die Bank. ) Immer zu, immer zu, ( schlägt die Hände ineinander. )“ (H4,11; MA 229). Diese Szene markiert einen Bruch; die Demütigung ist nun auch auf privater, zwischenmenschlicher Ebene erfolgt. Seinem Freund Andres schenkt Woyzeck fürsorglich sein „Kamisolche“ (H4,17; MA 231), als er glaubt, es nicht mehr brauchen zu können. Beispielhaft ist auch die zärtliche Liebe in der herzzerreißenden Szene zwischen Woyzeck und seinem Sohn (H3,2): W oyzeck . Bub, Christian. […] W oyzeck ( will das Kind liebkosen, es wendet sich weg und schreit. ) Herrgott! […] W oyzeck . Christianche, du bekommst en Reuter, sa sa. ( das Kind wehrt sich. Zu Karl. ) Da kauf d. Bub en Reuter. ( MA 219) In diesen Momenten wird klar: Trotz aller äußeren und inneren Zwänge, trotz aller Gefährdungen seiner Autonomie oder Würde bleibt Woyzeck ein fühlender, liebender, verletzlicher Mensch . 102 101 Vgl. dazu auch Glück, „Herrschende Ideen“, S. 133: Woyzeck behalte „[i]n der Erniedrigung […] eine schwer zu benennende Würde, ohne die Insignien von ‚Würde‘. Es ist eine Würde in der Würdelosigkeit, die selbst von der verächtlichen Behandlung, die er über sich ergehen lassen muß, nicht entstellt werden kann.“ Das, was Woyzeck sich bewahrt, nennt Glück „menschliche Substanz“. Dieser Kommentar führt direkt zum Würdeverständnis, das dem Woyzeck zugrunde liegt. Die fehlenden „Insignien“ von Würde: Woyzeck fehlen sowohl jene Merkmale, die in traditionellen Vorstellungen Würde begründen (Autonomie, Willensfreiheit, Distanz gegenüber der eigenen triebhaften Natur), als auch jene, die eine Form kontingenter Würde darstellen (sozialer Status, vorbildliche Haltung im Leiden o. Ä.). Gleichwohl, bei aller „Würdelosigkeit“, behält er in Büchners Darstellung eine Form der inhärenten Würde, eine unveräußerliche, unverlierbare Menschenwürde, die Glück als „menschliche Substanz“ zu fassen versucht und die sich äußert in Woyzecks „Selbstaufopferung“, seiner „Solidarität“ und Hilfsbereitschaft. Vgl. ebd., S. 134-138. - In der vorliegenden Deutung wird bewusst vom Terminus „Würdelosigkeit“ abgesehen. 102 In Dantons Tod sind es die Frauenfiguren, die Liebe und Empathiefähigkeit als alles transzendierende Dimension des Humanen profilieren. 186 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners In der ganz eindeutig ironischen „Predigt“ des Handwerksburschen in H4,11 ( MA 229) folgt auf die Frage „Warum ist der Mensch? “ eine Art Schöpfungsgeschichte, die den Menschen in Varianten stets als Mittel zum Zweck beschreibt. Diese teleologische Sicht ist für Büchner unzulässig; der Mensch ist , und allein deshalb hat er Würde. 103 Da Woyzeck zu menschlichen Emotionen und Empfindungen fähig ist, ist er - trotz aller Entmenschlichungen, trotz aller Entwürdigungen - ein Mensch, der Würde besitzt. Diese These - Entwürdigung ist nicht gleich Würdelosigkeit - stellt Büchner mit bis dahin nicht gekannter Vehemenz ins Zentrum seines Stückes; sie ist eine literarische Grundthese, an der sich die Literatur immer wieder, bis heute, abarbeiten wird. IV.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Büchner Büchners begriffliche Auseinandersetzung mit der Menschenwürde kennzeichnet eine bemerkenswerte Entwicklung: Die Gymnasialschriften bedienen sich recht unoriginell aufklärerisch-klassischer Begründungsmuster der Menschenwürde (Vernunftbegabung, Autonomie, Entscheidungsfreiheit). Dem gegenüber stehen die späteren Texte, in denen die Gefährdung, die Verletzung oder der vermeintliche Verlust der Menschenwürde thematisiert werden. Büchner enthüllt die Fragwürdigkeit der Vernunft als Zuschreibungskriterium von Menschenwürde und die Determination des Menschen (durch soziale Unterdrückung, durch die Geschichte, durch das Tier- und Triebhafte sowie die Kreatürlichkeit des Menschen, durch den Wahn). Den intrinsischen Wert spricht Büchner jenen, die aus idealistischer Perspektive würdelos erscheinen mögen, keineswegs ab - selbst der Geringste hat eine unantastbare Menschenwürde. Mit großem sprachlichem Aufwand inszeniert Büchner zum einen entwürdigende Vorgänge, zum anderen vermeintliche Würdelosigkeit. Der Hessische Landbote aktiviert das aufwieglerische Potential der Rhetorik der Entwürdigung , die den Rezipienten suggeriert, dass sie wie Tiere ausgenutzt werden. Eingekleidet in biblische Sprache ist ein naturrechtlicher Würdebegriff: Die Bauern sollen sich auf ihre Würde und die damit einhergehenden Rechte besinnen und sich 103 Ganz ähnlich argumentiert Pethes: Woyzeck problematisiere verschiedene Diskurse über den Menschen und was ihn auszeichnet; im Endeffekt werde der besondere Wert des Menschen aber dadurch hervorgehoben, dass es keine ‚positive‘ Definition des Menschen und seiner Würde gebe („Woyzeck […] preserves the incommensurability of ‚human‘ by not defining it“; „Viehdummes Individuum“, S. 81). - Neumeyer weist darauf hin, dass Büchner Woyzeck durch die Wahl der Gattung einen Körper gibt. Zwar wird er dadurch auch zum „Objekt der Beobachtung“ und „möglicherweise auch durch den Blick des Zuschauers partialisiert“; allerdings wird so für den Zuschauer der „Deformationsprozess“ sichtbar und nachvollziehbar („Hat er schon seine Erbsen gegessen? “, S. 245). IV.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Büchner 187 wehren. In der rhetorischen Entwürdigung werden zudem die Unterdrücker den Unterdrückten gleichgemacht. Im Lenz verdeutlichen vielsagende sprachliche Konstruktionen Autonomieverlust und beginnenden Wahn. Im Woyzeck wird die Grenze zwischen Mensch und Tier brüchig - ein programmatischer Angriff auf ein überholtes, die soziale Realität verkennendes Menschenbild. Die Thematisierung und Inszenierung von Menschenwürdeverletzungen haben ebenfalls einen scharfen sozialkritischen Impetus. Die Bauern des Landboten und Woyzeck werden theriomorphisiert und schamlos zu Mitteln der Herrschaftssicherung degradiert; ihnen wird von den sozial Höhergestellten, die sich auf verlogen-zynische Weise mit leeren Phrasen rechtfertigen, kein inhärenter Wert zuerkannt. Der rhetorischen Entwürdigung, der bedrückenden Inszenierung von Menschenwürdeverletzungen und dem Eindruck vermeintlicher Würdelosigkeit entspricht als positiv-überwindende ‚Gegenmaßnahme‘ die literarische Konstitution , d. h. die außerfiktionale Wiederherstellung der Menschenwürde im Lenz und im Woyzeck . Beide Texte sind ingeniöse Versuche, Menschenwürde mit den Mitteln der Literatur zu (re)konstituieren. Durch erzählerische bzw. dramaturgische Entscheidungen (personale Darstellung und auktoriale Artikulation von Lenz’ Innenleben; Einfügen von Szenen, die Woyzeck als empfindenden, liebenden Menschen zeigen) werden die entwürdigten und vermeintlich würdelosen Figuren dem Rezipienten anthropologisch gleichgestellt und als Mitleid, Verständnis und Achtung verdienende Menschen gekennzeichnet. Entsprechend ist die Kunst- und Literaturfähigkeit einer Figur auch nicht mehr an kontingente Formen der Würde gebunden. Büchners Menschenwürdebegriff fußt auf einem egalitären Menschenbild, das Menschlichkeit, Empathiefähigkeit und Solidarität, wie sie nicht zuletzt im Kunstgespräch im Lenz zum Ausdruck kommen, als Grundvoraussetzungen des menschlichen Zusammenlebens setzt, und dem ( ex negativo durch die Schilderung von zu verurteilenden Instrumentalisierungen postulierten) Recht auf Selbstbestimmung, was der allgegenwärtigen Determination keineswegs widerspricht. 104 Sein Menschenwürdebegriff ist nicht normativ in dem Sinne, dass 104 Der Mensch ist determiniert, das steht für Büchner außer Frage. Das schließt aber nicht die Klage darüber aus, dass er auf der Ebene seines politischen und sozialen Status zusätzlich bevormundet und fremdbestimmt wird. Auch wenn das Individuum seine Bedürfnisse und Triebe nicht beherrschen kann, vielmehr von ihnen beeinflusst wird, muss die Entscheidung, ihnen nachzugehen oder nicht, bei ihm selbst liegen. - Dass sich Bedingtheit und Selbstbestimmung nicht ausschließen müssen, zeigt z. B. Peter Bieri in seiner Studie über die Freiheit und den freien Willen. Der vollkommen freie Wille wird hier als nicht unbedingt zu erreichendes Ideal beschrieben; wahre Freiheit bestehe in der „Aneignung“ des eigenen Willens. Vgl. Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt / M. 10 2011. 188 B.IV. Die Menschenwürde im Werk Georg Büchners der Mensch bestimmte Kriterien erfüllen muss, um als würdevolles Wesen zu gelten. Vielmehr klagt er für jeden Menschen, ohne Rücksicht auf äußerliche oder innerliche Merkmale, Würde und bestimmte Rechte ein. Würde ist ein dem Menschen nicht zu nehmendes Wesensmerkmal. Das hat eine starke naturrechtliche Komponente, verzichtet bei der Begründung der Würde aber auf die Bindung an die Vernunft. Menschenwürde bedeutet nicht primär die Pflicht des Trägers, auf eine bestimmte Art, mithin ‚moralisch‘ zu handeln, sondern vor allem sein Recht, auf eine bestimmte Weise, und zwar ‚menschenwürdig‘, behandelt zu werden. IV.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Büchner 189 V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Begriff der Menschenwürde als Epitheton in Formulierungen wie „menschen(un)würdiges Dasein“ ein politisches Schlagwort, besonders im Denken der frühen Sozialisten. 1 Es verrät die Einsicht, dass die Menschenwürde mit der zunehmenden Dringlichkeit der ‚Sozialen Frage‘ und im Zuge von Urbanisierung, Industrialisierung und Proletarisierung sehr realen, materiellen Bedrohungen ausgesetzt ist, und dass dem Menschen bestimmte Lebensumstände nicht zuzumuten sind; die Menschenwürde wird zu einer politisch-sozialen Kampfformel. 2 Für die Literatur des Naturalismus, die sich der Wiedergabe der modernen Welt und deren Folgen für die conditio humana verpflichtet sieht, hat die Menschenwürde aber nicht nur diese sozialgeschichtliche Relevanz, sondern sie gewinnt auch für die Ästhetik und das der Kunst zugrundeliegende, auf zeitgenössische wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifende Menschenbild an Bedeutung. Die Literatur des bürgerlichen Realismus beschreibt vielfach die Aporie des Individuums, das einem von der Gesellschaft normativ verstandenen, tendenziell äußerlichen Würdebegriff gegenübersteht. Wenn als menschenwürdiges nur ein den bürgerlichen Normen und gesellschaftlichen Werten entsprechendes Leben gilt, wenn Ehre als Leitideal die Würde übertrumpft, müssen Selbstbestimmung, Selbstverfügung und Autonomie des Einzelnen zurückstehen. Entsprechend dominant sind in der literarischen Welt des 19. Jahrhundert die Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft - die nicht selten im Suizid enden, der den Rezipienten zu einer Reflexion über die Werte der Gesellschaft und deren Kollision 1 Vgl. Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 653. Vgl. auch Rolf-Peter Horstmann, Art. Menschenwürde, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter [u. a.], Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 1126. Horstmann nennt Belegstellen in den Schriften des Sozialisten Ferdinand Lassalle und des Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon. - Vgl. ebenso von der Pfordten, Menschenwürde, S. 39-40, der Lassalle und die Frühsozialisten als eine entscheidende Station der ‚Bewusstwerdung der Menschenwürde‘ nennt. 2 Vgl. auch Albert Gombert, Noch einiges über Schlagworte und Redensarten (Schluß), in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 3.4 (1902), S. 308-336, hier S. 319. In diesem frühen begriffsgeschichtlichen Beitrag bemerkt Gombert, dass die Formulierungen „menschenwürdiges Dasein“ und „menschenwürdige Zustände“ verbreitete Schlagworte sind, „neuerdings besonders im Munde der Sozialdemokraten“. Allerdings weist er auch darauf hin, dass der „Mißbrauch“ dieser Schlagworte bereits zu „Überdruß“ geführt hat. 190 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus mit der Würde des Menschen drängen soll. 3 Auf der darstellungsästhetischen Ebene tendiert der nicht umsonst als ‚poetischer‘ bezeichnete Realismus dazu, das Hässliche, die Würde Bedrohende auszusparen, es unter die Oberfläche zu verbannen oder aber es zu verklären. Das würdige Sterben ist in der Literatur des Realismus noch möglich - anders als in den Jahrzehnten darauf. 4 Im Naturalismus sind es weniger Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft als die das Individuum und seine Würde bedrohenden sozialen Kräfte, die in den Fokus rücken. Dass gerade die Naturalisten Georg Büchner, vor allem Lenz und Woyzeck , wiederentdecken und feiern, ist kein Zufall: In Büchner finden sie einen Dichter, der mit bemerkenswerter Genauigkeit und Drastik die entwürdigende Macht gesellschaftlicher Verhältnisse und deren Auswirkungen auf Leben und Erleben des einzelnen Menschen beschreibt - und dies mit einem vehementen Plädoyer für Empathie, Menschlichkeit und Menschenwürde verbindet. Das naturalistische Menschenbild, seine Konsequenzen für den Menschenwürdebegriff sowie dessen Relevanz für Kunstverständnis und -praxis werden im Folgenden mit Blick auf einschlägige naturalistische Programme und auf kanonische Texte der bedeutendsten Vertreter der Bewegung, des Autorenduos Arno Holz und Johannes Schlaf sowie Gerhart Hauptmanns, expliziert. V.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde für die Literatur des Naturalismus V.1.1. Theoretische Voraussetzungen Der Biologe und monistische Philosoph Ernst Haeckel, der die Thesen des Darwinismus in seinen auflagenstarken, populärwissenschaftlichen Werken beim deutschsprachigen Publikum verbreitete, erklärt in seinen „gemeinverständlichen Studien“ Die Welträtsel (1899) die neue Sicht auf den Menschen. Dieser ist weder ein aus der Natur herausragendes, von Gott als sein Ebenbild geschaffenes Wesen, noch zeichnet er sich durch eine Doppelnatur (Leib vs. Seele / Vernunft) aus. 5 Es gibt vielmehr nur eine Substanz; der Mensch, dessen Verwandtschaft mit dem Tier seit Darwin als erwiesen gilt, ist das Resultat einer genau nachzuvollziehenden Evolution. In Haeckels streng deterministischem 3 Vgl. dazu Tebben, Art. Suizid, S. 1837. 4 Vgl. dazu Kiesel, Sterben in der Schönen Literatur, S. 202-203. 5 Vgl. Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Leipzig 13 1922, S. 12-13. - Vgl. zum Folgenden auch Ben Dixon, Darwinism and Human Dignity, in: Environmental Values 16.1 (2007), S. 23-42. V.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 191 Menschenbild findet die Willensfreiheit keinen Platz mehr. Jede menschliche Handlung ist von der inneren Disposition des Einzelnen sowie den äußeren Umständen abhängig, gehorcht letztlich den Gesetzen von Vererbung und Anpassung an die Lebensbedingungen. 6 Gleichwohl betrachtet Haeckel die Vernunft immer noch als des Menschen „höchste[s] Gut“ und als „de[n]jenige[n] Vorzug, der ihn allein von den Tieren wesentlich unterscheidet“. 7 Die Vernunft und der Grad ihrer Ausbildung sind jedoch ebenfalls Resultat der Evolution und abhängig vom Einfluss äußerer Umstände. Diese Theorie versucht Wilhelm Bölsche in seiner Programmschrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie für die aufstrebende naturalistische Strömung fruchtbar zu machen. Gerade die „Thatsache der Willensunfreiheit“ rückt er in den Vordergrund: [W]enn sie nicht bestände, wäre eine wahre realistische Dichtung überhaupt unmöglich. Erst indem wir uns dazu aufschwingen, im menschlichen Denken Gesetze zu ergründen, erst indem wir einsehen, dass eine menschliche Handlung […] das restlose Ergebniss gewisser Factoren, einer äussern Veranlassung und einer innern Disposition, sein müsse und dass auch diese Disposition sich aus gegebenen Grössen ableiten lasse, - erst so können wir hoffen, jemals zu einer wahren mathematischen Durchdringung der ganzen Handlungsweise eines Menschen zu gelangen und Gestalten vor unserm Auge aufwachsen zu sehen, die logisch sind, wie die Natur. 8 Die künstlerische Darstellung des Menschen fußt auf wissenschaftlichen Gesetzen und beachtet die Faktoren Erziehung, Vererbung, Gewohnheit und die vom französischen Philosophen Hippolyte Taine formulierten Basiskategorien race , milieu und moment . 9 Haeckel und Bölsche setzen wesentliche Begründungsmuster der Menschenwürde außer Kraft: Der Mensch ist nicht per se der Schöpfung überlegen, sondern nur, insofern er ein besonders weit entwickeltes Tier ist; seine Handlungen sind nicht autonom, sondern Ergebnis verschiedenster Einflüsse; Vernunftfähigkeit an sich kann für die Zuschreibung von Würde nicht entscheidend sein, denn der Grad ihrer Ausprägung ist ebenfalls den Gesetzen von Evolution und Vererbung unterworfen. Obwohl die Erkenntnisse der sich rasant entwickelnden Natur- und Sozialwissenschaften den Menschen seines Status als per se der restlichen Natur überlegenes Wesen berauben, bleibt der Mensch weiterhin das Hauptsujet literarischer 6 Vgl. Haeckel, Die Welträtsel, S. 140. 7 Ebd., S. 18. 8 Wilhelm Bölsche, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik, mit zeitgenössischen Rezensionen und einer Bibliographie der Schriften W. B.s neu hg. v. J. J. Braakenburg, Tübingen 1976 [urspr. 1887], S. 25. 9 Vgl. dazu etwa Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890-1933, Stuttgart / Weimar 1998, S. 26. 192 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus Produktion. Die Literatur behält sogar nach Bölsche ihre aufklärerische Rolle als „Erzieherin des Menschengeschlechts“, kann sie doch nur so mit den Wissenschaften Schritt halten im Bestreben, „den Menschen gesund zu machen“. 10 Die Idee der Menschenwürde wird keineswegs verabschiedet, wie Bölsche und andere explizit festhalten. Trotz des naturwissenschaftlichen Fortschritts bleibe der Mensch, so Bölsche, „was er ist . Das raubt ihm niemand. Es bleiben alle seine Ideale“. 11 Emphatisch beschwört Michael Georg Conrad das Ziel seiner Generation, einen „Tempel der Humanität“ zu errichten und „das vernünftig verfasste […] Programm einer menschenwürdigen Existenz in unablässiger Arbeit an und um uns [zu] verwirklichen“, denn: „Der Mensch ist Selbstzweck.“ Conrad entfaltet die geradezu utopische Vision eines „Kampf[es] […] um die idealen Güter der Menschheit. Damit finden wir eine sichere, würdige Richtung für unsere gesamte Lebenspraxis und in ihr jene sittliche, reinhumane Kraft, in der allein alle Menschenerlösung beschlossen liegt.“ Mittel dieser ‚Erlösung‘ soll eine „naturalistisch begründete[], lautere[] Ethik“ sein. 12 Hermann Conradi schließlich formuliert zusammenfassend jene Faktoren, die den Kampf des Künstlers um „wahre[] Geistesfreiheit“ ausmachen: [D]as klare, aus unparteiischer Selbstprüfung, durch energische Selbstarbeit gewonnene Bewußtsein des eigenen Wertes ; eine deutliche, unbeirrte, durchschauende Einsicht in die Dinge, in die Relativität der Beziehungen; eine felsenfeste Überzeugung von der Würde und dem Werte natürlicher Menschenrechte ; eine gewisse historische Phi- 10 Bölsche, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen, S. 65. - Theo Meyer beschreibt diese für den deutschen Naturalismus typische Tendenz als „vagen Fortschrittsoptimismus, diffusen Aufbruchsenthusiasmus und volkspädagogischen Utopismus“ (Einleitung, in: Theorie des Naturalismus, hg. v. T. M., Stuttgart 2008, S. 16). 11 Wilhelm Bölsche, Die Abstammung des Menschen, in: Theorie des Naturalismus (wie Anm. 10), S. 99 (Herv. i. O.). Meyer nennt Bölsches Ansichten einen „biologistischen Humanismus“: „Auf der empirischen Basis der biogenetischen Grundeinsichten in die Abstammung des Menschen soll der Mensch den Geist der Menschlichkeit entfalten und darüber hinaus in der ‚Idealschau‘ sich produktiv weiterentwickeln“ (Einleitung, S. 12, mit Bezug auf Bölsches Schrift Die Eroberung des Menschen (1901)). 12 Michael Georg Conrad, Der neue Mensch, in: Theorie des Naturalismus (wie Anm. 10), S. 54-55. Zudem führt Conrad aus, dass die Einsicht in das neue, wissenschaftlich begründete Menschenbild keineswegs mit seinem Optimismus unvereinbar ist: „[M]an kann das tiefste Empfinden für unsere persönliche Nichtigkeit haben, das tiefsinnigste Ahnen von der Schuld des Weltdaseins, die in einzelne Menschenleben und ganze Gesellschaftsklassen als unverschuldetes Unglück, als blind quälendes Schicksal fällt - und doch die Behauptung wagen, daß die pessimistisch-nihilistisch-idealistischen Modetheoreme wie ein schleichendes Gift den Volkskörper zersetzen und schwere soziale Katastrophen heraufbeschwören werden“ (ebd., S. 55). - Meyer betont mehrmals, dass sich die naturalistischen Programmatiker aufklärerischen Idealen wie „Geistesfreiheit, Humanität und Sozialität“ (Einleitung, S. 4) verschreiben. V.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 193 losophie, eine auf pessimistisch-positivistischer Grundlage aufgebaute Weltanschauung, die das natürliche, naturbedingte Maß der logisch notwendigen Umbildung ohne Scheu […] an die Erscheinungen des Lebens legt! 13 (Herv. i. O.) Als „Mission des Dichters“ sieht Conradi das „Erreichen einer reinen vorurteilsfreien Humanität“, die den von den darwinistischen Theoremen vermeintlich ‚erniedrigten‘ Menschen ungemein aufwertet, da sie in ihm „den Besitzer natürlicher Rechte, den Träger einer natürlichen Freiheit sieht, nicht den Stoff, die Ware, um die gefeilscht und gemarktet wird“. 14 Dies sind die zwei widersprüchlichen Voraussetzungen der naturalistischen Literatur: einerseits das Wissen um die Bedrohung, ja die wissenschaftliche Infragestellung der Menschenwürde durch die Determinismuslehre, andererseits der Vorsatz, die Idee innerhalb der Literatur zu verteidigen, ja mit literarischen Mitteln zu reformulieren. Die Kunst müsse deshalb „rein menschlichen Ursprungs“ 15 sein, fordert etwa Conrad Alberti. Die fünfte der auf Eugen Wolff zurückgehenden Thesen der freien litterarischen Vereinigung „Durch! “ besagt: Die moderne Dichtung soll den Menschen mit Fleisch und Blut und mit seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit zeichnen, ohne dabei die durch das Kunstwerk sich selbst gezogene Grenze zu überschreiten, vielmehr um durch die Grösse der Naturwahrheit die ästhetische Wirkung zu erhöhen. 16 Dem naturalistischen Dichter erschließen sich Themen, die einem traditionellen Kunstverständnis als tabuisiert oder nicht kunstfähig galten, da es, so Alberti, in der Natur „kein[en] Winkel, kein[en] Fleck, kein Geschöpf, kein[en] Vorgang […], der nicht der künstlerischen Verkörperung würdig und fähig werde“, gibt. 17 Um den Menschen dem Ziel der Humanität näher zu bringen, darf, ja, muss sich die Literatur also auch mit dem vermeintlich Würdelosen befassen. Menschenwürde rückt in die Nähe des Begriffs Menschlichkeit ; die Aufmerksamkeit gilt insbesondere den Bedingungen der Möglichkeit von Menschlichkeit und Menschenwürde. 13 Hermann Conradi, Gedanken über Geistesfreiheit, in: Theorie des Naturalismus (wie Anm. 10), S. 71. 14 Conradi, Die Mission des Dichters, in: Theorie des Naturalismus (wie Anm. 10), S. 127. 15 Conrad Alberti, Die zwölf Artikel des Realismus. Ein litterarisches Glaubensbekenntnis (1889), in: Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880-1900, hg. v. M. Brauneck u. C. Müller, Stuttgart 1987, S. 49. 16 Thesen der freien litterarischen Vereinigung „Durch! “ (1886), in: Naturalismus (wie Anm. 15), S. 59. 17 Alberti, Die zwölf Artikel des Realismus, S. 53-54. 194 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus V.1.2. Exkurs: Menschenwürde und Mitleid in der Philosophie Arthur Schopenhauers Ende des 19. Jahrhunderts gilt der Mensch als ein von verschiedenen, wissenschaftlich beschreibbaren Faktoren determiniertes Wesen. Dass der Mensch nur bedingt frei und autonom handlungsfähig ist, hatte bereits einige Jahrzehnte zuvor Arthur Schopenhauer gelehrt. 18 Schopenhauer formuliert zudem scharfe Kritik am Begriff der Menschenwürde - und stellt der Menschenwürde das Mitleid als Grundlage seiner Ethik entgegen. 19 Schopenhauer stört sich zum einen an der Formulierung „Würde des Menschen“, die aufgrund ihrer strahlenden Aura die inhaltliche Schärfe und die theoretisch-systematische Verwendbarkeit zu verlieren und inhaltsleer zu werden droht: Allein dieser Ausdruck ‚ Würde des Menschen ‘, einmal von Kant ausgesprochen, wurde nachher das Schibboleth aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponierenden Ausdruck ‚ Würde des Menschen ‘ versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angethan sehn und demnach damit zufrieden gestellt seyn würde. 20 (Herv. i. O.) Zum anderen lehnt Schopenhauer Kants Bestimmungen der Menschenwürde als absoluter Wert, der dem Menschen eignet, und als moralische Freiheit des Menschen ab. 21 Schopenhauers Welt- und Menschenbild ist streng deterministisch. Grundprinzip der Welt und allen Lebens, auch des menschlichen, ist der 18 Zur künstlerisch-literarischen Rezeption Schopenhauers vgl. z. B. Günther Baum / Werner Hofmann (Hgg.), Schopenhauer und die Künste, Göttingen 2005 und zusammenfassend Søren R. Fauth / Børge Kristiansen, Art. Literatur, in: Schopenhauer-Handbuch, hg. v. D. Schubbe u. M. Koßler, Stuttgart / Weimar 2014, S. 347-360. 19 Zu Schopenhauers Auseinandersetzung mit der Menschenwürde vgl. Mario Brandhorst, Würde des Menschen - „hohle Hyperbel“? Eine Fallstudie zu Schopenhauers Moralkritik, in: Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche, hg. v. D. Birnbacher u. A. U. Sommer, Würzburg 2013, S. 155-180. 20 Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: Sämtliche Werke, textkritisch bearbeitet und hg. v. W. Frhr. v. Löhneysen, hier Bd. 3, Darmstadt 1980, S. 695. Vgl. dazu auch Dieter Birnbacher, Schopenhauer, Stuttgart 2009, S. 25-26. 21 Vgl. dazu knapp Peter Welsen, Art. Arthur Schopenhauer, in: WdW, S. 44-45 und Wetz (Hg.), Texte zur Menschenwürde, S. 284-285. Ein „Wert“ ist für Schopenhauer per se relativ. Kants Definition der Menschenwürde als absoluter Wert sei daher eine „contradictio in adiecto“ (Schopenhauer, Grundlage der Moral, S. 695). Dass die Menschenwürde laut Kant in der Fähigkeit des Menschen begründet ist, autonom und frei in Einklang mit dem Sittengesetz zu handeln, führe zu einem argumentativen Zirkel: „Wenn man überhaupt früge, worauf denn diese angebliche Würde des Menschen beruhe; so würde die Antwort bald dahin gehn, daß es auf seiner Moralität sei - also die Moralität auf der Würde, V.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 195 ‚Wille‘; den Äußerungen des Willens, etwa Trieben, Affekten, Entwicklungsgesetzen oder Instinkten, ist der Mensch ausgeliefert. Somit kann er auch nicht vollkommen frei und autonom handeln; zwar ist er im Stande, dank seiner Vernunftfähigkeit, die ihn nach wie vor vor dem Tier auszeichnet, 22 die Motive seiner Handlungen zu reflektieren, doch die Motive selbst bleiben durch den Willen determiniert. 23 Schopenhauers Sicht auf den Menschen ist zutiefst pessimistisch. Das menschliche Leben ist beherrscht durch allgegenwärtiges, sinnloses Leid, Unglück, Egoismus und Boshaftigkeit. Der Mensch ist eine fast schon erbärmliche Kreatur - was die Vorstellung einer besonderen Menschenwürde als absurd entlarvt: „[Mir scheint] der Begriff der Würde auf ein am Willen so sündliches, am Geiste so beschränktes, am Körper so verletzbares und hinfälliges Wesen, wie der Mensch ist, nur ironisch anwendbar zu sein“. 24 Der Mensch darf deshalb nicht an einem normativen Menschenwürdebegriff gemessen und aufgrund moralischer oder intellektueller Defizite verurteilt werden. Vielmehr fordert Schopenhauer die Besinnung auf das, was allen Menschen gemein ist - das Leiden: [M]an fasse allein seine [i. e. des Menschen; MG ] Leiden, seine Not, seine Angst, seine Schmerzen ins Auge - da wird man sich stets mit ihm verwandt fühlen, mit ihm sympathisieren und statt Haß oder Verachtung jenes Mitleid mit ihm empfinden, welches allein die ἀγάπη [Liebe] ist, zu der das Evangelium aufruft. Um keinen Haß, keine Verachtung gegen ihn aufkommen zu lassen, ist wahrlich nicht die Aufsuchung seiner angeblichen ‚Würde‘, sondern umgekehrt der Standpunkt des Mitleids der allein geeignete. 25 Im Leiden sind alle Menschen gleich, nicht aufgrund ihrer vermeintlichen Würde; umgekehrt bedeutet dies, dass allein Mitleid fähigkeit und Menschlichkeit, d. h. die Disposition, die Mitmenschen zu lieben und ihnen zu helfen, Gründe moralischen Handelns sein können. Als schwer fass- und erklärbare Lebensein- und die Würde auf der Moralität“ (Parerga und Paralipomena II. Zur Ethik, in: Sämtliche Werke (wie Anm. 20), Bd. 5, Darmstadt 1976, S. 239). 22 In diesem Kontext spricht Schopenhauer dann doch von der „Würde des Menschen“: „[D]er praktische Gebrauch der Vernunft macht das eigentliche Vorrecht, welches der Mensch vor dem Tiere hat, geltend, und allein in dieser Rücksicht hat es einen Sinn und ist zulässig, von einer Würde des Menschen zu sprechen“ (Die Welt als Wille und Vorstellung I, in: Sämtliche Werke (wie Anm. 20), Bd. 1, Darmstadt 1982, S. 696). Vgl. dazu auch Welsen, Art. Schopenhauer, S. 44. 23 Vgl. dazu etwa Birnbacher, Schopenhauer, S. 22-23, 28-59 und 72-85. Zu Schopenhauers Auffassung von Willensfreiheit vgl. auch Birnbacher, Art. „Preisschrift über die Freiheit des Willens“, in: Schopenhauer-Handbuch (wie Anm. 18), S. 101-109. 24 Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II. Zur Ethik, S. 239 (Herv. i. O.). 25 Ebd., S. 240. 196 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus stellung des Einzelnen figuriert das Mitleid als utopisches Moment des Menschlichen. 26 Sowohl die in den naturalistischen Programmen formulierte Einsicht in die Determination des Menschen als auch die keinesfalls als Widerspruch dazu verstandene Forderung nach Menschlichkeit, nach Humanität sind somit in Schopenhauers Philosophie vorgeprägt. V.1.3. Arno Holz’ kunsttheoretische Schriften Die poetologischen Ausführungen Arno Holz’ bestätigen die bisherigen Befunde. Die Einsicht in die „durchgängige Gesetzmäßigkeit alles Geschehens“, also auch in die Determiniertheit des Menschen, stellt für ihn die wichtigste Errungenschaft der Menschheit dar. 27 Diese Erkenntnis erlaubt es den Wissenschaften und der Literatur, die Welt, allen voran den Menschen und sein Verhalten, nach den Gesetzen der Empirie zu untersuchen. Nur so kann jenen Faktoren, die die Würde des Menschen bedrohen, entgegengewirkt, ja ein Aufschwung zu wahrer Würde vorbereitet werden: Erst durch sie [i. e. durch die Erkenntnis der allgemeinen Gesetzmäßigkeit; MG] haben wir jetzt endlich gegründete Hoffnung, durch Arbeit und Selbstzucht, vertrauend auf nichts anderes mehr, als nur noch auf die eigene Kraft, die es immer wieder und wieder zu stählen gilt, dermaleinst das zu werden, was zu sein wir uns vorderhand wohl noch nicht recht einreden dürfen, nämlich: „Menschen! “ 28 Die Ergebnisse der Soziologie machen Verhalten, Wesen und Entwicklung des Menschen und der menschlichen Gesellschaft nachvollziehbar und ergründbar: [E]s ist ihr Wollen [i. e. der Soziologie; MG ], die Menschheit, durch die Erforschung der Gesetzmäßigkeit der sie bildenden Elemente genau in dem selben Maße, in dem diese ihr gelingt, aus einer Sklavin ihrer selbst, zu einer Herrscherin ihrer selbst zu machen. 29 Die naturalistische Literatur legitimiert sich, indem sie sich den von der Wissenschaft aufgestellten Gesetzen verpflichtet. Insofern sie ‚Fälle‘ zeigt, die diese Ge- 26 Vgl. dazu auch Birnbacher, Schopenhauer, S. 116-131; Oliver Hallich, Mitleid und Moral. Schopenhauers Leidensethik und die moderne Moralphilosophie, Würzburg 1998; Dieter Birnbacher, Art. „Preisschrift über die Grundlage der Moral“, in: Schopenhauer-Handbuch (wie Anm. 18), S. 109-116. 27 Arno Holz, Die Kunst - Ihr Wesen und ihre Gesetze, in: Werke, Bd. 5, Neuwied / Rhein 1962, S. 3. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 5. V.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 197 setze illustrieren, trägt sie zur Entwicklung des Menschen bei. Schillers Postulat, dass der Künstler „[d]er Menschheit Würde“ durch die Kunst „heben“ solle, 30 wird auf zeittypische Weise neu interpretiert: In der und durch die Literatur soll der Rezipient die Gesetzmäßigkeit der Welt erkennen und begreifen. So erhält der literarische Diskurs - neben dem (natur)wissenschaftlichen - seine Berechtigung. In der literarischen Praxis resultiert hieraus eine Fokussierung auf den Menschen: „[D]en ganzen Menschen von neuem geben“ - so lautet der Auftrag der Literatur. 31 Im Drama steht, in auffälliger Modifizierung des Tragödienbegriffs des Aristoteles, die genaue Darstellung von Figuren - und nicht die Handlung - im Vordergrund: 32 „[D]er Mensch selbst und seine möglichst intensive Wiedergabe [ist] das Kerngesetz des Dramas“. 33 Die Grundstruktur des Dramas bildet somit nicht mehr primär das Aufeinanderprallen von Spiel und Gegenspiel bzw. von zwei (zumindest subjektiv) gleichwertigen Weltsichten, sondern die Wiedergabe des im Einklang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen gezeichneten Menschen und seine Einbettung in die ihn umgebende, determinierende Umwelt. Nur wenn eine Kunstfigur den Lehren der Soziologie entsprechend in ihrem Milieu gezeigt wird und nicht „konstruiert[], abstrakt[]“ wirkt, kann sie zum Anschauungs- und Untersuchungsobjekt werden. 34 Die programmatische Zurückstellung der Handlung ist dabei durchaus zu hinterfragen, kann sich eine Dramenfigur doch nur in ihr und durch sie profilieren. Andererseits fordert Holzʼ Bestimmung des Dramas die Integration epischer, rein deskriptiver Elemente geradezu heraus und verweist auf die Frage nach der dem naturalistischen Kunstideal angemessensten literarischen Gattung. Der Mensch jedenfalls besitzt nach Holz einen besonderen Wert als primäres Untersuchungsobjekt der naturalistischen Literatur; gleichzeitig ist er das Ziel des von den Dichtern zu befördernden intellektuellen und sozialen Fortschritts. 30 Vgl. dazu oben, S. 70. 31 Holz, Evolution des Dramas, in: Werke, Bd. 5, S. 48. 32 Vgl. ebd., S. 54. 33 Ebd., S. 56. 34 Ebd., S. 59. 198 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus V.1.4. Die Menschenwürde in poetologischen Aussagen Gerhart Hauptmanns Gerhart Hauptmann hat keine systematisch formulierte Poetik hinterlassen, sich jedoch in zahlreichen Reden, kurzen Prosatexten und Tagebucheintragungen zu Kunst und Literatur geäußert. 35 Viele dieser Äußerungen stammen aus den Jahren nach 1910, als Hauptmann endgültig zu einer der bedeutendsten kulturellen Figuren des Deutschen Reichs geworden war. Ihre unkritische Anwendung auf die frühen Dramen ist somit problematisch; gleichwohl sind seine grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit dem Wesen und der Funktion der Kunst aufschlussreich. Wichtiger noch wiegt die Tatsache, dass sich Hauptmann in theoretischen Überlegungen an markanten Stellen auf den Begriff der Würde bezieht. In den aphoristischen Aufzeichnungen Einsichten und Ausblicke (1942) finden sich im Abschnitt „Leben und Menschheit“ zwei instruktive Sätze. Der erste lautet: „Ich habe niemals eine andere Würde bekleidet als die mir innewohnende“ ( CA 6, 989). 36 Durch die Wahl zweier gegensätzlicher Verben („bekleiden“, „innewohnen“) unterscheidet Hauptmann zwischen zwei Würdebegriffen: Würde als etwas Äußeres, Kontingentes und Würde als eine inhärente Qualität, die ihm als Mensch eigen ist. Dass die dem Menschen „innewohnende“ Würde als die wahre, fundamentale angesehen wird, steht außer Frage. Dass sie ein Charakteristikum eines jeden Menschen ist, suggeriert der zweite Satz: „Jeder Mensch, richtig erkannt, ist ein bedeutender Mensch“ ( CA 6, 997). Bei genauerem Hinsehen wird die augenscheinliche Absolutheit dieser Aussage brüchig: Offenbar wird nicht jeder Mensch richtig erkannt, die Bedeutung, die dem Einzelnen zukommen müsste, nicht respektiert. Die Würde des Einzelnen ist demnach eher eine Utopie, für die gekämpft werden muss, denn (soziale) Realität. Die Kunst, so darf man mutmaßen, ist dem ‚richtigen Erkennen‘ des Menschen verpflichtet. Die Bedeutung, die der Menschenwürde im konkreten Kontext der Kunst, der Literatur und des Theaters zukommt, beschreibt Hauptmann an zwei Stellen. Zum einen betont er in einer 1931 vor Theaterschaffenden gehaltenen Rede mit einem eher produktions- und darstellungsästhetischen Akzent die Aufgabe des Theaters. Die „Verwandtschaft zwischen Kunst und Religion“ erlege dem Theater „hohe Pflichten“ auf. In Bezug auf Deutschland zieht er eine historische Entwicklungslinie über „Lessing, Goethe, Schiller, Wagner und Nietzsche“ und 35 Vgl. dazu Gerhart Hauptmann, Die Kunst des Dramas. Über Schauspiel und Theater, zusammengestellt von M. Machatzke, Berlin [u. a.] 1963, v. a. S. 225-226. 36 Schriften Gerhart Hauptmanns werden im Folgenden stets in der Form (CA Band, Seitenangabe) nach der Centenar-Ausgabe zitiert. Vgl. Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe zum 100. Geburtstag des Dichters, 11 Bde., hg. v. H.-E. Hass, Berlin [u. a.] 1962-1974. V.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 199 formuliert als Anspruch an das Theater: „Ist dem Theater nichts Menschliches fremd, so hat es doch auch die Würde der Menschheit zu wahren, was manchmal schwer zu vereinen ist“ ( CA 6, 829). Mit dieser scheinbar lapidaren Aussage weist Hauptmann auf eine entscheidende Entwicklung in der Geschichte des deutschen Dramas hin, indem er ein dramenpoetisches Problem formuliert, das spätestens seit Büchners Woyzeck besteht. Büchner inszeniert schonungslos die Entwürdigung und die vermeintliche Würdelosigkeit des Menschen. Aus ästhetisch-poetologischer Perspektive stellt sich zum einen die Frage nach der Legitimität einer solchen Radikalität, zum anderen jene, ob die verletzte Würde des Menschen, wie es bei Büchner geschieht, literarisch wiederhergestellt werden muss. Hauptmann ist sich des Problems einer Dichtung, die sich auf die dokumentarische Abbildung von Wirklichkeit verpflichtet, sich dabei aber auch - im Hinblick auf Funktion und Status der Kunst - der idealistischen Tradition verbunden sieht, bewusst. Der relativierende Nebensatz („was manchmal schwer zu vereinen ist“) scheint auch auf die eigenen naturalistischen Stücke zu verweisen, in denen die Problematisierung des Menschenwürdebegriffs ja gerade zum programmatischen Ansatz gehört. Auch rückblickend sieht sich Hauptmann trotzdem an das Postulat der Wahrung der Menschenwürde gebunden. 37 In einer Rede mit dem programmatischen Titel Der Weg zur Humanität (1922) entwirft der Dichter zum anderen ein teleologisches Bild sowohl der allgemeinen als auch der Literatur- und Kulturgeschichte. Die Zukunft Deutschlands verknüpft Hauptmann mit der Zukunft der deutschen Literatur. Als wichtigste Frage der Gegenwart betrachtet er, wohl auch unter dem Eindruck der Gräuel des Ersten Weltkrieges, jene nach der geistigen Ausrichtung des Volkes. Der Kunst kommt dabei eine entscheidende Rolle zu: Das höchste Ziel winkt jedenfalls auf dem Wege der Humanität, und auf diesem sind ganz allein die Künste des Friedens Wegbahner. Wesentlich friedlich sind die Künste, die Wissenschaften, die Religion, und hier ist es, nämlich auf dem Wege der Humanität, wo das deutsche Schrifttum Gott sei Dank immer zu finden war und zu finden ist und zu finden sein wird in der Zukunft. ( CA 6, 767) Der „übermenschliche[n] Begnadung des Menschengeschlechts“ müsse man sich jedoch erst noch „würdig“ erweisen ( CA 6, 768); dies zu befördern sei die Aufgabe der Literatur. Mit Pathos formuliert: Die Literatur ebnet den Weg zur Humanität. Dieses pauschale Urteil, das die Literaturgeschichte wenig diffe- 37 Dass Hauptmann auch auf ganz konkrete darstellungsästhetische Überlegungen abzielt, belegt ein anderes Zitat aus Einsichten und Ausblicke aus dem Kapitel „Dramaturgie“: „Mechanische Szenen sind roh und nur mit aller Vorsicht künstlerisch zu verwenden: Totschlag, Duell, Schlachtszenen“ (CA 6, 1043). Dies erklärt, warum er etwa die Suizide in seinen Stücken nicht auf der Bühne stattfinden lässt. 200 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus renziert als quasi notwendige, auf das Ziel der Humanität hin ausgerichtete Entwicklung beschreibt, impliziert aber auch, dass Hauptmann sein eigenes naturalistisches Frühwerk demselben Ziel verpflichtet sieht wie etwa die klassische oder romantische Literatur. Jede Literatur, besonders jedes Drama, zielt in Hauptmanns Augen primär auf die kontinuierliche Weiter- und Höherentwicklung des Menschen. Insofern ist das tatsächliche Erreichen von Menschenwürde und Menschlichkeit die Utopie, die die Literatur trägt. 38 * Von den in Bezug auf den Status des Menschen durchaus hoffnungsvollen und zukunftsgerichteten Visionen der kunsttheoretischen und poetologischen Beiträge ist in den literarischen Erzeugnissen des frühen Naturalismus auf den ersten Blick wenig zu sehen. Hier begegnen vielmehr das bedrückende Elend des modernen Großstadtlebens und die katastrophalen Folgen sozialer Veränderungsprozesse für das Individuum und die Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach dem genuin ästhetischen Umgang der Naturalisten mit dem programmatisch so bedeutsamen Begriff der Menschenwürde virulent, die Frage, wie - wenn überhaupt - in der naturalistischen Literatur die theoretisch relativierte Idee der Menschenwürde ‚gerettet‘ oder neu formuliert wird. Um Figuren ausgiebig aus der Innensicht als menschlich empfindende Wesen darzustellen, die Menschenwürde also auf diese Weise außerfiktional zu (re)konstituieren, fehlen dem Naturalismus mit seiner programmatischen Verpflichtung zum nüchternen Beobachterblick die darstellerischen Mittel. Die folgenden Analysen eruieren daher, wie die Spannung zwischen der Problematisierung des Menschenwürdebegriffs, dem Wissen um seine Bedrohung durch die soziale Realität und dem utopischen Entwurf einer allen Determinismus überwindenden Humanität literarisch inszeniert und gegebenenfalls gelöst wird. 38 Vgl. auch: „Wer meine Dramen verleugnet, verleugnet sein Menschtum“ (Einsichten und Ausblicke; CA 6, 1026). Auch dem deutschen Drama schreibt Hauptmann eine Würde, im Sinne einer besonderen, geschichtsträchtigen Bedeutung, zu. In seiner Rede Der Baum von Gallowayshire (1928) sagt er über das deutsche Drama der Neuzeit: „Mit einer höheren Aufgabe hat es eine neue Würde bekommen. Ob es aber die Kraft, seine Aufgabe zu bewältigen, seine Würde aufrechtzuerhalten und durchzusetzen, noch besitzt, steht auf einem anderen Blatt. Augenblicklich wird es ihm schwer, sich auch nur im eigenen Lande ernsthaft bemerklich zu machen. Die Zahl derer, die von ihm wissen, von seinem Wert, seiner Würde, seiner Aufgabe wissen, verringert sich von Jahr zu Jahr, während die Zahl der anderen, für die es überhaupt nicht in der Welt ist, sich ins Ungeheure steigert“ (Die Kunst des Dramas, S. 17). V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 201 V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus V.2.1. „So’n Hundeleben! “-- Arno Holz / Johannes Schlaf: Papa Hamlet (1889) V.2.1.1. Proletarisierung und Menschenwürde Papa Hamlet schildert die Folgen eines Proletarisierungsprozesses: 39 Verarmt und verelendet haust der arbeitslose Schauspieler Niels Thienwiebel mit seiner kranken Frau und seinem neugeborenen Sohn in einer Dachwohnung. Thienwiebels Lebensumstände und sein Selbstanspruch klaffen weit auseinander: Die gelegentliche Arbeit als Aktmodell hält er für eine „Entwürdigung“ ( PH 28), 40 eine Anstellung bei einer Wandertruppe lehnt er aus Angst, „sich zu degradieren“, ab ( PH 43). Würde ist hier zunächst kontingent und bezieht sich auf den sozialen Status; Thienwiebel hält stur und verzweifelt an seinem Selbstbild als genialer Künstler, als „große[r], unübertroffene[r] Hamlet aus Trondhjem“ ( PH 19), aber auch als selbstbewusster Kleinbürger fest. 41 Mit seiner Frau die jämmerlichen, aber realen Lebensbedingungen zu besprechen, hält er für „unter seiner Würde“ ( PH 29). Thienwiebels mit Pathos (und bisweilen eindeutig komischem Effekt) vorgetragenen Hamlet -Zitate sind nicht nur der seltsam anmutende Versuch eines Schauspielers, Worte für das ihn umgebende Elend zu finden; sie verraten auch das lächerliche Bemühen, an einem in Realität bereits überholten Selbstbild festzuhalten und durch die hochpoetische Sprache eine äußerliche Form der Würde zu bewahren. Seine Fixierung auf die Sprache Shakespeares ist grotesk, ist diese doch vollkommen unangemessen, die Ver- 39 Helmut Scheuer verwendet den Terminus „Proletarisierungsprozeß“ in seiner Analyse des Dramas Die Familie Selicke (Arno Holz / Johannes Schlaf: Die Familie Selicke , in: Dramen des Naturalismus. Interpretationen, Stuttgart 2008 [urspr. 1988], S. 67-106, hier S. 75). Zwar betont etwa Roy C. Cowen, dass Papa Hamlet nicht so sehr soziale Missstände, sondern das Leben eines dilettierenden Bohemien thematisiere, doch die Schilderung der Armut der Familie sowie eine vielsagende Passage des Textes weisen in eine andere Richtung: „Der große Thienwiebel hatte nicht so ganz unrecht: Die ganze Wirtschaft bei ihm zu Hause war der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters“ (Arno Holz / Johannes Schlaf, Papa Hamlet. Ein Tod. Mit einem Nachwort von Fritz Martini, Stuttgart 2007 [urspr. 1963], S. 53). Im Folgenden wird stets nach dieser Ausgabe zitiert; Zitate werden im Text in dieser Form belegt: (PH Seitenangabe). Vgl. Roy C. Cowen, Der Naturalismus. Kommentar zu einer Epoche, München 2 1973, S. 149-150. 40 Thienwiebels Gedanken werden im Text auf zwei Arten artikuliert: als direkte Rede oder als erlebte Rede in jenen Passagen, die personal erzählt werden. Das personale Erzählverhalten widerspricht dabei eigentlich der Verpflichtung zum objektiven Beobachterblick. 41 Zur Bedeutung des immer noch gültigen Ideals des Kleinbürgers für die Figuren des frühnaturalistischen Dramas vgl. Dieter Kafitz, Struktur und Menschenbild naturalistischer Dramatik, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 97 (1978), S. 225-255, hier S. 233 f. 202 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus hältnisse in der fiktionalen (und auch der realen! ) Welt zu versprachlichen. Außerfiktional betrachtet, dient die Sprache des elisabethanischen Theaters als Hinweis darauf, dass der Text als kritische Auseinandersetzung mit einer inadäquaten Theater- und Literatursprache zu lesen ist - und mit einem als überkommen betrachteten Menschenbild. Das humanistische Menschenbild der Renaissance, auf dem die idealistische Tradition gründet, prallt auf jenes, das der naturalistischen Ästhetik zugrunde liegt. Besonders ein Hamlet -Zitat verdeutlicht, dass Papa Hamlet gerade auch als Beitrag zum Menschenwürdediskurs zu lesen ist. Ironischerweise entspricht die Figur, der das Zitat in den Mund gelegt wird, dem humanistischen Ideal überhaupt nicht mehr: Welch ein Meisterwerk war der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig im Handeln, wie ähnlich einem Engel; im Begreifen, wie ähnlich einem Gotte; die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch: was war ihm diese Quintessenz vom Staube? ( PH 28) 42 Der euphorischen Feier des vernünftigen, autonomen Menschen, dem als Ebenbild Gottes und als ‚Krone der Schöpfung‘ die Freiheit der Gestaltung der ihm untergebenen Welt eignet, steht in dieser Passage die christliche Einsicht in die Nichtigkeit des Daseins gegenüber: Der Mensch vereinigt in sich Elend und Größe - eine für das 16. und das 17. Jahrhundert charakteristische Position. 43 Durch die Transposition des Zitats in erlebte Rede erscheint das Verbum im Präteritum („war“) - gleichzeitig eine Absage an das nicht mehr zeitgemäße Menschenbild. Papa Hamlet relativiert die Vorstellung von der herausragenden Qualität des Menschen und seiner damit verbundenen Würde auf zeittypische Weise: durch das Wissen um seine biologische und soziale Determination. V.2.1.2. Die Relativierung der Menschenwürde In einem versöhnlichen Moment artikuliert Thienwiebel selbst das im Text entwickelte Menschenbild: „Ich kann ja auch nicht dafür! … Ich bin ja gar nicht so! Is auch wahr! Man wird ganz zum Vieh bei solchem Leben! “ ( PH 60). Nur wenig später tötet er, wie zum Beweis, in einem Wutanfall seinen Sohn. Der Bezug zu 42 Diese Worte Hamlets stammen aus der zweiten Szene des zweiten Akts des Shakespeareschen Stücks. Holz und Schlaf geben hier die Übersetzung A. W. Schlegels wieder. - In seiner Anthologie Texte zur Menschenwürde (S. 89-90) zitiert Wetz ebendiese Stelle, um das für die Frühe Neuzeit typische, zwischen „Größe und Elend des Menschen“ schwankende Menschenbild zu illustrieren. - Zur Funktion der Hamlet -Zitate vgl. zusammenfassend Wolfgang Bunzel, Einführung in die Literatur des Naturalismus, Darmstadt 2 2011, S. 99-100. 43 Vgl. dazu etwa knapp Wetz, Illusion Menschenwürde, S. 28-35. V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 203 Büchners Woyzeck geht über die simple Anspielung („Vieh“ - „viehdummes Individuum“) hinaus; ist es bei Büchner perverserweise gerade der Mord an Marie, durch den Woyzeck seine Würde zu behaupten trachtet und somit beweist, dass er eben kein Vieh ist, so wird Thienwiebels Tat zum ultimativem Beleg für seine Würdelosigkeit. 44 Die fiktionale Welt in Papa Hamlet ist tatsächlich von Tieren bevölkert; das suggerieren zumindest Namen, Metaphern und Apostrophen, die auf die verschiedenen Figuren verweisen und die auf rhetorischer Ebene deren Menschenwürde in Frage stellen. 45 Innerfiktional fungieren diese Bezeichnungen bisweilen als Kosenamen, die zudem auf problematische zwischenmenschliche Beziehungen hindeuten (z. B. zwischen Vater und Kind). Außerfiktional betrachtet, deuten sie das dem Text zugrundeliegende Menschenbild an. Dass vor allem der kleine Fortinbras fast ausschließlich mit Tiernamen belegt wird, illustriert auf bedrückende Weise die naturalistische Lehre von Vererbung und Degeneration. Das Kind ist von Geburt an nicht nur durch seine eigene biologische Disposition, sondern vor allem durch die ihm von seinen Eltern und deren Umgebung vererbten Anlagen determiniert. Die Figuren leben in ihrer Selbstwahrnehmung ein „Hundeleben“ (PH 59). Die außerfiktional als menschenunwürdig gekennzeichneten Lebensbedingungen lassen sie zu tierähnlichen Wesen verkommen, die nicht mehr imstande sind, einen autonomen, auf selbstständiger Reflexion und dem Abwägen ethischer Gesichtspunkte beruhenden Willen zu bilden. 46 Im Text greifbares Symptom der im Hintergrund ablaufenden sozialen Prozesse, die das Leben des Einzelnen dramatisch verändern, ist das anhand aussagekräftiger, metonymischer Details 44 Zum Mensch-Tier-Diskurs und zur Mordtat im Woyzeck vgl. oben, Kap. B.IV.4.1. und S. 183 - 184. 45 Die Vermieterin heißt „Frau Wachtel“, für Ole Nissen sind Frauen „Miezchen“, „Miezen“ oder „Putthühner“, Thienwiebel wird als „Esel“ (PH 41, von Amalie) und „Pavian“ (PH 51, von Oles Gefährtin) beschimpft. Die meisten Tiernamen beziehen sich auf Fortinbras: „Frosch“ (PH 21), „der Krebsrote“ (PH 22 u. ö.), „Krabbe“ (PH 23), „Wurm“ (PH 24), „Mäuseken“, „Würmeken“, „Putteken“ (PH 30), „Zebra“ (PH 41), „Lindwurm“ (PH 50), schließlich „Hund“ (PH 56), „Zucht“, „Bestie“ (PH 58), „Kamel“ (PH 61). - Vgl. auch Edgar Neis, Erlebnis und Gestalt, Frankfurt / M. [u. a.] [1963], S. 102. - Franz Norbert Mennemeier wirft die Frage nach der Perspektive auf, von der aus z. B. die tierischen Kosenamen benutzt werden: „Wenn im Zusammenhang mit dem Kind jene abstoßend lieblosen Epitheta auftauchen, gehen sie dann auf das Konto des brutal-sentimentalen Vaters oder hat man sie am Ende einer anderen, fatal ‚objektiven‘ Instanz zuzuordnen? “ (Literatur der Jahrhundertwende I. Europäisch-deutsche Literaturtendenzen 1870-1910, Bern [u. a.] 1985, S. 102). 46 Papa Hamlet führt, so Helmut Scheuer, die „Depersonalisierung von Menschen in einer immer mehr nach zweckrationalen Gesichtspunkten organisierten Welt“ vor (Die Faszination des Alltäglichen. Arno Holz’ und Johannes Schlafs novellistische Studie Papa Hamlet, in: Der Deutschunterricht 63 (2011), S. 43-54, hier S. 44). 204 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus beschriebene Milieu, das die Würdelosigkeit der Figuren erzeugt. Die Einrichtung etwa ist heruntergekommen (ein „Milchtopf[] ohne Henkel“, ein „alte[s], berußte[s] Handtuch[]“; PH 21). Die Erbärmlichkeit ihrer Behausung färbt ganz offensichtlich auf Niels und Amalie ab: Er trägt „ausgetretene[] Pantoffeln“, ihre Haare sind „dünn[]“, ihre Nachtjacke ist „schmutzig“, ihr Kind säugt sie „nachlässig“ ( PH 21). Diese indexikalischen Zeichen verweisen auf die Armut, die den Figuren zu schaffen macht: Ole muss sich zeitweise von „aufgeweichten Brotkrusten“ ernähren ( PH 35), den Thienwiebels fehlt das Holz zum Heizen ( PH 48), Amalie zittert vor Kälte ( PH 55, 56). Mit der Vermieterin Frau Wachtel wird jedoch eine Figur eingeführt, die ein vernichtendes, auf das Ehepaar selbst als Verursacher seiner Misere abzielendes Urteil fällt: Der alte, alberne Kerl flözte sich den ganzen Tag auf dem Sofa rum und trieb Faxen, das faule, schwindsüchtige Frauenzimmer hatte nicht einmal Zeit, seinem Schreisack das bißchen blaue Milch zu geben, zu fressen hatten sie ja alle drei nichts, und die Miete - ach du lieber Gott! ( PH 35-36) Frau Wachtels Sicht ist gewissermaßen eine ästhetische Norm, die Figur dient als ästhetisches Mittel, um die Theorie der Determination innerfiktional zu problematisieren. Der Mangel an sinnvoller Beschäftigung, ob selbstverschuldet oder nicht, ist demnach die Ursache des erbärmlichen Zustands; dieser wirkt sich wiederum auf die Psyche der Betroffenen aus. Amalie versinkt in Gleichgültigkeit und Stumpfheit (vgl. PH 36 und 56); Niels kokettiert wie Hamlet mit dem Wahnsinn (vgl. PH 36-38). Ob man nun die Armut als Folge von Persönlichkeitsstruktur und Umständen oder diese als Folge der Armut begreift, ändert nichts daran, dass die Figuren in ihrem Milieu, das sowohl ihre realen Lebensverhältnisse als auch ihre überholten Ideale beinhaltet, gefangen erscheinen. Zu Handlungen, die auf reflektierten Willensäußerungen beruhen, sind diese ‚vertierten‘ Menschen in diesen unwürdigen Bedingungen nicht mehr fähig. „Was macht man nu bloß? Man kann sich doch nicht das Leben nehmen? ! “, klagt Thienwiebel ( PH 60). Zwar sind ihm einzelne, kurze Momente der Selbstreflexion nicht abzusprechen; aber selbst der Freitod als freie Willensentscheidung gegen ein elendiges, würdeloses Leben kommt nicht ernsthaft in Betracht. Entsprechend ironisch klingen Niels’ Erziehungsratschläge an Amalie, und zwar nicht nur, weil er damit die Misshandlung seines Sohnes rechtfertigt: „Ein Kind darf nicht eigenwillig sein! Ein Kind bedarf der Erziehung, Amalie! “ ( PH 41). Der Text zeigt auf beklemmende Weise, dass die Entwicklung eines ‚eigenen Willens‘ nicht nur durch die Erziehung, sondern vor allem durch die als für die V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 205 zeitgenössische Großstadtgesellschaft typisch erscheinenden ärmlichen Lebensumstände gehemmt wird. 47 Unter diesen Voraussetzungen besitzt der Mensch an sich, der infolge der Determination durch Milieu, Vererbung und Zeitumstände seine Autonomie, seine Willensfreiheit und seine moralische Vorbildlichkeit einbüßt, offenbar keinen besonderen Wert mehr. Das Ende des Textes beschreibt den vollkommen würdelosen Tod des Niels Thienwiebel („Erfroren durch Suff! “; PH 63): „Und seine Seele? Seine Seele, die ein unsterblich Ding war? Lirum, Larum! Das Leben ist brutal, Amalie! Verlaß dich drauf! Aber - es war ja alles egal! So oder so! “ ( PH 63). Die Erzählinstanz lässt keinerlei Empathie, keinerlei Bedauern erkennen. Weder innernoch außerfiktional wird die Würde der Figuren durch literarische Mittel wiederhergestellt. Es bleibt vielmehr ein Eindruck entschiedener Negativität zurück. 48 Unter Rückgriff auf die naturalistische Programmatik lässt sich dieser Eindruck jedoch zumindest teilweise relativieren. Einen besonderen Wert besitzt der Mensch schon als explizit bevorzugtes Objekt des dichterischen Beobachterblicks. Außerdem leugnen die naturalistischen Programmatiker keineswegs die Würde des Menschen, lediglich ihre religiöse oder metaphysische Begründung wird abgelehnt. Begreift man die literarische Schilderung der menschenunwürdigen Lebensbedingungen als Aufdeckung von Menschenwürdeverletzungen, rückt der sozialkritische Impetus des Textes in den Fokus. Der schonungslose Blick auf das würdelose Resultat der Determination leugnet nicht die Menschenwürde an sich, sondern schärft den Blick für ihre Bedrohung und die Bedingungen ihrer Wahrung. Einen expliziten oder impliziten Hinweis darauf, was genau Menschenwürde dabei bedeutet, bleibt Papa Hamlet allerdings schuldig. 47 Wie in Die Familie Selicke wird die Großstadtrealität allerdings nicht direkt thematisiert. 48 Wenn Mennemeier in seiner Interpretation den Text dafür kritisiert, dass er „merkwürdig kalt“ lässt, dass die Autoren (er nennt namentlich nur Holz) „die menschliche Bedeutung des erzählten Geschehens“ verfehlen, ja eine Art „Komplizität“ zu den „erzählten inhumanen Vorgängen“ entsteht, da es nicht gelingt, das „Thema in dessen menschlicher Dimension einzuholen“, dann mag das daran liegen, dass der dar- und festgestellten Würdelosigkeit keine Möglichkeit der Überwindung, keine positive Definition gegenübergestellt wird (vgl. Literatur der Jahrhundertwende I, S. 101-103). - Cowen hebt hervor, dass der Erzähler keineswegs nüchtern beobachtet und wiedergibt, sondern eindeutig Spott, Ironie, Zynismus und Verbitterung artikuliert (vgl. Naturalismus, S. 151-154). 206 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus V.2.2. Das naturalistische Postulat der Willensunfreiheit und seine Problematisierung in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) Gerhart Hauptmanns „soziales Drama“ Vor Sonnenaufgang war 1889 der erste große Erfolg der naturalistischen Strömung auf der Bühne. Mit den Texten von Holz und Schlaf teilt Hauptmanns Drama einige Grundannahmen über den Menschen, es verzichtet jedoch nicht auf eigene Akzente. Auch Hauptmann schildert die äußerliche Würde als eine gesellschaftlich konstruierte und thematisiert die entwürdigende Macht des Milieus, die sich in Willensunfreiheit und Autonomieverlust äußert. Die Figur Loth vertritt ein deterministisches Weltbild und problematisiert zugleich die allzu konsequente Auslegung ebendieses naturalistischen Postulats, indem sie die Determination überwindet. Aus der außerfiktionalen Perspektive jedoch dient die Figur der Irritation: Durch ihr eigentlich konsequentes Handeln richtet sie erheblichen menschlichen Schaden an, kann also nicht zur Identifikationsfigur oder gar zum Helden werden. V.2.2.1. Würde als soziales Konstrukt Vor Sonnenaufgang stellt weniger die Proletarisierung einer Familie als vielmehr die Folgen plötzlichen Reichtums in den Fokus. Entsprechend versuchen die Figuren nicht, zwanghaft an kontingenten Formen der Würde festzuhalten, sondern stellen - mit bisweilen satirischem Effekt - protzend ihre wirtschaftliche Prosperität zur Schau. So ist es überaus komisch, wenn der rücksichtslose Kapitalist Hoffmann klagt, dass „ein Mann in meiner Stellung auf Schritt und Tritt beobachtet wird“ ( CA 1, 21), und gleichzeitig das Abendessen mit dem eben eingetroffenen Gast und Freund Loth zu einem feudalen Empfang macht. Der Tisch ist „ mit Delikatessen überladen []“, es wird edler Champagner serviert ( CA 1, 28). Während Loth die Trinkgewohnheiten seiner Gastgeber mit Sarkasmus kommentiert, dient Frau Krause gerade der Konsum von Alkohol, auch von teuren Lebensmitteln, der eigenen sozialen Aufwertung: „Bei a Adlijen wird doch auch aso viel getrunk’n“ ( CA 1, 33). Grotesk wird diese forcierte Manifestation sozialer Würde nicht nur durch das exzessive, offensichtlich krankhafte Ausmaß des Konsums, sondern auch durch die Ridikulisierung der Figuren in den Personenbeschreibungen der Regieanweisungen. So wird Kahl als „ dumm-pfiffig [er]“, „ plumper Bauernbursch “ bezeichnet, „ dem man es ansieht, daß er soweit möglich gern den feinen, noch mehr aber den reichen Mann herausstecken möchte “ ( CA 1, 29); Frau Krause, die „ furchtbar aufgedonnert “ und teuer gekleidet erscheint, strahlt „ Hoffart, Dummstolz, unsinnige Eitelkeit “ aus und macht schließlich einen „ undefinierbaren Knicks “ ( CA 1, 29). Ihr Bemühen, sich vom „Battelvulke“ ( CA 1, 30) abzusetzen, wird so als hohle Pose entlarvt. Der V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 207 lächerlich wirkende Versuch, den eigenen sozialen Status über Äußerlichkeiten zu inszenieren - ein Motiv, das auch in anderen Dramen Hauptmanns begegnet -, enthüllt jene Würde, die sich durch genau diese Kontingenzen definiert, als soziales, äußerliches Konstrukt. Dies lenkt den Blick umso stärker zum einen auf die Menschen an sich, zum anderen auf die sozialen Prozesse, die die Lebensverhältnisse schnell und bedrohlich radikal verändern, und betont gleichzeitig den Einfluss solcher sozial konstruierter Rollen. V.2.2.2. Alkoholismus, Degeneration und Würdelosigkeit „Der Alkohol degenerirt nicht nur die Nachkommen, er verwandelt den Menschen in eine viehische Kreatur, voll Trägheit und brutaler Gesinnung“ - so eine zeitgenössische Einlassung zur Alkoholfrage. 49 Übermäßiger Alkoholkonsum gilt als vererbbar, den Menschen erniedrigend, seine Willenskraft lähmend und als Motor von Gewalt - Motive, auf die auch Hauptmanns Drama rekurriert. Das Motiv des zum Tier degradierten Menschen ist im Text auf vielsagende Weise ambivalent. Zunächst greift es Loth auf. Als beim Abendessen über die Jagd gesprochen wird, die Loth als „Unfug“ ablehnt ( CA 1, 31), behauptet er: „Muhammedaner oder Christ, Bestie bleibt Bestie“ ( CA 1, 32). Der Mensch ist eine „Bestie“, ein gefährliches Tier, nicht nur in einem neutral-wissenschaftlichen Sinn als vorläufiger Endpunkt einer Evolution, sondern mit einer eindeutig abwertenden Konnotation. Das Jagen dient Loth als Beleg für die rohe, tierische Natur des Menschen. Implizit ist dies eine moralische Verurteilung; der Mensch wird zum Unmenschen. Bezeichnenderweise ist der Alkoholgenuss das nächste Gesprächsthema. Der Vergleich mit dem Tier dient auch dem Kreis der Familie Krause, der selbst ein massives Alkoholproblem hat, als Möglichkeit der (moralischen) Abgrenzung gegen die sozial und ökonomisch benachteiligten Bergleute. Frau Krause kommentiert Loths Vortrag über die Gefahren des Alkohols mit den Worten: „[…] inse Bargleute saufen woahrhaftig zu viel“, und Kahl ergänzt: „Die saufen wie d’ Schweine“ ( CA 1, 35). Dass Kahl - Helenes Verlobter, Liebhaber Frau Krauses und als höchst depravierte Figur gezeichnet - gegenüber Tieren eine besonders abscheuliche Grausamkeit zeigt - er tötet alles, wie Helene bemerkt, „Zahmes und Wildes“ (CA 1, 31; vgl. 44-45) - ist vor diesem Hintergrund sinnfällig: Die neureiche Familie definiert und legitimiert sich in Abgrenzung zu den vermeintlich würdelosen Arbeitern und zum Tier. Diese offensichtliche Ironie wird durch die kurze Erzählung Loths gesteigert: Ohne zu wissen, dass 49 Max Bylo, Für und wider den Alkohol, in: Die Neue Zeit 9.1 (1890 / 91), S. 78, zit. in: Werner Bellmann, Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang . Naturalismus - soziales Drama - Tendenzdichtung, in: Dramen des Naturalismus (wie Anm. 39), S. 7-46, hier S. 20. 208 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus es sich um den alten Krause handelt, berichtet er von einem „steinreiche[n] Bauer[n]“, den er im Wirtshaus beim Trinken beobachtete: „Das reine Tier ist er natürlich. Diese furchtbar öden, versoffenen Augen, mit denen er mich anstierte“ ( CA 1, 37). Wieder macht Loth nicht bloß eine nüchterne Feststellung. Die Degradierung zum Tier, die nicht nur Folge des Alkoholismus ist, sondern auch durch den Sprechakt geschieht, ist als moralische Kritik intendiert. Zu Beginn des zweiten Akts wird die Animalisierung mit dem Auftritt des betrunkenen Bauern Krause auch auf genuin dramatische Weise inszeniert. Die Szene, die durch ausladende, präzise Regieanweisungen Aussehen, Spiel und Gestik der Figur vorschreibt, zeigt einen Mann, der aufgrund exzessiven Alkoholkonsums offenbar auf eine vormenschliche Entwicklungsstufe zurückgefallen ist. Krauses Artikulationsfähigkeit ist stark eingeschränkt; betrunken grölt er nur schwer verständliche Satzfetzen, daneben „[] murmelt und [] murrt “ er „ einiges Unverständliche “ ( CA 1, 39). Wie ein primatenähnliches Wesen, das den aufrechten Gang noch nicht recht gewohnt ist, richtet er sich auf, „ versucht gerade zu gehen “ ( CA 1, 39), greift seinen Geldbeutel „ mit einiger Mühe und unter Zuhilfenahme beider Hände “ ( CA 1, 39-40). Sein Äußeres mutet wild an, sein Haar ist „ ungekämmt und struppig “, seine Kleidung „ schmutzig “; wie ein neugieriges Tier spielt er mit dem Geldbeutel. Als er sich an Helene vergehen will, fällt der Schlüsselbegriff: „[M] it der Plumpheit eines Gorillas “ fasst er sie an. Helene ist entsetzt und schreit: „Tier, Schwein! “ ( CA 1, 40). 50 Die Gleichsetzung des Menschen mit dem Tier hat demnach verschiedene Facetten: Zum einen ist sie die Basis des naturalistischen Menschenbildes, das Loth geradezu programmatisch vertritt. Wie in Papa Hamlet erscheint Würdelosigkeit als Folge von Determination durch soziale Faktoren, in diesem Falle durch den Alkoholismus der neureichen Familie und der verarmten Bergleute. Auf einer zweiten Ebene zielt der Mensch-Tier-Diskurs auf moralische Selbstbestätigung (Familie Krause, durchaus ironisch! ) bzw. moralische Kritik (Loth). Loths moralisches Urteil beruht dabei auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen; er vertritt gleichsam eine naturalistisch fundierte Ethik. Diese Kritik ist nicht nur als innerfiktionale Figurenrede, sondern auch als Autorposition zu bewerten. 51 Der Alkoholismus fördert nicht nur die ohnehin wissenschaftlich 50 Für Sprengel ist die Zeichnung der Vaterfigur Indiz des familiären und des gesellschaftlichen Verfalls: „Er [i. e. der Verfall; MG] wird sichtbar im Vergleich mit dem bürgerlichen Schauspiel des 18. Jahrhunderts; die patriarchalische Vaterfigur - dominierend noch in Hebbels Maria Magdalene (1844) - ist zum stumpfsinnigen Tier herabgekommen“ (Gerhart Hauptmann, S. 70). - Laut Mennemeier sind bis auf Helene alle Mitglieder der Familie Krause „auf die Stufe von Tieren zurückgefallen“ (Literatur der Jahrhundertwende I, S. 227). 51 Die Meinung, Hauptmann kritisiere die von Loth vertretene These von der Vererbbarkeit des Alkoholismus, wurde inzwischen widerlegt. Hauptmann selbst war zur Zeit der V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 209 belegte tierische Natur des Menschen zu Tage, sondern wirft den Menschen auf der evolutionären Leiter zurück. Aus dieser Einsicht heraus vertritt Loth ein normatives Verhaltensideal, den rigorosen Antialkoholismus, den er der durch Alkohol drohenden Entwürdigung entgegensetzt. Er weist im Dialog nicht nur durch statistisches Material die determinierende Macht des Alkohols nach, sondern postuliert auch dessen Vererbbarkeit: „Die Wirkung des Alkohols, das ist das Schlimmste, äußert sich sozusagen bis ins dritte und vierte Glied“ ( CA 1, 35). Loths Menschenbild ist zwar wissenschaftlich fundiert, geht aber darüber hinaus, indem es eine Vision enthält, die dem Programm des Naturalismus vollkommen entspricht: Er will ‚den Menschen gesund machen‘. 52 Vor diesem Horizont ist sein späteres Verhalten zu bewerten. V.2.2.3. Helenes Suizid: kein autonomer Akt der Würde Dass sich Helene am Ende des Dramas ausgerechnet mit einem „ Hirschfänger “ ( CA 1, 97) das Leben nimmt, ihr Tod also mit dem semantischen Feld ‚Tier‘ assoziiert wird, indiziert, dass ihr Suizid als Folge einer Determination durch das Milieu zu deuten ist und nicht etwa als autonomer Akt der Freiheit. Werner Bellmann hat überzeugend dargelegt, dass Helenes Selbstmord mit der naturalistischen Determinationslehre übereinstimmt. Geprägt durch die „außerfamiliäre Erziehung“, die ihr zwar erlaubt, die eigene Situation zu reflektieren und korrekt zu beurteilen, aber auch bewirkt, dass sie konservativ-bürgerliche soziale und Geschlechterrollen internalisiert hat, und durch das familiäre Milieu, in dem sie mit grassierendem Alkoholismus und dessen Folgen konfrontiert ist, sieht sie in Loth ihre einzige Hoffnung auf Rettung. Als sie realisiert, dass Loth sie zurückgelassen hat, „flieht sie in den Tod, um den Zustand der Entwürdigung zu beenden und der Macht des Milieus zu entrinnen“. 53 Dass Bellmann die Vokabel „Entwürdigung“ wählt, ist naheliegend: Tatsächlich zeichnet Hauptmann die Folgen des Alkoholismus für die gesamte Familie - nicht nur die rein biologischen, sondern auch die zwischenmenschlichen - als Entmenschung. Entstehung des Stückes überzeugter Abstinenzler und von der Vererbbarkeit sowie den schädlichen Folgen des Alkoholkonsums überzeugt. Vgl. Bellmann, Vor Sonnenaufgang , S. 13-16; Rolf Christian Zimmermann, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang . Melodram einer Trinkerfamilie oder Tragödie menschlicher Blindheit? , in: DVjs 69 (1995), S. 494-511, hier S. 499-501 (dort v. a. auch den Hinweis auf die Ergebnisse von Günter Schmidt); Bunzel, Einführung, S. 109. 52 Vgl. dazu auch die Beschreibung seiner Milieustudie, die ihn überhaupt erst in die Gegend geführt hat: „Man könnte vielleicht Mittel finden, den Grund, warum diese Leute [i. e. die Bergleute; MG] immer so freudlos und gehässig sein müssen, wegzuräumen; - man könnte sie vielleicht glücklicher machen“ (CA 1, 28). 53 Bellmann, Vor Sonnenaufgang , S. 22-33 (Zitate S. 23 bzw. 32). Vgl. auch Zimmermann, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang , S. 507. 210 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus Helene selbst registriert dies im Gespräch mit Loth: „Es ist ganz entsetzlich, wie es hier zugeht; ein Leben wie - das … wie das liebe Vieh - ich wäre darin umgekommen ohne dich - mich schaudert’s! “ ( CA 1, 78). Doch selbstständig gelingt es Helene nicht, ihre Situation zu ändern; deswegen stilisiert sie Loth zu ihrem Retter. Hier offenbart sich das Problematische an dieser Figur: Zwar ist sie durchaus der Reflexion fähig, besitzt auch ein intuitives Verständnis für die Differenz von Gut und Böse sowie eine humane Geisteshaltung, aber sie ist unfähig, auf dieser Grundlage einen eigenständigen Willen zu bilden, der zu einer autonomen Handlung werden könnte. Als Frau besitzt sie keine eigene Würde; lediglich in Verbindung mit einem männlichen Retter entwickelt sie ein Gefühl des eigenen Werts, nur an der Hand des Mannes kann sie handeln. 54 Genau deswegen ist Helenes Suizid auch nicht als Akt der Würde, als reflektierter, selbstständiger Entschluss zum Freitod nach dem Vorbild von Gottscheds Cato inszeniert. Da Helene einer autonomen Entscheidung nicht fähig ist, entfällt der klassische Entscheidungsmonolog. 55 Helenes Suizid geschieht fast sprachlos; es geht ihm ein gestisches Spiel voraus, das ihre Verzweiflung, ihren Kontrollverlust verrät. Nach der Lektüre des Abschiedsbriefs Loths irrt sie wie eine „ halb Irrsinnige “ umher, hat „ Mühe, aufrechtzustehen “, und handelt mit „ verzweifelte [r] Energie “ ( CA 1, 97). Ihre gestammelten letzten Worte beziehen sich auf Loth; ihre Tat ist kein autonomer Akt, sondern eine Verzweiflungstat, weniger eine Flucht als eine reflexartige Handlung. 56 54 Als „unschuldige Schuld“ Helenes an ihrem eigenen Schicksal bezeichnet Zimmermann die Scham für ihren alkoholkranken Vater, die es ihr verbietet, Loth über die familiären Hintergründe aufzuklären, die letztlich ihre Erbgesundheit beweisen würden (vgl. Hauptmanns Vor Sonnenaufgang , S. 508). - Rudolf Mittler zufolge ist Helenes „Abhängigmachen von Loth ganz und gar Betätigung ihres eigenen Willens, einer Freiheit, die sie in den Verhältnissen und gegen sie behauptet“. Der Suizid sei also letztlich eine konsequente, aber freie Entscheidung (vgl. Theorie und Praxis des sozialen Dramas bei Gerhart Hauptmann, Hildesheim [u. a.] 1985, S. 225-228). Dass Helene ihr Leben und damit auch das Urteil über den „(Wert und) Unwert ihrer Person“ (so Mittler) an Loths Verhalten knüpft, ist allerdings eher Folge der sozialen Determination, des Gefangenseins in sozialen Rollen. 55 Vgl. Christel Erika Meier, Das Motiv des Selbstmords im Werk Gerhart Hauptmanns, Würzburg 2005, S. 61. 56 Vgl. dagegen die Interpretation Peter Sprengels, der zwar richtig feststellt, dass „Gestik und Bewegung“, und eben nicht das Wort, die Szene beherrschen und dass auf diese Weise die „Bedingtheit des Menschen durch die Verhältnisse zum Ausdruck“ kommt, dann aber von der „Paradoxie in Hauptmanns Vorgehen“ spricht, weil Helenes Suizid trotzdem „ein Frei tod [sei], weil sie sich durch ihn von den erniedrigenden Zwängen ihrer Umgebung freimacht“ (Herv. i. O.). Unverständlicherweise hält er gerade die „verzweifelte Energie“, die sie „durchfährt“, für den Beweis ihrer Autonomie. Sprengel findet darin Anklänge an „Ibsens radikalen Individualismus“ und an „Schillers Konzeption des Erhabenen“ (Gerhart Hauptmann, S. 73-74). Wenn überhaupt, ließe sich Loths Verhal- V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 211 Eines verbindet Helene aber doch mit Gottscheds Cato: Auch Helene tötet sich nicht auf , sondern hinter der Bühne. Auf den ersten Blick ist das inkonsequent; immerhin propagiert der Naturalismus den genauen, nichts verhüllenden Blick und das Überwinden künstlerischer Tabus. Zudem hat das Stück das Motiv des ‚vertierten‘ Menschen, zu dem sich Helene durch einen grausigen Suizid auf der Bühne womöglich machen würde, breit entfaltet und augenfällig vorgeführt (Krause). Erklären lässt sich dieser Sachverhalt durch Hauptmanns spezifischen Umgang mit dem Begriff der Menschenwürde: Im Einklang mit der naturalistischen Programmatik schildert er eindrücklich die Bedrohung der Menschenwürde durch soziale Faktoren; die vollständige Demontage der Idee unterbleibt aber - denn die Möglichkeit der Überwindung der Würdelosigkeit ist im Stück mitangelegt. 57 Deutlich wird dies bei einem genaueren Blick auf die Figur des Loth. V.2.2.4. Loth als Überwinder der Determination Auch auf Loth scheint zunächst das Determinismusparadigma zuzutreffen. Seinen „Kampf um das Glück aller“ will er sich nicht als Verdienst anrechnen lassen, schließlich sei er „so veranlagt“. Doch er schränkt sogleich ein: Nicht durch ten mit Schillers Begriffen des Erhabenen und der Würde in Verbindung bringen. Vgl. dazu unten, Anm. 67. - Ähnlich urteilen Friedhelm Marx, Gerhart Hauptmann, Stuttgart 1998, S. 53 sowie Walter Requardt und Martin Machatzke, die den Suizid als „persönliche[] Willensentscheidung“ bezeichnen. Sie fahren fort: „Diese zeigt sich insofern als sozial vermittelt, als die Heldin von familiären Determinanten […] an die Grenze ihrer Existenz gedrängt wird, wobei nur mehr die tragische Konfliktlösung des Selbstmords als paradoxer Freiheitsspielraum des autonomen Individuums übrigbleibt. Am Schluß triumphiert nicht der verschwommene Sozialismus Loths, sondern der Individualismus Helenes“ (Gerhart Hauptmann und Erkner. Studien zum Berliner Frühwerk, Berlin 1980, S. 152). Die Autoren versuchen also, das Prinzip der Determination mit jenem der Autonomie des Individuums zu verbinden, verkennen aber, dass nicht die Figur der Helene, sondern Loth die totale Gültigkeit des Determinismus in Frage stellt. - Meier stellt fest: „Die Schuld an ihrem [i. e. Helenes und Johannes Vockerats in Einsame Menschen ; MG] Tod wird dem sozialen Umfeld zugeschrieben, die unüberwindbare Bindung an das Milieu kann als Ursache des Suizids gelten.“ Gleichwohl nennt sie Helenes Suizid einen „Grenzfall autonomer Aktivität, die über das passive Erleiden des Milieus hinausgeht“ (Das Motiv des Selbstmords, S. 388). Bereits vorher stellt Meier jedoch sehr treffend fest: „Die Lobeshymnen auf den ‚Freitod‘ als autonomen Akt [in Teilen der Forschung und der Rezeption; MG] dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei Helenes Suizid zwar um eine Befreiung aus dem Milieu handelt, dass ihr Weg in diesen Tod jedoch von Anfang an determiniert ist“ (ebd., S. 67). - Zur kontroversen Forschungsdiskussion vgl. zusammenfassend ebd., S. 65-66. 57 Vgl. zudem oben, Anm. 37; in Einsichten und Ausblicke erklärt Hauptmann seine Vorbehalte gegenüber der künstlerischen Darstellung „[m]echanische[r]“ und „roh[er]“ Szenen. Vgl. auch Meier, Das Motiv des Selbstmords, S. 62, die mit Bezug auf John Osborne von der „Scheu des Dichters vor Tabubrüchen bei der Sterbeszene“ spricht. 212 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus Geburt oder Vererbung ist er zu dieser Veranlagung gekommen, sondern durch „die Verkehrtheit unserer Verhältnisse“, für die man nur einen „Sinn“ haben müsse; „dann wird man mit Notwendigkeit zu dem“, was er jetzt ist ( CA 1, 47). Loth stellt sich als positiv Determinierten dar: Aufgrund bestimmter Faktoren - Lektüre, Unrechtsbewusstsein, Fortschrittsglaube, nicht zuletzt Bildung - ist es ihm möglich und ein Bedürfnis, Missstände zu erkennen und sie zu bekämpfen. Dass Loth aber gerade in seinem nächsten Umfeld, im Umgang mit der Familie Krause, blind und begriffsstutzig wirkt - und so das tragische Ende Helenes erst ermöglicht -, verhindert eine positive Einschätzung dieser Figur. 58 Denn Loth vermag zwar, unter Berücksichtigung seines Wissens um die determinierende Kraft äußerer Faktoren reflektiert zu handeln, doch mangelt es ihm vollkommen am Blick für die praktischen Konsequenzen seiner Handlungen. 59 Gegen Ende des Stücks greift der Dialog zwischen Loth und Dr. Schimmelpfennig das Thema Determination auf. Loth bemüht sich, seinen Willen, Helene zu heiraten, „nüchtern“ und „objektiv“ zu begründen ( CA 1, 91). Nicht ohne Ironie diagnostiziert der Arzt bei Loth eine „unglückliche[] Ehemanie“, das zwanghafte Festhalten an einer Vorstellung, die er eigentlich „theoretisch längst verworfen“ habe ( CA 1, 92) - also einen Mangel an Konsequenz in seiner streng wissenschaftlichen, fortschrittsgläubigen Denkweise. Der weitere Verlauf der Unterhaltung ist entscheidend: L oth . Es ist Trieb bei mir, geradezu Trieb. Weiß Gott! mag ich mich wenden, wie ich will. D r . S chimmeLpfennig . Man kann schließlich auch einen Trieb niederkämpfen. L oth . Ja, wenn’s ’n Zweck hat, warum nicht? D r . S chimmeLpfennig . Hat’s Heiraten etwa Zweck? L oth . Das will ich meinen. Das hat Zweck! […] Ich hab’s auch vielleicht nicht so gefühlt, […] daß ich in meinem Streben etwas entsetzlich Ödes, gleichsam Maschinenmäßiges angenommen hatte. […] ( CA 1, 92) 58 Vgl. dazu Bunzel, Einführung, S. 110 mit den dortigen Literaturangaben. - Einen Überblick über die kontroverse Deutung der Figur Loth bietet etwa Zimmermann, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang , S. 495-498. Zimmermann deutet Loth als mittleren Charakter im aristotelischen Sinne, dem die Fähigkeit des Erkennens, des Beobachtens, auch der Instinkt abgeht. So versäumt es Loth, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Fragen zum familiären Hintergrund Helenes zu stellen, die aufdecken würden, dass diese keineswegs erbgeschädigt ist (vgl. ebd., S. 502-505). Loth selbst trifft beim Abendessen eine Aussage, die im Nachhinein fast als dramatische Ironie erscheint: „Ich begreife gar nichts von alledem“ (CA 1, 38). 59 Vgl. ähnlich Franziska Schößler, Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, Darmstadt 2003, S. 70. V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 213 Wie Loth für Helene, verkörpert auch Helene für Loth die Hoffnung auf ein besseres Dasein. Vor allem die hier artikulierten Handlungskonzepte sind interessant: Loth sieht seine sich entwickelnden Gefühle für Helene durch seinen ‚Ehetrieb‘ determiniert; einen eigenen Entscheidungsspielraum sieht er zunächst nicht. Dass dann gerade der Mediziner mit Rekurs auf traditionelle Menschenwürdevorstellungen behauptet, dass der Mensch sich über einen Trieb hinwegsetzen könne, überrascht; immerhin zeigt er sich sonst durchaus auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit. Loth geht darauf nicht ein. Vielmehr betont er die Zweckmäßigkeit einer Ehe mit Helene, die ihm sein ödes, maschinenartiges Dasein humaner machen würde. Sein Idealbild des menschlichen Zusammenlebens umfasst demnach sowohl das Bewusstsein für die wissenschaftlich beschreibbaren Gesetze, die das Leben bestimmen, als auch einen Raum für menschliches Miteinander. Indem er die Frau zum „Paradigma des Humanen“ erklärt, spielt Loth auf einen bestimmenden Topos des 18. und des 19. Jahrhunderts an. 60 Implizit liefert er so aber auch eine Definition dessen, was Menschenwürde im Zeitalter der wissenschaftlichen Entmystifizierung des Menschen bedeuten kann: die jegliche Determination und theoretische Reflexion transzendierende, gelebte Menschlichkeit. Dass das gemeinsame Glück am Ende dann doch unmöglich ist, akzentuiert auf äußerst ambivalente Weise sowohl die sozialkritische Dimension des Dramas als auch die Relativierung des strengen Determinismus - sowie das Problematische an der Figur Loth. Nachdem ihn Schimmelpfennig über den in der Familie Krause verbreiteten Alkoholismus aufgeklärt hat, wird für Loth schnell klar, dass er Helene, offenbar ohne großes Bedauern, verlassen wird. Im Endeffekt kämpft Loth also seinen „Trieb“ nieder! Zwar könnte man einwenden, dass dieses Verhalten auch nur Folge der oben beschriebenen Determination durch den verwissenschaftlichen Blick ist; doch Hauptmann macht in einem kurzen Entscheidungsmonolog klar, dass Loth sehr wohl in der Lage ist, die Situation zu reflektieren, abzuwägen und eigenständig eine freie Entscheidung zu treffen: L oth . […] es gibt drei Möglichkeiten! Entweder ich heirate sie, und dann … nein, dieser Ausweg existiert überhaupt nicht. Oder - die bewußte Kugel. Na ja, dann hätte man wenigstens Ruhe. Aber nein! so weit sind wir noch nicht, so was kann man sich einstweilen noch nicht leisten - also: leben! kämpfen! - Weiter, immer weiter. […] ( CA 1, 94-95) 60 Vgl. dazu etwa die Studie von Norbert Frei, die den Realismusbegriff und die Frauenbilder Fontanes untersucht: Theodor Fontane. Die Frau als Paradigma des Humanen, Königstein / T. 1980. 214 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus Bewusst entscheidet sich Loth gegen die Heirat und gegen den Suizid - in deutlichem Kontrast zu dem als notwendige Folge sozialer Determination gezeichneten Selbstmord Helenes. Bereits zuvor hatte Loth im Gespräch mit Helene den Suizid als bewusste und wohlüberlegte Entscheidung ins Spiel gebracht: Den Gedanken, „es in der Hand zu haben“, und die Option, sich so „über alles mögliche hinweg[zu]heben, Vergangenes - und Zukünftiges…“, findet er berauschend ( CA 1, 76). Diese „stolze[] Versicherung menschlicher Handlungsautonomie“, die „den Gedanken radikaler Selbstbestimmung“ behauptet, 61 widerspricht eklatant dem Glauben an einen strengen Determinismus, wie ihn Loth eigentlich vertritt. Gleichzeitig wird dieser Gedanke aber gerade durch Helenes Selbstmord wieder relativiert, der, wie beschrieben, keinesfalls Resultat einer besonnenen, vernünftigen Entscheidung ist. Dass sowohl Determination als auch Autonomie als problematisch und ambivalent geschildert werden, lenkt den Blick schließlich auf jene Faktoren, die beides entweder ermöglichen oder beeinträchtigen. 62 Nachdem sich also Loth zum Aufbruch entschieden hat, zaudert er: „Oder am Ende …? “ ( CA 1, 95); auch bevor er das Haus verlässt, bleibt er stehen und blickt zurück. 63 Schließlich bestätigt er seine Entscheidung: „Ja, ja! - nur eben … ich kann nicht anders“ ( CA 1, 95). 64 Gerade weil dieser Entscheidung ein Reflexionsprozess vorausgegangen ist, handelt es sich nicht um eine zwangsläufige - und genau das unterscheidet Loth von Helene . Als sich ihre Hoffnungen zerschlagen, flieht sie reflexartig, ohne Bewusstsein für ihren eigenen Wert und quasi sprachlos in den Tod. Als sich Loths Hoffnungen zerschlagen, entscheidet er sich rational und bewusst (und durch artikulierte Reflexion! ), „weiterzukämpfen“. Helene ist nicht fähig, die Determination durch familiäre und soziale Faktoren zu überwinden. Loth, gebildet und mit einem geschulten Blick für Missstände, ist in der Lage, letztlich doch zu einer freien Willensentscheidung zu gelangen. Jenen Missständen und gesellschaftlichen Faktoren, die die Existenz 61 Bunzel, Einführung, S. 113. - Meier spricht Loth eine „gewisse Affinität zum rational begründeten Suizid“ zu (Das Motiv des Selbstmords, S. 54). 62 Vgl. ähnlich die treffende Zusammenfassung bei Bunzel, Einführung, S. 114. 63 Vgl. CA 1, 96. Im Gegensatz zum biblischen (Gen 19) dreht sich Hauptmanns Loth also durchaus noch einmal um, was suggeriert, dass die Figur auch kritisch betrachtet werden soll. - Zu den biblischen Anspielungen im Stück, auch im Zusammenhang mit dem von Hauptmann nach einer Anregung Arno Holz’ verworfenen ursprünglichen Titel „Der Säemann“ vgl. zusammenfassend Zimmermann, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang , S. 496-497 und Bunzel, Einführung, S. 112. 64 Vgl. Bellmann, Vor Sonnenaufgang , S. 36-37. Dass Hauptmann Loth hier das angebliche Lutherzitat, mit dem dieser seine Verteidigung auf dem Wormser Reichstag abschloss, in den Mund legt, beweist laut Bellmann, dass „[s]eine Entsagung […] nicht Egoismus, Schwäche oder Feigheit [entspringt], sondern seiner Überzeugungstreue“, und dass sie „überdies ein Akt der Selbstbehauptung“ ist (ebd., S. 35-36). V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 215 des Menschen zu einer unüberwindbar determinierten machen, gilt also Loths Kampf. 65 Diesen Kampf versteht er als Kampf für die Allgemeinheit, wie der Gebrauch des Pronomens „man“ (statt „ich“) in seinem Entscheidungsmonolog verrät. Neben dem negativen Determinismusparadigma gibt es für Hauptmann demnach Möglichkeiten, die Determination zu überwinden 66 oder zumindest positiv zu gestalten - und genau das ist der Grund für das Festhalten an der Idee der Menschenwürde. Doch gerade dadurch, dass Loth die Determination überwindet und gewissermaßen den Glauben an die Menschenwürde rettet, 67 stürzt er Helene ins Unglück. Er trägt an ihrem Tod eine „moralische[] Verantwortung“, 68 da er unfähig ist, in diesem Moment seine Prinzipien zu verletzen, im Hinblick auf die praktischen Konsequenzen seines Verhaltens menschlich zu handeln und dem gemeinsamen Glück mit Helene eine Chance einzuräumen. Dies macht ihn zu einer zutiefst ambivalenten Figur, ja zu einer „tragischen Gestalt“. 69 Zwar sieht sich Loth in seinem sozialen Engagement dem theoretischen Ideal der Menschlichkeit verpflichtet, doch im zwischenmenschlichen Handeln gelingt es ihm nicht, einen Blick für die praktischen - und tragischen - Folgen seiner Entscheidungen zu entwickeln. 70 Ein naturalistisches Programm der Menschenwürde scheint in Hauptmanns Drama somit ex negativo auf. Helene und Loth sind als komplementäre Figuren 65 Vgl. dazu den Kommentar Mennemeiers: Die „Wahrheit“, mit der Hauptmanns Stück „provozieren“ wolle, sei, „daß es soziale Verhältnisse gibt, die aller Vorstellungen bürgerlich-kleinbürgerlichen Humanismus spotten“ (Literatur der Jahrhundertwende I, S. 227). - Vgl. auch die geistesgeschichtlich akzentuierte Bewertung von Requardt und Machatzke: „Die Gestalt des Alfred Loth ist der Versuch Hauptmanns, in einundderselben dramatischen Figur divergierende weltanschauliche Positionen zur Deckung zu bringen, vorab das aus dem 18. Jahrhundert ererbte bürgerliche Humanitätsideal, das zu den ideologischen Grundlagen der französischen Revolution gehört hatte, und den wissenschaftlichen Sozialismus des 19. Jahrhunderts, die theoretische Basis der führenden Teile der organisierten Arbeiterschaft.“ Als „dritte weltanschauliche Komponente“, die „zur Widersprüchlichkeit der dramatischen Person Loth nicht unwesentlich beiträgt“, nennen die Autoren „die aus fehlgeleitetem sozialen Gewissen auf die inhumane Spitze getriebene Vision des Humangenetikers zur Rettung der Menschheit vor den vermeintlichen Gefahren biologischer Degeneration“ (Gerhart Hauptmann und Erkner, S. 143-145). 66 Vgl. ähnlich Bunzel, Einführung, S. 113. 67 Man könnte sogar Schillers Begriff der erhabenen Würde bemühen. Dieser ist an sich wertneutral. Ebenso dient Loths Verhalten, bei allen moralischen Vorhaltungen, die man ihm machen kann, als Beweis seiner Würde. Hauptmann ist also zumindest in dieser Hinsicht dem klassischen Würdebegriff verpflichtet. 68 Sprengel, Gerhart Hauptmann, S. 71. 69 Roy C. Cowen, Hauptmann-Kommentar zum dramatischen Werk, München 1980, S. 43. - Vgl. auch Bunzel, Einführung, S. 109. 70 Vgl. ähnlich Mennemeier, Literatur der Jahrhundertwende I, S. 228 und Cowen, Naturalismus, S. 161-162. 216 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus angelegt. Während Helene zwar menschlich, aber handlungsunfähig ist, ist Loth durchaus autonomiefähig, aber inhuman; seiner naturalistisch begründeten Ethik fehlt die gelebte Humanität. Menschenwürde bedeutet demnach nicht so sehr die freie Willensentscheidung, die in eine autonome Handlung mündet und die Determination überwinden kann, sondern die Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl sowie die Bereitschaft zu menschlichem Handeln im Bewusstsein um die Macht determinierender Faktoren. In diesem Kontext sind auch Loths Kommentare über Literatur zu sehen. 71 Zwar stellt Hauptmann klar, dass Loths Kunstansichten nicht seine eigenen sind; 72 doch ebendiese Ansichten tragen jenen idealistischen Zug, der die programmatischen Äußerungen der Naturalisten prägt. Auch hier zeigt sich, dass die Determination doch überwindbar ist. Das Buch, das Loth Helene empfiehlt, hat einen „vernünftigen Zweck“, da es „die Menschen nicht [malt], wie sie sind, sondern wie sie einmal werden sollen. Es wirkt vorbildlich“ (CA 1, 46). Literatur kann demnach den Menschen positiv beeinflussen, ihn positiv determinieren. Die Texte Zolas und Ibsens hingegen seien keine Literatur; ihnen fehle der „klare[], erfrischende[] Trunk“, das positive Gegenbild zur bloßen Schilderung von Elend und Missständen. Zola und Ibsen böten lediglich „Medizin“ ( CA 1, 46). Diese Metapher ist als Vorwurf intendiert, obwohl sie eigentlich zum Bild des Menschen, den es gesund zu machen gilt, passt. Loth fordert hingegen die Aufgabe der Fokussierung auf das Negativ-Pathologische zugunsten des Aufzeigens von Verbesserungs- und Überwindungsmöglichkeiten. Außerfiktional betrachtet, verkörpert die Figur Loth diese Position. Als Kämpfer für das allgemeine Glück strebt er die Behebung von den Menschen determinierenden Missständen an, gleichzeitig relativiert er den strengen Determinismus, indem er als Beispiel für die Möglichkeit freier Entscheidungsgewalt, determinierenden Faktoren zum Trotze, fungiert. Hauptmann modifiziert somit das naturalistische Menschenbild, wie es bei Holz 73 theoretisch formuliert und in Papa Hamlet literarisch verarbeitet wird, auf signifikante Weise. Zwar spielt das naturalistische Dogma der Determination des Menschen und der gesetzmäßigen Erklärbarkeit seines Verhaltens eine entscheidende Rolle; der Glaube an die Möglichkeit autonomen Handelns wird 71 Zur Funktion der Literatur im Drama vgl. zusammenfassend Bunzel, Einführung, S. 112. 72 In einer kurzen „Erwiderung auf die Kritik“, vor allem in Bezug auf seine Kritik an den naturalistischen Vorbildern Ibsen und Zola. Vgl. CA 11, 754. 73 Hauptmann distanziert sich in seiner autobiographischen Schrift Zweites Vierteljahrhundert deutlich von „dem etwas primitiven Theoretiker Arno Holz“. „[S]tark, wenn auch […] nicht entscheidend, angeregt“ habe ihn vor allem die neuartige Art und Weise, „die Sprechgepflogenheiten der Menschen minutiös nachzubilden“, die Holz und Schlaf in Papa Hamlet demonstrierten (CA 11, 495). V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 217 jedoch nicht vollständig aufgegeben, sondern in den Dienst der Forderung nach Menschlichkeit gestellt. Vor Sonnenaufgang schildert die Menschenwürde als bedroht: durch soziale Veränderungen, durch zeittypische Erscheinungen, durch familiäre Missstände. Das Drama schärft das Bewusstsein für die determinierende, entwürdigende Macht dieser Faktoren; der Blick fällt auf die Bedingungen autonomen, verantwortungsvollen Handelns. Helenes Suizid erscheint dabei nicht als Möglichkeit der Überwindung von Determination, sondern gerade als deren unabwendbare Folge. Er ist kein autonomer Akt, mit dem das Individuum seine Freiheit rettet und seine Würde beweist. Vielmehr verweist auch der Selbstmord auf die kritische Frage nach den ihn determinierenden Faktoren. 74 V.2.3. Holz / Schlaf: Die Familie Selicke (1890) V.2.3.1. Vor Sonnenaufgang und Die Familie Selicke I Sein künstlerisches Verhältnis zu den ‚konsequenten Naturalisten‘ Holz und Schlaf beschreibt Hauptmann rückblickend wie folgt: Ich habe von dem Bjarne-P.-Holmsen-Prinzip selbst in meinem ersten Stück nur sehr bedingten Gebrauch gemacht. Und wenn es auch Arno Holz in seinem anfänglichen Enthusiasmus das überhaupt beste deutsche Drama nannte, so kam er doch später davon ab, als das Johannes Schlafsche Drama „Familie Selicke“ in Erscheinung trat und damit das Prinzip in angeblich reiner Form. Nun stand er nicht an, mein Werk zu entwerten, weil es eben, wie ohne Zweifel ganz richtig war, sein an sich originales Prinzip keineswegs durchführte. ( CA 11, 496) 75 Hauptmann sah den Einfluss von Holz v. a. in der Art der ästhetischen Reproduktion von Sprache. 76 Wenn er hier einen signifikanten Unterschied zwischen beiden Texten feststellt, dann bezieht er sich auch auf die gewichtigen Unterschiede in den theoretischen Voraussetzungen des jeweiligen Menschenbildes, die sich in der Figurenzeichnung manifestieren. Die Familie Selicke ist, so Peter 74 Diese Feststellung trifft auch auf andere, im weitesten Sinne naturalistische Dramen Hauptmanns zu. Auch hier sind die Suizide keine reflektierten, autonomen Handlungen tragisch scheiternder Individuen mehr, sondern Reflexe, Fluchtversuche von Getriebenen. Vgl. etwa Hauptmanns Dramen Das Friedensfest , Einsame Menschen , Die Ratten oder Fuhrmann Henschel . Allen Dramen ist aber auch gemeinsam, dass sie das Problem der Willens(un)freiheit - bisweilen explizit - thematisieren und das Determinismusparadigma keineswegs konsequent und unhinterfragt illustrieren. 75 In der von Holz und Schlaf später polemisch geführten Debatte um den jeweiligen Anteil an den gemeinsam verfassten Werken nimmt Hauptmann damit auf interessante Weise Stellung, indem er das Drama Schlaf zuschreibt - nicht ohne Spitze gegen Holz. 76 Vgl. oben, Anm. 73. 218 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus Sprengel, „Antwort auf und ‚konsequent-naturalistische‘ Alternative zu Vor Sonnenaufgang “. 77 Die entscheidenden Unterschiede - und somit die Antwort Holzʼ und Schlafs auf Hauptmanns Figuren - fördert eine auf den Menschenwürdebegriff zugespitzte Interpretation zu Tage. V.2.3.2. Die Überwindung der Würdelosigkeit? Wie Thienwiebel in Papa Hamlet ist auch die Familie Selicke darauf bedacht, nach außen hin die Insignien einer kleinbürgerlichen Würde zur Schau zu stellen: Die erste Regieanweisung des Textes erwähnt Gipsstatuen von Goethe und Schiller, einen Werther -Stich sowie Bilder Bismarcks und des „alte[n] Kaiser[s]“ ( FS 5). 78 Diese Requisiten haben eine doppelte Kontrastfunktion: Sie verweisen sowohl auf die Diskrepanz zwischen dem idealisierten, kleinbürgerlichen Lebensstil und den realen, ärmlichen Lebensbedingungen 79 als auch auf das mit ihnen assoziierte klassische Menschenbild, das aus naturalistischer Perspektive negiert wird. Ausgerechnet der Theologe Gustav Wendt erweist sich im Dialog mit Toni zunächst als von der Determinismuslehre überzeugter Naturalist. Leidenschaftlich versucht der angehende Pfarrer, Toni dazu zu bewegen, mit ihm aufs Land zu ziehen und dem „Elend“ ( FS 26) zu entfliehen. „Du bist ja auch nur ein Mensch! “ ( FS 26), ruft Wendt aus, als wolle er sie auffordern, sich ihren Affekten, die sie sowieso nicht beeinflussen kann, bewusst hinzugeben. Dann zeichnet er ein äußerst negatives Bild von Tonis Eltern, die eine von Hass und Streit geprägte Ehe führen: „Das sind keine vernünftigen Menschen mehr, das sind … Ae! Sie sind einfach jämmerlich in ihrem nichtswürdigen, kindischen Haß! “ ( FS 27). Noch schreckt Wendt zwar davor zurück, die Selickes als Tiere zu bezeichnen. Die offenbare Würdelosigkeit der Eltern bedroht jedoch in seinen Augen auch die Existenz der Kinder: „Die Kinder müssen ja zugrunde gehen! “ ( FS 27). Die Interdependenz von Milieu und Charakter steht für Wendt außer Frage. 80 Toni versorgt zu wissen und von ihr finanziell unterstützt zu werden, 77 Sprengel, Gerhart Hauptmann, S. 68. Laut Wolfgang Bunzel hatte Vor Sonnenaufgang „direkte Rückwirkungen auf Handlungsführung und Figurenzeichnung der Familie Selicke […]“ (Einführung, S. 114). 78 Zitiert wird stets nach der folgenden Ausgabe: Arno Holz / Johannes Schlaf, Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen. Mit einem Nachwort von Fritz Martini, Stuttgart 2010 [urspr. 1966]. Zitate werden im Text in der Form (FS Seitenangabe) belegt. 79 Scheuer spricht davon, dass die Familie in einem „Proletarisierungsprozeß“ begriffen sei und deshalb „nach bürgerlicher Repräsentanz“ strebe ( Die Familie Selicke , S. 75; Herv. i. O.). 80 Zwar tritt im Vergleich zu anderen naturalistischen Texten die unmittelbare Bedeutung des sozialen Milieus merklich in den Hintergrund, da sich der Konflikt auf das Familiär- Private konzentriert und sich vor allem auf der psychologischen Ebene abspielt. Allerdings muss man mit Scheuer „das Seelische als Chiffre für das Soziale“ betrachten ( Die Familie Selicke , S. 91). Vgl. dazu auch unten, Anm. 85. V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 219 hätte laut Wendt einen positiven Effekt auf die gesamte Familie: „Und wenn erst ihre äußere Lage etwas besser ist, dann ist ja auch vieles, vieles gleich ganz anders! “ ( FS 28). Der durch das Elend der Großstadt determinierte Mensch ist für ihn jedenfalls vollkommen würdelos: Die Menschen sind nicht mehr das, wofür ich sie hielt! Sie sind selbstsüchtig! Brutal selbstsüchtig! Sie sind nichts weiter als Tiere, raffinierte Bestien, wandelnde Triebe, die gegeneinander kämpfen, sich blindlings zur Geltung bringen bis zur gegenseitigen Vernichtung! Alle die schönen Ideen, die sie sich zurechtgeträumt haben, von Gott, Liebe, und … eh! das ist ja alles Blödsinn! Blödsinn! Man … tappt ja nur so hin. Man ist die reine Maschine! ( FS 29) 81 Wendt artikuliert ein Menschenbild, das zwei nur auf den ersten Blick unvereinbare Begriffe enthält: „Bestien“ und „Maschine“. Mit Bezug auf die Lehren der Natur- und Sozialwissenschaften sieht Wendt den Menschen als brutales Tier unter Tieren, das in einen ständigen, egoistischen ‚Kampf ums Dasein‘ verstrickt ist. Zudem sind diese Menschtiere ihren Trieben ausgeliefert, also vollkommen determiniert. Die Maschinenmetapher ist mehrdeutig, da der genaue Bezug unklar ist: Der Mensch ist eine Maschine, insofern seine Handlungen von seinen Affekten und seinem evolutionären Überlebenswillen vorgegeben, gleichsam gesteuert werden und ihm, wie der Maschine, jede Autonomie- und Moralfähigkeit fehlt. Doch das Indefinitpronomen „Man“ könnte sich auch auf Wendt selbst beziehen, der über den Mangel an Handlungsalternativen klagt - und so proleptisch sein eigenes, vorgezeichnetes Verlassen Tonis vorwegnimmt. Dass gerade ein Theologe zum Vertreter eines solchen Menschenbilds wird, entlarvt nicht nur „religiöse Tröstungsangebote als falsche Versprechungen“, 82 sondern delegitimiert auch die theologische Begründung der Würde des Menschen als von Gott geschaffenes, der Schöpfung übergeordnetes und mit einem freien Willen ausgestattetes Wesen. Die „schönen Ideen“ von der besonderen Würde des Menschen kommen Wendt lächerlich vor; der Mensch wird vielmehr zur entmystifizierten, in seiner Determination genau untersuch- und erklärbaren „Maschine“. Dass Wendt trotz gegenteiliger Äußerungen an die Liebe glaubt 81 Wie in Papa Hamlet werden in Die Familie Selicke die meisten Figuren durch Apostrophen als Tiere bezeichnet, z. B. Walter als „Schafskopp“ und „Ochse“ (FS 8 bzw. 9), Linchen (wenn auch liebevoll) als „Schäfchen“, „Mäuschen“ (FS 10 u. ö.), „Täubchen“ (FS 38) und „Würmchen“ (FS 42), Toni als „armes Tier“ (FS 42), Frau Selicke als „altes Tier“ (FS 47). Zeitgenössische Kritiker bezeichneten Die Familie Selicke als „Tierlautkomödie“ und „Affentheater“ (zit. in: Fritz Martini, Nachwort; FS 69), offenbar sowohl wegen des darin zum Ausdruck kommenden Menschenbildes als auch wegen der (dem bürgerlichen Theater völlig fremden) Sprache des Dramas. Zur Sprache vgl. etwa Bunzel, Einführung, S. 106-107. 82 Ebd., S. 105. 220 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus und Toni für sich gewinnen will, ist zunächst widersprüchlich. Er glaubt, nicht ohne Eskapismus, auf dem Land, „in ruhigen, schönen Verhältnissen“, abseits der determinierenden Macht des Milieus, ein anderes Leben führen zu können: „Wir werden ganz andre Menschen sein! […] Wir verstehen das Leben! Wir wissen, wie miserabel es ist, aber wir haben dann auch, was mit ihm versöhnt! “ ( FS 31). Die Einsicht in die conditio humana ist für Wendt Voraussetzung einer glücklichen Existenz, in der immerhin eine Versöhnung mit der Würdelosigkeit des Menschen, ja eine persönliche Besserung möglich scheint. Problematisch ist jedoch, dass er dies nur abseits der Großstadtrealität für möglich hält und dass seine Lösung einen eindeutig egoistischen Zug trägt - stellt er doch seinen eigenen Wunsch nach privater und beruflicher Sicherheit niemals in Frage. Diesem Egoismus setzt Toni einen nicht auf anthropologischen oder philosophischen Überlegungen fußenden, sondern vollkommen intuitiven Altruismus entgegen: „Nicht wahr, Gustav? … Wir dürfen doch nicht nur an uns denken? ! “ (FS 61). Aus Sorge um das Wohl ihrer zerrütteten Familie verzichtet Toni auf ein vermeintlich sicheres Leben und entsagt dem gemeinsamen Glück. Bisherige Interpreten haben Tonis Verhalten recht unterschiedlich bewertet; dabei ist gerade die präzise Beschreibung dieser Figur entscheidend. Fritz Martinis Bewertung oszilliert zwischen der Feststellung der Willensunfreiheit der Figuren und dem Versuch, in Tonis als Beweis der menschlichen Würde interpretiertem Verzicht doch Ansätze einer freien und selbstständigen Entscheidung zu sehen - wenn auch mit tragischen Folgen für das Individuum. 83 Für Siegwart Berthold basiert Tonis Entsagung auf einer ausschließlich sittlich motivierten Entscheidung, die eklatant der Auffassung von der Determiniertheit des Menschen widerspricht. 84 Die vielen Stellen, die auf Mitleid und 83 Martini unterstreicht die durch Milieu und charakterliche Disposition verursachte Handlungsunfähigkeit der Figuren. Es gebe in dem Stück „keine Freiheit von Selbstentscheidungen, […] und wo, wie bei Toni, die Möglichkeit zu einer eigenen inneren Entscheidung angezeigt wird, dient sie nur der Erkenntnis der Unfreiheit, nämlich ihrer Einsicht, ihre Eltern und Brüder nicht verlassen zu dürfen“. Gleichwohl retteten Holz und Schlaf durch die Figur Toni „in der Misere und Verkümmerung dieser Familie noch etwas wie Würde und Licht des Menschlichen, aber beides äußert sich nur als ein Opfer und Verzicht, als eine Ergebung in die ausweglose Gefangenschaft“. Der klassische Konflikt zwischen Pflicht und Neigung stehe unter dem Eindruck des Zwanghaften, das das Geschehen regiert. Vgl. Martini, Nachwort; FS 72-75. 84 Siegwart Berthold, Der sogenannte „Konsequente Naturalismus“ von Arno Holz und Johannes Schlaf, Bonn 1967, hier S. 114: „Man könnte als ‚Idee‘ des Dramas formulieren: Die einzig richtige Haltung des Menschen dem Elend der Welt gegenüber (und damit auch gegenüber den Auswirkungen des ‚Milieus‘) besteht in Menschenliebe und dem daraus entspringenden Willen, die Not der Mitmenschen nach Kräften zu lindern.“ Diese Art der Menschenliebe „setzt sittliche Entscheidung und damit den freien Willen voraus“ (ebd., S. 155). V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 221 Rührung des Zuschauers zielen und dem Ideal des nüchternen naturalistischen Beobachterblicks eigentlich widersprechen, deutet Berthold im Kontext dieses Leitgedankens. 85 Dieter Kafitz schließlich widerspricht solchen Deutungen, die das naturalistische Grundpostulat der Willensunfreiheit aufweichen wollen. Vielmehr sei Toni gefangen im nicht mehr zeitgemäßen Ideal des Kleinbürgers; letztlich ist ihr Verhalten durchaus Resultat der Determination durch ihr Milieu, durch die Selbstbilder und -ansprüche ihrer Familie und ihres sozialen Umfelds - ihr Verzicht kann nach Kafitz somit kein Akt der Würde sein. 86 Dieser Blick auf die Forschung legt Grundprobleme der Interpretation offen: Ist Tonis Verhalten als Beweis der menschlichen Würde zu lesen, als Überwindung der Würdelosigkeit des naturalistischen Dramenpersonals, wenn doch gleichzeitig jede Entscheidungsfreiheit und der freie Wille im Stück geleugnet werden? Handelt es sich schlichtweg um einen unauflösbaren Widerspruch, eine dramaturgische Schwäche? Steht am Ende doch das dem idealistischen Menschenwürdebegriff verpflichtete Lob einer sittlichen Handlung, die aus der Überwindung der eigenen Neigung resultiert? Oder bestätigt Tonis Verzicht das naturalistische Menschenbild, da er, letztlich vorhersehbar und notwendig, aus Milieu und Charakterdisposition ableitbar ist? Nimmt man Holz’ Auffassung von der „durchgängige[n] Gesetzmäßigkeit alles Geschehens“ 87 ernst, muss der Befund lauten: Tonis Entscheidung gegen das eigene Glück (und somit für die Familie) kann nur als angelernte Verhaltensweise, als ein notwendiges Fügen in ein sozial vermitteltes Rollenbild (das Bild der fürsorglichen, liebenden Tochter) gedeutet werden. Als Frau wird ihr keinerlei eigene Entscheidungsgewalt zuerkannt. Entsprechend artikuliert sie auch keinen Entscheidungsprozess, sondern eher sentenzhafte Phrasen: „Wir müssen - vernünftig sein! […] Aber: wir dürfen nicht! Nicht wahr? […] Wir dürfen doch nicht nur an uns denken? ! “ ( FS 60-61). Die gehäuft vorkommenden Modalverben verweisen auf einen Zwang, den Toni verspürt, ein diffuses 85 Vgl. ebd., S. 114-115. Zur Bedeutung der Sentimentalität in diesem Drama vgl. auch Scheuer, Die Familie Selicke , S. 87-94. Scheuer bietet einen kurzen Forschungsüberblick, beschreibt die Affinität des Dramas zum bürgerlichen Familienstück, um dann auf die entscheidende Differenz hinzuweisen: Das „Seelische“ werde hier zur „Chiffre des Sozialen“ (ebd., S. 91), den Autoren gehe es vor allem um eine „intellektuelle Ansprache“ an das Publikum und nicht um rührstückartiges Erregen von Mitleid (ebd., S. 94). 86 Vgl. Kafitz, Struktur und Menschenbild, S. 225: Toni, als Mitglied einer verarmenden, verarmten Familie, sei noch immer in einer „überkommenen Verhaltensstruktur“ verwurzelt und verharre „in einem Rollenverständnis, das es ihr unmöglich macht, persönliche Ansprüche durchzusetzen oder auch nur zu artikulieren“. Sie sei gefangen in „vorgegebene[n] Verhaltensmuster[n], die zwar substanzlos geworden sind, die aber noch immer das Bewußtsein der Akteure überlagern“ (ebd., S. 236). 87 Vgl. oben, S. 196. 222 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus Pflichtgefühl, das sie stark empfindet, dessen Ursprung sie aber nicht benennen kann. 88 Deshalb will sie sich ständig rückversichern: „Nicht wahr? “ ( FS 60; vgl. 61). Ihr individuelles Wohl und Wollen ordnet Toni vollkommen einem heteronomen Anspruch unter, von dem aber nie klar wird, was genau er ist. Von einer freiwilligen, autonomen, gar moralischen Entscheidung Tonis kann also nicht die Rede sein. Trotz dieser Determiniertheit sind aber Altruismus, Menschlichkeit und Nächstenliebe möglich ; sie können nur eben nicht die Folge autonomer Entscheidungen sein. Sie dürfen aber auch nicht als bloße Folge der Determiniertheit abgewertet werden, sondern erscheinen als zutiefst menschliche Qualität . Indem das Stück vorführt, dass der Mensch bei allem Gefangensein in Milieu und Umständen der (Nächsten-)Liebe fähig ist, erhält das Menschsein eine entscheidende Aufwertung, die nicht nur jenem, der menschlich handelt, sondern auch jenen, denen Menschlichkeit entgegengebracht wird, eine Würde verleiht, die die vorher festgestellte Würdelosigkeit überwindet. 89 Anders als Wendt kann deshalb Toni mit Bezug auf ihre Familie ausrufen: „Die armen, armen Menschen ! “ (FS 58; m. H.). Der Glaube an die Menschlichkeit des Menschen ist jedoch nicht idealistisch begründet. Innerfiktional deutet die Figur Wendt diesen neu entdeckten Glauben an die menschliche Humanität an. Am Ende des Stücks, als klar ist, dass Toni um ihrer Familie willen in der Stadt bleiben wird, formuliert er eine Modifikation, wenn auch keine grundlegende Revision seines Menschenbildes: […] du machst mich jetzt zu einem anderen Menschen! … Du hast mich überhaupt erst zu einem gemacht, liebe Toni! […] 88 Vgl. auch ihren Ausspruch: „Es ist ganz unmöglich, ganz unmöglich, daß ich fortkann! “ (FS 58). Das dem „ich“ entgegengestellte „Es“ verweist dabei auf die herkunftslose, anerzogene Kraft des Pflichtgefühls. 89 Zum Begriff der Menschlichkeit vgl. Johannes Fischer, Art. Menschlichkeit, in: WdW, S. 175-176. Fischer betont u. a., dass sich der Begriff „primär auf etwas, das sich im zwischenmenschlichen Verhältnis manifestiert“, bezieht (ebd., S. 175), er auf „soziale[] Anerkennung und moralische[] Achtung von Menschen als Menschen“ zielt (ebd.) und vor allem im „Verhalten“ in Erscheinung tritt (ebd., S. 176). Im „Verhalten im Sinne der Menschlichkeit […] vermittelt sich die Anerkennung und Achtung als Mensch, in der das Bewusstsein des eigenen Menschseins im Sinne sozialer Zugehörigkeit gründet. Deshalb kommt der Menschlichkeit gerade im Blick auf Menschen Bedeutung zu, deren Menschsein durch Marginalisierung und Missachtung bedroht ist. / Weil Menschsein etwas ist, das ein Mensch nicht aus sich selbst besitzt, sondern das in geschuldeter Anerkennung und Achtung durch andere fundiert ist, kann ein Verhalten im Sinne der Menschlichkeit das Menschsein und die Würde von Menschen für die Wahrnehmung Dritter erschließen und zur Anschauung bringen“ (ebd.). V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus 223 Das Leben ist ernst! Bitter ernst! … Aber jetzt seh ich, es ist doch schön! Und weißt du auch warum, meine liebe Toni? Weil solche Menschen wie du möglich sind! - Ja! So ernst und so schön! … ( streichelt ihr über das Haar. ) ( FS 62) Die doppelte Kennzeichnung des Lebens als „ernst“ und „schön“ entspricht dem vermeintlich widersprüchlichen Menschenbild des Naturalismus, der die traditionellen Begründungen der Menschenwürde aufhebt, eindrucksvoll deren vollkommene Unangebrachtheit illustriert, den Begriff aber trotzdem nicht aufgeben will. Menschenwürde wird redefiniert als Fähigkeit zur Menschlichkeit. Die Figur des alten Kopelke illustriert genau denselben Punkt. 90 Er ist freundlich, hilfsbereit und versucht, sich in den Dienst seiner Mitmenschen zu stellen, und gleichzeitig zweifelt er nicht an der Determination durch Milieu, Erziehung und Zeitumstände: Ja! Wenn eener immer ville Jeld hat, wissen Se, denn mag’t ja wol noch jehn! […] Neh’m Se mir mal zun Beispiel! Ick wah ooch nich uff’n Kopp jefallen als Junge! Ick wah immer der Erste in de Schule! Wat meen’n Se woll? ! … Abber de Umstände, wissen Se! de Umstände! Et half nischt! Vatter ließ mir Schuster weer’n! … Freilich, mit die Schusterei is det nu ooch nischt mehr heitzudage! Die ollen Fabriken, wissen Se! Die ollen Fabriken rujenieren den kleenen Mann! … Sehn Se! So bin ick eejentlich, wat man so ’ne verfehlte Existenz nennt! Nu bin ick sozesagen alles un janischt! […] Se haben alle nischt, die armen Deibels, den’n ick … [mit meinen Homöopathiekenntnissen aushelfe; MG ] ( FS 16) So stellen Holz und Schlaf den Einsatz für den Mitmenschen als einen jenseits jeder sittlichen Entscheidung liegenden, genuin menschlichen Charakterzug dar, der zwar nicht jedem Menschen eignet, der aber als Potential in jedem Menschen angelegt ist - und selbst bei einer Figur, die mit ihren Ansichten das naturalistische Menschenbild bestätigt, vorkommt. Sogar der Vater, obwohl von Armut, ehelicher Frustration und Alkoholismus gezeichnet, zeigt „verdeckte Äußerungen von Zärtlichkeit“. 91 Dass er der Zuneigungsbekundungen gegenüber seinen Kindern und der Äußerung seines Wunsches nach ehelichem Glück nur in alkoholisiertem Zustand fähig ist und ansonsten nur den Kanarienvogel ‚menschlich‘ behandelt (vgl. FS 19), stellt der vorsichtig hoffnungsvollen Überwindung der Würdelosigkeit einen Eindruck entschiedener und 90 Vgl. Kyu-Hwa Chung, Aspekte des Milieudramas in der Literatur des Konsequenten Naturalismus, insbesondere in „Die Familie Selicke“ von Arno Holz und Johannes Schlaf, in: Literarische Problematisierung der Moderne. Deutsche Aufklärung und Romantik in der japanischen Germanistik, hg. v. T. Takahashi, München 1992, S. 73-87, hier S. 83. 91 Scheuer, Die Familie Selicke , S. 98. - Vgl. Martini, Nachwort (FS 73): „Der Vater ist nicht einfach ein jähzorniger Trunkenbold, er hat Züge innerer Zartheit und Liebessehnsucht, und er leidet unter seiner Einsamkeit“. 224 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus bedrückender Negativität entgegen. 92 Dieses Spannungsverhältnis ist typisch für den Würdediskurs des Textes. 93 Tonis Menschlichkeit resultiert aus einem sozial anerzogenen Reflex; ihr menschenwürdiges Handeln ist Folge ihrer vollkommenen Willensunfreiheit und geht einher mit der Aufopferung ihres individuellen Glücks sowie der Preisgabe jedes Anspruchs auf Selbstverfügung und Autonomie. Insofern ist an ihrem Verhalten auch nichts vorbildhaft, nachahmenswert oder tugendhaft. 94 Trotzdem bleibt das Faktum der durch Toni (und Kopelke) belegten Menschlichkeit. Die sozialkritische Dimension des Textes ist in dieser Lesart zu bestimmen als vehemente Kritik an Verhältnissen, die als einzig möglichen Menschenwürdebegriff eine diffuse, reflexartige Menschlichkeit zulassen. Gerade diese jedoch ist der Anlass und Ausgangspunkt des letztlich optimistischen, hoffnungsvollen Glaubens der Naturalisten an eine mögliche und zu leistende Besserung des Menschen. V.2.3.3. Vor Sonnenaufgang und Die Familie Selicke II Die Figuren konstellation ist in beiden Dramen ähnlich; in der Figuren zeichnung sind jedoch entscheidende Divergenzen festzustellen, die Die Familie Selicke tatsächlich zur ‚konsequent-naturalistischen‘ Antwort auf Hauptmanns Drama machen. Entscheidungsmöglichkeiten gibt es hier nicht mehr. Der Eindruck des Gefangenseins in vorgegebenen Rollen und Verhaltensmustern ist quasi absolut. Während in Vor Sonnenaufgang letztlich doch die Möglichkeit einer autonomen Entscheidungsfindung aufscheint, ist diese Möglichkeit in Die Familie Selicke zurückgenommen. In der Entscheidungssituation ist Toni einer eigenmächtigen Willensäußerung und Entscheidungsfindung unfähig. Wendt scheint sich nicht einmal in einer Entscheidungssituation zu befinden; dass er die Familie am Ende 92 Während Toni in ihrem (vielleicht naiven) Philanthropismus an das Gute im Menschen glaubt und ausruft: „Der Vater wird ganz anders werden! - Er ist ganz verändert! …“, gibt sich Frau Selicke desillusioniert: „Nein! Nein! Der wird nie anders! “ (FS 55). - Cowen urteilt treffend: „Was diesem Drama den ausgeprägten Ton des unabänderlichen Pessimismus verleiht, ist die Andeutung: wohl kann der Mensch von oben nach unten herabrutschen, ist er aber einmal unten, dann gibt es keine Aufstiegsmöglichkeit mehr“ (Naturalismus, S. 175). 93 Ebendieses Spannungsverhältnis charakterisiert auch die bisherigen Interpretationen des Stücks, die mal das in Ansätzen Positive im Verhalten Tonis betonen, mal ein zutiefst pessimistisches Bild zeichnen. Die vorliegende Untersuchung will den programmatischen Aussagen der Naturalisten, die einerseits die Würde des Menschen keineswegs leugnen (wie Conrad und Conradi, s. oben, S. 192 - 193), andererseits die Willensunfreiheit als ästhetisches Postulat festlegen und trotzdem (oder gerade deshalb! ) die Charaktere in den Mittelpunkt der dramatischen Betrachtung stellen (wie Bölsche bzw. Holz, s. oben, S. 191 bzw. 197) und somit schon das beschriebene Spannungsverhältnis beinhalten, Rechnung tragen. 94 Vgl. auch Scheuer, Die Familie Selicke , S. 100-102. V.3. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur des Naturalismus 225 verlassen wird, wird kaum ernsthaft in Frage gestellt. 95 Im Gegensatz zu Loth, der sich als Moralist entpuppt, ist Wendt dabei eher der um Verständnis bemühte Beobachter, der sogar seinen Glauben an den besonderen Wert des Menschen wiedergewinnt. Wie Helenes Suizid ist Tonis Verhalten, das als metaphorischer Suizid die totale Preisgabe jedes Anspruchs auf Autonomie zur Folge hat, determiniert. Beiden Dramen gemeinsam ist das Motiv der praktisch gelebten Menschlichkeit als Überwinderin vermeintlicher Würdelosigkeit: Anhand der Figur Loth wird fehlende Mitleidfähigkeit und Humanität gerade bei einer in Ansätzen autonomen Person angeprangert; Tonis Philanthropie wird zwar als zutiefst menschlich, aber untrennbar mit einer Perspektive bedrückender Ausweglosigkeit verknüpft dargestellt. 96 V.3. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur des Naturalismus Zwei literarische Dimensionen der Menschenwürde prägen die Literatur des Naturalismus. Zum einen kommt ihr eine doppelte programmatische Relevanz zu: Thematisch rücken menschenunwürdige, den Menschen entwürdigende soziale Realitäten und Phänomene in den Fokus. Theoretisch wird traditionellen Menschenwürdebegriffen von den aus den Wissenschaften entlehnten Annahmen über den Menschen das Fundament entzogen (z. B. Willensfreiheit, Gottebenbildlichkeit), und doch wird die literarische Tätigkeit in den Dienst des Menschen und seiner Vervollkommnung gestellt. Zum anderen wird in den besprochenen literarischen Texten das neue Menschenbild übernommen. Es kommt jedoch nicht zu einer Wiederherstellung der Menschenwürde durch genuin ästhetische Mittel, vielmehr wird durch Figurenzeichnung und -konstellation der Begriff in den Texten zur Diskussion gestellt und auf Möglichkeiten seiner Neuformulierung überprüft. Während in Papa Hamlet die pessimistische Sicht auf den tatsächlich würdelosen Menschen überwiegt, sind die beiden ana- 95 Wendts Versprechen: „Ich komme wieder! “ (FS 66), effektvoll am Ende des Stückes platziert, könnte man als Aspekt der bisweilen stark betonten Sentimentalität deuten, die das Drama mit dem bürgerlichen Familienstück verbindet. Es könnte jedoch auch als vorsichtig optimistischer Schluss gelesen werden; Wendt, der kurz vorher Toni zu einem besonderen Menschen, der ihm quasi den Glauben an die Gattung wiedergibt, erhoben hat, könnte eben jene Menschlichkeit, die Toni auszeichnet, nun auch selber leben und ihr bzw. ihrer Familie helfen. 96 Cowen verweist auf das Motiv des „lebendigen Todes“, des Gefängnisses, des Grabes, auch auf das „Verranntsein der Situation, die Hoffnungslosigkeit einer Änderung im Verhältnis [der Eheleute; MG], ja die Aussichtslosigkeit der von ihnen abhängigen Kinder“ (Naturalismus, S. 176-177). 226 B.V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus lysierten Dramen ambig: Der Würdelosigkeit bzw. der Entwürdigung durch Milieudetermination steht der vorsichtig optimistische Verweis auf das geradezu utopische Therapeutikum der Humanität gegenüber, das die Möglichkeit des Glaubens an einen besonderen Wert des Menschen garantiert. Will man die sozialkritische Tendenz der Texte stärker betonen, muss man die Texte als Enthüllung der den Menschen entwürdigenden Faktoren lesen. In diesem Zusammenhang wird jedoch auch das grundlegende Paradox des naturalistischen Umgangs mit der Menschenwürde offenbar: Die naturalistische Literatur hat den Anspruch, die Wirklichkeit mit wissenschaftlicher Genauigkeit abzubilden; gleichzeitig fordern die Programme, die Idee der Menschenwürde ästhetisch zu rekonstituieren - ein eigentlich unmöglicher Spagat, ein Problem, das kaum befriedigend zu lösen ist. Die Folge sind problematische, komplexe und keinesfalls uneingeschränkt positiv zu bewertende Figuren wie Loth, der das Postulat der Willensunfreiheit zwar aufweicht, dessen naturalistisch fundierte Ethik aber vollkommen inhuman bleibt, und Toni, deren intuitive Humanität verheerende Konsequenzen für sie als Individuum hat. VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 227 VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus Wie die Naturalisten stellen auch die Expressionisten den Begriff der Menschenwürde in Frage, jedoch nicht aus einer primär naturwissenschaftlichen Perspektive, sondern eher im Kontext einer vitalistisch fundierten Absage an den sozialen und ästhetischen status quo einer von bürgerlichen (Un-)Wertvorstellungen dominierten Gesellschaft. In Anknüpfung an Nietzsches Kritik der Menschenwürde attackieren die expressionistischen Dichter das bürgerliche Menschenbild scharf und suchen nach neuen Zugängen zu Wesen und Vorstellung des Menschlichen. Nach einem Blick auf Nietzsches Auseinandersetzung mit der Menschenwürde wird im Folgenden die expressionistische Programmatik beleuchtet, aber auch die jener Bewegungen, die sich vom Expressionismus zwar bisweilen vehement abgrenzen, mit diesem im Hinblick auf den theoretischen Umgang mit der Menschenwürde aber doch verwandt sind. Das Hauptaugenmerk der Analysen liegt auf der Lyrik als der - zumindest in den ersten Jahren - wichtigsten Gattung der expressionistischen Dichtung. Im Mittelpunkt der einzelnen Kapitel stehen Texte Georg Heyms, Gottfried Benns und Franz Werfels, da sich an ihnen die jeweiligen Thesen besonders deutlich herausarbeiten lassen. Zwei stärker thematisch ausgerichtete Abschnitte untersuchen schließlich die Lyrik, die die Erfahrung des Ersten Weltkrieges umkreist, sowie das Motiv des vertierten Menschen. VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde im Expressionismus VI.1.1. Nietzsches Kritik am Begriff der Menschenwürde Die Bedeutung der Philosophie Friedrich Nietzsches für das Weltbild der Expressionisten ist in der Forschung unbestritten. 1 Einige der wichtigsten Autoren, darunter Georg Heym und Gottfried Benn, waren mit seinem Werk nach- 1 Vgl. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 79 und Gunter Martens, Im Aufbruch das Ziel. Nietzsches Wirkung im Expressionismus, in: Nietzsche. Werk und Wirkungen, hg. v. H. Steffen, Göttingen 1974, S. 115-166. Martens betont, dass „Nietzsches Ansatz der Zeit- und Kulturkritik, seine Idee des Übermenschen und die Verherrlichung 228 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus weislich vertraut. 2 Neben Nietzsches Kulturkritik, seiner Lebensphilosophie und seiner Nihilismusanalyse 3 ist auch sein Menschenbild von den Expressionisten rezipiert worden. Dieses fußt auf einer radikalen Kritik an der Vorstellung einer den Menschen vor allem anderen auszeichnenden Menschenwürde. Nicht nur dekonstruiert er die Eckpfeiler vieler historischer Menschenwürdekonzeptionen, sondern er attackiert auch den Begriff selbst und stellt ihm ein eigenes Menschenbild entgegen. 4 Zum einen nennt Nietzsche vier „Irrthümer“, die gegen die Gültigkeit der Konzeption sprechen: Die vier Irrthüm er. - Der Mensch ist durch seine Irrthümer erzogen worden: er sah sich erstens immer nur unvollständig, zweitens legte er sich erdichtete Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in einer falschen Rangordnung zu Thier und Natur, viertens erfand er immer neue Gütertafeln und nahm sie eine Zeit lang als ewig und unbedingt, sodass bald dieser, bald jener menschliche Trieb und Zustand an der ersten Stelle stand und in Folge dieser Schätzung veredelt wurde. Rechnet man die Wirkung dieser vier Irrthümer weg, so hat man auch Humanität, Menschlichkeit und „Menschenwürde“ hinweggerechnet. 5 des Lebens“ v. a. durch den Futuristen Marinetti und seine Anhänger vermittelt wurden (ebd., S. 131). 2 Heyms Begeisterung für Nietzsche, vor allem für Also sprach Zarathustra (1883-1885), ist in Tagebucheinträgen belegt. Vgl. dazu etwa Martens, Im Aufbruch das Ziel, S. 115-118 sowie S. 132-140. Zu Benns Verhältnis zu Nietzsche vgl. Bruno Hillebrand, Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 2, hg. v. B. H., Tübingen 1978, S. 185-210. Hillebrand zufolge beschränkt sich Benns Rezeption Nietzsches in Reden und Essays weitgehend auf dessen Aussagen zur Kunst und deren formaler Beschaffenheit - eine Einschätzung, die zu kurz greift, wie im Folgenden deutlich werden wird. 3 Vgl. dazu etwa Silvio Vietta / Hans-Georg Kemper, Expressionismus, München 6 1997, S. 134-143. Hier werden v. a. Nietzsches Äußerungen zum „Hinfall der kosmologischen Werte“ Zweck, Einheit und Wahrheit erläutert. 4 Die folgenden Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf die detaillierte Studie von Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche, die zeigt, wie sich Nietzsche implizit und explizit gegen traditionelle Menschenwürdebegriffe wendet (vgl. v. a. S. 109-211). Als Bezugspunkte dienen Sorgner die Menschenwürdekonzeptionen von Cicero, Pico della Mirandola, Manetti und Kant. - Vgl. weiterhin Vogel (Hg.), Umwertung der Menschenwürde und hier der Beitrag von Peter André Bloch, Nietzsches Konzeption des „Neuen Menschen“, in der Perspektive von Hermann Hesse und Friedrich Dürrenmatt, unter dem Aspekt der Menschenwürde, S. 247-274. Bloch zufolge kommt der Begriff der Würde in Nietzsches Werk an 1208 Stellen vor (ebd., S. 254). 5 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bänden, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, München / Berlin / New York 1980, Bd. 3, S. 474. VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 229 Erstens ist der Mensch nicht in der Lage, sich selbst vollständig zu erkennen und zu akzeptieren, weshalb er etwa die Vernunft und das Bewusstsein zu Unrecht hochschätzt. Beide Attribute sind weder metaphysische Einheiten noch erlauben sie eine reflektierte und freie Entscheidungsfindung; vielmehr sind Vernunft und Bewusstsein Resultat der Evolution. 6 Obwohl sie dem Menschen im alltäglichen Leben dienen, können sie nicht Grund der Menschenwürde sein, denn Handlungen sind stets lediglich Äußerungen des Willens zur Macht, der jedem Wesen, auch Tieren und Pflanzen, innewohnt. 7 Zweitens sind für Nietzsche Eigenschaften wie der freie Wille, die immaterielle Seele und die menschliche Gottebenbildlichkeit nichts als Fiktionen, die aus bestimmten Interessen erfunden wurden. Der freie Wille etwa sei die Erfindung von Theologen, die so den Menschen für seine Taten verantwortlich machen konnten, die Konzepte ‚Gut‘, ‚Böse‘ und ‚Schuld‘ entwickelten und mit ihrer Hilfe über Menschen richten und sie bestrafen konnten. Menschenwürdevorstellungen, die sich auf diese Kategorien beziehen, werden somit hinfällig. 8 Nietzsches dritter Einwand beraubt den Menschen seiner vermeintlichen Sonderstellung als ‚Krone der Schöpfung‘. 9 Zwischen dem Menschen und dem Tier besteht kein prinzipieller, wesenhafter, sondern nur ein evolutionär bedingter gradueller Unterschied. Wie jedes andere Leben ist auch das menschliche im Grunde ein Streben nach Macht. Der Mensch ist jedoch kein gewöhnliches, sondern ein ‚krankes‘ Tier, weil er den „gesunden Thierverstand verloren“ hat, 10 der es ihm erlauben würde, instinktgesteuert zu handeln. Trotzdem bleibt der Mensch das „interessanteste“ Tier. 11 Der vierte und letzte Einspruch richtet sich schließlich gegen das Ver- 6 Zu Nietzsches Evolutionstheorie im Gegensatz zu jener Darwins vgl. Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche, S. 191-192. Während bei Darwin der Kampf ums Überleben der Grund für die evolutionäre Weiterentwicklung einer Art ist, ist es bei Nietzsche der jedem Leben innewohnende Wille zur Macht. 7 Zu diesem ersten Irrtum vgl. ebd., S. 152-165. 8 Zum zweiten Irrtum vgl. ebd., S. 166-183. 9 Vgl. dazu Nietzsche, Der Antichrist (KSA 6), S. 180: „Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung, jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit.“ 10 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (KSA 3), S. 510. Die Tiere betrachteten den Menschen daher „als das wahnwitzige Thier, als das lachende Thier, als das weinende Thier, als das unglückselige Thier“ (ebd.). 11 Vgl. Nietzsche, Der Antichrist (KSA 6), S. 180: „Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidner geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ‚Geist‘, von der ‚Gottheit‘ ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Thier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren uns anderseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden möchte: wie als ob der Mensch die grosse Hinterabsicht der thierischen Entwicklung gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung, jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit … Und indem wir das behaupten, behaupten wir noch zuviel: der Mensch ist, relativ genommen, das missrathenste Thier, das krankhafteste, das von 230 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus absolutieren bestimmter Werte, wie der Gleichheit aller Menschen, da Nietzsche Werte stets als kontingent und interessenbasiert deutet. 12 Wenn nun diese vier Irrtümer aufgeklärt werden, verlieren, so Nietzsche, nicht nur der Begriff der Menschenwürde, sondern auch jene der Humanität und der Menschlichkeit jede Grundlage. Ein Festhalten an der Vorstellung einer besonderen Menschenwürde ist zum anderen vor dem Hintergrund des naturwissenschaftlichen Zeitgeistes nicht mehr zu rechtfertigen: Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, - er ist Thier geworden, Thier, ohne Gleichniss, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott („Kind Gottes“, „Gottesmensch“) war … Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, - er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg - wohin? inʼs Nichts? inʼs „durchb ohre nd e Gefühl seines Nichts“? … Wohlan! dies eben wäre der gerade Weg - inʼs alte Ideal? 13 Seit Kopernikus, der die Erde - und mit ihr den Menschen - aus dem Zentrum des Universums verbannte, ist die Überzeugung von der Sonderstellung des Menschen nicht nur ins Wanken geraten, sondern wissenschaftlich widerlegt, nicht zuletzt durch den Positivismus und die Evolutionslehren des 19. Jahrhunderts. Für Nietzsche ist die Menschenwürde eine in der christlichen Vorstellungswelt verankerte Erfindung der Sklavenmenschen - er spricht von der „erträumte[n] Würde des Menschen“ 14 -, die sich so über das Elend, die Armseligkeit und die Entbehrungen ihrer Existenz hinwegtrösten. Indem sie die Gleichheit aller Menschen, die allesamt Träger der vermeintlichen Würde sind, und die universale Gültigkeit von Gleichheit und Menschenwürde postulieren, wird der eigene Status, auch gegenüber den Herrenmenschen, aufgewertet. Als Überbleibsel der christlich-metaphysischen Tradition spielt die Menschenwürde eine große Rolle: Obwohl (oder vielmehr gerade weil) Gott tot ist, d. h. der christliche Glaube an einen allmächtigen Gott zutiefst erschüttert und mit dem naturwissenschaftlichen Zeitgeist unvereinbar ist, wird an der Vorstellung der Menschenwürde seinen Instinkten am gefährlichste<n> abgeirrte - freilich, mit alle dem, auch das intere s s ante ste ! “ - Zum Tier und zur Auffassung des Menschen als Tier bei Nietzsche vgl. Richard Reschika, Nietzsches Bestiarium. Der Mensch - das wahnwitzige Tier, Stuttgart 2003. - Zum dritten Irrtum vgl. Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche, S. 183-193. 12 Zum vierten Irrtum vgl. ebd., S. 193-208. 13 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (KSA 5), S. 404. 14 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente (KSA 7), S. 355. VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 231 festgehalten. 15 Solange sich diese Vorstellung hält, sind auch der christliche Glaube und die darauf beruhende (Sklaven-)Moral noch wirksam, obwohl ihre Basis längst bröckelt. Die „Würde des Menschen“, so Nietzsche, ist ein „dürftige[s] Erzeugnis[] des sich vor sich selbst versteckenden Sklaventhums“. 16 „[D] er ‚Mensch an sich‘, der absolute Mensch, [besitzt] weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten“, 17 mehr noch: Das Wort „Würde“ hat für Nietzsche lediglich einen kontingenten, keinesfalls jedoch einen inhärenten Sinn. 18 Der zeitgenössische Menschenwürdebegriff, der das von Nietzsche attackierte Gleichheitspostulat impliziert, diene auch dazu, dem Sklavenmenschen die Sicht auf sein Entwicklungspotential zu verstellen: „Er darf ja nicht begreifen, auf welcher Stufe und in welcher Höhe erst ungefähr von ‚Würde‘ gesprochen werden kann, dort nämlich wo das Individuum völlig über sich hinaus geht und nicht mehr im Dienste seines individuellen Weiterlebens zeugen und arbeiten muss.“ 19 Während er also die geläufige Konzeption von Menschenwürde radikal ablehnt, ja jeden menschlichen Anspruch auf eine Sonderstellung innerhalb der Welt gründlich destruiert, leugnet Nietzsche nicht die Möglichkeit einer Neudefinition von Menschenwürde. Nur auf seiner jetzigen Stufe ist der Mensch würdelos: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, - ein Seil über einem Abgrunde.“ So verkündet Zarathustra, der Prediger des Übermenschen: „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden 15 Vgl. dazu Nietzsches Kommentar: „Da s allg e m ein ste Zeich e n d er mo d ern e n Zeit: der Mensch hat in seinen eigenen Augen unglaublich an Würd e eingebüßt. Lange als Mittelpunkt und Tragödien-Held des Daseins überhaupt; dann wenigstens bemüht, sich <als> verwandt mit der entscheidenden und an sich werthvollen Seite des Daseins zu beweisen - wie es alle Metaphysiker thun, die die Würde des Menschen festhalten wollen, mit ihrem Glauben, daß die moralischen Werthe cardinale Werthe sind. Wer Gott fahren ließ, hält um so strenger am Glauben an die Moral fest“ (Nachgelassene Fragmente (KSA 12), S. 254-255). 16 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente (KSA 7), S. 337. - Auch den Begriff der „Würde der Arbeit“ kritisiert Nietzsche: Er diene dem Sklaven dazu, die „Noth“ seines „entsetzlichen Existenzkampfe[s]“ zu überhöhen und somit erträglich zu machen (ebd.). Die Arbeit habe eigentlich die „Vernichtung des ‚würdevollen‘ Menschen zum Zweck“ (ebd., S. 348). Die Rede von der „Würde der Arbeit“ ist demnach, wie jene von der „Würde des Menschen“, ein „Trostmittel“. Vgl. Nachgelassene Schriften. Der griechische Staat (KSA 1), S. 764-765. 17 Ebd., S. 348. 18 Vgl. ebd.: Dem Menschen komme „als Mittel des Genius […] ein Grad von Würde zu, jene Würde nämlich, zum Mittel des Genius gewürdigt zu sein. […] [J]eder Mensch, mit seiner gesammten Thätigkeit, hat nur soviel Würde als er, bewußt oder unbewußtes Werkzeug des Genius ist […]; nur als völlig determiniertes, unbewußten Zwecken dienendes Wesen kann der Mensch seine Existenz entschuldigen.“ „Würde“ ist abstufbar; insofern ähnelt Nietzsches Würdebegriff dem antiken, hierarchischen. Vgl. dazu auch Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche, S. 130. 19 Nietzsche, Nachgelassene Schriften. Der griechische Staat (KSA 1), S. 766. Vgl. ähnlich KSA 7, S. 338. 232 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus muss“. 20 Erst wenn der Mensch seinen Eigenwert, der nicht von heteronomen Werten abhängt, begreift, sich selbst als Individuum bejaht und tradierte Sinnzuschreibungen und -vorstellungen überwindet, findet er zu wahrer Würde. 21 Da der Mensch also nicht nur ein „Unterg ang “, sondern auch ein „Üb erg ang “ ist, kann er „geliebt“ werden. 22 Die unhaltbare, überkommene Vorstellung von der Würde des Menschen muss jedoch zerstört werden, damit sich eine neue Idee des Menschen verwirklichen kann. 23 Schon in seinen frühen Schriften suggeriert Nietzsche, dass zwischen der Kunst und der Menschenwürde eine besondere Affinität besteht. Die Menschen haben „in der Bedeutung von Kunstwerken [ihre] höchste Würde - denn nur als a e sth etis ch e s P hänom e n ist das Dasein und die Welt ewig g ere chtfertigt “. Dabei existiert die Kunst, die die Beschränktheit der menschlichen Existenz transzendiert, keineswegs um des Menschen willen. Trotzdem ist gerade der Künstler einer jener „großen ‚Einzelnen‘“, die das über die Menschheit hinausweisende „Ziel“ darstellen. 24 VI.1.2. Die Menschenwürde in programmatischen Texten des Expressionismus Die bei Nietzsche vorgegebene Dialektik von erbarmungsloser Destruktion eines als überkommen wahrgenommenen Menschenbildes, von Entwertung traditioneller Menschenwürdevorstellungen auf der einen und der pathetischutopistischen Forderung nach Erhöhung und Erneuerung des Menschen auf der anderen Seite wird von den literarischen Strömungen des expressionistischen Jahrzehnts aufgenommen. 25 Im Vorwort zur Anthologie Menschheits- 20 Nietzsche, Also sprach Zarathustra (KSA 4), S. 16 bzw. S. 44. Vgl. auch ebd., S. 14. 21 Vgl. Annemarie Pieper, Der Sinn der Erde - Nietzsches Umwertung der Menschenwürde, in: Umwertung der Menschenwürde (wie S. 20, Anm. 16), S. 219-234. 22 Nietzsche, Also sprach Zarathustra (KSA 4), S. 17. 23 Vgl. auch Edith Düsing, Humanitätsideal der Personenwürde oder naturalistische Reduktion des Ich? - Nietzsches Veto wider Götzenbilder und eindimensionales Menschentum, in: Umwertung der Menschenwürde (wie S. 20, Anm. 16), S. 193-218, hier bes. S. 206. 24 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (KSA 1), S. 47 bzw. der Vorwortsentwurf zur Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (KSA 7, S. 354). 25 Zum Begriff der Dialektik vgl. Vietta / Kemper, Expressionismus, S. 186. Vietta und Kemper sprechen von einer „‚Dialektik‘ von Ichdissoziation und Menschheitserneuerung“; im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch die Opposition eher zwischen programmatischem Angriff auf den Menschenwürdebegriff und Versuchen der Redefinition zu sehen. Vietta und Kemper äußern berechtigte Bedenken, ob der Begriff „Dialektik“ überhaupt adäquat ist, angesichts der Tatsache, dass „Aufbruchs- und Erneuerungsversuche […] scheiterten“ (ebd.). Dem gegenüber steht die Deutung Kurt Pinthusʼ: „[W]enn die expressionistischen Dichter zerstörten, so zerstörten sie aus tiefem Leid an der Gegenwart und VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 233 dämmerung (1919), die gemeinhin als Höhe- und Endpunkt der expressionistischen Lyrik betrachtet wird, beschreibt Kurt Pinthus ebendieses Phänomen. Die Dichter sehen sich berufen „zum Kampf gegen die Menschheit der zu Ende gehenden Epoche und zur sehnsüchtigen Vorbereitung und Forderung neuer, besserer Menschheit“. 26 Neben dem Verlust ganzheitlicher und positiv-vernünftiger Erkenntnis- und Wahrnehmungsfähigkeit, die die Forschung anhand von Schlagworten wie Ichdissoziation und Entfremdung beschrieben hat, 27 äußert sich in Dichtung und Programmatik des expressionistischen Jahrzehnts bisweilen der Wille zu einer aggressiven Demontage dessen, was als ‚alt‘, d. h. als überkommenes Relikt christlicher und idealistischer Tradition wahrgenommen wird. Filippo Tommaso Marinettis Manifest des Futurismus (1909), dessen radikaler Angriff auf das herrschende Schönheitsideal auch die Ästhetik der Expressionisten beeinflusst, preist nicht nur die „aggressive Bewegung“, die „Schönheit der Schnelligkeit“ sowie des Kampfes und des Krieges, sondern fordert den Gestus der Zerstörung als Essenz von Kunst: „Denn Kunst kann nur Gewalt, Grausamkeit sein.“ 28 Gottfried Benn richtet diese Aggression explizit gegen den Menschen und die Auffassung seiner vermeintlichen Würde. In einem Rückblick auf seine frühen Dichtungen reflektiert er in den 1950er Jahren die Zeit des Expressionismus, die er kulturgeschichtlich als „Jahrzehnte nach Nietzsche und Freud“ deutet. 29 Er aus fanatischem Glauben an einen Neubeginn in den Künsten, im Leben des Einzelnen und in der menschlichen Gemeinschaft. Deshalb war ihre zerstörerische Leidenschaft nicht nihilistisch, sondern aufbauend […]“ (Zweiter Nachklang, in: Theorie des Expressionismus, hg. v. O. F. Best, Stuttgart 2007, S. 264-274, hier S. 270). 26 Kurt Pinthus, Zuvor, in: Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Lyrik, Berlin 1920 [urspr. 1919], S. VI-VII. 27 Vgl. zum Begriff der Ichdissoziation etwa Vietta / Kemper, Expressionismus, S. 30 ff.; zum Begriff der Entfremdung vgl. etwa Thomas Anz, Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus, Stuttgart 1977, S. 60-129. 28 Filippo Tommaso Marinetti, Manifest des Futurismus (1909 / 1912), in: Expressionismus. Dokumente und Manifeste zur deutschen Literatur 1910-1920, hg. v. T. Anz u. M. Stark, Stuttgart 1982, S. 588-591. Marinettis Text erschien zunächst 1909 in französischer Sprache, dann, in deutscher Übersetzung, 1912 in der Zeitschrift Der Sturm . - Kasimir Edschmid leugnet jede Verbindung zwischen beiden Richtungen: „Expressionismus hat nicht die Spur mit ihm [i. e. dem Futurismus; MG] zu tun.“ Der Futurismus ist für Edschmid eher eine Art gesteigerter Impressionismus. Vgl. Expressionismus in der Dichtung (1917), in: Expressionismus (wie oben), S. 42-55, hier S. 45. - Zum Verhältnis von Futurismus und Expressionismus vgl. Fähnders, Avantgarde und Moderne, 157-158. 29 Gottfried Benn, Frühe Lyrik und Dramen. Vorbemerkung, in: Sämtliche Werke, 7 Bde., hg. v. G. Schuster u. H. Hof, Stuttgart 1986-2003 (Stuttgarter Ausgabe), hier Bd. 6, S. 69-71, hier S. 70. Im Folgenden werden Benn-Texte stets nach dieser Ausgabe zitiert; Zitate werden im Text in der Form (SA Band, Seitenangabe, ggf. V. Versangabe) belegt. 234 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus thematisiert explizit seine rigorose Ablehnung der Vorstellung einer besonderen Menschenwürde, besonders in seiner Lyrik vor 1920. Geradezu programmatisch ist der berüchtigte Vers aus dem Gedicht Der Arzt : „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“ ( SA 1, 14), der Benns „anthropologische Prämisse“ in kondensierter Form enthält. 30 Er leugnet vehement die kosmologische Sonderstellung des Menschen und degradiert ihn wie Nietzsche zu einem Tier unter Tieren. Benn selbst sieht diesen Vers nicht als isolierte poetische Aussage, sondern misst ihm eine für sein Werk grundlegende Bedeutung zu: „[E]r ist infernalisch, er ist ungoethisch, er schmeckt nach Schwefel und Absinth“ ( SA 6, 70). 31 Die beiden Adjektive verraten, dass sich die programmatische Absage an die Menschenwürde gegen zwei verschiedene Vorstellungen von Würde richtet: gegen die christlich-metaphysische und die aufklärerisch-idealistische. Benn opponiert gegen das „ewige[] ideologische[] Geschwätz“, das „Gebarme um etwas ‚Höheres‘“ - „der Mensch ist kein höheres Wesen, wir sind nicht das Geschlecht, das aus dem Dunkel ins Helle strebt“. Der Mensch stehe vielmehr für „das Überhebliche, das Hybride, auch das Dumme“. „[E]in gewisser Abbau dieser unserer Arroganz […], ein kurzer Aufenthalt im Dunkel, auch im Gemeinen“ - durch den ästhetischen Angriff auf die Menschenwürde - ist für den Dichter Benn daher ein „moralisch[es]“ Unterfangen ( SA 6, 70). Indem er den Menschen „tierisch“ macht ( SA 6, 71), relativiert er radikal die als arrogant diskreditierte Überzeugung von der Würde des Menschen. Die menschliche Sonderstellung innerhalb des Kosmos bestreiten auch andere Expressionisten, etwa Lothar Schreyer, zeitweise Redakteur der Zeitschrift Der Sturm , in deutlicher Anlehnung an Nietzsche: „Wir sind ein Trieb des Werdens. Trieb wie Tier und Pflanze, Sturm und Licht. Wir erheben uns nicht über unsere Schwester Blume, über unseren Bruder Tier.“ 32 Nietzsches Auffassung, dass das Tier Mensch ein krankes sei, wird ebenso aufgenommen, freilich mit anderer Akzentuierung. In seinem kurzen Prosatext Eine Fratze (1911) schildert Georg 30 Vgl. Horst-Jürgen Gerigk, Der empirische Mensch. Gottfried Benns anthropologische Prämisse, in: Dichterprofile. Tolstoj, Gottfried Benn, Nabokov, Heidelberg 2012, S. 77-93. Zum Begriff der anthropologischen Prämisse vgl. ders., Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes, Berlin / New York 1975, S. 11-15. - Vgl. auch Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 402. 31 Benn führt aus, dass sein Freund Friedrich Wilhelm Oelze „abratend und bedenklich“ geschrieben habe, der programmatische Vers „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“ sei ein für die frühe Lyrik entscheidender. Benn stimmt dieser Einschätzung zu und betrachtet ihn als Leitmotiv in seinem Gesamtwerk: „[I]ch griff ihn während meines Lebens in meinen Arbeiten immer wieder auf “ (SA 6, 70). 32 Lothar Schreyer, Der neue Mensch (1919), in: Expressionismus (wie Anm. 28), S. 140-144, hier S. 143. VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 235 Heym eindringlich die „Krankheit“ seiner Generation. 33 Sie besteht im Gefühl, in einem Gesellschaftssystem gefangen zu sein, das weder freie Entfaltung noch sinnvolle Beschäftigung zulässt und dem Untergang geweiht ist. Der Gestus der Diagnose eines als würdelos wahrgenommenen Zustands ist typisch für die expressionistische Programmatik. Nicht von ungefähr spricht Kurt Pinthus vom Kampf der Expressionisten „gegen den Zustand des entstellten, gepeinigten, irregeleiteten Menschen“. 34 Zum Feindbild der jungen Expressionisten wird der Typus des Bürgers, der all jenes verkörpert, was abgelehnt wird: selbstzufriedene Erstarrung, die Orientierung an fraglichen Normen und Werten, lächerliche Spießigkeit. Walther Rillas zutiefst negative Charakterisierung des Bürgertums, die Thomas Mann zum Musterbeispiel des verhassten deutschen Bürgers erklärt, stellt einen expliziten Bezug zwischen der herrschenden Gesellschaftsform und der Menschenwürde her. Der Bürger, so Rilla, bemerke in seinem blinden Opportunismus nicht, dass „‚Gehorsam‘ die infamste Entwürdigung des Menschen“ darstellt. „Ruhe und Ordnung“ sowie das egoistische Streben nach Wohlstand seien die Fetische, die sein Leben bestimmen: Krummer Rücken nach oben, Fußtritt nach unten, frommer Augenaufschlag zum Himmel, Verachtung vor den Forderungen der Menschenwürde (wo bleibt das Geschäft? ), Achtung jeder aufrechten, die politische Tat (und die Politik der Tat und der Menschlichkeit) wollenden Gesinnung als rüdes Verbrechertum -: so hält er durch. 35 Bürger und Mensch werden auch bei Theodor Haubach zu sich ausschließenden Antonymen: Wer ist Bürger - Wer ist Mensch? Bürger: d. i. kümmerlicher Mensch mit vermoosten Horizonten, enger begrenzter Nörgler am Leben, Sattzufriedener oder hämischer Besserer (hierher alle Reformer), ein Blutloser, Ordnungssüchtiger, Feind allen Höhen und Tiefen, Vergreister, Steriler, Botmäßiger, nie ganz Reiner, nie ganz Böser. Doch Mensch: Ungebärdig und nie ohne Chaos, Teufel und Gott, Tendenzloser, Sehnsüchtiger nach Abenteuer und Rätsel, voll tropischer und polarer Stürme in den Wettern der Seele, oft Tier, oft Engel, Aufbäumender zum gestirnten Himmel. 33 Georg Heym, Eine Fratze (1911), in: Expressionismus (wie Anm. 28), S. 204. 14 Sätze beginnt Heym mit der anaphorischen Formulierung „Unsere Krankheit […]“. 34 Pinthus, Zuvor, S. XIII. Vgl. auch die ganz ähnliche Formulierung Hermann Bahrs: „Darum geht es: ob durch ein Wunder der entseelte, versunkene, begrabene Mensch wieder auferstehen wird“ (Expressionismus, in: H. B., Expressionismus, hg. v. G. Schnödl, Weimar 2010 [urspr. 1916], S. 77-82, hier S. 77). 35 Walther Rilla, Der Bürger (1919), in: Expressionismus (wie Anm. 28), S. 172-179, hier S. 175 bzw. 177. 236 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus Dieser allein ist Ziel und gute Hoffnung. Wo er verschüttet ist, grabt ihn heraus, kämpft ihn heraus, aber - und das sei Appell allen wahrhaft Geistigen: Was soll ihm, seiner Erhöhung, die Politik und sei sie von lebendigster Flut, von glühendstem Puls? 36 Bemerkenswert ist, dass Rilla und Haubach die Idee der Menschenwürde nicht wie Benn leugnen, sondern implizit von einer auf ihrer Relativierung fußenden, noch zu leistenden Neudefinition der Menschenwürde ausgehen - hier äußert sich die Überzeugung einer notwendigen, grundlegenden Erneuerung des Menschen, die in der expressionistischen Literatur dialektisch mit der Zurückweisung der Menschenwürde verknüpft ist. Immer wieder proklamieren und ersehnen die Expressionisten emphatisch den ‚Neuen Menschen‘. Erich Mühsam etwa nennt als Ziel seiner Generation eine „neue Menschheit“; 37 Georg Kaiser favorisiert als die einzig mögliche Vision des expressionistischen Dichters „die von der Erneuerung des Menschen“. 38 An dieser Erneuerung soll der Dichter mit seinen Mitteln arbeiten. Die Forschung betrachtet das Konzept des ‚Neuen Menschen‘ bisweilen skeptisch und kritisiert es nicht ohne Berechtigung als schwammig-vieldeutige und damit letztlich inhaltslose, pathetische Losung. 39 Gleichwohl lohnt es sich, noch einmal genauer hinzuschauen. Immerhin verkündet Richard Huelsenbeck, einer der ersten Dadaisten: 40 „[Der Neue Mensch] ist es, der den Menschen ihre Würde zurückgibt und sie in ihrem Elend aufzurichten sucht.“ 41 36 Theodor Haubach, Wider die Politik (1919), in: Das Tribunal. Hessische radikale Blätter 1.4 (1919), S. 50-52, hier S. 52. 37 Erich Mühsam, Idealistisches Manifest (1914), in: Expressionismus (wie Anm. 28), S. 147-148, hier S. 148. 38 Georg Kaiser, Vision (1918), in: Expressionismus (wie Anm. 28), S. 139-140, hier S. 140. 39 Vgl. hierzu etwa Thomas Anz, Literatur der Expressionismus, Stuttgart / Weimar 2002, S. 44 und Vietta / Kemper, Expressionismus, S. 187 sowie S. 190-192. 40 In Bezug auf den Gestus der Diagnose und die programmatischen Feindbilder existieren Parallelen zwischen Dadaismus und Expressionismus - auch wenn jener diesen zu einem bevorzugten Feindbild macht. Hugo Ball bemerkt in Die Flucht aus der Zeit unter dem 5. März 1916: „Alles funktioniert, nur der Mensch selber nicht mehr.“ Und unter dem 12. Juni 1916: „Da der Bankrott der Ideen das Menschenbild bis in die innersten Schichten zerblättert hat, treten in pathologischer Weise die Triebe und Hintergründe hervor“ (in: DADA total. Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder, hg. v. K. Riha u. J. Schäfer, Stuttgart 2015, S. 19 und 23). Auch gegen eine bürgerliche Kunstauffassung opponiert der Dadaismus. In Raoul Hausmanns Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung heißt es: „[I]ch bin vor allem gegen Weimar. Noch kläglichere Folgen als der alte Fritz zeitigten Goethe und Schiller […]. […] Der Dadaist ist gegen den Humanismus, gegen die historische Bildung! / Er ist: für das eigene Erleben! “ Den Expressionismus bewertet Hausmann, für den der Dadaismus eine „antibourgeoise Bewegung“ ist, als „letzten Ausläufer“ des „klassische[n] Bildungsideal[s] des ordnungsliebenden Bürgers“ (ebd., S. 102-104). 41 Richard Huelsenbeck, Der neue Mensch (1917), in: Expressionismus (wie Anm. 28), S. 131-135, hier S. 132. VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 237 In seiner Reflexion der expressionistischen Bewegung beschreibt Kasimir Edschmid die Beziehung zwischen Dichtung, Würde und Mensch. Ausgangspunkt ist die Kunst des Ästhetizismus, besonders die Lyrik Stefan Georges. Obwohl er die Aufwertung der Form als wichtiges Verdienst dieser Strömung lobt, formuliert Edschmid eine vielsagende Kritik: „Man verwechselte Dichten und Würde. Man glaubte, das Wesentliche sei das Erlauchte und Würde sei besser als der Mut unbedenklichen Zugriffs.“ 42 Solange Würde lediglich etwas Äußeres bezeichnet, sich der Terminus eher auf die Aura und den angestrebten Rang eines literarischen Produkts bezieht als auf den Inhalt, solange ist er das Gegenteil von wahrer Dichtung im expressionistischen Sinne. Diese nämlich wertet den Menschen als Ursprung, Thema und Ziel des literarischen Schaffens euphorisch auf: „Die große Musik des Dichters sind seine Menschen.“ 43 ‚Mensch‘ ist als emphatische Idee zu verstehen, 44 die es in der Kunst vorbildlich zu verwirklichen gilt. Sie zielt auf die Totalität des menschlichen Lebens und der menschlichen Erfahrung und lehnt es ab, bestimmte Bereiche zu marginalisieren: Jeder Mensch ist nicht mehr Individuum, gebunden an Pflicht, Moral, Gesellschaft, Familie. Er wird in dieser Kunst nichts als das erhebendste und kläglichste: er wird Mensch. […] Er bleibt nicht mehr Figur. Er ist wirklich Mensch. […] Er ist nicht un-, nicht über-menschlich, er ist nur Mensch, feig und stark, gut und gemein, wie ihn Gott aus der Schöpfung entließ. 45 Edschmid rekurriert auf den Topos des Menschen als Zwitterwesen, aber nicht, um mit idealistischem Impetus die Überwindung des Kläglichen, Triebhaften, Bösen zu fordern, sondern um das ganzheitliche Menschsein zu preisen. Das Menschsein wird - ohne ethische Bedingungen - zum Ideal erhoben. In den „Vorbemerkungen“ zu seiner Essaysammlung mit dem programmatischen Titel Der Mensch in der Mitte (1917) skizziert Ludwig Rubiner das neue Menschheitsideal: „Der Mensch ist die Mitte der Welt - er sei die Mitte der Welt! […] Das ist der Ruf nach größtem Recht. Nach größter Freiheit. Nach größter Unmittelbarkeit. Nach größter Menschlichkeitsnähe. Nach größter Liebe.“ 46 Rubiner sieht die Menschheit vor dem „Anbruch der neuen Zeit“: „Das humanozentrische Bewußtsein. […] [D]er Mensch ist um des Menschen 42 Edschmid, Expressionismus in der Dichtung (wie Anm. 28), S. 44. 43 Ebd., S. 46. 44 Vgl. dazu etwa Pinthus, Zuvor, S. VIII-IX: „Alle Gedichte dieses Buches [i. e. der Menschheitsdämmerung ; MG] entquellen der Klage um die Menschheit, der Sehnsucht nach der Menschheit. Der Mensch schlechthin, nicht seine privaten Angelegenheiten und Gefühle, sondern die Menschheit, ist das eigentliche unendliche Thema.“ 45 Edschmid, Expressionismus in der Dichtung, S. 47. 46 Ludwig Rubiner, Vorbemerkungen, in: Der Mensch in der Mitte, Berlin 1917, S. 5-8, hier S. 5-6. 238 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus willen da.“ 47 Entsprechend beschreibt er das Verhältnis des Menschen zu der ihn umgebenden Welt. Dieser sei „keine Eigenexistenz zuzubilligen“. Vielmehr müsse der Mensch, mithilfe des „Schöpfertum[s] des Geistes“, „an ihr den göttlichen Schöpfungsplan […] gestalten; mit ihr den Wert durch[]setzen, die Heiligung des Lebens“. 48 Von der Literatur fordert Rubiner, dass sie „ethisch“ sei, im Sinne einer Konzentration auf das Diesseits und die vergängliche Leiblichkeit des Menschen: „Der Leib des Menschen ist nur einmalig, aber diese Einmaligkeit ist sein höchster Wert.“ 49 Die Erneuerung des Menschen verlangt gemeinschaftliches Engagement: „Handeln! Und: Selbst handeln! Und: Gemeinsam handeln! […] Jetzt! […] Aller Aufschub entmenscht uns.“ 50 Rubiners Ausführungen sind der Versuch einer expressionistisch-vitalistischen Neudefinition der Menschenwürde: Er setzt den Menschen als Selbstzweck, der Bewertungen durch Äußerlichkeiten ausschließt. Höchster „Wert“ ist das intensive, unmittelbare, schrankenlose (Er-)Leben. Verwirklichen kann der Mensch dieses Ideal, indem er selbsttätig, frei und schöpferisch handelt und sich dabei an (allerdings sehr allgemein gehaltenen) Werten wie Menschlichkeit und Menschenliebe orientiert. Im Vergleich zu traditionellen Menschenwürdebegriffen, bei denen Aspekte wie das freie und schöpferische Handeln (z. B. bei Pico della Mirandola) ebenfalls entscheidend sind, verlieren Kategorien wie Vernunft, heteronome Moral und Triebkontrolle jegliche Relevanz. Diese Definition der Menschenwürde, die an die Sehnsucht nach dem Neuen Menschen gekoppelt ist, erhält nun unterschiedliche Akzentuierungen. In Erich Mühsams Appell an den Geist (1911) ist sie in der obrigkeits- und bürgerkritischen Diagnose impliziert: „Geknebelt ist der Gedanke, das Wort und die Tat, - geknebelt selbst die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit. […] [D]er Geist der Menschen schläft im Schutze der Obrigkeit.“ 51 Das „höchste anarchistische Ideal, die Selbstbestimmung des Menschen, sein stolzes Vertrau- 47 Rubiner, Neuer Beginn, in: Der Mensch in der Mitte (wie Anm. 46), S. 191. 48 Rubiner, Vorbemerkungen, S. 6-7. - Auch Hermann Bahr thematisiert das Verhältnis des Menschen zu der ihn umgebenden Welt und diagnostiziert einen signifikanten Verlust von Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit: „[Unsere Zeit] macht ihn [i. e. den Menschen; MG] zum bloßen Instrument, […] er hat keinen Sinn mehr, seit er nur noch der Maschine dient. Sie hat ihm die Seele weggenommen. […] Wir leben ja nicht mehr, wir werden nur noch gelebt. Wir haben keine Freiheit mehr, wir dürfen uns nicht mehr entscheiden, wir sind dahin, der Mensch ist entseelt, die Natur entmenscht“ (Expressionismus, S. 77). 49 Rubiner, Aktualismus, in: Der Mensch in der Mitte (wie Anm. 46), S. 10-13, hier S. 10. 50 Ebd., S. 11-13. 51 Erich Mühsam, Appell an den Geist, in: Kain 1.2 (1911), S. 17-21, hier S. 18. Die von Mühsam herausgegebene Zeitschrift Kain trägt den Titelzusatz „Zeitschrift für Menschlichkeit“. - Zum Begriff des Geistes im Allgemeinen und zu Mühsam im Speziellen vgl. Anz, Literatur des Expressionismus, S. 60-65. VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 239 en auf die eigene Persönlichkeit“, muss von der jungen Generation erst wieder erkämpft werden. 52 Bei Rubiner wird die Idee des Neuen Menschen dezidiert mit politisch-revolutionären Ansichten verknüpft: In der russischen Revolution sieht er eine „neue, höhere Menschheitsordnung im Osten“ realisiert, die der „Idee der Freiheit, der Bruderschaft und des Mitmenschen“ huldigt. 53 Doch nicht nur der Mensch an sich wird aufgewertet, sondern auch das (künstlerische) Ich und seine radikale Subjektivität. Paul Hatvani spricht sogar davon, dass der Expressionismus „das Ich entdeckt“ habe. Dieses wird zur maßgebenden Instanz: „ Im Expressionismus überflutet das Ich die Welt. “ 54 Für das Verhältnis von Künstler und Werk bedeutet dies: „Der Künstler schafft seine Welt in seinem Ebenbilde. Das Ich ist auf eine divinatorische Art zur Herrschaft gelangt.“ 55 In Anspielung auf Genesis 1,26-27 und die Auffassung von der Gottebenbildlichkeit als Grund der Menschenwürde spricht Hatvani dem Künstler eine würdeverleihende Macht zu; der Künstler wird zum gottähnlichen Schöpfer. Das mutet stürmerisch-drängerisch an - mit dem signifikanten Unterschied, dass sowohl der Erfahrungshorizont (Großstadt, Industrialisierung, Krieg) als auch das Verständnis des Kunst-Mimesis-Verhältnisses der Expressionisten wesenhaft andere sind. 56 Wenn das traditionelle, sowohl idealistisch als auch christlich geprägte Menschenwürdeverständnis zur Disposition gestellt und gleichzeitig ein neues Menschenbild proklamiert wird, hat dies unmittelbare ästhetische Konsequenzen. Für den expressionistischen Dichter gibt es weder inhaltliche noch ästhetische Einschränkungen. Den Anspruch, alle Tabus innerhalb der Kunst zu überwinden, formuliert etwa Hugo Kersten. Die Kategorie der Schönheit könne nicht mehr zur Bewertung eines Kunstwerks dienen: „Der Künstler hat nicht den Willen zur Schönheit oder zur Wahrheit oder zu sonst irgend etwas. Er hat nur den Willen zum Werke. […] Man kann alles gestalten, was es auf der Welt und 52 Erich Mühsam, Idealistisches Manifest, S. 147 (wie Anm. 37). 53 Rubiner, Mitmensch, in: Der Dichter greift in die Politik. Ausgewählte Werke 1908-1919, hg. u. mit e. Nachw. von K. Schuhmann, Frankfurt / M. 1976, S. 306-310, hier S. 307-308; Antrieb der Revolution sei die „Heiligkeit des Mitmenschen“. 54 Paul Hatvani, Versuch über den Expressionismus, in: Expressionismus (wie Anm. 28), S. 38-42, hier S. 39 (Herv. i. O.). - Hatvani formuliert dies v. a. in Abgrenzung zum Impressionismus; dort hätten sich „Welt und Ich, Innen und Außen, zu einem Gleichklang verbunden“ (ebd.). - Auch Hermann Bahr definiert den Expressionismus als positive Überwindung des Impressionismus, der den Menschen „zum Grammophon der äußeren Welt erniedrigt[]“ habe (Expressionismus, S. 78). 55 Hatvani, Versuch über den Expressionismus, S. 41. Vgl. Edschmid, Expressionismus in der Dichtung, S. 46-47. 56 Das schließt nicht aus, dass bestimmte Motive sich in beiden Strömungen wiederfinden - etwa die Maschinenmetaphorik zur Denunzierung einer das Individuum entwürdigenden Existenz. 240 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus im Geiste gibt.“ Der inhaltlichen Entgrenzung entspricht eine ästhetische Entgrenzung, denn der Künstler darf „skrupellos in der Wahl seiner Mittel sein“. Provokativ wendet sich Kersten gegen allgemein anerkannte Geschmacksurteile: „Das oberste und letzte Kunstgesetz ist: jedes zu brechen! “ 57 Dies bedeutet zum einen, dass das Hässliche im Allgemeinen in der Kunst des Expressionismus einen festen Platz hat, 58 zum anderen, dass auch Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Stellung (etwa soziale Randfiguren wie Huren, Verbrecher, Arme) oder aufgrund fehlender Autonomiefähigkeit (Irre, Kranke, Instinktgeleitete) als unwürdig gelten könnten, in den Fokus der Literatur rücken. Für Pinthus ist diese ästhetische Ausrichtung zwangsläufig: „[K]ann eine Dichtung, die Leid und Leidenschaft, Willen und Sehnsucht dieser Jahre zu Gestalt werden läßt, und die aus einer ideenlosen, ideallosen Menschheit, aus Gleichgültigkeit, Verkommenheit, Mord und Ansturm hervorbrach - kann diese Dichtung ein reines und klares Antlitz haben? “ 59 Robert Musil schließlich rechtfertigt in einem frühen Essay „das Unmoralische und Verwerflichste“, „das Unanständige und Kranke“ nicht nur als künstlerisch darstellbares Thema, sondern erklärt, dass die Kunst es auch „lieben dürfe“. 60 Dabei verfolgt sie nicht nur ein Erkenntnisinteresse im Sinne der Erforschung menschlichen (Er-)Lebens an sich, sondern hat die Fähigkeit, das Dargestellte zu „verselig[en]“, zu „vermenschlich[en]“. Der Künstler arbeitet an der „Erweiterung des Registers von innerlich noch Möglichem“. 61 Diesen Prozess versteht Musil als „Wertmachung“ 62 von vermeintlich Krankem, Perversem, Unanständigem - mithin als Würdigung des vermeintlich Unwürdigen . Diese Position findet sich auch bei Theodor Däubler: „Es ist Kulturarbeit, sogar die 57 Hugo Kersten, Über Kunst, Künstler und Idioten (1914), in: Expressionismus (wie Anm. 28), S. 591-593 (Herv. i. O.). 58 Zur Bedeutung des Hässlichen für die Theorie des Expressionismus vgl. grundlegend Christoph Eykman, Die Funktion des Hässlichen in der Lyrik Georg Heyms, Georg Trakls und Gottfried Benns. Zur Krise der Wirklichkeitserfahrung im deutschen Expressionismus, Bonn 3 1985, S. 105-133. Vgl. v. a. ebd., S. 114: „[D]er Expressionist läßt das Häßliche auch in der Form eines Wirklichen von größter Intensität in sein Werk eingehen, um sich eben dadurch von der Wirklichkeit abzusetzen. Die Funktion des Häßlichen besteht oft gerade darin, das Wirkliche stellvertretend zu repräsentieren und damit zu diffamieren.“ In der Folge bestimmt Eykman verschiedene expressionistische Strategien, die die Ästhetik des Hässlichen prägen: Deformierung, Übersteigerung, Reduktion zum Elementaren, Destruktion, Dämonisierung (vgl. zusammenfassend ebd., S. 131). 59 Pinthus, Zuvor, S. IX. 60 Robert Musil, Das Unanständige und Kranke in der Kunst (1911), in: Expressionismus (wie Anm. 28), S. 594-597, hier S. 594. 61 Ebd., S. 595. 62 Ebd. - Zu Musils Essay im Kontext des Entartungs- und Entgrenzungsdiskurses vgl. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 168-169. VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 241 tristen, unwürdigen Elemente unter Menschen aufzubrauchen, zu verwerten. Kunst kann geradezu Erlöserin sein […].“ 63 * Sowohl das Bemühen um eine Redefinition der Menschenwürde als auch die Forderung, potentiell tabuisierte Bereiche in die Kunst zu integrieren, teilt die expressionistische Literatur mit jener des Naturalismus; der Impetus jedoch ist ein jeweils anderer. Ging es den Naturalisten zum einen darum, die Vorstellung der Menschenwürde mit dem positivistisch-wissenschaftlichen Menschenbild zu vereinen und war die Literatur zum anderen einem strikten Realitäts- und Wahrheitspostulat unterworfen, das die Abbildung der gesamten Wirklichkeit forderte, eignet dem Expressionismus zum einen der aggressiv-provokative Gestus der Destruktion eines als überkommenen abgelehnten Menschenbildes, zum anderen die Überzeugung, gerade in potentiell tabuisierten Bereichen das wahrhaft Menschliche, das unverstellte, tiefe Erleben und Erkennen zu finden. Für die Literatur des Expressionismus kommt der Menschenwürde demnach eine dreifache programmatische Bedeutung zu. Die Würdelosigkeit des zeitgenössischen Menschen wird diagnostiziert. Die Vorstellung der Menschenwürde wird deshalb unter Ablehnung jeglicher bürgerlicher Geschmacks- und Ästhetiknormen zum Ziel provokativer, aggressiver Angriffe. Erstrebt wird schließlich die Überwindung der Würdelosigkeit durch eine Neudefinition des Würde- und Menschheitsbegriffs. VI.1.3. Exkurs: Die Ästhetik der Würdelosigkeit bei Charles Baudelaire Die systematisch-theoretische wie praktische Auseinandersetzung mit dem Hässlichen und Bösen hat seine literaturgeschichtlichen Wurzeln im späten 18. und im 19. Jahrhundert. Der Marquis de Sade pervertiert die Prinzipien der Aufklärung in seiner „Ästhetik der Lust“, die den vermeintlich rational hergeleiteten Anspruch des freien Menschen auf egoistischen, rücksichtslosen und grausamen sinnlichen Lustgewinn feiert und in obszönen literarischen Werken inszeniert. Sade und die frühe Sade-Rezeption beeinflussen die Ästhetik der französischen Literatur nachhaltig; vorläufiger Höhepunkt sind Lautréamonts Chants de Maldoror (1874). 64 Der Begriff der Menschenwürde, wie ihn die Aufklärer und die deutschen Klassiker prägten, verliert in dieser Tradition jede Gül- 63 Theodor Däubler, Simultanität (1916), in: Theorie des Expressionismus (wie Anm. 25), S. 53-55, hier S. 55. 64 Sabine Kleine, Zur Ästhetik des Häßlichen. Von Sade bis Pasolini, Stuttgart [u. a.] 1998, S. 7-19 (zu Sade) und 28-34 (zu Lautréamonts „Ästhetik der Grausamkeit“). 242 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus tigkeit, sowohl als „anthropologische Prämisse“ 65 der literarischen Produktion als auch als normative ästhetische Kategorie. 66 Das ist freilich (im deutschsprachigen Bereich) auch bei Georg Büchner der Fall, nur bleibt seine anthropologisch wie ästhetisch revolutionäre Auseinandersetzung mit der Menschenwürde stets ‚pragmatisch‘ mit der politisch-sozialkritischen Aussage verknüpft. Die deutschen Romantiker tolerieren das Hässliche als Variante des Interessanten, sofern es komisch-humoristisch oder offensichtlich verzerrend behandelt wird. 67 Karl Rosenkranzʼ Ästhetik des Häßlichen (1853), der erste Versuch einer systematischen Klärung der Kategorie des Hässlichen, bestimmt diese rein relativ. Die Kunst bedarf des Hässlichen „zur Vollständigkeit der Welterfassung“; das Schöne ist dabei stets die implizite „positive Voraussetzung“. Das in der Kunst thematisierte und dargestellte Hässliche ist nie Selbstzweck; vielmehr muss es immer „das Schöne reflektieren, an welchem es die Bedingung seiner Existenz hat“. 68 Die Vorstellung, dass dem Hässlichen und Würdelosen ein ästhetischer Eigenwert zukommt, äußert sich paradigmatisch im lyrischen Werk Charles Baudelaires, der so zu einem ästhetischen Wegbereiter der literarischen Moderne wird. In seinem kunsttheoretischen Aufsatz Le peintre de la vie moderne (1863; dt. Der Maler des modernen Lebens ) definiert Baudelaire nicht nur seine Begriffe des Schönen und der Modernität, sondern auch seine anthropologische Prämisse. Programmatisch verwirft er die klassische Verbindung des Schönen mit dem ethisch Guten; vielmehr gibt es eine „besondere[] Schönheit des Bösen, d[as] 65 Zu diesem Begriff vgl. Gerigk, Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes, S. 11-15. 66 Kleine spricht von einer „fundamentale[n] Dichotomie zwischen Kant und Sade“, die als „literaturhistorische[s] Paradigma“ tauge: „Die französische Literaturgeschichte […] ist seit Sade und unter seiner Rezeption wesentlich Historie von der Ästhetik des Unästhetischen.“ Dem gegenüber steht der „deutsche Sonderweg“, der darin besteht, „Ästhetik - als Philosophie der Kunst - der Ethik zu verpflichten, - so daß namentlich die Literatur zur fortgesetzten Theodizee wurde und die ästhetische Schilderung der Gewalt, des Leidens und der Grausamkeit seit Sturm und Drang und Romantik eigentlich nie mehr über die Opfer-narratio hinauskam“ (Zur Ästhetik des Hässlichen, S. 40, 34 bzw. 38). 67 Vgl. dazu Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 101-102. - Victor Hugo bestimmt die Vermischung und die Kontrastierung der Töne, d. h. des Erhabenen und des Grotesken, des Komischen und des Pathetischen, als zentrales Merkmal der romantischen Poetik. Vgl. dazu Detlef Kremer, Romantik, Stuttgart / Weimar 2 2003, S. 100: „Erst im romantischen Zweiklang von Pathos und Groteske sind nach Hugo die Extreme menschlicher Existenz zwischen Gottähnlichkeit und Tier abgesteckt“. Hugo artikuliert seine Position in der Vorrede zu seinem Drama Cromwell. 68 Karl Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, Leipzig 1996, S. 40, 14 bzw. 39. - Vgl. dazu auch Brigitte Scheer, Zur Theorie des Häßlichen bei Karl Rosenkranz, in: Im Schatten des Schönen. Die Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten, hg. v. H. F. Klemme, M. Pauen u. M.-L. Raters, Bielefeld 2006, S. 141-155, v. a. S. 142-150. VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 243 Schöne[] im Gräßlichen“. 69 Für die Poetik bedeutet dies, dass traditionelle Vorstellungen von Schönheit, Ethik, Natur und Mensch revidiert werden müssen: Die meisten Irrtümer hinsichtlich des Schönen entspringen der falschen Vorstellung des achtzehnten Jahrhunderts hinsichtlich der Moral. Die Natur galt damals als Grundlage, Quelle und Urbild alles möglichen Guten und Schönen. […] [Allerdings] sehen wir, daß die Natur nichts lehrt, oder fast nichts, das heißt, sie nötigt den Menschen, zu schlafen, zu trinken, zu essen, und sich, so gut es geht, vor den Unbilden der Witterung zu schützen. Und es ist die Natur, die den Menschen dazu treibt, seinesgleichen zu töten, zu verzehren, einzusperren und zu foltern; denn kaum verlassen wir den Bereich des Notwendigen und der Bedürfnisse, um jenen des Luxus und der Vergnügungen zu betreten, so sehen wir, daß die Natur außerstande ist, uns anderes zu raten als das Verbrechen. […] Man lasse alles, was natürlich ist, Revue passieren, man untersuche sämtliche Handlungen und Begierden des bloß natürlichen Menschen, und man wird nichts als Scheußlichkeiten finden. Alles Schöne und Edle ist ein Ergebnis der Vernunft und der Überlegung. Das Verbrechen, an dem das Menschentier vom Mutterleib an Gefallen hat, ist natürlichen Ursprungs. Die Tugend hingegen ist künstlich, übernatürlich […]. 70 Dass der Mensch keineswegs von Natur aus gut, wie es Rousseau postulierte, oder gar frei ist, verleitet Baudelaire nicht primär dazu, die Überwindung von Natur und Notwendigkeit durch Vernunft und Willen als menschenwürdig zu preisen, sondern eher zu einer Neubewertung dessen, was „d[em] achtzehnten Jahrhundert[]“ als menschenunwürdig oder würdelos, als hässlich oder böse galt - und zu seiner Apologie als Kunstinhalt sui generis , frei von falschverstandenen darstellungsästhetischen Einschränkungen. In Baudelaires Poetik ist der Mensch demnach nicht unbedingt ein würdiges Wesen. 71 Seine Fleurs du mal (1857) insinuieren vielmehr, dass sich der Mensch dem ‚Ideal‘ immer nur vergeblich zu nähern versucht. Charakteristisch für Baudelaires Lyrik ist eine Ästhetik der Würdelosigkeit, die programmatisch das Bild des schönen, würdigen, erhabenen Menschen unterminiert. Das Gedicht Une 69 Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: Sämtliche Werke / Briefe in acht Bänden, hg. v. F. Kemp u. C. Pichois, München 1975-1992, hier Bd. 5, S. 213-258, hier S. 255. 70 Ebd., S. 247-248. 71 Vgl. Katrin Fischer-Junghölter, Art. Baudelaire, Charles (1821-1867), in: Poetiken. Autoren - Texte - Begriffe, hg. v. M. Schmitz-Emans, U. Lindemann u. M. Schmeling, Berlin / New York 2009, S. 28, die von „Baudelaires Auffassung des Menschen als durch den Sündenfall selbstverschuldet zu Verderbnis, Verbrechen und Sittenlosigkeit verdammtes Wesen“ spricht. 244 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus charogne (dt. Ein Aas ) 72 - das „ästhetische[] Glaubensbekenntnis des modernen Künstlers“ 73 - ist in dieser Hinsicht exemplarisch; es verbindet die explizite und abstoßende Beschreibung eines Tierkadavers mit der ästhetischen Verletzung der Menschenwürde. Das faulende Aas, das der Sprecher und seine Begleiterin beim Flanieren erblicken, ist ekelerregend und widerlich - „une charogne infâme“ (V. 4) -, übt trotzdem eine eigentümliche Faszination auf die Betrachter aus, regt zu Reflexionen über die Natur, die Liebe, Zeit und Vergänglichkeit an, besitzt sogar eine ganz eigene Schönheit, wie die Beschreibung der Sprechsituation („Ce beau matin dʼété si doux“ [V. 2]) und der Vergleich „comme une fleur“ (V. 14) suggerieren. Zu Beginn des zweiten Vierzeilers wird der stinkende, von Insekten bevölkerte Kadaver durch den Vergleich „comme une femme lubrique“ (V. 5) nicht nur in Bezug zu einem Menschen, genauer: zu einer sexuell erregten Frau gesetzt. Vielmehr verschwimmen in der Folge durch die Nennung von Körperteilen - „Les jambes“ (V. 5), „Son ventre plein dʼexhalaisons“ (V. 8), „ce ventre putride“ (V. 17), „le corps, enflé dʼun souffle vague“ (V. 23) - die Grenzen zwischen dem toten Tier- und dem Frauenkörper. 74 Animalität, ja faulige und ekelhafte Kreatürlichkeit wird so par extension auch dem menschlichen Körper zugeschrieben. Von der edlen Natur, der Vernunft des Menschen ist hier keine Rede mehr; vielmehr wird die Würdelosigkeit des auf seinen Körper reduzierten, verdinglichten, entmenschlichten Menschen 75 durch die bildreiche, mit Vergleichen und Metaphern gespickte Sprache, die eleganten kreuzgereimten Verse und die synästhetische Beschreibung der Szenerie ästhetisiert. Der Schluss des Gedichts macht aus der punktuellen Beschreibung einer zufälligen Wahrnehmung schließlich eine allgemeine anthropologische Aussage. In Anlehnung an das barocke memento mori -Motiv wendet sich der Sprecher an seine Begleiterin: „Oui! telle vous serez, ô la reine des grâces“ (V. 41). Jeder Mensch endet als faulender Kadaver; der Mensch ist letztlich nicht viel mehr als sein hinfälliger, würdeloser Körper. Trotzdem rückt er in den Fokus des Künstlers: „Alors, ô ma beauté! dites à la vermine / Qui vous mangera de baisers, / Que jʼai gardé la forme et lʼessence divine / De mes amours décomposés! “ (V. 45-48). Die Lyrik, so suggerieren die letzten Verse, verklärt nicht die menschliche Würdelosigkeit, 72 Charles Baudelaire, Une charogne / Ein Aas, in: Sämtliche Werke / Briefe (wie Anm. 69), hier Bd. 3, S. 110. Die deutsche Prosaübersetzung in der zitierten Ausgabe stammt von Friedhelm Kemp. 73 Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 105. 74 Vgl. ähnlich Jean-Claude Mathieu, Une charogne, in: Les Fleurs du mal. Actes du colloque de la Sorbonne des 10 et 11 janvier 2003, hg. v. A. Guyaux u. B. Marchal, Paris 2003, S. 161-180, hier S. 171-172. 75 Vgl. ähnlich ebd., S. 167. VI.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde 245 die sie kompromisslos in den Blick nimmt, gibt ihr aber eine künstlerische Form und einen ‚göttlichen Funken‘. Der deutsche Romanist Erich Auerbach hat Baudelaires Ästhetik explizit mit dem Begriff der Würde(losigkeit) assoziiert. Baudelaire negiere die tradierte Vorstellung einer besonderen Würde des Erhabenen, des hoffnungslos Schrecklichen. Am Beispiel des Gedichts Spleen („Quand le ciel bas et lourd …“) zeigt Auerbach, wie dem verzweifelnden, verzweifelten Ich die innere Würde aberkannt wird - und das durch ganz konkrete ästhetische Mittel wie die Wahl medizinischer Termini (man denke an Benn! ), die zu einer Reduktion oder, in der Terminologie Hugo Friedrichs, zu einer „Entpersönlichung“ des Ichs führen. 76 Auerbach diagnostiziert in Spleen zudem eine „Gewalt der Würdelosigkeit“. 77 Die Darstellung des vollständigen Zusammenbruchs des Ichs bleibe jedoch dem hohen Stil treu. Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem hohen, erhabenen lyrischen Ton und der Würdelosigkeit des Gegenstands ist typisch für viele der Gedichte Baudelaires - und genau darin liegt seine Modernität begründet. 78 Die bei Baudelaire so dominanten Bereiche des Sinnlichen und der Sexualität schließlich dienen der lyrischen Illustration der menschlichen Würdelosigkeit. 79 Baudelaire zeichne die Sexualität als „würdelose Hölle der Lust“. Seine Gedichte konzipieren Sinnlichkeit in der Deutung Auerbachs als das „Erniedrigende und Entwürdigende“, die sowohl dem „Begehrende[n]“ als auch dem „Gegenstand der Begierde“ jede „Menschlichkeit“ und jede „Würde“ absprechen. 80 Baudelaires Ästhetik der Würdelosigkeit eröffnet gerade der Lyrik vollkommen neue ästhetische Möglichkeiten, an die die Literatur der Moderne anknüpft - nicht zuletzt Expressionisten wie Heym und Benn. 76 Erich Auerbach, Baudelaires Fleurs du mal und das Erhabene, in: Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung, Bern 1951, S. 107-127, hier S. 108-109. Vgl. auch Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 36. Friedrich spricht von einer Tendenz zur Enthumanisierung in der Folge Baudelaires, etwa bei Rimbaud, Mallarmé und Ortega y Gasset. 77 Auerbach, Baudelaires Fleurs du mal, S. 110. 78 Vgl. ebd., S. 112: „Was das 19. Jahrhundert erreicht und das zwanzigste fortgesetzt hat, ist eine Veränderung der Einordnungsmöglichkeiten: es wurde möglich, Gegenstände, die bis dahin notwendig zur Kategorie des Niedrigen oder allenfalls des Mittleren gehört hatten, ernsthaft und tragisch zu sehen, ihr Werden und Wesen in der Kunst zu gestalten.“ 79 Vgl. ebd., S. 116. 80 Ebd., S. 114 und 119. - Zur Bedeutung des ‚Bösen‘ bei Baudelaire vgl. Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen, München 2010, S. 223-232. 246 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus VI.2.1. Der würdelose Mensch als literarisches Sujet Der Expressionismus hat eine unübersehbare Vorliebe für literarisches Personal, das - gemessen an einem bürgerlich-idealistischen Würdebegriff - würdelos ist: gesellschaftliche Außenseiter und Randexistenzen, die keinerlei soziale, kontingente Würde besitzen, Figuren, die von „Krankheit und Mißwachs“ 81 entstellt sind, Menschen schließlich, die nicht oder nur eingeschränkt vernunft- und autonomiefähig sind. Besonders das lyrische Œuvre Georg Heyms eröffnet ein Panorama der Würdelosigkeit. Eindrücklich schildert das Gedicht Die Vorstadt (DS 1, 133-134) diese Würdelosigkeit. In einem ärmlichen, heruntergekommenen Stadtviertel, dessen Atmosphäre vom „Gassenkot“ (V. 1), von „Dünste[n]“ (V. 2) und dem „niedern Himmel“ (V. 3) geprägt ist, die den Unterkünften den Anschein „schwarzer Unterwelt“ (V. 6) verleiht, 82 tummeln sich allerlei würdelose Gestalten. Die Umgebung erscheint dabei nicht naturalistisch als die Figuren determinierendes, entwürdigendes Milieu, sondern eher als symbolische Illustration der vermeintlichen Würdelosigkeit. Die mit dem zunächst bezugslosen Personalpronomen „sie“ (V. 5) eingeführten Figuren sind allesamt Arme (Menschen, die „[i]m Lumpenzeuge“ sitzen [V. 7], Bettler, Vagabunden), Kranke oder Gebrechliche (ein Irrer, ein aussätziger Greis, verkrüppelte Kinder, Blinde, ein Lahmer, ein Zwerg) 83 und soziale Außenseiter (Mittellose, Bettler, „alte Weiber[]“ [V. 21], die sich prostituieren, Vagabunden). Die Beschreibung dieser Szenerie ist hässlich und abstoßend: „[A]ufgeblähte Leiber“ (V. 8) rücken ins Blickfeld, ebenso „ein Maul, das zahnlos auf sich reißt“ (V. 9), „zweier Arme schwarzer Stumpf “ (V. 10) und die „welke[] Brust“ (V. 24) der verarmten Frauen, die ihre Kinder nähren. Todesboten und -zeichen künden vom offenbar bevorstehenden Untergang: Der Mond erscheint als „ungeheurer Schädel, weiß und tot“ (V. 4), ein Blinder trägt ein „schwarze[s] Hemdentuch“ (V. 20), die Fahne des Wirtes zeigt einen „Toten- 81 Georg Heym, Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen, in: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, 2 Bde., hg. v. K. L. Schneider, Hamburg / München 1962-1964, hier Bd. 1, S. 440-442, V. 9. - Heyms Texte werden im Folgenden stets nach dieser Ausgabe zitiert; Zitate werden im Text in der Form (DS Band, Seitenangabe, V. Versangabe) belegt. 82 Zu Bedeutung und Funktion mythologisierender Referenzen in Heyms lyrischem Werk vgl. etwa Vietta / Kemper, Expressionismus, S. 49-61. 83 In einer früheren Fassung trug das Gedicht den bezeichnenden Titel Die Krüppel . Vgl. dazu die genetische Darstellung des Textes in: Heym, Gedichte 1910-1912. Historischkritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung, hg. v. G. Dammann, G. Martens u. K. L. Schneider, Bd. 1, Tübingen 1993, S. 446-455, hier S. 450. VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 247 kopf mit zwei gekreuzten Knochen“ (V. 38). 84 Das Gedicht entwirft das Bild einer zutiefst würdelosen Menschheit, gezeichnet von Gewalt, Gebrechlichkeit, Verfall und Hässlichkeit. 85 Vermeintlich würdelose Gestalten bevölkern viele Gedichte Heyms und seiner Zeitgenossen, seien es körperlich Versehrte, 86 sozial Ausgegrenzte 87 oder Menschen, die ihre Autonomie verloren haben. 88 Auch die Suizidenten, die an sich oder dem Leben verzweifeln und - zumindest aus christlich-bürgerlicher Sicht - ihren Anspruch auf soziale Würde und ihren Platz innerhalb der Gesellschaft verwirken, gehören zu diesem Figurentypus. 89 Selbst der Tod, der etwa in Gerhart Hauptmanns Drama Michael Kramer (1900) noch als eine mögliche Quelle der Menschenwürde ins Spiel gebracht wird, 90 verliert den Nimbus der Würde - die Leiche rückt in die Nähe der zweifelhaften Figuren. In Heyms Gedicht Die Morgue ( DS 1, 474-478) fordern die Toten zunächst gravitätisch: „Tretet zurück vor unserer Majestät“ (V. 13), und bezeichnen sich als „wie Götter groß“ (V. 20) und als „Könige“ (V. 25). Doch schnell bröckelt das Erhaben-Feierliche. Die aufgestellten Kerzen wirken „lächerlich“ (V. 21), die einzelnen Leichen zerfallen und „stink[en]“ (V. 42), der tote Körper ist hässlich und ekelhaft: „Und unser Fleisch ward dürrer Maden Pfad“ (V. 64). Scharf ist der Kontrast zwischen 84 Vgl. außerdem die Hände der Vagabunden, die „dürr und knöchern“ (V. 32) sind, die bedrohlich wirkende „grüne[] Himmelsglocke“ (V. 43) und die „Meteore“ (V. 44), die häufig, etwa in Jakob van Hoddisʼ Weltende , die Untergangsstimmung begleiten. 85 Zu Heyms Ästhetik des Hässlichen vgl. grundlegend Eykman, Die Funktion des Hässlichen, S. 23-52. Zum Gedicht Die Vorstadt vgl. ebd., S. 27-29. - Zur Bedeutung der Figuren des Kranken und des Irren im Expressionismus vgl. Anz, Literatur der Existenz, S. 39-51. 86 Vgl. z. B. Der Bucklige (DS 1, 120), Die Tauben (DS 1, 332-334), Die Blinden (DS 1, 394) und Das Fieberspital (DS 1, 166-169) von Heym. 87 Vgl. z. B. Die Gefangenen (DS 1, 122). Vgl. hierzu Walter Hinck, Die Rückbildung des lebendigen Menschen zum Automatenhaften. Georg Heyms Gefangenen -Gedichte, in: Der Mensch als Konstrukt. Festschrift für Rudolf Drux zum 60. Geburtstag, hg. v. R. Füllmann [u. a.], Bielefeld 2008, S. 61-68. 88 Vgl. z. B. Die Irren (DS 1, 253-258), Der Garten der Irren (DS 1, 430) und Die Somnambulen (DS 1, 257) von Heym, Der Idiot von Johannes R. Becher, Der Idiot von Paul Zech und Die Morphinistin von Franz Werfel. Die Gedichte von Becher und Zech finden sich in der von Silvio Vietta hg. Anthologie Lyrik des Expressionismus , Tübingen 4 1999, S. 84-85. Zitate aus Gedichten, die in dieser Anthologie zu finden sind, werden im Folgenden im Text in der Form (LEV Seitenangabe, V. Versangabe) belegt. Werfels Gedicht findet sich in: Franz Werfel, Das lyrische Werk, hg. v. A. D. Klarmann, Frankfurt / M. 1967, S. 113-114. Werfels Gedichte werden im Folgenden stets nach dieser Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (WL Seitenangabe, V. Versangabe) belegt. 89 Vgl. z. B. Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen und Die Selbstmörder (DS 1, 472 und 473) von Heym sowie Der Selbstmörder von Albert Ehrenstein (LEV 83-84). 90 Vgl. Kramers Monolog im Angesicht der Leiche seines Sohnes Arnold: „Sehn Se, nun hat ihn der Tod gehoben. - Nun ist alles voll Klarheit um ihn her […]. […] [N]un ist er mir so ins Erhabne gewachsen“ (CA 1, 1169). 248 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus der abstoßenden Plastizität des Bildes einerseits und der lyrischen Syntax mit ihrer biblisch anmutenden, antikisierenden Sprache und der Inversion andererseits, die zu einer verstörenden Ästhetisierung der hässlichen Würdelosigkeit führt. Am Ende wird die „Majestät“ von heftigen Zweifeln an der Existenz eines Jenseits, an der Möglichkeit von Transzendenz überlagert, die sich in immer drängenderen rhetorischen Fragen und subjectiones äußern: „Was wartet noch der Herr? […] / […] / Oder - wird niemand kommen? / Und werden wir langsam zerfallen, / […] Zerbröckeln in Nichts“ (V. 77, 105-106, 109). Zwar ist die Möglichkeit einer Erhabenheit des (toten) Menschen noch vorhanden - das unterscheidet Heyms Gedicht von Gottfried Benns Morgue -Zyklus -, doch nur mit ernsthaften Vorbehalten. Aufschlussreich ist die motivische und ästhetische Gestaltung jener lyrischen Texte, die würdelose Figuren zum literarischen Sujet erheben. So konkretisieren viele Gedichte die räumliche Ausgrenzung der vermeintlich Würdelosen, die sich im Abseits befinden oder bewegen. 91 Um die Vorstellung der Menschenwürde aufrechterhalten zu können, scheint die Gesellschaft das Kranke, Irre, Tote - das Würdelose - mithilfe von Verdrängungs- und Ausschlussmechanismen an die Ränder zu verschieben. Doch die expressionistische Lyrik rückt gerade dieses Würdelose in den Fokus und zeigt dabei eine auffällige Tendenz zur verallgemeinernden, generischen Bezeichnung, abzulesen an den Titeln der Gedichte, die häufig bestimmte Artikel enthalten und die behandelten Figuren gewissermaßen als bekannt einführen. 92 Die Gedichte werden so zu eindringlichen Erinnerungen an das verdrängte Würdelose. Gleichzeitig fungieren die einzelnen Figuren als Typen, die eine kranke, verfallende, verkommene, würdelose Gesellschaft indexikalisch beschreiben. Dabei leistet gerade die Lyrik, wenn sie Themen aufgreift, die der expressionistischen Forderung nach Überwindung jeglicher Tabus und bürgerlicher Geschmacksurteile vollends entsprechen, eine bemerkenswerte Ästhetisierung des 91 Sie sind in die Vorstadt, ins Gefängnis, den Garten der Irren oder die Morgue verbannt, liegen in Büschen oder „sitzen […] weit am Weg“ (Die Tauben; DS 1, 332, V. 22), irren „[i]n Bäumen“ (Die Selbstmörder; DS 1, 473, V. 1) oder hocken metaphorisch „heulend nachts auf Kuppeln brennender Paläste“ (Becher, Der Idiot; LEV 84, V. 4). - Vgl. hierzu auch Heyms Erzählung Jonathan . Hier wird der Kranke Jonathan zum gesellschaftlich Geächteten, versinnbildlicht durch die Abgeschieden- und Abgeschlossenheit des Krankenzimmers. Selbst der Kontakt zu einer anderen Kranken - seine einzige Trost- und Kraftquelle - wird ihm, der unter medizinischer wie sozialer „Quarantäne“ steht, verwehrt. Das Ausgestoßensein, das seinen frühen Tod letztlich beschleunigt, hat er offenbar verinnerlicht: „Die Scham war das einzige Gefühl, das ihm geblieben war“ (DS 2, 48). Zu dieser Erzählung vgl. auch Anz, Literatur der Existenz, S. 50-51. 92 Vgl. Heyms Die Irren , Der Bucklige , Die Somnambulen , Die Tauben , Die Blinden , Die Selbstmörder und Die Gefangenen , Ehrensteins Der Selbstmörder , Bechers Der Idiot , Zechs Der Idiot sowie Werfels Die Morphinistin . VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 249 Würdelosen mithilfe des gesamten Inventars lyrischer (formaler wie sprachlichrhetorischer) Verfahren. Heym bannt das Würdelose in strenge, geschliffene und wohlklingende lyrische Formen; meist sind seine Verse metrisch regelmäßig - vor allem im Vergleich zu den freien Rhythmen und freien Versen einiger Zeitgenossen - und gereimt, häufig bedient er sich des engen Formkorsetts des Sonetts. Die formale, äußere Strenge - die Würde der Form, die Edschmid despektierlich abwertete 93 -, kollidiert auf eklatante Weise mit dem vermeintlich würdelosen Inhalt, der bisweilen, etwa durch Metaphern und Vergleiche, mit dem ‚Schönen‘ assoziiert wird. Der Autonomieverlust und die Paranoia der „Irren“ werden in ein fast melancholisches Naturbild gefasst: „Hinter uns gehet noch Schall, und das dumpfe Rauschen / <Wie von> stillen Wassern, versunkener Welt“ (DS 1, 449, V. 13-14). Den getriebenen Schlafwandlern, die mit „Rauch so weiß, der weit den Himmel füllt“, und „Wolken“, die „durch die Nacht“ fliegen, „[h]och über spitzer Berge blauem Grat / Hinauf zu ihm auf ihrer leichten Reise / Zu einem Wiegenlied an Abgrunds Pfad“ (DS 1, 257, V. 4 bzw. 17-20), verglichen werden, fehlt zwar die Fähigkeit, bewusst und selbstbestimmt zu handeln, doch ihr Zustand wird mit geradezu kosmischen Assoziationen überhöht. Morphologische und syntaktische Abweichungen von der Standardsprache („gehet“, die Stellung der Genitivobjekte, Inversionen), sinnliche Elemente (Farben, Geräusche) und bildstarke Evokationen verbinden sich zu einer hochpoetischen Darstellung des Bedrückenden, Hässlichen, Unwürdigen. Einige der genannten Gedichte nehmen schließlich die Perspektive der vermeintlich Würdelosen ein. Die Toten (Heym, Die Morgue ), die Irren (Heym), der Selbstmörder (Ehrenstein) und die Süchtige (Werfel, Die Morphinistin ) werden zum lyrischen Wir bzw. Ich. Perspektive, Wahrnehmung und Erleben der lyrischen Sprecher werden dem Rezipienten nicht als verwerflich, moralisch anstößig oder lächerlich präsentiert, sondern erfahren eine Apologie; gerade durch Literarisierung und Ästhetisierung wird das aus bürgerlicher Sicht Würdelose, Kranke und Unanständige - ganz im Sinne Musils - legitimiert, vermenschlicht und gewürdigt. Der würdelose Mensch als literarisches Sujet hat in der expressionistischen Literatur demnach zwei gegensätzliche Funktionen: Einerseits verweist das würdelose Personal der lyrischen Texte metonymisch auf die in den Augen der Expressionisten kranke, beschädigte und dem Untergang geweihte Gesellschaft, ja die würdelose Menschheit schlechthin. Andererseits erfährt das literarisierte Würdelose als Quelle unbekannten, bürgerliche Normen sprengenden Erlebens eine ungemeine Aufwertung und Legitimierung. 93 Vgl. oben, S. 237. 250 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus VI.2.2. „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“-- Die Reduktion des Menschen, der würdelose menschliche Körper und die Destruktion der Menschenwürde Die Integration vermeintlich würdeloser Figuren in die Literatur zum Zwecke der metonymischen Beschreibung einer würdelosen, dekadenten Gesellschaft orientiert sich an einem bürgerlichen Würdebegriff, der bewusst verletzt und somit implizit als unangemessen zurückgewiesen wird. Manche der berüchtigtsten Texte des Expressionismus gehen noch einen Schritt weiter: Drastisch und direkt bekämpfen, ridikulisieren und destruieren sie die Vorstellung der besonderen Würde des Menschen Seinen apodiktischen Vers „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“ ( SA 1, 14) bezeichnet Benn, wie bereits dargelegt, als „ungoethisch“. Johannes R. Bechers Gedicht Beengung zielt in eine ähnliche Richtung: 94 Zur Klage über das enge, langweilige, übersättigte Dasein gesellt sich die Einsicht, dass ebendieses Dasein die „Körper“ „in giftigen Räuschen entheiligt“ (V. 3). Die zufriedenen „Spießbürger hocken“ in Cafés, „[u]nd Goethe glänzt, aufrecht und widerlich“ (V. 13-14). Einige Strophen später wird der Verlust des Glaubens an Gott thematisiert: „Er [i. e. Gott; MG ] hat uns geraubt / Die Kräfte. Verwarf uns zu Fetzen und Scherben“ (V. 37-38). Wie bei Benn steht Goethe auch hier für ein Menschenbild, das als fragwürdig („widerlich“) wahrgenommen wird, und die damit verbundene Vorstellung des menschlichen Körpers als schöne, gesunde, intakte, abgeschlossene Einheit - eine Vorstellung, die die Wirklichkeit widerlegt („entheiligt“; „Fetzen und Scherben“) und die deshalb verlogen wirkt. 95 Neben der durch Goethe symbolisierten humanistischen Menschenwürdevorstellung wird auch die dezidiert christlich geprägte Variante - im Gedicht durch den Hinweis auf den Abfall von Gott suggeriert - abgelehnt. Die im Folgenden analysierten Texte vollziehen die ästhetische Demontage der Menschenwürde. War das würdelose Personal bei Heym bisweilen hässlich und abstoßend, so offenbaren die nun zu betrachtenden Gedichte noch einmal eine andere Stoßrichtung und einen deutlich schärferen Ton. Bei Heym finden sich hierfür bereits vereinzelte Beispiele. Im langen Gedicht Das Infernalische Abendmahl etwa, das ein höllisch-rauschhaftes Treiben schildert, wird ein „Hochaltar“ beschrieben, 94 Johannes R. Becher, Beengung, in: Lyrik des Expressionismus, hg. v. H. Schmidt-Bergmann unter Mitarb. v. S. Hermann, Stuttgart 2003, S. 28-29. Zitate aus Gedichten, die in dieser Anthologie zu finden sind, werden im Folgenden im Text in der Form (LES Seitenangabe, V. Versangabe) belegt. 95 Die Identifikation Goethes mit dem Gesunden findet sich später auch bei Thomas Mann (in seinem Essay Goethe und Tolstoi ). Hier wird freilich das von Schiller verkörperte Kranke zu einer besonderen Form der Menschenwürde. Vgl. hierzu Wetz (Hg.), Texte zur Menschenwürde, S. 176-177 und 182-186. VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 251 „[d]en tausend Kerzen schmücken, die von Blut / Und Fett der Ungebornen sind gedreht. / Wo Knochen hängen, und der rote Sud / Teuflischen Weihrauchs euch entgegenweht“ ( DS 1, 231, V. 13-16). In diesem Bild wird der menschliche Körper auf eklige Weise ver- und entwertet; die surreal-phantastische Atmosphäre des Textes jedoch schwächt diese Entwürdigung gleichsam ab. Ganz anders klingen die Gedichte Gottfried Benns aus dem expressionistischen Jahrzehnt. 96 * Benns expressionistische Lyrik 97 negiert die Menschenwürde durch vier Strategien: (1) den Fokus auf Tod und Krankheit des Menschen und seines Körpers, (2) die Schilderung seiner Desintegration, (3) die Beschreibung der hässlichen Kreatürlichkeit des Menschen sowie (4) die explizite Ridikulisierung der Vorstellung einer besonderen menschlichen Würde. Die Gedichte kennzeichnet ein extremer Realismus, ein medizinisch geschulter und abgehärteter, bisweilen kalt und emotionslos registrierender, nüchtern beschreibender Blick. Dieser Blick bedingt die brutale, schockierende Integrierung gänzlich unlyrischer Themen in die Lyrik. 98 (1) Die explizite Beschreibung von Leichen und Kranken führt drastisch die menschliche Vergänglichkeit, das Prekäre der conditio humana vor Augen. Die Morgue -Gedichte thematisieren die Sektion eines „ersoffenen[n] Bierfahrer[s]“, einer jungen weiblichen Wasserleiche, einer „Dirne“, einer „weißen Frau“ und eines „Nigger[s]“ sowie mehrerer, nicht genau beschriebener Toter. 99 Auch Fleisch ( SA 1, 28-32) führt den Rezipienten in ein Leichenhaus, in dem sich u. a. eine „Kinderleiche“ (V. 5), eine „Schwangere“ (V. 10), mehrere Männer, ein „Selbstmörder“ (V. 92) und ein „Jüngling“ (V. 100) befinden. In manchen Gedichten werden überall Krankheit und Verfall wahrgenommen: „zerfallene Schöße“, „zerfallene Brust“, Tumore („Knoten“) und „verkrebste[r] Schoß“ in Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke ( SA 1, 16, V. 2, 3, 10 und 15), die allgegenwärtigen körperlichen Leiden und Makel in Nachtcafé ( SA 1, 19), schließlich die unappetitliche Aufzählung von Krankheiten in Der Arzt ( SA 1, 14-15). Bei den 96 Zu Benns Stellung zum Expressionismus vgl. Theo Meyer, Gottfried Benn und der Expressionismus. Unter besonderer Berücksichtigung der Lyrik, in: Gottfried Benn, hg. v. B. Hillebrand, Darmstadt 1979, S. 379-408. 97 Grundlage der folgenden Ausführungen sind v. a. jene Gedichte, die 1917 in der Sammlung Fleisch erschienen sind. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Zyklus Morgue und andere Gedichte (1912) und den beiden Texten Der Arzt (1917) und Fleisch (1917). 98 Den expressionistischen Wunsch, unter die Oberfläche vorzudringen und den äußeren Schein zu hinterfragen, artikuliert programmatisch der männliche Sprecher in Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke : „Komm, hebe ruhig diese Decke auf “ (SA 1, 16, V. 5). 99 Vgl. Kleine Aster , SA 1, 11, V. 1; Schöne Jugend , SA 1, 11, V. 1; Kreislauf , SA 1, 12, V. 1; Negerbraut , SA 1, 12, V. 2 und 7; Requiem , SA 1, 13, V. 1-2 („Auf jedem Tisch zwei. Männer und Weiber / kreuzweis“). 252 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus Toten und Kranken handelt es sich in den allermeisten Fällen nicht um alte, sondern um tendenziell junge, eigentlich vitale Menschen. 100 Zwei Gedichte setzen sogar Geburt und Tod unmittelbar in Verbindung: In Saal der kreissenden Frauen wird in der letzten Strophe bereits der Tod der soeben Geborenen vorweggenommen ( SA 1, 17, V. 23-24); in Der Arzt führt die Feststellung der allgegenwärtigen Krankheit zu einem grundsätzlichen Urteil über den Menschen und sein Leben. Die „Frucht“, heißt es dort, „wird sehr häufig schon verquiemt geboren“ ( SA 1, 15, V. 44-45); es folgt eine Liste möglicher Missbildungen. Und weiter: „[A]ber selbst was heil / endlich ans Licht quillt, ist nicht eben viel“ ( SA 1, 15, V. 48-49). Diese Verse sind zweideutig: Sagen sie zum einen aus, dass mengenmäßig nicht viele Neugeborene kerngesund sind, schreiben sie zum anderen dem Leben, auch dem neugeborenen, einen Wert zu: „nicht eben viel“. Das verwendete Pronomen („was“) enthumanisiert, reduziert, verdinglicht und entwertet den Menschen und seinen Körper zusätzlich. Die Universalität und die Ubiquität von Krankheit und Tod lassen das Gesunde als Ausnahme erscheinen. Ein solch anfälliges Wesen wie der Mensch kann, so wird suggeriert, keinen besonderen Wert, keine besondere Würde besitzen. Wie schon bei Heym sind das Sterben und der Tod zudem keinesfalls würde- oder weihevolle Vorgänge; vielmehr führen sie die Würdelosigkeit des Menschen besonders plastisch und schockierend vor Augen. 101 (2) Benns Gedichte verabschieden sich zudem von der Vorstellung des menschlichen Körpers als abgeschlossenes Ganzes . In der Morgue werden die Leichen aufgeschnitten; bisweilen werden sie - nicht metaphorisch, sondern tatsächlich - zu Gefäßen oder Wirten, in Kleine Aster für eine Blume, für Ratten in Schöne Jugend . 102 Mit dem Aufschneiden des Körpers geht seine Zerstückelung, seine Partialisierung einher. „Zunge und Gaumen“ werden herausgeschnitten ( Kleine Aster ; SA 1, 11, V. 7), ein Zahn wird herausgeschlagen ( Kreislauf ; SA 1, 12, V. 6). Von den Toten bleiben nur noch Einzelteile übrig: „Jeder drei Näpfe voll: von 100 Eine Ausnahme ist die in Der Arzt erwähnte „Greisin“ (SA 1, 15, V. 31). 101 Vgl. dazu auch Kiesel, Sterben in der Schönen Literatur, S. 205-207: Der Expressionismus, so Kiesel mit Verweis auf Benns Morgue -Gedichte, offenbare die „Brutalität manches Sterbens und die Unversöhnlichkeit des Todes“. Das Gedicht Requiem zeige, „dass das, was vom Menschen bleibt, dazu geeignet ist, die Vorstellung von Gottebenbildlichkeit und Heilsgeschichte als gegenstandslos erscheinen zu lassen“. Zudem markiere Benns Zyklus einen literarhistorischen Bruch: „Spätestens von da an […] kann Sterben anders beschrieben werden, als in der Literatur des poetischen Realismus: drastisch, schockierend, als ein schrecklicher Destruktionsprozess, der nicht versöhnlich gezeigt werden kann und auch nicht schön […].“ 102 Vgl. dazu Thomas Wegmann, Die Moderne tiefer legen. Gottfried Benns Ästhetik der parasitären Störung, in: Gottfried Benns Modernität, hg. v. F. Reents, Göttingen 2007, S. 55-74, hier v. a. S. 62. VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 253 Hirn bis Hoden. / […] Der Rest in Särge. Lauter Neugeburten: / Mannsbeine, Kinderbrust und Haar vom Weib“ ( Requiem ; SA 1, 13, V. 5 und 9-10). Wie der menschliche Körper wirkt auch die elliptische Syntax zerstückelt. Der Mensch, seine Leiche und deren Teile werden zu wertlosen Objekten verdinglicht - der Backenzahn hat wegen der Goldplombe immerhin noch einen Tauschwert, der Inhalt der „Näpfe“ jedoch erscheint wie Abfall. Einen inhärenten Wert hat weder der Mensch an sich noch sein toter Körper noch. 103 Diese Reduktion des Menschen zu unedlen Teilen findet ihre Entsprechung in der synekdochischen und metonymischen Reduktion des Menschen in Nachtcafé . Der erste Vers mit seinem Bezug zu Robert Schumanns Vertonung von Chamissos Gedichtzyklus Frauenliebe und -leben (1830) gibt die Richtung vor: Chamissos weibliches Ich macht sich in totaler Leugnung seines Eigenwerts zu einem Teil, zu einer Funktion des Mannes. In Benns Gedicht nimmt der Sprecher mit seinem medizinischen Blick ebenfalls weniger menschliche Individuen als Gegenstände und Krankheitssymptome wahr, hinter denen jene vollständig verschwinden. 104 Der depersonalisierte, versachlichte Mensch ist nur noch Funktion oder abstoßendes, krankhaftes Symptom. 105 Der Körper wird schließlich zu etwas Offenem, Undichtem, dessen vermeintlich klare Grenzen beschädigt und durchlässig sind. Aus der aufgeschnittenen Leiche einer Frau strömt „ein Purpurschurz aus totem Blut“ ( Negerbraut ; SA 1, 12, V. 17), eine Krebskranke „blutet wie aus dreißig Leibern“ ( Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke ; SA 1, 16, V. 12). In Der Arzt wird gleich zweimal auf Inkontinenz verwiesen ([ SA 1, 14, V. 27; SA 1, 15, V. 31) und verallgemeinernd festgestellt: „[U]nd durch die Löcher tropft die Erde“ ( SA 1, 15, V. 50). Der Begriff der „Erde“ hat bei Benn eine besondere Bedeutung; auch in Kreislauf („nur Erde soll zur Erde werden“; SA 1, 12, V. 9) und Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke („Erde ruft“; SA 1, 16, V. 24) ist er prominent - jeweils im letzten Vers - platziert. Benn zitiert so biblisches Pathos an (vgl. 103 Vgl. ähnlich Frank Krause, der mit Bezug auf das Gedicht Requiem aufzeigt, dass „die Würde des toten Körpers“ auch „aus religiöser Sicht“ verletzt wird (Literarischer Expressionismus, Paderborn 2008, S. 151-152). 104 Vgl. SA 1, 19: „Das Cello trinkt rasch mal“ (V. 2) bzw. „Bartflechte kauft Nelken“ (V. 12). Diese Art der Reduktion des Menschen begegnet markant auch in der ersten Strophe von Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke . Die Dahinsiechenden werden verdinglichend und reduzierend entweder synekdochisch durch ihre „zerfallene[n]“ Körperteile - „Schöße“ und „Brust“ - oder metonymisch durch das „Bett“, in dem sie „stink[en]“, bezeichnet (SA 1, 16, V. 2-4). 105 Vgl. dazu auch Klaus Vondung, „Schön bei allem Grausigen“. Zur ambivalenten Faszination des Häßlichen zwischen Fin de siècle und Expressionismus, in: Im Schatten des Schönen (wie Anm. 68), S. 173-184, bes. S. 179 und Vietta / Kemper, Expressionismus, S. 61-68; hier wird die Synekdoche als „Ausdruck der Depersonalisierung“ gedeutet. Vgl. v. a. ebd., S. 66-67. Vgl. weiterhin Gerhard Sauder, Gottfried Benn: „Morgue und andere Gedichte“, in: Der Deutschunterricht 42.2 (1990), S. 55-82, hier S. 77-78. 254 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus Gen 3,19) - nur verliert die Vorstellung einer metaphysischen Vertröstung oder einer Erlösung im Jenseits in seinen Texten jede Gültigkeit. Es kann also auch keine metaphysische Würdegarantie geben; vielmehr ist die Eingliederung des Menschen in den natürlichen Kreislauf ein reales, rein diesseitiges Faktum. (3) Neben der Desintegration des menschlichen Körpers rücken seine meist radikal, ekelhaft und obszön geschilderte Fleischlichkeit, Kreatürlichkeit und Triebhaftigkeit in den Fokus. 106 Immer wieder evozieren die Gedichte - diese doch vermeintlich hehre Gattung - Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen wie Blut, Urin, Kot und Sperma. 107 Diese werden nicht bloß erwähnt, sondern erscheinen hypernaturalistisch als wesenhaftes Charakteristikum des Menschen. Die Neugeborenen etwa werden (mit ketzerischen Anklängen an das christliche Taufritual) mit „Urin und Kot [einge]salb[t]“ ( Saal der kreissenden Frauen ; SA 1, 17, V. 16). Hieran knüpft sich die Darstellung der menschlichen Kreatürlichkeit mitsamt ihrer Pathologie. Darauf weist der männliche Sprecher in Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke mit Nachdruck hin. „Sieh“, fordert er seine Begleiterin auf und bezeichnet eine Kranke als „Klumpen Fett und faule Säfte“ (SA 1, 16, V. 6), oder: „Fühl ruhig hin“, und zu erfühlen ist Fleisch, das „weich“ ist (V. 11). Außerdem „stink[en]“ die Kranken (V. 4). An die Stelle des Individuums und seines Schicksals tritt die Faszination für das Abstoßend-Kreatürliche des menschlichen Körpers. Diesen Gestus hat auch das lyrische Ich in Der Arzt : „Mir klebt die süße Leiblichkeit / wie ein Belag am Gaumensaum“ ( SA 1, 14, V. 1-2). „Leiblichkeit“ wird als Thema des Gedichts bestimmt, mithin als Essenz der menschlichen Existenz. Dies schließt auch die körperlichen Ausdünstungen des Menschen ein: „Ich weiß, wie Huren und Madonnen riechen / nach einem Gang und morgens beim Erwachen / und zu Gezeiten ihres Bluts“ (V. 6-8). Kurz darauf wird dies noch einmal artikuliert: „Ich lebe vor dem Leib: und in der Mitte / klebt überall die Scham“ (V. 16-17). Wie die Gerüche, die mit kaum beeinflussbaren körperlichen Vorgängen assoziiert sind, suggeriert auch der Hinweis auf die allgegenwärtige „Scham“: Der Mensch ist kein geistiges oder erhabenes Wesen, sondern durch und durch Trieb, determiniert und gesteuert durch seine Kreatürlichkeit, bestimmt von „Fraß und Paarung“ ( Das Unaufhörliche ; SA 1, 139, V. 108). 108 Die Triebhaftigkeit des kranken Menschen ist dabei geradezu obszön: „Mit Pickeln in der Haut und faulen Zähnen / paart sich das 106 Laut Eykman ist die „Häßlichkeit des Fleisches“ besonders in Benns früher Lyrik ein Leitmotiv. Vgl. Zur Funktion des Hässlichen, S. 135 u. 138-151. - Zum Begriff der Kreatürlichkeit vgl. auch Rothe, Expressionismus, S. 308-323. 107 Anz spricht von der „[n]egative[n] Ästhetik des ‚Abjekten‘“, die der Expressionismus kultiviert (Expressionismus, S. 163-173, hier v. a. S. 169). 108 Vgl. Nachtcafé V , SA 2, 40, V. 60-62: Der Mensch sei „viele vier Liter Blut, von denen dreie / am Darm sich mästen; und der vierte / strotzt am Geschlecht“. VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 255 in ein Bett und drängt zusammen / und säet Samen in des Fleisches Furchen / und fühlt sich Gott bei Göttin“ ( Der Arzt III ; SA 1, 15, V. 41-44). Den Sinn der obszönen Beschreibung menschlicher Fleischlichkeit offenbart der in diesen Versen etablierte Kontrast: Dem pejorativ-abwertenden Pronomen „das“ steht die menschliche Einbildung („fühlt“) entgegen, ein „Gott“, mithin ein Ebenbild Gottes und daher mit einer besonderen Würde ausgezeichnet zu sein. Diese Arroganz wird von Benn radikal offengelegt und gründlich demontiert. 109 Die unterschiedlichen Reduktionen des Menschen - auf den kranken, toten Körper, auf die hässliche, triebhafte Kreatürlichkeit, auf entwertete Körperteile - rauben ihm jede Individualität und jede Personalität - und somit jede Würde. (4) Die explizite, höhnische Negation der Menschenwürde schließlich begegnet in mehreren Formen. Erstens verrät bisweilen die konkrete Wortwahl, dass dem Signifikaten Mensch kaum Respekt entgegengebracht wird. 110 Der verunglückte „Bierfahrer“ wird schroff als „ersoffener“ bezeichnet ( Kleine Aster ; SA 1, 11, V. 1), die sezierten Körper sind nichts als „[d]er Rest“ ( Requiem ; SA 1, 13, V. 9), und der Nachwuchs, der der menschlichen Paarung entspringt, wird biologistisch zur „Frucht“, die dann mit den unbestimmten, unpersönlichen Pronomina „das“ und „was“ weiter abgewertet wird ( Der Arzt III ; SA 1, 15, V. 44, 45 bzw. 48). Zärtlich-feierlich wird die Sprache an zwei markanten Stellen des Morgue -Zyklus ironischerweise gerade nicht in Bezug auf den Menschen, sondern auf eine Pflanze („Ruhe sanft, kleine Aster! “; Kleine Aster ; SA 1, 11, V. 14-15) und auf Ratten („Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten! “; Schöne Jugend ; SA 1, 11, V. 12). 111 109 Vgl. ähnlich Vondung, „Schön bei allem Grausigen“, S. 182: „Mit der Reduktion des Menschen auf häßliche Attribute und mit der ‚Verhäßlichung‘ des Menschen durch die Wiedergabe verstümmelter, geöffneter, desintegrierter Körper wurde das Schöne und das Wahre attackiert, all das, was in der christlich-abendländischen Tradition die Würde des Menschen auszeichnete.“ Vgl. auch Krause, Literarischer Expressionismus, S. 152. 110 Vgl. dagegen Walter Delabar, der in Benns Morgue „auffallend wenige Spuren der Depersonalisierung, die immer wieder in diesen Texten gesehen worden ist“, feststellt. Erst in Der Arzt finde man zudem „jenen schon für Morgue behaupteten Zynismus“ (Inversion des Begehrens. Gottfried Benns Morgue , in: Gottfried Benn (1886-1956). Studien zum Werk, hg. v. W. D. u. U. Kocher, Bielefeld 2007, S. 13-35, hier S. 24 und 25). Gleichwohl gesteht auch Delabar ein: „Es fehlen freilich sämtliche Attribute des konventionellen Umgangs mit dem Tod: das Entsetzen über den entseelten Körper, die Weihe und Würde, die ihm zugeschrieben werden, die Trauer über den Verlust des Menschen […], die Reflexion über die Vergänglichkeit menschlicher Existenz […], das Vanitas-Motiv […]“ (ebd., S. 28). Eykman hingegen sieht gerade in dem „höhnenden und anklägerischen Ton“ dieser Gedichte, im „Willen zum Befremdlichen“, im „aufrüttelnden Schock“ das typisch Expressionistische in Benns Frühwerk (Die Funktion des Hässlichen, S. 135). 111 Vgl. dazu auch Meyer, Gottfried Benn und der Expressionismus, S. 386. 256 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus Zweitens negiert Benn den vermeintlichen Sonderstatus des Menschen ganz offen. Die berüchtigten Verse: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch -: / geht doch mit anderen Tieren um! “ ( Der Arzt II ; SA 1, 14, V. 21-22) sprechen dem Menschen seine ihm nach der christlichen Vorstellung im göttlichen Schöpfungsakt (Gen 1,26-28) verliehene Würde ab. Nicht nur ist der Mensch selbst ein Tier - sogar ein besonders unedles -, sondern er ist Teil eines Kosmos der Tierhaftigkeit, der Triebhaftigkeit, der Krankheit und des Unrats. 112 Auch die Worte, die der Selbstmörder in Fleisch höhnisch den anderen Leichen entgegenschleudert, artikulieren die Ablehnung und die Unangebrachtheit des Anspruchs auf Menschenwürde: „Kläfft nicht, ihr Laffen! Pack! Pöbel! / Männer, behaart und brünstig, Frauentiere, feige und heimtückisch, / aus eurem Kotleben fortgeschlagen, / umgreint vom Menschenvieh“ ( Fleisch ; SA 1, 31, V. 93-96). Die Vorstellung, dass der Mensch als gottebenbildliches Geschöpf Würde besitzt, verliert ihre Gültigkeit: „Der Schöpfungskrone gehn die Zinken aus“ (V. 109). Drittens wird, ähnlich wie bei Nietzsche, auf die Gründe hingewiesen, warum der Begriff der Menschenwürde so wirkmächtig ist und warum an ihm festgehalten wird. Zum einen nämlich dient er der Sublimierung von Kreatürlichkeit und Triebhaftigkeit, fungiert also als Mittel der deplatzierten Selbsterhebung: „Gott / als Käseglocke auf die Scham gestülpt -: / der gute Hirte -! ! - - Allgemeingefühl! - / Und abends springt der Bock die Zibbe an“ ( Der Arzt III ; SA 1, 15, V. 57-60). Die Diskrepanz zwischen der lakonischen, theriomorphisierenden Beschreibung des Geschlechtsverkehrs und der einigermaßen schiefen Metapher der Käseglocke sowie den auratischen Begriffen („Gott“, „Hirte“) und dem durch die Gedankenstriche und Ausrufezeichen suggerierten und sogleich ridikulisierten Gefühl der Erhabenheit ist eklatant. Zum anderen erscheint die Menschenwürde als gesellschaftliches Mittel, die - um mit Nietzsche zu sprechen - Sklaven mithilfe von restriktiver, christlich geprägter Moral und Todesangst ruhig zu halten: „Man hat uns belogen und betrogen / mit Gotteskindschaft, Sinn und Zweck / und dich [i. e. den Tod; MG ] der Sünde Sold genannt“ ( Wir gerieten in ein Mohnfeld ; SA 1, 21, V. 10-12). Die mitunter höhnisch-anklägerischen Verweise auf Gott stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der von Nietzsche übernommenen Kritik an metaphysischen Sicherheits- und Tröstungsversprechen und mit Benns eigener Kritik an Theologie und Kirche. 113 Viertens schließlich kann auch die Vernunftfähigkeit des Menschen nicht die Quelle seiner Würde sein: „Das Gehirn ist ein Irrweg. Stein fühlt auch das 112 Vgl. auch: „[W]ir sind und wollen nichts sein als Dreck“ ( Wir gerieten in ein Mohnfeld ; SA 1, 21, V. 9). 113 Vgl. dazu etwa Silvio Vietta, Zweideutigkeit der Moderne: Nietzsches Kulturkritik, Expressionismus und literarische Moderne, in: Die Modernität des Expressionismus, hg. v. T. Anz u. M. Stark, Stuttgart / Weimar 1994, S. 9-20, hier v. a. S. 16-17. VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 257 Tier. / […] Das Hirn verwest genauso wie der Arsch! “ ( Fleisch ; SA 1, 29 und 31, V. 40 und 102). Die nüchterne Realität der unabwendbaren menschlichen Vergänglichkeit ist ein Faktum, das jeden Versuch der Vergeistigung und der Glorifizierung des Menschen von vorneherein delegitimiert. Statt sich als animal rationale zu sehen, bleibt dem Menschen nur die Akzeptanz seiner tierhaften Kreatürlichkeit. * Benns Ästhetik der Würdelosigkeit unterscheidet sich von jener Heyms nicht nur durch die hier umrissene Motivik, sondern vor allem in der Art ihrer ästhetischen Umsetzung. Die besprochenen Gedichte sind charakterisiert durch (1) eine Tendenz zum Aufbrechen strenger, starrer lyrischer Formen hin zum freirhythmischen Sprechen, (2) eine Tendenz zum demonstrativ plauderhaften, kalten, nüchternen, bisweilen höhnischen Ton, (3) eine Tendenz zum Verzicht auf Besonderheiten lyrischer Syntax wie die Inversion zugunsten eines prosanahen Stils, der allerdings häufig durch (4) Ellipsen und Verknappungen gekennzeichnet ist, sowie (5) einen weitgehenden Verzicht auf ein prononciert metaphorisches Sprechen zugunsten von Metonymien und Synekdochen. 114 Im Gegensatz zu Heym ist bei Benn weniger eine Ästhetisierung der menschlichen Würdelosigkeit zu beobachten als vielmehr eine Entmystifizierung, eine Erdung der Lyrik, die aus der obsessiven lyrischen Beschäftigung mit der Würdelosigkeit des Menschen folgt. Benns lyrischer Angriff auf die Menschenwürde vollzieht sich gleich an mehreren Fronten: Zurückgewiesen werden die christliche Vorstellung des Menschen als besonderes, gottähnliches Geschöpf, das humanistisch-aufklärerische Bild des schönen, gesunden, aufrechten Menschen sowie das idealistische Bild des vernunftfähigen, moralischen Wesens Mensch. 115 In seiner expressionistischen Lyrik vertreibt Benn - um es mit einer abgewan- 114 Diese grobe Charakterisierung beschreibt freilich lediglich Tendenzen, die im Einzelfall durchaus unzutreffend sein können. So ist Benns Gedicht Requiem formal und metrisch konventionell; auch Metaphern sind hier zu finden („Gottes Tempel“, „des Teufels Stall“; SA 1, 13, V. 6). Gleichwohl sind diese verallgemeinernden Feststellungen hilfreich, um Benns Ästhetik der Würdelosigkeit von jener Heyms abzugrenzen. 115 In der Deutung Eykmans ist Benns „herausfordernde[] Haltung“ Ausdruck von „Verzweiflung“, verweist aber auch auf die „Sehnsucht nach einem schöneren und würdigeren Bild des Menschen“ (Zur Funktion des Hässlichen, S. 141). Ebd., S. 150 fasst Eykman zusammen: „Dies also ist das Menschenbild in der Lyrik des frühen Benn: der Mensch ist ganz auf seine Leiblichkeit in all ihren häßlichen Aspekten reduziert, er wird dem Tiere gleichgestellt. Jeder Gedanke einer höheren Abstammung löst Hohn aus.“ - Vgl. auch Meyer, Benn und der Expressionismus, S. 398, der feststellt, dass Benn, im Gegensatz etwa zu Werfel oder Rubiner, jeder „Menschheitsidealismus“ fehlt. 258 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus delten Formulierung von Ortega y Gasset auszudrücken - die Menschenwürde aus der Kunst. 116 * Das Motiv des würdelosen menschlichen Körpers und die Destruktion der Menschenwürdevorstellung lassen sich auch bei anderen Expressionisten nachweisen. Bei Alfred Lichtenstein etwa äußert sich zum einen die sog. Ichdissoziation als Verlust der ganz- und einheitlichen Körpererfahrung, 117 zum anderen wird die Desintegration des menschlichen Körpers zum Thema. In dem geradezu Bennschen Gedicht Die Operation ( LEV 76) „zerreißen Ärzte eine Frau“ (V. 1); die Brutalität des medizinischen Vorgangs und die Drastik des geöffneten Leibs kontrastieren schroff mit der Trivialität der „Pflegerin“, die „sehr innig sehr viel Wurst im Hintergrund [genießt]“ (V. 7-8). Dem geschilderten Vorgang - und auch dem menschlichen Patienten - wird so jede Würde genommen. Verfall und Tod des Menschen sind in vielen Gedichten kombiniert mit einer Ästhetik des Hässlichen und des Ekelhaften, die mit Vorliebe Körperflüssigkeiten wie Blut und Eiter, verwesende Leichen und Eingeweide aufgreift; als Beispiele seien Johannes R. Bechers Verfall ( LEV 79-81; V. 1: „Unsere Leiber zerfallen“), Gustav Sacks Der Tote ( LEV 83) oder René Schickeles Gesicht ( LES 25-26) genannt. Bisweilen wird der Verfall, z. B. in Hans Leybolds Der Tod des Menschen ( LES 31), als groteske Verwandlung und Verzerrung des menschlichen Körpers geschildert, oder das Sterben und die Verwesung werden, wie in Georg Trakls An einen Frühverstorbenen (LEV 86), durch eine elegische und bildreiche Sprache ästhetisiert. Allen Gedichten gemeinsam ist die klare Tendenz, der Vorstellung einer besonderen Menschenwürde das Fundament zu entziehen. 116 Vgl. José Ortega y Gasset, Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst (1925; La deshumanización del arte), in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Stuttgart 1955, S. 229-264. Ortega y Gasset bestimmt als Grundtendenz der „Neuen Kunst“ die Vertreibung des Menschen - als „Gegenstand“ und „Zielpunkt“ (S. 234) von Kunst - und des Menschlichen (in Form menschlicher Leidenschaften u. Ä.) aus dem Kunstwerk, zugunsten einer ‚reinen‘ Ästhetik, eines „wahrhaften ästhetischen“ (S. 234) - d. h. geistigen - Genusses. Diese Beobachtungen treffen in besonderem Maße auf die antimimetischen Strömungen der Avantgarde zu, lassen sich in Ansätzen aber auch schon im Expressionismus beobachten. Laut Ortega y Gasset ist die „Entmenschlichung“ ein Symptom der „Abneigung gegen die traditionelle Interpretation des Wirklichen“ (S. 257). Die jungen Künstler rebellieren gegen eine als überkommen wahrgenommene Kunst, deren Absicht u. a. war, „der menschlichen Spezies Rechtfertigung und Würde“ (! ) zu verleihen (S. 261). Bei Benn begegnet nun das, was Ortega y Gasset im Kontext seiner Ausführungen zur Metapher als den „seltene[n] Fall des herabsetzenden Bildes“ bezeichnet, „das die arme Wirklichkeit, statt sie zu adeln, schmäht und schwärzt. […] Die Lyrik wendet ihre Waffen gegen die Naturdinge, verwundet sie und bringt sie um“ (S. 249). Zu diesem Essay vgl. auch Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, S. 168-172. 117 Vgl. Alfred Lichtenstein, Nachmittag, Felder und Fabrik (LEV 73). VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 259 VI.2.3. Neue Menschen(würde)? Der Diagnose menschlicher Würdelosigkeit und der krassen Destruktion der Menschenwürde in der Lyrik Heyms bzw. Benns steht der Wunsch nach Erneuerung, Wiederherstellung und Neudefinition des Menschen und seiner Würde gegenüber. Direkt verknüpft sind diese beiden Pole in Johannes R. Bechers Gedicht Der neue Mensch (1919; LES 98-99). Aus Krankheit, Verletzung und Zerstörung („Der rollt gezückt aus dumpferen Schimmel-Höfen - / Mit Striemen tätowiert; zernagt von Pest“ [V. 1-2]) ersteht der ‚Neue Mensch‘ auf, eine Idee, die den Menschen aus der Würdelosigkeit erhebt: „O neuer Mensch! […] Nun gleichen alle dir! / Und wieder Gott du steigst aus Efeu-Wassern“ (V. 13-15). Der Neue Mensch wird explizit als Rehabilitation, als Neuanfang verstanden, der den Menschen wieder als besonders auszuzeichnen vermag („wieder Gott“). 118 Mittel dieser Rehabilitation ist der „Wille zur Menschheit“ (V. 23), die Besinnung auf das elementar Menschliche, das Wesentliche - das hier euphorisch gefeiert, aber keineswegs mit klarem Inhalt gefüllt wird. Diese messianische Tendenz zieht sich durch das gesamte expressionistische Jahrzehnt und ist bereits in den frühen Gedichten Franz Werfels stark ausgeprägt. Der konkrete Zusammenhang zwischen der messianischen Idee des Neuen Menschen und dem Menschenwürdebegriff in diesen Gedichten lässt sich als Zusammenspiel dreier Aspekte beschreiben: (1) des Verkündungspathos in Verbindung mit dem Schlagwort „Mensch“, (2) der bisweilen damit einher- 118 Das Konzept des Neuen Menschen ist kein rein expressionistisches, sondern ein Leitmotiv unterschiedlicher geistes-, sozial- und politikgeschichtlicher Bewegungen seit der Jahrhundertwende, das zu einer „Obsession des 20. Jahrhunderts“ wird. So wird der Neue Mensch nicht nur im ästhetisch-literarischen Kontext, sondern auch in jenem von zivilisationskritischen und neureligiösen Bewegungen, von Körperkult und Lebensreform, aber auch vor dem Hintergrund einer politisch-ideologisch-totalitären Erneuerung der Gesellschaft ausgerufen und beschworen. Vgl. hierzu etwa Nicola Lepp / Martin Roth / Klaus Vogel (Hgg.), Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts, Katalog zur Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum vom 22. April bis 8. August 1999, Ostfildern 1999; Cornelia Nowak / Kai Uwe Schierz / Justus H. Ulbricht (Hgg.), Expressionismus in Thüringen. Facetten eines kulturellen Aufbruchs, Jena 1999 (hier die Beiträge von Bernd Wedemeyer, Ulrich Herrmann, Meike G. Werner, Ulrich Linse und Bettina Irina Reimers); zu diesen beiden Bänden vgl. Thomas Anz, Der „Neue Mensch“ - eine Obsession des 20. Jahrhunderts. Zwei Ausstellungskataloge aus dem alten Jahr, in: literaturkritik.de 2.1 (2000) (http: / / literaturkritik.de / id / 752; letzter Zugriff: 03. 04. 2017). Vgl. weiterhin Alexandra Gerstner / Barbara Könczöl / Janina Nentwig (Hgg.), Der Neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, Frankfurt / M. [u. a.] 2006; Bernd Wedemeyer-Kolwe, „Der neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004; Katrin Löffler (Hg.), Der ‚neue Mensch‘. Ein ideologisches Leitbild der frühen DDR-Literatur und sein Kontext, Leipzig 2013. 260 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus gehenden religiösen Bezüge sowie (3) der besonderen Bedeutung der Verben „werden“ und „sein“. (1) Die messianisch-verkündenden Gedichte wie Bechers Mensch stehe auf! (1919; LEV 227-231) oder Werfels An den Leser (1911; WL 62-63) zeichnen sich meist durch ein enthusiasmiertes Sprechen, die eindringlich artikulierte Sehnsucht nach Aufbruch, nach Verwandlung und Erneuerung, nach dem Transzendieren des jetzigen Menschen sowie die feierliche Beschwörung des Neuen Menschen aus. Sprachlich äußert sich dies in den zahlreichen Exklamationen und rhetorischen Fragen, Ellipsen, Anakoluthen und Aposiopesen sowie Geminationsfiguren, die häufig mit mehrfachen Ausrufe- und / oder Fragezeichen versehen und mit Apostrophen an den Neuen Menschen oder den ‚Menschen an sich‘ kombiniert werden. 119 Sowohl die Syntax als auch das strikte Versmaß werden mitunter gesprengt; viele Gedichte haben sowohl extrem kurze als auch überbordend lange Verse, die in freien Rhythmen oder freien Versen gehalten sind. Augenfällig ist der hyperbolische Gebrauch des Substantivs „Mensch“ und anderer Vokabeln desselben Wortfelds in den Gedichten und in den Titeln. 120 Der von Benn so gründlich demontierte Mensch wird hier obsessiv besungen, und zwar gerade nicht, um seine Würdelosigkeit aufzuzeigen, sondern um ebendiese Würdelosigkeit zu überwinden. Verben, Adverbien und Präpositionen denotieren Aufwärtsbewegungen und fordern den ersehnten Aufschwung und die angestrebte Vervollkommnung des Menschen. 121 Ziel dieses Aufschwungs sind (recht allgemeine) Ideale und Werte wie die bedingungslose Brüderlichkeit und Gemeinschaft aller Menschen und die alle Menschen einende (Nächsten- und Menschen-)Liebe. 122 Dem Bild des kranken, würdelosen, entwürdigten 119 Vgl. etwa in Bechers Gedicht: „Wann endlich wirst du mein Bruder sein? ? “, „Sage mir, o Bruder Mensch, wer bist du? ! “, „Schütte dich aus! Bekenne erkenne dich! / Erhöre dich! Werde deutlich! “ (V. 15, 43, 101-102) sowie bei Werfel: „Mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein! “ (V. 1). 120 Um nur einige Gedichttitel zu nennen: Der neue Mensch , Mensch stehe auf ( Johannes R. Becher), Mensch zu Mensch (Gerrit Engelke), Der Mensch (Ludwig Rubiner), Der schöne strahlende Mensch , Du braver Mensch! , Der gute Mensch , Bessere Menschen , Die Menschheit Gottes Musikantin , Menschenblick (Franz Werfel). 121 Vgl. etwa Mensch stehe auf! (Becher); das mehrfach wiederholte „Empor! “ in Bechers Der neue Mensch ; „In deinem Aufschwung, Mensch, wird alles groß! “ (Werfel, Das Maß der Dinge ; WL 320); in Rubiners Der Mensch „[s]prang der Mensch in die Höh“ (LEV 231, V. 4). Die Sehnsucht nach einem Aufbruch, nach einer Verwandlung trägt etwa Werfels Gedichte Ode und Bessere Menschen (WL 47-48 bzw. 150-151). 122 Bei Becher trägt diese Vorstellung utopische und quasi-religiöse Züge im Sinne einer Apokatastasis: „Dann dann wirst du mein Bruder sein. / Dann dann wird gekommen sein jener endliche blendende paradiesische Tag unsrer menschlichen Erfüllung, / Der Alle mit Allen aussöhnt“ ( Mensch stehe auf! , V. 35-37). Bei Werfel wird die Verbrüderung der Menschen möglich durch das allen gemeinsame „Gefühl“ ( An den Leser , WL 62) sowie VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 261 Menschen steht demnach eine essentiell andere Vorstellung gegenüber: Der Mensch hat durchaus einen besonderen, herausragenden Wert - sonst würde er nicht auf eine solch euphorische und pathetische Art besungen werden -, gleichzeitig wird er aber auch an einem verlorenen bzw. noch nicht erreichten Status gemessen. (2) In den Gedichten Werfels ist das Problem der Menschenwürde mit einem besonderen Akzent versehen, insofern häufig religiöse Bezüge vorhanden sind und sogar explizit auf die Frage nach der Gottebenbildlichkeit des Menschen - eine Vorstellung, die Benn in seinen Gedichten lächerlich macht - angespielt wird. Dass der Mensch ein Geschöpf Gottes ist, wird nicht angezweifelt; das allein ist allerdings nicht der Grund seiner besonderen Würde. In den Gedichten Aufschwung und Warum mein Gott beklagt sich das lyrische Ich beim Schöpfer, dass es als elendes, würdeloses und schwaches Wesen geschaffen wurde: „Nun Du ein Ich mir gabst und mich erschufst / Zur Schwäche-Qual und daseinsdumpfer Engnis / Und zu entwürdigender Selbstkasteiung“ ( Aufschwung ; WL 69, V. 9-11). Auf die Frage, wie die Würdelosigkeit überwunden bzw. wie der Begriff der Menschenwürde neu gefasst werden kann, gibt Werfel verschiedene Antworten. „Aufschwung“ erscheint zum einen möglich als „Befreiung“ nach Gottes Ruf (vgl. Aufschwung ; WL 69, V. 14) oder als von Gott geschaffener „Seraph“ ( Warum mein Gott ; WL 147, V. 31). Zum anderen erhöht die Liebe den Menschen: „Sieh, wir auf Erden sind / Ebenbild Gottes so! “ ( Ein Liebeslied ; WL 149, V. 15-16). (3) Die entscheidende Neudefinition Werfels aber besteht in einem vitalistischen, existenzphilosophischen Würdebegriff. Besondere Aufmerksamkeit gebührt der spezifischen Verwendung zweier Verben: „werden“ und „sein“. Die prominente Rolle des Verbs „werden“ suggeriert den Glauben an das Entwicklungspotential des Menschen. 123 Die Annahme menschlicher Perfektibilität ist ein typischer Gedanke der aufklärerischen Geschichtsphilosophie, der im Expressionismus jedoch jede Bindung an Forderungen der ratio verliert. Die Losung „Mensch, werde wesentlich! “ - als Besinnung auf das implizit aufgewertete Menschsein - ist in Ernst Stadlers Gedicht Der Spruch ( LEV 220-221) ein Mittel gegen die Ich-Entfremdung. 124 In René Schickeles Abschwur ( LEV 225) wird die durch Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe (vgl. Du braver Mensch! [WL 58] und Ich habe eine gute Tat getan [WL 59-61]). 123 Vgl. auch die expressionistischen Wandlungsdramen etwa von Georg Kayser und Ernst Toller. Vgl. dazu Anz, Expressionismus, S. 47-48; Vietta / Kemper, Expressionismus, S. 195-204; Wolfgang Paulsen, Deutsche Literatur des Expressionismus, Berlin 2 1998, S. 165-203. 124 Der Ausspruch ist ein Zitat aus Cherubinischer Wandersmann (1675) des barocken Lyrikers und Mystikers Angelus Silesius. Vgl. Johannes Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann oder Geistreiche Sinn- und Schlussreime, hg. v. L. Gnädinger nach dem 262 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus Absage an Gewalt und Fremdbestimmung in der Selbstansprache des Ichs zu einem Selbstoptimierungsprojekt: „Wie ich die Welt will, / Muß ich selber erst / Und ganz und ohne Schwere werden“ (V. 16-18). 125 Das Verb „sein“ schließlich dient der explizitesten Reformulierung des Menschenwürdebegriffs. Der lakonische Titel der zweiten Gedichtsammlung Franz Werfels Wir sind (1913) setzt das Sein, die menschliche Existenz absolut - ohne jede weitere Bestimmung, Einschränkung oder Bedingung. Im Nachwort zur ersten Auflage kommentiert Werfel dieses ‚sein‘: [Die Gedichte der Sammlung] reden in mancherlei Gestalt nur von einem. Von dem permanenten Existenzbewußtsein, das ist Frömmigkeit. […] Ich glaube, daß alles menschlich Hohe, die Güte, die Freude, der Jubel, der Schmerz, die Einsamkeit, das Ideal, bloß aus diesem ewigen undurchdringlichen gewaltigen Existenzbewußtsein sich erheben können. ( WL 136) Das menschliche Leben, mit allen positiven und negativen Aspekten und a priori frei von moralischen Bewertungen, sowie seine bewusste und bewusst vorurteilslose Hochschätzung werden zur einzig möglichen Quelle und Form der Würde. Dies kommt einer vollkommenen Apologie selbst des vermeintlich würdelosen Seins gleich. Bereits 1903 veröffentliche der Prager Dichter Victor Hadwiger einen Gedichtband mit dem Titel Ich bin ; im titelgebenden Gedicht wird der stolze Ausspruch „Ich bin! “ zu einer vitalistisch gefärbten Identitätsproklamation und -versicherung des Menschen als Teil einer dynamisch-lebendigen Natur ( LES 100-101, V. 32). Werfel preist das Menschsein in seinem Gedicht Ein Lebenslied : „Es schwebt in jedem Schicksal, / Im Schritt der Lust und Schmerzen, / Im Morden und Umarmen, / Anmut des Menschlichen! “ ( WL 107, V. 5-8; Herv. i. O.). Der Schillersche Terminus der Anmut ist bei Werfel moralisch neutral - wie es bei Schiller ja eigentlich die Würde war -; 126 überall, selbst im Leid 127 und im moralisch Verwerflichen, will er menschliche Schönheit entdecken. Nur das Menschliche, fährt das lyrische Ich fort, sei „unvergänglich“ (V. 9); erblickt wird es gerade auch in Hässlichen, Gebrechlichen, Sterbenden oder Außenseitern. Am Ende des Gedichts steht das feierliche Pathos der Verkündigung: „Doch über Text von Glatz 1675, Zürich 1986, S. 108: „Mensch, werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht, / So fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.“ 125 Vgl. weiterhin Gerrit Engelkes Mensch zu Mensch (LES 99-100). Hier bildet der Imperativ „Werde! “ den apodiktischen letzten Kurzvers des Gedichts. 126 Vgl. dazu oben, S. 111 - 112. 127 Zur Bedeutung des Schmerzes und des Leidens im Expressionismus vgl. Elisa Primavera- Lévy, Die Bewahrer der Schmerzen. Figurationen körperlichen Leids in der deutschen Literatur und Kultur von 1870-1947, Berlin 2012, S. 124-168, hier bes. S. 127-130 sowie 130-147 (zu Werfels „Pathos des geteilten Leids“). VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 263 allen Worten / Verkündʼ ich, Mensch, wir sind! ! “ ( WL 108, V. 39-40; Herv. i. O.). Das, was den Menschen auszeichnet, was ihm eine besondere Würde verleiht, ist das spezifisch menschliche Sein, das Leben - eine Bestimmung von radikaler Elementarität. 128 Hier schließt sich nun der Bogen zum Anfang des Kapitels: Menschliches (Er-)Leben finden und literarisieren die Dichter auch und gerade bei Irren und Kranken, bei sozialen Randfiguren und Außenseitern - sowohl, weil diese Figuren vermeintlich unmittelbarer, elementarer erleben, als auch, weil ihnen und ihrem Erleben als Menschen jene Würde gebührt, welche ihnen das bürgerlichidealistische Menschenbild verwehrt. Der Würdelose ist also insofern ästhetisch legitimiert, als er zum Ursprung des verkündeten Aufschwungs werden kann. VI.2.4. Kriegserfahrung in der expressionistischen Lyrik Das Ende des Ersten Weltkriegs, die revolutionären Unruhen der unmittelbaren Nachkriegszeit und die politisch-ideologische Stimmung der folgenden Jahre haben erhebliche Folgen für den Status und die Wahrnehmung des Subjekts, auch und vor allem in der Literatur. Das autonome Individuum verschwindet in der anonymen Masse - sei es die kriegsbegeisterte, die in den Materialschlachten im Feld zerriebene, die revolutionäre oder die vom wirtschaftlichen Elend gepeinigte. Die Masse als „neues historisches Subjekt“, das einem „kollektiven Schicksal“ unterworfen ist, untergräbt die Grundfesten des bürgerlichen Individuums. 129 Ernst Tollers Drama Masse Mensch (1921) ist in mancherlei Hinsicht symptomatisch. Zum einen stellt der ambivalente Titel antithetisch dem einzelnen Menschen die Masse entgegen, die ihn zu erdrücken, zu überlagern droht. Zum anderen suggeriert er, dass der Mensch zu einer zur Disposition stehenden, dem heteronomen Zugriff ausgelieferten Masse zu verkommen droht. 130 Beide 128 Werfel könnte den Titel seiner Sammlung Wir sind (1913) in Anlehnung an Hadwigers Band Ich bin (1903) gewählt haben. Vgl. dazu auch die Bemerkung Dietrich Bodes in der von ihm hg. Anthologie Gedichte des Expressionismus , Stuttgart 2011 [urspr. 1966], S. 232. - Ähnliche Verse finden sich bei Werfel häufiger, etwa im Gedicht Ich bin ja noch ein Kind (WL 116-117), in dem der zweifache Ausruf „Wir sind! “ (V. 6 und 66) die kosmische Gemeinschaft aller Dinge beschwört. 129 Vgl. hierzu etwa Thomas Koebner, Zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden 1983, S. 2-6. - Zur Literatur über den Ersten Weltkrieg vgl. Alexander Honold, Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs, Berlin 2015. Zum Thema des Krieges in der expressionistischen Lyrik vgl. Hermann Korte, Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus. Studien zur Evolution eines literarischen Themas, Bonn 1981. 130 Ernst Toller, Masse - Mensch. Ein Stück aus der sozialen Revolution des 20. Jahrhunderts, hg. v. W. Frühwald, Stuttgart 2010. Der Gedankenstrich im Titel wurde erst in der zwei- 264 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus Deutungen fokussieren die historisch-politische, soziale, gar metaphysische Bedeutung der Faktoren Masse und Mensch - und somit implizit die Frage, was von der Idee des würdigen, autonomen Individuums in der konkreten historischen Situation der Nachkriegszeit übrig bleibt. „Und der Mensch? “, fragt die Frau am Ende des Dramas, 131 wenn man so will, rückblickend programmatisch. Tatsächlich rückt der Text die Frage nach ‚dem Menschen‘ und dem Menschlichen leitmotivisch in den Blick. Die klassentheoretisch pointierte „proletarische Kunst“ ist für Toller nur insofern legitimiert, als sie „Wege zur Formung des Ewig-Menschlichen“ eröffnet. 132 Diese Kunst inszeniert auch dramaturgisch und sprachlich die prekäre conditio humana : Typenhafte, „namenlose“ Figuren dominieren die dramatis personae , in Massenszenen werden die einzelnen Redebeiträge nicht mehr von individuellen Subjekten, sondern von kollektiven Stimmen artikuliert. Die elliptisch verknappte, parataktische, substantivlastige Sprache trägt deutlich überindividuell-objektivierende, thesenhafte Züge - umso dringlicher erscheint die emphatisch Individualität und menschliche Solidarität einfordernde Frage: „Und der Mensch? “ Diese knappen Beobachtungen kennzeichnen den Höhepunkt einer Entwicklung, die in der Lyrik des vorangegangenen Jahrzehnts zu beobachten war. Eindrückliches Mittel der Demontage eines humanistisch geprägten bürgerlichen Menschenbilds gerade in der expressionistischen Lyrik ist die oben umrissene Ästhetik der Würdelosigkeit in ihren paradigmatischen Ausbildungen bei Heym und Benn. In jenen Gedichten, die Kriegsszenarien beschwören oder konkrete Kriegserlebnisse und -erfahrungen lyrisch verarbeiten, finden sich etliche dieser Strategien und Motive wieder. In ihnen verbinden sich die Zerstörung des Individuums und die Hoffnung auf eine Läuterung, eine Erneuerung der Menschheit. Schon in Gedichten wie Alfred Lichtensteins Prophezeiung ( LEV 122-123), die vor 1914 entstanden und den Krieg eher im Kontext einer diffusen Endzeitstimmung oder eines Gefühls der Übersättigung einer dekadenten bürgerlichen Gesellschaft konzeptualisieren, 133 sind typische Motive zu beobachten. „Überall stinkt es nach Leichen. / Es beginnt das große Morden“ (V. 3-4) - Tod, Geten Auflage 1922 hinzugefügt. Toller verstand den Titel als Antithese; die Kritik deutete ihn eher im Sinn „der Mensch als Masse“. Vgl. dazu ebd., S. 61. 131 Ebd., S. 59. 132 So Toller im Vorwort zur zweiten Auflage; vgl. ebd., S. 9. 133 Spätestens seit den Marokko-Krisen 1905 / 06 und 1911 und den Balkankriegen 1912 / 1913 musste ein multilateraler Krieg auch in Mitteleuropa als ernstzunehmende Perspektive gelten. Neuere historische Darstellungen betonen gerade auch die Rolle der Krisenregionen an der sog. Peripherie. Vgl. z. B. Christopher Clarke, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2015 [urspr. 2012]; Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014. VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 265 walt und Zerstörung bleiben hier jedoch unbestimmt, ihr Ursprung liegt, wie das sächliche Pronomen „Es“ suggeriert, im Dunklen. Sie sind Vorboten eines großen Umsturzes, der das Verkommene, sich Verstellende, aber auch das ‚Normale‘ mit sich reißt: „Nieder stürzen alle Lumpen, / Mimen bersten. Mädchen platzen“ (V. 7-8). Der vorletzte Vers generalisiert den Verfall: „Alles nimmt sein ekles Ende“ (V. 15). Dies sind kraftvolle Bilder, die aber letztlich reine Metaphern bleiben. In seinem typischen parataktischen Reihenstil fügt Lichtenstein simultane Wahrnehmungen und Eindrücke zusammen, ohne dass sich daraus ein kohärentes Bild ergäbe. Der letzte Vers lässt das Gedicht endgültig ins Groteske kippen; dass gerade die „Omnibusse“, die - in einer reichlich ungewöhnlichen Kollokation - „[k]rächzend kippen“, das ultimative Bild des „ekle[n] Ende[s]“ sein sollen, zieht das davor Gesagte einigermaßen ins Lächerliche. So sind die einzelnen Bilder der Zerstörung eher Symptome des expressionistischen Welt- und Menschenbilds; die Herabwürdigung des Individuums, das wie Abfall stinkt und wie ein Luftballon platzt, ist als eine programmatische zu verstehende. Dem steht eklatant die ganz konkrete und reale Entwürdigung des Menschen durch den Horror des Schlachtfelds gegenüber, die in Kriegsgedichten literarisiert wird. In einer kaum zu überbietenden Drastik schildert Wilhelm Klemms Lazarett ( LEV 130-131), was der Krieg mit dem Menschen und seinem Körper macht - und wie er die Vorstellung der Menschenwürde ad absurdum führt. Ein lakonischer erster Vers eröffnet das Gedicht: „Jeden Morgen ist wieder Krieg.“ Das apodiktische Verb „ist“ setzt sein grammatisches Subjekt, den Krieg, als unabwendbare, unentrinnbare und quasi ewige Tatsache. Was folgt, ist ein schockierendes, hypernaturalistisches Verzeichnis von Kriegsverletzungen, Verstümmelungen und deren Folgen im Reihenstil. Auffällig ist die geringe Zahl an finiten Verben. Nur vier hängen von menschlichen Subjekten ab: Ein unpersönliches „man“ „gleitet“ auf „Fetzen geronnenen Blutes [aus]“ (V. 12), „[e]iner hockt auf einem stinkenden Lager“ (V. 16), „[e]in andrer / Weint wie ein Kind: Kamerad hilf mir doch! “ (V. 17-18). Die restlichen finiten Verben beziehen sich auf Körperteile und Organe - „Ein Darm hängt heraus“ (V. 22), „Milz“ und „Magen“ „qu[ellen]“ aus „einem zerrissenen Rücken“ (V. 22-23; vgl. weiterhin V. 23-27) - oder dienen der Umschreibung des Sterbens. Doch auch hier sind die Subjekte keine menschlichen: Die letzte Strophe beschreibt, wie „das Schnappen nach Luft kommt, - und der perlende Schweiß, / und auf graue Gesichter die Nacht sich senkt“ (V. 31-32). Das Individuum hat seine autonome Handlungsmacht verloren, es ist passiv, leidend, radikal seiner desintegrierten Körperlichkeit und seiner scheußlichen Kreatürlichkeit unterworfen. Auch das Sterben ist - sogar im Gedicht, der subjektiven Gattung par excellence - nur noch objektiviert, anhand physiologischer Prozesse („Luft“, „Schweiß“) beschreibbar. Was vom Menschen, seinem Geist, seiner Würde bleibt, ist karg 266 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus und desillusionierend in seiner Dinglichkeit: „Soldatengrab - zwei Latten über Kreuz gebunden“ (V. 33). Klemm nutzt in Lazarett ebenjene Strategien, die Benn in den oben beschriebenen Gedichten genutzt hatte: den Fokus auf Verwundete und Tote, die synekdochische Reduktion des Menschen auf seine Gebrechen, 134 die Partialisierung des Menschen durch den isolierten Blick auf einzelne Körperteile und Organe, die explizite Benennung von Wunden und Verstümmelungen, die den Körper zu etwas Offenem, Zerstörtem werden lassen, schließlich die Integration des Abjekten durch die genaue Beschreibung von Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen. 135 Die zwei Vergleiche in den ersten Versen 136 erscheinen wie zaghafte Versuche, das kaum erträgliche, kreatürliche Dahinsiechen zu ästhetisieren - doch weicht das ‚poetische Sprechen‘ schnell dem nüchtern und präzise registrierenden Blick. Klemms Gedicht beabsichtigt aber nicht (oder zumindest nicht nur), eine allgemeine Aussage über die Würdelosigkeit des Menschen zu treffen und die deplatzierte Vorstellung der Menschenwürde zu geißeln; die drastische Beschreibung menschlichen Verfalls erhält einen dezidiert kritisch-engagierten Impetus und offenbart schockartig den entwürdigenden Charakter des Krieges, dokumentiert seine Gräuel und will die womöglich kriegstrunkenen Rezipienten fernab der Front wachrütteln. In vielen anderen expressionistischen Kriegsgedichten finden sich motivische oder rhetorische Parallelen zu Klemms Text. 137 Sie schildern Zerstörung, Zerfall, Desintegration und Partialisierung des Individuums. „Fetzen Fratzen Platzen“ - in typisch expressionistisch verknappender Absolutsetzung der Substantive beschließt dieser apodiktische, elliptisch-asyndetische Vers Franz Richard Behrensʼ Gedicht Expressionist Artillerist ( LES 250). Auch das auffällig häufige Vorkommen von Verben mit dem intensivierenden, Zerstörung und Verheerung anzeigenden Präfix „zer-“ verweist auf die tiefgreifende Erschütterung des bürgerlichen Menschenbildes als Explosion der körperlichen Integrität. 138 134 Vgl. z. B. V. 4-5: „Die merkwürdig dunklen, geheimnisvollen Kopfschüsse. / Die zitternden Nasenflügel der Brustschüsse“; V. 19-20: „Der schonende Gang der Arm- und Schulterbrüche. / Das Hupfen der Fuß- und Wadenschüsse […]“. 135 Vgl. z. B. V. 13-15: „Die Skala der Gerüche: / Die großen Eimer voll Eiter, Watte, Blut, amputierten Gliedern, / Die Verbände voll Maden. Die Wunden voll Knochen und Stroh.“ 136 Vgl. V. 2-3: „Nackte Verwundete, wie auf alten Gemälden . / Durcheiternde Verbände hängen wie Guirlanden von den Schultern“ (m. H.). 137 Im vorliegenden Zusammenhang konnte nur ein begrenztes Gedichtkorpus ausgewertet werden. Der Fokus liegt daher auf den entsprechenden Abschnitten in den beiden in diesem Kapitel herangezogenen Anthologien (LEV 117-139 und LES 231-260). 138 Vgl. z. B. „Geschosse zerhacken euere Frauen“ (Albert Ehrenstein, Der Kriegsgott; LEV 122, V. 23); „[…] Du hungerst. / Ertrinkst. Zerknallst. […]“ (Alfred Lichtenstein, Doch kommt ein Krieg; LEV 124, V. 4-5); „Ich liege dämmerungszermalmt“ (Klabund, Gewitternacht; LEV 125, V. 1); „[…] umfängt die Nacht / Sterbende Krieger, die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder“ (Georg Trakl, Grodek; LEV 130, V. 4-6); „Aus einem VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 267 Gleiches gilt für die radikale Reduktion des Menschen auf seine ekelhafte, abjekte Kreatürlichkeit und seine lädierte Körperlichkeit. Lexikalisch dominieren Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen - Blut, Eiter, Kot -, Verletzungen und Verstümmelungen. 139 Der Mensch ist weder ein geistiges noch ein erhabenes noch ein Kulturwesen - er ist sein zerstörter, entweihter Körper. 140 Bisweilen wird er sogar theriomorphisiert - sei es als metaphorisches „Aas“, sei es, weil ihn seine Verstümmelung gleichsam degradiert. 141 Darüber hinaus wird der Soldat in Metaphern und Vergleichen verdinglicht. Soldaten sind lediglich fremdgesteuertes, entmenschlichtes ‚Kampfmaterial‘, das einzelne Leben ist wertlos: „Wie Puppen liegen die Toten zwischen den Fronten“. 142 Der in den Gedichten entworfene lyrische Kriegskosmos ist dabei durchaus sinnlich erfahrbar: Akustische, visuelle und olfaktorische Details prägen die Texte. Nicht nur der Kriegslärm ist zu vernehmen, sondern auch das Schreien der Soldaten. Der Schrei ist zerrissenen Rücken quoll die Milz und der Magen“ (Klemm, Lazarett; LEV 131, V. 22-23); „Beine ab, zerstampft“ (Walter Hasenclever, Sterbender Unteroffizier im galizischen Lazarett; LEV 132, V. 14); „Zerspellte Hirne“, „Sie tasten mit zerfetzten Händen“ (Ernst Toller, Leichen im Priesterwald; LEV 135-136, V. 3 und 9); „Zersprengte Jugend! / Uns die Zeit / Zerbiß die Stirn […]“, „Zerhauen / Sind unsere Hände, / Die schaffen sollen! “, „Durchlöchert, zerfressen / Rinnen wir aus […]“ (Martin Gumpert, 1916; LES 246, V. 1-3, 15-17 und 18-19). 139 Vgl. neben Klemms Gedicht Ehrensteins Der Kriegsgott (LEV 121-122), Stimme über Barbaropa (LEV 132-133) und Auf! (LES 235), Tollers Leichen im Priesterwald (LEV 135-136), Hasenclevers 1915 (LEV 136-137). 140 Sinnfällig wird dies etwa in den letzten Versen von Rudolf Leonhards Gedicht Ein Schrapnell (LES 234-235): „Einer gurgelte, Blut im Mund: / ‚- meine Rüstung / für diesen Krieg war Traum und Sonett -‘“ (V. 12-14). Das Vertrauen auf und das Festhalten an geistigen oder kulturellen Leistungen des Menschen wirkt lächerlich angesichts der Brutalität des Krieges und der körperlichen Hinfälligkeit des Menschen. Gleichzeitig sind die Verse aber auch ein ironischer metapoetischer Kommentar: Das Sonett wird - in einem Gedicht! - für vollkommen inadäquat erklärt, um den realen Horror des Krieges zu fassen. Zwar besteht auch Leonhards Text noch aus 14 Versen, doch die klassische Sonettform ist gesprengt. An der lyrischen Form an sich hält der Autor nichtsdestoweniger fest. 141 Oskar Kanehls Auf dem Marsch (LEV 133-134) konzeptualisiert die marschierenden Soldaten als willenlose Tiere: „Aber die Herde treibt alle weiter“ (V. 12). Tiere vermengen sich mit den verletzten Soldaten: „Die Verbände voll Maden“ (Klemm, Lazarett; LEV 131, V. 15), die partialisierten Toten werden sogar zur Beute von Aasfressern: „In Menschenaugen hacken Krähenschnäbel“ (Kanehl, Schlachtfeld; LEV 128, V. 33). Vgl. weiterhin Ehrensteins Stimme über Barbaropa (LEV 13, V. 47) und Klemms Lazarett (LEV 131, V. 21). 142 Wilhelm Klemm, An der Front, LEV 127, V. 16. - Ehrensteins „Kriegsgott“ spannt „Menschenhäute […] / An Stangen um die Städte“ (LEV 121, V. 12). In Otto Nebels Es dreht sich um Granaten (LES 253-258) heißt es: „Der Zug rückt an / ‚Rollendes Menschenmaterial‘ / Materialschaden auffüllen / Lücken zufüllen […]“ (V. 91-93). Die in Anführungszeichen gesetzte Formulierung ist als Zitat markiert, das entlarvt, wie über Soldaten gesprochen wird: als depersonalisierte, verfügbare, zu verrechnende Masse - nicht als würdige, selbstzweckhafte Menschen. 268 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus jedoch nicht mehr der typisch expressionistische, existenzielle Schrei, sondern ein Schrei des Schmerzes, der Qual, des Todes. 143 Omnipräsent sind vor allem Fäulnis und Gestank - von Leichen, von verwesenden, zerstückelten Körpern, von unedlen Ausdünstungen. 144 Bezeichnend sind schließlich die lyrischen Subjekte der einzelnen Texte. Nur selten artikuliert sich ein explizit im Text erscheinendes Ich, das seine Befindlichkeiten oder Wahrnehmungen reflektiert. Manchmal spricht ein Wir, das gleichsam ein kollektives Erleben, ein kollektives Schicksal verbalisiert, oder ein Du wird apostrophiert. 145 In der Regel bleibt der Sprecher implizit, der registrierende, dokumentierende Blick rückt tendenziell in den Vordergrund. Bisweilen verschwindet das menschliche Subjekt (auch als grammatisches Subjekt) aus den Gedichten 146 - für das selbstbestimmt handelnde, autonom reflektierende Individuum scheint sowohl an der Textoberfläche als auch im Krieg kein Platz mehr zu sein. All diese Strategien konturieren die lyrische Demontage des Menschen und seiner Würde - wohlgemerkt auf der Grundlage der Erfahrung dieser Demontage in der Realität des Krieges. 143 Zum Motiv des Schreis vgl. z. B. Kanehls Schlachtfeld (LEV 128, V. 19), Leonhards Ein Schrapnell (LES 234, V. 4), Werfels Der erste Verwundetentransport 1914 (LES 240, V. 4), Wilhelm Runges Auf springt der Tod und Grauen schaufelt Löcher in den Tag (LES 245, V. 5 bzw. 6), Gumperts 1916 (LES 246, V. 4) und Tollers Leichen im Priesterwald (LEV 135, V. 5). - Auch andere menschliche Geräusche kommen vor, etwa das Röcheln - in Lichtensteins Doch kommt ein Krieg sind es metonymisch die „Äcker“, die „röcheln“ (LEV 124, V. 5), in Kanehls Schlachtfeld (LEV 128) lautet V. 20 elliptisch: „Röchelnde Rufe Sterbender“ -, das Keuchen - August Stramm spricht neologistisch vom „keuchen Tod“ (Sturmangriff; LEV 129, V. 8) -, das Stöhnen und Weinen sowie „das Geheul, das Wimmern und Schreien, das Jammern und Flehen“ (Klemm, Lazarett; LEV 130-131, V. 8, 18 und 29), das Gurgeln (Leonhard, Ein Schrapnell; LES 235, V. 12). 144 Vgl. z. B. Kanehls Schlachtfeld (LEV 128, V. 23), Trakls Grodek (LEV 130, V. 10), Klemms Lazarett (LEV 131, V. 13-16), Tollers Leichen im Priesterwald (LEV 135, V. 1-4), Hasenclevers 1915 (LEV 136, V. 4) und Behrensʼ Expressionist Artillerist (LES 249, V. 21). 145 Klabunds Gewitternacht (LEV 125) kombiniert das lyrische Ich und das lyrische Wir. Im ersten Vers heißt es neologistisch: „Ich liege dämmerungszermalmt“, bevor das Erleben gegen Ende generalisiert wird: „Wir sterben, sterben, sterben“ (V. 15). Die Epizeuxis erhebt das kollektive Sterben nicht nur zu einer beklemmenden, seriellen, unausweichlichen Tatsache, sondern schafft einen grausigen Kontext für das individuelle Erleben des Ichs. Ein lyrisches Du findet sich etwa in Alfred Lichtensteins Doch kommt ein Krieg (LEV 124). 146 Ein eindrückliches Beispiel ist Wilhelm Klemms Schlacht an der Marne (1914; LEV 127). In diesem Gedicht gibt es kein einziges grammatisches Subjekt, das auf ein handelndes menschliches Wesen verweist. ‚Akteure‘ sind vielmehr die Natur und das Kriegsgerät. Der menschliche Sprecher ist lediglich in einem Possessivpronomen explizit im Gedicht greifbar: „Mein Herz ist so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen / Durchbohrt von allen Geschossen der Welt“ (V. 7-8). Das Gedicht weist eine Vielzahl lyrischästhetisierender Momente auf: Personifikationen, Alliterationen, Metaphern, Ellipsen, Inversionen usw. Auffällig ist jedoch, wie sehr das Ich als handlungsfähige Entität an der Textoberfläche verdrängt wird. VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 269 Gedichte wie das bereits erwähnte Mensch stehe auf! von Becher oder Rezitativ (1917; LEV 226-227) von Yvan Goll sind geprägt von Kriegserfahrung und -müdigkeit und artikulieren gleichzeitig die Hoffnung auf eine politische und ethische Revolution sowie eine Erneuerung der Gesellschaft und des Menschen. Sie verknüpfen die Destruktion des Individuums durch den Krieg mit der Proklamation des Neuen Menschen. In Golls Rezitativ apostrophiert das lyrische Ich in freirhythmischen Langversen, deren Ton zwischen elegisch, euphorisch und kerygmatisch schwankt, die Opfer des Krieges. Inmitten von Tod und Verwesung auf dem Schlachtfeld - „Als ich eure strahlenden Körper im rauchenden Blut verwesen sah“ (V. 2) - verspürt es nicht nur „Mitleid unermeßlich“ (V. 3), sondern es glaubt auch eine Bewusstseinsveränderung bei den Sterbenden wahrzunehmen: „[D]a endlich ergabt ihr euch! “ (V. 3). Das von den oben beschriebenen Gedichten so schonungslos geschilderte Sterben wird umgedeutet als „Neugeburt“: „Ihr Sterbenden auf dem Schlachtfeld waret die Offenbarung des neuen Geschlechtes! “ (V. 6). Gerade das Verhalten der Sterbenden angesichts des Todes, ihre ‚Konversion‘ wird zum Ausgangspunkt der Erneuerung. Sie sind nämlich keine „steifen Krieger“ mehr, keine „Untertan[en]“ mit „heldische[m] Stolz“ (V. 3, 5 bzw. 6), sondern „Leidende[]“, die „schluchz[en]“ und „Tränen“ vergießen (V. 5-6), die sich hingeben: „Das war die große Hingabe. Hingabe an das All. Hingabe an den Menschen. Das war eure Menschwerdung. Das euer Auferstehn! “ (V. 4). Das Gedicht inszeniert somit eine dialektische Bewegung: „strahlende Körper“ - Sterben / Tod / Verwesung - „Neugeburt“. Die Transformation der Sterbenden - und ihr Tod! - ist die notwendige Bedingung für eine zukünftige, den Mentalitätswandel in der gleichen Weise wie das lyrische Ich nachvollziehende Menschheit: „Ewiger Funke entsprühte eurem brechenden Augʼ, und zwischen Phantomen sah ich den neuen, liebenden, liebesstarken Menschen wandeln“ (V. 8). 147 Bechers Päan gegen die Zeit und Mensch stehe auf! prägt eine ähnliche Grundkonstellation, auch wenn hier der Krieg und das Schlachtfeld weniger konkrete Motive als allgemeine Erfahrungshintergründe darstellen. Das Wissen um die körperliche Zerstörung des Individuums und die Diagnose des moralischen Verfalls der Gesellschaft führen in diesen Gedichten, die von zahllosen Apostrophen und Exklamationen sowie einem pathetischen, bisweilen dithyrambischen Ton geprägt sind, zu einem Wechselspiel von Anklage und Feier des Menschen. Auf der einen Seite steht der Mensch als gestürzte, vollkommen würdelose Kreatur: 147 Insofern in solchen Gedichten Würdelosigkeit bzw. Entwürdigung und die Wiederherstellung von Würde direkt miteinander verknüpft sind, kann man wohl tatsächlich von einer dialektischen Beziehung der beiden Grundtendenzen des Expressionismus sprechen. Diese dialektische Verknüpfung ist in den meisten Gedichten allerdings nicht explizit, sondern eher als implizit vorauszusetzen. 270 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus Räuber-Mensch. Henker-Mensch. Mörder-Mensch, Unter, tief unter Vieh gesetzt, o Mensch. Du Mensch: all Kreatur du zu unterst… Wehe dir Mensch; (Verräter-Mensch! Trägheit-Mensch. Kloaken-Mensch…) (Päan gegen die Zeit; LEV 115, V. 34-38) Die Determinativkomposita konterkarieren die Idee, dass der apostrophierte Mensch eine besondere Würde besitzt; doch die obsessive Anrufung des Menschen endet in einer apokatastatischen Vision der Besinnung und des Aufschwungs: : Bis Mensch du wieder menschwärts neigst Dich. Brüder Flammen-Wolke steigt! Wir erflehen die Reinheit des Menschen! […] Allverbrüderung! Erschein Sieg! ( LEV 115-116, V. 48-54) Mensch stehe auf! stilisiert den historischen Moment - den Krieg und die Zeit unmittelbar danach - zu einer Entscheidungssituation für die Zukunft der Menschheit: Sage mir, o Bruder Mensch, wer bist du! ? Wüter. Würger. Schuft und Scherge. Lauer-Blick am gilben Knochen deines Nächsten. König Kaiser General. Gold-Fraß. Babels Hure und Verfall. Haßgröhlender Rachen. Praller Beutel und Diplomat. Oder oder Gottes Kind! ! ? ? ( LEV 229, V. 43-50; Herv. i. O.) Der Verweis auf die Vorstellung der Gotteskindschaft als besondere Auszeichnung des Menschen erscheint als programmatische Wendung gegen den - wie die Häufung von Antonomasien suggeriert - in der sozialen wie politischen Verderbtheit gefangenen Menschen. Das Gedicht endet in einem fast apokalyptischen Szenario, in dem sich der Mensch gleich dem mythischen Phönix aufschwingen und umkehren soll: Schwefel-Gewitter stopfen ruchlos azurenen Raum. Deiner Sehnsucht Horizont vergittert sich. (…nieder ins Blut! Brust auf! Kopf ab! Zerrissen! Gequetscht. Im Rüssel der Schleusen…) Noch noch ists Zeit! VI.2. Die Menschenwürde in literarischen Texten des Expressionismus 271 Zur Sammlung! Zum Aufbruch! Zum Marsch! Zum Schritt zum Flug zum Sprung aus kananitischer Nacht! ! ! Noch ists Zeit - Mensch Mensch Mensch stehe auf stehe auf! ! ! ( LEV 231, V. 112-119) Geminationen und Epanalepsen, schließlich im letzten Vers die Kombination aus Epizeuxis und Geminatio - all diese rhetorischen Figuren verleihen der Passage (und dem Text als Ganzem) eine bemerkenswerte Dringlichkeit. Mit enormer Emphase werden der Neue Mensch und die Überwindung der Würdelosigkeit zu einem Gestaltungsauftrag von existenziellem, ja menschheitsgeschichtlichem Format deklariert. Inhaltlich bleibt dieser Auftrag freilich unscharf - er zielt ab auf Schlagworte wie Menschlichkeit und Brüderlichkeit -; im Vordergrund steht der proklamatorische, verkündigende Gestus. VI.2.5. Der vertierte Mensch im Expressionismus Ein für den Expressionismus typisches Motiv, das die Sonderstellung des Menschen und das bürgerliche Menschenbild untergräbt, ist die Engführung von Mensch und Tier in unterschiedlichen Ausprägungen und mit unterschiedlichen Absichten. 148 Die vermeintlich klar abgegrenzten Bereiche des Menschlichen und des Tierischen können sich vermengen: Bei Heym befindet sich im „Haar“ einer weiblichen Wasserleiche „ein Nest von jungen Wasserratten“ und ein „langer, weißer Aal / Schlüpft“ - in einem verstörend erotisch aufgeladenen Bild - „über ihre Brust“. Die Leiche selbst wird per Vergleich („wie Flossen“) und Metapher („ein Vogel“) zum Tier ( Ophelia ; DS 1, 160, V. 1, 13-14, 3 bzw. 19). 149 Der Welt des ineinandergreifenden Tierhaften und des Todes steht die laute und bedrohliche Großstadt, der „Moloch“ (V. 34) gegenüber - wogegen jene wie eine beklemmende Idylle wirkt. Bemerkenswert ist auch Heyms Gedicht Fröhlichkeit (DS 1, 389). Der Sprecher beschreibt eine Jahrmarktszene; auf den „großen Carussellen“ (V. 1) drehen sich unterschiedliche Tiere. Die Benutzer des Fahrgeschäfts verschmelzen mit den tierischen Figuren: „Und einer hebt vor Freude schon das Bein / Und grunzt im schwarzen Bauche wie ein Schwein, / Und alle Tiere fangen an zu tanzen“ (V. 6-8). In der Wahrnehmung des Sprechers verschwimmt die Grenze zwischen 148 Zu Bedeutung und Funktion des Tier-Motivs vgl. auch Anz, Literatur der Existenz, S. 30-36. 149 Vgl. die ähnliche Verknüpfung von Tod und Tierhaftigkeit in Heyms Gedicht Die Morgue . Hier war ein Toter „[v]iele Wochen […] / […] Gast bei Fischen. Riecht doch wie er stinkt. / Seht, eine Schnecke wohnt ihm noch im Haar, / Die spöttisch euch mit kleinem Fühler winkt“ (DS 1, 475, V. 41-44). Ratten haben sich auch bei Benn im Brustkorb einer Leiche eingenistet ( Schöne Jugend ; SA 1, 11). 272 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus Mensch und Tier. „[E]iner“ bezieht sich auf einen nicht näher beschriebenen Menschen, der Vergleich („wie ein Schwein“) stellt eine unmittelbare Verbindung zum Tier her, im abschließenden „alle Tiere“ wird schon gar nicht mehr unterschieden. Der Mensch wird graduell theriomorphisiert - und nicht ohne eine gewisse Verachtung betrachtet. In der letzten Strophe geht der Blick weg vom Jahrmarkt und hin zu den arbeitenden „Maurer[n]“ (V. 10). Und auch diese werden mit Tieren verglichen („wie Läuse klein“, V. 10), die einer eintönigen, automatisierten, entmenschlichenden Arbeit nachgehen. Die Vertierlichung des Menschen entspringt somit einer kritischen Sicht der conditio humana ; seine gesamte Existenz reduziert den Menschen zum Tier. In Benns Gedichten wird die Degradierung des Menschen zum Tier zu einer Beschimpfung, zu einer rhetorischen Entwürdigung. Der Mensch ist ein „Schwein“, das zudem von „Filzläuse[n]“ heimgesucht wird ( Der Arzt II ; SA 1, 14, V. 21-23). In Fleisch geifert ein „Selbstmörder“ gegen „Frauentiere“ und das „Menschenvieh“; sich selbst sieht er als „junge[n] Adler“, der sich über die Würdelosigkeit hinwegsetzt - für seinen Entgrenzungswunsch aber selbst eine Tiermetapher wählt ( SA 1, 31, V. 92-99). Diese positiv konnotierte Vertierlichung findet sich wieder im vitalistisch und antiintellektualistisch gefärbten Wunsch nach Regression zu animalisch-kreatürlicher Ursprünglichkeit in Gesänge I : „O daß wir unsere Urahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor“ ( SA 1, 23, V. 1-2). 150 In Heyms Erzählung Der Irre schließlich suggeriert das Motiv des vertierten Menschen, dass eine menschenunwürdige Behandlung durch eine menschenunwürdige Gesellschaft Menschen hervorbringt, die jede Würde und jede Menschlichkeit verloren haben. Die Zwänge der Anstalt, die metonymisch auf die starre Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft verweist, machen die Patienten zu Tieren (vgl. DS 2, 19-20). 151 Die Titelfigur ihrerseits reduziert in ihrem Hass ihre Mitmenschen zu Tieren (vgl. DS 2, 20). Während seinen psychotischschizophrenen Schüben, in denen sich sein Hass mit erschreckender Brutalität entlädt, wird der Irre dann selbst zum Tier - in der Beschreibung des auktorialen Erzählers und in der Selbstwahrnehmung, die personal vermittelt wird: Plötzlich sah er das Tier wieder, das in ihm saß. Unten zwischen dem Magen, wie eine große Hyäne. […] Jetzt war er selber das Tier, und auf allen vieren kroch er die Straße 150 Zu Tierreferenzen bei Benn vgl. Friederike Reents, Vom „armen Hirnhund“ zum „Prinzen Vogelfrei“. Die poetologische Bedeutung der Tierbilder beim frühen Benn, in: Gottfried Benn (wie Anm. 110), S. 107-116. 151 Zu Heyms Erzählung vgl. auch Jörg Schönert, „Der Irre“ von Georg Heym. Verbrechen und Wahnsinn in der Literatur des Expressionismus, in: Der Deutschunterricht 42.2 (1990), S. 84-94 sowie Edith Ihekweazu, Verzerrte Utopie. Bedeutung und Funktion des Wahnsinns in expressionistischer Prosa, Frankfurt / M. / Bern 1982, S. 90-93. VI.3. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur des Expressionismus 273 entlang. […] Er bellte laut wie ein Schakal. […] Da sprang das Tier auf. Wie ein Wilder war es [! ] hinter ihr [i. e. der Frau, die der Irre verfolgt und töten wird; MG ] her. […] Das Tier läßt die Frau liegen und springt auf. ( DS 2, 25) Die Theriomorphisierung des Irren verweist auf seine Würdelosigkeit, die aus Autonomieverlust und Depersonalisierung resultiert. Eindeutig moralisch verurteilt wird der Protagonist durch den zurückhaltenden Erzähler jedoch nicht . Vielmehr wird seine Perspektive als gültige behandelt, auch dann, wenn er seine Morde als ästhetisches Erlebnis wahrnimmt („Pfui Teufel, ist das aber schön“ [ DS 2, 25]) oder sich im Blutrausch als „Gott“, gleichsam als negativer Schöpfer fühlt ( DS 2, 23) und damit die Vorstellung des Menschen als gottähnlichem Wesen völlig pervertiert. Das ‚tierische‘ und das ‚irre‘ Erleben werden bis zu einem gewissen Grade legitimiert; der Fokus der Erzählung liegt auf diesen Formen des Erlebens an sich und nicht primär auf moralischen Bewertungen. Entsprechend schroff wirkt am Ende des Textes das Aufeinanderprallen der Erlösungs- und Verwandlungsphantasien, die den Irren metaphorisch zu einem „große[n] weiße[n] Vogel“ werden lassen (DS 2, 32), und der lakonischen Erzählerkommentare, die seinen letzten Mord beschreiben. 152 Die Erzählung gipfelt in einer seltsamen Verkehrung: Während der Schuss, der den Irren tötet, als brutaler Einbruch der gesellschaftlichen Realität in sein Erleben erscheint, stirbt der tierische Irre „zitternd in einer unermeßlichen Seligkeit“ ( DS 2, 34). Der Irre offenbart so die ganze Ambivalenz, die dem Motiv des vertierten Menschen eignet, indem es sowohl Entwürdigung, Würdelosigkeit und Würdeverlust als auch die vitalistische Suche nach Erweiterung des Wahrnehmungs- und Erlebnisspektrums sinnfällig inszenieren kann. VI.3. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur des Expressionismus Die Relevanz des Menschenwürdebegriffs für den literarischen Expressionismus lässt sich - bei aller Heterogenität der Dichterpersönlichkeiten, ihrer Texte und Anliegen - anhand dreier Thesen formulieren. Auf der einen Seite wird - in programmatischen wie in literarischen Texten - die Würdelosigkeit des Menschen diagnostiziert und die Vorstellung der Menschenwürde zurückgewiesen oder demontiert . Dazu dienen ästhetische Strategien wie die metaphorische, metonymische oder synekdochische Reduktion des Menschen (zum Tier, zum 152 Vgl. DS 2, 34: „Er kniet auf seinem Opfer und drückt es langsam zu Tode. / Um ihn herum ist das große, goldene Meer, das seine Wogen zu beiden Seiten wie gewaltige schimmernde Dächer türmt.“ 274 B.VI. Die Menschenwürde und die Literatur des Expressionismus kranken, toten, verfallenden oder triebhaften Körper, zu wertlosen Einzelteilen) oder der Fokus auf seine hässliche, abjekte Kreatürlichkeit. Auf der anderen Seite steht der utopische Wunsch nach Überwindung der Würdelosigkeit , nach einer bisweilen diffus bleibenden Neudefinition der Menschenwürde durch den Neuen Menschen, der sich in der pathetisch-emphatischen Verwendung des Begriffs „Mensch“ oder in der vitalistischen Feier des menschlichen Seins äußert. Zwischen diesen beiden Extremen, gewissermaßen als gedanklich-programmatische Verbindung, dient die Aufwertung des würdelosen, beschädigten Menschen als literarisches Sujet sowohl der metonymischen Illustration der menschlichen Würdelosigkeit als auch der Suche nach neuen oder verdrängten Formen des Menschlichen im vermeintlich würdelosen Menschen. VI.3. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur des Expressionismus 275 VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Wenige Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs erscheint in Düsseldorf ein dünnes, unscheinbares Bändchen mit dem wohlklingenden Titel Humanität und Menschenwürde . 1 Das Vorwort formuliert ein ambitioniertes Ziel: „Nichts tut den heutigen Deutschen so not wie eine Umkehr und ein Rückgang in die Gedankenwelt der Humanität, wie sie sich im goldenen Zeitalter unserer klassischen Dichter entfaltet hat.“ Damit die Deutschen „aus der Tiefe der Unmenschlichkeit und Unbarmherzigkeit“, in die sie die „Verderber“ des deutschen Volks in den vergangenen Jahren gestürzt haben, „wieder zur Höhe einer großen Güte und eines Seelenadels und Gemeinsinns […] gelangen“, stellt diese Textsammlung als Leitfaden Auszüge aus den Werken der großen deutschen „Dichter und Denker“ zusammen, aus denen ein moralisch beispielhafter Geist spricht. Dezidiert knüpft die Sammlung an den Humanitätsgedanken der Aufklärung an: Die „wahren Führer und Erleuchter“ 2 sind Lessing und Herder, Goethe und Schiller, schließlich Wilhelm von Humboldt und Kant. Die Funktion und das Potential, die der Literatur sogar (oder gerade) nach einer solch verheerenden Katastrophe wie dem Zweiten Weltkrieg zugeschrieben werden, sind beachtlich: Explizit soll sie die Menschenwürde wiederherstellen, sie gleichsam als Idee retten. Adressaten der Sammlung sind nicht (! ) die Opfer des Nationalsozialismus, sondern das ‚Volk der Täter‘, das im Rezeptionsprozess die Menschenwürde als überzeitlich und universal gültigen Wert erkennen soll. Bei allem Optimismus in Bezug auf die therapeutische Kraft von Literatur ist dieser Anspruch zum einen problematisch, hat doch die Hochschätzung, ja die Fixierung auf die Literatur der Weimarer Klassik und ihre Ideale in weiten Teilen des deutschen Bürgertums v. a. im 19., aber auch noch am Anfang des 20. Jahrhunderts das Aufkommen und die Verbreitung von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus keineswegs verhindert. Die Nationalsozialisten selbst hatten ein zutiefst widersprüchliches Verhältnis zu den Klassikern und ihren Werten: Bemühten sie sich einerseits, Schiller und Goethe für ihre Ideologie und Propaganda zu vereinnahmen, denunzierten sie andererseits, wie etwa Hitler in Mein Kampf , 1 Martin Schulz (Hg.), Humanität und Menschenwürde. Aus Werken unserer großen Dichter und Denker. Mit einem Vorwort u. verbindenden Sätzen von Herbert Eulenburg, Düsseldorf-Kaiserswerth 1946. 2 Alle Zitate ebd., S. 3. 276 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Humanität als Schwäche und als jüdische Erfindung. 3 Ein unreflektiertes Anknüpfen an den Humanitätsgedanken, das die Jahre zwischen 1933 und 1945 als Entgleisung, als historische Anomalie betrachtet, wies Richard Alewyn deshalb bereits 1949 zurück: Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald. Darum kommen wir nun einmal nicht herum. Man kann natürlich jederzeit erklären, mit dem deutschen Volk nichts mehr zu tun zu haben. Man kann auch daraus die Frage aufwerfen, wieviel eigentlich Goethe mit den Deutschen zu tun habe. Was aber nicht geht, ist, sich Goethes zu rühmen und Hitler zu leugnen. Es gibt nur Goethe und Hitler, die Humanität und die Bestialität. Es kann, zum mindesten für die heute lebenden Generationen, nicht zwei Deutschlands geben. Es gibt nur eines oder keines. 4 Zum anderen drängt sich die Frage nach jener Literatur auf, die sich unmittelbar mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen auseinandersetzt: Besitzt nicht auch sie das Potential, das für die Literatur der Aufklärung und der Klassik behauptet wird? Kann und will sie die Menschenwürde restituieren? Dies untersuchen die folgenden Seiten. 3 Die Dramen Goethes, Lessings und vor allem Schillers wurden teilweise nach wie vor aufgeführt. Vor allem Schiller wurde zum geistigen Vorfahren des Nationalsozialismus erhoben; nicht zuletzt wurde das hohe Pathos der Schillerschen Sprache „pervertiert[] und missbraucht[]“ (vgl. Hermann Glaser, Adolf Hitlers Hetzschrift „Mein Kampf “. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus, München 2014, S. 232; vgl. ebd., S. 234; vgl. weiterhin Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin 1986, S. 510; Fick, Lessing-Handbuch, S. 27-28; Claudia Albert, Art. Schiller im 20. Jahrhundert, in: Schiller-Handbuch (hg. v. H. Koopmann; wie S. 104, Anm. 148), S. 825-848, hier bes. S. 832-835; Michael Hofmann, Art. Wirkungsgeschichte, in: Schiller-Handbuch (hg. v. M. Luserke-Jaqui; wie S. 104, Anm. 148), S. 561-581, hier bes. S. 574-577; Bernd Zegowitz, Art. Schiller auf der Bühne, in: ebd., S. 582-596, hier bes. S. 589-591; Andreas Anglet, Art. Faust-Rezeption, in: Goethe-Handbuch (wie S. 121, Anm. 206), Bd. 2, S. 478-515, hier S. 489). Darüber hinaus garnierten die Nationalsozialisten ihre Reden und Schriften immer wieder mit Klassiker-Zitaten (vgl. Christian Hartmann [u. a.] (Hgg.), Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, 2 Bde., München 2016, hier die Einleitung in Bd. 1, S. 22-23). Hitler knüpft in Mein Kampf zudem sowohl an den Geniekult als auch an das Muster des klassischen Bildungsromans an (vgl. ebd., S. 30-31). - Den Begriff der Humanität lehnt Hitler explizit ab; vgl. ebd., S. 393: „Unter ihr [i. e. der Sucht der Selbsterhaltung; MG] schmilzt die sogenannte Humanität als Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebildetem Besserwissen, wie Schnee in der Märzsonne.“ Vgl. weiterhin ebd., S. 495 und S. 721 mit Anm. 265 sowie Glaser, Hitlers Hetzschrift „Mein Kampf “, S. 164-165 und 172. 4 Richard Alewyn, Goethe als Alibi? , in: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland, Teil IV, hg., eingel. u. komm. v. K. R. Mandelkow, München 1984, S. 333-335, hier S. 335 (Herv. i. O.). VII.1. Vorbemerkungen 277 VII.1. Vorbemerkungen In der Begriffsgeschichte der Menschenwürde markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs einen signifikanten Wendepunkt. Als Reaktion auf die Grausamkeiten des nationalsozialistischen Regimes, den Holocaust und die traumatisierenden Erfahrungen des Krieges, „der sich, bösartiger als alle früheren Kriege, als Angriff des Menschen gegen den Menschen und dessen Würde entpuppt hatte“, 5 wurden die Menschenwürde und die daraus abgeleiteten Menschenrechte zu Grundbegriffen des internationalen Norm- und Rechtssystems. Besonders in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) der Vereinten Nationen spielt der Begriff eine prominente Rolle: Die Präambel stellt klar, dass „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“ (m. H.) und dass - in eindeutiger Anspielung auf die jüngste Geschichte - „die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen“. 6 Im Grundgesetz der 5 Gertrud Fussenegger, Über die Würde des Menschen. Anatomie eines Leitbilds (1971), in: Echolot. Essays, Vorträge, Notizen, hg. v. Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich, Linz 1982, S. 45-60, hier S. 45. Nach Kriegsende sei versucht worden, die Vorstellung der Menschenwürde zu rehabilitieren: „[D]ie geleugnete, geschmähte, in Millionen von Individuen zertretene Menschenwürde konnte aus dem Staub wieder aufgerichtet, als wahrer Sieger emporgehoben und wieder inthronisiert werden“ (ebd.). - Fussenegger selbst spielte als österreichische Autorin und NS-Anhängerin während der NS-Zeit eine durchaus problematische Rolle. - Vgl. auch Walter Schmitz, Art. Shoah Erinnerungskultur, in: WdW, S. 109-111, hier S. 109: „Die Shoah […] zielte über die Liquidierung der Opfer hinaus auf die Vernichtung der Würde des Menschen, und zwar durch bürokratische Erfassung, systematische Verfolgung, industrielle Tötung und Verwertung von Menschen.“ 6 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 10. Dezember 1948, http: / / www.un. org / depts / german / menschenrechte / aemr.pdf (letzter Zugriff: 03. 04. 2017). Auch an weiteren Stellen der Erklärung wird Bezug auf die Menschenwürde genommen, etwa in Art. 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“ (ebd.). Vgl. hierzu Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 13-22. - Auch die Präambel der Charta der Vereinten Nationen (1945) spricht von „Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“ (https: / / www.unric.org / html / german / pdf / charta. pdf; letzter Zugriff: 03. 04. 2017). - Bereits vor 1945 kam der Begriff der Menschenwürde vereinzelt in Verfassungen vor - allerdings nicht in einer derart grundlegenden, prominenten Stellung -, erstmals 1919 in der Weimarer Reichsverfassung (dort Art. 151), danach in der portugiesischen sowie der irischen Verfassung (1933 bzw. 1937). Er zielte v. a. auf ‚menschenwürdige Lebensverhältnisse‘. Vgl. dazu oben, S. 21 und Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 13. - Vgl. ebenfalls Rensmann, Die Menschenwürde als universaler Rechtsbegriff, S. 75-82. - Eine differenzierte Beschreibung der Bedeutung des 278 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland figuriert die Menschenwürde in Art. 1 § 1 als Grundpfeiler, als höchste Norm der Verfassung. Der Schutz der als unantastbar postulierten Menschenwürde und der auf ihr gegründeten „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“ (Art. 1 § 2) 7 ist die Maxime jedes staatlichen Handelns. So wird die Menschenwürde nach 1945 nicht nur zu einem genuin juristischen Begriff, sondern erfährt noch einmal eine Aufwertung als Orientierungskategorie in ethischen Diskursen jeder Art - zu der sich auch die Literatur inhaltlich und in ihren ästhetischen Verfahrensweisen positionieren muss. * Kurz nach Kriegsende befasst sich die Philosophin Hannah Arendt mit den Menschenrechten und der Menschenwürde - und vor allem mit deren Verlust. Im 20. Jahrhundert, so Arendt, seien „zum erstenmal große Gruppen von Menschen auf[getaucht], die in eklatanter Weise aller Rechte beraubt waren“, 8 da sie als Staaten- oder Heimatlose keiner politischen Gemeinschaft angehörten, die ihre Rechte garantieren konnte. Diese „komplette Entrechtung“ 9 resultierte nicht aus begangenen Straftaten oder Gesetzesbrüchen. Arendt verweist auf den Umgang der Nationalsozialisten mit den Juden, denen zunächst schrittweise ihr rechtlicher Status als deutsche Staatsbürger aberkannt wurde: „So wurde […] eine Lage kompletter Rechtlosigkeit hergestellt, bevor das Recht auf Leben in Frage gezogen wurde.“ 10 Diese „Ausstoßung aus der Menschheit“, etwa von KZ -Insassen, tastet jedoch in Arendts Deutung die Menschenwürde des Opfers nicht an: Holocaust für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bietet G. Daniel Cohen, The Holocaust and the „Human Rights Revolution“, in: The Human Rights Revolution (wie S. 23, Anm. 30), S. 53-71. 7 https: / / www.bundestag.de / bundestag / aufgaben / rechtsgrundlagen / grundgesetz / gg / 245 216 (letzter Zugriff: 03. 04. 2017). - Vgl. hierzu etwa Joachim Detjen, Verfassungswerte. Welche Werte bestimmen das Grundgesetz? , Bonn 2012, S. 31-32: „Die Aufnahme der Menschenwürde ins Grundgesetz ist eine Folge der Entrechtung und Erniedrigung der Menschen in der nationalsozialistischen Diktatur. […] Die Aussage, dass die Menschenwürde unantastbar ist, beschreibt allerdings nicht die Wirklichkeit, sondern drückt Trotz aus gegen drohende Zugriffe auf die Würde.“ Detjen verweist auch auf die problematische Qualität des Begriffs: „Keine andere Bestimmung des Grundgesetzes ist hinsichtlich ihres Inhaltes so unbestimmt und vage geblieben wie die Formel von der Menschenwürde. Ein operabler Begriff der Menschenwürde liegt bis heute nicht vor. Die Menschenwürde ist ein offener Begriff ohne Randschärfe“ (ebd., S. 35). - Vgl. weiterhin Tiedemann, Was ist Menschenwürde? , S. 26-29 sowie, für die juristische Rezeption des Begriffs, S. 33-50. 8 Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung 4 (1949), S. 754-770, hier S. 754. 9 Ebd., S. 758. 10 Ebd., S. 759. VII.1. Vorbemerkungen 279 Es stellte sich heraus, daß der Mensch alle sogenannten Menschenrechte einbüßen kann, ohne seine wesentliche menschliche Qualität, seine Menschenwürde, zu verlieren. Einzig der Verlust der politischen Gemeinschaft ist es, der den Menschen aus der Menschheit herausschleudern kann. 11 Die „abstrakte Nacktheit [des] Nichts-als-Mensch-Seins“ 12 eines KZ -Häftlings macht ihn zu einem vollkommen rechtlosen, keineswegs aber zu einem würdelosen Subjekt. Arendt postuliert daher das menschliche „ Recht, Rechte zu haben “. 13 Arendts Überlegungen verweisen auf eine Frage, deren Beantwortung gerade durch die Literatur zu untersuchen ist: Kann ein Mensch seine Würde verlieren? Kann sein Menschsein zerstört werden? Oder bleibt die Menschenwürde - selbst angesichts gröbster Erniedrigungen und Entwürdigungen - unangetastet? VII.1.1. Sprache, Menschenwürde und Nationalsozialismus Dem Terror und den Gräueln des NS -Regimes fielen Millionen Menschen zum Opfer. Der physischen Verfolgung und Vernichtung gingen meist Diskriminierung, Erniedrigung, Entrechtung und Ausgrenzung voraus - wie sie z. B. in den Nürnberger Gesetzen sogar juristisch festgeschrieben und legitimiert wurden. Notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung sowohl für die Durchführung der nationalsozialistischen Verbrechen als auch für deren stillschweigende, gleichgültige Akzeptanz durch weite Teile der deutschen Gesellschaft war die systematische, staatlich gelenkte und konsequente sprachlichrhetorische Entwürdigung und Entmenschlichung potentieller Opfergruppen. 14 11 Ebd., S. 761. 12 Ebd., S. 762-763. 13 Ebd., S. 760 (Herv. i. O.). Vgl. auch ebd., S. 768: „[D]er Mensch hat rein als Mensch nur ein einziges Recht, das über alle seine verschiedenartigen Rechte als Staatsbürger hinausgeht: das Recht, niemals seiner Staatsbürgerschaft beraubt zu werden, das Recht niemals ausgeschlossen zu werden von den Rechten, die sein Gemeinwesen garantiert. (Eine solche Ausschließung liegt nicht vor, wenn er ins Gefängnis gesperrt, wohl aber, wenn er ins Konzentrationslager gesteckt wird.)“ - Vgl. hierzu und zu Arendts Kritik an der Wirksamkeit der Menschenrechte in ihrem politiktheoretischen Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951; in dt. Üb. 1955) Frank Mathwig, Art. Recht-auf- Rechte-Theorie: Hannah Arendt, in: WdW, S. 103-105. 14 Vgl. dagegen z. B. Reemtsma, Vertrauen und Gewalt, S. 292: Es sei falsch, „zu meinen, die Herabwürdigung eines Gegners (seine ‚Entmenschlichung‘) diene der Entledigung einer Art Beißhemmung […]. Das ist wohlmeinender Unfug, der im Dienste eines Menschenbildes steht, das trachtet, das moderne Selbstbild einer im Grunde gewaltabstinenten Persönlichkeit zu universalisieren. Der Mensch hat gegenüber seinesgleichen keinerlei Beißhemmung, historia docet. Wohl aber legt er Wert darauf, sein kulturelles Selbst […] nicht aufs Spiel zu setzen. Es geht nicht darum, das Objekt seiner Gewalttätigkeit zu ver- 280 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Entwürdigung lässt sich als zuweilen essentiell sprachliches Phänomen begreifen, 15 das den sprachlichen, künstlerisch-ästhetischen Widerspruch geradezu herausfordert. Nach Victor Klemperer ist die „Lingua Tertii Imperii“, die bewusst im Hinblick auf ideologische Ziele eingesetzte und gelenkte Sprache des Dritten Reichs, „im Kern rhetorisch“. 16 Die rhetorischen Strategien, die die nationalsozialistische Propaganda- und Mediensprache konsequent anwendet, setzen auf die systematische sprachliche Degradierung des ‚Feindes‘, um so eine durch Sprache präfigurierte, dann tatsächlich realisierte Distanzierung zu bewirken. Durch die, so Horst Dieter Schlosser, „sprachliche Einübung des Volkes in menschenverachtendes und totalitäres Denken“ wird die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die sprachliche Entwürdigung in „außersprachliche Gewalt“ umschlagen kann, die eine große Mehrheit nicht mehr als moralisch anstößig empfindet. 17 teufeln, sondern darum, nicht selbst vor sich selbst als Teufel dazustehen.“ Auch die Vorstellung, dass Menschen durch das Töten entmenschlicht würden, sei ein „ platter Topos “ (ebd., S. 415; Herv. i. O.). Auf der anderen Seite konzediert Reemtsma, dass die „Rhetorik des Genozids“ dazu diene, „sich an die Tat in Gedanken und Worten zu gewöhnen“ (ebd., S. 318) und dass ohne die antisemitische Rhetorik „der Völkermord undenkbar gewesen [wäre]“. Trotzdem sei der Völkermord „auch nicht einfach die Umsetzung dieser Rhetorik“, sondern: „ Die Rhetoriker der Vernichtung finden sich auf einmal in der Situation wieder, in der sie ihren eigenen Worten glauben können “ (ebd., S. 320; Herv. i. O.). 15 So Christian Neuhäuser mit Blick auf Avishai Margalits Politik der Würde . Da Margalit Würde als sozial konstituiert versteht, setzt Entwürdigung „Sprachfähigkeit im Sinne von Sprachverständnis“ voraus; „Würde, Demütigung und Erniedrigung sind offensichtlich Konzepte, die der Sprache bedürfen. Darüber hinaus kann Sprache auch das Mittel der Entwürdigung sein, muss es aber nicht“ (Margalit - Die Sprache der Entwürdigung, in: Philosophien sprachlicher Gewalt. 21 Grundpositionen von Platon bis Butler, hg. v. H. Kuch u. S. K. Herrmann, Weilerswist 2010, S. 351-369, hier S. 353). 16 Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 16 1996, S. 96. Klemperer bezeichnet die wie Gift wirkende, ständige Wiederholung von einzelnen Wörtern und bestimmten Wendungen - den bewussten Einsatz von Sprache als bewusstseinsmanipulierende und -verändernde Kraft - als das stärkste Propagandamittel des NS-Regimes (ebd., S. 26 f.). - Vgl. auch Christian A. Braun, Nationalsozialistischer Sprachstil. Theoretischer Zugang und praktische Analysen auf der Grundlage einer pragmatisch-textlinguistisch orientierten Stilistik, Heidelberg 2007, v. a. S. 221-273 für die Bestimmung konkreter Sprachmerkmale. Zur Sprache von Hitlers Mein Kampf vgl. Hartmann [u. a.] (Hgg.), Hitler, Mein Kampf, Bd. 1, S. 21-24. - Reemtsma unterscheidet drei „Rhetoriken der Relegitimierung“ von Gewalt: Die „Rhetorik des Zivilisationsauftrags“, die „Rhetorik der eschatologischen Säuberung“ und die „Rhetorik des Genozids“ (Vertrauen und Gewalt, S. 269-293 und 307-321). 17 Horst Dieter Schlosser, Sprache unterm Hakenkreuz. Eine andere Geschichte des Nationalsozialismus, Köln / Weimar / Wien 2013, S. 401. Vgl. ebd., S. 246 und S. 220-221. Zur nationalsozialistischen Sprachlenkung vgl. ebd., S. 392-395. - Vgl. auch Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 39: „Der moralische Gattungsbruch des Na- VII.1. Vorbemerkungen 281 Wirkästhetisch formuliert, zielt diese Sprache auf das Ausschalten jeglichen Mitleids gegenüber jenen, die zu Feinden deklariert werden. 18 Eine dieser Strategien 19 ist die gehäufte Verwendung biologistischer Begriffe, die die pseudo-biologisch fundierte Diskriminierung ganzer Menschengruppen begleiten und verankern - in erster Linie der Juden, aber auch der slawischen Völker, der Behinderten und Homosexuellen. Vokabeln wie ‚Ausmerze‘, ‚Gnadentod‘, ‚Schädlinge‘, 20 ‚Bazillen‘, ‚Schmarotzer‘ und ‚Parasiten‘, ‚Ratten‘, auch ‚Selektion‘ und ‚Desinfektion‘, 21 entstammen Wortfeldern, die im weitesten Sinne dem Tier- und dem Pflanzenhaften zuzurechnen sind. Dieses allegoriehafte Sprechen 22 suggeriert, dass Juden keine vollwertigen Menschen, sondern eher ‚Menschentiere‘ seien, für deren Behandlung andere Normen gelten und die im Zweifelsfall zu vernichten sind. 23 Neben solchen Degradierungen spielen kollektivierende und depersonalisierende Bezeichnungen mit bestimmten Artikeln eine entscheidende Rolle. Sowohl die Formulierung „der Jude“, die den Bezeichneten zum Stereotyp, zum Klischee reduziert, 24 als auch die Kollektivbezeichnung „die Juden“ rauben dem Einzelnen jede Individualität und definieren den Menschen ausschließlich über seine rassische Identität. Gesteigert wird diese zismus ist im Rahmen von dessen Weltanschauung zu sehen, die ein moralisches Transformationsprojekt des Menschen impliziert, zu dessen konstitutivem Bestandteil der antijüdische Gattungsnegativismus gehört.“ Die „christlich-humanistische Tradition“, aber auch die „Maßstäbe[] der Weimarer Verfassung“ und das „humane[] Paradigma Kants“ mit seinen Grundkonzepten Würde und Selbstzweckhaftigkeit wurden außer Kraft gesetzt. Die „exterministische[] Option“ ist in dieser Weltanschauung immer schon angelegt (ebd., S. 40, 45 und 42). 18 Vgl. ähnlich Glaser, Hitlers Hetzschrift „Mein Kampf “, S. 164. 19 Wie sich der Nationalsozialismus eklektisch etlicher bis ins 19. Jahrhundert zurückzuverfolgender Ideologeme bedient, die er kombiniert und radikalisiert, so hat auch die nationalsozialistische Sprache historische Vorläufer. Gleichwohl ist die Art und Weise, wie diese Sprache zugespitzt, systematisch staatlich gelenkt und propagandistisch eingesetzt wird, neuartig. 20 Vgl. hierzu Cornelia Schmitz-Berning, Art. Schädling, in: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin / New York 2 2007, S. 554-557. - Begriffe wie „Schädling“ wurden übrigens auch im Stalinismus und in der DDR der 1950er Jahre benutzt, hier v. a. in Bezug auf politische Gegner und Andersdenkende. 21 Vgl. dazu ebd., S. 211, 217, 218 und 242. - Zu biologischen Metaphern in der NS-Sprache vgl. auch Braun, Nationalsozialistischer Sprachstil, S. 251-253. 22 Zur metaphorischen NS-Sprache vgl. ebd., S. 546. 23 Vgl. hierzu auch mit vielen Beispielen Glaser, Hitlers Hetzschrift „Mein Kampf “, S. 181-206. Matthias Kontarsky weist darauf hin, dass das in den Gaskammern der Konzentrationslager verwendete Gas Zyklon B bezeichnenderweise eigentlich ein „Ungeziefervernichtungsmittel“ sei (Trauma Auschwitz. Zu Verarbeitungen des Nichtverarbeitbaren bei Peter Weiss, Luigi Norno und Paul Dessau, Saarbrücken 2001, S. 19). 24 Klemperer spricht vom „personifizierenden und allegorisierenden Singular“ (LTI, S. 223). Auch Formulierungen wie „der Russe“ usw. haben diese Funktion. 282 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Entindividualisierung durch die obligatorischen jüdischen Namen und Zweitnamen für Neugeborene. 25 Juden sollen nicht als Individuen wahrgenommen, sondern mit dem radikal und stereotypisch Anderen, mit dem Fremden identifiziert werden. Die erzeugte sprachliche, kognitive und emotionale Distanz macht so Bezeichnete zu Projektionsflächen für diffuse Ängste, Vorurteile und Hassphantasien, aber auch zu kaum bedauernswerten Gewaltopfern. 26 Schließlich pervertiert die nationalsozialistische Ideologie die Vorstellung einer allen Menschen gleichermaßen innewohnenden Würde. Zum einen ridikulisiert Hitler in Mein Kampf explizit die Idee unveräußerlicher Menschenrechte. 27 Zum anderen nimmt die NS -Ideologie auch sprachlich eine folgenreiche Umdeutung vor: Sie schreibt dem einzelnen Menschen keine als absolut und unantastbar gedachte „Würde“, sondern einen streng relativen „Wert“ zu. 28 Hitler etwa beschreibt sich als „völkische[n] Mann, der den Wert des Menschentums nach rassischen Grundlagen abschätzt“. 29 Den Wert eines Individuums bestimmen neben rassischen auch biologische, ökonomische und soziale Kriterien. Diese sowohl rassische als auch „sozialdarwinistische Taxierung“ 30 spaltet die 25 Ab dem 1. Januar 1939 mussten Juden einen obligatorischen, für alle gleichen zusätzlichen Vornamen führen („Sara“ bzw. „Israel“). Neugeborene jüdische Kinder durften ausschließlich jüdische oder hebräisch klingende Vornamen erhalten. Vgl. dazu Schlosser, Sprache unterm Hakenkreuz, S. 236-237. 26 Zur Funktion der literarischen Figur des „ewigen Juden“ in der nationalsozialistischen Propaganda, v. a. im Hinblick auf die Wanderausstellung „Der ewige Jude“ sowie den gleichnamigen Film, vgl. Wolfgang Benz, „Der ewige Jude“. Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propaganda, Berlin 2010. Zur Verwendung antisemitischer Stereotypen in der zeitgenössischen Literatur vgl. Stefan Glenz, Judenbilder in der deutschen Literatur. Eine Inhaltsanalyse völkisch-national-konservativer und nationalsozialistischer Romane 1890-1945, Konstanz 1999. - Reemtsma bezeichnet den NS-Antisemitismus als „gemeinschaftsstiftendes Wir-Konzept“ (Vertrauen und Gewalt, S. 394). 27 Vgl. dazu Hartmann [u. a.] (Hgg.), Hitler, Mein Kampf, Bd. 2, S. 1027. 28 Zum Begriff des Werts im Kontext des Menschenwürdediskurses vgl. Dieter Thomä, Art. Wert, in: WdW, S. 211-213. 29 Hartmann [u. a.] (Hgg.), Hitler, Mein Kampf, Bd. 2, S. 1667. Vgl. auch ebd., S. 1019: „ Das Deutsche Reich soll als Staat alle Deutschen umschließen mit der Aufgabe, aus diesem Volke die wertvollsten Bestände an rassischen Urelementen nicht nur zu sammeln und zu erhalten, sondern langsam und sicher zur beherrschenden Stellung emporzuführen “ (Herv. i. O.). Vgl. auch die Ausführungen in der Einleitung zur Edition, hier v. a. S. 48-53. 30 Schmitz-Berning, Art. lebensunwertes Leben, in: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 381. Vgl. ebd., Art. minderwertig (Minderwertiger, Minderwertigkeit), S. 406-408. Hier wird ein nationalsozialistisches Schulbuch zitiert: „Für uns ist […] keineswegs wie für den Liberalismus Mensch gleich Mensch, sondern Glied seiner Sippe, Tropfen im ewigen Erbstrom seines Volkes. Wir besitzen darum wohl das Recht, wertvolle und minderwertige Erbträger voneinander zu scheiden“ (zit. nach: ebd., S. 408). VII.1. Vorbemerkungen 283 Gesamtheit der Menschen in ‚Höher-‘ und ‚Minderwertige‘ auf - stets im Hinblick auf das Wohl des deutschen Volkskörpers. 31 Der ideologisch radikalisierte Sozialdarwinismus des nationalsozialistischen Welt- und Menschenbildes postuliert das Recht auf Leben nur für die Gesunden, die Starken und die für das Volk Nützlichen. Angestrebt wird im Sinne der eugenischen Bewegungen die ‚Auslese‘ der hochwertigen Menschen; 32 ‚lebensunwertes Leben‘, das im Hinblick auf simple Kosten-Nutzen-Rechnungen die Gesellschaft belastet - gemeint sind etwa geistig Behinderte und psychisch Kranke -, soll, euphemistisch als ‚Euthanasie‘ verharmlost, vernichtet werden und diese Vernichtung vor dem Hintergrund des Wert-Gedankens als legitim erscheinen. 33 Eng mit dem Gedanken der Rassenhygiene 34 verknüpft ist die Bestimmung des rassischen Werts eines Menschen, die wiederum zu einer strengen Kategorisierung und Hierarchisierung führt. ‚Minderrassige‘ und ‚Untermenschen‘ 35 - in den Augen der Nationalsozialisten etwa Juden, Slawen oder Kommunisten (wobei sich rassische und ideologische Argumente vermischen) - oder ‚Entartete‘ müssen ‚ausgemerzt‘ werden, um die Reinheit, die Gesundheit und den Fortbestand der höherwertigen arischen Rasse zu garantieren. Beide Aspekte zusammen - der biologische und der rassische Wert - definieren den erblichen Wert eines Menschen. Wertvoll ist ein Individuum demnach nicht aufgrund seiner persönlichen Verdienste oder gar seiner moralischen Qualität, sondern aufgrund seiner Erbmasse und deren Nützlichkeit für die potentielle 31 Vgl. dazu etwa den Art. Menschenrechte im nationalsozialistischen Volks-Brockhaus : Dieser führt aus, der Nationalsozialismus betone gegenüber der naturrechtlichen Idee „angeborene[r] und unveräußerliche[r] Rechte der Einzelmenschen […] die Pflichten des einzelnen gegen das Volksganze, in dem alle Rechte des einzelnen wurzeln“ (Der Volks- Brockhaus. Sachwörterbuch für jedermann, Leipzig 10 1943, S. 448). 32 Vgl. hierzu Schmitz-Berning, Art. Auslese, in: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 77-79 und ebd., Art. lebensunwertes Leben, S. 380-383. 33 Vgl. ebd. sowie ebd., Art. Vernichtung lebensunwerten Lebens, S. 634-636. Zur ökonomischen Argumentation vgl. Schlosser, Sprache unterm Hakenkreuz, S. 214-215. 34 Vgl. Schmitz-Berning, Art. minderwertig (Minderwertiger, Minderwertigkeit), in: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 406-408; ebd., Art. minderrassig, S. 404-406; ebd., Art. Rasse, S. 481-491. Vgl. auch Robert Bernasconi, Art. Rasse, in: WdW, S. 186-187 und den Art. Rasse, in: Volks-Brockhaus, S. 563. 35 Vgl. hierzu Schmitz-Berning, Art. Untermensch, in: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 618-621 und Art. Untermenschentum, S. 621-622. Laut Schmitz-Berning wurde der Begriff „Untermensch“ durch das Buch Der Kulturumsturz. Die Drohung des Untermenschen von Lothrop Stoddard (urspr. 1924; üb. ins Dt. von H. Weise 1925) in nationalsozialistischen Kreisen zum Schlagwort. Vgl. Art. Untermensch, S. 620. - Schlosser führt an, dass die „unmissverständliche Diskriminierung von Juden als ‚Untermenschen‘ [in einer auflagenstarken SS-Schrift mit diesem Titel aus dem Jahr 1935; MG] wohl die folgenreichste“ war: „Denn sie sprach Juden jegliche Menschenwürde ab, was sie zum Freiwild machte“ (Sprache unterm Hakenkreuz, S. 229). 284 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust rassische Verfeinerung des deutschen Volks. Rein ökonomisch wird schließlich der Wert des Menschen bestimmt, wenn das ‚Menschenmaterial‘ zur strategischen Größe im Hinblick auf die Realisierung von Staatszielen wird, seien es Produktionsziele oder militärische Operationen. 36 Der Begriff der Menschenwürde hat somit seine Absolutheit, seine normative Aura, mithin seine Gültigkeit verloren. Zum einen wird Würde abstufbar; aus ideologischen Gründen wird sie bestimmten Volksgruppen abgesprochen, die aus der menschlichen Gattung ausgeschlossen werden. 37 Zum anderen wird sie als relativer Wert und somit gleichsam anti-kantisch verstanden. Für das Verhältnis von Menschenwürde, Sprache und außersprachlicher Realität bedeutet das: Menschen, die rhetorisch entindividualisiert, zum Tier degradiert und als wertlos definiert werden, die also in mehrfacher Hinsicht der Vorstellung einer besonderen Menschenwürde entrückt werden, sind zur Verdrängung, mithin zur Vernichtung freigegeben. Der Nationalsozialismus ist, zugespitzt formuliert, eine „Weltanschauung ohne Menschenwürde“. 38 VII.1.2. Exkurs I: Menschenwürde nach dem Nationalsozialismus: Jean Amérys Essaysammlung Jenseits von Schuld und Sühne (1966) In der essayistischen Auseinandersetzung mit seiner Existenz als NS -Opfer und dem jüdischen Selbstverständnis nach dem Holocaust entwickelt Jean Améry einen Menschenwürdebegriff, der der Realität der Entwürdigung ganzer Volksgruppen durch das Dritte Reich Rechnung tragen will. Da der Nationalsozialismus die Vorstellung einer inhärenten Menschenwürde ad absurdum geführt hat, definiert Améry den Begriff neu: Würde ist „das von der Gesellschaft vergebene Recht auf Leben“. 39 Würde entsteht und vergeht durch Kommunikation und soziale Interaktion. 36 Vgl. hierzu Schmitz-Berning, Art. Menschenmaterial, in: Vokabular des Nationalsozialismus, S. 399-403 sowie Hartmann [u. a.] (Hgg.), Hitler, Mein Kampf, Bd. 2, S. 987. 37 Vgl. Avishai Margalit / Gabriel Motzkin, Die Einzigartigkeit des Holocaust, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45.1 (1997), S. 3-18, hier S. 7. Das NS-Menschenbild „leugnete[]“ laut Margalit und Motzkin „die gemeinsame Menschlichkeit der Menschheit“; Juden seien aus der menschlichen Gattung ausgeschlossen worden. 38 So der österreichische Journalist Anton Klotz 1946 in einem Essay über die NS-Ideologie (Weltanschauung ohne Menschenwürde, Innsbruck 1946). Klotz geht auch auf die entscheidende Rolle der Propaganda ein: „Es waren Ideen ausgesät worden, die der menschlichen Persönlichkeit die ihr angeborene Würde bestritten. […] Der totale Staat ist nur möglich, wenn die Menschenwürde abgeschafft ist. Der Nationalsozialismus hat diese Konsequenz auch in totalster Weise gezogen“ (ebd., S. 20). 39 Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 7 2012 [urspr. 1966], S. 18. - Im Folgenden wird stets nach dieser Ausgabe zitiert. VII.1. Vorbemerkungen 285 Améry spricht die Menschenwürde in drei Kontexten an: im Zusammenhang mit der Lage des Intellektuellen im KZ , der Natur der Folter und der conditio der Juden im und nach dem Nationalsozialismus. Während er sich zunächst scheut, den Begriff genauer auf seine mögliche Bedeutung hin zu untersuchen, wird die Menschenwürde gegen Ende von Jenseits von Schuld und Sühne zentral für den Umgang mit der Vergangenheit. Apodiktisch stellt Améry zunächst fest, dass die Erfahrung des Konzentrationslagers den Glauben an eine absolute, inhärente Menschenwürde zerstört: „Man schaut nicht dem entmenschten Menschen“ - gemeint sind Täter und Opfer - „bei seiner Tat und Untat zu, ohne daß alle Vorstellungen von eingeborener Menschenwürde in Frage gestellt würden“ ( JSS 48). Für den Intellektuellen, der selbstbewusst auf die Kraft der Vernunft und des Geistes vertraute, ist dies ein Schock: „Vor ihm [i. e. dem Intellektuellen; MG ] lag der Tod, und in ihm regte sich immer noch der Geist; dieser stand jenem gegenüber und suchte - vergeblich, um es nur gleich zu sagen - seine Würde zu statuieren“ ( JSS 43). Im Lager verlieren Bildung, Philosophie und Intellekt jeden Realitätsbezug; sich auf seine Vernunft als Grund der eigenen Würde zu berufen, ist genauso hilflos wie lächerlich. Damit einher geht, was Améry den „totale[n] Zusammenbruch der ästhetischen Todesvorstellung“ nennt ( JSS 43; Herv. i. O.), wie sie die literarische Tradition transportiert. Der allgegenwärtige Tod ist kein individuelles, würdevolles, mystisch überhöhtes Ereignis, sondern ein kaum aufzuhaltender, höchstens zu verzögernder Prozess, der tägliche Not, Schmerzen und Leiden bedeutet. 40 Auch für die Analyse der Folter, die in Amérys Augen die „Essenz“ des Dritten Reichs ist ( JSS 55), ist der emphatische, aber unscharfe Begriff der Menschenwürde nicht zielführend: Es ist nur wenig ausgesagt, wenn irgendein Ungeprügelter die ethisch-pathetische Feststellung trifft, daß mit dem ersten Schlag der Inhaftierte die Menschenwürde verliere. Ich muß gestehen, daß ich nicht genau weiß, was das ist: die Menschenwürde. […] Ich weiß also nicht, ob die Menschenwürde verliert, wer von Polizeileuten geprügelt wird. Doch ich bin sicher, daß er mit dem ersten Schlag, der auf ihn niedergeht, etwas einbüßt, was wir vielleicht vorläufig das Weltvertrauen nennen wollen. ( JSS 61; Herv. i. O.) Zitate werden im Text in der Form (JSS Seitenangabe) belegt. 40 Allerdings konzediert Améry, dass religiöse und politisch engagierte KZ-Häftlinge „würdiger“ starben als ungebildete oder unpolitische (JSS 37). Dass das Wissen darum, aufgrund einer bestimmten Weltanschauung leiden zu müssen und nicht bloß aufgrund einer zufälligen rassischen Zugehörigkeit, eine Quelle der Würde und inneren Kraft sein kann, ist ein in vielen KZ- und Holocaustromanen vorkommendes Motiv. 286 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Améry greift zu einem Deutungsmodell, das die Tortur als soziale Handlung auffasst. Der Verlust des „Weltvertrauens“ ist ein Verlust der „Gewißheit, daß der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er meinen physischen und damit auch meinen metaphysischen Bestand respektiert“ ( JSS 62). Insofern bricht der Folterer in einem Akt autotelischer Gewalt die soziale Übereinkunft, dass die leibseelische Integrität des Einzelnen ‚heilig‘ ist. 41 Da der Gefolterte weder Hilfe erwarten darf noch sich wehren kann, ist er dem Schmerz vollkommen ausgeliefert (vgl. JSS 70); die Tortur ist die Reduktion eines Menschen zum bloßen Körper durch einen anderen (vgl. JSS 71). Zudem akzentuiert Améry den Sadismus als Grundzug des Nationalsozialismus. Mit Bataille bestimmt er Sadismus als „Verneinung […] des Sozialprinzips und des Realitätsprinzips“. Ziel des Folterers ist demnach die „Negation des Mitmenschen“ ( JSS 73), die ihm den „Exzeß der ungehemmten Selbstexpansion“ erlaubt (JSS 74). Um die „eigene totale Souveränität“ zu erfahren, „verfleischlicht“ er den „Mitmensch[en]“; 42 so wird die Folter zur „Umstülpung der Sozialwelt“ ( JSS 73). Der Nationalsozialismus erhebt so die „Herrschaft des Gegenmenschen“, der den Sozialkontrakt pervertiert und das Weltvertrauen des Mitmenschen bewusst destruiert, zum „Prinzip“ ( JSS 67). Angesichts des Schmerzes versagt sogar die Sprache. Weder rein beschreibend noch mithilfe von Metaphern oder Vergleichen kann sie das Erlebte mitteilen (vgl. JSS 69-70). Und doch wird gerade das reflektierende, analytische, nicht zuletzt sprachkritische Schreiben über den Schmerz im Speziellen und die Erfahrung des eigenen Opferstatus im Allgemeinen zu einem Akt der „Ichkonstitution“, 43 zu einem Mittel, sich über die Entwürdigung hinwegzusetzen. Gegen Ende von Jenseits von Schuld und Sühne , im Kontext seiner Ausführungen „[ü]ber Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“, wendet sich Améry der Menschenwürde noch einmal zu, diesmal nicht, um ihre Unschärfe und Unangebrachtheit herauszustellen, sondern um sie tatsächlich mit einem Inhalt zu füllen, der die Erfahrung des Holocaust reflektiert. Die Nürnberger Gesetze - „das, was man gemeinhin die methodische ‚Entwürdigung‘ der Juden durch die Nazis nennt“ - sind für Améry lediglich die offizielle, juristische Festschreibung dessen, was in der Propaganda mithilfe abstoßender Bilder und Klischees trans- 41 Zum Begriff der autotelischen Gewalt vgl. Reemtsma, Vertrauen und Gewalt, S. 116-124, hier S. 116: „ Autotelische Gewalt zielt auf die Zerstörung der Integrität des Körpers “ (Herv. i. O.). Zu Amérys Essay vgl. ebd., S. 125-126. 42 Laut Reemtsma „liegt in der Möglichkeit zur Ausübung autotelischer Macht die individuelle Chance, absolute Macht auszuüben: die schlechthin unbeschränkte Macht, die keinem Ziel mehr dient als ihr selbst“ (Vertrauen und Gewalt, S. 133). 43 Marisa Siguan, Schreiben an den Grenzen der Sprache. Studien zu Améry, Kertész, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub, Berlin [u. a.] 2014, S. 51-103, hier bes. S. 50-54. VII.1. Vorbemerkungen 287 portiert und verankert wurde: „Wir waren nicht liebens- und darum auch nicht des Lebens würdig.“ Die Gesetze machen aus der konzeptuellen Entwürdigung allerdings eine reale Bedrohung: „[D]er Würdeentzug drückte die Morddrohung aus“ ( JSS 151). In dieser Hinsicht sind die NS -Vernichtungslager die notwendige Folge des „Entwürdigungsproze[sses]“, der mit den Nürnberger Gesetzen beginnt ( JSS 154). Aus der Einsicht heraus, dass einem Menschen die Würde derart abgesprochen werden kann, verabschiedet sich Améry vom inhärenten Würdebegriff und postuliert als Aufgabe des Entwürdigten, seine Würde wiederzugewinnen. Da der „Würdeentzug nichts anderes war als potentieller Lebensentzug“, bedeutet Würde das „Recht auf Leben“. Sowohl „Zubilligung“ als auch „Aberkennung“ der Menschenwürde sind in dieser Deutung „Akte sozialen Einverständnisses […], Urteile also“. Améry unterscheidet dabei ausdrücklich nicht zwischen rein kontingenten Formen der Würde (wie einer „Amtswürde“, einer „Berufs- oder ganz allgemein Bürgerwürde“) und seinem entemphatisierten Menschenwürdebegriff. Würde, egal, in welcher Form, kann „nur von der Gesellschaft verliehen werden“. Die individualistische Würde lehnt Améry entschieden ab: [D]er bloß im individuellen Innenraum erhobene Anspruch („Ich bin ein Mensch und habe als solcher meine Würde, was immer ihr tun und sagen mögt! “) ist leere Denkspielerei oder Wahn. Jedoch kann der entwürdigte, todesbedrohte Mensch - und hier durchbrechen wir die Logik der Aburteilung - die Gesellschaft von seiner Würde überzeugen, indem er sein Schicksal auf sich nimmt und sich zugleich in der Revolte dagegen erhebt. ( JSS 155) Das Wiedererlangen der eigenen Würde setzt die „uneingeschränkte Anerkennung des Urteilsspruchs der Sozietät als einer gegebenen Wirklichkeit“ voraus ( JSS 155-156). Sodann kann die „Revolte“ beginnen ( JSS 157). Auch diese ist ein sozialer, kommunikativer Akt. In Amérys Fall besteht die Revolte in der Gegenwehr - sowohl durch das Engagement im Widerstand als auch durch den konkreten Akt der körperlichen Auflehnung: „[M]eine Würde saß als Faustschlag an seinem Kiefer [i. e. eines Vorarbeiters, der ihn in Auschwitz verprügelte; MG ]“. So wird der Körper zur „physisch-metaphysische[n] Würde“, die sich in einem zwischenmenschlichen Akt der Revolte realisiert und dem Revoltierenden erlaubt, sein Menschsein wiederzufinden und zu behaupten ( JSS 158). Wieso aber lehnt Améry die Vorstellung einer unzerstörbaren, inhärenten Würde so vehement ab und postuliert einen Würdeauftrag? Die Erklärung liefert die Wirkabsicht seiner Essaysammlung. Im Vorwort gibt er an, dass er für die „Deutschen“, die „in ihrer überwältigenden Mehrheit sich nicht oder nicht mehr betroffen fühlen von den zugleich finstersten und kennzeichnendsten Taten des Dritten Reichs“ (JSS 18), schreibe. Diese, so ist der Gedankengang Amérys zu er- 288 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust gänzen, müssen das ebenfalls soziale Verdikt der „Kollektivschuld“ 44 annehmen, wie der Jude Améry das Verdikt der Würdelosigkeit annehmen musste, und durch ihre Haltung und ihr Handeln zu überwinden suchen. 45 VII.1.3. Die Menschenwürde und die ‚Literatur nach Auschwitz‘-- Forschungspositionen Der philosophische, kulturhistorische, literaturwissenschaftliche und nicht zuletzt öffentlich-mediale Diskurs um die Möglichkeit und die Bedingungen einer Kunst ‚nach Auschwitz‘ 46 streift immer wieder den Begriff der Menschenwürde, ohne dass er im Zentrum detaillierter Analysen von ästhetischen Verfahrensweisen stünde. Um die vorliegende Studie innerhalb der Forschung zum Komplex ‚Literatur und Holocaust‘ zu positionieren, sind einige einleitende Bemerkungen unerlässlich. 47 44 Vgl. dazu JSS 130-131: „Kollektivschuld. Das ist natürlich blanker Unsinn, sofern es impliziert, die Gemeinschaft der Deutschen habe ein gemeinsames Bewußtsein, einen gemeinsamen Willen, eine gemeinsame Handlungsinitiative besessen und sei darin schuldhaft geworden. Es ist aber eine brauchbare Hypothese, wenn man nichts anderes darunter versteht als die objektiv manifest gewordene Summe individuellen Schuldverhaltens. Dann wird aus der Schuld jeweils einzelner Deutscher - Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld, Schweigeschuld - die Gesamtschuld eines Volkes.“ 45 Vgl. dazu Jean-Michel Chaumont, Geschichtliche Verantwortung und menschliche Würde bei Jean Améry, in: Über Jean Améry, hg. v. I. Heidelberger-Leonhard, Heidelberg 1990, S. 29-47. - Amérys Würdebegriff erinnert an jenen Niklas Luhmanns, der Würde an die „gelungene Selbstdarstellung“ des einzelnen Menschen in der sozialen Interaktion knüpft. In diesem Sinne muss Würde, die Luhmann als „Wunschbegriff“ versteht und nicht als unantastbaren, inhärenten Wert, „konstituiert werden“. Sie ist eine Aufgabe des Einzelnen; gleichzeitig bleibt sie in der sozialen Interaktion und Kommunikation stets prekär. Vgl. Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 5 2009, bes. S. 52-83 (Zitate S. 68). 46 Die Bezeichnung ‚Auschwitz‘ wird häufig als „metonymische Chiffre“ für den „Vorgang des Völkermords an den europäischen Juden“ verwendet (Axel Dunker, Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz, München 2003, S. 24). - Beim Umgang mit ‚Auschwitz‘ ergibt sich ein „terminologisches Problem“: Die Begriffe ‚Holocaust‘ und ‚Shoah‘ haben jeweils unterschiedliche Konnotationen und Implikationen (vgl. dazu Rudolf Freiburg / Gerd Bayer, Einleitung: Literatur und Holocaust, in: Literatur und Holocaust, hg. v. G. B. u. R. F., Würzburg 2009, S. 1-21, hier S. 2-4 und Walter Schmitz, Erinnerte Shoah? Literaturwissenschaftliche Anmerkungen zur Literatur der Überlebenden, in: Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden, hg. v. W. S., Dresden 2003, S. 497-521, hier S. 500). Im Folgenden werden - bei allem Wissen um begriffliche Schwierigkeiten - die Bezeichnungen ‚Auschwitz‘ und ‚Holocaust‘ verwendet. - Vgl. weiterhin Antonia Barboric, Der Holocaust in der literarischen Erinnerung. Autobiografische Aufzeichnungen von Udo Dietmar und Elie Wiesel, Wien [u. a.] 2014. 47 Vgl. zum Folgenden etwa Freiburg / Bayer, Einleitung; Stefan Krankenhagen, Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser, Köln / Wei- VII.1. Vorbemerkungen 289 Als besonders wirkmächtig erweist sich nach wie vor Adornos (häufig in dieser Verkürzung wahrgenommenes) Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch - nicht zuletzt, weil es zahlreiche Repliken von Lyrikern hervorrief. 48 Adornos Verdikt, das die Forschung vielfach kontextualisiert, erläutert und relativiert hat, 49 sowie die damit verwandten Vorstellungen der Unsagbarkeit und der Undarstellbarkeit der Gräueltaten in den KZ s sind einerseits zu topisch-formelhaften Klischees geworden, 50 andererseits aber von ungebrochener Aktualität bei der Rezeption von Holocaust-Literatur. In Auseinandersetzung mit Adorno (und teilweise über ihn hinausgehend) lassen sich verschiedene Argumentationslinien bestimmen. Zunächst ist die ganz grundsätzliche Frage, ob der Holocaust überhaupt darstellbar ist bzw. dargestellt werden soll, kann und darf, weiterhin virulent - und das, obwohl er seit 1945 in den unterschiedlichsten Kunst- und Unterhaltungsformen dargestellt wurde und wird. In einem zweiten Schritt wird bezweifelt, ob eine Literarisierung und / oder Fiktionalisierung des Holocaust legitim ist; im Gegensatz zum Modus der reinen Dokumentation berge die Literatur - eine Abwandlung des platonischen Topos - die Gefahr, die historischen Vorgänge auf für die Opfer unerträgliche Art zu verfälschen. Beide Argumente beruhen auf mehreren Prämissen. Zunächst könnten Darstellungen die von den Opfern erlittenen Entwürdigungen perpetuieren und so ethisch problematisch werden. Produktionsästhetisch ist zu fragen, wer überhaupt das ‚Recht‘ besitzt, über den Holocaust zu berichten: lediglich Opfer, deren Berichte, auch wenn sie literarischen Anmar / Wien 2001, S. 1-19, bes. S. 2-3 mit Anm. 5; Schmitz, Erinnerte Shoah? ; ders., Art. Shoah Erinnerungskultur, in: WdW, S. 109-111; Dunker, Die anwesende Abwesenheit, S. 9-32; Ulrich Baer, Einleitung, in: „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, hg. v. U. B., Frankfurt / M. 2000, S. 7-31. 48 So geäußert in Kulturkritik und Gesellschaft (1949 / 51). - Vgl. dazu die von Petra Kiedaisch hg. Anthologie, die neben den einschlägigen Auszügen aus Adornos Texten poetologische Entgegnungen von Autoren sowie „literarische Reaktionen“ in Form von Gedichten versammelt: Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, hg. v. P. Kiedaisch, Stuttgart 2006. - Die anhaltende Wirkmächtigkeit belegen zum einen die Tatsache, dass so gut wie keine Beschäftigung mit der Literatur zum Nationalsozialismus ohne den Hinweis auf Adorno auskommt, selbst wenn die scheinbare Radikalität der Aussage relativiert wird, zum anderen das Erscheinen aktueller Publikationen, die sich Adornos Ausspruch widmen. Vgl. etwa Marc Kleine, Ob es überhaupt noch möglich ist. Literatur nach Auschwitz in Adornos ästhetischer Theorie, Bielefeld 2012. 49 Vgl. dazu etwa die hilfreichen Darlegungen bei Dieter Lamping, Sind Gedichte über Auschwitz barbarisch? Über die Humanität der Holocaust-Lyrik, in: Literatur und Theorie. Über poetologische Probleme der Moderne, Göttingen 1996, S. 100-118, hier S. 100-106; Krankenhagen, Auschwitz darstellen, S. 15-16 und 53-64 (dort mit Verweis auf eine Studie von Sven Kramer); Alt, Ästhetik des Bösen, S. 483-487. 50 Vgl. dazu ebd., S. 483. Laut Alt ist die „Rhetorik der Unsagbarkeit […] topisch und formelhaft“. 290 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust spruch haben, im eigentlichen Sinne ‚wahr‘ und ‚authentisch‘ sind, oder auch Nachgeborene oder Unbeteiligte, deren Werke auf einen allgemeineren Wahrheitsbegriff abzielen. 51 Außerdem ist gerade die deutsche Sprache - die Sprache der Täter, der Diskriminierung, der Entwürdigung und der industriellen Vernichtung - erheblich vorbelastet und deshalb vielleicht nur bedingt geeignet, Erlebnisse der Opfer auszudrücken. 52 Die literarische Bearbeitung birgt schließlich ein weiteres Risiko, dass nämlich durch kohärenzstiftende Erzählmuster, Gattungskonventionen oder intertextuelle Verweise eine Nachvollziehbarkeit, Sinnhaftigkeit oder Vergleichbarkeit suggeriert wird, die die unbestreitbare Einzigartigkeit der NS -Verbrechen zu relativieren oder nicht angemessen zu würdigen droht. 53 Ganz konkret hatte Adorno selbst die explizite Gewaltdarstellung innerhalb des literarischen Werks, die Ästhetisierung von Gewalt also, abgelehnt. 54 Die literarische Auseinandersetzung mit Terror und Schandtaten des NS -Regimes muss sich somit stets am schwammigen und durchaus problematischen Kriterium der Angemessenheit, des aptum , messen lassen, das versucht, den notwendigerweise vorhandenen moralischen Anspruch sowie ästhetische Freiheit und Eigenheit zu verbinden. 55 * 51 Vgl. dazu Baer, Einleitung, S. 16. - Krankenhagen unterscheidet treffend zwischen „primäre[n] Darstellungen von Auschwitz“, d. h. „Darstellungen von Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager“, die als „‚wahre‘ Zeugnisse von Auschwitz gesellschaftlich legitimiert“ seien, und „sekundären Darstellungen“, d. h. Darstellungen von Autoren, die nicht im KZ waren, und die „Ausdruck der Erfahrung [sind], die das Wissen um Auschwitz ausgelöst hat“. Für diesen zweiten Typus habe die Frage nach der Darstellbarkeit eine besondere Virulenz und poetologischen Charakter (Auschwitz darstellen, S. 10-15). 52 Vgl. dazu etwa Dunker, Die anwesende Abwesenheit, S. 19-20. 53 Vgl. dazu ebd., S. 21; Schmitz, Erinnerte Shoah? , S. 506; Freiburg / Bayer, Einleitung, S. 14 und 18-19. 54 Vgl. dazu ebd., S. 4-5. 55 Vgl. dazu etwa Krankenhagen, Auschwitz darstellen, S. 9 und S. 255-256; hier wird der Begriff der „Undarstellbarkeit“ als „Koppelung von ästhetischer Form und moralischer Beurteilung“ gedeutet (S. 256). - Folge dieses Ringens um Angemessenheit ist laut Dunker, dass sich „heute keine bedeutende Literatur zum Holocaust mehr vorstellen [lässt], die das Problem der Repräsentierbarkeit […] nicht reflektiert“ (Die anwesende Abwesenheit, S. 289). - Andererseits sind von der Forschung (und auch von Adorno selbst) ästhetische Verfahren ausgemacht worden, die auf die vorgebrachten Probleme und Einschränkungen zu reagieren versuchen: anti-mimetisches und anti-kohärentes Erzählen, Verfahren wie die Groteske, die Montage, das Absurde, die Verstummen und Verschweigen imitierende Hermetik, eine Ästhetik des Schocks, formale Radikalisierung usw. Vgl. dazu Freiburg / Bayer, Einleitung, S. 16 und 19; Dunker, Die anwesende Abwesenheit, S. 298; Lamping, Sind Gedichte über Auschwitz barbarisch? , S. 106; Krankenhagen, Auschwitz darstellen, S. 63-64. VII.1. Vorbemerkungen 291 Angesichts der Bedenken, ob die Literatur ein für die Beschäftigung mit dem Holocaust geeignetes Medium ist, geraten deren positive Potentiale allzu leicht in den Hintergrund. Schon das Postulat, die kaum fassbaren Verbrechen niemals zu vergessen, mag deren literarische Darstellung legitimieren. Bereits in den KZ s war die Literatur zudem bisweilen eine Art Überlebensstrategie, sei es, dass Häftlinge selbst schrieben, oder dass, wie etwa Ruth Klüger berichtet, das bewusste Erinnern von literarischen Texten zu einem Mittel wurde, „angesichts der extremsten Form der Entwürdigung [die] Würde [zu wahren]“. 56 Der „Anspruch auf Würde jenseits aller Entwürdigung“, so Walter Schmitz, scheine auch „jede künstlerische Gestaltung des Grauens der Lager [durch Überlebende; MG ] von vorneherein zu rechtfertigen.“ 57 Schmitz geht noch weiter: „Würde ist der zentrale Wert in der Erinnerungskultur der Shoah“, und das Ablegen eines Zeugnisses durch Überlebende wird zu einem Akt des Bewahrens oder Wiedergewinnens der Würde. 58 Auf diese Weise wird der Holocaust zu einer besonderen Herausforderung gerade für die Literatur, die einen „Freiraum“ für ein „würdige[s] Gedenken“, einen „Freiraum menschlicher Würde“ schaffen kann, in dem nicht „die Wahrheit, sondern die Humanität [der] Maßstab“ ist. 59 Diese die Menschenwürde wahrende, ja wiederherstellende Funktion von Literatur arbeitet Saskia Schreuder in ihrer Studie über die deutsche jüdische Erzählliteratur zwischen 1933 und 1938 heraus. 60 Schreuder kommt zu folgendem Schluss: 56 Schmitz, Erinnerte Shoah? , S. 503; vgl. Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, München 20 2013 [urspr. 1992], S. 123-124. - Vgl. weiterhin Thomas Fries, Gedichte aus Auschwitz, in: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit, Bd. 11, hg. v. F. Grucza, Frankfurt / M. [u. a.] 2012, S. 145-150 und Rosa Pérez Zancas, „Ich hab damals soviel Sabotage wie möglich getrieben, mit Hilfe von aufgesagten Gedichten“: Ruth Klügers Überlebensstrategien, in: ebd., S. 151-155. 57 Schmitz, Erinnerte Shoah? , S. 504. 58 Schmitz, Art. Shoah Erinnerungskultur, S. 110. - Baer weist darauf hin, dass die „Aufgabe, Zeugnis abzulegen, […] kaum vernarbte seelische Wunden wieder auf[]reißen und die ursprüngliche Entwürdigung und das Leid […] wiederholen“ kann, dass also das Ringen um eine sprachliche Verarbeitung und Weitergabe des Erlebten auf tragische Weise scheitern kann - was die Suizide einer erschreckenden Anzahl von Autoren zu belegen scheint („Niemand zeugt für den Zeugen“, S. 17). 59 Schmitz, Erinnerte Shoah? , S. 515, 516 und 520. 60 Vgl. Saskia Schreuder, Würde im Widerspruch. Jüdische Erzählliteratur im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1938, Tübingen 2002. Laut Schreuder „entwickelte die jüdische Erzählliteratur eigene Interpretationen von Wirklichkeit, die darauf abzielten, der entwürdigenden Ideologie und Praxis ihrer nicht-jüdischen Umwelt zu widersprechen“ (ebd., S. 281). Gegenstand der Analyse sind Werke von Gerson Stern, Jacob Picard, Rudolf Frank und anderen. 292 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Den Texten gemeinsam ist […] ein Widerspruch gegen die Entwürdigungen der Gegenwart. Die Literatur bewahrt die Menschenwürde derjenigen, die der Unmenschlichkeit zum Opfer fallen, und klagt sie gleichzeitig ein. Wenn die Texte vorführen, wie es den Opfern noch unter den Bedingungen von Pogrom und Flucht gelingt, selbstbestimmt zu handeln, dann enthält diese Aktualisierung der eigenen Würde einen unverkennbar appellativen Impetus. Doch nicht nur in seinen Inhalten hält der literarische Widerspruch an der Würde der verachteten und entrechteten Juden fest, sondern es ist der literarische Kommunikationsprozeß selbst, der sie zum Ausdruck bringt. […] Durch das literarische Medium kann es dem Autor wie dem Leser gelingen, in der reflektierten Distanzierung vom unmittelbar Gegebenen seiner selbst inne zu werden, und zwar in seinen subjektiven Möglichkeiten und damit in der Unbestreitbarkeit der Würde. Dieses spezifische Potential von Literatur kommt […] besonders in den ästhetisch gelungenen Texten zur Geltung […]. 61 Schreuders Ergebnisse unterstützen eine wesentliche These der vorliegenden Arbeit: Literarische Texte sind in der Lage, die angegriffene Menschenwürde durch genuin ästhetische Mittel und Verfahren zu (re)konstituieren und die Gültigkeit der Vorstellung zu bestätigen. Dies gilt nicht nur für die Literatur von Überlebenden, sondern für die Literatur an sich. * Die folgenden Lektüren stellen nicht das moralische oder ästhetische Problem, das die literarische Beschäftigung mit dem Holocaust an sich darstellt, in den Mittelpunkt, sondern die Frage nach den literarisch-ästhetischen Dimensionen der Menschenwürde im Kontext der Literatur über den Nationalsozialismus. Um jenseits aller Aporien der künstlerischen Ver- und Bearbeitung des Holocaust und jenseits grundsätzlicher Vorwürfe der Unangemessenheit im künstlerischen Umgang damit den Möglichkeiten der ästhetischen Auseinandersetzung mit der Menschenwürde angesichts ihrer eklatanten Gefährdung, Missachtung und Pervertierung nachzuforschen, drängen sich verschiedene Fragen auf: Wie verhält sich die Literatur nicht nur zu den realen, physischen Angriffen auf den Menschen und seine Würde, sondern auch zur Rhetorik der Entwürdigung, die die NS -Sprache prägt? Wie wird Menschenwürde im jeweiligen Text definiert und ästhetisiert? Kann der Mensch seine Würde überhaupt verlieren? 62 Wie kann er sie behaupten? Und was genau leistet dabei die Literatur? Der Horizont lässt sich erweitern: Wie werden Menschenwürdeverletzungen dargestellt, und mit welchem Zweck? Schließlich: Was bedeuten die Verbrechen für die Menschenwürde der Täter? 61 Ebd., S. 281. 62 Vgl. dazu Schmitz, Art. Shoah Erinnerungskultur, S. 110. Laut Schmitz ist diese Frage für die Opfer der Shoah zentral. VII.1. Vorbemerkungen 293 VII.1.4. Die Menschenwürde und die ‚Literatur nach Auschwitz‘-- ein poetologisches Problem (Borchert, Böll, Schlink) Schreiben nach dem und über den Zivilisationsbruch bedeutet nicht zuletzt, sich zu einer Sprache und zu einer literarischen Tradition zu positionieren, die in der Zeit der NS -Diktatur keineswegs unbefleckt geblieben sind. 63 Wolfgang Borcherts kurzer Prosa-Text Das ist unser Manifest (1948), geschrieben aus der Perspektive des aus dem Krieg zurückkehrenden Soldaten, fragt nach den Bedingungen einer Existenz im Nachkriegsdeutschland und nach der Möglichkeit, eine neue, der Realität des Kriegstraumas und der eigenen Verbrechen angemessene Sprache und Geisteshaltung zu entwickeln. Dies verlangt zunächst die bewusste Eliminierung kontaminierten Kultur- und Sprachguts: „Wir werden weinen, scheißen und singen, wann wir wollen. Aber das Lied von den brausenden Panzern und das Lied von dem Edelweiß werden wir niemals mehr singen.“ 64 Gegen die Ganz- und Einheitlichkeit des Erlebens und eine Dichtung, die mittelbar Sinn zu stiften sucht, stellt Borchert die Zerrissenheit des Ichs und die unumwundene, anti-klassizistische Direktheit: 65 Wer schreibt für uns eine neue Harmonielehre? Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind zuviel Dissonanz. […] Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum sagen und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv. 66 Diese Ästhetik der Direktheit verlangt nach einer expliziten Sprache, in der die Kategorie des Schönen, sofern sie als restriktiv verstanden wird, keinen Platz mehr hat: „Nein, unser Wörterbuch, das ist nicht schön. Aber dick. Und es stinkt. Bitter wie Pulver. Sauer wie Steppensand. Scharf wie Scheiße. Und laut wie Gefechtslärm.“ 67 Gleichzeitig hat diese Poetik, die der Text selbst bereits umsetzt, einen hohen ethischen Anspruch. Zum einen wird als neue „Moral“ die „Wahrheit“ postuliert, im Sinne einer Ablehnung jeder Beschönigung und jeden 63 Zu Kunst und Literatur der NS-Zeit, die in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt werden können, vgl. z. B. Gregor Streim, Deutschsprachige Literatur 1933-1945. Eine Einführung, Berlin 2015 und Wolfgang Benz / Peter Eckel / Andreas Nachama (Hgg.), Kunst im NS-Staat. Ideologie, Ästhetik, Protagonisten, Berlin 2015. 64 Wolfgang Borchert, Das ist unser Manifest, in: Das Gesamtwerk, hg. v. M. Töteberg u. Mitarb. v. I. Schindler, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 517-524, hier S. 517. 65 Zu Borcherts ästhetischen Positionen vgl. auch Wilhelm Große, Wolfgang Borchert: Kurzgeschichten. Interpretationen, München 1995, S. 28-33. 66 Borchert, Das ist unser Manifest, S. 519. 67 Ebd., S. 521. 294 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Verschweigens. 68 Zum anderen avancieren auch und gerade die vermeintlich oder tatsächlich Würdelosen - Frauen, die für die Kriegsindustrie arbeiteten, Prostituierte, überzeugte Nationalsozialisten, naive Soldaten und Mörder - zum Objekt der „Liebe“: „[S]ie alle, die Angst haben und Not und Demut: Die wollen wir lieben in all ihrer Erbärmlichkeit.“ 69 Dem „Leid“ und der Würdelosigkeit stehen Liebe, Humanität und Menschlichkeit als einzig mögliche Kräfte gegenüber, denen ein utopisches Potential eignen könnte: „Unser Manifest ist die Liebe. […] Wir wollen in dieser wahn-witzigen Welt noch wieder, immer wieder lieben! “ 70 * Knapp zwei Jahrzehnte nach Borchert entfalten Heinrich Bölls Frankfurter Poetikvorlesungen (1963 / 64) in Auseinandersetzung mit der Nachkriegsgesellschaft und -literatur die Vision einer „Ästhetik des Humanen“. 71 Zwar geht es Böll nicht - zumindest nicht explizit und nicht nur - um Literatur über die NS -Verbrechen, doch sind seine Auffassungen von Wesen, Aufgabe und Wirkmöglichkeiten der Literatur hier von höchster Relevanz. Bölls Ausgangspunkt ist der Einschnitt, den der Nationalsozialismus für das gesellschaftliche Miteinander und die (literarische) Sprache markierte. Die Nachwirkungen seien immer noch spürbar. Die „deutsche Nachkriegsliteratur als Ganzes“ sei „eine Literatur der Sprachfindung gewesen“, 72 und doch scheine es „weder vertraute Sprache noch vertrautes Gelände zu geben, nicht einmal Vertrautheit mit der Gesellschaft, nicht mit der Welt, schon gar nicht mit der Umwelt“. 73 Sprache jedoch müsse „human, sozial, gebunden“ sein und „einer noch so bescheidenen Ästhetik stand[halten]“. Gleichzeitig nimmt Böll an, „daß Sprache, Liebe, Gebundenheit den Menschen zum Menschen machen, daß sie 68 Ebd., S. 522. 69 Ebd., S. 523. 70 Ebd., S. 524. 71 Heinrich Böll, Frankfurter Vorlesungen, München 4 1977 [urspr. 1966], S. 7. Böll hielt seine Vorlesungen im Wintersemester 1963 / 64. - Zu Bölls „Ästhetik des Humanen“ vgl. Manfred Lange, Ästhetik des Humanen. Das literarische Programm Heinrich Bölls, in: Text + Kritik 33 (Neufassung 1982), S. 89-98. - In einem kurzen Text aus dem Jahr 1972 forderte Böll angesichts reißerischer Kampagnen der Springer-Presse, auch die Menschenwürde von Kriminellen, in diesem Fall der RAF-Terroristen, zu respektieren. Vgl. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, in: Neue politische und literarische Schriften, Köln 1973, S. 260-266. - Angelika Ibrügger beschreibt Böll als „Verteidiger der Menschenwürde“ (Protest im Namen der Menschenwürde. Heinrich Böll zwischen Literatur und Politik, in: Der Deutschunterricht 60.1 (2008), S. 21-32, hier S. 29). Ibrügger deutet die Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum im Kontext von Bölls Gerichtsprozess gegen Matthias Walden wegen persönlichkeitsrechtsverletzender Äußerungen und betont die Bedeutung von Sprache bei der Gefährdung und der Behauptung von Würde. 72 Böll, Frankfurter Vorlesungen, S. 61. 73 Ebd., S. 16. VII.1. Vorbemerkungen 295 den Menschen zu sich selbst, zu anderen, zu Gott in Beziehung setzen - Monolog, Dialog, Gebet“. 74 Die Ästhetik des Humanen, die das „Alltägliche, das eigentlich das Soziale und Humane ist“, 75 behandelt, nämlich Themen wie „das Wohnen, die Nachbarschaft und die Heimat, das Geld und die Liebe, Religion und Mahlzeiten“, 76 soll daher eine geradezu realitäts- und mentalitätsverändernde Kraft haben. Ihr ultimativer Adressat ist die Gesellschaft als Ganze, denn sie sucht „nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land“. 77 Angesichts immer noch schmerzender Wunden in der deutschen Gesellschaft sind weder die naive, eskapistische Utopie 78 noch „Snobismus, Zynismus, Nihilismus“ 79 angebracht. Vielmehr plädiert Böll für einen „neuen humanen Realismus“, der die „Abgründe zwischen der statistischen und der in der Literatur geschilderten Wirklichkeit nicht zu schließen, auch nicht zu überbrücken, vielleicht aber langsam aufzuschütten“ versucht. 80 Als eine der wichtigsten Orientierungsgrößen für diese neue Ästhetik nennt Böll immer wieder Jean Paul - und dessen Vorstellung von Humor. Der Humor nämlich habe das humane Potential, „das von der Gesellschaft für Abfall erklärte, für abfällig Gehaltene in seiner Erhabenheit zu bestimmen“. 81 Das für „Abfall“ oder „Abschaum“ Gehaltene, hatte Böll schon vorher in deutlicher Anspielung auf die NS-Ideologie festgestellt, sei in Deutschland bisweilen der Mensch. 82 Aufgabe der Literatur ist daher die „Menschwer- 74 Ebd., S. 12-13. 75 Ebd., S. 15. - Vgl. auch Bölls heftige Kritik an der Konsumgesellschaft sowie an der ‚westlichen‘ Welt, in der „eine selbstmörderische Verleugnung des Humanen und Sozialen praktiziert und propagiert wird“. 76 Ebd., S. 7. 77 Ebd., S. 45. 78 Diese entspräche nicht der bundesrepublikanischen Wirklichkeit; vgl. dazu Bölls Kommentar: „[Politiker] sollten sich fragen, warum es denn keinen einzigen Nachkriegsroman gibt, in dem sich die Bundesrepublik als blühendes, fröhliches Land dargestellt findet. Die berühmte Frage: Wo bleibt das Positive? - gar keine so dumme Frage - ist nicht nur falsch gestellt, sondern an die Falschen gerichtet: Warum schreibt denn keiner den fröhlichen Roman über dieses blühende Land? Es wird niemand daran gehindert. Offenbar gibt es Hindernisse, die weit tiefer liegen, als oberflächliche politische Gekränktheit vermuten könnte“ (ebd., S. 58). 79 Ebd., S. 81. Diese Haltungen, so Böll, „schaffen nicht jenes vertraute Gelände, das das Wort Zukunft noch aussprechbar macht“. 80 Ebd., S. 105. 81 Ebd., S. 118. Vgl. ähnlich ebd., S. 115 und 118. Jean Pauls Humor grenzt Böll energisch von jenem Wilhelm Buschs ab, den er scharf verurteilt. Dessen „Humor der Schadenfreude, des Hämischen“ sei sogar „antisemitisch“ und „antihuman“ (ebd., S. 114-115). Bei Busch beobachtet Böll „die Vernichtung des Einzelnen, des Menschen, des Homo, des Humanen“; sein Humor spreche „dem Menschen gar keine Erhabenheit“ zu (ebd., S. 116). 82 Vgl. ebd., S. 82. - Vgl. auch ebd., S. 82-83: Hier beschreibt Böll Deutschland als ein Land, „das seiner selbst nicht sicher ist, weil seine Bewohner, seine Politiker nicht wahrhaben 296 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust dung des Menschen im Roman“ 83 - mithin die literarische Restitution der ihm geraubten oder seiner verlorenen Würde. Bölls Ästhetik des Humanen zielt auf Menschlichkeit, auf gegenseitiges Vertrauen, auf die Aufwertung und das Ernstnehmen des Menschen als soziales, in einer Gemeinschaft lebendes Wesen - innerhalb der Literatur, die auf die außerliterarische Realität ausstrahlen soll, denn: „[O]hne die Literatur ist ein Staat gar nicht vorhanden und eine Gesellschaft tot.“ 84 * Bernhard Schlink schließlich erkundet in seinen Heidelberger Poetikvorlesungen, 85 unter welchen Voraussetzungen die Vergangenheit zum Thema künstlerischer Auseinandersetzung und Aneignung werden kann - und wie die Fiktionalisierung von Vergangenem und das Prinzip der Menschenwürde konfligieren können. Schlink nimmt ostentativ die Position des Rückblickenden ein, der den vielstimmigen Diskurs über Kunst ‚nach Auschwitz‘ seit Adorno zur Kenntnis genommen und reflektiert hat. 86 Seine sowohl produktionsals auch rezeptionsästhetischen Überlegungen suchen nach normativen Kriterien, die bei der (auch moralischen) Bewertung von Kunst über die „junge und jüngste Vergangenheit, die Vergangenheit des Dritten Reichs und der DDR“, 87 Gültigkeit beanspruchen können. Die Verbrechen, die in den beiden Diktaturen begangen wurden, so Schlink, sind weder „vergeben“ noch „vergessen“, können mithin auch nicht juristisch aufgearbeitet werden. 88 Die Opfer dieser Verbrechen aber „[leben] unter uns“: wollen, daß am Anfang Vertreibung stand, Menschen für Abfall erklärt, als solcher behandelt wurden, und daß am Anfang dieses Staates ein im Abfall wühlendes Volk stand“. 83 Ebd., S. 96; vgl. ebenso S. 110. 84 Ebd., S. 121. 85 Bernhard Schlink, Gedanken über das Schreiben, Zürich 2011, hier die erste Vorlesung mit dem Titel Über die Vergangenheit schreiben (S. 7-35). - Eine harsche Kritik an Schlinks Ausführungen formuliert William Collins Donahue, Taking Jewish Cover: A Reply to Bernhard Schlink, in: The German Quarterly 85.3 (2012), S. 249-252. Donahue sieht die hier diskutierte erste Vorlesung als nachträgliche Apologie der Romanfigur Hanna Schmitz ( Der Vorleser ). Besonders stört er sich daran, dass sich Schlink auf amerikanischjüdische Holocaust-Überlebende beruft, um sein literarisches Vorgehen zu rechtfertigen. Vgl. ebd., S. 252 sowie Schlink, Gedanken über das Schreiben, S. 34-35. - Zu Schlinks Roman Der Vorleser vgl. unten, Kap. B.VII.2.4.2. 86 Neben Adorno nennt Schlink auch Filme wie Benignis Das Leben ist schön oder Spielbergs Schindlers Liste. 87 Schlink, Gedanken über das Schreiben, S. 8. - Die meisten der Beispiele, die Schlink im Verlauf seiner Vorlesung nennt, beziehen sich jedoch auf den Nationalsozialismus und den Holocaust. 88 Vgl. dazu Schlinks rechtsphilosophische und -historische Essays in: Vergangenheitsschuld. Beiträge zu einem deutschen Thema, Zürich 2007. VII.1. Vorbemerkungen 297 Weil die Opfer damals nicht gehört und gesehen wurden, wollen sie ihre Wahrheit heute anerkannt, ausgesprochen und dargestellt haben. Weil ihnen die Menschenwürde damals abgesprochen wurde, wollen sie ihrer Menschenwürde heute versichert werden. Weil sie in der und durch die Vergangenheit traumatisiert wurden, wollen sie bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit ihr Trauma respektiert sehen. Sie haben Erwartungen, wenn über die Vergangenheit geschrieben wird. Können diese Erwartungen vernachlässigt oder muss ihnen genügt werden? 89 Opfer realer Menschenwürdeverletzungen erwarten demnach, dass die Kunst diese Menschenwürdeverletzungen nicht lediglich perpetuiert, sondern ihre Würde restituiert oder zumindest wahrt. Dass die Kunst im Allgemeinen und die Literatur im Besonderen diese Fähigkeiten besitzen, wird nicht in Frage gestellt. Die Forderung nach einer angemessenen Schilderung ihres Schicksals macht die Opfer zu einer potentiellen normativ-moralischen Instanz; 90 die Fiktionalisierung von Vergangenheit sowie die Art dieser Fiktionalisierung sind somit auch ethische Probleme. Anschließend beleuchtet Schlink verschiedene Einwände, die die öffentliche Rezeption von künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust zu begleiten pflegen. 91 Immer wieder betont er dabei sein Verständnis für vorgebrachte Argumente. Bezüglich jener, „die ihr Trauma respektiert wissen und ihrer Würde versichert werden wollen“, kommt Schlink dann aber zu einem zumindest subjektiv eindeutigen Schluss: „Muss Literatur über den Holocaust nicht nur wahr, sondern auch respektvoll und heilend sein? Ich glaube nicht.“ Das einzige Kriterium, das Schlink an die Literatur über den Holocaust anlegen will, ist „Wahrheit“. Wahrheit versteht er dabei im aristotelischen Sinne: „Literatur ist wahr, wenn sie darstellt, was geschah oder hätte 89 Schlink, Gedanken über das Schreiben, S. 8. 90 Vgl. ebd., S. 9. 91 Eindeutig spricht sich Schlink gegen Fiktionalisierungsverbote aus. Grund für die Auffassung, schreckliche Verbrechen wie der Holocaust dürften nur in dokumentarischer, nicht aber in fiktionalisierter (und somit auch ästhetisierter) Form, und wenn doch, dann „nur in bestimmter Weise“ präsentiert werden, sei „die Sorge um die volle Wahrheit“ (ebd., S. 12). Dies zeuge aber „von zu wenig Vertrauen in die Fähigkeit der Leser und Zuschauer, selbst das ganze Bild herzustellen“ (ebd., S. 13); zudem sei heute genug historisches und dokumentarisches Material verfügbar, sodass die Literatur nicht mehr das „volle“, ganze Bild geben müsse. Gegenüber der „Forderung, Literatur müsse typisch oder repräsentativ sein“ (ebd., S. 16), betont Schlink die „Gefahr der Schaffung von Stereotypen“ (ebd., S. 18). Das Orientieren am Typischen entspringe dem „Bedürfnis, ein bestimmtes Bild der Ereignisse zu bewahren und zu beschützen. Vielleicht verbindet sich mit dem Bedürfnis die Furcht, über die Deutschen als Opfer zu schreiben könnte das Bild der Deutschen als Täter beeinträchtigen, über die Kollaboration in den von Deutschen besetzten Ländern zu schreiben könnte die deutsche Verantwortung relativieren, über die Judenräte zu schreiben könnte das Bild des jüdischen Leidens beeinträchtigen und so weiter“ (ebd., S. 23). 298 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust geschehen können.“ 92 Die Gattung spielt bei der Fiktionalisierung keine Rolle; 93 selbst das Atypische und das Unvollständige sind nicht per se abzulehnen: „[E]in winziges Element der Wahrheit reicht, solange es nicht vorgibt, mehr zu sein, als es ist.“ 94 Allerdings konzediert Schlink - nachdem er die Frage nach dem Zusammenhang von Moral und Literatur zunächst lakonisch gestreift hatte: „Beim Schreiben […] versteht sich das Moralische meistens von selbst“ 95 -, dass Literatur, die sich der Vergangenheit annimmt, wohl niemals vollkommen unanstößig sein kann - und es auch nicht muss: „So über die Vergangenheit schreiben, dass niemand sich verletzt fühlt - es geht nicht. […] Es kann verletzen - wie die Vergangenheit verletzt hat und weiter verletzt.“ 96 Schlink misst dem Begriff der Menschenwürde demnach eine merkwürdig ambivalente Bedeutung bei: Sie spielt bei der Produktion und mehr noch bei der Rezeption von Kunst eine eminente Rolle, gleichzeitig spricht Schlink diese aber von der Pflicht frei, die Wahrung oder Bestätigung der Menschenwürde zu ihrer Hauptaufgabe zu machen. 97 Denn auch, wenn sie dies nicht tut, kann Literatur ‚wahr‘ und ‚moralisch‘ sein. VII.1.5. Exkurs II: Die Flugblätter der Weißen Rose, Schiller und die Menschenwürde „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‚regieren‘ zu lassen.“ 98 Mit diesem eindringlichen Satz beginnt das erste der sechs 92 Ebd., S. 25. - Es gebe noch „eine andere Wahrheit“, so Schlink, nämlich das „absichtslose Gefühl“ des Schreibenden, das ihm sagt: „Jetzt stimmt die Geschichte, jetzt kann ich sie erzählen“ (ebd., S. 27). 93 Vgl. ebd., S. 25: „Auch als Komödie oder Satire, als Mythos oder Märchen kann sie [i. e. die Literatur über den Holocaust; MG] unsere Augen für das öffnen, was geschah oder hätte geschehen können.“ 94 Ebd., S. 26. - Vgl. ebd., S. 24: „Das Atypische ist ebenso Teil der Wahrheit - solange es als das dargestellt und erklärt wird, was es ist: atypisch.“ 95 Ebd., S. 33. 96 Ebd., S. 34-35. 97 Klar hiervon zu trennen sind laut Schlink strafrechtlich relevante Fälle, in denen Kunst die Persönlichkeitsrechte eines Einzelnen verletzt, der Schutz seiner Menschenwürde nach Art. 1 GG also schwerer wiegt als die Freiheit der Kunst (Art. 5 GG). Schlink verweist auf Klaus Manns Mephisto und Maxim Billers Esra , die er beide - aus moralischer Sicht - unterschiedlich bewertet; Manns Roman empfindet er als unproblematisch, während Billers Text die Grenze des moralisch Erlaubten überschreite. Vgl. ebd., S. 30-33 sowie oben, S. 44 - 45. 98 Flugblätter der Weißen Rose I. Die Flugblätter sind ediert in: Hinrich Siefken (Hg.), Die Weiße Rose und ihre Flugblätter. Dokumente, Texte, Lebensbilder, Erläuterungen, ed. with an introduction, notes and vocabulary by H. S., Manchester / New York 1994 sowie VII.1. Vorbemerkungen 299 Flugblätter der überwiegend studentischen Widerstandsgruppe Weiße Rose. Die Verwendung des Indefinitpronomens „Nichts“ als Subjekt am Anfang des Satzes verleiht der Auflehnung, der Negation einer Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung, sprachliche Gestalt; auf inhaltlicher Ebene werden die zentralen Leitmotive der Argumentation, die zu „passive[m] Widerstand“ (Fb I, 22), zu „Sabotage“ (Fb III , 27) und zum „Kampf gegen die Partei“ (Fb VI , 32) anstacheln will, enggeführt. Fünf Momente lassen sich ausmachen: (1) Unter dem NS -Regime verrät Deutschland sein Erbe als Kulturnation; an dieses Erbe sollen die in den Flugblättern genannten und zitierten Dichter - Goethe, Schiller, Novalis - erinnern. 99 (2) Der Begriff der Würde wird hier und an anderen markanten Stellen verwendet, um das mit dem idealistischen Erbe des „Kulturvolks“ assoziierte Menschenbild zu evozieren bzw. die schändliche Missachtung desselben zu brandmarken. (3) Das Regime selbst wird in den Flugblättern - in Umkehrung des nationalsozialistischen Sprachstils - als würdelose Meute entlarvt. (4) Das Scheitern des „Kulturvolks“ äußert sich im ausbleibenden Widerstand gegen dieses Regime. (5) Der NS-Staat pervertiert die idealistisch geprägte Staatsidee, indem es den Menschen nicht als Selbstzweck betrachtet. in: Ulrich Chaussy / Gerd R. Ueberschär, „Es lebe die Freiheit! “ Die Geschichte der Weißen Rose und ihrer Mitglieder in Dokumenten und Berichten, Frankfurt / M. 2013. Neben den sechs tatsächlich verteilten Flugblättern liefern beide Werke einen Flugblattentwurf von Christoph Probst sowie weitere Dokumente zu Geschichte und Wirkung der Weißen Rose. Im Folgenden wird die Edition von Siefken zitiert, da diese auf Modernisierungen verzichtet und die Texte buchstabengetreu wiedergibt. Zitate werden im Text in der Form (Fb Nummer, Seitenangabe) belegt. - Zu den Flugblättern vgl. auch Schlosser, Sprache unterm Hakenkreuz, S. 373-377. 99 Auch die Philosophen Lao-Tse und Aristoteles sowie die Bibel werden zitiert. Schlosser hebt den „hohen Bildungsstand der Verfasser wie der Adressaten“ hervor und konstatiert einen Stilwechsel nach dem vierten Flugblatt (Sprache unterm Hakenkreuz, S. 374-375). - Die von der Münchner Gestapo in Auftrag gegebenen, vom Altphilologen Richard Harder verfassten Gutachten über die Flugblätter (wiedergegeben in: Chaussy / Ueberschär, „Es lebe die Freiheit! “, S. 47-57) bescheinigen diesen einen „hervorragenden deutschen Stil, wie ihn nur ein Mensch schreiben kann, der in längerem Umgang mit deutscher Literatur steht“ (ebd., S. 50). Zudem werden die vielen Anklänge an die Sprache der Bibel und der Religion im Allgemeinen hervorgehoben (ebd., S. 50-51 und 54-55). - Zum Einfluss des katholischen Intellektuellen Theodor Haecker auf das Menschenbild der Weißen Rose und die Sprache ihrer Flugblätter vgl. Hinrich Siefken, Vom Bild des Menschen. Die Weiße Rose und Theodor Haecker, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 361-380. Laut Siefken wurzelten „der Widerstand der Weißen Rose und der geistige Widerstand Haeckers gegen den Nationalsozialismus im Glauben an einen Schöpfer […], der sich den Menschen ihm zum Bilde geschaffen hat“ (ebd., S. 362). Die Sprache der Flugblätter, „in vielem den Argumenten Haeckers verpflichtet, ist ein Appell an das Bild [vom Menschen; MG], das zu bewahren auch Haecker ihnen geholfen hatte“ (ebd., S. 380). 300 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Diesen letzten Aspekt belegt im ersten Flugblatt ein ausführliches Zitat aus einer historischen Schrift Schillers, das um die idealistische Menschenwürdevorstellung und ihre politischen Implikationen kreist. 100 In Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon (1790; NA 17, 414-444) analysiert Schiller Verfassung und Gesetzgebung der antiken Städte Sparta und Athen. 101 Sowohl Lykurgus als auch Solon schufen funktionierende Staatsgebilde: Lykurgusʼ Sparta war ein bis auf die Ebene des Persönlichen und Privaten von der Staatsmacht kontrolliertes und gelenktes Gemeinwesen, das den einzelnen Menschen zur vollständigen Hingabe an die Staatszwecke - d. h. nicht zuletzt den Krieg - erzog (vgl. NA 17, 417-419). Solons Athen hingegen beschreibt Schiller als „vollkommene Demokratie“, in der das Volk nicht durch Repräsentation, sondern „in eign er Person und durch sich s elb st “ regierte (NA 17, 434). Beide Staatsformen missachten jedoch, wie Schiller darlegt, die Würde des Menschen. An Solons Gesetzgebung, die er ansonsten durchaus lobt, 102 kritisiert er, im Einklang mit seiner ästhetischen Theorie, dass sie „moralis ch e Pflichten mit dem Zwang der Gesetze“ durchzusetzen versuchte. Für Schiller sind Zwang und Moral aber unverträglich: Zur moralischen Schönheit der Handlungen ist Freiheit des Willens die erste Bedingung, und diese Freiheit ist dahin, sobald man moralische Tugend durch gesetzliche Strafen erzwingen will. Das edelste Vorrecht der Menschlichen Natur ist, sich selbst zu bestimmen, und das Gute um des Guten willen zu thun. ( NA 17, 438) Die Kritik an der Gesetzgebung des Lykurgus ist viel grundsätzlicher - und genau diese Kritik findet sich auszugsweise als Zitat im ersten Flugblatt der Weißen Rose. 103 So wird suggeriert, dass sich der NS -Staat wie Lykurgusʼ Sparta in der Deutung Schillers „nur dadurch erhalten [kann], daß er den höchsten Zweck und einzigen Zweck eines Staates verfehlt[]“ ( NA 17, 425-426). Dieser 100 Schlosser spricht treffenderweise von der „zutiefst idealistische[n] Haltung der ‚Weißen Rose‘“ (Sprache unterm Hakenkreuz, S. 376-377). 101 Zu Schillers Studie vgl. Jürgen Eder, Schiller als Historiker, in: Schiller-Handbuch (hg. v. H. Koopmann, wie S. 104, Anm. 148, S. 695-742, hier S. 738-739 sowie die oben, S. 113, Anm. 183 angegebene Literatur. 102 Vgl. NA 17, 440: „Bewundernswerth bleibt mir immer der Geist, der den Solon bey seiner Gesetzgebung beseelte, der Geist der ge sunden und ächten Staatskunst, die das Grundprinzipium worauf alle Staaten ruhen müssen, nie aus den Augen verlor: sich selbst die Gesetze zu geben, denen man gehorchen soll […]. Schön und trefflich war es von Solon, daß er Achtung hatte für die menschliche Natur, und nie den Menschen dem Staat, nie den Zwe ck dem Mittel aufopferte, sondern den Staat dem Menschen dienen ließ.“ 103 Im ersten Flugblatt werden fünf Stellen aus Schillers Text zitiert, und zwar - in dieser Reihenfolge - NA 17, 423, Z. 17-37, NA 17, 424, Z. 19-22, NA 17, 425, Z. 3-10, NA 17, 424, Z. 31-33 und NA 17, 425, Z. 36 bis 426, Z. 1. Im Folgenden wird Schiller stets nach der Nationalausgabe - und nicht nach dem Flugblatt - zitiert. VII.1. Vorbemerkungen 301 nämlich ist die Erfüllung des „Zweck[s] der Menschheit“, „die Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung“. Wie Sparta verhindert auch der NS -Staat die „Fortschreitung des Geistes“, da er sich selbst nicht als Mittel zur Erfüllung dieses Zwecks betrachtet ( NA 17, 423). Vielmehr wurde im „spartanischen Gesetzbuche selbst […] der gefährliche Grundsatz gepredigt, Menschen als Mittel und nicht als Zweck zu betrachten - dadurch wurden die Grundveste des Naturrechts und der Sittlichkeit gesetzmäßig eingerissen“. So wurde den Spartanern „die Unmenschlichkeit gegen ihre Sklaven zur Pflicht, in diesen unglücklichen Schlachtopfern wurde die Menschheit beschimpft und beleidigt“ ( NA 17, 425). Die von den Verfassern des Flugblatts beabsichtigte Analogie ist klar: Das NS - Regime sieht den einzelnen Menschen - in Missachtung eines fundamentalen Grundsatzes der idealistischen Tradition, nämlich Kants Kategorischem Imperativ - lediglich als Mittel zum Zweck und verletzt damit die Menschenwürde seiner Bürger. Der Staat fördert sogar konkrete Menschenwürdeverletzungen - Spartas Sklaven sind im NS -Staat die diskriminierten Minderheiten, die Juden, die ‚Minderwertigen‘, das ‚lebensunwerte Leben‘. Das zweite Flugblatt prangert die Verbrechen gegen Juden explizit an. Zwar wolle man nicht über die „Judenfrage“ schreiben, so die Verfasser, doch „die Tatsache, dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialischste Weise ermordet worden sind“ (Fb II , 24; Herv. i. O.), dient als schockierendes Beispiel für die verrohte Brutalität und Kriminalität des NS -Staats. „Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen“ (Fb II , 24), urteilen die Flugblatt-Verfasser und fragen sich: „Warum verhält sich das deutsche Volk angesichts all dieser scheusslichsten, menschenunwürdigsten Verbrechen so apathisch? “ (Fb II , 24-25). Das Adjektiv „menschenunwürdig“ suggeriert hier wohl nicht primär, dass die Menschenwürde der Juden verletzt wird, sondern dass sowohl die Täter selbst als auch das Volk, das „in seinem stumpfen, blöden Schlaf “ 104 wegschaut, ihre Menschenwürde gefährden. Die fehlende Auflehnung gegen das offensichtliche Unrechtsregime ist ein Indiz dafür, dass „die Deutschen in ihren primitivsten menschlichen Gefühlen verroht sind“ (Fb II , 25). Dass die Deutschen keinerlei „Mitleid“ (! ) zeigen, ist Symptom einer Gesellschaft, die jede Menschlichkeit verloren hat und deshalb „Mits chuld “ (Fb II , 25) auf sich lädt. Um die Adressaten zu überzeugen, dass es nicht nur „[ihr] Recht, sondern [ihre] sittlich e Pf licht ist, dieses System zu beseitigen“ (Fb III, 26), 105 dass also 104 Bei Siefken heißt es hier fälschlicherweise „dumpfen, blöden Schlaf “ (Fb II, 25; vgl. dagegen korrekt Chaussy / Ueberschär, „Es lebe die Freiheit! “, S. 29). 105 Die Illegitimität des Regimes suggeriert ein rhetorischer Kniff, der ein beliebtes Stilmittel der NS-Propaganda umdreht: die ironischen Anführungszeichen (vgl. dazu Klemperer, LTI, S. 96). So erscheinen das Verb „regieren“ (Fb I, 22) sowie die Substantive „Regierung“ 302 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust der Widerstand die einzige würdige Handlungsoption ist, 106 setzen die Flugblätter auf rhetorische Effekte. Leitmotivisch und in spektakulärer Umkehrung des Sprachstils der NS -Propaganda werden aggressiv-polemische „Stigmawörter“ 107 verwendet, um auf das Regime zu verweisen. Vokabeln aus den semantischen Bereichen des Unmoralisch-Bösen, 108 des Brutalen und Krankhaften sowie des Animalischen 109 suggerieren: Nicht nur sind die Taten des Regimes menschenunwürdig, auch die Nationalsozialisten selbst, die sprachlich meist als anonymes Abstraktum oder Kollektiv 110 erscheinen, sind vollkommen würdelos. Besonders geschickt ist die wiederholte Anspielung auf das NS -Unwort par excellence , ‚Untermensch‘, das gegen Hitler und das Regime selbst gewendet wird; diese werden so von den Urhebern zu Opfern, zu Signifikaten eines gewaltsamen Sprechakts. 111 Diesen rhetorischen Herabwürdigungen steht ein sowohl idealistisch als auch christlich konturiertes Menschenbild gegenüber, das in einem bisweilen biblischen Ton vorgetragen wird. 112 Um die „Erneuerung des schwerverwundeten deutschen Geistes“ (Fb IV , 29) zu erreichen und die „freie[] Selbstbestimmung“ (Fb VI , 32) zu erkämpfen, wird an den „vernunftbegabte[n] Mensch[en]“ (Fb III , (Fb II, 25; Fb III, 27), „Staat“ (Fb III, 26) und „Ansehen“ (gemeint ist das „‚Ansehen‘ der Faschisten“; Fb III, 27) in Anführungszeichen. Dasselbe impliziert der Ausdruck „Unstaat“ (Fb III, 27). 106 Vgl. dazu auch das sechste und letzte Flugblatt, in dem es in Anspielung auf Tumulte anlässlich einer Rede des Gauleiters Giesler am 14. Januar 1943 vor den Studierenden der Universität München heißt: „Deutsche Studentinnen haben an der Münchner Hochschule auf die Besudelung ihrer Ehre eine würdige Antwort gegeben […].“ Vgl. zu diesen Vorgängen Siefken, Die Weiße Rose, S. 54 (Anm. zu Fb VI). 107 So eine treffende Bezeichnung von Schlosser (Sprache unterm Hakenkreuz, S. 376). 108 Vgl. „Diktatur des Bösen“ (Fb III, 26), „eine[] verantwortungslose[] und dunklen Trieben ergebene[] Herrscherclique“ (Fb I, 22), „Verbrecher[] und Säufer[]“ (Fb III, 26), sowie in Bezug auf Hitler und seine Aussagen: „Lüge“, „die Macht des Bösen“, „Satan“, „das Irrationale“, „Dämon“ usw. (Fb IV, 28). 109 Vgl. „Vergewaltigung“ (Fb I, 22), der „nationalsozialistische[] Terrorstaat“ (Fb IV, 28); „Krebsgeschwür“ (Fb II, 24), „braune Horde“ (Fb II, 25); „Bestien“ (Fb II, 25). 110 Vgl. etwa: „Herrscherclique“ (Fb I, 22), „Regierung“ (ebd. u. ö.), „Faschismus“ (ebd.), „System“ (ebd. u. ö.), „faschistische[] Verbrecher[]“ (Fb II, 25), „die Nationalsozialisten“ (ebd.), „diese Gewalthaber“ (Fb III, 26), „Verbrecher[] und Säufer[]“ (ebd.), der „nationalsozialistische[] Terrorstaat“ (Fb IV, 28) usw. - Ausnahmen sind Hitler, dessen Name mehrmals auftaucht, Rommel und Goebbels, die im vierten Flugblatt genannt werden, und der Gauleiter Giesler, auf den im sechsten Flugblatt angespielt wird. 111 Im ersten Flugblatt wird zum Widerstand aufgerufen, „ehe es zu spät ist, […] ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist“ (Fb I, 22). Gemeint ist natürlich Hitler. Das zweite Flugblatt spricht von den „Verbrechen des fürchterlichen Untermenschentums“. (Fb II, 24). Im fünften Flugblatt heißt es: „[T]rennt Euch von dem nationalsozialistischen Untermenschentum! “ (Fb V, 30). 112 Vgl. dazu oben, Anm. 99 und Siefken, Die Weiße Rose, S. 19. VII.1. Vorbemerkungen 303 26) appelliert, der sich aus der „seichte[n], willenlose[n] Herde von Mitläufern“ und seinem „geistige[n] Gefängnis“ (Fb I, 22) lösen soll, 113 an Werte wie „Freiheit und Ehre“ (Fb VI , 32) sowie die „sittlich e Pf licht “ (Fb III , 26). Die Flugblätter umreißen Menschenwürde als naturrechtlich begründeten Anspruch und als individuelles Potential des Menschen als Mitglied eines sozialen Gebildes, was durchaus mit „Verantwortung“ (Fb I, 22) des Einzelnen einhergeht: [ J]eder einzelne Mensch hat einen Anspruch auf einen brauchbaren und gerechten Staat, der die Freiheit des Einzelnen als auch das Wohl der Gesamtheit , sichert. Denn der Mensch soll nach Gottes Willen frei und unabhängig im Zusammenleben und Zusammenwirken der staatlichen Gemeinschaft sein natürliches Ziel, sein irdisches Glück in Selbststän[d]igkeit und Selbsttätigkeit zu erreichen suchen. (Fb III , 26) 114 (m. H.) Da das NS -Regime, abgesehen von seinen menschenunwürdigen Verbrechen, als Staat den Menschen in seiner Würde und seiner Freiheit 115 nicht respektiert, sind Widerstand und Widerspruch legitim und notwendig - eine Argumentation, wie sie ganz ähnlich bereits in Büchners Der Hessische Landbote zu finden ist. 116 Die Flugblätter der Weißen Rose sind eine engagiert-kritische sprachliche Auseinandersetzung sowohl mit der Sprache als auch mit dem Menschenbild des Nationalsozialismus - zwar nicht mit genuin ästhetisch-literarischen Mitteln, doch mit vielsagenden Verweisen auf die literarische Tradition und mit eindrücklichen rhetorischen Strategien. 113 Vgl. auch Fb II, 24: „Jetzt kommt es darauf an, sich gegenseitig wiederzufinden, aufzuklären von Mensch zu Mensch, immer daran zu denken und sich keine Ruhe zu geben, bis auch der letzte von der äussersten Notwendigkeit seines Kämpfens wider dieses System überzeugt ist“ (m. H.). Siefken sieht in dieser Stelle zu Recht eine Anspielung auf Kants Definition der Aufklärung (Die Weiße Rose, S. 37-38, Anm. zu Fb II). 114 Vgl. auch ähnlich Fb III, 26: Nur „durch die Zusammenarbeit vieler überzeugter, tatkräftiger Menschen, Menschen, die sich einig sind […]“, sei der Umsturz zu erreichen. 115 Mit dem dreifachen Ausruf „Freiheit! “ endet das das erste Flugblatt abschließende Zitat aus Goethes Drama Des Epimenides Erwachen (Fb I, 23). Goethe verfasste sein Stück 1814 für die Feier des Triumphes über Napoleon. Das Flugblatt stellt so die (durchaus gängige) Analogie Napoleon - Hitler her. Vgl. dazu Siefken, Die Weiße Rose, S. 36 (Anm. zu Fb I). 116 Auch die bei Büchner so bewusst eingesetzte Bibelsprache findet sich in einem gewissen Maß in den Flugblättern wieder, hat allerdings nicht die für Büchners Pamphlet charakteristische rezipientenspezifische Funktion. - Auch im protestantischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, etwa bei Dietrich Bonhoeffer, begegnet diese Argumentationsfigur. 304 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust VII.2. Textanalysen Der nun folgende Interpretationsteil beleuchtet neun literarische Werke, die dem Würdediskurs eine jeweils eigene Dimension hinzufügen. 117 Die Ausgangsthese ist, dass die Literatur über die innerfiktionale Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Angriff auf die Menschenwürde versucht, die Menschenwürde außerfiktional zu redefinieren, zu restituieren oder ihre Gültigkeit zu bekräftigen. Immer wieder rückt dabei das Paradox der Unantastbarkeit in den Fokus: Die Vorstellung der Unantastbarkeit, nicht nur verfassungsrechtlich festgeschrieben, sondern auch tief im kollektiven moralischen Empfinden nach 1945 verankert, prallt auf die auch in den Texten literarisierte historische Realität der Antastung und krassen Verletzung der Menschenwürde. Der literarische Versuch der Restitution der Menschenwürde ist somit stets an die Inszenierung von Entwürdigungen gebunden. 118 VII.2.1. Lagerromane In einem ersten Schritt rücken vier sehr unterschiedliche Texte in den Blick, die das Konzentrationslager thematisieren. Anna Seghersʼ Das siebte Kreuz entsteht im Exil, noch deutlich vor Ende des Krieges und bevor die Weltöffentlichkeit die Ausmaße der NS -Vernichtungspolitik begriff. Primo Levis autobiographischer Bericht Ist das ein Mensch? ist eine der frühesten Auseinandersetzungen eines Opfers mit dem Holocaust; er ist im vorliegenden Kontext wie ein literarischer Text zu behandeln, kann er doch gleichsam als Paradigma der Holocaust-Literatur gelten. Der Funke Leben von Erich Maria Remarque, der erste große deutsche KZ -Roman, trägt dem Zivilisationsbruch Rechnung, wahrt aber trotzdem eine recht konventionelle Form des fiktionalen Erzählens. 119 Mit Herta Müllers rezentem Roman Atemschaukel wird schließlich ein sprachlich anspruchsvoller Roman analysiert, der nicht das NS -, sondern das russische Kriegsgefangenen- 117 Ganz bewusst wird dabei der Problemkomplex ‚Lyrik nach Auschwitz‘ ausgeklammert; dieser bietet, allein schon aufgrund seiner poetologischen und publizistischen Dimension, Stoff für eine eigene Studie. Vgl. dazu einführend Lamping, Sind Gedichte über Auschwitz barbarisch? sowie Kiedaisch (Hg.), Lyrik nach Auschwitz? . 118 Vgl. dazu oben, S. 36 - 37 sowie unten, S. 328 - 329. 119 Für eine vergleichende Analyse der Romane Seghersʼ und Remarques vgl. Jan Strümpel, Kammersymphonie des Todes. Erich Maria Remarques „Der Funke Leben“, Anna Seghersʼ „Das siebte Kreuz“ und eine Gattung namens ‚KZ-Roman‘, in: Text + Kritik 149 (2002), S. 55-64. - Zu Recht weist Strümpel darauf hin, dass der ‚Zivilisationsbruch Auschwitz‘ die beiden Romane „wie eine Schlucht [trennt]“ (ebd., S. 58). VII.2. Textanalysen 305 lagersystem der Nachkriegsjahre beschreibt, dessen Beitrag zum Menschenwürdediskurs jedoch bemerkenswert ist. VII.2.1.1. Die unzerstörbare Menschenwürde: Anna Seghersʼ Das siebte Kreuz (1942) In einem kurzen poetologischen Text aus dem Jahr 1944 definiert Anna Seghers die „Aufgaben der Kunst“ im Kontext des „Kampf[es], der die Welt in Atem hält“. 120 Den künstlerischen Kampf gegen den Faschismus bestimmt sie als künstlerischen Kampf gegen das faschistische Menschenbild - und als künstlerische Wiederherstellung der Menschenwürdevorstellung. Seghers fordert von antifaschistischen Künstlern, dass sie „die Begriffe von drei Werten in der deutschen Jugend neu erwecken: das Individuum, das Volk, die Menschheit“. Gerade den Begriff des Individuums verbindet sie mit der Menschenwürde: Die vergiftete Jugend muß wieder fühlen, was der Mensch schlechthin bedeutet, das Individuum mit allen seinen auslebbaren Eigenschaften, mit seiner sozialen Bedingtheit, mit seinen offenen und verborgenen Leidenschaften. Die französischen Schriftsteller fanden den Ausdruck „dignité humaine“. 121 Zum einen müsse dem „abgestumpften Volk“ in Kunstwerken dargestellt werden, „was das unteilbare, das unverletzliche Individuum bedeutet“. Zum anderen meine „‚dignité humaine‘ […] nicht bloß Erhabenheit, sie bedeutet das Anrecht jedes einzelnen auf Freiheit im Denken und Fühlen und Handeln“. Unverletzbarkeit des Individuums und Recht auf freie intellektuelle wie emotionale Selbstbestimmung - dies muss ein Kunstwerk inszenieren und in der Rezeption begreifbar machen, um „den Brüdern und Söhnen von Mördern und Banditen einen Anflug von menschlicher Würde nahezubringen“. 122 Daneben soll die Kunst einen neuen Volksbegriff entwickeln, der auch den Neuaufbau der durch die Nazis missbrauchten deutschen Sprache beinhaltet, und den Wert der „Menschheit“ im Sinne einer Gleichheit aller Menschen, ohne Ansehen ihrer Herkunft und Lebensweise, postulieren. 123 Dann kann es der 120 Anna Seghers, Aufgaben der Kunst, in: Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 1, bearb. u. eingeleitet v. S. Bock, Berlin 1970, S. 197-201, hier S. 197. 121 Ebd., S. 199 (Herv. i. O.). Zuvor hatte Seghers den französischen Romancier Honoré de Balzac erwähnt. - In den im digitalen Textcorpus „Frantext“ versammelten und durchsuchbaren Werken französischsprachiger Autoren kommt das Schlagwort „dignité humaine“ im 19. Jahrhundert häufig vor, etwa bei George Sand und Victor Hugo (letzter Zugriff: 03. 04. 2017). 122 Alle Zitate Seghers, Aufgaben der Kunst, S. 199. 123 Vgl. ebd., S. 199-200. 306 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Kunst gelingen, „bei der Zerstörung des Faschismus und bei der Befreiung der Länder und Gehirne mit[zu]schreiben und mit[zu]malen“. 124 Der Künstler muss der sprachlich-begrifflichen Voraussetzung für die nationalsozialistischen Verbrechen, der rhetorischen Verankerung der vermeintlichen Würdelosigkeit aller ‚Volkszersetzer‘ in Vorstellungen der Deutschen, durch die Restitution eines alle Menschen vereinigenden Menschenwürdebegriffs entgegenwirken. * In Seghersʼ Exilroman Das siebte Kreuz (1942), 125 dessen Handlung im Jahr 1937 angesiedelt ist, ist das Konzentrationslager keine Vernichtungsfabrik, sondern ein Lager für politische Gegner und Widerstandskämpfer. Der Text thematisiert die Menschenwürde entsprechend nicht in ihrer totalen Destruktion, sondern inszeniert sie als unantastbare Qualität, als utopisches Potential, auf dem die Hoffnung auf die sozialistische Überwindung des Nationalsozialismus gründet. Der Roman entwickelt eine recht konkrete Vorstellung davon, was Menschenwürde ist, die sich sich anhand dreier zentraler Aspekte nachvollziehen lässt: (1) der leitmotivischen Tiermetaphorik, (2) dem Beharren auf dem jedem Menschen innewohnenden ‚Unzerstörbaren‘ und (3) der strukturellen Funktion des ‚Helden‘ Georg Heisler, dessen Schicksal als geflohener KZ -Häftling die Handlung des multiperspektivischen Romans trägt. (1) Heislers Ausbruch aus dem KZ Westhofen am Rhein begleitet auf sprachlicher Ebene eine eigentümliche Leitmotivik, deren charakteristische Elemente sich schon in der ersten Schilderung seiner Flucht wiederfinden: „[I]n den ersten Minuten nach der Flucht war er nur ein Tier, das in die Wildnis ausbricht, die sein Leben ist, und Blut und Haare kleben noch an der Falle“ ( SK 23). Vier semantische Felder dominieren: Die metaphorische Vertierlichung Georgs suggeriert die erniedrigende und entmenschlichende Verfolgung, die ihm und anderen politisch Unliebsamen durch die Nationalsozialisten widerfährt. In der Fluchtsituation wird diese Entmenschlichung gleichsam konkretisiert und versinnbildlicht zugleich, denn nun beginnt eine veritable Jagd auf die Geflohenen. Im Text ist immer wieder von „Fallen“ die Rede, auch von „Netzen“ oder ganz explizit von der „Jagd“. 126 Georg wird so in einen Zustand geworfen, in dem er sich mit der „Wildnis“, dem Ursprünglich-Natürlichen konfrontiert sieht. Sein 124 Ebd., S. 198. - Zu Seghersʼ Poetik vgl. auch Peter Beicken, Anna Seghers: Das siebte Kreuz . Das Abenteuer vom gefährlichen und gewöhnlichen Leben, in: Romane des 20. Jahrhunderts. Interpretationen, Bd. 1, Stuttgart 2005, S. 322-365, hier S. 334-342. 125 Anna Seghers, Das siebte Kreuz. Roman aus Hitlerdeutschland, in: Werkausgabe, hg. v. H. Fehervary u. B. Spies, Das erzählerische Werk: Bd. 1 / 4, bearb. v. B. S., Berlin 2000. Im Folgenden wird stets diese Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (SK Seitenangabe) belegt. 126 Vgl. etwa „Jagd“ (SK 25, 89, 107 und 108), „Fangnetz“ (SK 207), „ein System von lebenden Fallen“ (SK 218), „Netz“ (SK 221), „Falle“ (SK 229). VII.2. Textanalysen 307 subjektives Erleben wird vielfach zu einer körperlich-kreatürlichen Erfahrung , 127 die im obigen Zitat durch den Tempuswechsel zum Unmittelbarkeit vermittelnden Präsens auch objektiv für den Rezipienten nachvollziehbar wird. Der verängstigte Georg gibt sich paradoxerweise selbst Regressionswünschen hin, in denen er seine eigene Reduktion zur Pflanze imaginiert: „Jetzt nur kein Mensch sein, jetzt Wurzel schlagen, ein Weidenstamm unter Weidenstämmen, jetzt Rinde bekommen und Zweige statt Arme. […] Warum muss man gerade ein Mensch sein, und wenn schon einer, warum gerade ich, Georg“ ( SK 26-27). Doch diese scheinbare Lossagung von der eigenen Menschenwürde wird der Figur nicht zum Vorwurf gemacht, ist sie doch ein Ausdruck der Entmenschlichung, die er durch die Nationalsozialisten erfahren hat und erfährt. Das Gleiche gilt für die Theriomorphisierung Georgs: Die Wahl der Verben, die in Bezug auf Georg benutzt werden, macht ihn metaphorisch zum Tier. Besonders die häufige Wiederholung des Bewegungsverbs „kriechen“ sticht hervor. 128 Dem Leser steht so ein Mensch vor Augen, der in eine derart entwürdigende Lage gebracht wurde, dass er wie ein Tier anmutet. Eine aufschlussreiche Erweiterung erhält die Tiermetaphorik in der Beschreibung des Suizids des Flüchtlings Belloni. Sowohl Polizei als auch SS sind auf der „Jagd“ ( SK 107 und 108) nach ihm, als er, „ein Mittelding zwischen einem Gespenst und einem Vogel“ ( SK 107), sich von einem Hoteldach stürzt und so der Entmenschlichung einen Akt der Würde, den frei gewählten Tod, entgegensetzt. Doch auch die Menschenmenge, die das Ende seiner Flucht schaulustig verfolgt, wird in der sprachlichen Präsentation vertierlicht: Sie befindet sich in einem „Zustand von Wildheit und Fanglust“, verfolgt die „Jagd mit Begierde“ und „[brennt] darauf […] mitzujagen“ ( SK 108). Hier zielt die Beschreibung aber nicht auf eine erlittene Entwürdigung, sondern auf die moralische Verwilderung: Kollaboration - im Sinne von ausbleibendem Widerstand gegen offensichtliches Unrecht - erscheint als tierhaftes Jagdverhalten, als zu geißelnde Würdelosigkeit. 129 Die suggerierte Entmenschlichung des theriomorphisierten Georg wird jedoch bereits durch die Erzählweise überwunden. Der extradiegetische Erzähler, der zwischen den vielen Romanfiguren hin- und herspringt und die Vorgänge 127 Vgl. etwa den Hinweis auf Körperteile und Flüssigkeiten wie „Blut und Haare“ (SK 23) oder „Blut und Schweiss“ (SK 39) sowie die Beschreibung körperlicher Vorgänge und Empfindungen: „Georgs Haare sträubten sich und die Härchen auf seiner Haut“ (SK 24). 128 Vgl. etwa SK 26, 33, 76, 84 und 206. 129 Punktuell wird Tiermetaphorik auch in Bezug auf Nationalsozialisten verwendet. So sind etwa die Polizeikommissare „hundsmüde“ (SK 256), Zillich sieht aus „wie ein Stier, dem man die Hörner gestutzt hat“ (SK 321), und ein SS-Mann hat einen „Pferdeschädel“ (SK 409). 308 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust personal aus der Innensicht der jeweiligen Figur schildert, erzählt auch aus der Perspektive Georgs. 130 Da er Träger einer gleichberechtigten Erzählperspektive ist, wird die Reduktion zum Tier narratologisch konterkariert. So wie Büchner seiner vermeintlich würdelosen Figur Lenz durch die bild- und sprachmächtige Wiedergabe seiner hochkomplexen und differenzierten - menschlichen! - Empfindungen und Wahrnehmungen mit ästhetischen Mitteln Menschenwürde zuschreibt, zeichnet auch Seghers den erniedrigten Flüchtling Georg als Menschen, der, wie erlebte Rede und innere Monologe beweisen, nicht nur rationaler Reflexion fähig ist, sondern auch Wunschvorstellungen artikuliert und in ausdrucksstarken Bildern wiedergegebene Ängste verspürt. 131 (2) Das siebte Kreuz enthält im Vergleich zu literarischen Werken, die das Grauen der Konzentrationslager schildern und nach Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden sind, auffallend wenige Szenen, die extreme Gewalt explizit und ausführlich darstellen. Gewalt wird zwar als solche benannt, aber nicht unbedingt gezeigt und narrativ ausgebreitet. Als einer der Geflohenen verhaftet wird, heißt es im Text: „[W]ahrscheinlich hat der Mensch, den sie jetzt abschleppen, auch nichts Menschliches mehr an sich“ (SK 24). Inhaltlich ist klar, dass der Erzähler hier die Entmenschlichung, ja die Entwürdigung durch die brutale NS - Gewalt brandmarkt; er verzichtet aber darauf, dies mit rhetorisch-ästhetischen Mitteln schockhaft anschaulich zu machen. 132 Die in dieser Hinsicht wichtigste Passage ist die Schilderung des Mordes am Häftling Wallau. Im ersten Verhör nach seiner gescheiterten Flucht weigert er sich, Fragen zu beantworten. Stattdessen beantwortet er sie in inneren Monologen (vgl. SK 189-193), sodass der Leser seinen biographischen Werdegang erfährt. Die Form des inneren Monologs ist dabei höchst signifikant: Sie beschreibt auf narratologischer Ebene den 130 Zur Erzählsituation vgl. den Kommentar von Bernhard Spies in der hier benutzten Ausgabe (SK 477-480). 131 Vgl. etwa SK 158: „Dann überraschte ihn ein Anfall von Furcht, so jäh und wild wie in der ersten Stunde […]. Ein kaltes Fieber, das ihm mit ein paar raschen Stössen Leib und Seele erschütterte. Ein Anfall von drei Minuten, doch von der Sorte, die einem das Haar grau färbt. […] Der Tod war ihm […] nahe, aber nicht im Rücken, sondern überall. Er war unentrinnbar, er spürte ihn körperlich - als sei der Tod selbst etwas Lebendes, wie auf den alten Bildern, ein Geschöpf, das sich hinter das Asternbeet duckt, oder hinter den Kinderwagen, und hervortreten und ihn berühren kann.“ - Zu Büchners Lenz vgl. oben, Kap. B.IV.3. 132 Eine Ausnahme findet sich am Anfang des Romans. Als der erste Geflohene wieder eingefangen ist, wird er ins Lager geschleift: „Nicht auf den Knien, sondern seitlich, vielleicht weil er einen Tritt abbekommen hatte, sodass sein Gesicht nach oben gedreht war. […] Wie der Eingebrachte jetzt dalag in seinem blutigen Kittel und mit Blut in den Ohren, schien er sich förmlich in einem stillen Lachen zu winden mit seinem grossen blanken Gebiss“ (SK 32). Das Lachen des Gefangenen verrät seine Überzeugung, sich auch von körperlicher Gewalt nicht zerstören zu lassen. VII.2. Textanalysen 309 Rückzug Wallaus in das eigene Innere, in die Kraft und die Unverletzbarkeit des Ichs, das nach außen hin „toter als alle ihre Toten“ ist ( SK 190) - und diese unantastbare Würde wird für seine Peiniger zur ultimativen Provokation. 133 Als Wallau zum nächsten Verhör durch den brutalen Lagerleutnant Bunsen abgeholt wird, erkennt er, „dass das Ende gekommen war“ ( SK 352). In der eindrücklichen Metapher des „furchtbare[n] Durst[es]“ ( SK 352) 134 flammt Wallaus Todesangst, auch sein Festklammern am Leben auf; doch gleich danach konzentriert er sich stoisch darauf, keine Informationen preiszugeben. Bunsen prügelt auf Wallau ein, was im Text zunächst lakonisch mit kurzen Parataxen beschrieben und dann fast lautmalerisch in Bunsens direkter Rede wiedergegeben wird: „Name! Wie hiess sie? [i. e. Heislers frühere Freundin; MG ] - Hopp! Elsa? - Hopp! - Erna - hopp! Martha? - Hopp! Frieda? - hopp! Amalie - hopp! Leni -! “ ( SK 352). Jedes „Hopp“ begleitet einen Faustschlag, dessen Wirkung Wallau aber nicht beeindruckt. Seine kurzen Gedankenberichte und inneren Monologe beziehen sich nur auf den erfolgreichen Versuch, zu schweigen. Die Gewalt gegen ihn bleibt etwas vollkommen Äußerliches, das sein Innerstes, seine Würde, nicht tangiert. Die Darstellung von Gewalt dient hier also als Mittel, die Standfestigkeit des ‚Märtyrers‘ Wallau zu demonstrieren, 135 oder allgemeiner: den Menschen als Wesen darzustellen, dessen Kern, mithin dessen Würde, nicht zerstört werden kann. Auf genau diese Vorstellung zielen jene Stellen, an denen Seghers ihre Figuren sich in schwierigen Momenten auf das ‚Unverletzbare‘ berufen lässt. In den kurzen, den Romantext einrahmenden Passagen etwa kommt ein Erzähler zu Wort, der sich durch das Personalpronomen „wir“ als KZ -Häftling zu erkennen 133 Vgl. ähnlich Tamara Motyljowa, Unangreifbar und unverletzbar. Bemerkungen zu Anna Seghersʼ Roman „Das siebte Kreuz“, in: Weimarer Beiträge 17 (1971), S. 153-168, hier S. 167. 134 Vgl. SK 352: „Jetzt fliessen Wallaus Empfindungen alle in eine zusammen: In Durst. - Was für ein furchtbarer Durst! Nie mehr wird er ihn stillen können. […] Er verdorrt. Was für ein Feuer! “ Die Verbindung von Parataxen und dem Wechsel ins präsentische Erzählen suggeriert Unmittelbarkeit. 135 Nüchtern und unpathetisch wirkt auch der letzte Gedanke Wallaus: „Das ist der Tod, dachte Wallau“ (SK 353). - Vgl. dazu auch Beicken, Seghers: Das siebte Kreuz , S. 346. - Hilzinger und Beicken verweisen auf Seghersʼ kurzen Prosatext Das Vaterunser (1933), der - expliziter als der hier behandelte Roman - die Misshandlung von Kommunisten durch die Gestapo schildert. Um, so Hilzinger, „ihre Menschenwürde [zu brechen]“, müssen sie das Vaterunser beten; doch einer der Häftlinge stimmt, gleichsam um seine Würde zu behaupten, die Internationale an und singt so lange, bis ihm aufgrund der Schläge nur noch Blut aus dem Mund quillt. Vgl. Anna Seghers, Das Vaterunser, in: Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 3, bearb. u. eingeleitet v. S. Bock, Berlin 1971, S. 179-181 und dazu Sonja Hilzinger, „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers. Texte, Daten, Bilder, Frankfurt / M. 1990, S. 20 sowie Beicken, Seghers: Das siebte Kreuz , S. 345-346. 310 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust gibt. 136 Dass die Lagerleitung die als abschreckendes Symbol für die wieder eingefangenen Flüchtlinge aufgestellten sieben Kreuze fällen lässt, ohne dass es gelungen wäre, auch den letzten zu stellen, ist für ihn ein „kleiner Triumph, […] der einen die eigene Kraft plötzlich fühlen liess“ (SK 9-10). Tatsächlich wird das siebte Kreuz, statt die ultimative Demütigung der Geflohenen zu symbolisieren, zu einem Fanal der Menschenwürde für die anderen KZ -Insassen: „Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äusseren Mächte in den Menschen hineingreifen können bis in sein Innerstes, aber wir fühlten auch, dass es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar “ ( SK 421; m. H.). Eine ähnliche Formulierung legt Seghers ausgerechnet dem Lagerkommandanten Fahrenberg, einem brutalen Sadisten, in den Mund. Dieser labt sich daran, „Herr über Menschen“ zu sein, über sie verfügen zu können und sie „zerbrechen“ zu dürfen, ja ihren „aufrechten Körper […] vierbeinig“ zu machen - also die Gefangenen zu Tieren zu reduzieren ( SK 149). „Manche“ habe man so brechen können; andere jedoch, etwa Georg Heisler, schafften es, dem etwas entgegenzusetzen: „Dieses zarte, glitschige Ding, das einen zuletzt um den ganzen Geschmack bringen kann, weil es einem dann doch zwischen den Fingern wegflitscht, unfassbar und unfangbar, untötbar, unverwundbar, dieses Biestchen, geschmeidig wie ein Eidechschen“ ( SK 149). Mit großem rhetorischen Aufwand findet die Autorin hier gleichsam eine metaphorische Bestimmung der Menschenwürde: Die Assonanzen („glitschig“, „Ding“, „wegflitschen“) und die Diminutive („Biestchen“, „Eidechschen“) unterstreichen die Unschärfe der Vorstellung, die nicht ohne Weiteres greifbar ist. Gleichzeitig postulieren die vier Adjektive mit dem negierenden Präfix „un-“ die, wie es in der modernen Kollokation heißt, Unantastbarkeit der menschlichen Würde, die - und das ist der besondere Kniff Seghersʼ - sogar der menschenverachtende Nationalsozialist Fahrenberg anerkennen muss. 137 (3) Das siebte Kreuz leistet aber auch einen Beitrag zur inhaltlichen Bestimmung des Begriffs. Hier ist die strukturelle Funktion der Figur Georg Heisler entscheidend: Georg wird weder als außergewöhnlicher noch als besonders 136 Vgl. dazu auch Motyljowa, Unangreifbar und unverletzbar, S. 155. Motyljowa vertritt die berechtigte These, dass der Roman zwei Erzähler enthalte, das „wir“ der unbekannten Antifaschisten und die Autorin selbst. Statt von der Autorin sollte man besser von einem extradiegetischen Erzähler sprechen, der zwischen verschiedenen Perspektiven hin- und herwechselt. 137 Weitere Stellen stützen das bisher Gesagte. So beschreibt Georg etwa den Geflohenen Aldinger als Mann mit einem „alte[n] Bauerngesicht […], das seine Würde selbst dann nicht verloren hatte, wenn er nicht mehr bei Verstand zu sein schien“ oder wenn er malträtiert wird (SK 81). Die Figur Mettenheimer besinnt sich auf den „eisernen Beistand“, den, so seine feste Überzeugung, jeder Mensch „bei sich trägt“ (SK 90; vgl. SK 94). VII.2. Textanalysen 311 moralischer Charakter gezeichnet 138 und ist auch kein lauter Propagator eines bestimmten politischen Programms. 139 Vielmehr wird er durch seine Flucht zu einem „Katalysator“, 140 der andere Menschen dazu zwingt, sich für ein bestimmtes Verhalten ihm gegenüber zu entscheiden. Die bewusste oder unbewusste Menschlichkeit, die sich in der Interaktion mit Georg manifestiert, ist ein Beleg für den dem Text zugrunde liegenden Optimismus. 141 Dass Georgs Flucht letztlich glückt, ist das Resultat einer Kette von glücklichen Umständen und Akten selbstloser menschlicher Solidarität. Der jüdische Arzt Löwenstein etwa behandelt Georgs verletzte Hand, obwohl dies für ihn selbst ein großes Risiko bedeutet und er innerlich seine Verzweiflung artikuliert (vgl. SK 101-103). Ausgerechnet Georgs Jugendfreund Paul Röder, Anhänger und Profiteur der NS -Politik, wird zum entscheidenden Helfer: Er widersteht dem „feine[n], inwendige[n] Stimmchen“ ( SK 276), das ihn vor möglichen Konsequenzen warnt, und stellt Kontakt zu Fluchthelfern her. Georg ist vollständig auf Röder angewiesen, wie er in einem inneren Monolog feststellt: „Das ist Freundschaft. […] Man muss eben auch Mut aufbringen, einem Freund zu vertrauen“ ( SK 305). Die Hoffnung auf grundlegende zwischenmenschliche Werte wie Freundschaft und Vertrauen 142 zahlt sich aus. Lakonisch heißt es: „[…] Röder half “ ( SK 273). Röders Hilfsbereitschaft wird vom Erzähler nicht ausführlich kommentiert, begründet oder bewertet, erscheint somit fast intuitiv - jedenfalls beweist sie, dass Empathie und Menschlichkeit rein egoistische und gar politische Abwägungen ausstechen können. 143 Gleichzeitig fungiert Georg als ‚erregendes Moment‘, indem er bei verschiedenen Figuren - mittelbar und unmittelbar - Momente der Selbstbefragung und 138 Georg erwägt sogar den Mord an einem Ausländer, der ihn in seinem Wagen mitnimmt und sich rührend um ihn kümmert (vgl. SK 174-177). 139 Vgl. ähnlich Walter Hinck, Drama der Flucht und der Menschenjagd. Anna Seghers: „Das siebte Kreuz. Roman aus Hitlerdeutschland“ (1942), in: Romanchronik des 20. Jahrhunderts. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur, Köln 2006, S. 105-111, hier S. 107. 140 Vgl. auch Beicken, Seghers: Das siebte Kreuz , S. 348: Georg sei eine „Figur […], der jeder Nimbus und jede Funktion des außergewöhnlichen Menschen zunächst abgeht, weil er seiner ganzen Wesensart nach ein Jedermann ist, der erst dadurch, daß ihm Ungewöhnliches widerfährt, das ihn zum ‚Katalysator‘ […] eines wirklich außergewöhnlichen Geschehens macht, das bloß Gewöhnliche hinter sich läßt“. Beicken bezieht sich auf eine Formulierung von Uwe Naumann. 141 Vgl. Beicken, ebd., S. 351, der von Seghersʼ „Geschichtsoptimismus“ spricht. Strümpel (Kammersymphonie des Todes, S. 56) spricht treffend von einem „instrumentellen Optimismus“. 142 Röder beruft sich bei der Suche nach einem Mittelsmann seinerseits auf sein Vertrauen zu Fiedler. Vgl. SK 337: „Fiedler sagte: ‚Wie kommst Du gerade auf mich? ‘ - ‚Das kann ich Dir nicht erklären. Vertrauen.‘“ 143 Vgl. ganz ähnlich Beicken, Seghers: Das siebte Kreuz , S. 349. 312 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust der Selbstvergewisserung provoziert. 144 Als sich Georg, nach dem mit Hochdruck gefahndet wird, am vierten Tag seiner Flucht Essen besorgt, wird er von zwei „junge[n] Burschen“ ( SK 220) erkannt. In einer wie eine filmische Zeitlupe anmutenden Szene tauschen die beiden einen „furchtbaren Blick“ ( SK 220) aus, bevor einer die Spannung löst: „‚Nein‘, sagte er, ‚auch ich hätte es nicht getan‘ [i. e. Georg verraten; MG ]“ ( SK 220). Die prekäre, wortlose Verständigung über die Menschlichkeit des jeweils Anderen wird zur Vergewisserung ihrer zwischenmenschlichen Beziehung: „[Es] hatte sich herausgestellt, dass sie beide die alten geblieben waren. Sie verliessen das Büfett in Freundschaft“ (SK 220). Auch für den Mittelsmann Reinhardt, der hilft, dem ihm unbekannten „gespenstigen Georg“ ( SK 387) Papiere und Geld zukommen zu lassen, ist sein Engagement eine Art Erweckungserlebnis. Er wird beschrieben als ein Mann[], der endlich wieder leibhaftig vor sich sieht, was ihm im Leben das Wichtigste ist, worauf er alles gesetzt hat, wovon er ahnt, dass es immer besteht, doch oft ist es bis zur Erschöpfung entfernt, bis zur Zweifelhaftigkeit vor ihm versteckt, jetzt aber ist es vor ihm, ja sogar zu ihm gekommen. ( SK 389) Das, woran er erinnert wird, ist nicht nur der Kampf für den Sozialismus, sondern auch der Glaube an das, „was immer besteht“, mithin die selbst von den Nationalsozialisten nicht auszumerzende Menschlichkeit. Ebendiese Menschlichkeit, konkretisiert als Empathie, Solidarität und Vertrauen, garantiert die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Als Georgs Schwiegervater, der nach dessen Flucht selbst ins Visier der SS gerät, von Seiten seiner Arbeitskollegen nicht etwa nur das „frech[e]“ Lächeln eines überzeugten Nazis, sondern vor allem „Kummer und Ehrerbietung“ (SK 173) erfährt, sieht er darin eine geradezu anthropologische Bestätigung: „Er war nicht in die Hölle verschlagen - er war noch immer ein Mensch unter Menschen“ ( SK 173). Der Roman eröffnet somit eine doppelte Perspektive: Menschenwürde ist zum einen eine unzerstörbare Qualität; gleichzeitig be- und entstehen zum anderen Menschsein und Menschenwürde im sozialen Handeln, in der Anerkennung des Menschseins in Anderen und in der Ausrichtung des eigenen Handelns an menschlichen Werten. Genau dies ist in Seghersʼ Roman auch der Keim, aus dem Widerspruch gegen die totalitäre NS-Ideologie entstehen kann. Am deutlichsten zeigt dies die Autorin anhand der Figur des Gärtnerlehrlings Fritz Helwig. Er wird nur mittelbar mit Georg konfrontiert; dieser stiehlt auf der Flucht Fritzʼ Jacke, die bei der Fahndung zu einem wichtigen Erkennungsmerkmal wird. Als die Jacke gefunden wird, leugnet Fritz, bislang ein unkritischer, überzeugter Hitlerjunge, überraschend, dass es sich um die seinige handelt. Selbst kann er sich sein „Nein“ 144 Vgl. ebd., S. 345. VII.2. Textanalysen 313 ( SK 167) nicht so recht erklären. Offenbar hat in ihm ein Reflexionsprozess eingesetzt, der die nationalsozialistische Denk- und Handlungsweise grundsätzlich in Frage stellt: Sein „Warum“ ( SK 350) ist die Voraussetzung für ein kritisches Hinterfragen und der mögliche Anfang des Widerstands. 145 Welcher Art der Transformationsprozess ist, der in Fritz initialisiert wurde, formuliert der Erzähler auf eine für den Text typische Art: In seinem jungen Herzen regte sich etwas, eine Warnung oder ein Zweifel, etwas, von dem die einen behaupten, es sei dem Menschen angeboren, und die Anderen wieder behaupten, es sei ihnen nicht angeboren, sondern entstünde nur nach und nach, und wieder andere behaupten, so etwas gäbe es überhaupt nicht. Aber es regte sich in dem Jungen […]. ( SK 351) Was sich in Fritz regt, ist das Gefühl für die Würde des Menschen, das gleichsam ein intuitiver moralischer Imperativ ist - und das eine entwürdigende Jagd auf andere Menschen als moralisch verwerflich erscheinen lässt. Dabei ist es, so wird hier suggeriert, nicht von primärer Bedeutung, welchen Menschenwürdebegriff man favorisiert: Würde als eine dem Menschen inhärente, „angeborene“ Qualität oder als eine zu erwerbende und zu verteidigende Eigenschaft des Menschen. Anhand der Figur Fritz postuliert Seghers jedenfalls wieder die Unzerstörbarkeit der Menschenwürde. Die bereits im Text restituierte Menschenwürde des Erniedrigten, die Postulierung der Unantastbarkeit menschlicher Würde, schließlich ihre inhaltliche Bestimmung als zutiefst menschliche Solidarität und Empathie, auf deren Grund sich kritische Reflexion und Widerspruch entwickeln können: Das ist das utopische Potential der Menschenwürde, wie es Seghers in Das siebte Kreuz entfaltet. Dieser optimistische Grundgestus ist im konkreten historischen Kontext der Entstehung des Textes zu sehen: Als der Roman 1942 erscheint, sind die unfassbaren Ausmaße der NS -Vernichtungspolitik und der Kollaboration zumindest in der Öffentlichkeit noch nicht unbedingt bekannt. Der Glaube an die Veränderung von innen heraus - unter Berufung auf die Autorität der Menschenwürde - scheint Seghers noch gerechtfertigt. 146 145 Vgl. SK 350: „Gehört dieser Zillich [ein Scharführer im Lager Westhofen; MG] ganz genau so zu uns wie Albert, ist alles wahr, was man von ihm erzählt? Wozu brauchen wir ihn? Warum hat man meinen [Flüchtling, i. e. Georg; MG] auch gefangen? Warum ist er denn geflohen? Warum ist er eingesperrt worden? / Er starrte auf dieses Warum, auf den braunen mächtigen Rücken. Zillich trank jetzt sein fünftes Glas.“ 146 Vgl. auch Beicken, Seghers: Das siebte Kreuz , S. 359: „[D]ie vielen namenlosen Helfer, die Heisler findet“, seien „Menschen, in denen ein Selbstbewußtsein sich aktiviert, das sich seiner Menschenwürde nicht begeben will“. Außerdem bezeichnet er Seghersʼ „Erzählen […] als Gedenkstein und Ikone der Menschenwürde“ (ebd., S. 361). 314 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust VII.2.1.2. Die Menschenwürde und die Poetik des Zweifels: Primo Levis Ist das ein Mensch? (1947) Der „autobiographische[] Bericht“ des Holocaust-Überlebenden Primo Levi ist ein für den Menschenwürdediskurs zentraler Text. Nicht nur ist Ist das ein Mensch? ( Se questo è un uomo ) 147 einer der frühesten und am stärksten rezipierten Zeugnisse - mit unbestreitbar literarischen Qualitäten 148 - über das NS - Lagersystem und das, was die in der ‚Hölle Auschwitz‘ gipfelnde NS -Ideologie mit dem Menschen macht, sondern der Text stellt ausdrücklich die Frage nach dem Menschen, seinen Grenzen und seiner Würde in den Mittelpunkt. Der Titel bezieht sich auf das dem Bericht vorangestellte Gedicht, das sich direkt an den in gesicherten Verhältnissen lebenden Leser wendet und ihn energisch, ja geradezu aggressiv auffordert, den Status und das Wesen der ihm vorgeführten Figuren zu reflektieren und der Opfer und ihrer Leiden zu gedenken. Die Reflexion über den Menschen und das Gedenken an die Opfer werden zur ethischen Pflicht. 149 Am Ende des Textes gibt der Erzähler eine scheinbar endgültige Antwort auf die Titelfrage: Mensch ist, wer tötet, Mensch ist, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe und der grausamste Sadist. 147 Primo Levi, Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, aus dem Italienischen v. H. Riedt, München 4 2013. Im Folgenden wird stets nach dieser Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (IM Seitenangabe) belegt. 148 Vgl. dazu Lawrence Langer, The Survivor as Author. Primo Leviʼs Literary Vision of Auschwitz, in: New Reflections on Primo Levi. Before and After Auschwitz, hg. v. R. Sodi u. M. Marcus, New York 2011, S. 133-147, der überzeugend darlegt, dass Levis Text - entgegen dessen Behauptung, dass er keinen literarischen Text schreiben wollte - durchaus als solcher zu betrachten ist. 149 Vgl. IM 9: „Denket, ob dies ein Mann sei, / Der schuftet im Schlamm, / Der Frieden nicht kennt, / Der kämpft um ein halbes Brot, / Der stirbt auf ein Ja oder Nein. / Denket, ob dies eine Frau sei, / Die kein Haar mehr hat und keinen Namen, / Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat, / Leer die Augen und kalt ihr Schoß / Wie im Winter die Kröte. / Denket, daß solches gewesen.“ Vgl. auch die mehrfache Verwendung des Modalverbs „sollen“, mit dem der Pflicht für den Fall ihrer Nichterfüllung eine Strafe biblischen Ausmaßes gegenübergestellt wird: „Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen. / Ihr sollt über sie sinnen […]. / Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern. / Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen, / Krankheit soll euch niederringen, / Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.“ VII.2. Textanalysen 315 Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen der uns Nahestehenden: darum ist das Erleben dessen ein nicht-menschliches, der Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding gewesen ist. ( IM 164) Sowohl Täter als auch Opfer sind demnach Menschen; den Status des Menschen verlieren jedoch jene Opfer (! ), die sich selbst vollständig aufgeben oder sich durch egoistischen Opportunismus und ohne Rücksicht auf Mitmenschen zu retten versuchen. Bereits der Schluss des Zitats lässt allerdings Zweifel an der apodiktischen Definition aufkommen; ficht das „nicht-menschliche Erleben“ das Menschsein und die Menschenwürde an? Der Text selbst erweist sich in dieser Hinsicht als mehrdeutig, umkreist er doch zwei entscheidende Momente: Zum einen thematisiert er die Perspektive der Zuschreibung und Aberkennung von Menschenwürde, zum anderen beschreibt er den KZ -Alltag als ein ständiges Ringen um die Bewahrung und Behauptung der Menschenwürde. Levi schildert die Entwürdigung des Menschen als Zerstörung von Individualität und als Reduktion zum willenlosen, reflexionsunfähigen, tierhaften Wesen. Die Festnahme, die Verfrachtung nach und die Ankunft in Auschwitz sind ein Transformationsprozess, der mit der systematischen Deprivation jeglicher Menschenwürde einhergeht. Schon während des Transports erkennt der Erzähler, der auffällig häufig in der ersten Person Plural spricht, da er nicht nur sein individuelles, sondern ein gleichsam kollektives Schicksal erzählt: 150 „Wir fühlten uns nun ‚auf der anderen Seite‘“ ( IM 16-17). Ein Soldat, der den Transport begleitet, wird zu Charon, der die Toten über den Acheron in den Hades fährt (vgl. IM 19). Beim Anblick der ersten KZ -Insassen begreift der Erzähler, dass ihn eine „Metamorphose“ ( IM 19) erwartet. Diese beginnt bereits unmittelbar vor dem Abtransport: In der Sprache der Nationalsozialisten sind die festgenommenen Juden nur noch eine Anzahl von „Stück“ ( IM 14) in Güterwagen, „erbarmungslos zusammengedrängt wie Dutzendware“ ( IM 15) - Objekte einer logistischen Kalkulation. Nach der Ankunft in der „Hölle“ ( IM 20) 151 werden die äußerlichen Anzeichen von Individualität getilgt; die Kleidung ist abzugeben, die Haare werden geschoren, der Name wird durch eine in den Arm tätowierte Nummer ersetzt (vgl. IM 25), die Häftlinge werden in Kategorien eingeteilt. 152 Ziel dieser Maßnahmen ist die Schaffung von entwürdigtem, uniformem ‚Menschenmaterial‘, von Objekten, die ohne moralische Bedenken und ohne großen Widerstand ausgebeutet oder getötet werden können: 150 Vgl. dazu Lucie Benchouiha, Primo Levi. Rewriting the Holocaust, Leicester 2006, S. 6-7. 151 Levi spricht von jenen Häftlingen, die nicht sofort nach der Ankunft im Lager vergast wurden. 152 Vgl. IM 31: „Wir wissen sehr bald, daß es drei Kategorien von Lagerbewohnern gibt: die Kriminellen, die Politischen und die Juden.“ 316 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Nun denke man sich einen Menschen, dem man, zusammen mit seinen Lieben, auch sein Heim, seine Gewohnheiten, seine Kleidung und schließlich alles, buchstäblich alles nimmt, was er besitzt: Er wird leer sein, beschränkt auf Leid und Notdurft und verlustig seiner Würde und seines Urteilsvermögens, denn wer alles verloren hat, verliert auch leicht sich selbst; so sehr, daß man leichthin und ohne jede Regung verbindenden Menschentums, bestenfalls aber auf Grund reiner Zweckmäßigkeit über sein Leben und seinen Tod wird entscheiden können. So wird man denn die zweifache Bedeutung des Wortes „Vernichtungslager“ verstehen […]. ( IM 25) Die doppelte Vernichtung zielt vor der physischen auf die Vernichtung der Menschenwürde, die Destruktion all dessen, was den Menschen als Menschen ausmacht. Der Erzähler bemerkt schnell die Auswirkungen dieser zweiten Art der Vernichtung: „Es gibt nichts, worin wir uns spiegeln könnten, und doch haben wir unser Ebenbild vor Augen, es bietet sich uns in hundert leichenblassen Gesichtern dar, in hundert elenden und schmierigen Gliederpuppen“ ( IM 24). Die Häftlinge erkennen sich nicht mehr als Ebenbilder Gottes, sondern nehmen sich als leblose Puppen, als „Gespenster“ (IM 24) wahr. Gegen die Entwürdigung durch die Nationalsozialisten, so der Erzähler, müssen die Entwürdigten nun inneren Widerstand leisten, um die eigene Würde doch zu behaupten: „Auch den Namen wird man uns nehmen; wollen wir ihn bewahren, so müssen wir in uns selbst die Kraft dazu finden, müssen dafür Sorge tragen, daß über den Namen hinaus etwas von uns verbleibe, von dem, wie wir einmal gewesen“ ( IM 25). Der Name, um den gekämpft werden muss, ist nicht nur der persönliche, durch eine Nummer ersetzte Rufname, sondern die Bezeichnung und Wahrnehmung als Mensch. Das Leben im Lager zwischen Entwürdigung und Ringen um Würde reflektiert der Erzähler von Anfang an auch im Hinblick auf die essentiell menschlichen Begabungen der Sprache, des Denkens und des Verstehens. Zum einen gleicht die Sprachenvielfalt im KZ „einem fortwährenden Babel“ ( IM 36), sodass gegenseitiges sprachliches Verstehen und die Kommunikation von Mensch zu Mensch extrem erschwert werden (vgl. IM 21). Doch auch das logische, kognitive Verstehen dessen, was mit den Häftlingen passiert, scheint kaum möglich. Im Lager erfährt der Protagonist, dass Kausalität, Logik und Sinnhaftigkeit zu ungültigen Kategorien geworden sind: „Hier ist kein Warum“ ( IM 27). Nach kurzer Zeit haben die Häftlinge gelernt, sich vom Wunsch des Fragens, Verstehens und Erinnerns zu distanzieren (vgl. IM 35, 46, 112). Die Existenz im KZ droht zu einem atemporalen 153 Vegetieren zu werden, da das Individuum der Fähigkeit, sich mit Hilfe seines Verstandes als vernunftbegabtes Wesen zu 153 Vgl. dazu Benchouiha, Primo Levi, S. 17-19. VII.2. Textanalysen 317 erfahren und zu behaupten, beraubt wird. Zum anderen stellt der Erzähler die generelle Unmöglichkeit fest, das, was im KZ mit dem Menschen passiert, durch Sprache zu begreifen, zu formulieren und zu vermitteln: „Da merken wir zum erstenmal, daß unsere Sprache keine Worte hat, diese Schmach zu äußern, dies Vernichten eines Menschen“ ( IM 24). Dieser thesenartige Befund ist auf zwei Ebenen zu deuten: In Überblendung der Perspektive des erlebenden und des reflektierenden Ich 154 führt der Erzähler aus, dass „freie Worte, geschaffen und benutzt von freien Menschen“ ( IM 119), die Leiden und Erfahrungen der KZ - Insassen nur unzureichend ausdrücken. Als außerfiktional gelesener, metapoetischer Kommentar verweist die Feststellung auf die Notwendigkeit für Zeugnisse aller Art - und dazu gehört vornehmlich die Literatur -, sprachliche und ästhetische Verfahren und Strategien zu finden, die die totale Entwürdigung des Menschen veranschaulichen und möglicherweise darauf reagieren. Eine solche Strategie, die Levi in seinem eigenen Text einsetzt, sind die leitmotivischen Tiervergleiche und -metaphern, die verdeutlichen, dass die Häftlinge zu Wesen unter der Schwelle des Menschlichen degradiert werden. 155 Auffällig ist, dass sich die Tiermetaphorik häufig aus der Perspektive der Häftlinge selbst auf die Häftlinge bezieht, es sich also nicht um eine direkte sprachliche Entwürdigung aus der Täterperspektive und durch die Tätersprache handelt. So heißt es etwa: „[U]nsere von Kot und Schnee durchnäßten Klamotten strömen bei der Ofenhitze Schwaden von Dampf und einen Geruch nach Hundezwinger und Herde aus“ (IM 67). Die Vergleiche mit Hunden in verschmutzten Zwingern und mit Tieren, die in großer Zahl als Herde zusammenleben, sind ein Versuch, sich den tatsächlichen Lebensbedingungen der auf die elementarste Kreatürlichkeit zurückgeworfenen Häftlinge in ihren Baracken, die man menschenwürdiger Verhältnisse nicht wert erachtet, bildlich zu nähern. Selbst in den eigenen sprachlichen Äußerungen werden die Häftlinge zu Tieren, wenn „fressen“ als die passende Bezeichnung für die Nahrungsaufnahme benutzt wird (vgl. IM 73). Diese innerfiktionalen Selbstzuschreibungen signalisieren jedoch keineswegs ein Akzeptieren der zugeschriebenen Würdelosigkeit. Die Tiermotivik steht vielmehr im Dienst der außerfiktionalen Leitfrage nach dem höchst fragwürdig 154 Indiz hierfür ist die Verwendung der 1. Person Plural in der betreffenden Passage, die im Text bevorzugt benutzt wird, um das kollektive Erleben zu beschreiben. Vgl. IM 119: „Wir sagen ‚Hunger‘, wir sagen ‚Müdigkeit‘, ‚Angst‘ und ‚Schmerz‘, wir sagen ‚Winter‘, und das sind andere Dinge. Denn es sind freie Worte, geschaffen und benutzt von freien Menschen, die Freud und Leid in ihrem Zuhause erlebten.“ - Der markante Wechsel zwischen erzählendem und reflektierendem, zurückblickendem Ich sowie die gelegentliche Überblendung sind charakteristisch für Levis Text. 155 Vgl. dazu etwa Marco Belpoliti / Robert S. C. Gordon, Primo Leviʼs Holocaust vocabularies, in: The Cambridge Companion to Primo Levi, hg. v. R. S. C. G, Cambridge [u. a.] 2007, S. 51-65, hier S. 52-56. 318 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust gewordenen Status der Figuren. Den Widerspruch gegen die Vertierlichung durch das KZ und das aktive Auflehnen gegen die vermeintliche Würdelosigkeit beschreibt der Erzähler explizit: Eben darum, weil das Lager ein großer Mechanismus ist, der uns zu Tieren herabwürdigen soll, dürfen wir keine Tiere werden ; auch an diesem Ort kann man am Leben bleiben und muß deshalb auch den Willen dazu haben, schon um später zu berichten, Zeugnis abzulegen; und für unser Leben ist es wichtig, alles zu tun, um wenigstens das Gerippe, den Rohbau, die Form der Zivilisation zu bewahren . Wenn wir auch Sklaven sind, bar allen Rechts, jedweder Beleidigung ausgesetzt und dem sichern Tod verschrieben, so ist uns doch noch eine Möglichkeit geblieben, und die müssen wir, weil es die letzte ist, mit unserer ganzen Energie verteidigen: die Möglichkeit nämlich, unser Einverständnis zu versagen . […] Wir müssen unsere Schuhe einschwärzen, nicht, weil es so vorgeschrieben ist, sondern aus Selbstachtung und Sauberkeit. Wir müssen in gerader Haltung gehen, […] nicht als Zugeständnis an die preußische Disziplin, sondern um am Leben zu bleiben, um nicht dahinzusterben. ( IM 38-39; m. H.) Gerade weil die Nationalsozialisten versuchen, den Häftlingen jede äußere Form von Individualität zu nehmen, wird das Festhalten an noch so kleinen Resten von äußerer Würde zur Pflicht. Das Präsens suggeriert, dass hier das erlebende und das erzählende Ich ineinanderfließen; das Trauma ragt in die Gegenwart des Erzählens hinein, das Ringen um Würde bleibt auch jenseits der konkreten KZ -Erfahrung eine Lebensaufgabe. Vor diesem Hintergrund entfalten die Zitate aus Dantes Göttlicher Komödie ihre vollen Sinnpotentiale. Als er mit einem Mithäftling Suppe holt, kommt dem Protagonisten unvermittelt der „Gesang des Odysseus“ in den Sinn. Plötzlich empfindet er den Drang, seinem Begleiter „die Göttliche Komödie kurz zu erklären; wie die Hölle aufgeteilt ist, was es mit der Vergeltung auf sich hat“ (IM 108). Unbedingt soll er „begreifen“ (IM 108; vgl. IM 109), will der Protagonist „erklären“ und „auseinandersetzen“ ( IM 109), und zwar nicht nur rein sprachliche Aspekte des Textes und seiner Übersetzung, sondern auch dessen „Botschaft“, die „ihn angeht und alle Menschen in Bedrängnis, besonders uns hier“ ( IM 110), die also unvermutet die Situation des KZ s zu reflektieren scheint. Besonders eine Stelle erscheint wie eine Erleuchtung: „Bedenket, welchem Samen ihr entsprossen: / Man schuf euch nicht, zu leben wie die Tiere, / Nach Tugend und nach Wissen sollt ihr trachten“ ( IM 109). Innerfiktional ist das Berufen auf dieses Zitat, das den Menschen geradezu aufklärerisch zu Selbstbewusstsein, Optimismus und Selbstoptimierung auffordert, ein Aufruf zu innerem Widerstand gegen die Entwürdigung durch das KZ . Die Erinnerung an die kulturelle Tradition, aber auch die eigene intellektuelle Beschäftigung mit ihr, wie sie sich im Versuch des Übersetzens und Interpretierens der Commedia äußert, dienen VII.2. Textanalysen 319 dem Erzähler zumindest in diesem Moment als Mittel zur Behauptung seiner Menschenwürde. Betrachtet man diese Episode jedoch außerfiktional, ergibt sich ein anderes Bild: Unmittelbar vorher berichtet der Erzähler von seiner „Chemieprüfung“, die ihm zeitweise eine würdigere, seiner Ausbildung und seinem früheren Leben angemessenere Arbeit verschaffen könnte. 156 Als er vor seinen Prüfer Doktor Pannwitz tritt, kommt es zu einem vielsagenden Blickkontakt: [D]ieser Blick wurde nicht zwischen zwei Menschen ausgetauscht. […] Was wir alle über die Deutschen dachten und sagten, war in dem Augenblick unvermittelt zu spüren. Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: „Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es, festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.“ Und in meinem Kopf […]: „Die blauen Augen und blonden Haare sind von Grund auf böse. Jede Verständigung ist ausgeschlossen. Ich bin spezialisiert in Bergbau-Chemie. Ich bin spezialisiert in organischen Synthesen. Ich bin spezialisiert …“ ( IM 103) In der direkten Konfrontation mit dem Vertreter der NS -Ideologie erkennt der Ich-Erzähler, dass seine Bildung, sein Wissen und seine professionellen oder intellektuellen Verdienste nutzlos sind: Der Blick des Gegenübers, den er wahrnimmt, deutet und verbalisiert, degradiert ihn unwiderruflich zum Untermenschen. Kurz darauf wischt der Kapo, der ihn zu seiner Baracke führt, gedankenlos, „[o]hne Haß und ohne Hohn“ ( IM 104), seine schmutzige Hand an seiner Schulter ab. Diese beiden Szenen illustrieren: In den Augen derer, die im Lager eine Machtposition haben, ist der einzelne Häftling ein wertloses, würdeloses, entmenschlichtes Objekt. Im Hinblick auf die Dante-Zitate suggerieren sie zudem: Das Berufen auf humanistische Bildung und das damit verbundene Menschenbild mag als heuristisches Mittel der Erinnerung an die eigene Menschlichkeit und Menschenwürde dienlich sein und den Einzelnen davor bewahren, sich dem Verdikt der Würdelosigkeit zu fügen; als übergeordnetes Erklärungsmodell, um die Erfahrung des Lagerlebens verständlich oder sinnhaft werden zu lassen, ist die intertextuelle Referenz vollkommen unpassend. Die erlebte Entwürdigung ist schlichtweg ohne Vergleich. Dieses Auf und Ab, das Bemühen um die Rettung der Menschenwürde inmitten von Entwürdigung und Würdelosigkeit, vermittelt der Text erzählerisch, indem er episodenhaft kurze Charakterstudien 157 unternimmt, die er dem Rezi- 156 Zur Bedeutung der Arbeit im Kontext der Entwürdigung im KZ vgl. Benchouiha, Primo Levi, S. 14-16. 157 Der Erzähler beschreibt das KZ sogar als eine Art soziologisches oder biologisches Experiment: „Kein Experimentator könnte sich etwas Rigoroseres ausdenken, um zu ermit- 320 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust pienten mit der titelgebenden Frage anheim stellt: Ist das ein Mensch? In seiner eigenen Bewertung ist der Erzähler wechselhaft und inkonsequent - und spiegelt genau damit die ständige Bedrohung und Unsicherheit der Menschenwürde. Manche Beobachtungen des Erzählers wirken zunächst eindeutig, etwa wenn er feststellt: „Nichts lebt hier [i. e. in Buna; MG ], nur Maschinen und Sklaven: und jene mehr als diese“ ( IM 69). Das sächliche Indefinitpronomen suggeriert dabei eine verabsolutierte Entmenschlichung, von der niemand ausgenommen ist. Entsprechend deutet der Erzähler die die ausrückenden Arbeiterkolonnen begleitende Musik als „des Lagers Stimme“, als wahrnehmbare[n] Ausdruck seines geometrisch konzipierten Irrsinns und eines fremden Willens, uns zunächst als Menschen zu vernichten, um uns dann einen langen Tod zu bereiten. Wenn diese Musik ertönt, wissen wir, daß sich die Kameraden draußen im Nebel wie Automaten in Marsch setzen. Tot sind ihre Seelen, und die Musik treibt sie dahin wie der Wind das welke Laub und ersetzt ihren Willen. Denn ein Wille ist nicht mehr da […]. Zehntausend sind sie, und doch nur eine einzige graue Maschine, willfährig bis zum Äußersten; sie denken nicht und sie wollen nicht, sie marschieren. ( IM 49) Diesen „erloschenen Menschen“ ( IM 49), denen der eigene Wille geraubt wurde - und gemeint ist hier die Gesamtheit der Häftlinge -, eignet offenbar selbst aus der Perspektive des Erzählers keinerlei Würde mehr. Und doch besteht ein qualitativer Unterschied zu den sogenannten „Muselmännern“, 158 den „Menschen in Auflösung“ ( IM 85). Symbolisiert die Musik, die die willenlosen „Automaten“ leitet, immerhin noch die für die Entwürdigung verantwortliche Quelle (das NS -Lagersystem), scheinen sich die Muselmänner selbst aufgegeben zu haben und so die Würdelosigkeit anzunehmen: Sie, die Muselmänner, die Untergegangenen sind der Kern des Lagers: sie, die anonyme, die stets erneuerte und immer identische Masse schweigend marschierender und sich abschuftender Nichtmenschen, in denen der göttliche Funke erloschen ist und die schon zu ausgehöhlt sind, um wirklich zu leiden. Man zögert, sie als Lebende zu bezeichnen; man zögert, ihren Tod, vor dem sie keine Angst haben, als Tod zu bezeichnen, weil sie zu müde sind, ihn zu begreifen. ( IM 87) 159 teln, was vom Verhalten des Lebewesens Mensch im Kampf ums Leben wesensbedingt und was erworben ist“ (IM 84). 158 Zu den „Muselmännern“ vgl. Joseph Farrell, The Strange Case of the Muselmänner in Auschwitz, in: New Reflections on Primo Levi (wie Anm. 148), S. 89-99. Farrell diskutiert auch mögliche Erklärungen für die Herkunft des Begriffs. 159 Vgl. auch IM 87: „Sie bevölkern meine Erinnerung mit ihrer Gegenwart ohne Antlitz […].“ Das Nomen „Antlitz“ nimmt den „göttlichen Funken“ wieder auf und spielt auf die Vorstellung der vermeintlichen Gottebenbildlichkeit des Menschen an. VII.2. Textanalysen 321 Diese schonungslose, fast vorwurfsvolle (auch sprachliche) Klassifikation der schwächsten, in ihrer Menschlichkeit vollkommen zerstörten KZ -Häftlinge als Nicht-(mehr-)Menschen wirkt in ihrer analytischen Distanziertheit, in ihrer Emotionslosigkeit auf den ersten Blick verstörend. 160 Die vermeintliche innerfiktionale Kälte öffnet jedoch die Augen des Rezipienten dafür, dass die Muselmänner diejenigen sind, bei denen die NS -Ideologie und -Lagerpolitik am ‚erfolgreichsten‘, am ‚gründlichsten‘ gewirkt haben: 161 Ihre Menschenwürde ist zerstört - nicht nur aus der Sicht der Nationalsozialisten geleugnet und aberkannt, sondern auch von den Muselmännern selbst aus den Augen verloren. 162 Der Erzähler beschreibt aber auch Häftlinge, die ihre Menschenwürde und ihre Menschlichkeit zu erhalten trachten, wie sein Freund Alberto, der sich mit „Instinkt und Intelligenz“ anzupassen weiß und, obwohl er „um sein Leben [kämpft], […] Freund mit allen“ ist und „nicht zum schlechten Menschen“ wird ( IM 55), oder Chajim, der „zu den wenigen [gehört], die ihre Selbstachtung behalten, weil sie [im KZ ; MG ] ein Handwerk ausüben, das sie gelernt haben“ ( IM 45), oder die griechischen Häftlinge, denen eine „Abscheu vor sinnloser Brutalität und [ein] erstaunlich ausgeprägte[s] Bewußtsein vom Fortbestand einer zumindest potentiellen menschlichen Würde“ ( IM 76-77) attestiert wird. Am schwierigsten ist die Antwort auf die Frage, ‚ob das ein Mensch ist‘, dort, wo der Erzähler den Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und den Überlebenschancen des Einzelnen reflektiert. Um die Wahrscheinlichkeit der eigenen Rettung aus dem Lager zu erhöhen, sichern sich manche Häftlinge eine begrenzte, prekäre Machtposition als „Prominente“, als „Lagerfunktionäre“. So werden die „jüdischen Prominenten“ - eine perverse, kalkulierte Konsequenz des Lagersystems und seines erbarmungslosen Überlebenskampfes - zu „asozialen, gefühlsrohen Ungeheuern“, bar jeder „natürlichen Solidarität mit ihren Kameraden“ ( IM 87). Von den „nichtjüdischen Prominenten“ heißt es, etwas milder, dass sie „stur und bestialisch“ sind, „schmutzige[] menschliche[] Sub- 160 Vgl. ähnlich Farrell, The Strange Case of the Muselmänner in Auschwitz, S. 94-95. 161 Vgl. ebd., S. 98. 162 Einen dieser Muselmänner beschreibt der Erzähler genauer: „Es ist Null Achtzehn. Nur so heißt er: Null Achtzehn, die letzten drei Ziffern seiner Nummer; als sei sich ein jeder bewußt geworden, daß nur ein Mensch es verdient, einen Namen zu haben und daß Null Achtzehn kein Mensch mehr ist. […] Seine Sprache und sein Blick erwecken den Eindruck, als sei sein Inneres leer, als bestehe er nur noch aus der Hülle, wie die Reste mancher Insekten […]“ (IM 40). Vgl. zu dieser Figur auch Farrell, The Strange Case of the Muselmänner in Auschwitz, S. 138 und Langer, The Survivor as Author, S. 139, der die Bedeutung des Namens „Null Achtzehn“ erklärt: „[…] translated into ordinary speech [it] means ‚life is nothing‘, though one cannot expect all readers to realize that the numerical equivalent for the Hebrew word for ‚life‘ (‚chai‘) is 18.“ 322 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust jekte“ ( IM 88). Die benutzten Vokabeln verweisen auf einen Menschen im Naturzustand als tierhaftes, vorzivilisatorisches, un- oder sogar amoralisches und daher würdeloses Wesen. Tatsächlich erscheinen das Leugnen der eigenen Menschlichkeit und der Verzicht auf jegliche Würde zugunsten des reinen Überlebenswillens für die einfachen Häftlinge als eine mögliche Strategie: „[M]an muß jede Würde in sich zerstören und jede Gewissensregung abtöten, muß als Rohling gegen die Rohlinge zu Felde ziehen […]“ ( IM 89). Die Alternative ist die bewusste, größtmögliche persönliche Anstrengung, Überwindung und Ausdauer verlangende Behauptung der Würde, die aber möglicherweise eher eine Wunschvorstellung als Realität ist: Denn überleben zu können, ohne etwas von seiner eigenen, moralischen Welt aufzugeben oder ohne ein machtvolles und unmittelbares Eingreifen des Glücks, ist nur ganz wenigen Überragenden vorbehalten, die das Zeug zum Märtyrer oder Heiligen haben. ( IM 89) Entsprechend sind die Rettungsgeschichten, die erzählt werden, gleichsam Prüfsteine für einen emphatisch-moralischen Menschenwürdebegriff, denn sie werfen die Frage auf, was sich der Mensch angesichts ihm zugefügter Menschenwürdeverletzungen erlauben darf, ohne selbst seine Menschenwürde zu korrumpieren. So verrät ein in jeder Hinsicht unauffälliger Häftling in einem Akt des rücksichtslosen Opportunismus einen Kameraden (vgl. IM 89-90); ein anderer versucht alles, sich den Anschein einer äußerlichen Würde zu verleihen, und schließlich gelingt es ihm, dank seines „absolut[en]“ Egoismus innerhalb der Lagerhierarchie aufzusteigen (vgl. IM 90-92). Ein dritter Häftling erscheint als „das tauglichste Menschenexemplar“ für das Lagerleben, weil er sowohl von tierhafter Physis als auch „schwachsinnig“ ist (vgl. 92-95); Henri schließlich hat sich von jeder Empathie freigemacht und handelt gemäß seiner Theorie, dass es „drei Methoden [gibt], der Vernichtung zu entgehen, die der Mensch anwenden und dabei des Namens Mensch würdig bleiben kann: organisieren, Mitleid erwecken und stehlen“, instrumentalisiert dabei aber andere, indem er sie für seine Zwecke einspannt (vgl. IM 95-97). Die moralische Bewertung dieser Figuren durch den Leser wird vom Erzähler sogleich abgewehrt: Im Lager gebe es „kein moralisches Gesetz […], das man brechen könnte“ ( IM 94). Nur wenig später wird dem bisher Gesagten - und auch der eingangs zitierten Stelle - scheinbar widersprochen. „Die hier beschriebenen Personen“, so der Erzähler - das Adverb bezieht sich wohl auf den gesamten Text - „sind keine Menschen.“ Ihr Menschentum ist verschüttet, oder sie selbst haben es unter der erlittenen oder den andern zugefügten Unbill begraben. Die schändlichen, dummen SS -Leute, die Kapos, die Politischen, die Kriminellen, die großen und kleinen Prominenten, bis hinunter zu VII.2. Textanalysen 323 den unterschiedslosen, versklavten Häftlingen, alle Abstufungen dieser ungesunden, von den Deutschen gewollten Hierarchie: sie sind durch ihre einheitliche innere Verödung auf paradoxe Art miteinander verbrüdert. ( IM 117-118) Entscheidend für die Gesamtinterpretation des Textes ist der Begriff des Paradoxen . Levis Aussagen sind allein schon auf der Inhaltsebene teilweise widersprüchlich. 163 „[A]uf paradoxe Art miteinander verbrüdert“ sind Täter und Opfer dadurch, dass ihre Menschenwürde im Text zur Disposition gestellt wird und dass der Text diesbezüglich keine einfachen und einheitlichen Antworten bereitstellt. Nicht einmal die Nationalsozialisten, die für die Grausamkeiten und die Entwürdigung ultimativ verantwortlich sind, die in Levis Bericht aber nicht als scharf konturierte Täter-Figuren in Erscheinung treten, werden konsequent als Unmenschen bezeichnet. Der Text selbst konzentriert sich auf die Entwürdigten, auf die (Un-)Möglichkeit, der Entwürdigung die Behauptung der eigenen Würde entgegenzusetzen, und auf die moralisch kaum lösbare Frage, wie das menschenunwürdige Verhalten von Entwürdigten, die verzweifelt um ihr Leben kämpfen, zu bewerten ist. Gerade dieses Paradoxe - im Sinne einer Irritation, eines dauernden Zweifels, was in der Extremsituation KZ Menschsein überhaupt (noch) bedeutet 164 - ist das Beunruhigende, das Verstörende des Textes, aber auch sein appellatives, zur Reflexion und zum Widerspruch gegen die behauptete Würdelosigkeit anstiftendes Moment. Es ist ein narratives Mittel, die schreckliche Degradierung der Häftlinge zu Zwischenwesen zwar nicht begreifbar zu machen, aber - über das Dokumentarische hinausgehend - im Bewusstsein der Unmöglichkeit der Aufgabe dennoch zur Darstellung zu bringen. 165 Die dem Würdediskurs des Textes zugrundeliegende Spannung entsteht dadurch, dass Menschenwürde keineswegs als unverlierbar oder gar unantastbar, sondern einerseits als - aus der Perspektive der Täter - geleugnet 163 Am markantesten sind die bereits angeführten Beispiele: „Die hier beschriebenen Personen sind keine Menschen“ (IM 117) - hier wird sowohl den Tätern als auch den Opfern der Menschenstatus aberkannt - vs. IM 164: „Mensch ist, wer tötet, Mensch ist, wer Unrecht zufügt oder erleidet […].“ 164 Vgl. den Kommentar Langers: „His [i. e. Leviʼs; MG] narrative […] pursues a principle of strategic orientation and disorientation, alternating moments of dignity with instants of shame, dread, and revulsion, giving readers a chance to breathe normally in between their stifling gasps of horror. His portraits of individuals seem randomly interspersed throughout the text, but in fact they are distributed in such a way as to constantly shift the moral ground beneath us […]“ (The Survivor as Author, S. 145). - Vgl. ebenso Carolin Fischer, Mit der Individualität verliert sich die Menschlichkeit. Primo Levis Auschwitzerfahrung, in: Was ist der Mensch? , hg. v. D. Ganten [u. a.], Berlin / New York 2008, S. 74-76. 165 Auch Farrell spricht von den „paradoxes in Leviʼs presentation“ (The Strange Case of the Muselmänner in Auschwitz, S. 95), fragt aber nicht nach deren außerfiktionaler Funktion. 324 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust und aberkannt, andererseits - aus der Perspektive der Opfer - als permanent gefährdet und prekär erscheint. Hinzu kommt die dem aufgeklärten Rezipienten zu unterstellende Überzeugung, dass die Häftlinge natürlich Menschen sind, dass diese natürlich Würde besitzen, was die geschilderte Entwürdigung umso erschütternder werden lässt. 166 Uneingeschränkt positiv erscheint in Levis Text nur eine Figur: der italienische Zivilarbeiter Lorenzo. In absichtsloser Hilfsbereitschaft kümmert er sich um den Protagonisten und tut Gutes um des Guten willen: Lorenzo aber war ein Mensch. Seine Menschlichkeit war rein und unangetastet, er stand außerhalb dieser Welt der Vernichtung. Dank Lorenzo war es mir vergönnt, daß auch ich nicht vergaß, selbst noch ein Mensch zu sein. ( IM 118) Zwar ist Lorenzo als Zivilarbeiter bezeichnenderweise kein unmittelbarer Bewohner des Kosmos KZ , doch er verkörpert das utopische Moment der solidarischen Menschlichkeit als Beweis und Garant der Menschenwürde. Mit diesem utopischen Moment endet Levis Bericht: Als angesichts der näher rückenden Roten Armee das Lager im Januar 1945 geräumt wird, bleiben nur die Kranken - zu denen der Erzähler zählt - zurück. Einige von ihnen schaffen es unter größten Mühen, eine Baracke bewohnbar zu machen. Als Dank erhalten sie von den anderen Kranken eine Sonderration Brot: „Es war die erste menschliche Geste, die unter uns geschah. Ich glaube, daß man auf diesen Augenblick den Beginn jenes Vorgangs festsetzen könnte, der uns, die wir nicht starben, von Häftlingen nach und nach zu Menschen verwandelte“ ( IM 152). Eine Wieder-Menschwerdung der Entwürdigten ist möglich - freilich nur für jene, die die „Welt der Toten und der Larven“ ( IM 164) überleben. Menschlichkeit und Solidarität blitzen auf, aber nicht als kitschig-klischeehafte Motive, sondern mit klarem Bewusstsein für ihre Gefährdungen: Denn um selbst zu überleben, müssen der Erzähler und seine Kameraden andere Häftlinge dem Tod überlassen. 166 Benchouiha beschreibt den Würdediskurs des Textes wie folgt: „It is precisely through his depiction of the degradation of man that Levi reveals what he holds to be uniquely and essentially human. His portrayal of the prisonersʼ loss of dignity, understanding, language, positive work, free will, thought, memory, and perceptions of time demonstrates the necessity for these factors in the retention and protection of the essence of humanity“ (Primo Levi, S. 9). Diese These ist zweifellos zutreffend, versäumt aber, das Moment des Paradoxen und Widersprüchlichen als Strategie des Textes hervorzuheben. Vgl. auch ebd., S. 9-11. VII.2. Textanalysen 325 VII.2.1.3. Die Wiedergewinnung der Menschenwürde als romanhafte Ausnahme: Erich Maria Remarques Der Funke Leben (1952) Erich Maria Remarques Roman Der Funke Leben , 167 eine „Geschichte über die Würde des Menschen“, 168 ist ein früher Versuch, das Grauen und die Verbrechen der Konzentrationslager nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erzählerisch zu schildern - nicht mit dokumentarischen Mitteln oder in der Form eines Erlebnisberichts, in dem ein Ich-Erzähler Zeugnis ablegt, sondern fiktional in einer recht traditionellen narrativen Form. 169 Remarques von der zeitgenössischen Kritik mit bisweilen vernichtender Ablehnung quittierter Roman 170 erzählt auf den ersten Blick von der Wieder-Menschwerdung vollkommen erniedrigter KZ- Häftlinge. Doch die vermeintlich optimistische Schilderung der Rückgewinnung der eigenen Würde wird bei genauerem Hinsehen überaus brüchig und verdeckt keineswegs den Horror der totalen Entwürdigung. Primo Levis Leitfrage, ob die im Text dargestellten Figuren Menschen sind, führt auch bei der Lektüre von Remarques Roman zu Irritationen. Ob nämlich der Mensch im KZ zu etwas reduziert wird, das irreversibel nicht mehr menschlich und vollkommen würdelos ist, beantwortet der Text (genau wie jener Levis) nicht eindeutig. Der Versuch, den Angriff auf die Menschenwürde möglichst eindrucksvoll literarisch zu vermitteln, führt streng genommen zu logischen Schwierigkeiten. Die Erfahrungen der Häftlinge, die im Zentrum des Erzählten stehen, werden eindeutig als Entwürdigung geschildert. In ihrem Resultat ist diese Entmenschlichung aber noch einmal eine essentiell andere als die Entmenschlichung der sog. Muselmänner. Ihre Entwürdigung ist gleichsam ‚voll- 167 Erich Maria Remarque, Der Funke Leben. Roman, hg. v. T. Westphalen, Köln 6 2013 [urspr. 1952]. Im Folgenden wird stets diese Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (FL Seitenangabe) belegt. - Das Nachwort von Tilman Westphalen trägt den Titel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (FL 387). 168 So eine Anmerkung Remarques, die der ersten Manuskriptfassung beigegeben ist. Zit. nach: Hans Wagener, Erich Maria Remarque, in: Deutsche Exilliteratur seit 1933, hg. v. J. M. Spalek u. J. Strelka, Bd. 1 / 1, Bern / München 1976, S. 591-605, hier S. 597. Der Roman sei „eine Geschichte über das Leben selbst; über die unglaubliche Fähigkeit des Menschen zu überleben … eine Geschichte über die Würde des Menschen, die nicht durch seinen Mißbrauch von außen zerstört werden kann, nur durch ihn selbst“. 169 Remarques wichtigste Quelle war Eugen Kogons frühes Standardwerk Der SS-Staat (1946). Vgl. dazu Strümpel, Kammersymphonie des Todes, S. 58. - Remarque siedelt die Handlung seines Romans in einem fiktiven KZ in der Nähe der Stadt Mellern an. 170 Zur Kritik an Remarques Roman vgl. die Zusammenstellung von Rezeptionszeugnissen im Nachwort der benutzten Ausgabe (FL 390-391 und 404-409). - Zum Problem der Fiktionalität in der Literatur über Konzentrationslager vgl. oben, S. 289 - 290. - Zum geringen Interesse der Forschung an diesem Text vgl. Strümpel, Kammersymphonie des Todes, S. 56. 326 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust kommener‘ und wird zur tatsächlichen Würdelosigkeit. Diese problematische Prämisse muss der Leser akzeptieren. Die Menschenwürde wird demnach in manchen Häftlingen vollkommen zerstört, in anderen nicht. Remarques Roman macht an dieser Stelle eine vielsagende narratologische Differenzierung: Der extradiegetische Erzähler erzählt immer wieder personal und mit Innensicht aus der Perspektive jener, die einen Funken ihrer Würde retten können. Von den Muselmännern berichtet er nur mit Außensicht. Im Zentrum des Textes steht jedoch nicht so sehr der Prozess der Entwürdigung , den das Individuum im Konzentrationslager durchläuft. Vielmehr wird ein Prozess des zunehmenden Würdebewusstseins geschildert, ausgehend vom Zustand der tiefen Entwürdigung, in dem sich auf den ersten Seiten des Romans die Hauptfigur befindet: Das Skelett 509 hob langsam den Schädel und öffnete die Augen. Es wusste nicht, ob es ohnmächtig gewesen war oder nur geschlafen hatte. Zwischen dem einen und dem andern bestand auch kaum noch ein Unterschied; Hunger und Erschöpfung hatten seit Langem dafür gesorgt. […] 509 lag eine Weile still und horchte. Das war eine alte Lagerregel; man wusste nie, von welcher Seite Gefahr drohte, und solange man sich unbeweglich hielt, hatte man immer die Chance, übersehen oder für tot gehalten zu werden - ein einfaches Gesetz der Natur, das jeder Käfer kannte. ( FL 11) Der erste KZ -Insasse, der dem Leser begegnet, hat kaum noch Ähnlichkeit mit einem Menschen: Metaphorisch zu einem „Skelett“, zur Körperlichkeit in ihrer minimalsten Form reduziert, hat dieses Wesen nicht einmal einen Namen, sondern ist lediglich eine identitätslose Nummer. Mehr noch: Das sächliche Pronomen suggeriert, dass es sich um ein Ding handelt. Die nachlassende Fähigkeit, zwischen Bewusstseinszuständen zu unterscheiden, weist eher auf ein dumpfes Vegetieren als auf menschliches Erleben hin. Der Zustand permanenter Todesgefahr schließlich wirft „509“ in eine tierhafte, von instinkthaften Naturgesetzen gelenkte Verfassung. Dinghafte Körperlichkeit, entindividualisierte Tierhaftigkeit - diese durchaus widersprüchlichen Zuschreibungen charakterisieren die Existenz des Häftlings hyperbolisch als vollkommene Entwürdigung. Der Erzähler legt Wert darauf, am Beginn des Textes klarzustellen, dass die Häftlinge, freilich durch äußere Einwirkung, unter die Schwelle des Menschlichen gesunken sind - im Gegensatz zu „Menschen“ sind sie lediglich „Kreaturen“ ( FL 20). Für 509 zählt nur noch die „nackte Existenz von einer Stunde zur andern“ ( FL 20); in einem Selbstschutzmechanismus hat er sich von allem, was Individualität und Personalität ausmacht, losgesagt, um sein „gefährdetes Ich“ ( FL 20) nicht der vollkommenen Zerstörung anheimzustellen - mithin, um angesichts der von außen erlittenen Entwürdigung durch den willentlichen Ver- VII.2. Textanalysen 327 zicht auf alles Menschliche wenigstens der inneren Würdelosigkeit zu widerstehen. „Hass“, „Erinnerungen“ und „Hoffnung“ schiebt er von sich ( FL 20-21); „gleichgültig“ existieren und „nicht denken“ ( FL 21) ist seine Überlebensstrategie. Doch das alliierte Bombardement der nahegelegenen Stadt - das erregende Moment der Romanhandlung - macht dies unmöglich: „Er konnte es nicht. Das Beben in ihm hörte nicht auf “ ( FL 21). Was in ihm bebt, ist die Hoffnung, die Erinnerung an die eigene Menschlichkeit, die ihn und andere Häftlinge in der Folge schrittweise dazu bringt, ihre Würde zu behaupten. Es bedarf also, und das mag der von Remarque gewählten fiktionalen Erzählweise geschuldet sein, die auf einen romanhaften Handlungs- und Spannungsbogen setzt, eines äußeren Anlasses, der die Rückeroberung der Menschenwürde in Gang setzt. Diese Rückeroberung gelingt jedoch nur jenen, „in denen ein Funke Leben trotz allem nicht erstorben war“ (FL 357) - und das schließt die „Muselmänner“, die Schwächsten aller Erniedrigten, aus. Diese bewegten sich wie Automaten und hatten keinen eigenen Willen mehr; alles war in ihnen ausgelöscht, außer einigen körperlichen Funktionen. Sie waren lebendige Tote und starben wie Fliegen im Frost. […] Sie waren gebrochen und verloren, nichts konnte sie retten - nicht einmal die Freiheit. ( FL 67) Die Muselmänner haben, wie bei Levi, jegliche Autonomie, jeden „Funken“ eingebüßt - in ihnen ‚bebt‘ es nicht mehr. Der Vergleich mit „Automaten“ macht sie zu objekthaften, vernunftlosen, nur noch existierenden Wesen. Damit entsprechen sie eigentlich dem Bild, das der Erzähler in der Eingangspassage auch von 509 gezeichnet hatte; doch es sind eben jene Muselmänner, von denen sich 509 deutlich distanziert (vgl. FL 67). Denn sie haben nicht mehr die Kraft, gegen die Entwürdigung anzukämpfen, die so zu einem tatsächlichen Würdeverlust wird. Die Muselmänner sind im Kontext des Würdediskurses problematische Figuren: Da sie sich gegen die Würdelosigkeit nicht einmal mehr innerlich auflehnen können, 171 werden sie weder vom Erzähler mit Empathie bedacht noch wird ihr Los explizit innerfiktional bedauert, angeklagt oder einer breiteren narrativen Darstellung würdig erachtet. 172 Vom außerfiktionalen Standpunkt betrachtet, sind es jedoch gerade diese innerfiktional nicht nur entwürdigten, 171 Vgl. dazu ein Gespräch zwischen den Häftlingen Bucher und Ruth. Bucher beschreibt die Möglichkeit, durch innere Auflehnung gegen die Entwürdigung der Würdelosigkeit zu entkommen: „Sie haben uns alle erniedrigt […]. […] Alle, die hier sind, alle, die in allen Lagern sind. Dich in deinem Geschlecht; uns alle in unserm Stolz; in unserm Menschsein. Sie haben darauf herumgetrampelt, sie haben es bespuckt, und sie haben uns so erniedrigt, dass man nicht weiß, wie wir es überstanden haben. […] 509 hat gesagt, dass es nicht wahr ist, wenn man es innerlich nicht anerkennt “ (FL 317; m. H.). 172 Vgl. etwa die lakonische Feststellung des Erzählers kurz vor der Befreiung des Lagers: „Rundum starben Muselmänner“ (FL 356). 328 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust sondern tatsächlich würdelosen Muselmänner, die die schärfste Anklage gegen die entwürdigende NS -Ideologie darstellen. Denn der Text selbst liefert eine naturrechtliche Definition von Menschenwürde, die den Wert des einzelnen Menschenlebens und die prinzipielle Gleichheit aller Menschen als selbstverständliches Postulat erscheinen lässt: „Ein Leben ist ein Leben. Auch das ärmste“ ( FL 337). 173 Bereits in einer früheren Passage, in der die Perspektive des Erzählers und jene der Häftlinge überblendet werden, werden die NS -Verbrechen mit religiösen Anklängen als Bruch des naturrechtlich begründeten Würdepostulats gegeißelt: „Ein Weltfrevel war verübt worden und fast geglückt; die Gebote der Menschlichkeit waren umgestoßen und fast zertrampelt worden; das Gesetz des Lebens war bespuckt, zerpeitscht und zerschossen worden“ ( FL 158). Die sich vage ankündigende Rettung wird überhöht zur Rettung des geschändeten Prinzips der Menschenwürde: „Sie spürten, dass es nicht nur Länder und Völker waren, die gerettet werden würden; es waren die Gebote des Lebens selbst. Es war das, wofür es viele Namen gab - und einer, der älteste und einfachste war: Gott. Und das hieß: Mensch“ ( FL 158). In Der Funke Leben ist die Menschenwürde somit nicht mehr, wie noch bei Seghers, eine eindeutig unzerstörbare Qualität. Auch wenn Remarque suggeriert, dass manche ihre Würde bis zum Äußersten zu behaupten versuchen, etwa indem sie in ihren letzten Augenblicken „noch einmal aufrecht wie Menschen da[]stehen“ wollen, und sei es in der ekelerregenden Latrine ( FL 116), 174 so ist doch die desillusionierende Feststellung des Häftlings 509 programmatisch: „Es ist eine verdammte Romanphrase, dass Geist nicht zu brechen sei. Ich habe gute Leute gekannt, die nichts mehr waren als heulende Tiere“ ( FL 129-130). Dieser von metafiktionaler Ironie gebrochene Kommentar enthüllt die grundlegende Spannung, die der ästhetischen Auseinandersetzung mit der Menschenwürde im Kontext der NS-Verbrechen eignet. Wenn ein literarisches Kunstwerk die Unantastbarkeit der Würde darstellen will, kollidiert dies eklatant mit der Realität ihrer Antastbarkeit in der außerliterarischen Wirklichkeit - und diese Antastbarkeit veranschaulichen die Texte ja auch. Der literarische Text illustriert also 173 Diese Passage ist keine Erzähler-, sondern Figurenrede des jüdischen Häftlings mit dem Spitznamen Ahasver. - Für eine Deutung des Romans mit Blick auf die Stichworte Naturrecht und Menschenwürde vgl. Heinrich Placke, Naturrecht und menschliche Würde. Anmerkungen zu den Sinnpotentialen des Romans Der Funke Leben von Erich Maria Remarque, in: „Reue ist undeutsch“. Erich Maria Remarques Der Funke Leben und das Konzentrationslager Buchenwald. Katalog zur Ausstellung, hg. v. T. F. Schneider u. T. Westphalen, Bramsche 1992, S. 28-40. Zu den „Muselmännern“ und der Automatenmetaphorik vgl. ebd., S. 33-34. 174 Auch der Erzähler insistiert an einer Stelle, die, wie bei Levi, anderen durchaus widerspricht, auf den Menschstatus der Häftlinge. Vgl. FL 166: „Die Häftlinge standen nackt da; jeder einzelne war ein Mensch; aber das hatten sie schon fast vergessen.“ VII.2. Textanalysen 329 gleichzeitig den Angriff auf die Menschenwürde und ihre Unantastbarkeit oder ihre Wiederherstellung - jeweils mit literarischen Mitteln. Die außerfiktionale Forderung nach einer für alle Menschen gültigen Menschenwürde, die alle vier analysierten ‚Lagerromane‘ eint, ist stets an ihre auch innerfiktional geschilderte Missachtung gekoppelt. Die schrittweise Wieder-Menschwerdung 175 jener, „die nicht kaputt sind“ ( FL 130), vollzieht der Roman erzählerisch nach, indem er in verschiedenen Episoden zeigt, wie sich 509 und seine Mithäftlinge sukzessive vier Bereiche des menschlichen, ja des menschenwürdigen Daseins neu erschließen. Das erste dieser Symptome ist die zunächst körperliche, individuelle Auflehnung gegen die Entwürdigung. Die innere Auflehnung, die sich etwa im nicht rational erklärbaren Wunsch, aufrecht zu stehen, äußert (vgl. FL 35), wird zu offenem, selbstbestimmtem Widerspruch, als 509 sich weigert, die zynischerweise von der Lagerleitung verlangte Freiwilligkeitserklärung für medizinische Experimente zu unterzeichnen. Genau in dem Moment, in dem er zu einem willenlosen Objekt gemacht werden soll, entdeckt 509 - in einem sprachlichen Akt der Verweigerung - seinen freien Willen wieder und wird für seine Mithäftlinge ein Symbol des möglichen Widerstands. 176 Als ultimativen Widerspruch gegen die Entwürdigung schildert Remarque die geradezu apokalyptische Szene, in der 509 in den Tumulten kurz vor der Lagerbefreiung auf den Sturmführer Weber schießt und ihn, selbst tödlich verletzt, beim Sterben beobachtet: 509 versuchte zu denken; er wollte noch einmal finden, worauf es ankam und was es war. Es sollte ihm mehr Kraft geben. Es hatte mit dem Einfachsten im Menschen zu tun, und ohne es würde die Welt zerstört werden […]. Durch es würde auch das andere vernichtet werden, das absolut Böse; der Antichrist; die Todsünde gegen den Geist. Worte, dachte er. Sie sagten nur wenig. Aber wozu noch Worte? Er musste ausharren. Es musste sterben vor ihm. Das war alles. ( FL 363) Die beschwörende Wiederholung des unbestimmten und mehrdeutigen Pronomens „es“ verleiht diesem „Duell“ und „Gottesurteil“ ( FL 363) etwas Mythisch- Archaisches. Den zum abstrahierten Bösen („Es“) verdinglichten Weber sterben zu sehen, bedeutet für 509 eine irrationale Selbstbehauptung, einen blutigen Triumph der Menschenwürde - auch diese meint das „es“ - über die Entwürdigung, die zugleich quasi-diabolische Züge erhält. Auch wenn 509 selbst stirbt, hat er doch wenigstens sein Menschsein, seine Würde gerettet. 177 175 Vgl. ähnlich Strümpel, Kammersymphonie des Todes, S. 58. 176 Vgl. FL 94-95 und 104-105. 177 Eine ähnliche Szene ist das Martyrium des Häftlings Lübbe, der vom Sadisten Breuer, für den Folter Zeitvertreib und Genussmittel zugleich ist, getötet wird. Lübbe ist in mancher Hinsicht eine mit 509 verwandte Figur, zum einen durch die ähnliche Metapher, mit der 330 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Neben dem Wunsch nach Auflehnung entwickeln die Figuren die Fähigkeit des zielgerichteten , über das Stillen elementarster Bedürfnisse und pure Instinkthaftigkeit hinausgehenden Handelns , werden im Sinne moderner Agency -Theorien also wieder zu Agenten. 178 So schmuggeln sie etwa Waffenteile innerhalb des Lagers und bauen ein Netz aus Widerständlern und Helfern auf, dem es gelingt, Häftlinge durch Listen zu verstecken. Handlungen, die auf Langfristigkeit ausgelegt sind, sind nur möglich, weil sich auch die kognitiven und emotionalen Dispositionen verändern. Als 509 die instinkthafte Fixierung auf das Hier und Jetzt überwindet und wieder ein Verhältnis zur Zeit, mithin einen Begriff von Zukunft hat, ist dies für ihn selbst der Beweis seiner Menschwerdung: Ich will das Brot nicht sofort herunterschlingen, wie früher, dachte er. Ich will es erst morgen essen. […] Ich bin noch nicht kaputt. Ich habe noch Willen. Wenn ich es mit dem Brot aushalte bis morgen - es war ihm, als tropfe schwarzer Regen in seinem Kopf -, dann - er ballte die Fäuste und starrte auf die brennende Kirche - da war es endlich -, dann bin ich kein Tier. Kein Muselmann. Nicht nur eine Fressmaschine. Ich habe dann, es ist - die Schwäche kam wieder, die Gier - […] - es ist - Widerstand - es ist so wie wieder ein Mensch werden - ein Anfang. - ( FL 78) Gerade hier ist der Wechsel von vermittelter Gedankenwiedergabe mit Inquit- Formeln und Erzählerrede zum inneren Monolog, der durch Aposiopesen, Ellipsen und durch Gedankenstriche markierte Pausen geprägt ist, sinnfällig; in der anstrengenden Anerkennung der linearen Zeitlichkeit, aber auch in der klaren Abgrenzung zu den entmenschten, vertierten Muselmännern, manifestiert, ja konstituiert sich ein Ich, das sich seines Menschseins vergewissert. Verschüttete, zutiefst menschliche Emotionen stellen sich wieder ein: Angst, Hass, Empathie. 179 Auch die Hoffnung, die durch die Bombardements und die näher kommende Front geschürt wird, ist nur sinnhaft denk- und erfahrbar, wenn sie an das Konzept der Zukunft gekoppelt ist. Das leitmotivische ‚Prinzip Hoffnung‘ erinnert die Häftlinge an ihr Menschsein. 180 der Erzähler ihn beschreibt (Lübbe ist ein „Gespenst“ [FL 340], 509 ein „Skelett“ [FL 11]), zum anderen durch die Auflehnung, mit der er seinem Peiniger in seiner letzten Stunde entgegentritt. Denn er schafft es, angesichts der brutalen Gewalt Breuers, die nicht nur physisch, sondern auch sprachlich ist - er versucht, den bevorstehenden Mord durch Spott und sprachliche Erniedrigung zu zelebrieren und seine eigene Macht auch sprachlich zu untermauern -, eine ebenfalls sprachliche Gegenwehr aufzubringen. Wie 509 verliert Lübbe zwar letztlich sein Leben, behauptet aber seine Würde. 178 Vgl. z. B. Stephanie Bethmann [u. a.] (Hgg.), Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit, Weinheim / Basel 2012 (hier bes. die Einleitung von Cornelia Helfferich, ebd., S. 9-39). 179 Vgl. etwa FL 194, 210 und 286. 180 Vgl. etwa FL 21, 28, 69, 114, 132, 145 und 207. VII.2. Textanalysen 331 Schließlich hat die Rückeroberung der Menschenwürde ein dezidiert soziales und interaktives Moment . Der höfliche Abschiedsgruß eines Häftlings etwa ruft den anderen ein menschliches Kommunikationsverhalten in Erinnerung, das nicht von sprachlicher Gewalt und rhetorischer Herabwürdigung, sondern von Respekt und Anerkennung des Gegenübers geprägt ist (vgl. FL 221 und 237). Als ein alliiertes Flugzeug über das Lager fliegt und ein Signal zu schicken scheint, ist die Tatsache, dass sie von anderen Menschen als Menschen wahrgenommen werden, für die Häftlinge ein Zeichen der Anerkennung und Bestätigung ihrer Menschlichkeit (vgl. FL 347). Würde ist somit auch das Produkt der Achtung durch Andere. Insofern werden Akte der Solidarität unter Häftlingen zu Handlungen, durch die sie sich gegenseitig ihrer Würde versichern: „Wenn die uns nichts angehen“, heißt es an einer Stelle, „dann gehen auch wir niemand was an“ ( FL 179). Höhepunkt dieser Metamorphose vom entwürdigten Fast-nicht-mehr-Menschen zum Wieder-Menschen ist - zumindest in Bezug auf die Hauptfigur des Romans, den Häftling 509 - eine kurze Szene, die Remarque als Epiphanie inszeniert, effektvoll platziert am Ende eines Kapitels. In einem stillen Moment erinnert sich 509 an den nunmehr zehn Jahre zurückliegenden Anfang seiner Zeit im Lager. Der lange abgewehrte Vorgang des Erinnerns indiziert eine Veränderung seiner mentalen Verfassung: Er hatte alle Erinnerungen in sich verbannt; auch an die Zeit vor dem Lager. Sogar seinen Namen hatte er nicht mehr hören wollen. Er war kein Mensch mehr gewesen, und er hatte es nicht mehr sein wollen; es hätte ihn zerbrochen. Er war eine Nummer geworden und hatte sich nur noch als Nummer genannt und nennen lassen. […] Neben der Tür hockte jemand. „509! “, flüsterte er. Es war Rosen. 509 schrak auf, als erwache er aus einem endlosen, schweren Traum. Er blickte hinunter. „Ich heiße Koller“, sagte er abwesend. „Friedrich Koller.“ „Ja? “, erwiderte Rosen verständnislos. ( FL 214) Indem er der Nummer, die die Herabwürdigung durch die Gefangenschaft im Konzentrationslager sprachlich und begrifflich ein- und festschreibt, seinen Namen gegenüberstellt, reklamiert Koller durch einen Sprechakt für sich das, was das KZ -System zerstört: Identität, Personalität, Autonomie, Würde. Seltsamerweise unterlässt es Remarque aber nun, diesen Sprechakt auch auf der Ebene des Erzählens zu wiederholen und die sprachliche Selbstbehauptung seiner Figur in der sprachlichen Repräsentation durch den Erzähler zu potenzieren; Koller wird vom Erzähler auch weiterhin als „509“ bezeichnet. 181 Dabei 181 An dieser Passage offenbart sich ein weiteres Problem: Unterstellt man dem Text einen bewusst gestalteten Würdediskurs - und das ist angesichts des bisher Gesagten berech- 332 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust thematisiert der Text vorher explizit den Zusammenhang zwischen Namen und dem Ringen um Menschenwürde. Kollers Baracke besteht aus Brettern, die aus einem aufgelösten polnischen Lager stammen. Auf diesen Brettern befinden sich „[v]erblasste Inschriften und Namen“ ( FL 33) von Todgeweihten, die „nicht ohne ein Zeichen untergehen“ wollten (FL 34), die sich also durch das Einschreiben ihres Namens gegen die vollkommene Auslöschung ihrer Identität wehrten. Dass das beschwörende, geradezu sprachmagische Potential der Namensperpetuierung wirksam werden kann, liegt weniger an den Häftlingen der Baracke als am Erzähler, der von seinem über die Figurenperspektive hinausgehenden allwissenden Standpunkt die Namen nicht nur nennt, sondern die Geschichte der Menschen, die sich hinter den Namen verbergen, rekonstruiert. 182 Implizit wird so der Vorgang des Erinnerns - des Erinnerns durch Erzählen! - als Weg konturiert, den Opfern zumindest nachträglich ihre Würde zurückzugeben. Nun könnte der Eindruck entstehen, Der Funke Leben sei ein grundsätzlich optimistischer Text, der anhand bewundernswerter Beispiele zeigt, dass der Mensch extremen Erniedrigungen trotzen und sich seine Würde bewahren, ja regelrecht wieder erkämpfen kann. Doch solch eine einseitige Lektüre verstellt den Blick für den hintergründigen Horror der Romanhandlung, der sich in der Darstellung von Leid und Tod und nicht zuletzt im Ton des Erzählers offenbart. Die in vielen der in dieser Studie untersuchten Texte beobachteten Tiervergleiche und -metaphern sind auch in Der Funke Leben nahezu allgegenwärtig. Sie haben eine doppelte Funktion: Zum einen offenbaren sie als Zuschreibungen, die Nationalsozialisten in den Mund gelegt werden, deren Weltsicht, die vermeintliche Volksfeinde entmenschlicht, diese Entmenschlichung durch Sprechakte vorbereitet und im kollektiven Bewusstsein verankert. 183 Zum anderen dient die Tiermetaphorik dem Erzähler als ästhetisches Mittel, die von tigt -, kommt man nicht umhin, einige auffällige erzählerische Inkonsequenzen zu bemerken. In Überblendung der Erzählerperspektive und jener der Figur 509 heißt es hier, dass dieser „kein Mensch mehr gewesen“ sei. Doch eben diesen endgültigen Abfall vom Menschsein, der im Roman - übrigens auch aus der Perspektive des 509 - den Muselmännern unterstellt wird, leugnet 509 an anderer Stelle mit großer Vehemenz. Auch der Erzähler ist bisweilen inkonsequent in seinen Aussagen. Anders als bei Levi sind diese Widersprüche jedoch nicht Teil einer übergeordneten ästhetischen Strategie, sondern wohl eine Schwäche in der Komposition. 182 Zur Interpretation dieser Passage vgl. auch Placke, Naturrecht und menschliche Würde, S. 31-32. 183 Vgl. die Charakterisierung des SS-Scharführers Schulte durch den Erzähler: „Die Insassen des Lagers waren Feinde der Partei und des Staates und standen deshalb außerhalb der Begriffe von Mitleid oder Menschlichkeit . Sie waren geringer als Tiere . Wenn sie getötet wurden, so war das, als töte man schädliche Insekten . Schulte hatte ein völlig ruhiges Gewissen“ (FL 199; m. H.). VII.2. Textanalysen 333 den KZ -Häftlingen erfahrene Missachtung ihrer Menschenwürde bildhaft zu illustrieren. 184 Doch Remarques Roman verweist nicht nur metaphorisch auf Menschenwürdeverletzungen. Auch wenn der Text nicht an die schonungslose, schmerzhafte Drastik der Gewaltdarstellung bei Peter Weiss heranreicht, 185 beschreibt er Brutalität, Leiden und Tod explizit und mit grausigen Details. So streut Remarque einige besonders grausame Foltermethoden, wie die „Einspritzung mit hochprozentiger Salzsäure“ in das Geschlechtsteil eines Häftlings ( FL 13) oder Benzininjektionen ( FL 184), in die Erzählung ein, schildert eingehend und unter besonderer Betonung der zerstörten körperlichen Integrität die Verletzungen und Verstümmelungen einiger Häftlinge nach einem Bombenangriff ( FL 51-54) und die sadistischen Morde an entkräfteten Neuankömmlingen, die für die SS - Männer zu einem entwürdigenden Spiel werden, dessen Sieger - jener mit den meisten Tötungen - mit seiner Leistung prahlt ( FL 161-164). Mitunter schockt er den Leser mit ekelerregenden Details, etwa den „fett[en] und süßlich[en]“ Rauchschwaden des Krematoriums, die „zum Erbrechen [reizten]“ ( FL 12), der wie in Nahaufnahme geschilderten Untersuchung der Zähne von aufgehängten Leichen ( FL 203) oder der Beschreibung der „Gewebe und Säfte“, die nach dem Tod noch „arbeiteten“ und so einen Leichenhaufen „ächz[en]“ lassen ( FL 260). Durch die Nennung von Körperteilen, Körperflüssigkeiten sowie visuellen, auditiven, olfaktorischen und haptischen Details zielen diese geradezu naturalistischen Szenen auf den imaginativen Nachvollzug durch die Vorstellungskraft des Rezipienten; sie erinnern daran, in welchem Kontext die romanhaft-optimistische Handlung der Wieder-Menschwerdung angesiedelt ist. Von entscheidender Bedeutung sind schließlich der Ton und die Haltung des Erzählers. Dieser versteht es, wie beiläufig (und auch abgesehen von den beschriebenen expliziten Szenen) eine bedrückende Stimmung zu erzeugen. Mal beschreibt er scheinbar unbeteiligt und mit einem kühlen, neutralen Beobachterblick, wie Gefolterte bewusstlos und mit ausgerenkten Armen an Holzpfählen hängen ( FL 11), mal werden lapidar die Toten eines Gefangenentransports aufgezählt ( FL 165). 186 Diese lakonische Abfertigung des Grauens in meist kurzen, parataktischen Sätzen und in einer einfachen, präzisen und bildarmen Sprache steigert der Erzähler noch, etwa durch das groteske Nebeneinanderstellen von Banalem und Grausigem. Als der Rauch des Krematoriums an einem Tag weniger stark ist als üblich, heißt es: „Entweder verbrannte man gerade Kinder, oder 184 Vgl. dazu auch Strümpel, Kammersymphonie des Todes, S. 59. 185 Zu Weiss vgl. unten, Kap. B.VII.2.2 und B.VII.2.3. 186 Vgl. auch FL 310: „Neben ihnen [i. e. den Häftlingen 509 und Werner; MG] röchelte sich ein Mann mit schmutzigen weißen Haaren an einer Lungenentzündung zu Tode.“ 334 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust es war befohlen worden, mit der Arbeit aufzuhören“ ( FL 21). 187 Sogar Ironie und Sarkasmus mischen sich in die Erzählerrede. 188 Dieser spezielle Erzählton hat eine komplexe Funktion: Er entspricht zum einen der Geisteshaltung mancher Häftlinge, die, so zeigt Remarque, gelernt haben, „sachlich zu denken“, um überleben zu können ( FL 65). Zum anderen entlarvt er das Menschenverachtende der NS-Ideologie, die den Wert des einzelnen Menschenlebens negiert. Menschenverachtung und grotesker Zynismus sprechen übrigens auch aus der Figurenrede, die den SS -Männern und der Lagerleitung zugeschrieben wird, sei es in direkter oder in erlebter Rede. 189 Vor allem aber vermittelt der Erzähler, indem er provokativ und betont neutral, lapidar, lakonisch und sarkastisch vom Sterben und Leiden der Häftlinge erzählt, als handle es sich um würdelose Wesen, die weder Empathie noch besonders genaues Hinsehen verdienen, den beklemmenden Eindruck einer alltäglichen Ubiquität des Sterbens und der Erniedrigung - und provoziert so Empörung und Widerspruch des Rezipienten. Remarques Roman inszeniert somit die inner fiktionale Restituierung der Menschenwürde der entwürdigten Häftlinge, die außer fiktional ein Bewusstsein für die Bedingungen von Würde schafft. Durch den Kontext des Wiederaufstiegs zur Würde erscheint dieser als absolute Ausnahmeerscheinung, als besonderer Fall, als glückliche, aber keineswegs repräsentative und möglicherweise gerade dadurch problematische Romanhandlung. 187 Vgl. auch eine ähnliche Stelle, an der die Tatsache, dass Asche aus den Krematorien von Zwangsarbeitern bei der Bewirtschaftung des Gartens des Obersturmbannführers Neubauer benutzt wird, und dessen kulinarische Vorlieben in hartem, ja groteskem Kontrast nebeneinander stehen: „Sie arbeiteten in den Beeten für Spargel und Erdbeeren, für die Neubauer eine besondere Vorliebe hatte. Er konnte nicht genug davon essen. Der Papiersack enthielt die Asche von sechzig Personen, darunter zwölf Kindern“ (FL 49). 188 Vgl. die Erzählerkommentare zu SS-Männern, die bis zu ihrem Fronteinsatz „nur wehrlose Gefangene heroisch gefoltert und ermordet hatten“ (FL 15), zu den KZs in Deutschland, die „während der Kriegsjahre eher human geworden“ waren (FL 18), oder zu den Exekutionspraktiken der Nationalsozialisten: „Man wollte nicht nur töten, man wollte langsam und sehr schmerzhaft töten. Eine der ersten Kulturleistungen der neuen Regierung war gewesen, die Guillotine abzuschaffen und statt ihrer das Handbeil wieder einzuführen“ (FL 205; jeweils m. H.). 189 Vgl. etwa FL 56-57, 80, 97, 170, 245. VII.2. Textanalysen 335 VII.2.1.4. Die Menschenwürde und die Macht der Sprache: Herta Müllers Atemschaukel (2009) Herta Müllers Roman Atemschaukel 190 beschreibt kein nationalsozialistisches KZ , sondern ein sowjetisches Arbeitslager, in dem der Ich-Erzähler Leo Auberg, ein Rumäniendeutscher aus Siebenbürgen, fünf Jahre interniert ist. 191 Den Roman in einer Reihe mit den Texten Levis und Remarques zu betrachten ist allein schon aufgrund etlicher motivischer Parallelen - die Erniedrigung und Degradierung der Häftlinge, ihre unmenschliche Ausbeutung, alltägliche Gewalt, unvorstellbarer Hunger, der ‚würdelose‘ Tod - sinnvoll. Vor allem aber ist auch in Müllers Roman die Menschenwürde das zentrale Thema. Atemschaukel radikalisiert dabei ein Motiv, das in den anderen Lagerromanen anklingt, nun aber von fundamentaler Bedeutung für den Würdediskurs ist: die Sprache. 192 In ihrer nur wenige Monate nach Erscheinen des Romans gehaltenen Nobelpreisrede legt Müller selbst eine Deutung mit Blick auf die Menschenwürde nahe. Ausgangspunkt der autobiographisch geprägten Rede ist die tägliche Frage ihrer Mutter: „ HAST DU EIN TASCHENTUCH “. 193 Selbstinterpretatorisch verweist sie auf die Bedeutung des Taschentuchs in ihrem Roman: Dem hausierenden Erzähler wird von einer russischen Frau, deren gleichaltriger Sohn in einem sibirischen Strafbataillon ist, in einem Moment der instinktiven Empathie ein „schneeweißes Taschentuch“ ( AS 77) geschenkt. Dieses Taschentuch, in seiner Feinheit, ja Schönheit ein im Lageralltag vollkommen deplatzierter Gegenstand, ist für den Erzähler innerfiktional eine Erinnerung an die Welt jenseits der alltäglichen Ausnahmesituation. Indem der Erzähler das Taschentuch vermenschlicht ( AS 80), wird es zudem zu einem Mittel, sich des eigenen 190 Herta Müller, Atemschaukel. Roman, Frankfurt / M. 3 2013 [urspr. 2009]. - Im Folgenden wird stets diese Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (AS Seitenangabe) belegt. 191 Der Roman basiert auf den Erinnerungen Oskar Pastiors. Müller und ihr Schriftstellerkollege wollten den Roman ursprünglich gemeinsam verfassen; Pastiors Tod im Jahr 2006 verhinderte dies. Vgl. dazu Müllers Nachwort in der zitierten Ausgabe (AS 299-300). 192 Zur Sprache des Romans vgl. Cilliers van den Berg, Das Performative der Sprache und historisches Trauma. Atemschaukel von Herta Müller, in: Acta Germanica 39 (2011), S. 131-144; Emmanuelle Prak-Derrington, Sprachmagie und Sprachgrenzen. Zu Wort- und Satzwiederholungen in Herta Müllers Atemschaukel , in: Dichtung und Diktatur. Die Schriftstellerin Herta Müller, hg. v. H. Mahrdt u. S. Lægreid, Würzburg 2013, S. 133-147; Christian Bergmann, Das Unsagbare sagen. Metapher, Symbol und Allegorie in Herta Müllers „Atemschaukel“, in: Muttersprache 121.3 (2011), S. 220-226; Siguan, Schreiben an den Grenzen der Sprache, S. 249-256 und 276-285. Allgemeiner zu Müllers Poetik vgl. Sissel Lægreid, Sprachaugen und Wortdinge - Herta Müllers Poetik der Entgrenzung, in: Dichtung und Diktatur (wie oben), S. 55-79. 193 Herta Müller, Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, in: Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, München 2011, S. 7-21, hier S. 7. 336 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Menschseins zu vergewissern. Außerfiktional ist das weiße Taschentuch ein Symbol für die unschuldige, absichtslose Menschlichkeit, die selbst inmitten der größten Unmenschlichkeit überlebt. Als Symbol der Würde beschreibt Müller das Taschentuch auch in ihrer Rede - hier konvergieren persönliches Erleben und literarisches Motiv. 194 Die Frage nach dem Taschentuch verweist noch auf eine andere Dimension der Menschenwürde. Als „indirekte Zärtlichkeit“ 195 ist sie, pragmatisch betrachtet, ein sprachlicher Akt der Nächstenliebe, der den Adressaten zu einem Wesen deklariert, das solcher Liebe und Aufmerksamkeit wert ist. In Atemschaukel ist es ein Satz der Großmutter, der für Leo Auberg eine ähnliche Bedeutung hat. Bei seiner Verhaftung sagt sie: „ ICH WEISS DU KOMMST WIEDER “. Dieser Satz, „der einen am Leben hält“ ( AS 14), ist für den Erzähler ein psychologischer Anker während seiner Lagerzeit. In der außerfiktionalen Betrachtung illustriert er exemplarisch die kommunikative Dimension der Menschenwürde: Ein „ ICH “ tritt in eine sprachliche und durch diese in eine emotionale und soziale Beziehung zu einem „ DU “. Diese Anerkennung des „ DU “ nicht nur als Kommunikationspartner, sondern als Mitmensch, um den es sich zu sorgen, an den es zu denken lohnt, garantiert dessen Würde. Die Gewissheit des „ ICH “ („ ICH WEISS “) räumt Zweifel an der Menschenwürde des „ DU “ aus. 196 Genau deshalb trifft Auberg die Postkarte seiner Mutter so sehr, in der sie nur den vor kurzem geborenen Bruder, mit keinem Wort aber Auberg erwähnt. Sein Verschwinden aus ihrer Sprache, seine Nichterwähnung in der Kommunikation via Postkarte suggeriert ihm, dass er nicht mehr existiert, ja dass seine Existenz nicht mehr wirklich erwünscht ist (vgl. AS 211-213). Doch das Potential der Sprache beschränkt sich nicht auf diese kommunikative Dimension. Vielmehr wird der individuelle, produktive Umgang mit Sprache zu einem Vehikel der Selbstbehauptung. Dem euphemisierenden Missbrauch von Sprache, der aus „Zwangsarbeit“ das verschleiernde „ WIEDERAUFBAU “ macht ( AS 183), setzt der Erzähler seine eigene, bewusst reflektierte Sprachmächtigkeit als Bewältigungsstrategie entgegen. Um die tägliche Zwangsarbeit mit giftigen Chemikalien zu ertragen, beschließt er, die Gerüche der Fabrik zu meinen Gunsten umzudeuten . Ich habe mir Duftstraßen eingeredet und angewöhnt, für jeden Weg auf dem Gelände eine Verführung zu erfin- 194 Müller, Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, S. 20: „Wenn uns der Mund verboten wird, suchen wir uns durch Gesten, sogar durch Gegenstände zu behaupten. Sie sind schwerer zu deuten, bleiben eine Zeitlang unverdächtig. So können sie uns helfen, die Erniedrigung in eine Würde umzukrempeln, die eine Zeitlang unverdächtig bleibt.“ 195 Ebd., S. 7. 196 Vgl. dazu ganz ähnlich Prak-Derrington, Sprachmagie und Sprachgrenzen, S. 144. VII.2. Textanalysen 337 den […]. Es ist mir gelungen, angenehm süchtig zu werden, weil ich den Substanzen nicht erlauben wollte, giftig über mich zu verfügen. ( AS 184; m. H.) Das Bilden von „Fluchtwörtern“, wie auch von „Hunger- und Esswörtern“, ist eine bewusste, kreativ-imaginative sprachliche Handlung des erlebenden (! ) Ichs; die „Wörter [waren] für [ihn] selbst substantiell notwendig“ ( AS 184). Tatsächlich schildert Atemschaukel drei sprachliche Strategien, die dem Erzähler nicht nur erlauben, das alltägliche Leiden im Lager durchzustehen, 197 sondern letztlich seine Würde zu behaupten. Zum einen hat Sprache eine Kompensationsfunktion , nicht nur in Form erinnerter Lieder, die eine Verbindung zur Normalität außerhalb des Lagers aufrechterhalten (vgl. etwa AS 19 und 78-79), sondern auch als Ersatzhandlung, um die schmerzhafte Realität imaginativ zu transzendieren. Um dem unbändigen Hunger wenigstens ansatzweise zu trotzen, sprechen die Häftlinge über das Essen, zelebrieren die minutiöse Diskussion bestimmter Rezepte (vgl. AS 115-116). Das Erzählen vom Essen in Verbindung mit Erinnerungen an das frühere Leben ist eine bewusste Flucht, genau wie das Festhalten an „Hungerwörter[n]“, die „das Bild des Essens vor Augen und den Geschmack am Gaumen“ evozieren sollen ( AS 157). Sprache erhält hier eine haptische, ja eine gustatorische Qualität, soll mithin Realität transformieren oder schaffen - obwohl der Erzähler genau weiß, dass es sich nur um eine Illusion handelt (vgl. AS 157). Der Erzähler benutzt die Sprache zum anderen auf eine weniger pragmatische als vielmehr artistische Art: zur Ästhetisierung des Lageralltags . Bereits im innerfiktionalen Erleben - und nicht erst im Erzählen - macht er die Zwangsarbeit zu etwas, das in den Kategorien des Schönen und der Kunst wahrgenommen und beschrieben werden kann. Indem er „jede Schicht“ zu einem „Kunstwerk“ deklariert, täuscht er sich selbst vor, seine Fron sei „[g]emütlich“ ( AS 169). Auf ganz ähnliche Weise entwickelt Auberg eine ‚Ästhetik des Kohleabladens‘: Mit großer Akribie wird der Vorgang im Präsens und der Du-Form geschildert, mitsamt aller Bewegungen, Muskelaktivitäten und Körperwahrnehmungen. Durch bildhafte Formulierungen, Vergleiche und eigentlich vollkommen unpassende Adjektive wie „schön“ und „graziös“ ( AS 83-84) 198 wird die Zwangsarbeit in einem bewussten Akt der angestrengten sprachlich-rhetorischen Transforma- 197 Vgl. dazu Prak-Derringtons Einschätzung dessen, „was Sprache bedeuten kann: Sprache nicht als Instrument einer hic-et-nunc Kommunikation, Sprache nicht als Darstellung der Wirklichkeit, sondern als Schutz und Halt in einer haltlosen Welt. Sprache als letzte Rettung“ (ebd., S. 141). 198 Vgl. etwa bildhafte Formulierungen wie: „In einem wiegenden Schwungrhythmus spielen alle Muskeln mit“ sowie Vergleiche wie: „mit leicht angehobener Ferse wie beim Tanzen“, „schön wie ein Tango“ und „wie ein Vogelschwarm“. 338 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust tion ihrer erniedrigenden Qualität beraubt und mutiert zu einem leichtfüßigen, kunstvollen Tanz. 199 Eng hiermit verknüpft ist zum dritten die Bildung von unkonventionellen, kühnen und ausdrucksstarken Metaphern , die die Entwürdigungen des Lageralltags versprachlichen, verbildlichen und letztlich ebenfalls ästhetisieren. „Herzschaufel“, „Atemschaukel“ und „Hungerengel“ sind eindringliche Metaphern, neologistische Komposita, die die qualvoll-erniedrigende Erfahrung - das Kohleschaufeln unter Zwang, das bedrückende Gefühl, vor Angst oder Schmerz keine Luft zu bekommen, und der peinigende, ständige Hunger - mit einem positiv konnotierten Bild verbinden. Doch neben der ästhetisierenden haben diese Metaphern noch eine andere, dem Wesen der Metapher möglicherweise widerstrebende Funktion: Sie externalisieren, objektivieren und konkretisieren die Erniedrigung und erlauben es dem Erzähler, sich zu ihr zu positionieren. So wird etwa der anthropomorphisierte Hungerengel zum Urheber der Entwürdigung, 200 ja zu einer als Person konzeptualisierten handelnden Entität, mit der sich Auberg sogar unterhält: Der Hungerengel schaut auf seine Waage und sagt: Du bist mir immer noch nicht leicht genug, wieso lässt du nicht locker. Ich sage: Du betrügst mich mit meinem Fleisch. Es ist dir verfallen. Aber ich bin nicht mein Fleisch. Ich bin etwas anderes und lasse nicht locker. Von Wer bin ich kann nicht mehr die Rede sein, aber ich sag dir nicht, was ich bin. Was ich bin, betrügt deine Waage. ( AS 87) Dass sich der Erzähler hier von seiner reinen Kreatürlichkeit lossagt, ist von höchster Relevanz: Er erklärt sich zum vor allen Dingen sprachbegabten Menschen. Die Versprachlichung der Lagerrealität durch kreative Sprachkraft, Metaphorisierungen und Ästhetisierungen macht sein Leid zwar nicht weniger groß, macht das Ertragen vielleicht auch nicht unbedingt leichter, ermöglicht es Auberg aber, seine Würde zu bewahren. Im selbstbestimmten, ästhetischen Umgang mit Sprache erfährt und behauptet er sich als Person, als Mensch. 201 199 An vielen Stellen könnte man auch von einer ‚Ästhetik des Hungers‘ sprechen. Neben der kühnen Metapher des „Hungerengels“ (vgl. dazu die weiteren Ausführungen) ist hier jene Stelle zu nennen, an der Auberg mit den Wortschöpfungen „Augenhunger“ und „Gaumenhunger“ beschreibt, wie er versucht, seinen Hunger zu überlisten und das „gelbe Feuer“ der Kochstellen anderer Häftlinge bzw. den Rauch zu ‚essen‘ (vgl. AS 31). 200 Vgl. AS 158: „Er [i. e. der Hungerengel; MG] besorgte jedem seine eigene, persönliche Qual, obwohl wir uns alle glichen.“ Vgl. auch AS 87-88 sowie Bergmann, Das Unsagbare sagen, S. 223 und Lægreid, Sprachaugen und Wortdinge, S. 76-78. 201 Vgl. ähnlich Bettina Bannasch, Das aufgesperrte Maul der Null. Der Lagerdiskurs in Herta Müllers Atemschaukel im Spannungsfeld von Literaturtheorie und politischer Philosophie, in: Herta Müller und das Glitzern im Satz. Eine Annäherung an Gegen- VII.2. Textanalysen 339 Am Ende von Atemschaukel schreibt Auberg seine Erinnerungen auf. Es ist nun entscheidend, zwischen den Textebenen zu unterscheiden: 202 Der Roman suggeriert, dass die Macht der Sprache nicht erst im Erzählen wirksam wird, sondern bereits auf der Ebene des Erlebens. Die konkrete Situation des Lagers ästhetisiert und metaphorisiert Auberg, 203 und er nutzt die Beschäftigung mit der Sprache, um sich innerlich zu wehren. Atemschaukel setzt also nicht so sehr auf eine außerfiktionale Restitution von Menschenwürde im Prozess der Rezeption von Literatur: Nicht die Ästhetisierung von Würde und Entwürdigung steht im Vordergrund, sondern der innerfiktionale Akt der Ästhetisierung des Grauens, der die Menschenwürde rettet. Dies unterstreicht außerfiktional das utopische, würdebewahrende und -herstellende Potential nicht nur der Literatur, sondern der Sprache im Allgemeinen. VII.2.2. Exekutionsszenen und ihre ästhetischen Implikationen: Alfred Neumann und Peter Weiss In Levis Ist das ein Mensch? schildert der Erzähler die öffentliche Exekution eines Häftlings, der offenbar an einem Anschlag auf ein Krematorium beteiligt war. Bemerkenswert ist seine in ihrer Ambiguität für den Text typische Deutung des Vorgangs. Einerseits nämlich erscheint die Hinrichtung durch den Galgen keineswegs als Entmenschlichung: „[V]ielleicht werden die Deutschen nicht begreifen, daß ihm der einsame Tod, der Tod als Mensch , der ihm vorbehalten wurde, Ruhm und nicht Schande einbringen wird“ (IM 142; m. H.). Einen ehren-, mithin würdevollen Tod attestiert der Erzähler dem Exekutierten, weil er sich, wie seine Komplizen, trotz aller äußeren Bedrängnis und der totalen Herabwürdigung zu „schwache[n] Sklaven“ ( IM 142) einen Raum für eine freie Entscheidung und eine selbstbestimmte Handlung - den Anschlag - erkämpfen konnte. Diese Sonderstellung wird auch sprachlich markiert: Gegenüber den synekdochisch und unbestimmt bezeichneten KZ -Aufsehern und den sprachwartsliteratur, hg. v. J. C. Deeg u. M. Wernli, Würzburg 2016, S. 297-318, hier S. 302. - Van den Berg deutet die „abstrusen Metaphern“ hingegen sprachkritischer; „mitten im Versuch […] das Unsagbare darzustellen“, lenkten sie den Blick auf „die ‚Mangelhaftigkeit‘ und Problematik des gängigen kommunikativen Ausdrucks“ (Das Performative der Sprache, S. 139). 202 Vgl. dazu auch ebd., S. 137. 203 Die Sprache des Romans wurde bisweilen als irritierend und der Lagererfahrung unangemessen wahrgenommen. Vgl. dazu Eva Kormann, Wie viel Sprachkunst verträgt die Darstellung des Schreckens? Überlegungen zu Herta Müllers Atemschaukel , in: Herta Müller und das Glitzern im Satz (wie Anm. 201), S. 279-296 (mit Verweis auf einen Verriss des Romans von Iris Radisch in DIE ZEIT). 340 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust lich nur als Kollektiv auftretenden Häftlingen 204 tritt „[d]ieser Mensch“ hörbar mit einem Schrei und als Ich in Erscheinung: „Kameraden, ich bin der letzte! “ (IM 142). Dieser selbstbewusste Akt der Selbstbehauptung ist eine eindrucksvolle Demonstration der eigenen Würde angesichts der drohenden Vernichtung - andererseits aber ist es eben die Vernichtung eines würdevollen Menschen, die für die übrigen Häftlinge zu einem Fanal der Entmenschlichung und der Entwürdigung wird. Allerdings ist weniger das Beobachten der Hinrichtung selbst schockierend - es ist die vierzehnte, der der Erzähler beiwohnen muss (vgl. IM 141) -, und dementsprechend ist auch die narrative Präsentation der Exekution eher zurückhaltend; es bleibt bei wenigen, freilich eindrücklichen Details des Todeskampfes. 205 Vielmehr deutet der Erzähler die Exekution als die endgültige Vernichtung der Menschenwürde schlechthin: [I]hr Werk [i. e. der SS ; MG ] ist vollbracht, es ist gut vollbracht. […] [E]s gibt keine starken Menschen mehr unter uns, der letzte hängt über unsern Köpfen […]. Den Menschen zu vernichten ist fast ebenso schwer wie ihn zu schaffen: Es war nicht leicht, es ging auch nicht schnell, aber ihr Deutschen habt das fertiggebracht. ( IM 142-143) Die Ambiguität der Szene lenkt den Blick auf die Implikationen einer Darstellung von Gewalt im Allgemeinen und Exekutionsszenen im Speziellen für die Vorstellung der Menschenwürde und ihre Ästhetisierung. Im Folgenden stehen zwei sehr unterschiedliche Literarisierungen von Exekutionen im Fokus: Szenen aus Alfred Neumanns Es waren ihrer sechs und aus Peter Weissʼ Die Ästhetik des Widerstands . * Alfred Neumanns im amerikanischen Exil geschriebener Roman Es waren ihrer sechs (1944) fiktionalisiert recht frei die Geschichte der studentischen Widerstandsgruppe Weiße Rose. 206 Der Text rekonstruiert mit Hilfe von ausführlichen 204 Vgl. „eine rauhe [sic] deutsche Stimme“ und „eine andere deutsche Stimme“ (IM 141) bzw. „die Deutschen“, „des Deutschen“ und „die SS-Leute“ (IM 142) auf der einen sowie die immer wieder benutzten Pronomina „wir“ und „uns“ sowie Formulierungen wie „die Formation“, „alle Kommandos“ (IM 141), „uns Gebändigte“ und „uns Erloschene“ (IM 142) auf der anderen Seite. 205 Vgl. IM 142: „Die Fallgrube öffnete sich, jener Körper zuckte furchtbar; die Kapelle setzte wieder ein, und wir, von neuem zur Marschkolonne geordnet, zogen am letzten Beben des Sterbenden vorbei.“ 206 Alfred Neumann, Es waren ihrer sechs. Roman, Stockholm o. J. [1949] [urspr. 1944]. Im Folgenden wird stets diese Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (N Seitenangabe) belegt. - Zu Neumanns Biographie und Werk vgl. Guy Stern, Alfred Neumann, in: Literatur im Exil. Gesammelte Aufsätze 1959-1989, Ismaning 1989, S. 249-281 und Doris Brett, Neumanns Romane: Exil als Wendepunkt, Diss. University of Cincinnati 1975. - Zur Weißen Rose und ihren Flugblättern vgl. oben, Kap. B.VII.1.5. (mit Literaturangaben). VII.2. Textanalysen 341 Analepsen, Vernehmungen und Dialogen die Lebenswege, Motive und Weltbilder der nunmehr festgenommenen Widerstandskämpfer Hans und Sophia Möller, Karl und Dora von Hennings sowie Alexander Welte und Christoph Sauer, spart aber auffälligerweise die Vollstreckung des Todesurteils durch die Guillotine aus. Exekutionsszenen gibt es bei Neumann also nicht - der Roman endet mit dem Weg zum Schafott bzw. dem Suizid Christophs - und genau diese Feststellung ist für die Interpretation entscheidend. Eine explizite, vielleicht sogar grausame, naturalistische Schilderung der Exekutionen wäre literaturgeschichtlich keineswegs ein Tabubruch oder ein Novum gewesen - man denke etwa an die Ästhetisierung brutaler Gewalt bei Kleist, in Heyms Der Irre oder in expressionistischen Kriegsgedichten. Zudem ist es durchaus denkbar, dass gerade eine drastische Beschreibung der Hinrichtungen zu einer umso schärferen Anklage gegen das Unrechtsregime der Nationalsozialisten hätte werden können. Die Weigerung, die Hinrichtungen mit ihren blutigen Details erzählerisch auszubreiten, ist demnach eine bewusste ästhetische Strategie, die - ganz ähnlich wie in Gottscheds Sterbender Cato - über bloße Bedenken hinsichtlich des aptum hinausgeht. Worauf es Neumann ankommt, ist die erzählerische Inszenierung und Wahrung eines bestimmten Menschenbildes. Es waren ihrer sechs pointiert die Hauptthemen des Romans, die Probleme der individuellen Verantwortung und der Selbstbestimmung, beides Vorstellungen, die in den Kernbereich des Menschenwürdediskurses zielen, anhand dreier Aspekte: 207 der leitmotivischen Antithetik, die ‚dem Menschen‘ verkümmerte oder defizitäre Stufen des Menschlichen gegenüberstellt, der Bewährung der Protagonisten in Entscheidungssituationen und eben der erzählerischen (Nicht-) Gestaltung des Romanschlusses. Das Menschenbild, das dem Roman als Ideal zugrunde liegt, formuliert Karl von Hennings in seiner programmatischen Verteidigungsrede ex negativo : Der Humanismus, mit dem der erkennende Geist verbunden ist und von dem er die antreibende Kraft schöpft wie der Riese Antaeus von der Erde, wurde als Staatsfeind erklärt; der Antihumanismus in allen von mir angeprangerten Formen, Intoleranz, Primitivität, Verantwortungslosigkeit , Würdelosigkeit , Gewissenslosigkeit , Brutalität, Habgier, Machtlust, Mordlust, Paganismus, Satanismus, Megalomanie, Hysterie, Psy- 207 Nach Doris Brett ist die „Grundfrage“, die Neumann in seinen Exilwerken umtreibt, die „Frage nach der inneren Handlungsfreiheit oder Entscheidungsmöglichkeit des Individuums, dem der totalitäre Staat die Selbstbestimmung verriegelt hat“. Die Texte zielen „auf die Möglichkeit einer persönlichen Entscheidung, und damit auf die persönliche Verantwortung des Individuums“. In ihrer Interpretation von Es waren ihrer sechs betont Brett vor allem die Antithetik auf der Ebene der Figurenzeichnung und das Leitmotiv der Krankheit, die als „Symptom und Symbol“ den Text dominiere. Brett, Neumanns Romane, S. 177, 167 bzw. 191. 342 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust chopathie, Sexualpathologie - der kriminelle Antisozialismus wurde Staatsform. Die Summe aller schlechten, verdorbenen, verderbten, gefährlichen und unseligen Triebe, das Verbrechen proklamierte: LʼEtat cʼest moi. (N 177; m. H.) Mit einer veritablen Tirade von Substantiven, viele davon Fremdwörter, die in ihrer Kontrastfunktion auf das Krude, Undifferenzierte, Massentaugliche der NS -Ideologie anspielen, geißelt Karl den Nationalsozialismus als vollkommene Pervertierung des humanistischen Menschenwürdebegriffs, der in seiner Darstellung eben das genaue Gegenteil postuliert: Toleranz, Empathie, Reflexionsfähigkeit, Verantwortung für die eigene Person und die gesamte Gesellschaft, freie, selbstbestimmte, mit dem eigenen Gewissen vereinbare Entscheidungen und Meinungen. Dies sind die Vorzeichen, unter denen Neumann leitmotivische Oppositionen in seinen Text flicht. Auf der einen Seite stehen die Widerstandskämpfer, die im Text auffällig häufig und mit auffälliger Betonung als „Menschen“ bezeichnet werden, so als wäre mit diesem Begriff allein selbstverständlich das humanistische Menschenbild verknüpft. 208 Auf der anderen Seite werden der Nationalsozialismus schlechthin und in concreto seine Repräsentanten und Anhänger metaphorisch zu Maschinen, zu Tieren oder zu entmenschten, geistlosen Wesen. So landen die „fünf Menschen […] auf dem laufenden Band einer unerbittlich eiligen und präzisen Justiz maschine “ (N 138; m. H.). 209 Die Maschinenmetapher zielt nicht auf eine Exkulpierung der einzelnen Rädchen; vielmehr führt der Roman vor, wie etwa die Mitglieder des Tribunals, die der Leser in personal erzählten Passagen mit Innensicht kennenlernt, durch ihre intellektuelle und ethische Unselbstständigkeit, ihren Fokus auf persönliche Vorteile und Aufstiegschancen und ihr Desinteresse für das Leid anderer das Funktionieren der Maschine garantieren. 210 Diese - wie es Karl formuliert - „hündische Selbstaufgabe Deutschlands“ im Sinne eines würdelosen Verzichts auf freie Entscheidungsgewalt, kritische Reflexion und Selbstverantwortung begünstigte die „unheimlich rasche[] Erstarrung des Nazismus in eine wasserglasige Stauung 208 Ganz ähnliche Strategien lassen sich auch in anderen Texten beobachten, etwa bei Levi und bei Weiss (vgl. dazu unten, S. 360 - 361). Hier werden die leitmotivische Benutzung des Lexems „Mensch“ in Bezug auf die von den Nationalsozialisten Entwürdigten und das Vertrauen auf die geradezu beschwörende, auratische Qualität des Begriffs zu einem Mittel der sprachlichen Restitution von Menschenwürde. 209 Nur wenige Zeilen vorher war schon einmal von den „fünf Menschen“ die Rede (N 138); gemeint sind die fünf Widerstandskämpfer ohne Christoph, über dessen Schicksal die übrigen Festgenommenen zu diesem Zeitpunkt noch nichts wissen. - Einige Seiten später spricht der Erzähler noch einmal, nahezu wortgleich, vom „laufenden Band der Richtmaschine“ (N 169). 210 Eine Ausnahme stellt die Figur des Gerichtsrats Walter Lucius dar, der durchaus Sympathie und Verständnis v. a. für Karl von Hennings aufbringt. Vgl. dazu Brett, Neumanns Romane, S. 189-190. VII.2. Textanalysen 343 von Bürokratismen“, die „lackähnliche[], luftdichte[] Zellophanhülle für das riesige Schachtelwerk des gleichgeschalteten Nationallebens“ (N 180). Die Metaphern der Erstarrung und der Leblosigkeit auf der einen und des Tierischen auf der anderen Seite - Karl und Dora bezeichnen den NS -Staat mit Hitler an der Spitze später als „Staatsuntier“ und als „Bestie“ (N 195) - verweisen auf die anonyme Masse, die blind und kritiklos ihren unmenschlichen Dienst tut und sich gerade dadurch selbst entwürdigt. An mehreren Stellen stehen die SS bzw. SA -Uniformen metonymisch für den jede Verantwortung und jede Individualität abtretenden Mitläufer: Die „fünf Menschen“ stehen „zwischen den fünfzehn schwarzen Uniformen“ (N 148-149; hier markiert die Diskrepanz der gleich beginnenden Zahlen den Widerstand zudem als Kampf der Wenigen gegen die Masse); die „Braunhemden [haben] kein menschliches Oben zwischen sich und der Sturmriemenkappe, kein Gotteszeugnis, kein unterscheidbares Gesicht“ (N 190). Die willige Ein- und Unterordnung in die gehorchende, gesichtslose Masse erscheint als Verzicht auf individuelle Würde, die hier mit der durchaus humanistischen Idee der Gottebenbildlichkeit in Verbindung gebracht wird. 211 Gegen diese „Austreibung des Ichs und seine Ersetzung durch das Wir“ (N 238) kämpfen die Protagonisten an. Indem die Gruppe die persönliche Verantwortung des Einzelnen zum Grundwert des Widerstandes erhebt, 212 restituiert sie die Macht des Ichs - auch und gerade im Kontext gemeinsamen Handelns. Immer wieder werden die Protagonisten im Verlauf des Romans in Entscheidungssituationen geführt, in denen einfache Auswege aufscheinen, die sie aber jedes Mal frei und selbstbestimmt ablehnen. Sowohl Sophia als auch Hans weigern sich, ihre Mitstreiter zu verraten und als Spitzel zu agieren. Während des Prozesses lehnen die Angeklagten zudem die vom Pflichtverteidiger artikulierte Bitte um Gnade ab. Der in dieser Passage gewählte dramatische Darstellungsmodus erlaubt es Neumann, durch mehrfache Wiederholung das „Ich“ hervorzuheben und so eindrücklich den individuellen Entscheidungsspielraum innerhalb der Diktatur zu beleuchten - auch wenn das Beharren auf der Willensfreiheit und der Möglichkeit des Widerspruchs den eigenen Tod bedeutet. 213 Was den Nazi-Schergen als sinnloses Selbstopfer erscheint (vgl. N 68), ist aus der Perspektive der Widerstandskämpfer das konsequente Einstehen für eine - bei 211 Vgl. ähnlich N 200. 212 Vgl. die Epipher in Karls Beschwörung der Verantwortung des Einzelnen im Kreis der Widerstandskämpfer (N 369): „Jeder von uns ist für den andern verantwortlich. Wir alle sind für unser Tun verantwortlich. Unser Tun ist revolutionär, also der Zukunft verantwortlich.“ 213 Vgl. N 388-389: „Präsident Behn, zur Anklagebank: ‚Was haben Sie den Ausführungen des Herrn Offizialverteidigers hinzuzufügen? ‘ / Karl: ‚Nichts.‘ / Dora: ‚Ich lehne den Gnadenhinweis des Verteidigers für meine Person ab.‘ / Hans: ‚Ich auch.‘ / Sophia: ‚Ich auch.‘ / Christoph: ‚Ich auch.‘ / Alexander: ‚Ich auch.‘“ 344 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust aller äußeren Beschränkung und Not - selbstbestimmt getroffene Entscheidung ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für das eigene Wohl. Explizit begründet Hans diese Haltung. Als ein Richter ihm, dem ausgezeichneten, kriegsversehrten ehemaligen Frontsoldaten, anbietet, „Mittel und Wege“ zu suchen, um ihn „wieder in die Volksgemeinschaft aufzunehmen“, wenn er nur seine kurzzeitige Verirrung bereut und so seine „Ehre“ wiederherstellt (N 380), antwortet Hans mit Blick auf seine jugendliche Begeisterung für den Nationalsozialismus und sein Engagement für den Widerstand: „Ich bereue zehn von den dreiundzwanzig Jahren meines Lebens […]. Die ersten zwölf Jahre rechnen nicht; aber das letzte Jahr, das reuelose, rechnet für mein ganzes Leben. Denn das letzte Jahr, das reuelose, hat es lebenswert gemacht“ (N 381; m. H.). In geschickter Aneignung und Umkehrung des NS -Wertbegriffs definiert Hans den selbstverantwortlichen Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung als das, was den Wert des Lebens ausmacht - und ihm Würde verleiht. Auch Christophs Suizid ist in diesem Sinn zu deuten: Nachdem er vehement abgelehnt hat, als potentiell Geisteskranker der verhängten Todesstrafe zu entgehen, sogar auf seiner vollständigen Schuldfähigkeit bestanden hat, wiederholt der vorsitzende Richter seine Zweifel, dass das Todesurteil tatsächlich vollstreckt werden kann. Daraufhin suizidiert sich Christoph - nicht in einem Akt der Verzweiflung, sondern um wie seine Mitstreiter die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. 214 Dem Rezipienten begegnen die Protagonisten am Ende des Romans demnach als selbstbestimmt handelnde und entscheidende Figuren, die mit unbeugsamem Willen zu ihren Überzeugungen und ihrer Verantwortung stehen. Die Hinrichtungen jedoch werden nicht erzählerisch ausgebreitet; die Passagen enden jeweils mit dem präsentisch geschilderten Gang zum Schafott. Neumann hätte diese Szenen durchaus auktorial oder aus der Innensicht einer anwesenden Person, etwa eines NS -Beamten schildern können - immerhin wurde auch vorher schon personal aus der Perspektive der Richter, Schöffen usw. erzählt. Das bewusste Weglassen expliziter Details, sowohl in Bezug auf die Exekutionen als auch auf Christophs Suizid, ist programmatisch zu verstehen: Neumann lässt das Bild der Protagonisten als selbstbestimmte und selbstbewusste Personen sowohl auf der Ebene des Erzählten als auch auf der Ebene der Darstellung weitestgehend unangetastet. Sie werden eben nicht durch die Schilderung ihrer Tötung als Menschen demontiert und auf ihre Kreatürlichkeit reduziert, indem etwa Blut, abgetrennte Köpfe, desintegrierte Körper u. Ä. evoziert werden. Trotzdem sind die Protagonisten auch keine stilisierten, verherrlichten Helden, 214 Vgl. dazu und zu Christophs vermeintlicher psychischer Erkrankung Brett, Neumanns Romane, S. 177-184. VII.2. Textanalysen 345 sondern werden gerade am Ende des Romans mit ihren Ängsten, ihren Zweifeln und Verzweiflungen gezeigt - was an ihrer inneren Überzeugung aber nichts ändert. Das aus der Innensicht der Figuren und im Unmittelbarkeit suggerierenden Präsens erzählte Warten auf die Exekution zielt auf Betroffenheit und Empathie auf Seiten des Rezipienten - etwa der imaginierte Abschiedsdialog zwischen Karl und Dora, das letzte kurze Treffen Alexanders und Hansʼ, Sophias Erinnerung an den Geliebten Christoph oder das demütigende Kahlscheren der Häftlinge. Hinzu kommen atmosphärische Details wie das furchteinflößende Bild der hell erleuchteten Guillotine, die verhöhnende Bezeichnung des Todestrakts als „Kegelbahn“ (N 407) und die geradezu mythologische Figur des Barbiers Adam, der stoisch, gewissenhaft, aber nicht ohne eine gewisse Menschlichkeit seinen Dienst tut. Entscheidend aber ist: Neumann verzichtet auf die erzählerische Ausgestaltung und die ästhetische Verarbeitung der ultimativen Entwürdigung, um das im Text entwickelte Bild des Menschen und die Vorstellung von Menschenwürde, die den Einzelnen als freies, selbstbestimmtes, verantwortlich handelndes Wesen postuliert, nicht zu konterkarieren. Das appellative Moment des Textes entsteht auch ohne schockierende Ausmalung der Exekutionen aus der eindeutigen Lenkung der Sympathie des Rezipienten und dem mithilfe ästhetischer Strategien klar umrissenen, in seiner Pervertierung und Negierung durch den Nationalsozialismus vorgeführten Begriff der Menschenwürde. Dieser ist nicht eindeutig und ausschließlich inhärent, sondern durchaus assoziiert mit einem klar definierten ethischen Auftrag. * Peter Weissʼ monumentalen dreibändigen Roman Die Ästhetik des Widerstands (1975, 1978 bzw. 1981) 215 durchzieht die Frage nach den ästhetischen Implikationen von künstlerischen Gewalt- und Leiddarstellungen, deren Rezeption und ideologiekritischer Deutung. Die schonungslos und für den Leser schmerzhaft detailreich geschilderte Hinrichtung sozialistischer Widerstandskämpfer am Ende des Romans ist somit keine isolierte Szene, sondern in ihren Bezügen zu den im gesamten Romantext verteilten ästhetischen und politischen Überlegungen zu bestimmten Kunstwerken vielmehr ein Höhepunkt und ein Prüfstein für die innerfiktional entworfene, genuin politische Ästhetik. Diese ‚widerständische Ästhetik‘ lässt sich thesenhaft umreißen: Der Roman beschreibt Kunstwerke „als Ausdruck historischer Machtverhältnisse“, die „zugleich den Schmerz und das Leiden der Widerständigen und Unterdrückten“ konservieren und für Rezipienten, die sich mit diesen identifizieren, erfahrbar 215 Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands. Roman, Frankfurt / M. 2005 [urspr. drei Bde. 1975, 1978 u. 1981]. Im Folgenden wird stets diese Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (ÄW Seitenangabe) belegt. 346 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust machen. Diese Erfahrung basiert aber weniger auf einem intellektuellen als auf einem sinnlichen Rezeptionsprozess; insofern entfaltet der Text „das Programm einer Ästhetik als vorreflexiver sinnlicher Wahrnehmung des Dargestellten“, die ihrerseits die Grenzen zwischen Kunst- und Wirklichkeitswahrnehmung verschwimmen lässt. 216 Die künstlerische Gestaltung von Gewalt und Leid ist somit stets ein Mittel zu einem bestimmten ästhetisch-politischen Zweck. Die innerfiktionale Auseinandersetzung mit Kunstwerken sowie Möglichkeiten der und Forderungen an die Kunst kreist implizit oder explizit um den Begriff der Menschenwürde. 217 Bereits die Anfangspassage des Romans, in der der Erzähler und seine Gefährten Coppi und Heilmann in Berlin den Pergamonaltar analysieren und interpretieren, eröffnet diesen Diskurs. Die drei Betrachter deuten die dargestellte Gigantomachie 218 als „Kampf zwischen den Klassen“ ( ÄW 17) und übertragen das mythologische Geschehen auf historische Vorgänge der Antike. Ihren rezeptionsästhetischen Überlegungen zufolge birgt der Altar mit der Darstellung der brutalen Niederschlagung der „Riesen und Fabelwesen“ ( ÄW 11) durch die olympischen Götter und der damit einhergehenden ästhetischen Herabwürdigung der Unterworfenen - offene, partialisierte Körper, brutale Gewalt, eine vielsagende räumliche Anordnung der Figuren (oben vs. unten) (vgl. ÄW 9-19) - das Potential, (nicht nur ideologiekritisch sensibilisierte) Betrachter zum Widerspruch aufzurufen. Auch von „manchem geheimem Blick damaliger Leibeigener“ ( ÄW 17) sei der Altar als elitäre, künstlerische Verherrlichung einer Entwürdigung erkannt worden: „[I]n den knienden vertierten Wesen aber konnten sie [i. e. die Ausgebeuteten und Unterdrückten im pergamenischen Staat; MG ] sich erkennen. Diese trugen, in Grobschlächtigkeit, Erniedrigung und Geschundenheit, ihre Züge“ (ÄW 16-17). 216 Vgl. dazu Günter Butzer, Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands , in: Große Werke der Literatur XI. Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2008 / 2009, hg. v. G. B. u. H. Zapf, Tübingen 2010, S. 219-240, hier S. 224-225 (mit Blick auf die den Roman eröffnende Beschreibung und Diskussion des Pergamonaltars). 217 Die Lexeme „Würde“ und „Menschenwürde“ kommen im Text erstaunlich oft vor; häufig jedoch ist eine rein äußerliche, kontingente Würde gemeint. Einen unmittelbaren ästhetischen, genauer: literaturgeschichtlichen Bezug hat der Begriff der Würde - über die im Folgenden analysierten Passagen hinaus - an drei Stellen, die kurz genannt seien: Der Dadaismus wird als „Verhöhnung des Würdigen“ charakterisiert (ÄW 71). In der marxistischen Deutung von Kafkas Das Schloss heißt es vom Landvermesser, den der Erzähler als Arbeiterfigur interpretiert, dass dieser „nur gewürdigt werden wollte als der, der er war“, und somit eine allgemeine Befindlichkeit der Arbeiterklasse ausdrücke (ÄW 218). Don Quijote schließlich erscheint dem Erzähler als „Epos eines Spaniers, in dem frenetisch nach der Überwindung des Bösen, nach Gerechtigkeit, Menschenwürde gesucht wurde und in dem stets das Scheitern an der Falschheit, der Bosheit, dem Betrug überwog“ (ÄW 259). 218 Vgl. dazu Butzer, Die Ästhetik des Widerstands , S. 220-223. VII.2. Textanalysen 347 Neben diesem identifikatorischen betonen die Betrachter ein weiteres Moment: „[T]rotz aller Verunstaltungen“ nämlich blieben die „Erliegenden […] menschlich […], gezeichnet von Ängsten und Leiden“ (ÄW 61; m. H.). Gerade die Ästhetisierung von Entwürdigungen kann also - und sei es, wie in diesem Fall, eher in der ideologiekritischen Auseinandersetzung damit als in der ursprünglichen Wirkintention - der Behauptung der Menschenwürde der Entwürdigten dienen oder sogar zum Engagement für die Menschenwürde werden. Auch anhand der Figur des Arbeiters in der Malerei des 19. Jahrhunderts werden ästhetische Dimensionen der Menschenwürde diskutiert: In den Werken der russischen Realisten etwa gebe es „[n]ur Erniedrigung, Unterdrückung, Gefangensein […], doch in ihrer Verbundenheit mit den Menschen, die sie darstellten, in der Schilderung des Unrechts, das [diesen] widerfuhr, standen sie schon auf der Seite derer, die eine Erneuerung planten“ ( ÄW 75). Die künstlerische Gestaltung macht Herabwürdigungen dauerhaft sichtbar und ergreift somit Partei für die Entwürdigten. Noch präziser sind die Kommentare zu französischen Künstlern: So stelle der realistische Maler Jean-François Millet die Arbeiter „hin in der Würde, die sie sich erkämpft hatten“ ( ÄW 77). Allein die Wahl der vermeintlich Würdelosen als künstlerisches Sujet - ein „Schlag ins Gesicht der Connaisseure“ ( ÄW 78) - postuliert subversiv ihre Menschenwürde, eine Strategie, die an Büchners Woyzeck erinnert. Bei Léon Augustin Lhermitte schließlich wird die Art und Weise der Darstellung zum Eintreten für die Menschenwürde der Dargestellten; diese werden „aufrecht stehend, ohne Demut“, „stolz“, im vollen Bewusstsein des eigenen Werts und der eigenen körperlichen Kraft gezeigt ( ÄW 78). Die engagierte Betrachtung von Kunst fragt in der Ästhetik des Widerstands somit stets nach der Menschenwürde und ihrer Ästhetisierung. Die sprachliche Gestaltung der nationalsozialistischen Gräuel steht zunächst unter negativen Vorzeichen. Die Mutter des Erzählers, traumatisiert von der Flucht nach Schweden, verfällt einer psychischen Störung; sie zieht sich in ein dumpfes, beharrliches Schweigen zurück. 219 Die Massen der vor allem jüdischen Flüchtlinge, die, „weggefegt von einer jeder Vernunft widersprechenden Gewalt, […] über Nacht zu den Niedrigsten der Niedrigen geworden, jeglicher Ansprüche, jeglicher Würde beraubt“ worden waren ( ÄW 870), werden zum „Unaussprechlichen, das sie im Bann hielt“ (ÄW 876). Auch die Schriftstellerin Boye artikuliert die Überzeugung, dass die Sprache, sogar die literarische, angesichts extremer Entwürdigungen verstummen muss ( ÄW 884). Die Exekutionsszene am Ende des Romans lässt sich somit als Versuch des Erzählers lesen, für die 219 Vgl. Uwe Schütte, Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands . Die Gefilde des Grauens und der Hoffnung, in: Romane des 20. Jahrhunderts. Interpretationen, Bd. 3, Stuttgart 2003, S. 66-86, hier S. 83, der von einem „autistische[n] Verstummen der Mutter“ spricht, das „zum Emblem der Unaussprechbarkeit des Grauenhaften“ wird. 348 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Verbrechen des NS -Regimes doch eine Sprache und einen künstlerischen Ausdruck zu finden, die zudem den Anforderungen der Ästhetik des Widerstands standhalten. Die Forschung hebt meist die Krassheit der Hinrichtungssequenz 220 hervor. W. G. Sebald etwa spricht von einer Passage, „in der eine Versammlung von Todesangst und Todespein niedergelegt ist, die […] ihresgleichen in der Literatur nicht hat“. 221 Walter Hinck betont die „Erschütterung“, den die harte, explizite, schmucklose und gleichzeitig minutiöse Schilderung der Vorgänge beim Rezipienten provoziert. 222 Analysiert man nun en détail die ästhetischen Strategien, die die narrative Darstellung der Hinrichtungen charakterisieren, lässt sich dieser Befund präzisieren: Die Exekutionen werden schonungslos als Entwürdigung der Verurteilten geschildert; diese brutale Entwürdigung wird für den Rezipienten zu einer geradezu sinnlich wahrnehmbaren und nachfühlbaren Lektüreerfahrung. Trotzdem blitzen immer wieder Momente des Widerspruchs und der Reflexion auf, die ihn zur eigenständigen, kritischen Auseinandersetzung mit dem Unerträglichen zwingen. Aufschlussreich ist zunächst die Erzählsituation. Der in den ersten beiden Bänden markant hervortretende Ich-Erzähler wird im dritten Band immer weniger greifbar. Die Exekutionen werden von einem allwissenden Erzähler geschildert, der wechselweise die Perspektive des Geistlichen Poelchau und des Aufsehers Schwarz einnimmt und aus deren Innensicht erzählt. 223 Dieser 220 Zum treffenden Begriff der Sequenz als Bezeichnung der einzelnen Teile des Romans vgl. Jochen Vogt, „Wie könnte dies alles geschildert werden? “ Versuch, die „Ästhetik des Widerstands“ mit Hilfe einiger Vorurteile ihrer Kritiker zu verstehen, in: Text + Kritik 37 ( 2 1982), S. 68-94, hier S. 78-79. 221 W. G. Sebald, Die Zerknirschung des Herzens - Über Erinnerung und Grausamkeit im Werk von Peter Weiss, in: Orbis litterarum 41 (1986), S. 265-278, hier S. 277. 222 Vgl. Walter Hinck, Der aufrechte Gang zum Schafott. Epische Huldigung an eine Befreiungsbewegung. Peter Weiss: „Die Ästhetik des Widerstands“ (1975 / 1978 / 1981), in: Romanchronik des 20. Jahrhunderts (wie Anm. 139), S. 197-204, hier S. 203: „Schwerlich lassen sich die Berichte über den Gang der Todgeweihten zum Schafott und zur Erhängungsmaschine, über die makabren Hinrichtungsrituale und die ‚Entsorgung‘ der Leichen ohne Erschütterung lesen. Die Berichte sind Herzstücke einer emotionsweckenden Prosa, die auf jegliches berechnende Mittel der Rührung verzichtet. Die Sprache enthält sich aller Versuche ausmalender, beschwörender oder pathetischer Rede, sie zeigt die Inszenierung der triumphierenden Rache und den mechanischen Ablauf der Exekutionsvorgänge (auch die Panne in der Mechanik) in ihrer ganzen Nacktheit, die Haltung der Verurteilten in der ganzen Blöße des letzten Augenblicks. Es ist, als lasse sie nur noch die Sache, das Geschehen sprechen und das Ungeheuerliche sich selbst enttarnen.“ 223 Zur Erzählsituation vgl. auch ebd., S. 202 und Vogt, „Wie könnte dies alles geschildert werden? “, S. 76; Vogt spricht in Anlehnung an eine Formulierung Weissʼ von einem „Erzähler-Ich“, das den „Fokus“ des Romans bilde; gleichwohl werde vorwiegend personal erzählt, auch wenn dem Ich-Erzähler bisweilen eine „quasi-auktoriale Funktion“ VII.2. Textanalysen 349 auffällige Perspektivwechsel betont: Die Beschreibung der Hinrichtungen ist eher ein bewusst konstruierter und durchkomponierter erzählerischer Akt als ein nüchternes Aufzeichnen, das aus und für sich selbst spricht. Als solcher referiert die Passage auf die Diskussion von Kunstwerken und ist unter ähnlichen Vorzeichen zu lesen. Die Exekutionen erscheinen als Reduktion des Menschen auf seinen offenen, in seiner Integrität zerstörten Körper und auf seine nackte, hässliche, ja schmutzige Kreatürlichkeit, und zwar weniger durch eine bildhaft-metaphorische Sprache als durch eine präzise wiedergebende, mit sinnlich nachvollziehbaren Einzelheiten gesättigte Motivik, die an Benn und die expressionistischen Kriegsgedichte erinnert. Die Körper der Gefangenen sind gezeichnet von den Folgen der Folter. 224 Schlaglichtartig rücken einzelne Körperteile und Organe - auch deformierte und abgetrennte - in den Blick. In ihren letzten Momenten erscheinen die Hingerichteten nicht würdevoll, sondern beschmutzt von Blut, Kot und Urin. 225 Die toten Körper werden wie wertloser Abfall entsorgt (vgl. ÄW 1129). Der Eindruck einer geradezu hyperrealistischen Darstellung entsteht zudem durch die Evokation akustischer, visueller und olfaktorischer Details, die die Lektüre zu einer sinnlichen, wenn auch grausam-schmerzhaften, werden lassen. Der Mechanismus der Guillotine wird mit bisweilen onomatopoetischen Verben und Nomina beschrieben; 226 als Heilmann gehängt wird, ist - wieder lautmalerisch - „das Knacken der Wirbelknochen […] zu vernehmen“ (ÄW 1134). Etliche Verben (oder substantivierte Verben) denotieren die letzten unwillkürlichen und ungesteuerten Bewegungen der Sterbenden. 227 Zudem insistiert der Erzähler zukomme. - Der Gefängnispfarrer Harald Poelchau begleitete zahlreiche Opfer des NS- Regimes zum Schafott, hatte selbst Kontakte zu Widerstandsgruppen und veröffentlichte nach Kriegsende seine Erinnerungen. 224 Harnack etwa ist „wund von Daumenschrauben und Wadenklammern“ und hat „verschwollne[] Hände“, Coppi ist „nackt, die Haut blau und zerplatzt“, Heilmann „abgemagert zum Skelett“ (ÄW 1123). 225 Das Gefängnis mit der Hinrichtungsstätte wird bezeichnet als „Welt“, in der „alles in Kot, Urin und in dampfenden Lachen von Blut verging“ (ÄW 1124). Vgl. auch ÄW 1129: „In Stößen schoß noch das Blut aus dem Hals“; ebenso ÄW 1132: Hier werden die „nackten besudelten Frauenleiber, die Köpfe, mit den aufgerißnen gebrochnen Augen, dem blutig klaffenden Mund“, weggeschafft. Schließlich werden „den Leibern die triefenden Hosen“ ausgezogen (ÄW 1135). 226 Vgl. etwa ÄW 1129-1130: „[A]uf das schreckliche Geräusch des sich öffnenden Tuchs folgte das Krachen des vornüberklappenden Bretts, der Knall des zuschlagenden Jochs, der dumpfe Stoß des Fallbeils, das Rasseln des wieder hochgezogenen Eisens, von dem das Blut noch tropfte“. 227 Vgl. z. B. den „Leib, der noch zuckte“ (ÄW 1129); „die um sich stoßenden Beine“; „Konvulsionen durchfuhren den Körper und die Beine des Gehenkten“ (ÄW 1134); „ein Zittern war in seinen Beinen“ (ÄW 1135). 350 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust auf farblichen Eindrücken - allen voran dem Rot des Blutes. 228 Bedrückend und ekelerregend sind schließlich die olfaktorischen Details. Nach den ersten Guillotinierungen macht sich „ein schwüler, süßlicher Geruch bemerkbar“ ( ÄW 1128); als die acht männlichen Widerstandskämpfer gehängt worden sind, „breitet[] sich ein dicker Gestank aus“ ( ÄW 1135). Die beiden atmosphärischen Adjektive (schwül, dick) steigern den Eindruck der unerträglichen Unmittelbarkeit noch. Mit diesem sinnlichen verbindet sich an exponierten Stellen ein dynamisiertes Erzählen: Das Erzähltempo wird etwa bei der Beschreibung der Hinrichtung Libertasʼ extrem beschleunigt („und jetzt ging alles so schnell“ [ ÄW 1128-1129]), indem Hauptsätze nur durch Kommata voneinander getrennt, mehrere auf ein Subjekt bezogene Sätze aneinandergereiht und elliptische Verknappungen vorgenommen werden. 229 Diese Strategien sorgen dafür, dass der Leser gleichsam „den Schlag der Pranke im eignen Fleisch“ spürt ( ÄW 12), wie es am Anfang des Romans heißt. Auch die partialisierende Zerstörung des menschlichen Körpers verweist auf die Beschreibung des Pergamonaltars, wie übrigens auch auf die Auseinandersetzung mit Picassos Guernica , in dem die Körper „nackt, zusammengeschlagen und deformiert“ sind ( ÄW 412) und der Mensch „unter der Wucht der Destruktion“ verunstaltet wird ( ÄW 414). Bei der Beschreibung des Pergamonaltars wird zudem eine akustische und optische Identifikation suggeriert: „Wir hörten die Hiebe der Knüppel, die schrillen Pfeifen, das Stöhnen, das Plätschern des Bluts. Wir blickten in eine Vorzeit zurück […]“ ( ÄW 17). In der Hinrichtungssequenz wiederholen sich demnach ähnliche Rezeptionsmuster wie am Anfang des Romans, nur dass sich die Position des Rezipienten verschoben hat: Nicht mehr die innerfiktionalen Figuren sind Betrachter der Szene, sondern der außerfiktionale Leser. Eindeutig konzeptualisiert Weissʼ Roman die Exekutionen als Herabwürdigung. Explizit beklagt die Figur Schulze Boysen, dass die Todesurteile statt durch die Guillotine durch das „entehrende“ Erhängen an einem „Fleischerhaken“ (ÄW 1124; vgl. 1133) vollstreckt und die Getöteten so zu Fleischstücken verdinglicht und degradiert werden. Tatsächlich wird dieses Motiv ausgebreitet und auch auf die Guillotinierten ausgeweitet: Elisabeth „[w]ittert“ den Geruch des Blutes, „wie das Schlachtvieh ihn fürchtet“ ( ÄW 1129); die Gehilfen des Scharfrichters sind eigentlich „Fleischergesellen“ ( ÄW 1131). Doch entindividualisiert und verdinglicht werden die Exekutierten noch auf andere Weise: durch die 228 Vgl. ÄW 1129: „In Stößen schoß noch das Blut aus dem Hals, ein Mann, in weißem, blutfleckigem Rock tauchte auf und gab die Uhrzeit an […]“, und ÄW 1134: „[Heilmanns] Gesicht wurde schwärzlich blau. Die Augäpfel traten hervor. Einige Sekunden lang schlug die Zunge rasend im weit aufgerißnen Mund hin und her“. 229 Vgl. dazu den langen Satz (ÄW 1128-1129): „Libertas aber hatte zu schrein begonnen […].“ VII.2. Textanalysen 351 Art, in der die Fokalisierungsinstanzen die Exekutionen erleben. Der Geistliche Poelchau, der immerhin noch ein gewisses Maß an Empathie aufbringt, sieht die Hinrichtungen trotzdem als einen seriellen, schnell und unaufhaltsam fortschreitenden Prozess, der durch die Wiederholung abstumpft ( ÄW 1129). Aus der Perspektive des Aufsehers Schwarz hingegen erscheinen die Exekutionen eher als eine Art Verwaltungsakt, als eine organisatorische Aufgabe. Seinen eigenen Beitrag sieht er als eine „Prozedur des Namenlesens und Antwortens [der Gefangenen; MG ]“ ( ÄW 1131), bei der er für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen hat. Sein rein bürokratischer Blick reduziert das qualvolle Sterben des einzelnen Menschen zu einem dehumanisierten, förmlichen Vorgang - was gleichzeitig der Relativierung eigener Verantwortlichkeit dient: Würde er einmal Rechenschaft ablegen müssen für seine Handlungen, dann könnte er sagen, daß er ihnen, mit der Nennung der Namen, ihr Leben noch einmal bestätigt hatte. Er hatte sie nicht zum Tod verurteilt. Vielmehr hatte er sich um sie gekümmert, als sie noch am Leben waren. […] Und wenn er seine Unterschrift auf das Attest zu setzen hatte, so bestätigte er nur ihren Tod, schuldig daran war er nicht. ( ÄW 1130) Schwarz hat über diese Exkulpationsstrategien, die Weiss bereits in seinem Stück Die Ermittlung inszeniert, 230 hinaus offenbar jede Fähigkeit zur Empathie und Anteilnahme an menschlichem Leid verloren. Als der Staatsanwalt - wieder in einem dehumanisierenden Verwaltungsakt - die Namen der zur Hinrichtung Abgeführten abhakt, die Namensträger also „schon tot“ sind, sind sie auch für Schwarz „eigentlich schon erledigt“ und dieser ist „schon dabei, sie zu vergessen“ ( ÄW 1132). 231 Die Exekutionen sind Vorgänge einer nach Prinzipien der Bürokratie, der Effizienz sowie der Arbeits- und Aufgabenteilung funktionierenden Welt, in der das Leben und das Sterben der einzelnen Gefangenen jede Würde eingebüßt haben. Gleichwohl birgt der Text sowohl innerals auch außerfiktionale Momente des Widerspruchs, die den Eindruck einer sich auf das bloße Registrieren extremer Grausamkeit und Entwürdigung beschränkenden Szene transzendieren. Einzelnen Figuren werden, freilich zurückhaltend, Züge verliehen, die sie als Kämpfer für die in ihnen und ihren Genossen zertretene Würde zeichnen. Heilmann, der, wie die anderen, von „hohen Zielen in tiefste Erniedrigung geworfen werden sollte[]“ - man beachte hier die mit einer impliziten Wertung des Erzählers verbundene Opposition (hoch vs. tief, letzteres sogar im Super- 230 Vgl. dazu unten, Kap. B.VII.2.3., bes. B.VII.2.3.2. 231 Was seine als erlebte Rede wiedergegebenen Gedanken fesselt, sind praktische Probleme wie der höhere Zeitaufwand, den das Hängen gegenüber der Guillotine verursacht (ÄW 1131), oder die Löhne, die die verschiedenen Beteiligten pro Hinrichtung erhalten, und sein eigener bevorstehender Weihnachtsurlaub (ÄW 1132). 352 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust lativ) -, widersteht der Folter und wird, trotz aller körperlicher Versehrtheit, „aufrecht gehalten“ von diesem „Triumph“ ( ÄW 1123). Auch Ilse Stöbe steht „aufrecht“, als sie auf ihren Tod wartet ( ÄW 1129). 232 Die Wiederholung des Attributs spielt zudem auf die bereits erwähnte Gemäldebeschreibung an, in der der Arbeiter durch sein Aufrechtstehen seine Würde demonstriert. Unmittelbar vorher taucht der Begriff der Menschenwürde sogar in der Hinrichtungssequenz auf: Der Geistliche nämlich sieht sein seelsorgerisches Engagement für die Gefangenen als „Dienst an der menschlichen Würde“ ( ÄW 1124). Dieser Dienst bleibt freilich beschränkt auf wenige menschliche Gesten; 233 dass jedoch diese Figur - als einzige auf Seiten der Staatsmacht - die Menschenwürde der Widerstandskämpfer nicht nur explizit innerfiktional anspricht, sondern auch bestätigt, kennzeichnet die Hinrichtung in der außerfiktionalen Betrachtung als eine ideologisch legitimierte Entwürdigung von Aufrechten. Die Ästhetik des Widerstandes und der ihr implizite Menschenwürdediskurs sind somit wie folgt zu bestimmen: Die Exekutionsszene wird zum einen in einer die brutale Erniedrigung mit großer Intensität, Detailfülle und Direktheit vergegenwärtigenden und auf einen sinnlichen Rezeptionsprozess zielenden Sprache dargestellt. Sie enthält zum anderen Ansätze sowohl zu einer ideologiekritischen Deutung als auch zu einer Rückkopplung an im Text analysierte Kunstwerke wie den Pergamonaltar und die Arbeiter-Gemälde - was wiederum zu geschichtsphilosophischen oder ideologiekritischen Schlüssen führt: Der Nationalsozialismus erschiene dann als Fortführung eines geradezu mythologischen, ewigen Kampfes der Machthaber gegen die sich auflehnenden Unterdrückten und Herabgewürdigten bzw. als die radikale Niederschlagung und Entwürdigung des selbst- und klassenbewussten Arbeiters. Politik, Ästhetik und Menschenwürde sind in dieser Deutung untrennbar miteinander verbunden - die Menschenwürde wird auch im ästhetischen Kontext zu einem Fundamentalbegriff des Aufrufs zum Widerstand. 232 Poelchau registriert zudem bewundernd Heilmanns „Unbeugsamkeit“ (ÄW 1124). Einige der Gefangenen äußern Widerspruch, etwa Schulze Boysen, der gegen die Hinrichtung am Fleischerhaken protestiert (ÄW 1133), oder Libertas, die in ihrer Verzweiflung schreit (ÄW 1128). 233 So liest Poelchau etwa Harnack Goethe vor (ÄW 1126) und schmuggelt unter Lebensgefahr Heilmanns Brief aus dem Gefängnis (ÄW 1123-1124). VII.2. Textanalysen 353 VII.2.3. Die Sprache der Täter und ihre Dekonstruktion: Peter Weissʼ Die Ermittlung (1965) Die Ermittlung , Peter Weissʼ literarische Auseinandersetzung mit den Frankfurter Auschwitzprozessen, gilt als Musterbeispiel des Dokumentartheaters. 234 Dass Weiss seinen Quellen - Prozessberichten 235 und Aufzeichnungen, die er bei eigenen Besuchen anfertigte - zwar recht genau folgte, das vorgefundene Material aber in künstlerischer Absicht ordnete, bearbeitete und formte, hat die Forschung mittlerweile herausgearbeitet. 236 Wie der Prozess selbst ist das Stück eine Rekonstruktion vergangenen Geschehens allein durch Sprache - und nicht primär durch eine inszenierte Handlung. Die Sprache selbst sowie die Menschenbilder und Handlungskonzepte, die sie transportiert, sind mithin ein zentrales Thema des Textes. Im Folgenden wird Weissʼ Stück als Dekonstruktion sowohl der nationalsozialistischen Sprache der Entwürdigung und ihrer Versprachlichung der Vorgänge in Auschwitz als auch der Unschuldsrhetorik der Täter gelesen. 237 Weissʼ wirkungsvollstes Mittel der Entlarvung ist dabei die kontrastive Montage. Weiss hat die Sprache der realen Prozessbeteiligten geglättet und homogenisiert, sodass diese, was Stil, Ton und Vokabular angeht, ein „gemeinsame[s] Idiom“ sprechen, 238 das im Detail dann doch entscheidende Unterschiede und Gegensätze aufweist. Häufig wurde diese Tendenz zur Universalisierung, die das Stück über den zeithistorischen Kontext hinaus für Übertragungen und Ver- 234 Vgl. dagegen Burkhardt Lindner, Protokoll, Memoria, Schattensprache. „Die Ermittlung“ von Peter Weiss ist kein Dokumentartheater, in: Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen, hg. v. S. Braese, Göttingen 2004, S. 131-145. 235 Vgl. Bernd Naumann, Der Auschwitz-Prozess. Bericht über die Strafsache gegen Mulka u. a. vor dem Schwurgericht Frankfurt am Main 1963-1965, Hamburg 2013 [urspr. 1965]. 236 Vgl. Rolf D. Krause, Faschismus als Theorie und Erfahrung. „Die Ermittlung“ und ihr Autor Peter Weiss, Frankfurt / M. / Bern 1982; Erika Salloch, Peter Weissʼ Die Ermittlung . Zur Struktur des Dokumentartheaters, Frankfurt / M. 1972. Vgl. auch Lindner, Protokoll, Memoria, Schattensprache, S. 136-139. 237 Die Struktur des Stücks wurde bisweilen als Topographie des Lagers mit fortschreitenden Stufen der Entmenschlichung beschrieben (vgl. etwa Kontarsky, Trauma Auschwitz, S. 36-39 und Lindner, Protokoll, Memoria, Schattensprache, S. 140). Hiergegen könnte man einwenden, dass bereits mit der Ankunft im Lager, wie sie in den ersten beiden Gesängen beschrieben wird, die der physischen Vernichtung vorausgehende systematische Zerstörung der Menschenwürde stattfindet. - Zu den intertextuellen Bezügen zu Dantes Göttlicher Komödie vgl. Kontarsky, Trauma Auschwitz, S. 32-34. 238 Vgl. dazu Lindner, Protokoll, Memoria, Schattensprache, S. 138. 354 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust gleiche öffnet, heftig kritisiert. 239 Das auffälligste Beispiel für dieses Vorgehen ist die Anonymisierung der Zeugen / Opfer, die Weiss in einer Anmerkung zu seinem Text als notwendige Folge seines Vorsatzes beschreibt, ein „Konzentrat“ des Prozesses herzustellen, das „nichts anderes enthalten [soll] als Fakten“. 240 Bewusst reduziert Weiss die Zeugen im Drama zu „bloßen Sprachrohren“, während die Angeklagten, als „Symbole […] für ein System“, ihre Namen behalten (E 9). Doch neben dieser wirkästhetischen Überlegung steht noch eine andere: „Daß sie [i. e. die Angeklagten; MG ] ihre eigenen Namen haben ist bedeutungsvoll, da sie ja auch während der Zeit, die zur Verhandlung steht, ihre Namen trugen, während die Häftlinge ihre Namen verloren hatten“ (E 9). Weiss betrachtet die Anonymisierung also nicht so sehr als Fort- oder Festschreibung der Entindividualisierung des Einzelnen im KZ, sondern als symbolische Spiegelung der Herabwürdigung in der Konstellation des Dramas. Auf die Möglichkeit, den Zeugen mit ihrer Identität auch ein Stück ihrer Würde zurückzugeben, verzichtet der Autor bewusst. 241 VII.2.3.1. Die Sprache der Entwürdigung und ihre Dekonstruktion Die systematische Entindividualisierung der KZ -Häftlinge, wie sie bei Levi und in den Lagerromanen beschrieben wird, spiegelt sich in der Sprache, mit der die Ermittlung das Geschehen in Auschwitz rekonstruiert. Weiss setzt leitmotivisch bestimmte sprachliche Verfahren ein, die seine Deutung der menschenverachtenden NS -Ideologie erkennen lassen, indem sie vor Augen führen, wie im 239 Vgl. dazu etwa die textgenetische Untersuchung von Christoph Weiß, Die Ermittlung, in: Peter Weissʼ Dramen. Neue Interpretationen, hg. v. M. Rector u. C. W., Opladen / Wiesbaden 1999, S. 108-154. Vgl. auch die Kritik von James E. Young, der Weiss vorwirft, die jüdische Identität der Opfer bewusst verschwiegen und aus ideologischen Gründen die kommunistischen (russischen) Häftlinge in den Vordergrund gerückt zu haben (Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, aus d. Amerikanischen v. C. Schuenke, Frankfurt / M. 1992, S. 110-135). Jean-Michel Chaumont hat Youngs Vorwürfe weitgehend entkräftet (Der Stellenwert der „Ermittlung“ im Gedächtnis von Auschwitz, in: Peter Weiss. Neue Fragen an alte Texte, hg. v. I. Heidelberger-Leonard, Opladen 1994, S. 77-93), stellt aber fest: „So lobenswert auch Weissʼ Wille zur Universalisierung sein mag, es ist realistisch, aber moralisch falsch, die Opfer anonym zu machen, damit sich jeder mit ihnen identifizieren kann […].“ Vgl. weiterhin Marita Meyer, Eine Ermittlung. Fragen an Peter Weiss und an die Literatur des Holocaust, St. Ingbert 2000, S. 16-24. 240 Peter Weiss, Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Mit Beiträgen von Walter Jens und Ernst Schumacher, Frankfurt / M. 1991, S. 9. Im Folgenden wird stets diese Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (E Seitenangabe) belegt. 241 Vgl. dazu auch Meyer, Eine Ermittlung, S. 29-30. Vgl. v. a. S. 30: „Diese Entpersonalisierung der Zeugen mindert allerdings nicht die Autorität ihrer Aussagen. Sie verleiht ihnen - im Gegenteil - einen Anschein von überpersönlicher Objektivität, von ‚Zeugenschaft‘“. VII.2. Textanalysen 355 NS bzw. Lagerjargon über den Menschen gesprochen wird. Er zeigt Auschwitz als Vernichtungssystem, in dem der einzelne Gefangene Teil einer auf größtmögliche Effizienz ausgelegten Kalkulation ist. Die entwürdigende Sprache der NS -Propaganda taucht in Weissʼ Text auf, sowohl in den Reden der Angeklagten als auch der Zeugen - sei es, weil sie Äußerungen der Angeklagten referieren oder weil sie die Erinnerung an das KZ auch in der damals vorherrschenden Sprache verbalisieren -, steht aber nicht unbedingt im Vordergrund. 242 Weiss akzentuiert vielmehr einen ganz konkreten Aspekt der Sprache der Entwürdigung: die kalte, unpersönliche und entindividualisierende Sprache der Verwaltung und der Ökonomie, charakterisiert durch drei zentrale Motive - (1) die Zahl, (2) die exakte bürokratische Erfassung des Menschen und (3) das fachsprachliche Vokabular. 243 (1) Das Motiv der Zahl ist im Text omnipräsent. Bereits auf den ankommenden Waggons stehen Zahlen: „60 Stück oder 80 Stück / je nachdem“ (E 14). Die Gefangenen kommen als verdinglichtes Kollektiv in Auschwitz an und werden von den Lagermitarbeitern auch als solches wahrgenommen; sie sind nun Teil eines Zahlensystems, das Menschengruppen als Zahlen zusammenfasst und objektifiziert („Stück“). Der Kollektivierung folgt die Depersonalisierung durch die Zuteilung einer individuellen Nummer, die jedoch das genaue Gegenteil von Individualität bewirkt: Sie ersetzt jede persönliche Eigenheit, geht einher mit dem Verlust der persönlichen Habe, der persönlichen Geschichte und aller früheren „Begriffe“ (E 38; vgl. 14 und 109). Aus der Perspektive der Angeklagten ist die Arbeit im Lager eine Arbeit mit Zahlen. So erklärt der Angeklagte Hofmann: „Der Prozentsatz [der Arbeitsfähigen; MG ] war bestimmt / Er richtete sich nach dem Bedarf an Arbeitskräften“ (E 20). Da er die Häftlinge als anonyme, unpersönliche Masse sieht, an die er mit einer exakt definierten Aufgabe herantritt - den „Prozentsatz“ der Arbeitsfähigen auszusondern -, kann er sich emotional und moralisch von den Folgen seiner Handlungen lösen. Entsprechend lakonisch berichtet er über die „Nichtarbeitsfähige[n]“: „Die kamen ins Gas“ (E 20). Auch der Angeklagte Stark beruft sich auf das Motiv der Zahl, um seine eigene 242 Vgl. etwa „Verräter und andere Schädlinge“ (E 66), „asoziale[] / oder politisch unzuverlässige[] Elemente[]“ (E 101), „Jede Schwäche mußte doch bekämpft werden“ (E 164). 243 Youngs Kommentar geht, wie sich im Folgenden zeigen wird, völlig fehl: „[Weiss entgeht] vielleicht sogar der Unterschied zwischen der Rhetorik der Nazis bezüglich der Konzentrationslager und den teuflischen Realitäten, die sie mit dieser Demagogie tarnen wollten. […] Damit, daß er sich so unkritisch auf die bürokratische Rhetorik der Nazis stützt, verwischt Weiss im Grunde die entscheidenden Unterschiede zwischen den ideologischen Wurzeln des Nationalsozialismus, der Sprache, mit der die Nazis ihre Ziele durchsetzten, und den kritischen Paradigmen der Interpretation und Darstellung dieser Periode, auf die er hier zurückgreift“ (Beschreiben des Holocaust, S. 133). 356 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Verantwortung herunterzuspielen: „Ich hatte dafür zu sorgen / daß die Leute rechtzeitig / zur Arbeit kamen / und daß die Zahlen stimmten“ (E 108). Der Subtext ist bei beiden der gleiche: Das gewissenhafte und korrekte Ausführen einer Teilaufgabe ist an sich harmlos und ohne direkte Kausalverbindung zum Massenmord. Das Berufen auf Zahlen wird zu einer Strategie der Schuldminimierung. Doch Weiss hebt auch die Kehrseite der Fixierung auf Zahlen hervor. „Können Sie uns Zahlen nennen […]“, fragt der Ankläger einen Zeugen (E 59) - und genau das tun die Zeugen immer wieder. Besonders augenfällig geschieht dies, wenn Vergasungen und Verbrennungen thematisiert werden: Zeuge 6 Jede Kiste enthielt 30 Büchsen [mit dem Giftgas Zyklon B; MG ] à 500 Gramm […] Der Preis per Kilo war 5 RM […] Für 2000 Menschen in einer Kammer wurden etwa 16 Büchsen verbraucht Richter Das Kilo zu 5 Mark macht 40 Mark (E 176) Die detaillierten, fast obsessiven Zahlenangaben haben nicht nur innerfiktional (bzw. im Zuge des Prozesses) eine hohe argumentative Kraft, sondern vor allem eine außerfiktionale Funktion: Indem der Richter sogar noch den ‚Preis‘ der Vernichtung vorrechnet, erscheint der Massenmord als streng durchrationalisierter, ökonomisierter Vorgang. 244 Kurz darauf ist von der „Kapazität“ der Verbrennungskammern die Rede (E 189) und davon, dass aus „Ersparnisgründen“ zu wenig Gas benutzt wurde (E 186). Weiss stellt so eine unmissverständliche Verbindung zu wirtschaftlichen Vorgängen im kapitalistischen System her: Es geht um die Minimierung von Kosten und die Steigerung der Effektivität. (2) Das zweite Motiv ist die peinlich genaue Erfassung und Verzeichnung der Häftlinge. Der Angeklagte Stark stellt deren Einlieferung als bürokratische Angelegenheit dar: „Die Personalbogen wurden ausgefüllt / Die für die Aufnahme erstellten Fragebogen / gingen in die Aufnahmeräume / Dann wurde eine Zugangsliste erstellt / […] Die Liste lief dann in die verschiedenen Abteilungen“ 244 Vgl. auch die genaue Berechnung der Kapazitäten der Krematorien durch den Zeugen 7: „In den beiden großen Krematorien II und III / standen je 5 Öfen / Jeder Ofen hatte 3 Verbrennungskammern / Außer den Krematorien II und III / am Ende der Rampe / gab es die Krematorien IV und V / die je 2 vierkämmrige Öfen hatten / […] Bei voll laufendem Betrieb / waren zusammen 46 Verbrennungskammern / angeheizt / […] Die Kapazität einer Kammer / umfaßte 3 bis 5 Leichen / […] In den Krematorien II und III / wurden innerhalb von 24 Stunden / über 3000 Menschen verbrannt“ (E 188-189). VII.2. Textanalysen 357 (E 110). Auch der Tod ist eine Aufgabe für die Bürokratie, wie eine Zeugin berichtet: „Wir hatten die Totenlisten zu führen / Das wurde absetzen genannt / Wir mußten die Personalien / den Todestag und die Todesursache eintragen / Die Eintragungen mußten mit absoluter / Genauigkeit vorgenommen werden“ (E 58). Der einzelne Mensch wird nicht nur zu einer Zahl reduziert, sondern zu einem Text, zu einer Ansammlung von Informationen, zu einem Eintrag in einer Liste oder auf einer Karteikarte. Auch dieses Motiv zielt auf den Vorgang der Depersonalisierung ab, der den Menschen, schon lange bevor er tatsächlich physisch ausgelöscht wird, degradiert. Die Täter verfügen nicht mehr primär über Menschen, sondern über ein sprachliches und numerisches Substrat. Der Mord ist somit ein unpersönlicher Verwaltungsakt - und ein Sprechakt. Selbst bei jenen, die nach der Ankunft in Auschwitz „nicht aufgenommen / und nicht erfaßt“ werden, da sie sofort vergast werden, werden „die Namen abgehakt“ (E 110-111). 245 Bei Exekutionen werden den Häftlingen „ihre Nummern / […] auf die Brust geschrieben“, bevor die Nummern der Totgeweihten „auf der Liste ab[gestrichen werden]“ (E 133); vor Erschießungen werden die „Leute […] verlesen“ (E 115). Die Metapher des Verlesens und die symbolische Tötung durch Abhaken oder Durchstreichen stellen eine unmittelbare Verbindung zwischen dem nationalsozialistischen Massenmord und der Sprache sowie dem ihr inhärenten Entwürdigungs- und Gewaltpotential her. Die Ermittlung brandmarkt Sprache als Voraussetzung, mithin als Komplizin der Gewalt. 246 (3) Die dehumanisierende, vor allem aber verharmlosende und verhüllende Verwaltungssprache ist schließlich das dritte Motiv. 247 Nach seiner Tätigkeit im KZ gefragt, führt der Hauptangeklagte Mulka, Adjutant des Lagerkommandanten, aus: „Ich habe Preise kalkuliert / Arbeitskräfte eingeteilt / und Personalien 245 Vgl. dagegen E 58: „Nur Häftlinge / die eine Nummer erhalten hatten / wurden in den Büchern geführt / Diejenigen die direkt von der Rampe / ins Gas geschickt wurden / kamen in keinen Listen vor“. 246 Vgl. auch die Ausführungen des Angeklagten Klehr, als er mit den von ihm durchgeführten „Abspritzungen“ konfrontiert wird: „Jede Krankmeldung wurde / karteimäßig erfaßt / […] Der Lagerarzt sah sich den Häftling an / und die Karteikarte mit der Diagnose / Wenn er die Karte nicht mehr / an den Häftlingsarzt zurückgab / sondern an den Häftlingsschreiber / dann bedeutete dies / daß der Häftling zur Injektion / bestimmt worden war / […] Die Karten wurden auf meinem Tisch aufgehäuft / und verarbeitet / […] Der Häftlingsschreiber hatte / nach den Karteikarten eine Liste anzufertigen / Diese Liste wurde den Sanitätsdienstgraden übergeben / Nach dieser Liste hatten wir / die Kranken abzuführen“ (E 141-142). Die figura etymologica („karteimäßig“, „Karteikarte“, „Karte“, „Karten“) suggeriert wieder, dass der depersonalisierte Mensch durch Sprache, hier sogar materialisiert auf einem Schriftträger, ersetzt wird; in den Augen des Angeklagten sind die „Kranken“ nun konzeptualisiert als Objekte - als Karten - und nicht mehr als Menschen. 247 Vgl. auch Kontarsky, Trauma Auschwitz, S. 43. 358 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust bearbeitet“ (E 78). Die Parallelismen lassen die Aussage besonders formelhaft und kühl-technokratisch wirken; die Verben entstammen eher dem Vokabular eines Unternehmers als jenem eines Massenmörders. Für die Toten bringt der Angeklagte keinerlei Empathie auf; die Substantive, die er in Bezug auf den Massenmord benutzt, wecken Assoziationen mit militärtaktischen Operationen oder medizinischen Experimenten, sind dabei bewusst distanziert und distanzierend - die Signifikaten sind ganz offensichtlich eher eine anonyme, dehumanisierte Masse, über die nach Bedarf verfügt wird, als Menschen, denen aufgrund ihrer Würde Achtung und Respekt gebührt: Ich kann mich nicht erinnern fortlaufende Stärkemeldungen gesehen zu haben Am Tag gab es so 10 bis 15 Abgänge […] Es war ja ein großes Lager mit einem natürlichen Abgang Da wurden eben die Toten verbrannt (E 79; m. H.) 248 Das entwürdigende, menschenverachtende Moment dieser Sprache, die den Menschen reduziert, die Vernichtung als Effizienz anstrebenden Vorgang der Arbeitsteilung und den Tod als Verwaltungs-, Sprach- und Wirtschaftsakt erscheinen lässt, entlarvt Weiss nun mit großer Eindringlichkeit, indem er auf Kontrasteffekte setzt: zum einen die Schilderung individueller Erlebnisse, zum anderen die quasi-beschwörende Wiederholung des Substantivs „Mensch“. Gegen die kollektivierende, jede Individualität nivellierende Sprache reden die Zeugen an, indem sie detailliert von ihren Erinnerungen berichten und mitunter explizit persönliche Erlebnisse und Beobachtungen schildern. Der bürokratische Vorgang der Erfassung ist aus der Perspektive des Betroffenen eine unerträgliche Demütigung, eine krasse Destruktion von Intimsphäre und Selbstverfügung sowie der Übertritt in eine fremdbestimmte Existenz: Als wir im Aufnahmeraum auf die Tische gelegt wurden und man uns After und Geschlechtsteile nach versteckten Wertgegenständen untersuchte vergingen die letzten Reste unseres gewohnten Lebens 248 Vgl. ähnlich E 110-111; hier erklärt der Angeklagte Stark bereitwillig und dienstbeflissen den „Unterschied zwischen Verlegung / und Überstellung“. Für den Einzelnen verbargen sich hinter diesen dehumanisierenden termini technici (vorläufiges) Leben oder Tod. VII.2. Textanalysen 359 Familie Heim Beruf und Besitz das waren Begriffe die mit dem Einstechen der Nummer ausgelöscht wurden (E 37-38) Auffällig steht der Kälte, der Anonymität und der Depersonalisierung das Sprechen in der ersten Person (Singular und Plural) entgegen. Die frei und unregelmäßig gesetzten Zeilenbrechungen erlauben Weiss hier (wie an vielen anderen Stellen) das konsequente Hervorheben von Signalwörtern, die den Übergriff und den Verlust der ‚alten Begriffe‘ konturieren. Andere Stellen betonen stärker die Reduktion des Menschen zu absoluter Kreatürlichkeit und Instinkthaftigkeit. Zeuge 7 berichtet über die Vergasungen, daß die Menschen sich gegenseitig niedertraten und aufeinanderkletterten weil das Gas sich anfangs am stärksten in Bodenhöhe entwickelte Die Menschen waren ineinander verkrallt Die Haut war zerkratzt Viele bluteten aus Nase und Mund Die Gesichter waren angeschwollen und fleckig Die Menschenhaufen waren besudelt von Erbrochenem von Kot Urin und Menstruationsblut (E 187) Der Massenmord in den Gaskammern ist hier nicht mehr ein straff organisiertes, ökonomisch durchdachtes Verbrechen, sondern - wie die Verben und Partizipien, der Großteil in Versendstellung, suggerieren - Chaos, ein panischer und verzweifelter Kampf gegen den sicheren Tod. Die Evokation von Ausscheidungen macht die andernorts in ihrer kalten Rationalität rekonstruierten Vergasungen zu einer abstoßenden, emotionalisierenden Szene. 249 Derselbe Zeuge berichtet in der Folge von der Partialisierung und der restlosen Verwertung der Toten (vgl. E 188), die selbst als Leichen noch auf ihren Nutzen für das System untersucht werden. Dann wechselt der Ton der Aussage - ein gutes Beispiel für die Technik der kontrastiven Montage. Denn Zeuge 7 geht quasi bruchlos in eine exakte, mit etlichen Zahlen und Details belegte Beschreibung der „Kapazität[en]“ der Krematorien über, die an den oben beschriebenen Täterjargon erinnert (vgl. E 188-190). Durch die unmittelbare Konfrontation des drastisch-verstörenden 249 Ähnliche Beispiele finden sich E 44-45 und E 188-190. 360 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Erinnerungsbildes mit den verwaltungstechnischen Voraussetzungen wird die Sprache, die ebendiese äußeren Umstände des Massenmordes technokratisch und enthumanisiert beschreibt, als menschenverachtend, entwürdigend und verschleiernd entlarvt. Auch in der Makrostruktur des Stücks setzt Weiss auf diese Kontrastfunktion: Die Gesänge 5 und 6 - der „Gesang vom Ende der Lili Tofler“ (E 93) und der „Gesang vom Unterscharführer Stark“ (E 106) - bilden ein komplementäres Paar, nicht nur, weil ein einzelnes Opfer einem einzelnen Täter (sogar namentlich) an die Seite gestellt wird, sondern auch, weil die die Opfer anonymisierende Sprache der Entwürdigung sowie der die Täter zu Bürokraten normalisierende Verwaltungsjargon durch das identifizierbare Einzelschicksal und den brutalen, sadistischen Einzeltäter hinterfragt werden. Am auffälligsten ist schließlich Weissʼ Unterminierung der Sprache der Entwürdigung durch das fast trotzige Wiederholen eines Lexems: Mensch. 250 In den Reden der Ankläger, des Richters und der Zeugen steht dieses Substantiv immer wieder an exponierten Stellen, wird bisweilen mantrisch wiederholt, so als wolle Weiss die sprachlich und außersprachlich entwürdigten und entmenschlichten Opfer durch diese Anrufung, d. h. einen performativen Sprechakt, wieder zu Menschen deklarieren. 251 Ein erstes Beispiel aus der Befragung des Angeklagten Boger: Angeklagter 2 Im Interesse der Sicherheit des Lagers mußte gegen die Verräter und andere Schädlinge strengstens vorgegangen werden Richter Angeklagter Boger war Ihnen als Kriminaloberkommissar nicht bekannt daß ein Mensch der einem solchen Verhör unterzogen wird alles sagt was man von ihm hören will (E 66) Durch die Versifizierung stechen drei Substantive in Versendstellung hervor: Lager, Schädlinge, Mensch. So erscheint das Lager als (auch sprachliche) Ausnahmesituation, die sich durch die herabwürdigende Animalisierung vermeintlicher Feinde und „Verräter“ kennzeichnet. Diese Sicht hat sich in der Sprache des Angeklagten konserviert. Die unmittelbare Entgegnung des Richters delegitimiert den nazistischen Sprachcode: Der Entwürdigte - dessen Entwürdigung in der 250 Vgl. auch Meyer, Eine Ermittlung, S. 23; Meyer zufolge wird das Wort „Mensch“ in den ersten Gesängen „am häufigsten“ verwendet. Dies greift zu kurz; „Mensch“ als ‚Signalwort‘ durchzieht den gesamten Text, gipfelnd im letzten Gesang. 251 Zu Judith Butlers Begriff der Anrufung vgl. auch oben, S. 142 mit Anm. 50. VII.2. Textanalysen 361 Tätersprache andauert! - ist ein Mensch . Die zusätzliche Betonung des Menschseins als absolute, unantastbare Qualität durch den Kurzvers zwischen zwei längeren Versen verleiht der scheinbar banalen Feststellung des Richters in der ästhetischen Vermittlung den Charakter eines Postulats, das gegen die Sprache der Entwürdigung ankämpft: Hier wird über Menschen gesprochen - auch wenn der Nazi-Jargon genau dies zu leugnen versucht. Auch bei der Untersuchung der Frage, ob der Angeklagte Stark bei Vergasungen mitwirkte, setzt Weiss das Signalwort „Mensch“ effektvoll ein. Während der Richter zweimal explizit nach den „Menschen“ fragt, 252 vermeidet der Angeklagte jede allzu deutlich auf ein menschliches Signifikat verweisende Bezeichnung. Zwar spricht er einmal von den „Leute[n]“, ansonsten aber benutzt er nur Zahlen und metonymische Formulierungen („150“; „4 Lastwagen voll“; „ein gemischter Transport“; E 118) und das distanzierend-abwertende Pronomen „die“ („Die haben geschrien“; E 119). Der Kontrast zum Vokabular des Richters ist augenfällig. Noch deutlicher wird die überragende Bedeutung dieses leitmotivischen Begriffes aber im abschließenden „Gesang von den Feueröfen“. Die Rekonstruktion der fabrikmäßig nach ökonomischen Gesichtspunkten organisierten Massentötung und Verbrennung wird begleitet von der fast dreißigmaligen (! ) Nennung des Lexems „Mensch“, häufig in Versendstellung in den Reden der Zeugen und Richter, kein einziges Mal aus dem Mund der Angeklagten und ihrer Verteidiger. 253 Diese fast obsessive Feststellung, dass die Opfer Menschen waren, ändert natürlich nichts an den Verbrechen, liefert auch keine Definition dessen, was Menschenwürde ist, kämpft aber gegen das Weiterleben der Sprache der Entwürdigung und die damit assoziierte Ideologie an, die bestimmten Menschengruppen die Würde abspricht, um den Mord an ihnen auf perverse Weise zu legitimieren. Versucht man nun zu abstrahieren und berücksichtigt dabei Weissʼ programmatische ideologische Positionierungen, 254 steht die Dekonstruktion der nationalsozialistischen Sprache der Entwürdigung auch im Dienst der Kritik am kapitalistischen System und der Entwürdigung des Menschen durch ebendieses System. Weissʼ Sprachkritik richtet sich gegen eine Denkart, die den Menschen zum Objekt einer bürokratisierten, rationalisierten und nach ökonomischen 252 „Um wieviel Menschen handelte es sich“ (E 117) bzw. „Was haben denn die Menschen da unten gemacht / in diesem Raum“ (E 118). 253 Vgl. etwa E 183: „Richter: Wieviele Menschen wurden auf einmal / hinabgeführt / Zeuge 7: 1000 bis 2000 Menschen / Richter: Wußten die Menschen / was ihnen bevorstand“ (m. H.). 254 Formuliert etwa in 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt (1965), in: Peter Weiss, Rapporte 2, Frankfurt / M. 1971, S. 14-23. 362 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust (und das heißt für Weiss: kapitalistischen) Maximen geordneten Weltsicht macht. 255 VII.2.3.2. Die Unschuldsrhetorik der Täter als Leugnung von Personalität In ihrer Vorlesung Über das Böse formuliert Hannah Arendt eine scharfsinnige Charakterisierung der Nazi-Verbrecher: Das Lästige an den Nazi-Verbrechern war gerade, daß sie willentlich auf alle persönlichen Eigenschaften verzichteten, als ob dann niemand mehr übrigbliebe, der entweder bestraft oder dem vergeben werden könnte. Immer und immer wieder beteuerten sie, niemals etwas aus Eigeninitiative getan zu haben; sie hätten keine wie auch immer gearteten guten oder bösen Absichten gehabt und immer nur Befehle befolgt. Um es anders zu sagen: Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemanden getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein. 256 Nach Kant ist es gerade die Personalität, die Fähigkeit der freien Willensentscheidung und der moralischen Selbstgesetzgebung, die die Würde des Menschen begründet. 257 Wenn sich die Täter weigern, Personen zu sein, kommt es zu einer grotesken Situation: Sie leugnen nicht nur, für die Entwürdigung anderer verantwortlich zu sein, sondern sie leugnen durch dieses Leugnen auch ihre eigene Menschenwürde. In der Ermittlung inszeniert Weiss genau diesen freiwilligen Verzicht auf Personalität und Selbstbestimmung als durchgängige Verteidigungsstrategie der Angeklagten - und als ein primär sprachliches Phänomen. Leitmotivisch offenbaren die Angeklagten und die beiden Zeugen, die im Dienste der Lagerverwaltung standen, eklatante Erinnerungslücken, 258 berufen sich auf Befehle, 259 flüchten sich in Ausreden oder in eine lächerlich wirkende, 255 Auch Christian Rakow liest Die Ermittlung als sprachkritisches Stück (Fragmente des Realen. Zur Transformation des Dokuments in Peter Weissʼ „Die Ermittlung“, in: Weimarer Beiträge 50 (2004), S. 266-279). - Zu kapitalismuskritischen Deutungen des Dramas vgl. etwa Meyer, Eine Ermittlung, S. 57 ff. - Einschlägig für diese Lesart ist die Befragung der Zeugen 1 und 2 (E 97-102). Dabei explizitiert diese Stelle nur, was die Leitmotivik sowieso suggeriert. 256 Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, aus dem Nachlass hg. v. J. Kohn, Nachwort v. F. Augstein, München 8 2013, S. 101. 257 Vgl. dazu oben, S. 74 - 75 und 166. 258 Vgl. etwa E 55: „Es ist möglich / daß ich das einmal / routinemäßig tun mußte / Ich kann mich daran / nicht mehr erinnern“; E 128: „Daran kann ich mich nicht erinnern / […] Das weiß ich nicht mehr / […] Das kann ich nicht sagen / […] Das weiß ich nicht“. 259 Vgl. etwa E 110, 144 und 163. VII.2. Textanalysen 363 gestelzte Hochsprache. 260 Nicht selten verlassen sie sich auf die totale Negation der ihnen vorgeworfenen Taten. 261 Besonders entlarvend ist eine Aussage des Angeklagten Schlage: „Für alles was im Bunker geschah / war nicht ich / sondern der Arrestverwalter verantwortlich“ (E 163; m. H.). Der Kurzvers ist symptomatisch; die Angeklagten inszenieren sich tatsächlich als ‚Nicht-Ichs‘, sofern man das Ich als selbstbestimmte, selbstbewusste und handlungsmächtige Entität versteht. Ständig versuchen die Beschuldigten, mit den Adverbien „nur“, „vielleicht“, „lediglich“ oder „ausschließlich“ das eigene Wissen, den eigenen Handlungsspielraum, die eigene Zuständigkeit und die eigene Verantwortung zu relativieren. 262 Häufig treten diese Adverbien in Kombination mit der relativierenden Formulierung „ich hatte zu + Infinitiv“ auf. Zwar äußert sich hier ein Subjekt in der ersten Person, aber dieses leugnet im selben Atemzug durch die Verbalphrase, als selbstbestimmtes Agens zu fungieren, und beruft sich auf einen ominösen, diffusen und nicht klar benannten Zwang. „Ich hatte für Ruhe und Ordnung zu sorgen“, beteuert etwa der Angeklagte 8 (E 19); ähnlich äußert sich der Angeklagte 12: „Ich hatte hier als Soldat zu handeln“ (E 115). 263 Die Maßstäbe und die Ursprünge des eigenen Handelns liegen in jedem Fall außerhalb der eigenen Person. Sowohl die Urheberschaft von Handlungen als auch die Quellen der vorgeschobenen Befehle werden bewusst sprachlich verunklart. Die Angeklagten benutzen Passivkonstruktionen, in denen das unbestimmte Pronomen „es“ das Subjekt ist oder das Agens ganz unterdrückt wird („Es war uns gesagt worden“ [E 114]; „Wenn ich […] auf die Rampe befohlen wurde“ [E 28]). 264 Auch der durch das Modalverb „müssen“ oder die Verbalphrase „haben zu + Infinitiv“ ausgedrückte Zwang bleibt diffus, ohne klaren Ausgangspunkt und ohne Legitimation („aber ich habe nur getan / was ich tun mußte“ [E 48]; „Ich hatte nur gegebene Anordnungen / zu überwachen“ [E 143]). Schließlich kann ein unbestimmtes „man“ zur Befehlsquelle werden: „Aber man sagte mir nur / daß ich meine Pflicht zu erfüllen habe“ (E 143). All diesen sprach- 260 Vgl. E 34: „Der Fall ist mir nicht erinnerlich / So viele Schläge wurden bei uns / nie verabfolgt“. 261 Vgl. etwa E 47, 76, 78 und 94. 262 Vgl. etwa E 20: „Ich habe nur meinen Dienst gemacht“; E 77: „Meine Arbeit war ausschließlich / administrativer Art“; E 99: „Ich weiß es nicht / Ich habe es ja nicht gesehn / Ich habe es nur gehört“; E 114-115: „Ich hatte mit diesen Transporten / nur Auftragsmäßiges zu tun / […] Ich hatte sie lediglich abzuführen“. 263 Vgl. weiterhin z. B. E 110: „Befehlsmäßig hatte ich dort zu sein“, und E 139: „Nur in einigen Fällen / hatte ich Abspritzungen zu überwachen.“ - Vgl. dazu ähnlich Rakow, Fragmente des Realen S. 272. 264 Vgl. ebenso E 111: „Sie wurden sofort zur Vernichtung / ins kleine Krematorium eingeliefert“. 364 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust lichen Strategien ist eines gemein: Der tendenzielle Agensschwund erlaubt den Sprechern, die Verantwortung für Handlungen abzustreiten und an eine nicht identifizierte, nicht identifizierbare Instanz weiterzuschieben. 265 Dass sich die Lagerangestellten in einer Situation des Zwangs befanden, bestätigt der Zeuge 3, den die Forschung bisweilen als Sprachrohr des Autors betrachtet, 266 sogar teilweise: „Sie [i. e. zwei kurz zuvor genannte Ärzte; MG ] töteten nicht aus Haß und nicht aus Überzeugung / sie töteten nur weil sie töten mußten / und dies war nicht der Rede wert / Nur wenige töteten aus Leidenschaft / Zu diesen gehörte Boger“ (E 74). Zweierlei ist nun entscheidend: Zum einen versichert der Zeuge, dass es trotz der Existenz eines (allerdings undefinierten! ) Zwangs Handlungsspielräume für den Einzelnen gab, die dieser etwa zum bewussten und selbstgewählten Ausleben seines Sadismus nutzen konnte. Zum anderen zeigt Weiss, indem er in die Umgebung der beschriebenen Unschuldsrhetorik gegenteilige Zeugenäußerungen montiert, dass sowohl das Leugnen jeglichen Wissens um die genauen Vorgänge abwegig ist 267 als auch Raum für eine freie Entscheidung zur Weigerung bestand. 268 Durch das Leugnen der eigenen Entscheidungs- und Gestaltungsfähigkeit aber machen sich die Täter in ihrer sprachlichen Präsentation bewusst und freiwillig zu ausführenden Instrumenten, zu Mitteln zu einem übergeordneten Zweck - sie verzichten gleichsam auf ihre Menschenwürde. Nur so ist es ihnen möglich, auch vor ihrem Gewissen zu flüchten. Diese Weigerung, zu den eigenen Handlungen zu stehen, brandmarkt Weiss als vollkommen würdelos. Die Angeklagten, die im KZ kühl und empathielos andere verdinglichten, verfallen in larmoyantes Selbstmitleid. 269 Zusammen mit den Verteidigern zeigen sie zu- 265 Eine Ausnahme stellt der Angeklagte Boger dar, der zugibt, an „verschärften Vernehmungen“ beteiligt gewesen zu sein: „Sie unterlagen meiner befehlsbestimmten / Verantwortung“ (E 71). Doch zum einen weist er gleich auf einen Befehl hin, der die eigene Verantwortung wieder relativiert, zum anderen zeigt er keinerlei Unrechtsbewusstsein, sondern phantasiert noch über die Wirksamkeit der Prügelstrafe an Schulen. - Vgl. auch Rakow, Fragmente des Realen, S. 274. 266 Vgl. Kontarsky, Trauma Auschwitz, S. 41 mit Verweis Erika Salloch (Peter Weissʼ Die Ermittlung , S. 106). 267 Vgl. etwa die Ausführungen des Zeugen 3: „Jedem der 6000 Mitglieder des Personals / die im Lager arbeiteten / waren die Vorgänge bekannt / und jeder leistete auf seinem Posten / was für das Funktionieren des Ganzen geleistet werden mußte“ (E 193). Vgl. ebenso E 194. 268 Vgl. wieder eine Aussage des Zeugen 3: „Der Lagerarzt Flage zeigte mir / daß es möglich war / zwischen den Tausenden / noch ein einzelnes Leben zu sehn / er zeigte mir / daß es möglich gewesen wäre / auf die Maschinerie einzuwirken / wenn es mehr gegeben hätte / von seiner Art“ (E 81-82). 269 Vgl. etwa E 23. VII.2. Textanalysen 365 dem einen abstoßenden Zynismus, der weder das Trauma der Überlebenden noch die Würde der Toten respektiert: Die Angeklagten lachen zustimmend [nachdem der Verteidiger den Zeugen politische Motive und Absprachen unterstellt; MG ] Ankläger Das ist eine bewußte und gewollte Mißachtung und Kränkung der Toten des Lagers und der Überlebenden […] In einem solchen Verhalten der Verteidigung wird offensichtlich die Fortsetzung jener Gesinnung demonstriert die die Angeklagten in diesem Prozeß schuldig werden ließ (E 196-197) Das Lachen der Angeklagten, das elfmal (! ) vorkommt, ist in Weissʼ Sprechstück bis auf wenige Ausnahmen die einzige Regieanweisung. 270 Sie steht an der Grenze zwischen gestischem Spiel und Rede. Dieses Lachen, das Nicht-ernst- Nehmen des Gegenübers als Mensch, die Verhöhnung seiner Würde, ist bereits in den Erinnerungen der Zeugen präsent: Es begleitet den grausamen Mord an einer Schwangeren (E 40) und die sadistische Folter durch den Angeklagten Boger (E 66). Die demonstrative Wiederholung - oder eher: die Weiterführung, ja die Perpetuierung - in der Öffentlichkeit des Prozesses konterkariert den Versuch der Opfer, ihre Herabwürdigung durch die Aussage vor Gericht bekannt zu machen. Das Ringen um die Wiedergewinnung der zertretenen Würde durch den öffentlichen Akt des Zeugnis-Ablegens gerät in Gefahr, da die Angeklagten ebendiese Öffentlichkeit nutzen, um die Erniedrigung der Vergangenheit in der Gegenwart zu verfestigen. Dies ist keine Kritik Weissʼ an der prozessualen Aufarbeitung der NS -Verbrechen, sondern vielmehr ein Hinweis darauf, dass, wie die Sprache der Entwürdigung, auch entwürdigende Menschenbilder und Weltsichten noch in der zeitgenössischen Realität zu finden sind. So endet der Text auch nicht mit dem starken Schlusswort eines Zeugen, sondern mit der „[l] aute [n] Zustimmung von seiten der Angeklagten “ zur Forderung, die Verbrechen als verjährt zu betrachten 270 Die Regieanweisungen lauten: „ Die Angeklagten lachen “ (E 24, 25, 49, 62, 144, 152) bzw. „ Die Angeklagten lachen zustimmend “ (E 81, 117, 196; ähnlich E 120) und „ Der Angeklagte 7 grinst den Zeugen an “ (E 46). Andere Regieanweisungen finden sich E 33, 90, 138, 169, 172 und 199. 366 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust (E 199). 271 Weiss suggeriert, dass jener entwürdigende Geist, der den Kern des Nationalsozialismus ausmachte, dessen Ende überdauert hat. Dass Weiss bei seiner - wie die Forschung immer wieder betont hat - kapitalismuskritischen Diagnose Auschwitz für eine ideologische Aussage instrumentalisiert, ist nicht unproblematisch. Das untergräbt jedoch nicht seine überzeugende Kritik an den Entwürdigungs- und Verhüllungspotentialen der Sprache. VII.2.4. Die Menschenwürde der Täter VII.2.4.1. Die deutsche Würdelosigkeit: Hans Falladas Der Alpdruck (1947) Im Vorwort zu seinem Roman Der Alpdruck liefert Hans Fallada eine Art Deutungsansatz: „Das Buch ist im Wesentlichen ein Krankheitsbericht geblieben, die Geschichte jener Apathie, die den größeren und vor allem den anständigeren Teil des deutschen Volkes im April des Jahres 1945 befiel, von der sich viele heute noch nicht frei gemacht haben.“ 272 Die Diagnose der Apathie trifft vor allem auf den Protagonisten zu, den Schriftsteller Doll, dessen Perspektive der Roman überwiegend folgt. 273 Dolls Urteile über seine Landsleute und sich selbst, die dem Leser meist ungefiltert als direkte oder als erlebte Rede mitgeteilt werden, offenbaren noch eine weitere, ethische Diagnose: die umfassende Würdelosigkeit der Deutschen sowohl in der Zeit als auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs. Falladas Text untersucht den Nationalsozialismus nicht im Hinblick auf seine Verbrechen oder sein Menschenbild, sondern entlarvt ihn als moralische Bankrotterklärung des deutschen Volks, als moralisches Versagen des Einzelnen und der Gesellschaft, und setzt dies mit der Verletzung, mithin dem Verlust der Menschenwürde gleich. Menschenwürde meint in Der Alpdruck die Pflicht des 271 Zu Verjährungsdebatten in den 1960er-Jahren vgl. etwa Marc von Miquel, Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004. 272 Hans Fallada, Der Alpdruck. Roman, Berlin 2014 [urspr. 1947], S. 13. Im Folgenden wird stets nach dieser Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (A Seitenangabe) belegt. - Eine Lektüre des Romans im Hinblick auf die Krankheitsmetaphorik bietet Roman Luckscheiter, Am Nullpunkt des Erinnerns. Falladas Roman „Der Alpdruck“ als Pathologie der unmittelbaren Nachkriegszeit, in: Zeit vergessen, Zeit erinnern. Hans Fallada und das kulturelle Gedächtnis, hg. v. C. Gansel u. W. Liersch, Göttingen 2008, S. 57-67. 273 Vgl. A 153: Hier ist von der deutschen „Zeitkrankheit“, der „abgrundtiefe[n] Verzweiflung und Apathie“ die Rede. - Doll wird in Rezeption und Forschung als eine Art alter ego des Autors gesehen. Vgl. dazu Norman Ächtler, „Ein gemäßigter Pessimist“. Falladas gesellschaftskritische Texte der 1940er Jahre, in: Text + Kritik 200 (2013), S. 72-82, hier S. 73 und Luckscheiter, Am Nullpunkt des Erinnerns, S. 57-58. VII.2. Textanalysen 367 einzelnen Menschen, ethische Integrität, Selbstachtung und Verantwortungsbewusstsein zu bewahren. Fallada bedient sich verschiedener erzählerischer Strategien, um die deutsche Würdelosigkeit herauszustellen. Ganz direkt lässt er Doll, den „repräsentative[n] Vertreter der nichtemigrierten deutschen Intellektuellen“, 274 der nach Kriegsende einen Bürgermeisterposten in der sowjetischen Besatzungszone übernimmt, über die „Nutznießer[], d[ie] Schuldigen und d[ie] Mitläufer[]“ (A 74) urteilen, dass sie einem „Volk“ angehören, „das seine Niederlage ohne alle Würde, ohne eine Spur von Größe ertrug“ (A 75). Auch sich selbst bezieht Doll, der stets zwischen dem Gefühl der moralischen Überlegenheit des Opfers 275 gegenüber schamlosen Opportunisten und dem Bewusstsein, „dass er mit gesündigt hatte, mitschuldig geworden war“ (A 40), schwankt, in sein Urteil ein. Er bemerkt eine „neue Einbuße seines Selbstgefühls“, und dieses Gefühl wurde je länger, je stärker, selbst jetzt im tätigsten Leben, als solle Doll - und vermutlich mit ihm sehr viele Deutsche - nun auch des letzten inneren Besitzes beraubt werden. Nackt und leer sollten sie dastehen, mit den Lügen, die man ihnen ein Leben lang als tiefste Wahrheit und Weisheit eingetrichtert hatte, sollte auch der Eigenbesitz an Liebe und Hass, Erinnerung, Selbstachtung, Würde verlorengehen. (A 78-79) Der Würdeverlust, den Doll hier an sich selbst noch als Bedrohung wahrnimmt, ist bei vielen seiner Mitmenschen bereits eingetreten. Dies zumindest suggeriert die am Anfang des Textes narrativ auffällig breit ausgestaltete Analepse, die die Geschichte des Trinkers und Selbstmörders Dr. Wilhelm erzählt. Was zunächst wirkt wie eine dörflich-kleinstädtische Posse, ist eine Allegorie des allgemeinen sittlichen Zustands während der NS -Zeit. Den Tierarzt Dr. Wilhelm, in jeder Hinsicht durchschnittlich (vgl. A 47), treibt seine Alkoholsucht zu täglichen Rundgängen durch die Gaststätten des Orts. Um zu „seinem Rechte“ zu kommen (A 47), ist ihm jedes Mittel recht. „[O]hne Würde und ohne Scham“ erträgt er Beschimpfungen einer Wirtin (A 48), drängt sich Gesellschaften auf, die er dann mit seinen Geschichten erheitert, und auch am Stammtisch, den Doll gelegentlich als Gastgeber unterhält, fehlt er nie, da er hier umsonst trinken kann. Eines Abends weist Doll Wilhelm schroff zurecht, und Wilhelm wird zum Objekt allgemeinen Spotts: 274 Ächtler, „Ein gemäßigter Pessimist“, S. 75. 275 Tatsächlich insinuiert der Text an mehreren Stellen, dass Doll selbst Opfer des NS-Regimes war. Vgl. etwa A 79: „Da war er nun zwölf Jahre hindurch von den Nazis schikaniert und verfolgt worden, sie hatten ihn vernommen, verhaftet, seine Bücher mal verboten, mal erlaubt, sein Familienleben bespitzelt, kurz, sie hatten ihm jede Lebensfreude genommen.“ Vgl. ähnlich A 92. 368 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Aber das kümmerte ihn nicht viel, er schämte sich nicht. Er war es längst gewohnt, jeden Freischluck mit einer Kränkung seiner Menschenwürde zu bezahlen. Das war schon so lange und so oft geschehen, dass darüber all seine Menschenwürde längst verlorengegangen war. (A 54) Als Wilhelm versucht, heimlich Wein nachzuschenken, schickt ihn Doll vom Tisch fort. Wilhelm revanchiert sich für diese öffentliche Demütigung und streut böswillige Gerüchte über Doll und eine junge Frau, die auch am Tisch saß. 276 Doll versucht sich dagegen juristisch und persönlich zu wehren, droht Wilhelm sogar eine Ohrfeige an; einige Zeit später kommt es zu einer Konfrontation und Doll versetzt dem Tierarzt tatsächlich einen leichten Schlag. Dieser weiß die Situation zu nutzen, weint „Krokodilstränen“ (A 61) und sichert sich die allgemeine Sympathie, während Doll zum „meistgehasste[n] Mann weit und breit“ (A 63) wird. Dolls anfänglicher Hass auf Wilhelm verebbt zwar, doch sein Urteil bleibt vernichtend: Der Freischlucker „hatte aus seiner Schmach, ohne Würde und Scham, ein Geschäft gemacht“. Kurz darauf heißt es: „[I]mmer war er ohne Würde und Mut gewesen“ (A 67). Diese scheinbar triviale Episode ist deshalb so erwähnenswert, weil sie bei genauerem Hinsehen nicht nur ein zeittypisches sittliches Panorama entfaltet, sondern auch entscheidende Themen des Romans vorwegnimmt - Sucht und Suizid - und all dies explizit mit dem Begriff der (Menschen-)Würde verknüpft. Wie beiläufig erscheinen im Text Hinweise, dass sich die Trinker-Episode vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, genauer: des Zweiten Weltkriegs, abspielt, obwohl der Krieg selbst die Gegend kaum berührt (A 50): die schwindenden Alkoholvorräte (A 48), die Inflation, die zu höheren Weinpreisen führt (A 49), die Doll feindlich gestimmte Wirtin, „die bestimmt immer ihren angeschwärmten Führer gewählt hatte“ (A 58) und nun auf Dr. Wilhelms Seite steht, schließlich der Lärm der „feindlichen Luftgeschwader“ (A 60). Das naturalistische Motiv des sich durch seine Alkoholsucht selbst entwürdigenden Menschen 277 erlaubt es Fallada, zum einen eindrücklich den Typus des schamlosen Egoisten und Opportunisten ohne Selbstachtung und Gewissen zu zeichnen, zum anderen den kleinstädtischen Mikrokosmos als von Niedertracht und mangelnder Solidarität regiert zu charakterisieren - und diese Mentalität durch das unauffällige, aber wiederholte Insistieren auf dem historischen Kontext als zeittypisch erscheinen zu lassen. Der mehrfache Bezug zum Begriff der Menschen- 276 Diese Dame wird später Dolls zweite Ehefrau; an jenem Abend allerdings hatte er sie lediglich ein Stück auf ihrem Nachhauseweg begleitet, bevor er betrunken ins Hotel zurückkehrte (vgl. A 55-56). 277 Zu diesem Motiv im Kontext der naturalistischen Literatur vgl. oben, Kap. B. V.2.2.2. VII.2. Textanalysen 369 würde, der in der Folge zu einem Leitmotiv wird, dient der Stigmatisierung des Abfalls von einer ganz grundlegenden Menschlichkeit. Die moralische Würdelosigkeit als Zeitkrankheit ist auch und gerade nach Kriegsende akut. In seinem Amt als Bürgermeister erlebt Doll, dass seine Mitmenschen „so böse, so kleinlich, so auf das eigene Ich bedacht“ sind (A 78). Der absolute Vergleich suggeriert, dass es sich eher um allgemeine Wesenszüge als um individuelle Verhaltensweisen handelt. Symptomatisch ist die Figur Zaches: Aus reinem Opportunismus und Profitstreben der Partei beigetreten, „war er durch viele Jahre [ein] eigensüchtiger Schädling und Feind des Volkes gewesen“ (A 84); nach Kriegsende hortet er Waren und Vorräte, während andere Not leiden. Wieder ist Dolls Urteil vernichtend: „Verrottet und verfault, bis ins Mark“ (A 87), sei Zaches, dessen „schamlose[r], grauenhafter Egoismus“ Doll „erschüttert“ (A 90). Später erfährt Doll „am eigenen Leibe, […] wie verwildert und verkommen dieses Volk war“ (A 259), als sein Haus geplündert wird, als Rache für sein Engagement für die sowjetische Besatzungsmacht. Doll hat den Eindruck, dass immer weiter, wie in den vergangenen zwölf Jahren, das Schlechte triumphierte, dass alles eigentlich immer minderwertiger wurde. Es schien keine Besserungsmöglichkeit mehr für dieses Volk zu geben. Er hatte oft das Gefühl, unter dem Druck der Entbehrungen wurden sie nur noch nazistischer. (A 260) Gegenüber dem allgemeinen Würdeverlust, den eine Metaphorik des Tierhaften, 278 der Fäulnis und des Verfalls, aber auch eine Persiflage des NS -Jargons („Schädling“, „Feind des Volkes“, „minderwertiger“) illustriert, besteht Doll zunächst auf seiner moralischen Überlegenheit. 279 Dieser vermeintliche Vorzug wird jedoch sowohl aus Dolls Sicht als auch aus der Perspektive des Rezipienten relativiert. Doll gesteht sich zum einen ein, dass er selbst, obwohl er die Ungerechtigkeit und die Verbrechen des Regimes registrierte, untätig blieb und so „mitschuldig“ wurde (A 40) - eine für die unmittelbare Nachkriegszeit durchaus bemerkenswerte Erkenntnis. Zum anderen verfällt Doll nach Phasen der 278 Tatsächlich werden Tiermetaphorik und -vergleiche leitmotivisch eingesetzt, um den moralischen Verfall und die Würdelosigkeit der Deutschen zu suggerieren. Der trinkende Tierarzt etwa trägt den Spottnamen „Farken-Wilhelm“ (A 46); Doll bezeichnet seine Landsleute als „kleine bösartige Tiere“ (A 92; vgl. A 94); die ersten russischen Soldaten, die in der Kleinstadt eintreffen und die Doll eigentlich freundlich begrüßen will, sehen ihn „[m]it Recht“ an „wie ein kleines, böses, verächtliches Tier“ (A 38). 279 Vgl. ähnlich Geoff Wilkes, Hans Falladaʼs Crisis Novels 1931-1947, Bern [u. a.] 2002, S. 89-97. - Kurz nachdem Doll dem Trinker und Verleumder Wilhelm einen Drohbrief geschickt hat, verspürt er „Reue“: „Dies war seiner nicht würdig [! ], er hatte sich auf das Niveau seiner Gegner begeben, statt sie schweigend zu verachten, wie es bisher sein Standpunkt gewesen“ (A 59). 370 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust inneren und äußeren Entrüstung über die Würdelosigkeit der Deutschen sowie euphorischem Zukunftsoptimismus in Zustände „innere[r] Krise“, in denen ihn „Unglaube, Zweifel an sich und der Umwelt“ quälen und ihn eine „nichtswürdige Apathie“ überkommt (A 77). Moralisch fragwürdig wird diese Apathie, wenn sie nicht ein passiv erlittener, sondern ein aktiv herbeigeführter Zustand ist, nämlich die bewusste Flucht in den Morphiumrausch, die Doll und seine Frau immer wieder unternehmen: „Eine zerstörte Welt, die wieder aufzubauen, jeder Wille, jede Hand benötigt wird. Sie aber liegen und träumen. Sie lieben nichts mehr, und sie leben eigentlich auch nicht mehr. Sie haben nichts mehr, und sie sind nichts mehr “ (A 125; m. H.). Die Entscheidung, die eigene Verantwortung zu suspendieren und sich der Fremdbestimmtheit der Sucht hinzugeben, kommt einer Selbstnegation gleich. Wenn Fallada Doll während eines mehrtägigen Rausches in Form erlebter Rede denken lässt: „Wozu sollte er aufstehen? Er hatte da draußen nichts zu tun, für ihn gab es keine Aufgabe und Pflicht mehr“ (A 128), rückt zum einen der klinische Befund in den Fokus: die extreme Teilnahms-, Antriebs- und Empathielosigkeit als Folge der Suchtkrankheit, die metaphorisch für den vom Autor bereits im Vorwort diagnostizierten apathischen Gemütszustand der Deutschen nach dem Krieg steht. 280 Zum anderen aber enthält die Zeichnung des Süchtigen Doll eine scharfe Anklage: Sein Verhalten ist ein Solidaritätsbruch, ein klägliches Scheitern an der persönlichen Verantwortung für das familiäre, aber auch das allgemeine gesellschaftliche Wohl. Tatsächlich gäbe es genug „Aufgabe[n] und Pflicht[en]“, nicht zuletzt seine eigenen, im Text nur beiläufig erwähnten Kinder betreffend. 281 Der Selbstentzug führt bis an den Rand des Suizids, mit dem Doll immer wieder kokettiert (vgl. A 144-147). Er bewundert sogar den verhassten Dr. Wilhelm, der „den Mut gehabt [hat], zu tun, was ich zu tun nicht den Mut habe - obwohl ich Tag für Tag auch immer mehr verliere an Würde, Selbstachtung, Scham, Glauben und Hoffnung“ (A 67). Auch in Bezug auf sich selbst diagnostiziert Doll den Würdeverlust - für den metaphorisch wiederum seine Drogensucht, der Verlust von Entscheidungsgewalt und Handlungsfähigkeit, steht. Doch so, wie sich Momente des selbstbewussten Urteilens über die Mitmenschen mit Phasen der Verzweiflung und Apathie abwechseln, folgen auf Phasen des Selbstentzugs und des Selbstverlusts Momente der Ein- und Klarsicht mit zukunftsgerichteten Vorsätzen: „Nein, er hatte sich wahrhaftig weit verloren, er war in ein beschämend nutzloses, faules Parasitendasein versunken“ (A 155). Die Metaphern des Verfaulens und des Parasitären, die Doll benutzt hatte, um die deutsche Würdelosigkeit zu beschreiben, wendet er nun in schonungsloser Selbstkritik auf sich selbst an. 280 Vgl. Luckscheiter, Am Nullpunkt des Erinnerns, S. 59. 281 Vgl. dazu auch Wilkes, Falladaʼs Crisis Novels, S. 97. VII.2. Textanalysen 371 Gleichwohl werden dem Protagonisten zwei Möglichkeiten vor Augen geführt, um die Würdelosigkeit zu überwinden: die absichtslose Menschlichkeit und die literarische Produktion. In der Tat erlebt Doll nicht nur Egoismus, Bosheit und tyrannischen Bürokratismus (vgl. A 186-189), sondern auch überraschende Gesten der Menschlichkeit. Die Pflegerin im Sanatorium etwa, in dem Doll seine Sucht kurieren soll, kennzeichnet eine einfache, wenn auch raue Humanität (vgl. A 169); die Ladenbesitzerin Mutter Minus versorgt ihn auch ohne Marken mit Lebensmitteln und liefert dafür eine lakonische Begründung: „Mensch bleibt Mensch“ (A 180). Besonders vielsagend schließlich ist jene Episode, in der ein Nachbar mit dem sprechenden Namen „Grundlos“ Doll in einem auf den heiligen Martin anspielenden Akt der Solidarität seinen Mantel schenkt (A 182). Dass die Deutschen - trotz allem - zu solch grundlosen, selbstlosen Akten der Menschlichkeit fähig sind, lässt Doll in einem für ihn typischen Anfall von (freilich nicht lang anhaltender) Euphorie sein Urteil revidieren: Ach, wie falsch hat er in seiner Depression die Deutschen gesehen! Der Anstand, die einfache Rechtlichkeit […], sie werden dieses Unkraut der Nazis aus Denunziationen, Neid, Hass überwältigen, ersticken -! […] Die Menschen helfen also einander wieder, keiner steht ganz allein auf der Welt, jeder vermag zu helfen, jedem kann geholfen werden. (A 183) Der Ausweg aus der Würdelosigkeit liegt zumindest zeitweise im Glauben an eine Utopie des menschlichen Miteinanders, mithin in der naturrechtlichen socialitas . Doll erhält zudem ein ganz konkretes Angebot, um sich selbst aus der Apathie zu erheben: Der Lektor Völger teilt ihm die Erwartung des Emigranten Granzow mit, Doll solle „einen volkstümlichen Roman über die letzten Jahre […] schreiben“ (A 224). Doll wehrt zunächst ab und begründet dies poetologisch: [Es kam mir] ganz unmöglich vor, Bücher zu schreiben wie vordem, als sei nichts geschehen, als sei uns nicht eine ganze Welt zusammengebrochen. Ich dachte, man müsse nun ganz anders schreiben, nicht so, als habe es das Tausendjährige Reich nie gegeben, und man brauche nur an das anzuknüpfen, was man vor 33 geschrieben hat. Nein, etwas ganz Neues muss man beginnen, inhaltlich schon ganz gewiss, aber auch in der Form … […] Aber ich weiß nicht - ich habe bisher keine Möglichkeit entdeckt. […] Wer sind wir denn noch, wir Deutsche, in dieser durch uns zerstörten Welt -? Zu wem sollen wir sprechen, zu den Deutschen, die keine Lust haben, uns anzuhören, oder zum Ausland, das uns hasst -? (A 224-225) Das Projekt schriftstellerischer Tätigkeit nach dem Dritten Reich - hier drängen sich (literatur)geschichtliche Schlagworte wie „Stunde Null“ oder „Kahlschlag“ 372 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust auf - setzt laut Doll nicht nur einen radikalen formalen wie thematischen Neuanfang voraus, sondern auch eine Redefinition der eigenen wie der kollektiven Identität und der literarischen Öffentlichkeit, des ansprechbaren Publikums. Diese poetologischen Probleme werden jedoch nicht expliziert. Doll äußert sich im Gespräch mit Granzow lediglich zu seinen „Erinnerungen an die Nazis“ (A 234), an denen er, wie der Leser etwas unvermittelt erfährt, seit einiger Zeit schreibt und die er ausdrücklich nicht als Roman ansieht (vgl. A 235): 282 „Sehen Sie, ich habe keine großen Scheußlichkeiten erlebt, und die kleinen Nadelstiche, die ich erfahren, so minutiös aufzuzeichnen … Vielleicht hätte das Buch dadurch ein wenig Interesse, weil es zeigt, wie ein Mensch nur durch Nadelstiche bis an den Selbstmord getrieben werden kann … […] [I]ch habe soviel erlebt, darüber habe ich meinen Hass gegen die Nazis völlig verloren und gegen einen allgemeinen Menschenhass eingetauscht. Die Nazis existieren für mich nicht mehr …“ […] Granzow schüttelte energisch mit dem Kopf. (A 234) Dolls Interesse in seinen Aufzeichnungen - wie Falladas in seinem Roman - gilt nicht den historischen, politischen, kriminalistischen oder philosophischen, sondern den individualethischen Dimensionen des Nationalsozialismus und deren Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben. 283 Im letzten Kapitel des Textes, das den optimistischen Titel „Die Genesung“ (A 237) trägt und ins Präsens als Erzähltempus wechselt, erfährt der Leser, dass Doll immer noch schreibt - Literatur als „Therapeutikum“ 284 also, als Mittel zur Überwindung der Würdelosigkeit, sowohl für den Produzenten als auch für den Rezipienten? Sogleich wird eingeschränkt: Er schreibt „nur aus Pflichtgefühl, ohne Glauben und Elan“ (A 240). Dolls „Gesundung“ - so der programmatische Titel des zweiten Romanteils, der einen positiven Ausgang suggeriert - ist ambivalent und zweifelhaft. Die Forschung hat das vermeintliche Happy End zu Recht als „forcierte[n] Optimismus“ problematisiert. 285 Vielleicht macht genau dies Fal- 282 Fallada selbst hatte seine Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus 1944 während eines Gefängnisaufenthalts in Form eines Tagebuchs niedergeschrieben. Vgl. In meinem fremden Land. Gefängnistagebuch 1944, Berlin 2009. Vgl. dazu Ächtler, „Ein gemäßigter Pessimist“, S. 73-75. 283 Ächtler charakterisiert Falladas Erzählwerk treffend als „Soziologie aus der Froschperspektive“ (ebd., S. 72). 284 Luckscheiter zufolge „[legitimiert] Fallada die Literatur nicht nur als privates Therapeutikum, sondern vor allem als Handlung, als gesellschaftliche Kraft“ (Am Nullpunkt des Erinnerns, S. 63). 285 Vgl. dazu Ächtler, „Ein gemäßigter Pessimist“, S. 76-77 und Luckscheiter, Am Nullpunkt des Erinnerns, S. 66. Der „fragwürdig forcierte Optimismus“ (Luckscheiter, Am Nullpunkt des Erinnerns, S. 66) und die „Aufbaurhetorik des Romanschlusses wirken eigentümlich aufgepropft und dürfen mit einigem Grund als Konzession an den Förderer Johannes R. VII.2. Textanalysen 373 ladas Roman zu einem authentischen Zeugnis der unmittelbaren Nachkriegsbefindlichkeit: Die deutsche Würdelosigkeit wird im Text durch verschiedene Chiffren der Würdelosigkeit - Alkohol- und Drogensucht, Tiermetaphorik, Episoden der Niedertracht und des Opportunismus - nachdrücklich illustriert. Als weder leichten noch schnellen noch sicheren Ausweg postuliert der Text das selbstbestimmte, solidarische und verantwortliche Handeln des Einzelnen als Mitglied eines gesellschaftlichen Gebildes - stets im Wissen um die eigene moralische Würdelosigkeit. VII.2.4.2. Die Menschenwürde der Täter und die scheiternde Bewältigung der Vergangenheit: Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995) Schlinks inzwischen kontrovers diskutierter 286 Roman Der Vorleser thematisiert weniger Nationalsozialismus und Holocaust an sich als deren Aus- und Nachwirkungen auf die psychische und moralische Disposition der Nachgeborenen. 287 Als exemplarischer Vertreter dieser Generation sieht sich der Erzähler Michael Berg mit Wut-, Schuld- und Schamgefühlen, aber auch mit Abwehrreaktionen konfrontiert, die durch seine persönliche Verstrickung - er hatte als Jugendlicher eine Liebesbeziehung zur später als NS -Täterin verurteilten Hanna Schmitz - noch verschärft werden. In der literaturwissenschaftlichen und publizistischen Auseinandersetzung mit dem Text stehen die Schuldthematik, die Frage nach einem adäquaten literarischen Umgang mit dem Holocaust und der Wahrscheinlichkeit des fiktionalen Szenarios, rechtshistorische und -philosophische Implikationen, die vermeintliche moralische Fragwürdigkeit des Romans und das Verhältnis zwischen Täter- und Opferperspektive im Vordergrund. 288 Lothar Bluhm hat darauf hingewiesen, dass „die Frage nach dem Becher sowie den durch Becher vertretenen ‚Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‘ angesehen werden“ (Ächtler, „Ein gemäßigter Pessimist“, S. 77). 286 Zur publizistischen und literaturwissenschaftlichen Rezeption des Romans vgl. zusammenfassend Meike Herrmann, Vergangenwart. Erzählen vom Nationalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren, Würzburg 2010, S. 109-111; Hans- Joachim Hahn, Art. Bernhard Schlink: Der Vorleser, in: Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, hg. v. T. Fischer u. M. N. Lorenz, Bielefeld 2007, S. 345-347; Katharina Hall, Text Crimes in the Shadow of the Holocaust: The Case of Bernhard Schlinkʼs Der Vorleser / The Reader , in: German Text Crimes. Writers Accused, from the 1950s to the 2000s, hg. v. T. Cheesman, Amsterdam / New York 2013, S. 193-208. 287 Vgl. dazu Herrmann, Vergangenwart, S. 111 und Karin Tebben, Bernhard Schlinks Der Vorleser . Zur ästhetischen Dimension rechtsphilosophischer Fragestellungen, in: Euphorion 104 (2010), S. 455-474, hier S. 456. 288 Vgl. etwa William Collins Donahue, Der Holocaust als Anlass zur Selbstbemitleidung. Geschichtsschüchternheit in Bernhard Schlinks „Der Vorleser“, in: Rechenschaften (wie Anm. 234), S. 177-197; Ernestine Schlant, Die Sprache des Schweigens. Die deutsche 374 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Stellenwert des Problemfeldes Würde“ im Vorleser dagegen bislang vernachlässigt wurde, und dies sei umso überraschender, als zum einen „das gesamte literarische Werk [Schlinks] durch einen eigenen Würde-Diskurs geprägt ist“ 289 und sich der Jurist Schlink zum anderen in verschiedenen Publikationen, darunter ein Grundrechtskommentar, mit dem Begriff der Menschenwürde auseinandergesetzt hat. 290 Nach Bluhms Interpretation ist das Skandalon des Vorlesers die Tatsache, dass der Text die Geltung des Menschenwürdeprinzips auch für die NS -Täter postuliert: Die von Schlink bewusst provozierten Irritationen ergeben sich aus der - vom Standpunkt eines aus der Opfer- und Mitleidsperspektive wertenden Gerechtigkeitsempfindens - empörenden Konstellation, dass hier einer Person, die als KZ -Aufseherin selbst die Würde Anderer auf das Schlimmste verletzt hat, eine ganz individuelle und schützenswerte Würde zugesprochen wird. 291 Als der Erzähler in den 1960er Jahren seine frühere Geliebte unter den in einem NS -Prozess angeklagten KZ -Aufseherinnen wiedererkennt und schlagartig realisiert, dass sie Analphabetin ist und dies verheimlicht, steht er vor der Frage, ob er dieses Wissen dem Vorsitzenden mitteilen muss, d. h. „welchen Stellenwert er der Entscheidungsfreiheit“ Hannas zuerkennen soll. 292 Michael entscheidet sich dagegen. Bluhm folgert: „Die Einsicht, dass Liebe sowie Achtung und Schutz der Menschenwürde auch bedeuten, ‚behutsam mit den Lebenslügen der An- Literatur und der Holocaust, München 2001, S. 258-268; Klaus Lüderssen, Die Wahrheit des „Vorlesers“, in: Rechenschaften (wie Anm. 234), S. 165-176; Beate M. Dreike, Was wäre denn Gerechtigkeit? Zur Rechtsskepsis in Bernhard Schlinks Der Vorleser , in: German Life and Letters 55.1 (2002), S. 117-129; Tebben, Schlinks Der Vorleser . 289 Lothar Bluhm, „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Anmerkungen zu Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“, in: Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europäischen Kontext. Interpretationen, Intertextualität, Rezeption, Trier 2003, S. 149-161, hier S. 154. - Bluhm geht neben dem Vorleser auch auf Selbs Justiz (zus. mit Walter Popp, 1987) und die Erzählung Der Seitensprung aus dem Band Liebesfluchten (2000) ein. 290 Vgl. Bodo Pieroth / Bernhard Schlink [u. a.], Grundrechte: Staatsrecht II, Heidelberg [u. a.] 30 2014 [urspr. 1984], hier S. 87-94. Vgl. dazu Bluhm, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, S. 157-158. Vgl. weiterhin Schlinks Essay Die überforderte Menschenwürde (in: Vergewisserungen. Über Politik, Recht, Schreiben und Glauben, Zürich 2005, S. 125-136) über die grundrechtliche Bedeutung des Würdebegriffs für aktuelle medizinethische Debatten, ein Interview mit Schlink zu demselben Thema (Ist Würde wägbar? Ein Interview zur Stammzellenforschung mit Prof. Dr. Bernhard Schlink, in: Humboldt Forum Recht 8 (2003), S. 1-6), seine Schrift Aktuelle Fragen des pränatalen Lebensschutzes (Berlin 2002), den Essay The Concept of Human Dignity (wie S. 17, Anm. 4) sowie seine oben behandelte Heidelberger Poetikvorlesung (s. oben, S. 296 - 298). 291 Bluhm, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, S. 158. 292 Ebd., S. 159. VII.2. Textanalysen 375 deren umzugehen‘, könnte durchaus als ein Subtext des Romans verstanden werden.“ 293 Tatsächlich problematisiert Der Vorleser die Menschenwürde nicht primär und nicht nur aus juristischer Perspektive; zudem ist sie in Schlinks formal konventionellem Text eher ein inhaltliches als ein genuin ästhetisches Problem. Trotzdem kreist der Roman in allen drei Teilen um den Begriff, seine Grundlagen und seine Gültigkeit. Gegen Ende des zweiten Teils, in dem der Ich-Erzähler auf den Prozess zurückblickt, finden sich zwei komplementäre Dialogszenen, die beide die Menschenwürde thematisieren. Um sich klar zu werden, ob er sein prozessrelevantes Wissen um Hannas Analphabetismus notfalls auch gegen ihren Willen mit dem Richter teilen muss, sucht der angehende Jurist Berg zunächst das Gespräch mit seinem Vater, „dem Philosophen“. 294 Dieser argumentiert mit einem kantisch geprägten Menschenwürdebegriff: „Er belehrte mich über Person, Freiheit und Würde, über den Menschen als Subjekt und darüber, daß man ihn nicht zum Objekt machen dürfe“. Der Vater sieht „keinerlei Rechtfertigung dafür, das, was ein anderer für sie [i. e. erwachsene Menschen; MG ] für gut hält, über das zu setzen, was sie selbst für sich für gut halten“. Michael hakt nach, ob nicht die Sorge um das persönliche Glück des Anderen den Menschen dazu berechtige, über seinen Kopf hinweg zu handeln. „Wir reden nicht über Glück“, entgegnet der Vater, „sondern über Würde und Freiheit“ (V 136). Der Vater formuliert also eine Vorstellung von Menschenwürde, die den absoluten Respekt vor den Entscheidungen des Anderen einfordert, selbst wenn diese widersinnig und falsch erscheinen. Im Hinblick auf sein eigenes Dilemma kommt Berg daraufhin zu dem scheinbar klaren Schluss: „Es gab nichts mehr zu moralisieren. Ich mußte mich nur noch entscheiden“ (V 138). Doch gerade diese lapidare Einschätzung zielt auf ein Kernthema des Romans: Das Konzept der menschlichen Fähigkeit zur freien Entscheidung und die dabei implizierte Frage nach der Autonomiefähigkeit des Einzelnen werden im Text leitmotivisch problematisiert. Nachdem der Vater dem Erzähler die Menschenwürde als Handlungsmaxime in der Interaktion mit Mitmenschen definiert und anempfohlen hat, kommt es nur einige Seiten später zu einem zweiten Gespräch über die Menschenwürde, diesmal mit einem LKW -Fahrer, der Michael auf seinem Weg zur Be- 293 Ebd., S. 160. Bluhm spielt dabei auf ein Zitat aus Schlinks zusammen mit Walter Popp verfassten Kriminalroman Selbs Justiz (Zürich 1987, S. 115) an. 294 Bernhard Schlink, Der Vorleser, Zürich 1997 [urspr. 1995], S. 134. Im Folgenden wird stets nach dieser Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (V Seitenangabe) belegt. - Vgl. V 134: „Ich suchte das Gespräch mit dem Philosophen, der über Kant und Hegel geschrieben hatte, von denen ich wußte, daß sie sich mit moralischen Fragen beschäftigt hatten.“ 376 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust sichtigung des KZ s Natzweiler-Struthof mitnimmt und der, so suggeriert der Text, auf eine nicht näher bestimmte Weise an NS -Verbrechen beteiligt war. Der Fahrer mokiert sich über Michaels Wunsch, sich selbstständig mit der NS -Vergangenheit auseinanderzusetzen und sie zumindest in Ansätzen zu verstehen. Sodann gibt er Berg seine eigene Deutung des Holocaust: Die Mörder töteten weder aus bestimmten persönlichen oder ideologischen Motiven noch weil sie glaubten, Befehlen folgen zu müssen. Vielmehr waren ihnen die Opfer „völlig gleichgültig“ (V 146). Provokant wendet er sich an Berg: „Kein ‚aber‘? Kommen Sie, sagen Sie, daß ein Mensch einem anderen so gleichgültig nicht sein darf. Haben Sie das nicht gelernt? Solidarität mit allem, was Menschenantlitz trägt? Würde des Menschen? Ehrfurcht vor dem Leben? “ (V 146). Die Funktion dieser als negatives Pendant zum Gespräch mit dem Vater angelegten Passage ist eine dreifache: Die nationalsozialistischen Verbrechen erscheinen zum einen nicht nur als Verletzung der Menschenwürde der Opfer, sondern als Folge der Nicht- Zuerkennung dieser Qualität gegenüber bestimmten Menschengruppen. Zum anderen sorgt die Szene für Kontrasteffekte: Nachdem der Philosoph emphatisch den ideellen, ethischen Wert der Menschenwürde akzentuiert hat, prallt diese gleichsam auf die historische Realität ihrer Negation und offenbart die dem Begriff inhärente permanente Gefährdung und Zerbrechlichkeit, solange es sich nur um eine idealisierende Formel ohne gelebten Inhalt handelt. Der brutalere und für den historisch informierten Rezipienten irritierende, vielleicht sogar anstößige Kontrast - dies ist der dritte Punkt - entspringt der Figur der Hanna Schmitz, der die Überlegungen zur unbedingt zu respektierenden Menschenwürde gelten, also einer NS -Verbrecherin, die selbst die in ihr als schützenswert geltende Menschenwürde in Anderen aufs eklatanteste verletzt, ja negiert hat. Diese schwierige moralische und aus Sicht der bundesrepublikanischen Verfassungswirklichkeit auch juristisch-rechtsphilosophische Feststellung ist strikt zu trennen vom Vorwurf der Verharmlosung oder der Täter-Opfer-Umkehr. Sie belegt jedoch eindrucksvoll, wie der Wunsch nach Bestrafung und Vergeltung eines schrecklichen Verbrechens schmerzhaft mit den ethisch-anthropologischen Grundwerten einer demokratischen Gesellschaft kollidieren kann. 295 Die vom Vater umrissene Vorstellung von der Unantastbarkeit der Menschenwürde als absoluter Respekt vor der Entscheidung des autonom handelnden Subjekts wird im Text an mehreren markanten Stellen brüchig, die gerade die autonome Entscheidungsfähigkeit der Hauptfiguren in Zweifel ziehen. Bereits 295 Vgl. Bluhm, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, S. 159: „Die Gültigkeit des Prinzips einer allgemeinen, ausnahmslosen Menschenwürde zeigt sich gerade dort, wo sie auf dem Prüfstand steht […].“ VII.2. Textanalysen 377 am Anfang des Romans reflektiert der Erzähler kritisch seine Entscheidung, Hanna Schmitz aufzusuchen: Ich weiß nicht, warum ich es tat. Aber ich erkenne heute im damaligen Geschehen das Muster, nach dem sich mein Leben lang Denken und Handeln zueinandergefügt oder nicht zueinandergefügt haben. Ich denke, komme zu einem Ergebnis, halte das Ergebnis in einer Entscheidung fest und erfahre, daß das Handeln eine Sache für sich selbst ist und der Entscheidung folgen kann, aber nicht folgen muss. […] Es, was immer es sein mag, handelt […]. Ich meine nicht, daß Denken und Entscheiden keinen Einfluß auf das Handeln hätten. Aber das Handeln vollzieht nicht einfach, was davor gedacht und entschieden wurde. Es hat seine eigene Quelle und ist auf ebenso eigenständige Weise mein Handeln, wie mein Denken mein Denken ist und mein Entscheiden mein Entscheiden. (V 21-22; m. H.) Der Erzähler negiert die Notwendigkeit eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen freier, bewusster Entscheidung und tatsächlicher Handlung: Dazwischen kann ein nicht näher konzeptualisiertes „Es“ stehen, das die Subjektautonomie untergräbt. Gleichwohl begnügt er sich bei der Bewertung solcher nicht eindeutig personaler Handlungen auch nicht mit einem rein naturalistischen Determinismusparadigma, lässt er doch durch den mehrfachen Gebrauch des Possessivpronomens keinen Zweifel daran, dass die Verantwortung für die Handlung trotzdem dem Subjekt zuzurechnen ist. Diese an sich anregende Auffassung Bergs wird jedoch problematisch, wenn er sie auf seine frühere Geliebte Hanna und ihre Biographie anwendet. Als er sich ihres verheimlichten Analphabetismus bewusst wird, deutet und bewertet er ihr Handeln mit großer Inkonsequenz. Zunächst relativiert er, wie er es mit Blick auf sich selbst getan hatte, ihre Autonomiefähigkeit und macht sie zu einer Reagierenden: „Nein, habe ich mir gesagt, Hanna hatte sich nicht für das Verbrechen entschieden. Sie hatte sich gegen die Beförderung bei Siemens entschieden und war in die Tätigkeit als Aufseherin hineingeraten“ (V 128). Hannas Schuld resultiert demnach weniger aus einer freien Entscheidung als aus einer Verkettung von Umständen. Gleich im nächsten Satz jedoch schreibt Berg ihr ein hohes Maß an Eigeninitiative und Bewusstsein für die Situation zu, wenn er ihr unterstellt, gezielt das Elend der ihr vorlesenden KZ -Häftlinge gelindert zu haben (vgl. V 128). Ihr Verhalten während des Prozesses wiederum interpretiert er als instinktiven Wunsch, Herrin über die eigene Biographie zu bleiben. 296 296 Vgl. V 128: „Sie kalkulierte und taktierte nicht. Sie akzeptierte, daß sie zur Rechenschaft gezogen wurde, wollte nur nicht überdies bloßgestellt werden. Sie verfolgte nicht ihr Interesse, sondern kämpfte um ihre Wahrheit, ihre Gerechtigkeit.“ Den stark intentional konnotierten Verben (kalkulieren, taktieren, ein Interesse verfolgen) steht das unbestimmtere, aber auch emotionalere, instinktivere Verb „kämpfen“ gegenüber, was wieder 378 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Bergs Versuche der Exkulpation durch die Relativierung der autonomen Entscheidungsfähigkeit Hannas bei gleichzeitiger Suche nach mildernden Umständen verraten weniger einen moralisch problematischen Umgang mit den NS - Verbrechen an sich als das von egoistischen Motiven getragene Bemühen, das Gefühl einer eigenen Schuld zu minimieren: das Gefühl, durch die Liebe zu einer Verbrecherin selbst in ihre Schuld verstrickt zu sein (vgl. V 129). Gleichzeitig unterlaufen sie die vermeintlich klare Menschenwürdedefinition des Vaters. Da Hanna ihren Analphabetismus vor Gericht verheimlicht, wird sie von ihren Mitangeklagten in die Rolle der alleinigen Entscheiderin gedrängt (vgl. V 130), was sie, ohne ihr Geheimnis preiszugeben, nicht entkräften kann. Dies wiederum bringt Berg in eine Entscheidungssituation: Soll er Hannas „verlogene[] Selbstdarstellung“ enttarnen (V 132), obwohl sich darin unmissverständlich ihr Wille äußert, ihr Geheimnis zu bewahren? Mit anderen Worten: Muss er in diesem Fall doch von einer bewussten Entscheidung Hannas ausgehen und diese respektieren? Nach der Unterhaltung mit dem Vater behält Berg sein Wissen für sich. Auf den ersten Blick folgt er damit der Vorstellung seines Vaters, dass die Menschenwürde selbst des schlimmsten Verbrechers den Respekt seiner freien Entscheidungsgewalt verlangt. Der Text jedoch suggeriert eine andere Motivation: Es ist weniger die Achtung vor Hannas Würde, die seine Passivität begründet, als seine eigennützige Bequemlichkeit, sein Unvermögen und seine Angst, sich der Vergangenheit und den eigenen Verstrickungen zu stellen. Ersichtlich wird dies in den bisweilen überdeutlichen, aufdringlichen Kommentaren und Reflexionsvorgängen des erzählenden Ichs. 297 Dass er „gar nicht handeln darf “, empfindet er im ersten Moment als „[a]ngenehm“ (V 137). 298 Nicht weniger als neun rhetorische Fragen hintereinander verraten, dass die Aussicht, vielleicht doch mit Hanna reden zu müssen, in ihm emotionalen Stress und sogar Abwehr hervorrufen (vgl. V 138). 299 Hannas Geheimnis zu bewahren, auch ohne mit ihr zu sprechen, ist deshalb keine autonome ethische den Eindruck erweckt, Hanna handle weniger autonom und reflektiert als vielmehr von einem „Es“ geleitet. 297 Vgl. Herrmann, Vergangenwart, S. 113-119; zur Bedeutung der Erzählperspektive und -haltung für die Interpretation vgl. Tebben, Schlinks Der Vorleser , S. 465 und 467. 298 Vgl. V 137: „Ich wußte nicht, was sagen. Erleichternd? Beruhigend? Angenehm? Das klang nicht nach Moral und Verantwortung.“ 299 Die rhetorische Frage eines sich erinnernden, kommentierenden Ich-Erzählers, oft gleich in gehäufter Anzahl, ist ein für Schlink charakteristisches Stilmittel. Es begegnet immer wieder im Vorleser , aber auch in seiner Selb-Trilogie, und soll suggerieren, dass die Reflexion über die Vergangenheit, das eigene Verhältnis zu ihr und die so konstituierte Identität stattfindet, diese aber nicht zu einfachen oder eindeutigen Ergebnissen führt. Als bisweilen allzu offensichtlicher moraldidaktischer Kunstgriff soll die rhetorische Frage auch den Rezipienten zur Reflexion über die „Gegenwart der Vergangenheit“ - so eine griffige Formulierung Schlinks - anregen. VII.2. Textanalysen 379 Entscheidung, sondern ein passives Ausweichen. Der Verweis des Vaters auf die Menschenwürde nimmt Berg die Entscheidung ab und bietet ihm einen leichten Ausweg (vgl. V 155). Dass er es „nicht schaffte, mit Hanna zu reden“ (V 153), beschäftigt das sich erinnernde erzählende Ich allerdings noch in der Erzählgegenwart. Wieder zeigt eine Reihe rhetorischer Fragen an, dass ein Reflexionsvorgang zwar in Gang gesetzt, aber keineswegs zu einem Ergebnis gebracht wurde (vgl. V 153): Die Vergangenheit ragt in die Gegenwart hinein. Selbst den eigenen Status in der Beziehung zu Hanna kann Berg nicht bestimmen: Mal sieht er sich zornig als den „kleine[n] Vorleser“, der „benutzt“ wurde, als zum Liebesobjekt herabgewürdigten „kleine[n] Beischläfer“ (V 153), mal beharrt er darauf, Hanna „nicht nur geliebt“, sondern auch „gewählt“ (V 162) und so als Subjekt Schuld auf sich geladen zu haben. Dieses für das erzählende Ich typische Oszillieren verweist auf den „unbewältigte[n], unbewältigbare[n] Rest“, 300 der ganz offensichtlich Bergs Berufs-, Familien- und Liebesleben bestimmt hat und ihn sich nicht von Hanna lösen lässt. Es ist ein eklatantes Scheitern bei der persönlichen Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit. 301 Der Menschenwürdediskurs des Vorlesers ist demnach widersprüchlich und spannungsreich. Einerseits kollidiert das Prinzip der Menschenwürde, im Text zunächst aus der Perspektive des Ethikers definiert, im Kontext der Handlung aber auch in seinen rechtsphilosophischen Dimensionen zu betrachten, mit dem Wunsch nach konsequenter juristischer und persönlicher Aufarbeitung und Bewältigung. In letzter Konsequenz steht der Schutz der Menschenwürde sogar über dem Ideal der Gerechtigkeit. Andererseits wird die Menschenwürde zu einem hochproblematischen Begriff: Zum einen zieht der Roman die Grundlagen des innerfiktional formulierten Würdebegriffs - Personalität, Entscheidungsfreiheit, Autonomie - in Zweifel. Der Erzähler höhlt den Begriff sogar bewusst aus, indem er Hannas Verbrechen als nicht intentional zu relativieren versucht. Zum anderen tut Michael Berg, als er Hannas Geheimnis respektiert und damit ihrer Würde Rechnung trägt, sozusagen das Richtige aus den falschen Gründen. 302 Sein Schweigen, v. a. gegenüber Hanna, ist ein Symptom seines Scheiterns, denn sein eigenes Verhältnis zur Vergangenheit und zu Hannas Schuld, die er in gewissem Sinne auch zu seiner eigenen macht, kann er auf diese Weise nicht klären. Der Begriff der Menschenwürde, dessen genauer Inhalt im Text 300 Bernhard Schlink, Selbs Mord, Zürich 2001, S. 223. 301 Das Moment des Scheiterns Michael Bergs wird völlig zu Recht auch von anderen Interpreten betont. Vgl. etwa Bluhm, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, S. 161; Herrmann, Vergangenwart, S. 124; Tebben, Schlinks Der Vorleser , S. 455. 302 Vgl. ähnlich Bluhm, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, S. 160. 380 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust somit unklar bleibt, ist letztlich genauso aporetisch wie die Versuche des Erzählers, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. 303 VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution-- Bertolt Brecht, Arthur Koestler und Heiner Müller Alle andere [sic] Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will. Eben deswegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns anthut, macht uns nichts geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erleidet, wirft seine Menschheit hinweg. 304 Dieser Kommentar Schillers zum Zusammenhang von Menschsein, Würde und Gewalt setzt die Vorstellung eines klar definierten, konstanten (wenn auch noch nicht voll ausgebildeten und daher perfektiblen) Subjekts voraus, eines Individuums, das einen absoluten Wert besitzt. Gerade weil der Mensch als rationales Wesen über einen reflektierten freien Willen verfügt, besitzt er Würde - und deshalb stellt Gewalt gegen den Menschen einen Verstoß gegen die vor ihm absolut gebotene Achtung dar, eine Verletzung seiner Würde. Da der Mensch auch zu Selbstachtung, also zur Achtung seiner eigenen Würde, verpflichtet ist, darf er Gewalt gegen sich niemals akzeptieren. Genau diese Prämissen des Schillerschen Menschenbildes werden in der marxistisch-leninistischen bzw. stalinistischen Denkweise, wie sie Bertolt Brecht inszeniert, Heiner Müller reflektiert und Arthur Koestler kritisiert, obsolet. Wie oben dargelegt, ist ein streng relatives Wertdenken für die nationalsozialistische Ideologie konstitutiv, das die Vorstellung einer allen Menschen gleichermaßen innewohnenden Würde auf frappierende und verhängnisvolle Weise untergräbt. 305 Den absoluten Wert des Individuums stellt auch der zur politischen Doktrin gewordene Marxismus in Frage; obwohl die ideologischen Grundlagen der beiden Weltbilder andere sind, sind ihre Konsequenzen für den Stellenwert der Menschenwürde ähnliche. Wurden in Bezug auf den Nationalsozialismus solche literarischen Texte untersucht, die die - aus NS -Sicht - ‚Feinde‘ der Bewegung in den Blick nahmen, so stehen im Folgenden mit Brecht und Müller zwei Protagonisten der kommunistisch-stalinistisch geprägten deutschen Literatur im Mittelpunkt des Interesses. 303 Vgl. ähnlich Tebben, Schlinks Der Vorleser , S. 456 und 466. 304 Schiller, Ueber das Erhabene; NA 21, 38. 305 Vgl. dazu oben, Kap. B.VII.1.1. VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution 381 VII.3.1. Bertolt Brechts Lehrstück Die Maßnahme (1930) Brechts Maßnahme 306 ist eine dezidiert didaktisch konzipierte Exploration der Frage, welchen Wert das Individuum im kommunistischen Weltbild besitzt, vor allem mit Blick auf den angestrebten Sieg der kommunistischen Revolution. Die Maßnahme illustriert die durchaus brutale, aber in aller Klarheit dargelegte Einsicht, dass das kommunistische Welt- und Menschenbild und der individualistische, auf der aufklärerisch-klassischen Tradition beruhende (und als ‚bourgeois‘ diskreditierte) Menschenwürdebegriff auf eklatante Weise kollidieren. In einigen seiner mehr oder weniger fragmentarischen Texte und Notizen, die in zeitlicher Nähe zum Lehrstück entstanden sind, berührt Brecht auf markante Weise das Problem des Werts und des Status des Individuums, ohne dabei explizit auf den Begriff der Würde zu rekurrieren. Die „Zeit des Individualismus“, hielt Brecht etwa 1930 fest, liege hinter den Menschen, weshalb sich auch die Ethik nicht mehr am Einzelnen orientieren könne ([ Lehren vom richtigen Verhalten ]; BFA 21, 405). 307 Radikaler klingt dies noch, wenn Brecht eine für sein Denken entscheidende und folgenschwere Opposition betont: „Der Mensch ist nicht vorstellbar ohne menschliche Gesellschaft“ ([ Individuum und Gesellschaft ], um 1930; BFA 21, 401-402). Da das Individuum nicht sinnvoll als einzelne, losgelöste Entität gedacht werden kann, büßt es auch seinen absoluten Wert ein: „Ein Kollektiv ist nur lebensfähig von dem Moment an und so lang, als es auf die Einzelleben der in ihm zusammengeschlossenen Individuen nicht ankommt.“ Der unbedingte Vorrang der Ziele, Bedürfnisse und Rechte der Gesellschaft, des Kollektivs vor jenen des einzelnen Menschen bedeutet demnach, dass im Zweifelsfall dessen Tod, ja Vernichtung in Kauf zu nehmen ist. Hier formuliert Brecht nun einen vielsagenden Zusatz: „[O]bwohl der Tod des einzelnen rein biologisch für die Gesellschaft uninteressant ist, soll das Sterben gelehrt werden“. Das angesichts des Primats des Kollektivs notwendige Sterben zu lehren, ist ganz offensichtlich der Zweck eines Lehrstücks wie Die Maßnahme . 308 306 Die Maßnahme existiert in mehreren Fassungen; die früheste stammt aus dem Jahr 1930. Der folgenden Analyse liegt die überarbeitete, sog. Versuche -Fassung von 1931 zugrunde. Zu den unterschiedlichen Fassungen vgl. Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, 30 Bde., hg. v. W. Hecht, J. Knopf, W. Mittenzwei u. K.-D. Müller, Berlin und Weimar / Frankfurt / M. 1989-2000, hier Bd. 3, S. 431-438. Im Folgenden wird stets nach dieser Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (BFA Band, Seitenangabe) belegt. Vgl. weiterhin Bertolt Brecht, Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg, Frankfurt / M. 1972. 307 Ähnlich spricht Brecht 1929 auch von der „Zertrümmerung der Person“ (BFA 21, 320). 308 Auch der Kommentar in BFA 21, 755 weist auf Das Badener Lehrstück vom Einverständnis und Die Maßnahme hin. - Vgl. weiterhin den lakonischen Satz: „Leute sind wertlos für die Gesellschaft“ (BFA 21, 402). 382 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Statt des Individuums, des einzelnen Subjekts rückt Brecht also Begriffe wie das Kollektiv, die Gruppe, die Masse oder, marxistisch pointiert: die Klasse ins Zentrum seines ideologischen, aber auch poetologischen Interesses. Theorie und Praxis des epischen Theaters übernehmen das neue Menschenbild. „Das Individuum fällt als Mittelpunkt“ des Dramas, notiert Brecht 1930; die entscheidenden Akteure sind auch im dramatischen Kontext „Gruppen“, denen der Einzelne angehört, und als Mitglied einer solchen Gruppe nimmt er „bestimmte Haltungen“ ein, die „ der Zuschauer als Masse [studiert]“ ( BFA 21, 441; Herv. i. O.). Dass der Mensch sowohl auf der Bühne als auch als Rezipient stets und ausschließlich als Teil der Gesellschaft zu betrachten und zu beurteilen ist, expliziert Brecht in Grenzen der nichtaristotelischen Dramatik (um 1938; BFA 22 / 1, 393). Kennzeichen der neuen Dramatik ist deren veränderte „Haltung […] gegenüber der Einzelperson“: Diese verbleibt tatsächlich in einem Stand der Unsicherheit und Vagheit. Die Kausalität erscheint zwingend nur bei größeren Menschengruppen, bei Klassen. Diese Dramatik wendet sich an den einzelnen Zuschauer nur insofern, als er ein Mitglied der Gesellschaft ist. Sie demonstriert das Zusammenleben der Menschen so, daß es beeinflußbar von der Gesellschaft erscheint. Die „anthropologische Prämisse“ 309 der von Brecht konturierten Dramatik ist nicht mehr das freie, autonome und zu reflektierten Handlungen fähige Individuum, das selbstbewusst die Realität formen und verändern kann; die Handlungsmacht liegt beim Kollektiv, bei der Klasse, und nur aus ihnen kann letztlich eine revolutionäre Veränderung hervorgehen. Brecht fährt fort: Das „große Individuum“ ist aus der Wirklichkeit nicht verschwunden und seine Abbildbarkeit nicht aus der Literatur, aber es erscheint anders konstituiert; es kann z. B. kaum als durch den Grad seiner Unbeeinflußbarkeit groß definiert werden. […] Es wäre paradox und übertrieben ausgedrückt, wenn man geradezu sagte, die Masse trete jetzt auf wie ein Individuum, das Individuum aber wie eine Masse, aber es ist doch gut, diese extreme Vorstellung flüchtig mitzumachen. Der einzelne ist auch jetzt noch ein einzelner und tritt auf als ein einzelner, nur hat er eine Unbestimmbarkeit bekommen, eine Abhängigkeit, wie sie früher die Masse hatte, die sie jetzt nicht mehr hat, denn sie wiederum ist bestimmter geworden und selbständiger, weniger abhängig vom Individuum. Eine solche Betrachtungsart ist eine praktische, sie erleichtert das Handeln, welches ein massenhaftes, gesellschaftliches sein muß. 309 Zu diesem Begriff vgl. Gerigk, Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes, S. 11-15. VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution 383 Entscheidend sind die beiden Adjektive „beeinflußbar“ und „praktisch[]“; sie zielen auf den didaktisch-pragmatischen Kern von Brechts Dramatik, die danach fragt, wie (aus kommunistischer Sicht) gesellschaftlich richtiges Handeln möglich ist, was es einschränkt oder verhindert, und welche Opfer im Ernstfall vom Individuum zu verlangen sind. * Liest man Die Maßnahme jenseits der beiden interpretatorischen Extreme einer radikalen (politisch-ideologischen) Verurteilung und einer verharmlosenden Apologie als einen Problemaufriss, der offen und ganz bewusst die gravierenden Implikationen der kommunistischen Doktrin für das Subjekt ausstellt und reflektiert, 310 dann wird das Lehrstück auch zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der Menschenwürde, mit dem Ergebnis, dass die individualistische Menschenwürde als Grundbegriff der Ethik und des sozialen Zusammenlebens aufgegeben werden muss, weil sie vor dem Hintergrund revolutionärer Aktion zu Aporien führt. Nachvollziehen lässt sich diese Deutung anhand dreier Aspekte: (1) des im Stück immerzu verhandelten Status des Individuums, (2) des Motivs des Werts und (3) der Perspektivierung des Mitleids. (1) Die Leitfrage nach dem Status des Individuums beantwortet Brechts Stück poetologisch, ideologisch und sprachlich (mit wiederum ideologischen Implikationen). Zunächst sind Art der Darstellung und Figurenkonzeption zu beachten: Den vier (namenlosen! ) Agitatoren steht der anonyme, gleichsam mit einer kollektiven Stimme sprechende Kontrollchor gegenüber. Doch auch die Agitatoren kennzeichnet nicht ihre Individualität; auch sie sind anonymisierte, wandelbare Figuren, die zum einen nicht eigentlich handeln, sondern vergangenes Handeln erzählen und wiederholen, dabei reflektieren und zur Diskussion stellen, und die zum anderen in die Rollen anderer schlüpfen, um deren vergangenes Handeln darzustellen. Diese extreme Episierung und Verfremdung des genuin Dramatischen (der Handlung) bewirkt eine Art potenzierte Distanz zur emphatischen Vorstellung des autonom handelnden Helden, wie sie etwa J. M. R. Lenz in seiner Poetik konturierte. 311 So ist der junge Genosse stets eine bereits rekonstruierte, typisierte Figur, die nicht in ihrer (zur Identifikation ein- 310 Vgl. dazu Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 388-389. - Zur Maßnahme vgl. weiterhin Alexander von Bormann, Nämlich der Mensch ist unbekannt. Ein dramatischer Disput über Humanität und Revolution (Masse-Mensch, Die Maßnahme, Mauser), in: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute, hg. v. A. v. B. [u. a.], Tübingen 1976, S. 851-880; Helmuth Kiesel, „Die Maßnahme“ im Licht der Totalitarismustheorie, in: Maßnehmen. Bertolt Brecht [sic] / Hanns Eislers Lehrstück „Die Maßnahme“: Kontroverse, Perspektive, Praxis, hg. v. I. Gellert [u. a.], Berlin 1999, S. 83-100; Klaus-Dieter Krabiel, Art. Die Maßnahme, in: Brecht-Handbuch, hg. v. J. Knopf, Bd. 1: Stücke, Stuttgart / Weimar 2001, S. 253-266. 311 Vgl. dazu oben, Kap. B.II.4. 384 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust ladenden) Menschlichkeit, sondern in ihrer Funktion als Illustration einer These, ja eines Dogmas - nämlich dass sich das Individuum dem Kollektiv unterzuordnen hat - ihre dramatische Berechtigung hat. Zudem beginnt und endet das Stück mit dem Kontrollchor; er stößt die Rekonstruktion der Handlung an („Tretet vor! “; BFA 3, 101) und artikuliert die ultimative Beurteilung des Vorgetragenen. Er fungiert als überindividuelle und somit vermeintlich intersubjektiv unantastbare Instanz, als ideologisches Regulativ - das Kollektiv besitzt die uneingeschränkte Deutungshoheit. Bezeichnend für diese ideologische Prämisse ist die „Auslöschung“ - die zunächst symbolisch in der 2. Szene, dann physisch in der 8. Szene („Die Grablegung“; in der Fassung von 1938 „Die Maßnahme“ [vgl. BFA 3, 437]) realisiert wird. Um im Untergrund unerkannt für die kommunistische Revolution in China arbeiten zu können, müssen die Agitatoren ihre „Gesichter auslöschen“ ( BFA 3, 103). Im Kontext des Würdediskurses ist diese Formulierung von höchster Bedeutung. Wenn der Mensch Würde besitzt, weil er, so die biblische Begründung, von Gott als sein Ebenbild geschaffen wurde, dann impliziert das Auslöschen des Antlitzes weniger ein Versteckspiel als einen (willentlichen! ) Verzicht auf die individuelle menschliche Würde. Die Auslöschung wird nun in einer Art Klimax dreifach akzentuiert als Aufgabe der Identität („ohne Namen und Mutter“), als metaphorische Reduktion zu willenlosen Befehlsempfängern („leere Blätter, auf welche die Revolution ihre Anweisung schreibt“), schließlich als Reduktion zu fremdgesteuerten, anonymen Instrumenten der Partei - und somit zu letztlich beliebigen, vernachlässigbaren Größen in der übergeordneten Parteistrategie: „[V]on dieser Stunde an und wahrscheinlich bis zu eurem Verschwinden“ sind die Agitatoren „unbekannte Arbeiter, Kämpfer, Chinesen“ ( BFA 3, 104). Die Bereitschaft, für die Sache zu sterben, wird bereits hier proleptisch eingefordert; das substantivierte Verb „Verschwinden“ suggeriert, dass die Agitatoren nicht einmal das Recht auf einen individuellen (und möglicherweise heroischen) Tod haben, sondern vielmehr auch jeglichem ‚würdigen‘ Erinnern entsagen. Das anschließend vom Kontrollchor vorgetragene „Lob der illegalen Arbeit“ ( BFA 3, 105-106) postuliert zudem eine Dissoziation von revolutionärem Subjekt und revolutionärer Tat: Als Urheber einer Tat darf das Individuum nicht in Erscheinung treten, sondern muss sich „verbergen“, „verstecken“, „[s]chweigen“. Seine totale Instrumentalisierung im Dienste der Partei bringt ihm jedoch immerhin deren „Dank“ ein - auch wenn dieser sich an „Unbekannte“ richtet, die ihn „verdeckten Gesichtes“ empfangen. Im „Lob der Partei“ formuliert der Kontrollchor unmissverständlich die kommunistische Sicht auf das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv: „Der einzelne kann vernichtet werden / Aber die Partei kann nicht vernichtet werden“ (BFA 3, 120). Als sein (noch genauer zu untersuchendes) Handeln den Erfolg der VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution 385 revolutionären Mission in China zu kompromittieren droht und die Agitatoren ihre Enttarnung fürchten, wird der junge Genosse getötet: „Also müssen wir ihn erschießen und in die Kalkgrube werfen denn / Der Kalk verbrennt ihn“ ( BFA 3, 123). Mit Blick auf das, was im Stück bislang über den Status des Individuums gesagt wurde, ist diese Tötung nicht wirklich überraschend. Das Skandalon der Maßnahme 312 ist eher, dass die Einwilligung des jungen Genossen in seine eigene Liquidierung eingefordert wird. Einer der Agitatoren spricht einen zunächst merkwürdig anmutenden Satz, der in Klammern steht und von Brecht später gestrichen wurde: „(Freilich das Gesicht, das unter der Maske [des jungen Genossen; MG ] hervorkam, war ein anderes, als das wir mit der Maske verdeckt hatten, und das Gesicht, das der Kalk verlöschen wird, anders, als das Gesicht, das uns einst an der Grenze begrüßte.)“ ( FBA 3, 124). Tatsächlich hat der junge Genosse mit seiner Entscheidung für das Engagement im Untergrund seine individuelle Identität gegen eine von der Partei vorgegebene Funktion getauscht - und gleichsam das Recht auf absolute Achtung des eigenen Lebens abgetreten. Sein Einverständnis in die eigene Tötung ist somit konsequent - und vor dem Hintergrund der didaktischen Intention des Stücks absolut notwendig, erhält die ‚Opferung‘ des jungen Genossen 313 so doch eine doppelte Legitimation: durch ihn selbst und (nachträglich) durch den Kontrollchor. Der entscheidende Unterschied zu den klassischen Tragödienfiguren des Märtyrers und des bewunderten oder bemitleideten Helden liegt nicht in der Bestimmung eines tragischen Fehlers (einen solchen könnte man auch in der Maßnahme suchen) oder in der Duldung des eigenen Leidens bzw. der Zustimmung zum eigenen Tod (man denke z. B. an die Suizide großer Tragödienhelden), sondern in der Tatsache, dass sich der junge Genosse, um nicht wider die Parteilinie zu handeln, als würdiges Individuum negieren muss, so wie Parteidoktrin die Würde des Einzelnen mit Blick auf das Kollektiv negiert - und er sich so zu einem bloßen Instrument, zu einem bloßen Mittel der Ideologie und des Kollektivs macht und dies mit seinen letzten Worten gar noch bekräftigt. 314 Die Subjektproblematik ist auch sprachlich vielsagend gestaltet, durch die an markanten Stellen benutzten Pronomina. Bereits die erste Szene („Die Lehren der Klassiker“) ist aufschlussreich: Mehr als zehnmal benutzen die Agitato- 312 Vgl. Bormann, Nämlich der Mensch ist unbekannt, S. 851. 313 Zu Brechts Opferästhetik vgl. Rainer Grübel, Die Ästhetik des Opfers bei Brecht und in der russischen Literatur der 20er und 30er Jahre, in: Rot = Braun? Brecht Dialog 2000. Nationalsozialismus und Stalinismus bei Brecht und Zeitgenossen, hg. v. T. Hörnigk u. A. Stephan, Berlin 2000, S. 153-181. 314 Vgl. BFA 3, 125: „Im Interesse des Kommunismus / Einverstanden mit dem Vormarsch der proletarischen Massen / Aller Länder / Ja sagend zur Revolutionierung der Welt.“ 386 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust ren das Pronomen „wir“, meist prominent am Satzanfang, häufig am Anfang einer Rede. Der junge Genosse stellt dem ein markantes „ich“ entgegen, das offenbar sein Recht auf Subjektivität bewahren möchte. Dieses Ich formuliert ein ethisches Selbstverständnis, das auf einem Bekenntnis zu Empathie und menschlicher Solidarität beruht: „Der Anblick des Unrechts trieb mich in die Reihen der Kämpfer. Der Mensch muß dem Menschen helfen. Ich bin für die Freiheit. Ich glaube an die Menschheit.“ Unmittelbar davor formuliert der junge Genosse den für sein Schicksal folgenschweren Satz: „Mein Herz schlägt für die Revolution“ ( BFA 3, 101). Die Formulierung mutet an, als wolle er seine individuelle Emotionalität („Mein Herz“) als Stimulus für das revolutionäre Engagement mit der kommunistischen Lehre verbinden. Vor dem Hintergrund der Parteidoktrin muss diese angestrebte Synthese scheitern, artikuliert der Kontrollchor doch eine ganz andere Ethik: „Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: daß er für den Kommunismus kämpft“ ( BFA 3, 105). Für den jungen Genossen aber bleiben der Impuls für den Kampf und der Kampf selbst unmittelbar verbunden; er ist unfähig, zu ‚objektivieren‘ und den subjektiven Blick dem objektiven (und nicht zu hinterfragenden) Urteil der Partei unterzuordnen. Nachdem er mehrmals daran gescheitert ist, die Vorgaben der Partei in konkreten Situationen umzusetzen, spitzt sich der Konflikt in der 6. Szene („Der Verrat“) zu - und das erneut auch auf sprachlicher Ebene. Der junge Genosse drängt angesichts des „ungeheuerlich[en]“ Leids der Arbeitslosen auf einen sofortigen Sturm der Kasernen; die Agitatoren warnen vor mangelnder Vorbereitung der Aktion und fordern Geduld. Es folgt das entscheidende Rededuell: Der junge Genosse So frage ich : dulden die Klassiker, daß das Elend wartet? Die drei Agitatoren Sie sprechen von Methoden, welche das Elend in seiner Gänze erfassen. Der junge Genosse Dann sind die Klassiker also nicht dafür, daß jedem Elenden gleich und sofort und vor allem geholfen wird? Die drei Agitatoren Nein. Der junge Genosse Dann sind die Klassiker Dreck, und ich zerreiße sie; denn der Mensch, der lebendige, brüllt, und sein Elend zerreißt alle Dämme der Lehre. Darum mache ich jetzt die Aktion, jetzt und sofort; denn ich brülle und ich zerreiße die Dämme der Lehre. Er zerreißt die Schriften. […] Der junge Genosse Hört, was ich sage: mit meinen zwei Augen sehe ich , daß das Elend nicht warten kann. Darum widersetze ich mich eurem Beschluß zu warten. VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution 387 Die drei Agitatoren Du hast uns nicht überzeugt. Geh also zu den Arbeitslosen und überzeuge sie, daß sie sich in die Front der Revolution eingliedern müssen. Dazu fordern wir dich jetzt auf im Namen der Partei . ( BFA 3, 118-119; m. H.) Wieder positioniert sich der junge Genosse nachdrücklich als Ich, das sein eingefordertes Recht auf individuelle Wahrnehmung, individuelles Urteil und letztlich auch individuelle Verantwortung lautstark und mit symbolischen Gesten (Brüllen, Zerreißen) zum Ausdruck bringt. Die Forderung bedingungslosen Vertrauens in und kompromissloser Unterordnung unter die Weisheit der Partei veranlasst ihn zu einer grundsätzlichen Frage: „Wer aber ist die Partei? “ Die Antwort der Agitatoren ist bezeichnend - und sprachlich raffiniert gestaltet: „Wir sind sie. / Du und ich und ihr - wir alle“ ( BFA 3, 119; m. H.). Die Partei duldet kein unabhängiges, selbstbewusstes Ich, sondern postuliert ein umringtes, eingebettetes - und somit gleichsam nivelliertes Ich. Doch der junge Genosse lehnt sich auf, wiederholt sein anfängliches Bekenntnis zur ‚subjektiven Revolution‘ („Mein Herz schlägt für die Revolution“; BFA 3, 120) und pocht auf seine individuelle Identität: „Darum trete ich vor sie [i. e. die Arbeitslosen; MG ] hin / Als der, der ich bin, und sage, was ist. Er nimmt die Maske ab und schreit […]“. In einem Moment des Protests reklamiert der junge Genosse ein letztes Mal das Recht auf radikale Individualität und zahlt dafür einen hohen Preis. „[I]n der Dämmerung / Sahen wir sein nacktes Gesicht / Menschlich, offen und arglos“ ( BFA 3, 121) - im Versuch, seine eigene Würde zu behaupten, gibt er seine Tarnung, seine Anonymität auf und wird sogleich von den Agitatoren niedergeschlagen. Der Protest währt nur kurz; mit einem lakonischen „Ja“ willigt er, wie gefordert, in seine Tötung ein. Die letzten Worte des - nunmehr „ unsichtbar [en]“! - jungen Genossen erscheinen dann schon gar nicht mehr in der ersten Person; obwohl ihm die Rede zugeordnet wird, wird sie durch die distanzierende Inquitformel „Er sagte noch“ eingeleitet; sein letzter Satz ist elliptisch, subjektlos. Er markiert auch grammatikalisch den endgültigen Verzicht auf das Ich - und seine Menschenwürde. (2) Die Frage nach dem Wert eines Menschen beantwortet Die Maßnahme aus zwei denkbar unterschiedlichen, ideologisch konträren Perspektiven. Die bisherigen Ausführungen haben verdeutlicht, dass Brechts Lehrstück (im Einklang mit seinen theoretischen Positionierungen) den Wert des Einzelnen mit Blick auf das Kollektiv und letztlich den Sieg der Revolution bestimmt. 315 Doch nicht nur die kommunistische Lehre unterminiert den absoluten Wert des Menschen, sondern auch der kapitalistische ‚Klassenfeind‘, wie Brecht in 315 Vgl. ähnlich Kiesel, „Die Maßnahme“, S. 92. 388 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust der geradezu programmatischen Szene 5 zeigt. Der junge Genosse soll einen reichen Händler dazu bewegen, die Kulis mit Waffen auszustatten, um gegen die englischen Kaufleute zu kämpfen; den Konflikt zwischen einheimischen und ausländischen Kapitalisten wollen die Kommunisten ausnutzen. Im Gespräch mit dem jungen Genossen und in seinem „Leiblied“, dem „Song von der Ware“, umreißt der Händler nun seine menschenverachtende Geschäftsstrategie ( BFA 3, 114-115). Menschen sind lediglich Posten in einer auf maximalen Profit ausgelegten Kosten / Nutzen-Kalkulation - wie der Reis und die Baumwolle ist letztlich auch der Mensch eine bloße „Ware“. Er ist austauschbar, und einen (relativen! ) Wert besitzt er nur insofern, als er ein Mittel der Gewinnmaximierung ist: „Was ist eigentlich ein Mensch? / Weiß ich, was ein Mensch ist? / Weiß ich, wer das weiß! / Ich weiß nicht, was ein Mensch ist / Ich kenne nur seinen Preis.“ Die ganz und gar kantische Frage 316 nach dem Wesen des Menschen beantwortet der Kapitalist dezidiert antikantisch. Für den anthropologischen oder ethischen Status des Menschen interessiert er sich überhaupt nicht; indem er ihm einen „Preis“ zuschreibt, negiert er in der Logik der Würdedefinition Kants den absoluten Wert des Menschen und seine Menschenwürde. Doch was ist das außerfiktionale Intentum dieser Szene? Sie demonstriert nicht bloß die erneute Unfähigkeit des jungen Genossen, seine Fassungslosigkeit angesichts eines für ihn unhaltbaren Zustands mit Blick auf die übergeordnete Parteistrategie zu unterdrücken, sondern dient als Beleg, dass die (als zeitweise gedachte) Suspension der Menschenwürde im Kommunismus nötig ist, um das menschenverachtende, menschenunwürdige System des Kapitalismus endgültig zu beseitigen. Ganz explizit formuliert das Lied des Kontrollchores („Ändere die Welt, sie braucht es“; BFA 3, 116): „Welche Niedrigkeit begingest du nicht, um / Die Niedrigkeit auszutilgen? / Könntest du die Welt endlich verändern, wofür / Wärest du dir zu gut? / Wer bist du? “ Die letzte Frage stellt die Entscheidung über die Notwendigkeit des im Stück dargelegten Menschenbildes ganz direkt auch dem Rezipienten anheim. Die zeitliche Dimension schließlich - die Vorstellung, dass in der gegenwärtigen revolutionären Situation ‚Maßnahmen‘ noch nötig sind, die zu einem späteren Zeitpunkt obsolet werden - sprechen die Agitatoren in der letzten Szene an: „Noch ist es uns […] / Nicht vergönnt, nicht zu töten“ (BFA 3, 124). Bis dahin jedoch rechtfertigt der Zweck - die Eliminierung eines menschenunwürdigen Systems - die Mittel, um ihn zu erreichen - selbst, wenn dabei auch die Vorstellung der Menschenwürde außer Kraft gesetzt werden muss. 316 Zu Kants anthropologischer Grundfrage „Was ist der Mensch? “ s. oben, Kap. B.IV.4. VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution 389 (3) Brecht selbst kommentierte die Maßnahme wie folgt: [Die politischen Situationen] zeigen, daß der junge Genosse gefühlsmäßig ein Revolutionär war, aber nicht genügend Disziplin hielt und zu wenig seinen Verstand sprechen ließ, so daß er, ohne es zu wollen, zu einer schweren Gefahr für die Bewegung wurde. Der Zweck des Lehrstücks ist also, politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu lehren. ( BFA 24, 96) Der Primat der Emotion vor dem Intellekt ist demnach der Fehler des jungen Genossen, das, woraus das politisch falsche Handeln entspringt. Doch ist das politisch falsche Handeln nicht das menschlich richtige? Das Lehrstück weist diese Perspektive eindeutig als irrelevant, ja als die „Bewegung“ gefährdend aus. Die vermeintlich mangelnde Reflexion des jungen Genossen betont Brecht auf stilistischer Ebene dadurch, dass er die sprachliche Interaktion zwischen Agitatoren und Kontrollchor als geradezu exzessive, in ihrem Hang zur kühlen Abstraktion extreme Reflexion gestaltet. Nicht nur bezeichnen Paratexte bestimmte Passagen explizit als „Diskussion[en]“; die formel-, manchmal thesenhaften Sätze und rhetorischen Fragen der Agitatoren sowie die Frage-Antwort-Spiele zwischen Agitatoren und Kontrollchor wollen ihren didaktischen, demonstrierenden Charakter kaum verbergen. Das Stück ist auf den rationalen - und eben nicht emotionalen - Nachvollzug des Dargestellten durch die Darsteller und die Zuschauer ausgelegt. Die folgenden Bemerkungen fokussieren den Mitleidsbegriff. In etlichen der bisher analysierten Texte nimmt das Mitleid im Kontext des Würdediskurses eine entscheidende Stellung ein: Besonders dann, wenn traditionelle Begründungsmuster der Menschenwürde fraglich werden und die Vorstellung scheinbar kaum noch haltbar ist, kann der Rekurs auf das Mitleid - verstanden als vorreflexive, intuitive, zutiefst menschliche Qualität und Haltung - die Menschenwürde retten, ja restituieren. Die Maßnahme hingegen perspektiviert das Mitleid radikal anders. Das Selbstverständnis, das der junge Genosse in der ersten Szene formuliert („Mein Herz schlägt für die Revolution“; BFA 3, 101), ändert sich bis zum Ende des Stücks nicht. Tatsächlich ist mit dieser Position ein Menschenbild verbunden, das mit jenem der Partei unvereinbar ist - und notwendig scheitern muss. Als der junge Genosse in der dritten Szene („Der Stein“) Kulis dazu anstacheln soll, bessere Arbeitsschuhe zu fordern, warnen ihn die Agitatoren: „Verfalle nicht dem Mitleid! “ ( BFA 3, 106). 317 Als einer der Kulis stürzt und fordert: „Helft 317 Wie zur Bestätigung, dass diese Warnung angebracht ist, sagt der junge Genosse beim Anblick der Kulis: „Schwer ist es, ohne Mitleid diese Männer zu sehen.“ (BFA 3, 107) 390 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust mir! “, reagiert der junge Genosse vielsagend: „Bist du kein Mensch? “ ( BFA 3, 108). 318 Dieser Ausspruch ist als Selbstbefragung zu lesen, als Entscheidungsmonolog in nuce . Der junge Genosse sieht sich sehr wohl als Mensch, der, was für ihn offenbar zu dieser Definition untrennbar dazugehört, empathisch und mitleidig ist. Und genau deshalb hilft er dem Kuli - entgegen seines Auftrags und mit schwerwiegenden Folgen für die agitatorische Arbeit. Mitleid ist hier also eine spontane, unmittelbar zur solidarischen Tat auffordernde Empfindung - während die Agitatoren wiederholt klar machen, dass unmittelbare Hilfe nicht immer opportun ist (vgl. BFA 3, 102, 119). Entsprechend negativ bewerten die Agitatoren sein Verhalten in der anschließenden Diskussion und werfen ihm vor, „daß er das Gefühl vom Verstand getrennt hatte“ ( BFA 3, 110), was der junge Genosse durchaus einsieht. Eindeutig jedoch wenden sich Agitatoren und Kontrollchor gegen ein Verständnis von Emotion und Mitleid als Praxis. Die sechste Szene markiert eine Art Peripetie; die revolutionäre Ungeduld des jungen Genossen erreicht ihren Höhepunkt, als er während der „Hungerunruhen“ in Mukden „nicht mehr warten [kann]“ ( BFA 3, 117). Aufschlussreich sind die Argumente, mit denen sowohl der junge Genosse als auch die Agitatoren ihre Positionen - sofortige Aktion vs. Warten auf den richtigen Moment - begründen. Denn beide beziehen sich auf das ‚Sehen der Wirklichkeit‘, ziehen daraus aber konträre Schlüsse. „Sieh doch die Wirklichkeit“, fordern die Agitatoren (BFA 3, 119), und meinen damit einen strategischen, rationalen und reflektierten Blick auf die geringen Erfolgsaussichten einer vorschnellen Revolution. Für den jungen Genossen ist seine individuelle Wahrnehmung der Wirklichkeit ein ethischer Maßstab; sie wird zum Stimulus für unmittelbares, sofortiges Eingreifen: „[M]it meinen zwei Augen sehe ich, daß das Elend nicht warten kann“ ( BFA 3, 119; vgl. 120). Dem Wahrgenommenen eignen eine emotionale Intensität und eine Evidenz, die strategische Reflexion ausschließen, weshalb sich der junge Genosse von der Partei (zumindest kurzzeitig) lossagt und „das allein Menschliche“ tun will ( BFA 3, 120). Nun ist das Adjektiv „menschlich“ im Kontext des Lehrstückes keineswegs positiv konnotiert; gerade das „menschliche“ Handeln, als eine Art Relikt individualistischer, bürgerlicher Ethik, die sich am Ideal der Humanität orientiert und aus kommunistischer Perspektive überholt, ja für den Klassenkampf untauglich ist, ist nicht Signum der Menschenwürde, sondern, in der Logik des Stücks, Grund für den unausweichlichen - und gerechtfertigten - Tod des jungen Genossen. 318 Der Frage nach ‚dem Menschen‘ kommt auch in Brechts Stück leitmotivische Qualität zu; vgl. Bormann, Nämlich der Mensch ist unbekannt. Vgl. dazu auch oben, Kap. B.IV.4. VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution 391 Am Ende der Maßnahme kommt es schließlich zu einer merkwürdigen Verkehrung der Begriffe Mitgefühl und Solidarität. Das „Mitgefühl“ des Kontrollchores nämlich gilt keineswegs dem getöteten Genossen - sondern den Agitatoren, die diese „Maßnahme“ ergreifen mussten und sie nun rechtfertigen ( BFA 3, 124). Tatsächlich zeigt sich hier, dass Brechts Stück nicht die Abwesenheit von moralischem Gefühl und Mitleid postuliert, sondern lediglich ablehnt, diese zu Maximen politischen Handelns zu erklären. So urteilen die Agitatoren einerseits: „F urchtb ar ist e s , zu töte n “, nur um andererseits zu bekennen: „Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es nottut / Da doch nur mit Gewalt diese tönende / Welt zu ändern ist, wie / jeder Lebende weiß“ ( BFA 3, 124). Das unbestimmte „es“ verweist einmal mehr auf die überindividuelle Parteidoktrin, der der Einzelne untergeordnet ist. Der letzte twist des Lehrstücks ist nun die Rekonstruktion der Tötung. „Willst du es allein machen? “, fragen die Agitatoren, und der junge Genosse antwortet: „Helft mir“ ( BFA 3, 125), ein Echo eben jener Worte, die in der dritten Szene einer der Kulis ausgesprochen hatte. Die Liquidierung erscheint so als ein (erbetener) Akt der Solidarität, des Mitleids (! ), und zwar als der einzige im Stück rekapitulierte, der gutgeheißen wird. Humanistisch inspirierte ethische Grundannahmen werden damit endgültig travestiert. 319 Um es mit Schiller zu sagen: Der junge Genosse akzeptiert würdelos die eigene Entwürdigung. „Für einige ethische Begriffe wie Gerechtigkeit, Freiheit, Menschlichkeit usw., die in der ‚Maßnahme‘ vorkommen, gilt, was Lenin über Sittlichkeit sagt: ‚Unsere Sittlichkeit leiten wir aus den Interessen des proletarischen Klassenkampfes ab‘“ (BFA 24, 101). Die Maßnahme inszeniert eindrucksvoll und beklemmend die (aus heutiger Sicht mehr als fragwürdige) Einsicht, dass ein individualethischer Begriff wie Menschenwürde mit der revolutionären ‚Parteiethik‘ unvereinbar ist. * Arthur Koestlers Roman Sonnenfinsternis 320 thematisiert die stalinistischen Säuberungen und Schauprozesse in der Sowjetunion der 1930er Jahre. In den Jahren nach seinem Erscheinen wurde er sogleich als Abrechnung mit dem Kommunismus rezipiert; tatsächlich nimmt der Text etliche der in Brechts Lehr- 319 Nach Bormann nimmt Die Maßnahme „die in der (bürgerlichen) Linken breit geführte Diskussion über den Stellenwert der humanistischen Tradition“ auf (Nämlich der Mensch ist unbekannt, S. 862). 320 Arthur Koestler, Sonnenfinsternis. Roman. Mit einem Nachwort des Autors, München / Wien 2000. Im Folgenden wird stets nach dieser Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (S Seitenangabe) belegt. - Koestlers Roman wurde 1940 zunächst in englischer Sprache veröffentlicht ( Darkness at Noon ). Koestler selbst ist für die verwendete Rückübersetzung ins Deutsche verantwortlich. 2015 wurde das verloren geglaubte deutschsprachige Originalmanuskript wiederentdeckt. 392 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust stück entfalteten und illustrierten Theoreme auf und entzieht ihnen jegliche Legitimation. Dargelegt und reflektiert werden die Grundlagen der kommunistischen Ideologie aus der Sicht der Figur Rubaschow, eines altgedienten, nun aber aus ideologischen Gründen in Misskredit geratenen und verhafteten Revolutionärs, dessen Erinnerungen, Erleben und Gedankengänge der Erzähler in Rückblenden und erlebter Rede präsentiert, sowie in den Verhören Rubaschows durch Vertreter der Partei. Im Gegensatz zum Einzelnen ist die Partei in ihrem Urteil unfehlbar (S 44); da die „Bewegung“ keinerlei Rücksicht kennt, ist der Tod des Devianten bei politischen oder anderen Divergenzen die „logische Folge“ (S 73). Tatsächlich gibt es „kein ‚Ich‘ außerhalb des ‚Wir‘ der Partei; das Individuum war nichts, die Partei alles; der Ast, der sich vom Baume brach, mußte verdorren“ (S 79). Der Wert eines Menschen bestimmt sich durch seinen „sachlich[en]“ Wert für die Revolution - jenseits aller „Gebote der bürgerlichen Moral“ (S 121). Da Mitleid ein „Laster“ (S 145), „[h]umanistische Schwäche und liberale Demokratie“ gar der „Selbstmord der Revolution“ (S 179) sind, darf die Partei „mit Menschenleben nach mathematischen Regeln […] operieren“ (S 148). Dass die kommunistische Ideologie das Menschenwürdeprinzip außer Kraft setzt, formuliert Iwanoff, der Rubaschow zunächst verhört, ganz explizit: Im Grunde genommen gibt es nur zwei mögliche Theorien der Moral, und sie verhalten sich wie entgegengesetzte Pole. Die eine ist christlich-humanistisch, erklärt das Individuum für sakrosankt und behauptet, daß mathematische Regeln nicht auf menschliche Einheiten anwendbar sind. Die andere geht von dem Grundprinzip aus, daß das Kollektivziel alle Mittel heiligt, und erlaubt nicht nur, sondern gebietet, daß das Individuum in jeder Hinsicht der Gemeinschaft unterstellt und wenn nötig geopfert wird, als Versuchskaninchen, als Opferlamm und auf jede andere erforderliche Art. (S 149-150) Was Koestlers Roman bemerkenswert macht, ist die zutiefst ambivalente Figur Rubaschow. Als überzeugter Kommunist hat er „das Interesse der Menschheit über das des Menschen gestellt“ (S 254) 321 und die Ideologie selbst in brutale und rücksichtslose Taten umgesetzt. Allerdings ist er nunmehr nicht in der Lage, sich vor seinem Gewissen zu verschließen und die Rudimente bürgerlichhumanistischer Ethik (und ihres Menschenbildes) dauerhaft von sich zu weisen. In seiner Zelle gibt er sich ausgiebigen Selbstexplorationen hin und bemerkt dabei eine „neuentdeckte Entität“, die der „Adressat“ seiner „Selbstansprachen“ ist und sich in körperlich-sinnlichen oder imaginativen Impressionen oder Er- 321 Vgl. S. 179: „schuldig, den Begriff des Menschen über den der Menschheit gestellt zu haben“. VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution 393 innerungsfetzen ‚artikuliert‘. „[A]us jener in der Bewegung üblichen Scheu heraus, die erste Person Einzahl zu betonen“, nennt er sie „die ‚grammatikalische Fiktion‘“ (S 105). Diese formidable Umschreibung meint die Tatsache, dass sich Rubaschow plötzlich als aus dem „Wir“ herausstechendes, individuelles „Ich“ wahrnimmt und sich als solches mit einer gewissen Distanz reflektiert. Gleichzeitig verweist die „grammatikalische Fiktion“ auf aus kommunistischer Perspektive eigentlich delegitimierte Konzepte: individuelles ethisches Gefühl, Gewissen und Verantwortung - als Voraussetzung dafür, persönliche Schuld überhaupt denken zu können. Dass die Partei die Menschenwürde bewusst verabschiedet, erscheint ihm nun als zwar strategisch notwendiger, moralisch aber doch zumindest problematischer Umstand. Nun geht Rubaschow jedoch keineswegs als gewandelter oder geläuterter ‚Held‘ in den Tod, der den unantastbaren Status und den absoluten Wert des würdigen Individuums zumindest für sich restituiert hat und mit dem sich der nicht-kommunistische Leser identifizieren könnte. Vielmehr siegt die Parteilogik: Obwohl er seinen Widersachen in den Verhören intellektuell und argumentativ gewachsen ist, unterschreibt Rubaschow ein abenteuerliches fabriziertes Geständnis, bekennt sich in einem öffentlichen Schauprozess, der bezeichnenderweise nicht aus seiner Perspektive erzählt, sondern in Form eines Zeitungsartikels wiedergegeben wird (vgl. S 227-235), konterrevolutionärer Verbrechen schuldig und wird schließlich hingerichtet. Rubaschow durchschaut die der Ideologie inhärente Menschenverachtung genau - und leistet der Partei dennoch einen letzten Dienst, indem er sich selbst erniedrigt und zu einem abschreckenden Beispiel machen lässt. Die Würdelosigkeit des Individuums, die die Doktrin ‚objektiv‘ postuliert, erkennt er subjektiv an. Diese aus psychologischer Sicht nur schwer zu akzeptierende Annahme des konstruierten Parteiurteils durch das sich selbst und seine Menschenwürde negierende und so zur Zerstörung freigebende Individuum ist das Verstörende des Romans - und genau daraus gewinnt Koestlers Anklage des Kommunismus seine ungemeine Schärfe. 394 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust VII.3.2. Heiner Müller: Mauser (1970) Heiner Müllers Stück Mauser 322 ist sowohl „Variante“ und „Fortsetzung“ der Brechtschen Maßnahme als auch eine ostentative Infragestellung ihrer ideologischen und anthropologischen Prämissen. 323 Ähnlichkeiten zu Brechts Lehrstück sind evident, in Bezug auf die Figurenkonstellation - den Individuen A und B steht mit dem Chor ein Kollektiv gegenüber 324 -, aus poetologischer Perspektive - die Redeanteile können den Schauspielern, die noch vor dem Publikum Lernende bzw. zu Belehrende sein sollen, relativ variabel zugewiesen werden 325 -, hinsichtlich des historisch-ideologischen Hintergrunds - des kommunistisch-revolutionären Kampfes -, ebenso mit Blick auf die ultimative Entscheidungssituation, in der das Individuum in seine eigene Exekution einwilligen soll. Auch das Problem des Mitleids und die Frage nach dem Menschen greift Müller auf. Mauser ist freilich eine kritische Zuspitzung der Maßnahme ; offenbar wird dies durch den Blick auf fünf Aspekte: (1) die Funktion der Leitmotive der Hand und des Gesichts, (2) die Bedeutung des Körpers, (3) das Moment des Zweifels, (4) die bereits erwähnte Frage nach dem Menschen, (5) schließlich die Wiederholungen bestimmter Sätze und Wörter. (1) Das Leitmotiv der Hand hat unterschiedliche Facetten. Die erste Chorpartie umreißt expositorisch den Inhalt des Stücks: A, ein überzeugter Kämpfer für die Revolution, der unzählige „Feinde der Revolution“ exekutiert hat, ist nun „selber eine Schwäche“ geworden (M 245). Sein Vergehen wird mit Bezug auf das Hand-Motiv erläutert: 322 Heiner Müller, Mauser, in: Werke, hg. v. F. Hörningk in Zus. mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Frankfurt / M. 1998-2000, hier Bd. 4: Die Stücke 2, S. 243-260. Im Folgenden wird stets nach dieser Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (M Seitenangabe) belegt. 323 Zu Mauser vgl. etwa Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 446-447; Hans- Thies Lehmann / Susanne Winnacker, Art. Mauser, in: Heiner-Müller-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, hg. v. H.-T. L. u. P. Primavesi, Stuttgart / Weimar 2003, S. 252-256; Yasmine Inauen, Dramaturgie der Erinnerung. Geschichte, Gedächtnis, Körper bei Heiner Müller, Tübingen 2001, S. 119-134; Gabriele Hundrieser, Überlegungen zu Macht und Gewalt in Heiner Müllers Lehrstücken Philoktet , Der Horatier und Mauser , in: Geist und Macht. Schriftsteller und Staat im Mitteleuropa des „kurzen Jahrhunderts“ 1914-1991, hg. v. M. Zybura, Dresden 2002, S. 287-308; Benton Jay Komins, Rewriting, violence, and Theater: Bertolt Brechtʼs The Measures Taken and Heiner Müllerʼs Mauser , in: The Comparatist 26 (2002), S. 99-119; Bormann, Nämlich der Mensch ist unbekannt. 324 Bereits in den ersten Versen etabliert der Chor einen merklichen Kontrast zwischen dem apostrophierten „Du“ (i. e. A) und dem „Wir“; in seinen ersten fünf kurzen, parataktischen Redeanteilen artikuliert sich A - jeweils am Anfang des Verses - als „Ich“ (vgl. M 245). 325 Vgl. dazu Brechts Kommentare zur Maßnahme (BFA 24, 96-101, hier bes. 100-101) und Müllers Anmerkung zu Mauser (M 259-260). VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution 395 Wir haben sie [i. e. die Feinde der Revolution; MG ] getötet mit deiner Hand. Aber an einem Morgen in der Stadt Witebsk Hast du getötet selbst mit deiner Hand Nicht unsre Feinde nicht mit unserm Auftrag Und mußt getötet werden, selbst ein Feind. (M 245) Zwei Arten des Tötens werden unterschieden: Führt A lediglich Befehle aus - Befehle der Partei, der personifizierten Revolution -, wird seine Hand also zu einem Instrument im Dienst der Revolution, sind die Taten als Arbeit für die Revolution gerechtfertigt. Tötet er aus eigenem Antrieb, lädt er Schuld auf sich und wird selbst zum Feind. Diese intrikate revolutionäre Rechtfertigungskonstruktion lässt Müllers Stück auf nachdrückliche Weise fragwürdig werden. Die beiden rekapitulierten Geschichten, jene von A und B, seinem Vorgänger als Henker des Revolutionstribunals in Witebsk, lassen sich auf das Problem der Rechtfertigung revolutionärer Gewalt zuspitzen. Auch B fungiert als Instrument: „[M]it meiner Hand tötet die Revolution“, der „Revolver meine dritte Hand“ (M 248). Als er „drei Bauern“ - „Feinde der Revolution aus Unwissenheit“ - exekutieren soll, verändern sich seine Wahrnehmung und sein Bewusstsein. Er sieht ihre gefesselten, „zerarbeitet[en]“ Hände (M 247), die „gezeichnet sind / Mit der Spur ihrer Arbeit als meinesgleichen“ (M 248). Hier manifestieren sich Empathie und Mitleid - und die Identifikation mit den vermeintlichen „Feinden“ läuft bezeichnenderweise über die Hände, die sie als Ausgebeutete, Unterdrückte ausweisen. Die Gewissheit, dass sein revolutionäres Töten gerechtfertigt ist, 326 schwindet: „Ich weiß es nicht mehr, ich kann nicht mehr töten“ (M 248). Da B nun, wie es der Chor formuliert, „seine Hand aus dem Auftrag n[immt] / Den die Revolution ihm erteilt hatte / […] [Ist] sie eine Hand mehr an unsrer Kehle“. Wie bei Brecht, postuliert auch hier der Chor, dass Mitleid den Erfolg der Revolution gefährdet. Mehr noch: „Nämlich deine Hand ist nicht deine Hand / So wie meine Hand nicht meine Hand ist / Eh die Revolution gesiegt hat endgültig“ (M 248). Die kommunistische Revolution benötigt (und duldet! ) das Individuum nur in der metonymischen Reduktion auf seine Hände, die wiederum synekdochisch für seine Taten, sein Handeln stehen; es ist ein reines Mittel zum Zweck. A nimmt nun Bs Posten ein; seine erste Aufgabe ist es, B zu töten. Zunächst ist er ein ‚Hardliner‘: „[I]ch hatte kein Auge für seine [i. e. Bs; MG] Hände“. Auch in der Folge verrichtet er pflichtgemäß seinen Dienst, exekutiert entmenschlichte „Feinde“, die „keine Hände und kein Gesicht“ haben (M 249). Neben den Händen wird nun das Gesicht - durchaus mit Assoziationen wie Ebenbild und Würde - zum Motor für As Irritation, ja seinen „Zweifel“: „Am siebenten Mor- 326 Vgl. die immer wieder wiederholte Formulierung: „Wissend, das tägliche Brot der Revolution / Ist der Tod ihrer Feinde“ (M 245 u. ö.). Vgl. hierzu auch das Folgende. 396 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust gen sah ich ihre Gesichter / Auf ihren Rücken die Hände, gebunden mit Stricken […]“ (M 250). A erlebt eine Art Ich-Dissoziation, 327 sein eigenes Gesicht im Spiegel ist ihm fremd; er will aufgrund seiner „Schwäche“ (M 251) von seiner Aufgabe entbunden werden. Nachdem der Chor - wieder mit mehrmaligem Bezug auf das Motiv der Hand - die Position As als Bedrohung für die Revolution gebrandmarkt hat (vgl. M 251-252), macht er weiter - nur um kurz darauf in eine noch heftigere Krise zu stürzen. Auch hier kommt es zu einem Moment der Identifikation, zu einem imaginativen Rollentausch: Ich vor meinem Revolver Gesicht zum Steinbruch Ich mein Revolver gerichtet auf mein Genick. Wissend, mit meiner Hand tötet die Revolution […] Und es nicht wissend, vor meinem Revolver ein Mensch Ich zwischen Hand und Revolver, Finger und Abzug Ich Lücke in meinem Bewußtsein, an unsrer Front. (M 253) A durchschaut nicht nur seine eigene Reduktion zum Instrument der Revolution; die sich manifestierende „Lücke“ in seinem revolutionären Bewusstsein ist ein humanistisches Rudiment - sein Gewissen - und das Resultat seiner Selbstreflexion („stand mit blutigen Händen ich“; M 253). Die mehrfache auffällige Hervorhebung des „ich“ als Anapher am Versanfang oder am Versende markiert die Diskrepanz zum revolutionären Kollektivismus - und genau dadurch wird A auch zu einer „Lücke“ an der „Front“ des revolutionären Kampfes. Allerdings reagiert A nun anders als B: nicht mit einem Akt der Solidarität, sondern mit einem orgiastischen Amoklauf, bei dem er das Töten zur Lustquelle erhebt. Spontan ist hier nicht mehr, wie bei Brechts jungem Genossen und Müllers Figur B, das empathische Mitleid, sondern der Ausbruch der Brutalität. Der Chor liefert nun eine ideologisch unterfütterte Erklärung dafür, dass As Verhalten zu verurteilen ist: Chor […] Das Blut, mit dem du befleckt hast deine Hand Als sie eine Hand der Revolution war Muß abgewaschen werden mit deinem Blut Vom Namen der Revolution, die jede Hand braucht Aber deine Hand nicht mehr. 327 Vgl. M 250: „[M]eine Stimme / Sprach das Kommando wie nicht meine Stimme und meine Hand / Teilte den Tod aus wie nicht meine Hand“. VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution 397 A Ich habe getötet Mit eurem Auftrag. Chor Und nicht mit unserm Auftrag. Zwischen Finger und Abzug der Augenblick War deine Zeit und unsere. Zwischen Hand und Revolver die Spanne War dein Platz in der Front der Revolution Aber als deine Hand eins wurde mit dem Revolver Und du wurdest eins mit deiner Arbeit Und hattest kein Bewußtsein mehr von ihr Daß sie getan werden muß hier und heute Damit sie nicht mehr getan werden muß und von keinem War dein Platz in unsrer Front eine Lücke Und für dich kein Platz mehr in unsrer Front. (M 256-257) Solange A als Werkzeug im Auftrag der Revolution tötet und ihm das Ungeheuerliche dieses Auftrags bewusst ist, ist das Töten notwendiger Teil des revolutionären Kampfes, eine „Last“, die getragen werden muss, „bis die Revolution gesiegt hat“ (M 255). Wird aber seine Hand eins mit dem Revolver, gewinnt das Töten also eine unmittelbare, autonome, subjektive Qualität, dann werden As Hände blutig, dann lädt er - auch aus Sicht der kommunistischen Ideologie - Schuld auf sich. Die befleckten Hände muss die Revolution - um im Bild zu bleiben - abschlagen. (2) Gerade mit Blick auf Die Maßnahme fällt die Fokussierung auf den Körper 328 in Mauser ins Auge. Aus dieser Perspektive akzentuiert Müller das Problem revolutionärer Gewalt nicht primär bezüglich ihrer theoretisch-ideologischen Rechtfertigung oder Begründung, sondern vor dem Hintergrund ihrer kreatürlichen Brutalität. Das Bekenntnis zum Kommunismus beschreibt A am Anfang des Stücks als körperliche Erfahrung - und als Folge von Gewalterlebnissen: „In den Gefängnissen von Omsk bis Odessa / Wurde mir der Text auf den Leib geschrieben / Gelesen unter Schulbänken und auf dem Abtritt / PROLETARIER ALLER LÄN- DER VEREINIGT EUCH / Mit Faust und Kolben, mit Stiefelabsatz und Schuhspitze […]“. In den „langandauernden Kämpfen / Gegen die Umklammerung, zur Zeit des Stirb und Töte“ gewöhnt sich der Revolutionär an die alltägliche Gewalt, die explizit als Zerstörung von menschlichen Körpern erscheint: „Wir sagten: es ist eine Arbeit wie jede andere / Schädel einschlagen und schießen“ 328 Zur Bedeutung des Körpers bei Müller vgl. Inauen, Dramaturgie der Erinnerung (zu Mauser bes. S. 129-134). 398 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust (M 246). Bs Auflehnung gegen die Parteidoktrin ist bezeichnenderweise an die Wahrnehmung menschlicher Körper gebunden, genauer: menschlicher Körperteile wie der Hände, des Nackens, der Gesichter, die gleichsam Auslöser des Identifikationsprozesses sind (vgl. M 247-248). Auch As Schwanken lässt sich als schwankende Einstellung zum Körper des ‚Feindes‘ deuten: Zunächst sieht er sie als entmenschlichte Objekte („Und sie hatten keine Hände und kein Gesicht“; M 249), ja als würdelose Tiere, deren Körper eine rein kreatürliche Masse ist: „Ich wußte, wenn man in einen Menschen hineinschießt / Fließt Blut aus ihm wie aus allen Tieren“. Unmittelbar darauf verändert sich (für kurze Zeit) seine Wahrnehmung („Aber der Mensch ist kein Tier“; M 250), er erkennt Gesichter und Hände, was ihn zumindest zeitweise hemmt. As ultimativen Gewaltausbruch schließlich beschreiben der Chor und A selbst nicht nur als radikale Verletzung menschlicher Körper, sondern als Wunsch nach totaler Destruktion von dehumanisiertem ‚Material‘: Und als er geschossen hatte wieder und wieder Durch die aufplatzende Haut in das blutige Fleisch, auf splitternde Knochen, stimmte er Mit den Füßen ab gegen den Leichnam. A (Chor) Ich nehme unter den Stiefel was ich getötet habe Ich tanze auf meinem Toten mit stampfendem Tanzschritt Mir nicht genügt es zu töten, was sterben muß Damit die Revolution siegt und aufhört das Töten Sondern es soll nicht mehr da sein und ganz nichts Und verschwunden vom Gesicht der Erde Für die Kommenden ein reiner Tisch. (M 254) Die abschließend zitierten Sätze lassen den Gewaltexzess nicht als eine persönliche Verfehlung eines abgestumpften Zynikers erscheinen, sondern als dem revolutionären Kampf inhärente Gefahr. Der auffällige Fokus auf die konkretkreatürliche Körperlichkeit des Gewaltopfers unterminiert die abstrakte Erzählung von der rational begründbaren Notwendigkeit revolutionären Tötens, wie sie die Parteidoktrin propagiert, und kontrastiert mit der auffällig körperlosen Opferung des jungen Genossen bei Brecht. 329 (3) Mit dem Moment der Identifikation und dem daraus resultierenden Mitleid für die „Feinde der Revolution“ einher geht der Zweifel. Bei beiden Hauptfiguren, A und B, manifestiert er sich als Verlust der Gewissheit, dass das von 329 Vgl. ähnlich Grübel, Die Ästhetik des Opfers, S. 177. VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution 399 der Parteidoktrin postulierte Töten notwendig für den Sieg der Revolution ist, 330 und als Besinnung auf die subjektive Urteilsfähigkeit, was sich an der Textoberfläche durch eine Häufung der ersten Person Singular äußert. 331 Ganz explizit stellt B die Sinnfrage: „Wozu das Töten und wozu das Sterben / Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist / Die zu Befreienden der Preis der Freiheit“ (M 249). Auch A, der zunächst noch verkündet, dass „[g]egen den Zweifel an der Revolution kein / Andres Mittel als der Tod des Zweiflers“ (M 249) denkbar ist, sieht sich bald mit grundlegenden Fragen konfrontiert: „Aber im Schlachtlärm […] stand mit blutigen Händen ich / […] Und fragte mit meiner Stimme nach einer Gewißheit“ (M 253). Die formale Präsentation dieser Fragen, die durch die markante Inversion und die Versendstellung des Personalpronomens als Reflexion des sich aus dem Kollektiv lösenden Individuums erscheinen, ist aussagekräftig (M 254): „Wird das Töten aufhören, wenn die Revolution gesiegt hat. Wird die Revolution siegen. Wie lange noch.“ Zwar entspricht die Interpunktion in Mauser insgesamt nicht dem, was in einem nicht-literarischen Text zu erwarten wäre, doch an dieser Stelle ist das Fehlen der Fragezeichen und die geradezu demonstrative Markierung der Fragen durch Punkte besonders sinnfällig. Die so eröffnete Perspektive ist eine zutiefst skeptische; die dem kommunistischen Siegesversprechen inhärente Zukunftsvision erscheint als fragwürdige Utopie. Signifikant ist zudem, dass Müller die zuletzt zitierte Passage nicht nur A, sondern optional auch dem Chor zuweist; der Zweifel geht demnach über das zweifelnde Individuum hinaus und beschreibt eine Geisteshaltung, die durchaus der Gesamtheit der Spielenden (und Rezipierenden) anheimgestellt wird. Tatsächlich ist der Zweifel, den Müllers Stück beschreibt, viel tiefgreifender als jener, der Brechts jungen Genossen befällt. Dieser zweifelt an der Parteilinie in Bezug auf die adäquate Handlungsweise in einer konkreten Situation; seine Einwilligung in die notwendige eigene Exekution und deren Beurteilung - als schon abgeschlossene, bloß rekapitulierte Handlung - durch den Kontrollchor setzen die kommunistische Ideologie wieder unangefochten in ihr Recht. Müllers Perspektivierung ist merklich anders: Zum einen stellt das Stück eine ‚aktuelle‘, noch nicht abgeschlossene Situation dar, deren Ausgang (immer noch! ) ungewiss ist, 332 zum anderen potenziert die Ambivalenz des Schlusses den Zweifel noch. Unklar bleibt, ob As finaler Ausruf „ TOD DEN 330 Vgl. M 248: „Wissend, mit meiner Hand tötet die Revolution. / Ich weiß es nicht mehr, ich kann nicht mehr töten“; M 251: „[…] Aber am zehnten Morgen / Weiß ich es nicht mehr“; vgl. ebd. das Adverb „vielleicht“; schließlich M 253: „Wissend, mit meiner Hand tötet die Revolution / […] Und es nicht wissend“. 331 Vgl. besonders M 248; hier beginnen gleich fünf Verse der Figur B mit dem Pronomen „Ich“. 332 Vgl. dazu auch Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 447. 400 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust FEINDEN DER REVOLUTION “ (M 258) - der optional wieder vom Chor gesprochen werden kann - Einwilligung oder Auflehnung bedeutet; unklar bleibt auch, ob das Töten von Feinden der Revolution auf ein (glückliches) Ziel zusteuert, oder ob sich das Töten gleichsam verselbstständigt hat, mit anderen Worten: ob die Suspension des Menschenwürdeprinzips tatsächlich eine nur temporäre oder eine dauerhafte ist. 333 (4) Mauser kommentiert an mehreren Stellen Bestimmung und Stellung des Menschen. Den meist thesenhaften, ideologischen Aussagen über den Menschen vonseiten des Chores stehen subjektive Einwände der Figuren gegenüber. „Ich habe einen Fehler begangen“, versucht sich A eingangs zu verteidigen, worauf ihm der Chor entgegenwirft: „Du bist der Fehler.“ A verkündet daraufhin: „Ich bin ein Mensch“ (M 245). Diese Argumentation greift er später auf: „Ich bin ein Mensch. Der Mensch ist keine Maschine. / Töten und töten, der gleiche nach jedem Tod / Konnte ich nicht. Gebt mir den Schlaf der Maschine“ (M 256). Die von der Revolution verlangte „Arbeit“, das massenhafte Töten, hält der Mensch nicht aus; er kann sich nicht dauerhaft zu einer gewissen- und empathielosen Maschine, zu einem Mauser-Gewehr, degradieren - denn genau das, der „Schlaf der Maschine“, wird von den Revolutionskämpfern verlangt. Wenn aber das Individuum dieses Recht auf „Schwäche“ nicht vollends von sich weisen kann, seine Subjektivität also nicht vollends im Kollektiv aufgeht und so Autonomie, Gewissen und Empathie ausschaltet und leugnet, dann wird es zur Gefahr für die Revolution: „Der auf sich selber besteht als sein Eigentum / Ist ein Feind der Revolution wie andre Feinde / Denn unsers gleichen ist nicht unsers gleichen“ (M 249). Genau das ist der Punkt: Der ideologische Kampf kann die humanistisch grundierte Identifikation des Menschen mit seinen ihm an Würde gleichen Mitmenschen, wie sie B ja selbst zum Verhängnis wird, im revolutionären Ausnahmezustand nicht dulden. 334 Die ideologischen Prämissen formuliert der Chor unmissverständlich: „Nicht eh die Revolution gesiegt hat endgültig / In der Stadt Witebsk wie in andern Städten / Bist du dein Eigentum.“ Der Kommunismus schließt das autonome, absolut selbstbestimmte Individuum aus - und verlangt vom Einzelnen eine Entscheidung: „Wer bist du“ (M 252). Der emphatische, individualistisch verstandene, aufklärerisch-klassisch geprägte Begriff „Mensch“ wird gar obsolet, insofern er genau das bezeichnet, was der Kommunismus überwinden will: „Nicht Menschen zu töten ist dein Auftrag, sondern / Feinde. Nämlich der Mensch ist unbekannt. / […] Nicht eh die Revolution gesiegt hat 333 Komins spricht davon, dass in Mauser (anders als in der Maßnahme ) „the humane goal of the revolutionary project“ verloren gegangen sei (Rewriting, Violence, and Theater, S. 112). 334 Vgl. die Frage des Chors: „Wer bist du andrer als wir / Oder besondrer, der auf seiner Schwäche besteht“ (M 252). VII.3. Exkurs: Die Menschenwürde und die marxistische Revolution 401 endgültig / In der Stadt Witebsk wie in andern Städten / Werden wir wissen, was das ist, ein Mensch“ (M 253). „Nämlich der Mensch ist unbekannt“, postuliert der Chor; erst die Revolution „wäscht aus dem steinharten Kot / Seiner Geschichte sein Bild, der Mensch, […] / Aufstehend aus der Kette der Geschlechter / Zerreißend seine blutige Nabelschnur / Im Blitz des wirklichen Anfangs erkennend sich selber / Einer den andern nach seinem Unterschied / Mit der Wurzel gräbt aus dem Menschen den Menschen“ (M 253). Es ist die utopische Vision des Neuen Menschen, die hier mit pathetischen und bildstarken Worten beschworen wird; 335 sie erklärt und rechtfertigt die Teleologie des revolutionären Kampfes und impliziert, dass - mit Blick auf das anthropologische Ziel - gegenwärtige Opfer und Grausamkeiten unvermeidlich sind. Die These, dass nur die Revolution den Neuen Menschen hervorbringen, dass gleichsam nur sie ein würdiges Menschsein ermöglichen kann, formuliert der Chor überaus apodiktisch: „Die Revolution wird siegen oder der Mensch wird nicht sein / Sondern verschwinden in zunehmender Menschheit“ (M 254). Interessant ist, dass der Kollektivbegriff „Menschheit“ hier negativ konnotiert ist; er wird verstanden als (zu überwindendes) Zwischenstadium. Der Neue Mensch wiederum ist durchaus als Individuum zu denken - daher die Rede vom „Unterschied“. Nur ist die zeitliche Perspektive dieser Vision eindeutig: Sie bezieht sich ausschließlich auf die Zukunft; für die Gegenwart gilt die unabwendbare Notwendigkeit der revolutionären, das Individuum und seine Würde negierenden Doktrin. Doch gerade die Berechtigung der Radikalität dieses Menschenbildes stellt das Stück in Frage, nicht nur durch den uneindeutigen Schluss, sondern auch ganz direkt durch den Dialog zwischen A und dem Chor. A fragt explizit nach dem Status des Menschen: Ich will es wissen jetzt und hier. Ich frage […] auf meinem letzten Weg Der zum Sterben geführt wird, der keine Zeit hat Mit meinem letzten Atem jetzt und hier Frage ich die Revolution nach dem Menschen. Chor Du fragst zu früh. Wir können dir nicht helfen. Und deine Frage hilft der Revolution nicht. Hör den Schlachtlärm. (M 256) Diese Passage enthält Müllers entscheidende Kritik: Die Revolution fragt nicht nach dem Menschen - sie interessiert sich nicht für seine Würde. Die Frage nach 335 Zur in unterschiedlichen Kontexten entwickelten Vorstellung des Neuen Menschen vgl. oben, Kap. B.VI.2.3, hier bes. Anm. 118. 402 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust dem Menschen und seiner Würde wird vielmehr für gegenwärtig irrelevant erklärt und in eine kaum absehbare Zukunft verschoben. (5) Schließlich eignet Müllers Stück ein dezidiert sprachreflexives Moment. Die Sprache des Textes ist überaus formelhaft, geprägt von Wiederholungen ganzer Sätze oder einzelner Versatzstücke, die bisweilen leicht variiert werden. 336 Besonders auffällig sind (Teil-)Sätze wie „Wissend, das tägliche Brot der Revolution / […] Ist der Tod ihrer Feinde“ (vgl. etwa M 245, 247, 248, 249, 251) oder „Eh die Revolution hat gesiegt endgültig“ (vgl. etwa M 248, 252, 253, 256), aber auch die apodiktische, bisweilen personifizierende Formulierung „die Revolution“ (passim) und die Nominalphrase „Feinde der Revolution“ (passim). Hatte die formelhaft-distanzierte Sprache bei Brecht noch die Funktion, die Notwendigkeit des Primats der Reflexion vor der Emotion zu postulieren und zu illustrieren sowie einen Reflexions- und Lernprozess zu ermöglichen, tritt nun ein anderer Aspekt in den Vordergrund: Die fast mantraartige Wiederholung bestimmter Schlagworte und Phrasen im Stück weist auf die Entwertung durch ihren exzessiven Gebrauch in der öffentlichen oder offiziellen Sprache der Partei (in Müllers konkreter Situation: des Staatsapparates) hin. „Revolution“ und „Feinde der Revolution“ verkommen zu bloßen Worthülsen, die für die ideologische Selbstlegitimation unverzichtbar sind, deren konkreter Inhalt aber prekär erscheint. Die Wiederholungen verweisen aber auch auf eine zeitliche Dimension. Mauser entstand 1970, vier Jahrzehnte nach der Maßnahme - doch immer noch sollen Losungen und Parolen Gewalt, Opfer und letztlich auch die Missachtung der Menschenwürde rechtfertigen. Müllers Stück äußert in dieser Hinsicht nicht nur Skepsis, sondern unverkennbare Kritik. VII.4. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur über den Nationalsozialismus Die untersuchten literarischen Texte legen allesamt eine Lektüre mit Blick auf den Begriff der Menschenwürde nahe. Als eindeutig unverletzbare Qualität erscheint Menschenwürde lediglich bei Seghers; die übrigen Texte nehmen diese Vorstellung tendenziell zurück. Gerade die Infragestellung der Menschenwürde von Opfern des Nationalsozialismus kann - beispielhaft bei Levi - im Rezeptionsprozess eine dringliche appellative Dynamik entwickeln. Dass sich die Literatur gegen den nationalsozialistischen Missbrauch ihres ureigenen Mittels - der Sprache - wehrt, wurde an mehreren Stellen deutlich. 336 Zu Recht stellt Komins fest, dass in Mauser keine wirklichen Dialoge mehr stattfinden (Rewriting, Violence, and Theater, S. 112). VII.4. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur über den Nationalsozialismus 403 Weissʼ Ermittlung ist insgesamt ein (erfolgreicher) Versuch, die Entwürdigungs- und Verschleierungspotentiale von Sprache radikal offenzulegen. Herta Müllers Atemschaukel - auch wenn der Roman nicht die NS -, sondern kommunistische Verbrechen als Hintergrund hat - belegt eindrücklich, dass imaginative, sprachliche und ästhetische Kreativität zum Garanten der Menschenwürde werden kann - und so gleichsam die Sprache rehabilitiert. Auch bestimmte ästhetische Strategien zielen darauf ab, die NS -Sprache als entwürdigend zu entlarven: So erscheint die in vielen Texten greifbare leitmotivische Tiermetaphorik als ironisch-aufklärerische Anspielung auf die biologistischen Metaphern des NS -Jargons, der gleichsam übernommen und in enthüllender Absicht transformiert wird. Die Wiederholung und gezielte, effektvolle Platzierung des anrufenden Substantivs „Mensch“ schließlich - am auffälligsten in Weissʼ Ermittlung , aber auch bei Neumann und Levi - dient der lakonischen Erinnerung daran, was die Signifikaten der entwürdigenden NS -Sprache bzw. die Opfer der tatsächlichen außersprachlichen Entwürdigungen sind - Menschen. Zur Geißelung der NS -Ideologie und der Gewalt, in der sie gipfelt, dienen auch die Literarisierungen von Menschenwürdeverletzungen und Entwürdigungen - seien sie schockhaft-explizit und sinnlich wie bei Weiss oder zurückhaltender bis hin zur Ausklammerung wie bei Neumann. Der zugrundeliegende poetologische Impetus kann sehr unterschiedlich sein: Weissʼ extreme Darstellung der Entwürdigung wird zur ästhetischen Aufforderung zum Widerstand gegen Entwürdigungen; bei Seghers und Neumann ist das Umreißen eines bestimmten Menschenbildes wichtiger als der potentielle Schockeffekt einer Gewaltdarstellung. Auch die Frage nach der Menschenwürde der Täter erhält unterschiedliche Akzentuierungen: Weiss brandmarkt mit großem rhetorischem Aufwand die groteske sprachliche Negation von Menschenwürde und Verantwortung, mit der sich die Angeklagten zu verteidigen versuchen. Falladas Roman ist eine bedrückende narrative Schilderung der moralischen Würdelosigkeit als gesamtgesellschaftliches deutsches Phänomen. Schlink hingegen beleuchtet die emotionalen und psychologischen Aporien eines Menschenwürdebegriffs, der als ethische und rechtliche Grundlage der Nachkriegsgesellschaft auch für die Täter gilt. Auffällig ist schließlich, dass fast allen der hier analysierten Texte ein utopisches Moment eignet: Gleichsam als Reaktion auf die folgenschwere Aberkennung der Menschenwürde bestimmter Menschengruppen und angesichts der verheerenden Missachtungen der Menschenwürde all jener, die im Visier der NS -Vernichtungspolitik standen, redefinieren die Texte Würde als elementare Menschlichkeit, als zutiefst menschliche, eher gefühlsals verstandesmäßige Solidarität und Empathie. Améry, Seghers, Neumann, Fallada, Remarque und 404 B.VII. Die Menschenwürde und die Literatur über Nationalsozialismus und Holocaust Herta Müller - alle betonen, mit jeweils individuellen Akzentuierungen, die soziale, ja kommunikative Dimension von Menschenwürde. Sie entsteht in der und wird garantiert durch die Anerkennung durch andere Menschen. VIII.1. Jelineks Essayistik 405 VIII. Die Ästhetik der Entwürdigung und der Würdelosigkeit: Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks VIII.1. Jelineks Essayistik der zweck der müten des trivialbereichs ist es […] die welt in ihrer unbeweglichkeit zu halten. […] das läuft daraufhin hinaus daß der menschlichen tätigkeit dauernd enge grenzen vorgezeichnet und ins gedächtnis zurückgerufen werden innerhalb derer er sein „leiden“ durchexerzieren darf ohne zu einer revolutionären veränderung zu kommen. 1 Elfriede Jelineks Essay Die endlose Unschuldigkeit (1970) ist eine Auseinandersetzung mit Roland Barthesʼ Mythologies (1957; dt. Mythen des Alltags ) mit besonderem Akzent auf der reaktionär-manipulativen Macht der modernen Massenmedien. 2 Mit einem marxistisch fundierten, gesellschafts- und patriarchatskritischen Impetus analysiert Jelinek „trivialmüten“ ( EU 40), die „Ideologien erzeug[en] und verfestig[en]“ 3 - und die Menschenwürde in zweifacher Hinsicht unterminieren: Sie produzieren einen zurechtgestutzten, in seinem Bewusstsein gelenkten Menschen und unterdrückte, entmündigte, verdinglichte Frauen. Massenmedien, etwa Werbung und Fernsehen, bewertet Jelinek als dezidiert emanzipationsfeindlich, da sie lediglich ein dem kapitalistisch geordneten, patriarchal organisierten Gesellschaftssystem dienliches Menschenbild propagieren und im Bewusstsein der Rezipienten verankern. Sogar „humanität“ und 1 Elfriede Jelinek, Die endlose Unschuldigkeit, in: Trivialmythen, hg. v. R. Matthaei, Frankfurt / M. 1970, S. 40-66, hier S. 66 (Herv. i. O.). Im Folgenden werden Zitate im Text in der Form (EU Seitenangabe) belegt. 2 Zu Jelineks Essay und zum Begriff des Mythos vgl. z. B. Bärbel Lücke, Elfriede Jelinek. Eine Einführung in das Werk, Paderborn 2008, S. 24-32; Uta Degner, Art. Mythendekonstruktion, in: Jelinek-Handbuch, hg. v. P. Janke u. Mitarb. von C. Schenkermayr u. A. Zenker, Stuttgart / Weimar 2013, S. 41-46; Michael Fischer, Trivialmythen in Elfriede Jelineks Romanen „Die Liebhaberinnen“ und „Die Klavierspielerin“, St. Ingbert 1991, S. 13-21; zur Bedeutung Barthes’ für Jelineks Werk vgl. auch Annette Doll, Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek. Eine Untersuchung ihrer literarischen Intentionen, Stuttgart 1994, bes. zusammenfassend S. 179-180. 3 Lücke, Jelinek, S. 27. 406 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks „menschlichkeit“ werden zum bloßen „geschäft“, zum kommerziell ausschlachtbaren „mütos“ ( EU 59; vgl. 43 und 58). Massenmedien manipulieren gar Wahrnehmung und Bewusstsein: „die arbeit der werbung der wirtschaft am kastrierten oder frigiden menschen“ - und das heißt: am „unterdrückte[n]“ Menschen ( EU 55) - zielt auf eine „reprimitivisierung“ ( EU 45). Der seiner intellektuellen Selbstständigkeit und seiner Selbstbestimmung beraubte Mensch, das ist Jelineks Pointe, ist nur den herrschenden und besitzenden Klassen nützlich. Besonders offensichtlich ist die den Trivialmythen inhärente Entwürdigung der Frau. Nicht nur fixieren sie reaktionäre Familienstrukturen ( EU 60-61), sondern sie degradieren die Frau zur „ware und [zum] aufgeputzte[n] sexualobjekt“ ( EU 61). Gleichzeitig wird die Frau ‚entsexualisiert‘ ( EU 53), da ihr ein freies, selbstbestimmtes Ausleben ihrer Sexualität nicht gestattet wird; der Blick auf die Frau und ihre Sexualität ist stets der (durch Werbung, Fernsehen usw. gelenkte und vermittelte) männliche. Jelineks literarisches Werk dekonstruiert mit großer Vehemenz diese Trivialmythen, um ihre ideologiebildende Macht - mit den Mitteln des literarischen Sprechens - sichtbar werden zu lassen. 4 In einer kurzen Theaterpoetik erklärt Jelinek, sie wolle „die Sprache zum Sprechen […] bringen“, um die „im Idiom verhüllte[n] Aussagen [zu] entlarv[en]“. 5 Die Bühnenfiguren, als „Typen, Bedeutungsträger“ konzipiert, sind „Werkzeuge“ zum Zwecke einer „Aussage“. 6 Wie für Brecht, auf den sie sich explizit beruft, hat die Kunst für Jelinek einen „politische[n] Auftrag“; sie dient der „Bewußtmachung von Zuständen und Sachverhalten“. 7 Traditionalistische Regeln, Tabus und Geschmacksgrenzen werden obsolet, ja stehen der erklärten Intention im Wege: „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, damit kein Gras mehr wächst, wo meine Figuren hingetreten 4 Vgl. etwa Lücke, Jelinek, S. 29 und Degner, Art. Mythendekonstruktion. - Ebenfalls häufig verwendet wird der Terminus „Mythendestruktion“. Lücke differenziert zwischen beiden Begriffen, indem sie ausführt, „dass Jelinek mit ihren Sprach-, Form- und Sinnzertrümmerungen nicht nur destruiert, sondern eben de-konstruiert, weil sie ja auch über Differenzen (männlich / weiblich, Natur / Kunst etc.) Sinn erzeugt, ihn aber über die Sprachspiele, die Neologismen, die formalen Verweigerungen von Handlung und Charakteren wieder ‚verschiebt‘, zu neuem Sinn formiert“ ( Jelinek, S. 26). Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Degner, Art. Mythendekonstruktion, S. 45-46. Degner weist weiterhin darauf hin, dass der Essay Die endlose Unschuldigkeit bisweilen als „Schlüssel für [Jelineks] Gesamtwerk“ betrachtet wird (ebd., S. 41). 5 Elfriede Jelinek, Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, in: TheaterZeitSchrift 7 (1984), S. 14-16, hier S. 16. 6 Ebd., S. 14 bzw. 16. - Jelinek „vergrößer[t] (oder reduzier[t])“ Figuren „ins Übermenschliche“ (ebd., S. 14). 7 Ebd., S. 15. VIII.1. Jelineks Essayistik 407 sind.“ 8 Ihre Texte seien jedoch weder pornographisch noch effekthascherisch, so Jelinek; vielmehr schreibe sie „Anti-Pornographie“: Der männliche Blick auf die Frau […] ist immer verachtend. Pornografie ist nicht die Darstellung einer Handlung sondern der Erniedrigung. Eine pornografische Darstellung ist immer auch eine geschichtslose Darstellung. Deshalb versuche ich zum Beispiel die Geschichte der Herabwürdigung der Frauen wieder zu schreiben. Meine Arbeit nenne ich anti-pornografisch, weil ich einen Bewußtmachungsprozeß erzielen und nicht nur einfach aufgeilen möchte […]. 9 (m. H.) „Anti-Pornographie“ ist demnach die Entlarvung von Gewalt- und Machtstrukturen, die die körperlich-seelische Integrität der Frau bedrohen und ihre Menschenwürde gefährden. 10 Explizite und „drastische“ literarische Beschreibungen von Sexualität und Gewalt sind „politisch“ und keineswegs Selbstzweck; sie decken das „Herr / Knecht-Verhältnis zwischen Männern und Frauen“ auf. Ästhetik und politische Aussage bedingen sich gegenseitig: „Das Obszöne ist dann gerechtfertigt, wenn man den Beziehungen zwischen Männern und Frauen die Unschuld nimmt und die Machtverhältnisse klärt.“ 11 Die geradezu aufklärerische 8 Ebd., S. 14. 9 Jelinek, Der Sinn des Obszönen, in: Frauen & Pornographie, hg. v. Claudia Gehrke, Tübingen 1988, S. 102-103. 10 Pornographie beruht nach der einflussreichen Definition der Feministin Andrea Dworkin auf den zwei wesentlichen Aspekten Gewalt und Macht: „Männliche Macht ist das Wesen der Pornographie. Die Erniedrigung des Weiblichen ist das Mittel, diese Macht zu erringen.“ In ihrem Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe von Dworkins Text beklagt die deutsche Feministin Alice Schwarzer, dass Pornographie „die Menschenwürde von Frauen, ihre Selbstbestimmung und ihre seelische wie körperliche Integrität“ gefährde. Vgl. Dworkin, Pornographie. Männer beherrschen Frauen. Mit einem Vorwort von Alice Schwarzer. Deutsch von Erica Fischer, Frankfurt / M., 1990 [urspr. 1979], S. 36 und Schwarzer, Vorwort, in: ebd., S. 10. Vgl. weiterhin Ina Kerner, Art. Pornographie, in: WdW, S. 231-233, hier S. 231-232. Kerner weist auf Schwarzers Kampagne gegen Pornographie Ende der 1980er Jahre hin. Schwarzer bezeichnet Pornographie als „sexualisierte[n] Frauenhass“ und als „Verstoß gegen die Menschenwürde“ (zit. in: ebd., S. 231). 11 Jelinek, Der Sinn des Obszönen, S. 102. - Zum Begriff des Obszönen, der in Jelineks Text vage bleibt, vgl. Gero von Wilpert, Art. Obszönität, in: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 8 2001, S. 369 und Carol Mavor, Art. Obscenity in Art, in: Encyclopedia of Aesthetics, Bd. 3, New York 1998, S. 386-389, hier bes. S. 386: „[O]bscenity most often connotes excess, violence, and transgression. […] It is artistic merit that turns the ‚obscene‘ into art, into legal obscenity“. Mavor geht auch auf Georges Batailles Histoire de l’œil (1928) als charakteristisches obszönes Werk ein (ebd., S. 388-389). Jelinek selbst kündigte ihren Roman Lust als Gegenentwurf zu Batailles Text an, beklagte aber später ihr Scheitern an diesem Projekt. Vgl. etwa Françoise Rétif, Die Lust am Obszönen bei Georges Bataille und Elfriede Jelinek, in: Elfriede Jelinek. Sprache, Geschlecht und Herrschaft, hg. v. F. R. u. J. Sonnleitner, Würzburg 2008, S. 107-118, hier S. 107 sowie Lücke, Jelinek, S. 81-82. Rétif betont die unterschiedliche Funktion des Obszönen bei Bataille und bei Jelinek: „Im 408 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks gesellschaftspolitische Intention Jelineks ist die Enthüllung der Entwürdigung der Frau. Künstlerisches Mittel hierzu ist eine Ästhetik des Obszönen, oder: eine Ästhetik der Entwürdigung , die die Entwürdigung sprachlich inszeniert, reflektiert und so durchschaubar macht. Jelineks Ästhetik der Entwürdigung wird im Folgenden in der Analyse dreier literarischer Texte rekonstruiert: der Romane Die Klavierspielerin und Lust sowie des Theatertexts Über Tiere . 12 VIII.2. Die Klavierspielerin (1983) Jelineks Prosatexte sind aus narratologischer Sicht eine Herausforderung. Eine Trennung von Erzählerkommentaren und Figurenperspektive ist häufig schwierig, womöglich auch weder intendiert noch sinnvoll. Zudem äußert sich (besonders in Lust ) eine Erzählinstanz, die prominent die Artifizialität des Textes, seine sprachliche Verfasstheit herausstellt. Jelineks Texte sind forciert sprachkritisch und sprachspielerisch; die Sprache selbst und ihr Einfluss auf die Bewusstseinsverfassung einer Gesellschaft werden zu einem zentralen Thema. Da die Texte gerade die auch der Sprache inhärenten Macht- und Entwürdigungsstrukturen dekonstruieren, verlieren traditionelle narratologische Kategorien - das sei mit aller gegebenen Vorsicht angemerkt - tendenziell an Klarheit. Die Klavierspielerin beleuchtet die entwürdigenden Mechanismen, die sowohl den Geschlechterverhältnissen als auch sozialen Rollen und Selbstbildern innewohnen. 13 Gegen Anfang des Romans steht eine Szene aus der Jugend der Gegensatz zu den Frauen bei Bataille […] empfindet die Frau bei Jelinek keine Lust. Das Obszöne zeugt nur von ihrer Degradierung […]. Sie ist als Tier, als Objekt degradiert“ (Die Lust am Obszönen, S. 116). - Für eine Analyse des Werks in Bezug auf den Begriff des Hässlichen vgl. Doll, Mythos, Natur und Geschichte, S. 124-151. 12 Diese drei Texte fokussieren die Entwürdigung der Frau durch die patriarchalische Gesellschaft. Die Menschenwürde ist auch in anderen Texten Jelineks Thema, prominent etwa in ihrem rezenten Theatertext Die Schutzbefohlenen (2013), der die Flüchtlingskrise in den Blick nimmt. Vgl. dazu Kyung-Ho Cha, Die literarische Darstellung der Flüchtlinge und die Kritik des medialen Menschenrechtsdiskurses in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen , in: Menschenrechte erzählen (wie S. 44, Anm. 110), S. 358-369. 13 Zu Die Klavierspielerin vgl. etwa Marlies Janz, Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin , in: Romane des 20. Jahrhunderts. Interpretationen, Bd. 3, Stuttgart 2003, S. 108-135; Tilo Renz, Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin (1983), in: Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert, hg. v. C. Benthien u. I. Stephan, Köln [u. a.] 2005, S. 176-200; Alexandra Tacke, Art. Die Klavierspielerin , in: Jelinek-Handbuch (wie Anm. 2), S. 95-102; Lücke, Jelinek, S. 72-81; Matthias Luserke, Sexualität, Macht und Mythos. Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“, in: Der Deutschunterricht 45.1 (1993), S. 24-33; Andreas Heimann, Die Zerstörung des Ichs. Das untote Subjekt im Werk Elfriede Jelineks, Bielefeld 2015, S. 63-80. - Die vorliegende Analyse konzentriert sich auf den Würde- VIII.2. Die Klavierspielerin (1983) 409 Protagonistin Erika Kohut, die das Herr-Knecht-Verhältnis zwischen Mann und Frau versinnbildlicht. Ihr vor Vitalität strotzender Cousin mit dem generischen Namen Burschi demonstriert „seine neuesten Ringerkunststücke“, 14 mit denen er seine ihn anhimmelnden weiblichen „Versuchspersonen“ „in die Knie“ zwingt: „Über ihnen steht der junge Mann und triumphiert“. Die buchstäblich unter legenen Mädchen „küssen“ Burschi freiwillig „die Füße“ und reduzieren sich selbst zu konsumierbaren Waren: „Die Mädchen kugeln um den Burschi herum wie reife Früchte, die vom Baum gefallen sind. Er braucht sie nur noch aufzuheben und zu verspeisen […]“ ( KS 43). Zum Symbol des Triumphes wird Burschis nur spärlich bedecktes Genital: Das rote Päckchen voll Geschlecht gerät ins Schlingern, es kreiselt verführerisch vor IHREN [i. e. Erikas; MG ] Augen. […] Daran lehnt sie für einen kurzen Augenblick nur ihre Wange. […] Einen Augenblick ist SIE die Empfängerin dieses Pakets. SIE streift mit den Lippen darüber hin oder war es mit dem Kinn? Es war wider die eigene freie Absicht. […] Dieser Augenblick soll bitte verweilen, er ist so schön. ( KS 46) Verben und Präpositionen denotieren die räumliche Differenz zwischen dem erhabenen Mann und der herabgesetzten Frau („knien“, „über“, „aufheben“). Die Beschreibung von Burschis Genital suggeriert, dass diese Unterwerfung dem Verhältnis der Geschlechter inhärent, mithin habituell und patriarchal begründet ist. Erika jedoch sexualisiert die Erfahrung ihrer Erniedrigung auf seltsame Weise, sublimiert sie gar - unbewusst! - durch die Anspielung auf Goethes Faust . 15 Sie ist gefangen in patriarchalen Denk- und Erfahrungsmustern, denen die Entwürdigung der Frau eingeschrieben ist. Dass sie sich wenig später mit einer (vom Vater geerbten! ) „Rasierklinge“ selbst verletzt, einem Phallussymbol, das sie „[a]us einem vielschichtigen Paket“ herausnimmt ( KS 47) - eine unmittelbare Anspielung auf Burschis als „Päckchen“ und „Paket“ bezeichnetes Geschlecht -, mutet an wie der ambige Versuch, selbst über den eigenen Körper und die eigene Erfahrung zu bestimmen, festigt aber - als phallische Verletdiskurs; psychoanalytische Interpretationen stehen nicht im Vordergrund. Vgl. hierfür einführend Janz, Jelinek: Die Klavierspielerin und Lücke, Jelinek, S. 72-81. 14 Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin, Hamburg 43 2012 [urspr. 1983], S. 42. Im Folgenden wird stets diese Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (KS Seitenangabe) belegt. 15 In Faust I ruft der titelgebende Held aus (V. 1699-1702): „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zu Grunde gehn! “. Zum Faust-Zitat vgl. auch Janz, Jelinek: Die Klavierspielerin , S. 114. Zum Motiv des Füßeküssens und zu Spiegelungen der Burschi-Szene im späteren Verlauf des Romans vgl. ebd., S. 117. 410 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks zung des weiblichen Körpers - die männliche Dominanz. 16 In Erikas Verhältnis zu ihrem Klavierschüler Klemmer wiederholt sich dieses Muster. Klemmers Blick auf Erika 17 prägt der Anspruch des Mannes, die Frau zu besitzen und zu unterwerfen. In Umkehrung der tatsächlichen sozialen Beziehung (Alter, Funktion) soll „seine Lehrerin dereinst ihm gehorchen“; „unwillkürlich“ fasst er sich dabei „an die gräßliche Waffe seines Geschlechts“ ( KS 67). Erika ist ein Mittel zu einem präzise definierten Zweck: Sie - und das meint auch: ihr Körper - ist ein „Versuchsmodell“ ( KS 68) zum „Einspielen ins Leben“ ( KS 67). Auf syntaktischer Ebene zeigt eine Reihe von Verbalphrasen an, dass Klemmer zum Subjekt, Erika zum Objekt wird. 18 Auch metaphorisch wird Erika objektifiziert: Sie ist weder ein gleichberechtigter noch ein wertvoller Mensch, sondern wird, indem Klemmer sie „unterw[irft]“, zu einem „formlose[n] Kadaver“, zu einem „schlaffe[n] Gewebesack“ ( KS 69). Klemmers Herrschaftsanspruch über Erika ergibt sich, wie der generalisierende Singular „der Mann“ ( KS 69) suggeriert, allein aus seinem Geschlecht. Sexualität erscheint somit als eine dem männlichen Geschlecht inhärente Form der Macht. Jelineks Roman inszeniert die Herabwürdigung der Frau als Teil eines Geflechts gewaltsamer sozialer Interaktionen und Beziehungen. Erika gibt die Erfahrung ihrer Entwürdigung weiter. Als kunstaffiner Mensch fühlt sie sich ihren Mitmenschen prinzipiell überlegen. „Drängeln ist unter IHRER Würde,“ erfährt der Leser, in Überblendung der Perspektive Erikas und des Erzählers, „denn es drängt der Mob, es drängt nicht die Geigerin und Bratschistin“ ( KS 23). Würde bezeichnet hier das Gefühl einer sozialen Überlegenheit, das sich aus der (arroganten) Überzeugung der Sonderstellung des künstlerisch engagierten 16 Marianne Wünsch interpretiert Erikas Selbstverstümmelungen als Handlungen, die „sie sich statt der Sexualität kompensatorisch und substitutorisch auferlegt“ (Das System der Körperkonzeptionen in Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin , in: M. W., Moderne und Gegenwart. Erzählstrukturen in Film und Literatur, hg. v. L. Hagestedt u. P. Porto, München 2012, S. 525-535, hier S. 529). 17 Zur ständig wechselnden Erzählperspektive als charakteristischem und bei der Interpretation stets zu beachtendem Aspekt vgl. etwa Inge Arteel, „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“. Stilistische, wirkungsästhetische und thematische Betrachtungen zu Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin , Gent 1991, S. 55-75. Arteel stellt vier „Techniken“ heraus: „1. die Mischung der Perspektive der Erzählerfigur mit der Perspektive einer Reflektorfigur; 2. die gegenseitige Aufhebung der Perspektiven; 3. die Personifizierung der Erzählerfigur zu einer Sie-Erzählerin; 4. der Transpersonalismus“ (ebd., S. 60). - Vgl. auch Janz, Jelinek: Die Klavierspielerin , S. 129-131, die den Perspektivwechsel treffend als mythenkritische Strategie deutet. - Arteel spricht in Bezug auf Die Klavierspielerin von einer Erzähler in . Allerdings ist die Erzählinstanz bei weitem nicht so deutlich als weiblich profiliert wie in Lust ; im Folgenden wird daher die neutrale Bezeichnung „Erzähler“ beibehalten. 18 Vgl. KS 69: „Erklären wird er ihr […]“, „Er wird ihr zeigen […]“, „wird er sie […] verlassen“. VIII.2. Die Klavierspielerin (1983) 411 Menschen speist. 19 In der Öffentlichkeit „stolziert“ Erika „als Herrin herum“ ( KS 55). Dass sie in ihrer Überheblichkeit ironischerweise gerade als „Herrin“ bezeichnet wird, legt nahe, dass im patriarchatskritischen Diskurs des Textes Macht und die ihr eigene Tendenz zur Entwürdigung stets an das männliche Geschlecht gebunden ist. Wenn auch Erika zur Urheberin von bewussten Herabwürdigungen wird, indem sie ihre Klavierschüler demütigt und erniedrigt, haben diese stets eine sexuelle Komponente (vgl. KS 104-105, 112); sie ahmt männliche Verhaltensmuster nach. So ist es auch, als Erika eine Peepshow besucht: Erika schaut ganz genau zu. Nicht um zu lernen. In ihr rührt und regt sich weiter nichts. Doch schauen muß sie trotzdem. Zu ihrem eigenen Vergnügen. […] Erika kann nichts dafür. Sie muß und muß schauen. Sie ist für sich selbst tabu. Anfassen gibt es nicht. ( KS 58) Erikas Schauen ist eine Ersatzbefriedigung; nicht nur äußert sich darin ihr gestörtes Verhältnis zur eigenen Sexualität, sondern auch der Wunsch, erfahrene Entwürdigungen durch ihren Blick, der andere zu bloßen Objekten macht, weiterzureichen. Die Klavierspielerin zeichnet eine Spirale der Entwürdigung; der Roman konturiert soziale Beziehungen als von allgegenwärtiger Entwürdigung geprägt. 20 Entwürdigung wird zum einen beschrieben als der Wunsch, über einen anderen Menschen (und seinen Körper) zu verfügen, ihn zu besitzen. Der Mensch erscheint zum anderen im Text als Tier, als Ware, als bloßes Ding. Entsprechend schildert Jelinek Sexualität als Konsum sowie als Verdinglichung und Herabwürdigung des Gegenübers - und das auf obszöne, mitunter ekelhafte Weise. Versuche der Figuren, dieses System der Entwürdigung zu durchbrechen und die eigene Würde zu behaupten, sind zum Scheitern verurteilt. Ob der Begriff der Menschenwürde im Kosmos des Romans überhaupt noch Gültigkeit beanspruchen kann, erscheint höchst fraglich. VIII.2.1. Entwürdigung und Verfügungsgewalt Bereits auf familiärer Ebene äußern sich in Die Klavierspielerin Besitz- und Herrschaftsansprüche: Erika lebt in einer krankhaft „symbiotischen Beziehung“ 21 mit ihrer Mutter - für den Vater ist kein Platz -, die jeden Wunsch nach Selbst- 19 Vgl. weiterhin KS 29, 70, 86 und 102. 20 Vgl. ähnlich Janz, Jelinek: Die Klavierspielerin , S. 113: Erika agiere „innerhalb [eines] Zirkels von Herrschaft und Unterwerfung“. 21 Tacke, Art. Die Klavierspielerin , S. 95. Vgl. ähnlich Elizabeth Wright, Eine Ästhetik des Ekels. Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“, in: Text + Kritik 117 (1993), S. 51-59, hier S. 51. - Vgl. KS 129. 412 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks bestimmung im Keim erstickt (vgl. KS 7-13, 213). Das künstlerisch engagierte Kind ist Statussymbol und Wertanlage; sowohl die Tochter als auch die Kunst sind keine Selbstzwecke, sondern in ihrer Funktion und Wahrnehmung eingebettet in das kapitalistische Werte- und Verwertungssystem. 22 Sogar über Erikas Sexualität beansprucht die Mutter, mit der sie den intimen, privaten Raum des Schlafzimmers teilt, Kontrolle. 23 Erika verkommt gar zum verdinglichten Besitz, der der Mutter „gehört“ ( KS 202): „[N]och ist es […] ihre Tochter“ ( KS 156; Herv. i. O.). Als Erikas Schüler Klemmer eine von Gewalt und Machtspielen geprägte Beziehung mit ihr beginnt, fürchtet die Mutter um ihre Vorherrschaft: „Die Mutter weist empört darauf hin, daß fremdes Eigentum beschädigt wird, nämlich ihres! “ (KS 269). Die Tochter hat weniger als Individuum, zu dem eine emotionale Bindung besteht, eine Bedeutung, sondern als Garantin einer Machtposition, die sich über ihre Unterdrückung konstituiert. 24 Dass Klemmer und die Mutter in ihrem Verfügungsanspruch über Erika gleichgesetzt werden (vgl. KS 200), insinuiert, dass sich auch im Verhältnis zwischen der Mutter und Erika patriarchale Strukturen äußern: Macht entsteht und festigt sich durch die Herabwürdigung der Frau, die, ihrer Selbstbestimmung beraubt, zum verdinglichten Eigentum wird. 25 Erika versucht durchaus, sich zu wehren, etwa in ihrer Beziehung zu Klemmer. Eigentlich hatte Erika eine Liebesbeziehung zu einem Mann ausgeschlossen, um zumindest der Gefahr der Bevormundung durch einen männlichen Partner zu entgehen: „[N]un will sie keinen Herrn mehr über sich haben“ (KS 79; m. H.; vgl. 88-89). Die Ambiguität der Formulierung (‚männlicher Sexualpartner‘ und ‚übergeordnete Instanz‘) suggeriert wieder: Sexualität ist in der Welt des Romans eine Form der Macht, eine Quelle der Entwürdigung. Entsprechend werden (vor allem die sexuellen) Begegnungen Erikas mit ihrem Schüler beschrieben als von beiden Seiten ausgetragener Kampf um die Verfügungsgewalt über den jeweils anderen. Beim ersten sexuellen Intermezzo auf der Mädchentoilette der Musikschule ist es zunächst Klemmer, der „der bestimmende Teil“ ist. Wie vorher die Mutter dringt er auf eklatante Weise in Erikas Privatsphäre 22 Vgl. KS 27 und 30. Vgl. dazu auch Tacke, Art. Die Klavierspielerin , S. 96. 23 Vgl. etwa KS 56: „Erika hat keine Empfindung und keine Gelegenheit, sich zu liebkosen. Die Mutter schläft im Nebenbett und achtet auf Erikas Hände.“ 24 Vgl. dazu die lakonischen Erzählerkommentare: „Sie achtete der Freiheit ihres Kindes nicht, und nun geht ein anderer mit dieser Freiheit unachtsam um“ (KS 272); nur wenig später heißt es: „Es kann sein, dass der Mann ihr an der Tochter nichts mehr zu beherrschen übrig läßt“ (KS 274). 25 Vgl. dazu Jelineks Definition des Patriarchats: „Patriarchat heißt nicht, daß immer die Männer kommandieren, es kommandieren auch Frauen, nur kommt das letztlich immer den Männern zugute.“ Riki Winter, Gespräch mit Elfriede Jelinek, in: Elfriede Jelinek, hg. v. K. Bartsch u. G. A. Höfler, Graz [u. a.] 1991, S. 9-19, hier S. 13. VIII.2. Die Klavierspielerin (1983) 413 ein, indem er „über die Trennwand [langt]“. Erika verliert sogleich den Willen zur Selbstbestimmung: „Gemäß dem Anlaß gibt sich Erika als Person sofort auf “ ( KS 178). Mit diesem mythengemäßen, automatisierten Verhalten bestätigt und verstärkt Erika zunächst existierende soziale Machtstrukturen. Klemmer steht es nun frei, von „diese[m] Stück Erika“ „Gebrauch“ zu machen. Gierig verfügt er über sie und penetriert ihren Körper ( KS 179). Bald legt Erika jedoch ihren paradoxen „Wunsch zu gehorchen“ (KS 105), der sie „auf einen Hinweis oder einen Befehl“ warten lässt (KS 179), ab. Erika „holt seinen Schwanz heraus“, setzt „ihm die ganze Schwere ihrer Person“ entgegen und hält Klemmer in „ihr[em] plötzlich überlegene[n] Wille[n]“ auf Distanz ( KS 181). Die Wiederaufnahme der Vokabel „Person“ (KS 181; vgl. KS 178) zeigt, wie bewusst Jelinek den Würdediskurs des Textes gestaltet. Erikas Versuch, ihre „Person“ zu behaupten, entspricht dem Wunsch, vom Befehlsempfänger zur selbstbestimmt handelnden Frau zu werden. Macht und Geschlecht (im wörtlichen wie im allgemeinen Sinne) sind untrennbar verwoben. Als Erika beginnt, Klemmer zu befriedigen, „überläßt sich [dieser] verstört dem fremden Willen“ ( KS 182); die Rollen scheinen vollends vertauscht. Nachdem ihm Erika die Ejakulation „nicht gewährt“, „bittet [Klemmer] zitternd und wimpernd“: „Er ist ganz außer Kontrolle geraten, weil der Mann in ihm mißbraucht wurde“ ( KS 184). Klemmer empfindet seinerseits den Verlust von Selbstverfügung und -bestimmung als Angriff auf seine Würde als Mann , weil er sich lediglich als Subjekt - und nicht als Objekt - solcher Angriffe vorstellen kann. Zu diesem Zeitpunkt erscheint Erika als ‚Siegerin‘, der die Bestimmungsgewalt zufällt. „[I]n Zukunft“ wird sie „alles aufschreiben […], was er mit ihr anfangen“ darf ( KS 183). Allerdings sind Erikas Wünsche hochproblematisch und widersprüchlich: Sie „möchte Schwäche zeigen, doch die Form der Unterlegenheit selbst bestimmen“ ( KS 209). Als Klemmer ihr nach dem Unterricht in ihre Wohnung folgt und Eintritt verlangt, gehorcht sie bereitwillig: Klemmer gibt einen Befehl. […] Erika gibt ihren Willen ab. Sie gibt diesen Willen, den bisher die Mutter besessen hat, jetzt wie einen Stab beim Stafettenlauf an Walter Klemmer weiter. […] Sie gibt ihre Freiheit zwar auf, doch sie stellt eine Bedingung: Erika Kohut nützt ihre Liebe dazu aus, daß dieser Junge ihr Herr wird. Je mehr Gewalt er über sie erhalten wird, umso mehr wird er aber zu ihrem, Erikas willigem Geschöpf. […] Er muss überzeugt sein: diese Frau hat sich mir ganz in die Hand gegeben, und dabei geht er in Erikas Besitz über. So stellt sie sich das vor. ( KS 210; Herv. i. O.) Offenbar will Erika keineswegs über sich selbst (und Klemmer! ) bestimmen. Vielmehr akzeptiert sie bewusst die patriarchal legitimierte Entwürdigung der Frau, will sie aber unterlaufen, indem sie es freiwillig tut, um so paradoxerweise einen Rest an Selbstbestimmung zu retten - was die vorgegebenen Strukturen 414 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks nur weiter festschreibt, sie gar als unabänderlich erscheinen lässt. Ihr Versuch, einen Funken an Würde zu behaupten, indem sie ihre eigene Entwürdigung selbstbestimmt leitet, scheitert tatsächlich auf beklemmende Weise. Erikas Wunsch nach Erniedrigung und Entwürdigung geht einher mit masochistischen Gewalt- und Fesselungsphantasien; in deren sprachlicher Präsentation tauchen wiederholt für den Würdediskurs einschlägige Begriffe auf: Sie will nur Instrument sein, auf dem zu spielen sie ihn lehrt. Er soll frei sein, sie aber durchaus in Fesseln. Doch ihre Fesseln bestimmt Erika selbst. Sie entscheidet, sich zum Gegenstand, zu einem Werkzeug zu machen; Klemmer wird sich zur Benützung dieses Gegenstands entschließen müssen. ( KS 216) Die zweideutige Rede vom Instrument (‚Musikinstrument‘ und ‚Mittel‘) ist ein indirekter Bezug zu dem an Kants Kategorischen Imperativ anschließenden Instrumentalisierungsverbot, der Wunsch nach Verdinglichung zur Vorstellung vom herausragenden Status des Menschen als vernünftiges, autonom handelndes Wesen. Die Verben „bestimmen“ und „entscheiden“ sind im Kontext des Würdediskurses eigentlich klar positiv konnotiert. Dass hier die Grenze zwischen Würde und Würdeverletzung verschwimmt, verweist auf Erikas paradoxe Situation: Als Frau steht ihr in der männlich dominierten Welt keine Würde zu; trotzdem sucht sie nach einem Raum dafür, sei er noch so selbstzerstörerisch und vermeintlich pervers. Verstörend zwiespältig ist auch der Brief, in dem Erika Klemmer ein „Inventarverzeichnis des Schmerzes“ vorschreibt ( KS 220): Sie wünscht sich brutalste Behandlungen, „erbittet […] sich“ sogar „Vergewaltigung“ ( KS 229). Gleichzeitig hofft sie, „daß aus Liebe alles ungeschehen bleibt“ (KS 230). 26 Die Formulierung der erbetenen Vergewaltigung ist zutiefst paradox; die Konzepte der autonomen Wunschartikulation auf der einen und der Fremdbestimmung durch Ausgeliefertsein auf der anderen Seite, der (auch sprachlichen! ) Konstitution und Behauptung des Ichs und des radikalen Angriffs auf die körperliche-seelische Integrität sind vollkommen unvereinbar. Erika geht es nicht um ‚Lust ohne Schuld‘: Indem sie die Entwürdigung wünscht, hofft sie, selbst im schlimmsten Falle ihre Würde zumindest ansatzweise zu retten. 27 Sie begreift diese artikulierte Vergewaltigungsphantasie als emanzipatorischen Akt; 26 Arteel erklärt diesen Widerspruch erzähltheoretisch als gegenseitige Aufhebung zweier Perspektiven: „Die [sic] von Erika aufgeschriebenen Sehnsüchte und Forderungen werden ständig von ihren in der Innenperspektive dargestellten Wünschen widersprochen, für die sie aber keinerlei Artikulationsmöglichkeiten findet“ („Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“, S. 68). - Zum Motiv der Vergewaltigung vgl. Gesa Dane, „Zeter und Mordio“. Vergewaltigung in Literatur und Recht, Göttingen 2005. 27 Für weitere Deutungen des Briefs vgl. Janz, Jelinek: Die Klavierspielerin , S. 116; Luserke, Sexualität, Macht und Mythos, S. 32; Tacke, Art. Die Klavierspielerin , S. 99; Regine U. Schricker, Ohnmachtsrausch und Liebeswahn. Weiblicher Masochismus in Literatur und Film VIII.2. Die Klavierspielerin (1983) 415 in der Phantasie als Wunscherfüllung - über die Erika Herrin bleiben möchte - scheint das Potential zur Selbstbestimmung auf. Doch Erikas Vorhaben muss scheitern. Denn Klemmer durchschaut sie und fühlt sich in seiner (als gesellschaftlich festgelegte Rolle verstandenen) Männlichkeit bedroht: „Hat er recht verstanden, daß er dadurch, daß er ihr Herr wird, ihrer niemals Herr werden kann? Indem sie bestimmt, was er mit ihr tut, bleibt immer ein letzter Rest von ihr unergründlich“ ( KS 219). Sein beißender Spott impliziert, wie der Erzähler geradezu exegetisch feststellt, „daß sie nichts oder nicht viel ist“ ( KS 220). Dass ein Mann, statt Subjekt der Herabwürdigung zu sein, zum Objekt selbstbestimmter weiblicher Wünsche zu werden droht, ist für Klemmer undenkbar, veranlasst ihn dazu, jeglichen Anspruch Erikas auf eine würdige Behandlung, die sie als gleichwertigen Partner und als Menschen ernst nähme, abzulehnen. Zwar „leckt sich [Klemmer] nervös über die Lippen im Angesicht von Verfügungsgewalt“ (KS 224), da die Vorstellung, mit Erika zu tun, was er will, seinem Männlichkeitsideal schmeichelt, doch dass Erikas offensiv artikulierte sexuelle Wünsche und ihr Versuch, ultimativ Herrin der Situation zu bleiben, nicht mit dem Mythos der zärtlich liebenden, sich bereitwillig hingebenden Frau kompatibel sind, stößt ihn ab: „Er ehrt Erika nicht mit der Gabe der direkten Anrede, denn diese Frau ist dessen nicht würdig “ ( KS 231; m. H.). Würdig wäre sie als Verkörperung des patriarchalen Mythos - nicht als Person, als autonomes Individuum. Auch die Menschenwürde selbst ist zu einem Mythos verkommen - zu einem gesellschaftlichen Machtstrukturen dienenden Begriff ohne jedes emanzipatorische Potential und ohne jede außersprachliche Konsequenz. Am Ende des Romans kehrt Klemmer als Autor eines „grausamen Vernichtungswerks“ (KS 257) in Erikas Wohnung zurück: Er vernichtet sowohl den (von ihm selbst und Erika immer wieder aufgerufenen) Mythos der romantischen Liebe als auch Erikas Wunsch nach Selbstverfügung - und damit endgültig ihre Menschenwürde. Seine nächtliche Visite endet in der brutalen Vergewaltigung Erikas und wird geschildert als Wiederherstellung des unbeschränkten, unantastbaren männlichen Bestimmungsrechts. 28 In Spiegelung der Kloszene ist es nun Klemmer, der vor der Wohnung Erikas sein Genital in der Hand hält und masturbiert ( KS 263-264); die Macht des Geschlechts wird mit rücksichtsloser des 20. und 21. Jahrhunderts, Würzburg 2011, S. 133-141; Heimann, Die Zerstörung des Ichs, S. 68-80. 28 Zwar heißt es anfangs (personal, aus Klemmers Perspektive): „Er will nichts wiederherstellen und nichts zerstören. Er will nicht zu dieser Frau hinauf […].“ Dann allerdings ergötzt sich Klemmer am Gefühl seiner (männlichen) Allmacht: „Nichts könnte ihn aufhalten! […] Es bleibt ihm überlassen, was er tut. […] [S]ie soll es am eigenen Leib erfahren, was es heißt, Spiele ohne Ziele mit ihm zu treiben“ (KS 264). Vgl. ebenso: „Aus Klemmer spricht der Mann“ (KS 270). 416 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks Wucht restituiert. Dass seine Gewalt die konkrete Interaktion zweier Individuen transzendiert und gleichsam überpersönlichen, strukturellen Charakter hat, suggerieren die generischen Substantive mit bestimmtem Artikel: „[D]er Schlag wurde vom Mann Klemmer geführt“; „Walter Klemmer bemächtigt sich der Frau gewaltsam“ ( KS 268 bzw. 271; m. H.). Klemmers Handeln ist, wie die Figur selbst klarstellt, gerade nicht die Erfüllung von Erikas paradoxem Wunsch nach Selbstbestimmung: Zwecks Weiterkommen in Leben und Gefühlen muß die Frau vernichtet werden, die über ihn sogar gelacht hat, zu Zeiten, da sie noch leicht triumphierte. Sie hat ihm Fesselung, Knebelung, Vergewaltigung zugetraut und zugemutet, jetzt erhält sie, was sie verdient. Schrei nur, schrei nur, fordert Klemmer auf. Die Frau weint laut darüber. ( KS 273) Klemmer versteht die Vergewaltigung als Umkehrung, als Aufzwingen seines Willens: „Er beweist der Frau unter Tritten die einfache Gleichung ich bin ich“ ( KS 275). Die Tautologie („ich bin ich“) verrät den (sprachlich codierten! ) Anspruch des männlichen Ichs auf Verfügungsgewalt und Deutungshoheit - und markiert diesen selbst als patriarchalen Mythos. 29 Neben dem männlichen Ich ist jedenfalls kein Platz für ein weibliches Subjekt. Erikas weitere Versuche, (wie auch immer verkümmerte) Formen von Verfügungsgewalt zu behaupten, sind genauso problematisch. Die bereits angesprochene Selbstverstümmelung - bezeichnenderweise schneidet sie sich in ihre Genitalien! - erscheint explizit als Wunsch nach Selbstbestimmung (vgl. KS 90). Später quält sie sich selbst mit „Wäscheklammern“ und „Stecknadeln“, mit „Haus- und Küchengerät“ ( KS 253). Im ersten Fall ist die väterliche Rasierklinge ein Symbol der männlichen Gewalt über den weiblichen Körper. Den zweiten hat Jelinek selbst in einem kurzen Essay erklärt: Natürlich tut ihr das weh. Allerdings wagt sie den Versuch, im eigenen Körper mehr zu entdecken als das Territorium des Mannes. Erika Kohut übt Widerstand gegen das Schamgefühl. Sie dringt in sich selbst ein wie in ein verbotenes Haus, und betrachtet sich selbst dabei. Gedanklich kann sie sich jedoch nicht vom Mythos lösen: Hygiene ist eine Funktion des Ekels. […] Putzen ist die hilflose Suche nach dem anderen Körper, dem ersehnten. Es ist aber zugleich der Vollzug männlicher Gewalt. […] Männer wollen den Dreck nicht sehen, den sie anrichten. Sie wollen die Frauen zu 29 Janz deutet die Tautologie mit Hinweis auf Barthes als „quasi magische Sprachform“, die „in der Ablehnung von Rationalität wie letztlich der Sprache selbst […] den Mythos erzeugt“ ( Jelinek: Die Klavierspielerin , S. 127). VIII.2. Die Klavierspielerin (1983) 417 Wesen machen, die nicht und nichts sind, indem sie ihnen den ständigen Umgang mit Haushaltsmitteln, mit Schmutzentfernungsgeräten zumuten. Erika Kohut verwendet diese Mittel aber anders, und zwar, in letzter Konsequenz, direkt gegen ihren Körper […]. Frauen sind , indem sie den Schmutz wegputzen, den die Männer ihnen hinterlassen. Hygiene ist die offizielle Anerkennung des Drecks, auch weil Putzen die dreckigste Arbeit ist, die es gibt, und die niedrigste. 30 Insofern die Selbstverstümmelung an Mythen der patriarchalen Gesellschaft - weibliche Hygiene und Sauberkeit - gebunden bleibt, ist sie kein Ausdruck genuin weiblicher Selbstbestimmung. Selbst am Ende des Textes kann Erika nicht zur Täterin werden; sie schafft es weder, Klemmer mit dem mitgebrachten Messer anzugreifen, noch kann sie sich selbst mehr als eine oberflächliche Wunde zufügen. Erika bleibt gefangen: Sie „weiß die Richtung, in die sie gehen muß. Sie geht nach Hause“ ( KS 285). 31 In beiden Selbstverletzungsszenen betrachtet sich Erika im Spiegel. Über den Blick, dem im Text leitmotivisch eine entwürdigende Qualität zugeschrieben wird, 32 versucht sie, sich ein Gefühl der Verfügungsgewalt zu sichern. So, wie sich im Fernseher „winzige Figuren, über die man verfügt “, tummeln (KS 224; m. H.), wird auch der Porno, den sich Erika zur Befriedigung ihrer voyeuristischen Neigungen ansieht, zum Mittel, die eigene Position aufzuwerten: In eine Frau bohren sich extralange blutrot lackierte Fingernägel, in die andere bohrt sich dafür ein spitzer Gegenstand, es ist eine Reitpeitsche. Sie macht eine Delle in das Fleisch und zeigt dem Betrachter, wer hier der Herr ist, und wer nicht; und auch der Betrachter fühlt sich als Herr . ( KS 109; m. H.) Doch das Betrachten reproduziert und verstärkt lediglich die im Porno vorgegebenen Macht- und Entwürdigungsstrukturen. So legt Erikas Suche nach Verfügungsgewalt nur diese gleichsam unverrückbaren gesellschaftlichen Phänomene offen. 30 Elfriede Jelinek, Schamgrenzen? Die gewöhnliche Gewalt der weiblichen Hygiene, in: Frauen Macht. Konkursbuch 12. Zeitschrift für Vernunftkritik (1984), S. 137-139 (Herv. i. O.). 31 In einem Interview gibt Jelinek an, mit der Schlussszene das Ende von Kafkas Prozeß paraphrasiert zu haben. Der Unterschied zwischen beiden Texten sei, dass „der K. als Mann immerhin würdig ist, Opfer zu werden, während die Frau noch nicht einmal würdig ist, Opfer zu werden. Sie kann sich weder als Täter noch als Opfer einschreiben.“ Branka Wehowski / Neda Bei, Die Klavierspielerin - Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek, in: Schwarze Botin 24 (1984), S. 3-9 und 40-46, hier S. 42. 32 Vgl. dazu treffend Tacke, Art. Die Klavierspielerin , S. 99: „Der Blick fungiert als Distanzierungs- und Herrschaftsmittel, wird zum phallischen Attribut.“ 418 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks VIII.2.2. Die menschliche Würdelosigkeit Abgesehen von den gesellschaftlichen Mechanismen, die die unvermeidliche Entwürdigung der Frau bewirken, zeichnet Die Klavierspielerin - was paradox und hyperbolisch anmutet - den Menschen an sich als zutiefst würdelos, und zwar mithilfe mehrerer paralleler Strategien: der Charakterisierung des Menschen zum einen als Tier, zum anderen als Ding oder Ware sowie einer Ästhetik des Obszönen. VIII.2.2.1. Der Mensch als Tier Am Ende des ersten Romanteils, an prominenter Stelle, steht eine auf den ersten Blick rätselhafte Tierallegorie: „Liebt das ehemalige Tier der Wildnis und jetzige Tier der Manege seinen Dompteur? “ ( KS 112). Eine Allegorese könnte im Dompteur die kapitalistische, patriarchale Gesellschaft sehen, die das Individuum, das „jetzige Tier der Manege“, durch einen Zivilisationsprozess nach ihren Vorstellungen erzogen, gebändigt und gezüchtigt hat. Ein Unterschied zwischen Mensch und Tier bestünde allerdings: Selbst „der gefinkeltste Dompteur hat noch nie die Idee gehabt, einen Leoparden oder eine Löwin mit einem Geigenkasten auf den Weg zu senden“ ( KS 113). Kultur, die schönen Künste (im Roman v. a. die klassische Musik) als Überwindung der tierischen Natur, als das, was den Menschen vor dem Tier auszeichnet und einzig Quelle von Würde sein kann? Ähnlich argumentiert Klemmer, wenn er im Gespräch mit Erika von der Musik fordert: „Das animalische Leben! soll sich vergöttlicht fühlen“ ( KS 116). Diese Vorstellung wird jedoch schonungslos als Illusion entlarvt. Zum einen prangert der Text die Kunst als arrogante Selbstbeweihräucherung des Menschen an, die zudem den Gesetzen des Konsums und des Profits gehorcht. Zum anderen werden die Figuren, die die innerfiktionale Welt bevölkern, quasi durchgängig mit Tiermetaphern belegt. 33 Erikas Mutter etwa wird in Erzählerkommentaren als „mütterliche[r] Puma“ bezeichnet ( KS 155), Mutter und Großmutter werden zum „Habicht Mutter und [zum] Bussard Großmutter“ ( KS 38), was metaphorisch auf ihre (exzessive) 33 Belege finden sich in sehr großer Zahl; im Folgenden werden besonders aussagekräftige Beispiele angeführt. - Zur Tiermetaphorik in Die Klavierspielerin vgl. auch Ursula Kocher, Ein Bild ohne Worte, Bildersprache in der Prosa Elfriede Jelineks, in: Positionen der Jelinek-Forschung. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Elfriede Jelinek-Konferenz, Olsztyn 2005, hg. v. C. Zittel u. M. Holona, Bern [u. a.] 2008, S. 123-140, hier S. 134-135. - Janz führt aus: „Die den ganzen Text durchziehenden Tiermetaphern bezeichnen nicht primär eine dehumanisierte Gesellschaft, sondern Erikas dehumanisierenden Blick auf die Gesellschaft“ ( Jelinek: Die Klavierspielerin , S. 113). Dieser Einschätzung ist entgegenzuhalten, dass Erikas Perspektive nicht die einzige, den Text dominierende ist und dass auch Erika selbst, und das sogar am häufigsten, zum Signifikat von Tiermetaphern wird. VIII.2. Die Klavierspielerin (1983) 419 Wachsamkeit in Bezug auf Erika verweist. Bisweilen arbeitet der Erzähler mit Gegensätzen: Die Mutter ist das „Muttertier“ ( KS 29), Erika das „Jungtier“, das „Kitz“ ( KS 37). Besonders häufig wird Erika in den Kommentaren des Erzählers mit Tieren assoziiert. Metaphorisch wird die einsame, fremdbestimmte Erika zu einem „Insekt in Bernstein, zeitlos, alterslos“ ( KS 17). Die Tiermetaphorik verbindet sich bisweilen mit einer Ästhetik des Ekelhaften: Erikas Vagina wird zur „ranzige[n] Ratte“ ( KS 88; Erzählerkommentar); Klemmer spottet über die „tierhafte Ausdünstung der Fäulnis“, die Erika anhänge ( KS 250). Wieder mit Blick auf die krankhafte Beziehung zur Mutter erscheint Erika als „schlecht schwimmendes Tier“, das „in der warmen Mutterjauche herum[paddelt]“ (KS 89). Diese Metaphern konterkarieren auf eklatante Weise die Trivialmythen von weiblicher Schönheit, Eleganz, Erhabenheit und Sauberkeit. Tierbilder und -vergleiche, die sich auf Klemmer beziehen, betonen meist seine Stärke, seine Wildheit, seine männliche Vitalität. 34 Eine spezifische Abwandlung erhält die Tiermetaphorik, wenn sie mit dem Bereich der Sexualität verknüpft wird und diese - vorwiegend aus männlicher Sicht - zur „Jagd“ ( KS 171), die Frau zur „Jagdbeute“ ( KS 150) wird. Für Klemmer ist die Frau an sich „dem Tier“ ähnlich, „das durch Jagdgläser beobachtet wird“ ( KS 243); was ihn bei der Vergewaltigung Erikas antreibt, ist „der Instinkt des Jägers“ (KS 271). Klemmers Blick auf Erika (als Stellvertreterin für die Frau an sich) ist degradierend und dehumanisierend. Auch andere Figuren, mithin alle Mitmenschen, werden zu Tieren; es entsteht der Eindruck allgegenwärtiger, vertierter Würdelosigkeit. Die Szene etwa, die die junge, mit Instrumenten beladene Erika in der Wiener Straßenbahn beschreibt, wird als Kampf unter Tieren beschrieben: Erika ist „das Tier“ ( KS 18), der „Widder unter all den Schafen im Wagen“; unter den Fahrgästen sind „rattenartige[] Handwerker“ ( KS 21) und Ameisen ( KS 26). Metaphern und Vergleiche zielen auf die Menschen als Kollektiv ab, in dem für Individualität und Selbstbestimmung kein Platz ist („Hühnerstall“ [ KS 65], „Herdeninstinkt“ [ KS 70], „Lämmer“ [ KS 72], „Ameisen“ [ KS 139]). Andere haben enthüllenden Charakter und offenbaren gesellschaftliche Vorurteile, die Entwürdigungen gleichkommen. Hier ist die Perspektive interessant: Wenn vom Irrenhaus, in dem Erikas Vater untergebracht wird, berichtet wird, dass für „diese Schweine“ ( KS 98) bestimmte Vorkehrungen getroffen werden, oder wenn bei Erikas voyeuristischem Ausflug in den Wurstlprater von dem „Türke[n]“ die Rede ist, der wie ein „Hund“ „bellt“ ( KS 149) und dem zudem eine zutiefst frauenfeindliche Haltung zugeschrieben wird („die Sau ist die Frau“ [ KS 136]), dann sind dies keine direkten Erzählerkommentare, die dazu dienen, bestimmte Figuren zu ver- 34 Vgl. KS 68, 82, 123, 256 und 261. 420 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks urteilen, sondern der Erzähler greift im allgemeinen Sprachgebrauch verankerte Formulierungen auf, denen die Erniedrigung und Entwürdigung bestimmter sozialer Gruppen (Alte, Ausländer, Frauen) eingeschrieben sind. Auf diese Weise bringt Jelinek ‚die Sprache zum Sprechen‘. 35 Die Beschreibung der Peep-Show, die Erika besucht, vereint all diese Aspekte. In einem Satz verbinden sich die dem männlichen Sprechen eingeschriebene Entwürdigung der Frau, die Kombination von Sexualität und Tiermetaphorik, die ins Ekelhafte kippt, und der Eindruck einer allgemeinen Vertiertheit des Menschen: „Die geile Sau hinter dem Fenster […] hat zum Ausgleich den dringenden Wunsch, daß diesen Ochsen hinter den Glasfenstern der Schwanz abreißt beim Wichsen“ ( KS 53). Die conditio humana ist eine heillose Verstrickung in würdelose, triebgesteuerte Aggression und gegenseitige Erniedrigung. VIII.2.2.2. Der verdinglichte Mensch Wenn der Mensch zum Gegenstand, mithin zur konsumierbaren Ware reduziert wird, oder - um es mit Kant zu sagen - zu einem bloßen Mittel herabgewürdigt wird, ist dies die Folge einer Behandlung durch andere oder eines gesellschaftlichen Mechanismus. In Jelineks fiktionaler Welt besitzt der Mensch tatsächlich keinen intrinsischen, sondern lediglich einen Tausch- oder Nutzwert - exemplarisch illustriert durch die zwei leitmotivisch eingesetzten semantischen Felder (1) ‚Fleisch‘ und (2) ‚Geräte‘. (1) Als Erika und ihre Mutter den „orientierungslosen und verstandesschwachen Vater“ in ein Sanatorium abschieben, ist es „[i]hr angestammter Wurstwarenhändler“, 36 der ihn in seinem Fleischerwagen transportiert. In dieser Institution wird der Mensch zum Objekt finanzieller Vorgänge und ökonomischer Abwägungen ( KS 96-97). Im Heimalltag „drücken sich [die Patienten] ihr eigenes Fleisch aneinander ein“ ( KS 98), im Kampf um den spärlich vorhandenen, durchrationalisierten Platz. Nicht das pflegebedürftige Individuum ist hier von Interesse, sondern der zur (Fleisch-)Ware verkommene, depersonalisierte 35 Dies gilt auch für ausländerfeindliche Klischees. So heißt es etwa: „Der Jugoslawe, auch der Türke verachtet die Frau von Natur aus, der Schlosser verachtet sie nur dann, wenn sie unsauber ist oder fürs Pudern Geld nimmt“ (KS 135). Diese xenophoben Vorurteile haben entlarvenden Charakter; analogisch verweisen sie darauf, dass in vermeintlich aufgeklärten, westlichen Gesellschaften genau dieselben Mechanismen zu beobachten sind. 36 Andere Bezeichnungen, die auf den darauffolgenden Seiten auftauchen, lauten: „Selberschlachter“ (KS 96), „Fleischer“, „Fleischhauer“ (KS 99), „Fleischhacker“ (KS 100). Die Szene durchzieht das lexikalische Feld ‚Fleisch‘. VIII.2. Die Klavierspielerin (1983) 421 Mensch; es handelt sich nicht um einen karitativen oder medizinischen, sondern um einen auf Profitmaximierung zielenden wirtschaftlichen Vorgang. 37 Dass der Mensch nach seinem ökonomischen Wert beurteilt wird, wird im Roman als Symptom der kapitalistischen Gesellschaft vorgeführt. Besonders offensichtlich wird der Gedanke des ökonomischen Werts eines Menschen im Bereich der Prostitution: Auf geradezu zynische Weise klärt der Erzähler darüber auf, dass ältere männliche Prostituierte „noch weniger wert“ seien als ältere Frauen, und dass diese „dem Homosexuellen natürlich in keinem Stadium etwas wert sind“ ( KS 134). Weiterhin erfährt der Leser, dass eine Prostituierte, die einen „Jugo oder Türke[n]“ als Kunden annimmt ( KS 135), „kaum etwas dafür verlangen [kann], weil ihre Arbeit kaum mehr etwas wert ist“, so wie auch „[e]in Türke […] seinem Arbeitgeber […] kaum etwas wert ist“ ( KS 136). Prostitution und die Ausbeutung von Migranten erscheinen so als Extremformen des Kapitalismus und seines Menschenbildes. Dieses ersetzt Würde durch (ökonomischen) Wert , schreibt dem Individuum in Kants Worten „einen gemeinen Werth ( pretium vulgare )“ oder „einen äußere n Werth seiner Brauchbarkeit ( pretium usus )“ zu. 38 Dieses Denken prägt aber auch den männlichen Blick auf die Frau: Klemmer stört sich nicht am Altersunterschied zwischen sich und Erika, zum einen, weil „er ein Mann ist“, zum anderen, weil „weiblicher Wert mit zunehmenden Jahren und zunehmender Intelligenz stark ab[nimmt]“ ( KS 171). Selbst die zwischenmenschlichen Beziehungen sind durchdrungen von Sprache und Denkweise der den Menschen verdinglichenden Ökonomie. 39 Genau in diesem Zusammenhang - Prostitution, Sexualität und zwischenmenschliche Beziehungen - hat das Leitmotiv des Fleisches seinen zweiten Schwerpunkt. Noch bevor die Beziehung zwischen Klemmer und Erika körperlich wird, findet sich im Text eine besonders einprägsame Fleisch-Metapher: Klemmer […] macht weiterhin keinen Hehl aus seinen Wünschen. […] Erst durch diesen Wunsch, ganz zu durchdringen und durchdrungen zu werden, sind sie die Person Klemmer und die Person Kohut. Zwei Stück Fleisch in der gut gekühlten Vitrine eines Vorstadtfleischers, mit der rosigen Schnittfläche dem Publikum zugewandt; und die Hausfrau verlangt nach langer Überlegung ein halbes Kilo von dem und dann noch ein Kilo von dem dort. ( KS 171-172) Ridikulisiert wird der Mythos der romantischen Liebe zwischen gleichberechtigten Partnern (‚Personen‘), dem in scharfem Kontrast das Bild des Menschen 37 Janz hebt in ihrer Analyse u. a. Jelineks Kritik an faschistischen Denkmustern hervor und spricht von der „Beseitigung ‚lebensunwerten Lebens‘“ ( Jelinek: Die Klavierspielerin , S. 112). 38 Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: AA, Bd. 6, S. 434. 39 Vgl. ähnlich KS 177. - Vgl. dazu Fischer, Trivialmythen, S. 57. 422 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks als Fleischstück entgegengestellt wird. Dieses hat zwei Konnotationen: „Fleisch“ zum einen als Fleischlichkeit, mithin als animalische Triebhaftigkeit, zum anderen im Sinne einer Verdinglichung des Menschen. Der Partner, vor allem der weibliche, wird im sexuellen Begehren, im sexuellen Akt zur Ware, zum dehumanisierten Stück Fleisch herabgewürdigt - Sex als Konsum also. 40 So ist auch Klemmers Blick auf Erika geprägt vom Wunsch, sie wie Fleisch zu konsumieren. Erregt ihn zunächst der „Zusammenprall[] von Fleisch und Bewegung“, als er sie beim Klavierspielen bewundert (KS 67), will er später „das reine Fleisch an ihr zum Vorschein bringen“ ( KS 204). Zu diesem Zweck „steckt [er] viel Arbeit in dieses Stück Erika“ ( KS 179); während der Misshandlung am Ende des Romans spottet er über „das von ihm verkrümmte Fleisch“ ( KS 272). Erika ist als würdevoller Mensch ausgelöscht worden; sie wird zur reinen Ware. 41 Konsequenterweise heißt es in Bezug auf Erikas Selbstverstümmelung, dass sie sich „absichtlich in ihr eigenes Fleisch“ schneidet, mit der Klinge, die „für IHR Fleisch bestimmt“ ist ( KS 90), bzw. dass sie sich mit Wäscheklammern u. ä. „ihr Fleisch ein[zwängt]“ ( KS 253). Es ist ein notwendig scheiternder, da patriarchal kodierter Versuch, die Verfügung über das eigene Fleisch und den eigenen Körper zurückzugewinnen und sie der Logik des Konsums zu entziehen. 42 (2) Die zweite Motivkette konzeptualisiert den verdinglichten Menschen im weitesten Sinne als ‚Gerät‘, als benutzbares Objekt. Schon als Jugendliche fühlt sich Erika - hier überlagern sich Erzählerkommentar und Figurenperspektive - als „plumpes Gerät. Belastet von schwerem, langsamem Verstand. Bleiernes totes Gewicht“ ( KS 63), und zwar in jenem Moment, in dem sie, von der Mutter getrieben, öffentlich vorspielen soll. Bemerkenswert ist die hier beschriebene Körpererfahrung: Der eigene Körper wird als etwas quasi Abgetrenntes, Totes wahrgenommen. 43 Später, während der Toilettenbegegnung mit 40 Vgl. etwa die Beschreibung eines kopulierenden Paares im Park als „Fleisch, das ein anderes Fleisch im Konsumwahn vereinnahmt“ (KS 258). - Dieses Motiv tritt auch in Variationen auf, etwa wenn es in der Burschi-Episode heißt, die Mädchen um ihn herum seien „wie reife Früchte“, die er „nur noch aufzuheben und zu verspeisen [braucht]“ (KS 43), oder wenn (offenbar aus der Perspektive Klemmers) der Satz fällt, man müsse sich „als Frau eben abwechslungsreich zubereiten können“, weil ansonsten der Mann schnell „satt“ werde (KS 217). - Vgl. zu diesem Motiv auch Yasmin Hoffmann, Fragmente einer Sprache des Konsums. Zu Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin , in: Cahiers dʼétudes germaniques 15 (1988), S. 167-178. 41 Vgl. ähnlich Janz, Jelinek: Die Klavierspielerin , S. 121. 42 Die Metapher des Fleisches als Sinnbild für den verdinglichten, den Gesetzen des Marktes unterworfenen weiblichen Körper liegt auch der Schrift Fleischmarkt der britischen Feministin Laurie Penny zugrunde. Vgl. Fleischmarkt. Weibliche Körper im Kapitalismus, übers. v. S. von Somm, Hamburg 2012 [Orig. Meat Market. Female Flesh under Capitalism, 2011]. 43 Vgl. ähnlich Wünsch, Das System der Körperkonzeptionen, S. 527. VIII.2. Die Klavierspielerin (1983) 423 Klemmer, wiederholt sich diese Erfahrung: „Erika Kohut steht auf dem Boden wie ein vielbenutztes Instrument, das sich selbst verneinen muß, weil es anders gar nicht die vielen dilettantischen Lippen aushielte, die es andauernd in den Mund nehmen wollen“ (KS 180). Eine selbstbewusste, lustvolle, positive sexuelle (Selbst-)Erfahrung ist ihr unmöglich. Selbst in ihren Wünschen bleibt sie ein passiv erleidendes, sich bewusst erniedrigendes Objekt. 44 Damit entspricht sie wiederum dem männlichen Ideal, wie es von Klemmer artikuliert wird: „Sie soll […] einen Gegenstand aus sich machen, den sie ihm dann anbietet“ (KS 177). Sexualität ist somit die Degradierung der Frau zu einem bloßen Mittel - die mithilfe eines technischen, mechanischen, dehumanisierenden Vokabulars beschrieben wird. 45 Sie verkommt zur Arbeit, wie im Porno, 46 dessen Menschenbzw. Frauenbild Erika offenbar verinnerlicht hat: „Der Mann, dieser gelernte Mechaniker, bearbeitet das kaputte Auto, das Werkstück Frau“ ( KS 110). 47 Der weibliche Körper ist totes, zu bearbeitendes, ja zu öffnendes Material. 48 Die Frau wird „besprungen“ und muss „die Gabel machen“ ( KS 137; vgl. 143-144). Der Sexualakt verdinglicht die Frau zu einem dem männlichen Lustgewinn 44 Vgl. KS 216: „Sie will nur Instrument sein, auf dem zu spielen sie ihn lehrt. Er soll frei sein, sie aber durchaus in Fesseln. Doch ihre Fesseln bestimmt Erika selbst. Sie entscheidet, sich zum Gegenstand , zu einem Werkzeug zu machen; Klemmer wird sich zur Benützung dieses Gegenstands entschließen müssen“ (m. H.). 45 Die Frau wird zu einem „Liebesautomat[en]“ (KS 247), zu einem „Sportgerät“ (KS 269), zu einem Werkzeug (vgl. KS 269), die man „benützen“ (KS 48), „handhaben“, „einschalten“ (KS 204) und von denen man „Gebrauch mach[en]“ kann (KS 179), die „in Betrieb“ genommen werden müssen (KS 126; vgl. 180) oder „unbenutzt“ (KS 179) „abgestellt“ (KS 180) werden. 46 Zum Zusammenhang von Pornographie und Verdinglichung vgl. Rae Langton, Sexual Solipsism. Philosophical essays on pornography and objectification, Oxford 2009. Im Kapitel „Autonomy‐Denial in Objectification“ zitiert Langton die sieben von Martha Nussbaum formulierten Aspekte der Verdinglichung eines Menschen: „Instrumentality“, „Denial of autonomy“, „Inertness“, „Fungibility“, „Violability“, „Ownership“, „Denial of subjectivity“ (ebd., S. 225-226) und ergänzt sie um drei weitere: „Reduction to body“, „Reduction to appearance“ und „Silencing“ (ebd., S. 228-229). Alle diese Aspekte lassen sich in Jelineks Roman als Strategien der Verdinglichung der Frau nachweisen. 47 Vgl. dazu auch Wünsch, Das System der Körperkonzeptionen, S. 532: „Soweit im Text Versuche sexueller Operationen dargestellt werden, erscheinen sie sprachlich als enthumanisiert - als sportlicher Wettkampf, als Arbeit, als Kampf mit der Beute, als Metzgertätigkeit.“ - Zur Reduktion des Menschen zum „Werkstück“ vgl. auch Fischer, Trivialmythen, S. 61-62. „Sexualität“, so Fischer, „ist in der kapitalistischen Gesellschaft nicht nur zur Ware, sondern auch zur Arbeit verkommen“ (ebd., S. 62). Zu präzisieren ist, dass nicht nur die Sexualität, sondern auch der (weibliche) Sexualpartner zur Ware verkommt. 48 Vgl. etwa KS 208, 209, 264 und 277. - Dieses Motiv wird in Lust auf geradezu hyperbolische Weise ausgebaut; vgl. dazu unten, S. 429 - 431. 424 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks dienenden Werkzeug oder Werkstück und zerstört ihre leibliche Integrität auf egoistische, brutale Weise. VIII.2.2.3. Die Ästhetik des Obszönen Eine Rezension der Klavierspielerin in der Welt fällt ein vernichtendes Urteil über die „bösartige[] Sprache“ des Romans. Diese sei „verletzend und gemein, sie spritzt Schlangengift“. Jelinek schreibe „lust-los, teilnahmslos. Sie gefällt sich als Menschenverächterin“, die Menschen „haßt“: „Sie möchte ganz einfach ihre Leser zum Kotzen bringen.“ 49 Diese Kritik zielt auf das, was im Folgenden als Ästhetik des Obszönen oder des Ekelhaften beschrieben wird: 50 die explizite, unappetitliche Darstellung von Gewalt und Sexualität sowie der schonungslose Blick auf den Menschen und seinen Körper. Doch sie verrät auch ein Kunstverständnis, nach dem die Literatur den Menschen nie vollständig demontieren darf, sondern stets einen Hoffnungsschimmer, einen utopischen Zug zulassen muss, mit anderen Worten: seine bedrohte, ja verletzte Würde ästhetisch (re)konstituieren soll. Genau das, so scheint es, tut Jelinek mitnichten. 51 Die Ästhetik des Obszönen 52 ist auf zwei Ebenen zu beschreiben. Obszön - im Sinne einer sexuelle und Gewalttabus demonstrativ transgredierenden literarischen Praxis - ist die Integration von Sexszenen, von Erikas voyeuristischen Ausflügen, ihren masochistischen Phantasien, ihrer Vergewaltigung. Obszön auf der Ebene der Darstellung ist die explizite, mitunter abstoßende 49 Reinhard Beuth, Treffsicher im Giftspritzen, in: Die Welt, 21. Mai 1983, zit. nach: Elfriede Jelinek (wie Anm. 25), S. 201-202, hier S. 202. 50 Wright spricht in Bezug auf den Roman von einer „Ästhetik des Ekels“. Der Roman lade „zur Teilnahme am Vergnügen des Ekels ein. Ein Exzeß der Libido zeigt sich hier in einem beunruhigenden und ekelerregenden Überfließen jeglicher Art von Körperflüssigkeit bei einer fortwährenden Auflösung von Begrenzungen“ (Eine Ästhetik des Ekels, S. 53). 51 Vgl. ähnlich Janz, Jelinek: Die Klavierspielerin , S. 133; Wright, Eine Ästhetik des Ekels, S. 5-58; Renz, Jelinek: Die Klavierspielerin, S. 192-193. 52 Zur Ästhetik des Obszönen vgl. oben, S. 407 - 408. - Susanne Böhmisch charakterisiert Jelineks Ästhetik als „Spiel mit dem Abjekten“ ( Jelinekʼsche Spiele mit dem Abjekten, in: Elfriede Jelinek (wie Anm. 11), S. 33-45). Das Abjekte definiert Böhmisch mit Bezug auf Julia Kristeva als das, „was sich auf Körperöffnungen, unsichere Grenzen zwischen Innen und Außen bezieht, auf Schemen des Verschlingens oder Verschlungenwerdens, auf die Grenze zwischen Sein und Nichtsein - Fäulnis zum Beispiel“ (ebd., S. 33). Jelineks Texte seien der Literatur des Abjekten zuzuordnen, die „Mythen der sublimen Kunst […] dekonstruiert, Ekel-Tabus [bricht]“ (ebd., S. 34). Jelinek „spielt mit dem Abjekten, verwendet es für die Zertrümmerung von Mythen, für Faschismuskritik, aber auch für eine kritische Reflexion über die semantische Verschränkung von Abjektem und Weiblichem“ (ebd., S. 35-36). Böhmisch belegt dies anhand des kurzen Theatertextes Krankheit oder Moderne Frauen (1987). - Zu den Begriffen des Ekels und des Abjekten vgl. auch Heimann, Die Zerstörung des Ichs, S. 213-233 und 263-291. VIII.2. Die Klavierspielerin (1983) 425 und schmerzhafte Detailliertheit, mit der diese gemeinhin tabuisierten Bereiche geschildert werden und die die Lektüre bisweilen unangenehm macht. 53 Der „Sinn des Obszönen“ ist ein doppelter: Das Obszöne ist erstens ein Aspekt jener Strategien, die die Entwürdigung der Frau (des Menschen) als ein der kapitalistischen, patriarchal strukturierten Gesellschaft immanentes Phänomen offenlegen. Wenn Jelinek etwa Sexualität als von männlicher Gewalt geprägte Verdinglichung, Erniedrigung und Entmündigung der Frau zeichnet, wenn sie zeigt, wie selbst weibliche Versuche, der Fremdbestimmung durch den Mann zu entkommen, im Endeffekt den entwürdigenden männlichen Blick reproduzieren und die Strukturen der Erniedrigung perpetuieren, dient das Obszöne der literarischen Darstellung jenes gesellschaftlichen Mechanismus, den Jelinek die „Herabwürdigung der Frauen“ nennt. 54 Doch es hat noch einen zweiten Effekt, und auf ebendiesen zielt die zitierte Kritik: Jelineks Texte gestalten den Menschen nicht nur als entwürdigtes , sondern auch als zutiefst würdeloses Wesen. Die Autorin zerstört den zur Illusion deklarierten Mythos des edlen, schönen, geistigen Menschen. Die Ästhetik des Obszönen wird zu einer Ästhetik der Würdelosigkeit. Augenfällig wird dies in den metaphorischen Beschreibungen der Romanfiguren mit den semantischen Feldern der Fäulnis, des Ekels, des Skatologischen, des Kreatürlichen, des Unflätigen. Zwei Motive verdeutlichen dies exemplarisch: die Präsentation der Frau als abstoßendes Ding und die Konzeptualisierung der weiblichen Genitalien als fauliges Loch. Der Erzähler beschreibt Erika als „aus ihrem [i. e. der Mutter; MG ] Leib hervorschießenden Lehmklumpen“ ( KS 27). „[A]m liebsten“ würde Erika „in ihre Mutter […] wieder hineinkriechen, sanft in warmem Leibwasser schaukeln“ ( KS 78). Als junges Mädchen ist sie „[e]in schlecht schwimmendes Tier“, das in der „warmen Mutterjauche herum[paddelt]“ ( KS 89). Diese durchaus widersprüchlichen Metaphern verweisen nicht nur auf das gestörte Mutter-Tochter- Verhältnis, sondern machen aus dem Individuum Erika eine ekelhafte Kreatur, ja ein avitales, entmenschtes Ding. Der Mensch wird konsequent als würdelos - vertierlicht oder verdinglicht - wahrgenommen. 55 53 Erikas Brief sieht vor, „daß sie ihm [i. e. Klemmer; MG] die Zunge in den Hintern stecken muß, wenn er rittlings auf ihr sitzt“, sie „erbittet […] sich Vergewaltigung“, wünscht sich, „[a]n Klemmers steinhartem Schwanz zu ersticken“, dass „er ihr in den Mund spritzen soll bitteschön, und zwar bis ihr die Zunge fast abbricht und sie eventuell erbrechen muß“, schließlich, „daß er sie anpißt“ (KS 229-230). 54 Vgl. Jelinek, Der Sinn des Obszönen, S. 102. 55 Vgl. auch die Vegetationsmetaphern, z. B. Metaphern des Verdorrens, Verwelkens und Verrottens (KS 41, 80-81). - Vgl. zu diesen Metaphern auch Arteel, „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“, S. 47. 426 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks Auch die Bilder, mit denen die weibliche Vagina belegt wird, sind einigermaßen widersprüchlich. Zum einen sind es Metaphern des Verschließens und des Verschlossen-Seins: Erikas Geschlecht „flattert nicht auf, es verkorkt sich stählern“, wenn sich ihr ein Mann nähert ( KS 48). 56 Diese verbinden sich zum anderen mit den Metaphern der Fäulnis: „Die Natur scheint keine Öffnungen in ihr gelassen zu haben. Erika hat ein Gefühl von massivem Holz dort, wo der Zimmermann bei der echten Frau das Loch gelassen hat. Es ist schwammiges, morsches, einsames Holz im Hochwald, und die Fäulnis schreitet voran“ (KS 55). Schließlich mutiert sogar Erika selbst zu einem verfaulenden Loch: Im Gehen haßt Erika diese poröse, ranzige Frucht, die das Ende ihres Unterleibs markiert. […] Bald wird diese Fäulnis fortschreiten und größere Leibespartien erfassen. […] Entsetzt malt Erika sich aus, wie sie als ein Meter fünfundsiebzig großes unempfindliches Loch im Sarg liegt und sich in der Erde auflöst; das Loch, das sie verachtete, vernachlässigte, hat nun ganz Besitz von ihr ergriffen. Sie ist nichts. Und nichts gibt es mehr für sie. ( KS 201) Diese Metaphern verweisen nicht nur auf Erikas gestörte Sexualität, sondern konturieren Weiblichkeit und weibliche Körperlichkeit als unrein, ekelerregend, abstoßend, sogar bedrohlich. Eine positive, selbstbewusste weibliche Körpererfahrung ist unmöglich. Die Frau ist durch ihr Geschlecht nicht nur stigmatisiert; sie wird zum ekligen Nichts. 57 Jelineks Diagnose ist verheerend: Die patriarchalische Gesellschaft und ihre Mythen verdammen den Menschen, in besonderem Maße die Frau, dazu, im ständigen Zustand der Entwürdigung zu verharren, der aus ubiquitärer gegenseitiger, gesellschaftlich sanktionierter Gewalt und Verdinglichung resultiert. Die Frau ist zusätzlich der männlichen Wahrnehmung ausgesetzt, die sie zum würdelosen Objekt macht, eine Wahrnehmung, die selbst die Frau verinnerlicht. Gleichzeitig, oder zusätzlich - und das wirkt geradezu tautologisch - ist der Mensch an sich würdelos. Menschenwürde wird bei Jelinek zu einem veritablen ästhetischen Problem , insofern ihre Literatur zur Rettung der Würde innerfiktional nicht beitragen will. 56 Schon vorher hieß es in Bezug auf Erikas Großmutter und ihre Mutter (die ihr Sexualleben mit Erikas Geburt offenbar eingestellt hat), dass ihre Geschlechtsteile „zugewachsen[] und verdorrt[]“ und dass ihre „Schamlippen“ „kieselsäurig erstarrt[]“ sind (KS 37). 57 Zur „Metapher vom weiblichen Geschlecht als ‚Holz‘“ vgl. Fischer, Trivialmythen, S. 62, der überdies treffend feststellt: „Die Autorin benutzt den Begriff ‚Loch‘ als pars pro toto: für den weiblichen Körper und für Weiblichkeit schlechthin. Die Frau metamorphosiert selbst zum ‚Loch‘ und ist am Ende - wie ihr Genital - ‚nichts‘.“ VIII.3. Lust (1989) 427 VIII.3. Lust (1989) VIII.3.1. Sexuelle Gewalt und Entwürdigung Auch Lust 58 entwirft ein literarisches Panorama gesellschaftlicher Entwürdigung und Würdelosigkeit - und knüpft dabei auf der Ebene der verwendeten Motive an Die Klavierspielerin an. Zunächst rückt die Gewalt gegen die Frau in den Fokus; symptomatisch ist die tägliche sexuelle Erniedrigung, die Gerti, Gattin des wohlhabenden und sozial profilierten Fabrikdirektors, sowohl durch ihren Ehemann als auch durch ihren Geliebten erfährt. Die These der Klavierspielerin , dass männliche Macht, Gewalt und Sexualität untrennbar sind und zur unvermeidlichen Erniedrigung der Frau führen, steigert Lust insofern, als nicht im traditionellen Sinne eine Geschichte erzählt wird, die auf der kontinuierlichen Entwicklung des plot und der Figuren beruht. Der Text hat vielmehr eine dezidiert episodische Struktur; die sexuelle Ausbeutung der Frau erhält einen seriellen, sich gleichsam ewig wiederholenden, überzeitlichen und überpersönlichen Charakter. 59 Der Direktor vergeht sich an seiner Ehefrau, um ihrem Körper „durch Entwürdigung de[n] letzte[n] Schliff“ zu verpassen. 60 Die Motive, Metaphern, lexikalischen Felder und sprachlichen Strategien, mit denen diese Gewalt in meist sehr expliziten, obszönen Sex- und Vergewaltigungsszenen beschrieben wird, sind vielfältig: 61 (1) Fleischmetaphorik, (2) der Mensch als in die Konsumlogik eingebundene Ware, (3) die Frau als Besitz und Gebrauchsgegenstand, (4) der offene weibliche Körper und die brutale Sprache der Gewalt, (5) die Macht des Blickes, (6) Körpermetaphern, die die Frau als Gebäude, Garten, Gefährt oder Nahrung konzeptualisieren, schließlich (7) die Häufung von Passivkonstruktionen und Modalverben. (1) Die bereits in Die Klavierspielerin beobachtete Fleischmetaphorik zielt in Lust nicht mehr auf die ökonomische Verwertbarkeit des Menschen, sondern er- 58 Vgl. einführend Rita Svandrlik, Art. Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr ; Lust ; Gier , in: Jelinek-Handbuch (wie Anm. 2), S. 102-113, zu Lust S. 104-108, sowie Lücke, Jelinek, S. 81-89. 59 Vgl. ähnlich Leopold Federmair, Sprachgewalt als Gewalt gegen die Sprache. Zu Jelineks „Lust“, in: Weimarer Beiträge 52.1 (2006), S. 50-62, hier S. 50 sowie Lücke, Jelinek, S. 85. 60 Elfriede Jelinek, Lust, Reinbek bei Hamburg 10 2004 [urspr. 1989], S. 24. Im Folgenden wird stets diese Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (L Seitenangabe) belegt. 61 Vgl. dazu auch Kocher, Ein Bild ohne Worte, S. 136-137, die auf die Bedeutung der Katachrese hinweist. - Ina Hartwig bestimmt die in Jelineks Texten beschriebene „Sexualgewalt als Groteske“ (Aufklärung der Gewalt (in der Literatur), in: Kursbuch 147 (2002), S. 39-51, hier S. 45). 428 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks hält eine ironische Brechung. Als Gerti aus dem Alltag der Hausarbeit ausbricht und spärlich bekleidet durch den Schnee läuft, heißt es in biblischer Sprache, in Anspielung auf die Menschwerdung Gottes: „[Die Frau] ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnet“ (vgl. Joh 1,14). Die erste Assoziation - die Frau als göttliches, gütiges, sich aufopferndes Wesen - wird sogleich konterkariert, denn sie muss ihr „Fleisch“, d. h. ihren Körper, anderen überlassen: „Dem Hunger in jeder Hinsicht dienlich sein, das ist ihre Gassenschank gewesen: sich für den Mann, das Kind abnutzen lassen, gebettet in deren sanfte Zügel“ (L 59). Der Mann ‚verzehrt‘ die Frau nach Belieben, geht in ihrer „Fleischbank […] einkaufen“ (L 30), präsentiert sogar anderen den „Aufschnitt“ aus ihrem „Ausschnitt“ (L 68). 62 Die Frau wird auf ihren nackten Körper reduziert, der weiter zum enthumanisierten Stück Fleisch verkommt: Ihre Brüste sind „Fleischleibchen“ (L 202), ihre Brustwarzen „Wurstzipfel[]“ (L 140). Doch nicht nur die partialisierte und depersonalisierte Frau, sondern auch der Mann wird in seiner obszönen und rücksichtslosen Fleisch- und Geschlechtlichkeit beschrieben. So zwängt der Fabrikdirektor Gerti sein Glied, das „noch warm vom Fleischer [ist,] in den Mund“ (L 68); später wird sein Geschlecht als „williges Fleischpflanzerl“ (L 87), als „Trumm Wurst“ (L 139), sein Sperma als „Fleischextrakt“ (L 174) bezeichnet. Doch genießt das Fleisch des Mannes eine andere gesellschaftliche Wahrnehmung: Dem Mann, der „sein Gewicht in Fleisch“ der Frau darbietet, steht „ihre geringe Leistung Fleisch“ gegenüber (L 74; vgl. 92). Dasselbe Motiv hat also zwei ganz unterschiedliche Implikationen: auf der einen Seite das Fleisch der Frau als Sinnbild ihrer Verdinglichung, ihrer Ausbeutung, ihrer Konsumierbarkeit, auf der anderen das Fleisch des Mannes als Symbol seiner selbstbewussten, egoistischen Sexualität, seiner Macht. (2) Auch die Beschreibung des Menschen, vor allem des menschlichen Körpers, und des Sexualakts als Waren , die eingebunden sind in die Logik des Kaufens und des Konsums , wird in Lust wiederaufgenommen. Für den Direktor ist Gerti ein „Selbstbedienungsladen“, ein „Kaufmannsladen“ (L 57), in dem er, da er seine Frau „unterh[ält]“ (L 64), nach Belieben verkehren und konsumieren kann. Geld ermöglicht nicht nur materiellen Besitz, sondern auch den bedingungslosen Besitz der verdinglichten Frau. (3) Dies findet seinen Ausdruck in der Herabwürdigung der Frau zur Leibeigenen, zum Haustier, zum verdinglichten Eigentum, das besessen und gebraucht wird . Die Begriffe „Haustier“ (L 33 und 136) und „Eigentum“ (L 24, 75, 149, 215) erscheinen explizit im Text. Der Besitzanspruch des Direktors ist total, was 62 Solche Sprachspiele sind typisch für den Roman; vgl. grundlegend Federmair, Sprachgewalt als Gewalt gegen die Sprache. Vgl. ebenfalls Walter Delabar, Sex und Natur. Denk-, Sprach- und Handlungsmuster in Elfriede Jelineks Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr und Lust , in: Positionen der Jelinek-Forschung (wie Anm. 33), S. 105-121. VIII.3. Lust (1989) 429 durch metonymische Partialisierungen unterstrichen wird: Wie Gertis „Arsch“ (L 149) „gehört“ sogar ihr „Geruch […] ihm ganz“ (L 45). Gerti wird zur (Sex-) Sklavin: „Was einem gehört, muß auch benutzt werden, wozu hätten wir es denn? “ (L 45). Der Direktor beraubt sie jeden Rechts auf Selbstverfügung und Selbstbestimmung: Gerti „hat doch nur das stumme Reich ihres Körpers“ (L 45), darf aber - was explizit mit ihrem Geschlecht begründet wird - den „eigenen Körper nicht verwalten“ (L 198). Vielmehr muss - man beachte erneut die generische Formulierung - „die Frau dem Mann die meiste Zeit“ mit „ihrem Körper dien[en]“ (L 149). Die grausame Tragik liegt darin, dass Gerti bei ihrem Ausbruchsversuch, der Affäre mit dem Studenten Michael, der Entwürdigung keineswegs entflieht; vielmehr wiederholen sich in diesem Verhältnis exakt dieselben Erfahrungen, was durch die Verwendung nahezu identischer Vokabeln und Formulierungen, etwa bei der Beschreibung von Sexualakten, suggeriert wird. 63 (4) Die wichtigste jener Strategien, die in Die Klavierspielerin nicht (oder in geringerem Maße) greifbar sind, ist die Beschreibung des (weiblichen) Körpers als grundsätzlich Offenes, zu Öffnendes, zu Penetrierendes oder zu Füllendes . Hiermit korreliert eine brutale Sprache der Gewalt , die immer wieder Verben des groben Öffnens, des Reißens, des Spaltens, des Verletzens und des Füllens benutzt. Diese beiden obsessiv und hyperbolisch verwendeten Aspekte - der offene weibliche Körper und die Sprache der öffnenden, penetrierenden Gewalt - prägen jede Beschreibung von sexuellen Handlungen, sei es zwischen dem Direktor und Gerti (z. B. L 24-26; 38-40; 76-77), zwischen Gerti und Michael (z. B. L 120-123) oder anderen Menschen (z. B. L 35-36). Häufig werden neben den Verben der Gewalt Präpositionen und Adverbien mit lokaler oder direktionaler Bedeutung verwendet („in“, „zwischen“, „hinein“), die das Eindringen in den oder das Aufhalten im weiblichen Körper denotieren. 64 Der weibliche Körper wird zum Territorium 63 Vgl. auch ähnlich Kocher, Ein Bild ohne Worte, S. 137, die darauf hinweist, dass Herrmann und Michael „über ein Bildfeld“ - in dem von ihr beschriebenen Beispiel jenes, das das Verb „füllen“ aufruft - „miteinander verbunden“ sind. 64 Um seine Frau zum Oralsex zu zwingen, „ spaltet [der Direktor] ihr den Schädel über seinem Schwanz, verschwindet in ihr “ (L 17; m. H.). Später „will“ er sich „ in seine Frau hinein zwängen“, „wirft ihre Beine auseinander “ (L 24; m. H.), „ reißt ihr den Arsch auf “ und „ spreizt […] ihr Hinterzimmer“ (L 25; m. H.). Mit seiner Zunge „ stößt “ er „zornig“ in das Geschlecht der Frau, das er „ auseinander [gezogen]“ hat, „hinein“ (L 32-33; m. H.), oder er „[s] topft “ ihr sein Geschlechtsteil „ in den Mund“ (L 68; m. H.). - Hier einige weitere Verben des brutalen Öffnens, der Penetration und der Gewalt, die im Text vorkommen; um der Übersichtlichkeit willen werden die Verben lediglich im Infinitiv und ohne Beleg genannt. Viele davon werden etliche Male wiederholt: einsteigen, einziehen, greifen (in), (herum)wühlen, zwicken, drücken, öffnen, beißen, schlagen, stopfen, ziehen, prasseln, auseinanderbringen, werfen, (auf)spreizen, zwingen, stecken, auseinanderziehen, weiten, krallen, aufklappen, zerren, saugen, stechen, aufreißen, zerteilen, füllen, 430 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks des Mannes, der darin „wohnen“ (L 39), sich in der Frau „ausbreiten“, sich in ihr „verbergen“ (L 87) will. Das gewaltsame Handeln ist stets ein einseitiges mit einer klar auszumachenden Richtung: Es geht ausschließlich vom Mann aus und richtet sich gegen die Frau und ihren Körper, die (wieder einmal) zum Objekt, zum beschädigten, benutzten Ziel der Gewalt werden. Bezeichnenderweise ist der Mann, von dem am häufigsten Gewalt ausgeht, der „Direktor“. Etymologisch betrachtet ist er derjenige, der lenkt, der dirigiert, die Richtung vorgibt. Sein sprechender Namen „Herrmann“ hat eine unübersehbar generische, verallgemeinernde Dimension: (Sexuelle) Gewalt geht vom Mann aus und richtet sich gegen die Frau. Zu dieser Richtung, die den Ursprung der Handlung markiert (Mann → Frau), gehört noch eine zweite: die von oben (Mann) herab (auf die Frau). Während der Direktor (auch beruflich) „keinen über sich hat“ (L 56), ist seine Frau ihm klar untergeordnet, was sowohl sprachlich - durch Adverbien und Präpositionen - als auch bildlich klargestellt wird. Beim Verkehr „hält [er] die Frau mit seinem Gewicht nieder“ (L 19) oder „beugt […] sich über“ sie (L 144); um sie für ihren Ausflug zu Michael zu bestrafen, „schlägt [er] von seiner Körperschanze herab auf die Frau ein“ (L 138). In besonders abstoßenden Szenen zementiert er die buchstäbliche Herab würdigung Gertis, indem er „gegen seine Frau“ „uriniert“ (L 68), „auf sie schiff[t]“ (L 137). 65 So zeigt er ihr nicht nur ihre hierarchische Stellung, sondern auch ihren Wert - worin er übrigens mit Michael übereinstimmt: „Die Frau ist weniger als überhaupt nichts mehr“ (L 133). Im Sexualakt machen der Direktor und Michael Gerti zu einer bloßen Hülle, zu einem zu füllenden Gefäß. Darauf verweist leitmotivisch das in diesem Kontext obszöne Verb „(hinein)stopfen“; 66 zudem wird die Frau zur „Pumpstelle“ für die „Lebensstation“ des Mannes, der sie „vollzapf[t]“ (L 156) 67 und seinen „Fleischextrakt“ in sie „pump[t]“ (L 174). Das Bild des stets aufnahmebereiten teilen, aufsperren, klatschen, schleudern, graben, herumschleifen, ausreißen, schmettern, bohren, treten, abschießen, auseinanderklaffen lassen, durchstoßen, krachen, schieben, einführen, auseinanderzerren, hineinstecken, hineinreichen, auseinanderfalten, finkeln, fingern, zupfen, schrauben, eintreten, einfahren, hineinladen, bezwingen, ausweiden, hineinzwängen, hineinfallen, hineinfahren, zerreißen, eintauchen, stochern, durchforsten. 65 In seiner Gier nach ausgefallenen sexuellen Praktiken kennt der Direktor zwar auch die Umkehrung dieser Situation; er verlangt, Gerti solle „sich […] über ihn stellen und ihm in den Mund pissen“ (L 41). Allerdings ist diese Erniedrigung selbstbestimmt und mit sexueller Lust verbunden, mit einem Befehl an die Frau, die ihrerseits keineswegs Lust oder ein Gefühl der Macht empfindet (zumindest erfährt der Leser nichts davon), und damit nicht als reziproke Befriedigung zu verstehen. Außerdem ist die Unterwerfung provisorisch und nicht grundsätzlich. 66 Vgl. etwa L 101 und 146. 67 Auch Michael will Gerti „fühlen und füllen“ und „sich in ihren gesenkten Kopf hinein entladen“ (L 102-103). VIII.3. Lust (1989) 431 Gefäßes Frau verbindet sich mit der für Jelinek typischen Ästhetik des Ekelhaft- Abjekten, die sich in Lust immer wieder das Skatologische beinhaltet. So wird die Frau mit einer „Klomuschel“ verglichen, in die „der Mann sein Geschäft hineinmachen“ will (L 38); Gerti ist gar „vollgeschüttet und vollgeschissen von ihm“ (L 76). 68 Als ob die Erniedrigung nicht schon krass genug wäre, verlangt der Direktor, dass Gerti - ganz im Sinne des Mythos der sauberen, hygienischen Frau 69 - ihre Dienste als Sexsklavin mit ihren Pflichten als Hausfrau verbindet. Indem er sie nötigt, sich um den Schmutz, den er produziert und ausgeschieden hat, zu kümmern, demonstriert er seine Machtposition und zwingt Gerti, ihre vermeintliche Minderwertigkeit, ihre Würdelosigkeit, anzuerkennen: Der Vater hat einen Haufen Sperma abgeladen, die Frau soll alles ordentlich wegputzen. Was sie nicht aufleckt, muß sie aufwischen gehen. Der Direktor zieht ihr die Reste ihrer Kleidung aus und beobachtet sie beim Wischen und Flechten, beim Weben und Winden von Fetzen. (L 41; vgl. 76-77) Dass solche Stellen mythenkritisch zu lesen sind, legt ein Satz nahe, der sich gegen Ende des Textes findet: „Es wird gewünscht, daß sie wieder saubermacht […]“ (L 247). Die Passivkonstruktion mit dem unbestimmten Subjekt „es“ insinuiert, dass die Forderung an die Frau, sauber zu machen und sauber zu sein, eine gesellschaftlich sanktionierte, geschlechtsspezifische ist, die keiner rationalen Begründung standhält oder bedarf. Lust zeigt auf extreme Weise, dass diesem Mythos die Erniedrigung und die Entwürdigung der Frau eingeschrieben sind. (5) Der Mann versichert sich seiner Macht durch die Beobachtung der putzenden Frau; wiederholt thematisiert der Roman, wie Die Klavierspielerin , die Macht des Blickes . Diente der Blick hier etwa dazu, erfahrene Entwürdigungen weiterzureichen, was die weibliche Entwürdigung unvermeidlich perpetuierte, erhält das Motiv nun zwei neue Facetten. Zum einen wird der Blick ‚in die Frau‘ zum Instrument der Entwürdigung, das den männlichen Anspruch auf totale Verfügungsgewalt untermauert und jede weibliche Intimität und Privatsphäre zerstört. Der Direktor „sieht alles“ und reklamiert für sich „ein Recht auf Einblick“ (L 55). Das Bedürfnis, alles zu sehen, entspringt dem Wunsch nach totaler Kontrolle (vgl. L 76, 135). Ursprung dieses alles inspizierenden, entwürdigenden Blickes ist die Pornographie. Als Michael über Gerti herfällt, heißt es: „Er starrt in ihre Spalte […]. […] Er will und darf alles sehen und tun. […] Die Frau soll die Blicke des Herrn in ihr Geschlecht ertragen lernen […]“. Unmittelbar vorher 68 Vgl. ähnlich L 165: Gertis Geschlecht wird als „vollgesogen mit dem gärenden Produkt ihres Mannes“ - offenbar seinem Samen - beschrieben (L 165). 69 Vgl. dazu Jelineks Text Schamgrenzen? . Siehe oben, S. 416 - 417. 432 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks meldet sich die Erzählerin 70 zu Wort: Die „Lust“ des Menschen sei „eine endlose Kette von Wiederholungen, die uns mit jedem Mal weniger gefallen, weil wir durch die elektronischen Medien und Melodien daran gewöhnt wurden, jeden Tag etwas Neues ins Haus geliefert zu kriegen“ (L 123). Auch dem Direktor dient der Konsum von pornographischen Videos als Inspiration. Die darin vorgegebene Tabu-, Schranken- und Schamlosigkeit und die Reduktion der Frau zur unmündigen Statistin, die stets ‚bereit‘ und ‚offen‘ sein muss, haben die männlichen Figuren internalisiert. 71 Jelinek, die ihre Texte als Enthüllungsarbeit versteht, parodiert diesen Blick auf die Frau mitunter ganz offen, indem sie die Erzählinstanz deutlich hervortreten und die Beobachterposition des Pornokonsumenten oder die für den Porno typische Nahaufnahme ironisiert. 72 Pornographie, so wird suggeriert, und der darin sich spiegelnde und reproduzierte patriarchalische Blick auf die Frau, der durch den Konsum von Pornographie wiederum in die private (männliche) Sexualität entlehnt und verfestigt wird, berauben die Frau ihrer Würde. (6) Eine Vielzahl von Körpermetaphern konzeptualisiert Sex nicht als Begegnung zweier gleichberechtigter Individuen, sondern als Objektifizierung des weiblichen Körpers und als vollkommen enthumanisierten, würdelosen Vorgang. Ein erster Metaphernkomplex zeichnet den Körper der Frau als Haus, Gebäude oder Räumlichkeit . Wenn Gerti folgende Worte in den Mund gelegt werden: „Ja, sie will wohnen, aber nicht besucht werden“ (L 230), dann äußert sich darin ihr Wunsch nach Selbstbestimmung und ihr Unwille gegenüber den ständigen sexuellen Übergriffen ihres Mannes. Doch dieser zwingt sie, „das Tor aufzumachen, denn hier wohnt er“ (L 26), sieht ihre Körperöffnungen als Eingänge oder Türen, durch die er „einbricht“ (L 149), um sich an „ihrem Interieur und den Tapeten“ (L 25) zu ergötzen. Der Direktor, als Eigentümer des Hauses Gerti, will dieses nach Belieben beziehen. Daneben erscheint Gerti als Garten , der seine Pracht erst entfaltet, wenn ihn der Mann bestellt und sich um die 70 Zur Identifikation der Erzählinstanz als Erzählerin vgl. unten, Kap. B.VIII.3.4. 71 Die Grenze zwischen Porno und Realität scheint bisweilen in der Wahrnehmung des Direktors zu verschwimmen, wie Jelinek in einem virtuosen Wortspiel andeutet: „Der Direktor hat seine Frau jetzt genug in die Röhre gefickt, jetzt schaut er vor sich hin, sieht sich an und dreht, ganz liebenswürdiger Fremder, der sich über einen Motor beugt, den’s nicht mehr umhertreibt, an seinem Haustier herum“ (L 151). Das Wortspiel beruht auf dem doppelten Sinn des Wortes „Röhre“ als Bezeichnung für einen Bildschirm (Fernseher oder Computer) und einen länglichen Hohlkörper (als abwertende Metapher für das weibliche Geschlecht) sowie dem Reim „gefickt“/ „geblickt“. Das idiomatische „in die Röhre geblickt“ wird somit transformiert; die Assoziation wird dennoch aktiviert. 72 „Sie sind eingeladen, sich das anzuschauen“ (L 156), heißt es etwa, oder: „Hart wie Knöpfe schauen die kalten Augen der Warzenhöfe uns an“ (L 141), schließlich: „Schauen wir uns mit offenen Augen gegenseitig ins Geschlecht, damit wir besänftigt werden […]“ (L 220). VIII.3. Lust (1989) 433 Vegetation kümmert. Dem Mann steht es frei, sein ‚Grundstück‘ mit Gewalt zu bearbeiten; „mit der geballten Faust“ wird ihr „in ihr gedüngtes Beet“ geschlagen (L 172). Die denkbaren positiven Konnotationen der Gartenmetapher (Leben, Wachstum, Blüte) werden ausgeblendet; vielmehr wird die Frau „in Pacht genommen“ (L 124; von Michael) oder achtlos „durchquert“ (L 146). Die dritte Metaphernkette charakterisiert die Menschen beim Sex mit Bildern, die dem Bereich der motorisierten Fahrzeuge entstammen - und zwar Mann und Frau. Jener ist ein kraftvoller, unaufhaltsamer, sich gnadenlos seinen Weg bahnender „Expreßzug“ (L 38), der die Frau durch „heftige Kolbenstöße“ (L 110; Michael) oder mit seiner „Zunge Kraftfahrzeug“ (L 245) traktiert. Die Frau ihrerseits wird zum mietbaren, „komfortable[n] Taxi“ (L 110), dessen Motor auf Geheiß des Mannes „anspringen“ (L 70), oder zum Tank, der sich vom Mann „vollzapfen“ (L 156) lassen muss. Die Fahrzeugmetaphern unterstreichen die krude Gewaltsamkeit des Mannes, die Ohnmacht der Frau und das Mechanisch-Lieblose des Akts. Schließlich wird die Frau im männlichen Begehren mit Essen oder Nahrung assoziiert . Sie muss sich „zum Verzehr“ (L 165) „zubereiten“ (vgl. L 55, 156, 171, 198), um den „Appetit“ (L 55) des Mannes zu stillen. Zum einen legen diese Metaphern nahe, dass die Frau nicht um ihrer selbst willen begehrt wird, sondern lediglich in ihrer Funktion ‚Frau‘ zum Mittel des Erhalts des Mannes wird und auch zu diesem Zweck erst noch hergerichtet werden muss. Zum anderen droht sie, indem sie vom Mann ‚genossen‘ wird, „ausgelöscht“ zu werden (L 231). Der Sexualakt entwürdigt die Frau nicht nur, er vernichtet sie sogar. 73 (7) Eine hyperbolische Häufung von Motiven und Metaphern suggeriert, dass der Frau das Recht auf Selbstbestimmung und -verfügung genommen wird. Syntaktisch transportiert wird diese Vorstellung durch eine Fülle von Modalverben und Passivkonstruktionen . (Sexuelle) Handlungen werden meist entweder mithilfe von Verben der Gewalt als ausschließlich vom Mann ausgehend aktivisch geschildert, oder aber passivisch, häufig ohne den eigentlichen Akteur zu nennen, was den Eindruck eines totalen Ausgeliefertseins der Frau an eine Art höhere Macht kreiert. Zudem sind die Modalverben im Text vielsagend verteilt: Der Mann „will“, „kann“ und „darf “ - die Frau „muss“ und „soll“. Die Verben „sollen“ und „müssen“ haben dabei keine primär ethische Dimension, sondern kommen sozialen - männlichen - Erwartungen, ja Befehlen gleich, 73 Auch Ria Endres nennt einige der hier behandelten Motive (die Frau als Haus, als Eigentum, als Auto, als Landbesitz sowie das unten behandelte Motiv des Werts der Arbeiter) (Keine Lust für niemanden. Elfriede Jelinek: Lust (1989), in: Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. Erste Lieferung, hg. v. K. Kastberger u. K. Neumann u. Mitarb. von M. Hansel, Wien 2007, S. 98-101, hier S. 98-99). 434 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks die der Frau aufoktroyiert sind. 74 Exemplarisch zeigen sich diese Strategien in der Beschreibung der Vergewaltigung Gertis durch Michael und seine Bekannten (L 196-198). Aktivisch halten „[d]ie Buben“ Gertis „Hände oben über dem Kopf zusammen“. Doch dann treten die Täter sprachlich in den Hintergrund; die konkreten Handlungen werden passivisch oder mithilfe von Modalverben geschildert. Gertis Kleid „wird hinaufgeschoben“, ihre Schamlippen „werden auseinandergezogen“, an ihren Schamhaaren wird „gezupft“ und „gezerrt“, ihre Beine „sind […] auseinandergespreizt“, sie „muß […] liegen bleiben“. Höchste Aufmerksamkeit verdienen die Personalpronomina: „Es ist unglaublich, was man mit den dehnbaren Schamlippen alles anfangen kann […]. Man kann sie z. B. zusammendrehen wie eine spitzige Tüte […]“ (m. H.). Dieses „man“ ist sowohl in seiner phonetischen Identität mit „Mann“ als auch in seiner Unbestimmtheit, in seiner Allgemeinheit vielsagend. Diese letztere wird noch einmal betont: „ Es wird ihr […] gewährt, daß man sie wieder zusammenfaltet“ (m. H.). Die Beschreibung abstrahiert von klar identifizierbaren Agenten; Täter sind nicht mehr nur die „Buben“, sondern eine übergeordnete, nicht genau bestimmbare Instanz, die Allgemeinheit, die Gesellschaft an sich. 75 Diese Anklage wird radikalisiert, indem die Erzählerin den Leser zum unmittelbaren Zeugen, mithin zum Mittäter macht: „Und jetzt kitzeln wir die Dunkelheit […]“; „aber einen Finger wollen wir doch noch hineinstecken“; „ wir hören es laut“ (m. H.). 76 Daran, dass Gerti „verspottet [wird] wie ihr ganzes Geschlecht“, daran, dass dieses Geschlecht „seinen Körper nicht verwalten darf “, trägt die Gesellschaft als Ganze schuld. 74 Vgl. L 214: „[S]ein Wort“ - gemeint ist der Direktor, gleichsam als Vertreter seines Geschlechts - „ist Befehl“. 75 Auch „Mädchen“ sind Teil der Gruppe, die Gerti vergewaltigt bzw. dabei zusieht. „Lachend entreißen ihr die Mädchen ihren nassen Schlüpfer“, nachdem Gerti, betrunken und offenbar nicht mehr in der Lage, ihre Körperfunktionen zu steuern, uriniert hat, und „tunken Gerti das Haupt […] ins nicht mehr nüchterne Wasser“ (L 201). 76 Passivkonstruktionen, Modalverben und das Pronomen „wir“ finden sich auch in der weiteren Beschreibung der Vergewaltigung (L 200-203). - Anregend ist die Bemerkung von Annette Doll, dass die „kollektive[n] ‚Wir-Sätze‘“ in Lust „allesamt dem Fundus des Katholizismus entlehnt scheinen“ (Mythos, Natur und Geschichte, S. 162). Obwohl diese Deutung für die gerade genannten Stellen nicht unbedingt passt, trifft sie doch auf andere zu; Jelineks Kritik bezöge sich also auf eine von christlichen (katholischen) Werten geprägte Gesellschaft. Diese Werte wären somit mitverantwortlich für die angeprangerten Gewalt- und Entwürdigungsstrukturen. VIII.3. Lust (1989) 435 VIII.3.2. Der Wert des Menschen: Menschenwürde und Kapitalismuskritik In Lust hat der Mensch keinen absoluten, sondern einen relativen Wert. Indem Jelineks Sprache den Menschen immer wieder, explizit oder implizit, mit anderen Menschen, aber auch mit materiellen Werten vergleicht und die Frage nach seinem ökonomischen Nutzen in den Raum stellt, verbindet sie Kapitalismuskritik mit dem Problem der Menschenwürde. Bereits die ersten Seiten präsentieren das Motiv des Werts eines Menschen als Deutungsansatz. Der kalauernde, bisweilen sprunghafte Stil verlangt dem Leser eine genaue, aufmerksame Lektüre ab. Die ersten relevanten Textstellen lauten wie folgt: Die Frau [i. e. Gerti; MG ] geht mit ihrem Kind spazieren. Sie gilt allein schon mehr als die Hälfte von allen Körpern hier, die andere Hälfte arbeitet in der Papierfabrik unter dem Mann, nachdem die Sirene gejault hat. (L 7) Der Mann wird nicht mitgezählt unter den Bewohnern, er zählt allein. (L 8) Der Direktor kennt seine Arbeiter nicht einzeln, aber er kennt ihren Gesamtwert , grüß euch Gott, alle miteinander. (L 8) (m. H.) Auf dichte Weise werden hier Grundzüge einer grundsätzlichen Gesellschaftskritik entworfen. Diese Gesellschaft ist klar strukturiert und klar hierarchisiert: Über allen thront der Direktor, der, um marxistische Terminologie zu bemühen, im Besitz der Produktionsmittel ist. Ihm untergeben ist seine Frau, die aber, allein aufgrund ihres sozialen Status als Gattin eines wohlhabenden Mannes, mehr „gilt“ als die Angestellten, die nur noch als Kollektiv erscheinen. In der Vorstellungswelt des Kapitalismus, dessen Sprache der Text mit entlarvender Absicht imitiert, gelten sie nicht einmal als eigenständige Personen, denen als Individuen ein Wert zukommt, sondern als „Körper“, als Masse, als wirtschaftlicher Faktor, sei es als Verbraucher oder ausbeutbare Arbeiter. Der einzelne Mensch hat einen Wert, insofern er Teil des Systems ist; er wird zum reinen Mittel, das dem Zweck der Gewinnmaximierung dient. Dass in diesem Zusammenhang lapidar und scheinbar spielerisch ein Bezug zu „Gott“ hergestellt wird, charakterisiert das herrschende Gesellschaftssystem zwar nicht als gottgewollt, aber zumindest als in der christlichen, westlichen Tradition verwurzelt und mit ihr verwoben. Die Herabsetzung des Menschen zu einem reinen Mittel des Kapitalismus ist ein weiteres Leitmotiv des Romans. Wenn die Arbeiter der Papierfabrik antonomasisch als die „Zweckdienlichen“ (L 14) bezeichnet werden, wird die Perspektive des Direktors angenommen und der Kritik preisgegeben: „Menschen zählen für diesen Direktor einfach, indem sie Menschen sind und verbraucht 436 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks werden oder zu Verbrauchern gemacht werden können“ (L 73). Dieses Zitat belegt eindrucksvoll, wie Mythende(kon)struktion funktioniert. Der Anfang des Satzes wirkt fast wie die Paraphrase einer Definition von inhärenter Würde: ‚Der Mensch besitzt Würde, nur aufgrund der Tatsache, dass er ein Mensch ist.‘ Indem Jelinek den Satz aber um einen zweiten Nebensatz mit der irritierenden Konjunktion „und“ erweitert, wird die Auffassung einer dem Menschen ohne alle Bedingungen zustehenden Würde als Mythos entlarvt. Werbung und Firmenslogans mögen zwar behaupten, dass der Mensch, seine Rechte und seine Interessen stets im Mittelpunkt wirtschaftlicher Aktivitäten stehen; in Wahrheit aber wird der Mensch verdinglicht, da er bloß als Arbeits- und Produktionskraft einen Wert besitzt, und zum unreflektiert, gleichsam fremdbestimmt konsumierenden „Verbraucher“ erzogen. „Die Menschen müssen sich rentieren, bis sie ihre Rente erreicht haben“ (L 95), heißt es wenig später. Wenn sich der Mensch nicht mehr rentiert, d. h. weder als Arbeitskraft ausgenutzt noch als Konsument rekrutiert werden kann, verliert er vollends seinen Wert. Da Sexualität in Jelineks Texten als männliches Konsumieren des weiblichen Körpers beschrieben wird, überrascht es nicht, dass auch die Frau der Logik und der Sprache des Kapitalismus unterworfen ist, dass auch über ihren Wert gesprochen wird. Als herausragender Vertreter der patriarchalen Gesellschaft besitzt der Direktor sowohl die Macht des Kapitals als auch die Macht des Geschlechts. Diese doppelte Machtposition umreißt der Text mit typischer Obszönität: „Der Mann benutzt und beschmiert die Frau wie das Papier, das er herstellt“ (L 68). Nicht nur wird die Frau durch den verdinglichenden Vergleich mit Papier - folgt man den im Text durchaus angelegten Assoziationen („beschmieren“ > Dreck > Fäkalien), sogar mit Klopapier - gleichgesetzt, sondern sie wird eben auch zur Ware, die erst durch den Mann entsteht und einen Wert erhält und nach ihrer Nützlichkeit beurteilt wird. Dabei ist sie, genauer: ihr Körper, nicht nur Ware, sondern entpersonalisierter, verfügbarer Besitz des Mannes, dem Frau und Körper „gehör[en]“ (vgl. etwa L 37, 45, 162). Nicht einmal als Sexualobjekt zur Luststatt zur Profitmaximierung hat sie einen eindeutigen Wert. Ein Erzählerkommentar, der wohl die Sicht des Direktors widerspiegeln soll, führt aus: „Die Frau ist dem Nichts entwendet worden und wird mit dem Stempel des Mannes jeden Tag aufs neue entwertet“ (L 19). Die Benutzung durch den Mann bewirkt, dass die Frau, wie eine Briefmarke, ihren Wert verliert. So programmatisch wie lakonisch behauptet der Text: „Die Frau ist weniger als überhaupt nichts mehr“ (L 133). 77 77 Den Direktor hält ohnehin nur die „Angst vor der neuesten Krankheit“ (L 19) davon ab, Gerti auszutauschen. Würde er sich bei Prostituierten vergnügen, würde er durch die Bezahlung zumindest deren ökonomischen Wert bestätigen. Über seinen wert- und würdelosen Besitz Gerti jedoch verfügt er nach Belieben. VIII.3. Lust (1989) 437 Kapitalistisches Denken kennt keine Würde, so Jelineks Diagnose, sondern nur den Wert eines Individuums; Menschenwürde ist mithin ein weiterer Mythos. Die einzig mögliche Form der Würde ist kontingent: die ökonomische Macht. VIII.3.3. Der Mann als Schöpfer-Gott Jelinek stellt Lust ein Zitat aus einem geistlichen Gesang des Juan de la Cruz (1542-1591) als Motto voran, in dem der spanische Mystiker die Vereinigung der als Braut vorgestellten Seele mit ihrem Bräutigam Christus feiert (L 5), 78 und kündigt so ein semantisches Feld an: die zahlreichen Anspielungen auf Gott, das Göttliche, die Schöpfung. Dabei interagieren Motive, die auch im Hinblick auf die Begründung der Menschenwürde einschlägig sind: der Mensch - v. a. der Mann! - als Geschöpf Gottes, als sein Ebenbild, sogar als gottähnlicher Schöpfer auf der einen Seite, auf der anderen Relativierungen, ja radikale Absagen an solche Positionen. Den vermeintlichen Sonderstatus des Menschen als Geschöpf Gottes travestiert Jelinek auf geradezu ketzerische Art. Spöttisch und bissig heißt es über die angeblich scheinheilige, verlogene Frömmigkeit Österreichs: Jetzt wird noch ein bißchen zu Gott gefleht in diesem röm. kath. Land, damit alle sehen, daß wir uns das Blut der Unschuld von den Fingern waschen, das Gott in einem Akt der Anstrengung in sich selbst verwandelt hat: Mann und Frau, genau, das ist sein Werk. […] Die Frau z. B. kann oft mit dem Mund ein Rohr bilden, in das sie das Glied des Direktors kniend aufnimmt. (L 127-128) Die angebliche Würde des Menschen, der im göttlichen Schöpfungsakt eigentlich zum Ebenbild Gottes wird („in sich selbst verwandelt“), wird bereits durch den kalauernden Binnenreim („Mann und Frau, genau“) ironisiert. Das schroffe Aufeinanderprallen zweier disparater Vorstellungen (Menschenwürde vs. Mensch als obszöne Sex-Maschine) lässt den Verweis auf Gott dann vollends unangebracht wirken. Gott wird mithin ersetzt, denn Gerti kniet nicht in der Kirche, sondern vor dem Direktor; der Gottesdienst wird zum sexuellen Dienst für den Mann-Gott. 78 Im Anschluss hieran ist Lust als gesellschaftskritische Parodie der bedingungslosen Selbstaufgabe der (weiblichen) Seele gelesen worden. Vgl. dazu etwa Luserke, Ästhetik des Obszönen, S. 61-62, der den Roman als „Kontrafaktur zum Motto“ (S. 61) deutet, da dieser das genaue Gegenteil des uneigentlichen, mystischen Sprechens des Mottos darstellt. 438 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks Der Direktor erscheint aufgrund seiner sozialen und sexuellen Machtposition leitmotivisch als Gott oder gottähnlich (vgl. L 7). 79 Im sexuellen Akt wird er (als Stellvertreter ‚des Mannes‘) zum Schöpfer-Gott mit absoluter Macht: In der „Entwürdigung“ durch den Sexualakt „erschafft“ der Mann „die Frau“, heißt es an einer geradezu paradoxen Stelle (L 24). Diese Engführung von Gewalt, Entwürdigung und Schöpfungsakt ist insofern bedeutsam, als gerade die kreative, schöpferische Freiheit des gottebenbildlichen Menschen und sein schöpferischer, gestaltender Umgang mit der Welt Grundlage des Menschenwürdebegriffs sein können, etwa bei Pico della Mirandola. 80 Bei Jelinek ist die Auseinandersetzung mit der Menschenwürde aber stets geschlechtsspezifisch kodiert: Die schöpferische Kraft des Mannes impliziert unweigerlich die Herabwürdigung der Frau . 81 Auch Michael, der nicht über die ökonomische Macht des Direktors verfügt, ist als Mann gottähnlich. 82 Geradezu narzisstisch „erkennt [Michael] im Spiegel sich als seinen eigenen Gott“ (L 109); Würde besitzt er nicht als Ebenbild Gottes, sondern indem er sich verabsolutiert. Was Michael an sozioökonomischer Macht fehlt, kompensiert er, indem er dem Trivialmythos des jungen, selbstbewussten, begehrenswerten Mannes entspricht. Gerti „schreit […] nach dem Götterbild Michael, das ihr auf Fotos, die ihm ähnlich sehen, verheißen worden ist“ (L 118). Sie hat dieses Bild internalisiert und landet genau deshalb in den Armen eines Mannes, der die durch den Ehemann erlittene Entwürdigung repetiert. Dem Mann-Gott, der entweder Wohlstand und Macht oder begehrenswerte Attraktivität repräsentiert, schreibt der Mythos eine besondere männliche Würde zu, der die Entwürdigung anderer immanent ist. Diese fragwürdige Würde unterminiert der Text, indem er exzessiv und aufdringlich diese gewaltsamen Entwürdigungen schildert und indem er die vermeintliche Göttlichkeit direkt negiert. Mehrmals wird der Direktor inner- 79 Vgl. zum Motiv des göttlichen Mannes auch Schestag, Sprachspiel als Lebensform, S. 176-177. 80 Vgl. die oben, S. 19, Anm. 12 angegebene Literatur. 81 Beim Sex „zerteilt [der Mann] die Schöpfung“ (L 26); die Frau, die mit den „Schöpfungsgeräten“ des „Handwerker[s]“ Mann traktiert wird (L 53), „stirbt nicht, sie entsteht ja gerade erst aus dem Geschlecht des Mannes“ (L 30). „Freudig ist er [i. e. der Mann; MG] ein Gott“ (L 33), und „Seinem Kommando“ (L 40; mit Großschreibung des Possessivpronomens, wie es in Bezug auf Gott üblich ist) sind sowohl die Frau als auch die Arbeiter unterworfen, für die er der „Allmächtige[]“ (L 103) ist. Auch in der Öffentlichkeit genießt der Direktor eine Sonderstellung: „Er, ein Gott, eilt unter seinen Geschöpfen dahin, die weniger als Kinder sind […]“ (L 74). 82 Vgl. L 124: Michael hat „all diese Pracht geschaffen und geschafft“ - gemeint ist die vor ihm liegende, nackte Gerti - und wird, wie der Direktor, in Anspielung auf die Bezeichnung Gottes „Herr“ genannt (vgl. L 55 und 123). VIII.3. Lust (1989) 439 halb nur weniger Zeilen sowohl als Gott als auch als Tier bezeichnet. 83 Einerseits spielt die Engführung der beiden Motive auf den oft rezipierten Topos des Menschen als Zwitterwesen an, das zwischen seiner göttlichen und seiner tierischen Natur hin- und hergerissen ist; andererseits entsteht ein scharfer Kontrast zum Textmotiv des Mannes als gottähnlicher Schöpfer, welches so als Mythos erkennbar gemacht und offen konterkariert wird. Wenn ein Vergleich am Anfang des Textes heißt: „[D]er Vater ist angefüllt wie eine Schweinsblase, er singt, spielt, schreit, fickt“ (L 10), wird diese Figur als vollkommen würdelos desavouiert. Mitunter sind die Tiermetaphern und -vergleiche jedoch dergestalt akzentuiert, dass sie wiederum auf einen anderen Mythos Bezug nehmen, und zwar jenen des Mannes als wildes, ja sogar edles Tier, dessen gesellschaftlich sanktionierte Gewalt gegen die Frau gewissermaßen sublimiert wird. 84 In Bezug auf die Frau ist die Tiermetaphorik weniger widersprüchlich: Wenn Gerti als „Pferd“ (z. B. L 67, 108), „Hund“ (vgl. L 131) oder „Tier“ (z. B. L 114; vgl. L 144) charakterisiert wird, impliziert dies, dass sie lediglich ein „Haustier“ ist (L 33, 126, 151), das vom Direktor, dem „Herrchen[]“ (L 187), an der „Leine“ gehalten, mit „Zaumzeug“ gebändigt (L 83) und in einen „Auslauf Stall“ gesperrt wird (L 215). Die Frau wird nicht als wild, dynamisch, ungezügelt, sondern als unterworfen, minderwertig, dressiert und unmündig konnotiert. Die Frau ist nicht nur ein ohnmächtiges Tier, sondern ein abjektes, (vom Mann) verschmutztes Wesen. 85 Die wiederholten Assoziationen der Frau (und letztlich auch des Mannes) mit Skatologischem und anderen Körperflüssigkeiten kennzeichnen diese nicht nur als würdelos, sondern verweisen auf zwei weitere Vorstellungen: die Schöpfungsgeschichte, in der Gott den Menschen aus Lehm erschafft (Gen 2,7), und den frühneuzeitlichen Topos der Welt als Jauchegrube. Letzteren modifizieren Jelineks Texte zu einer obszönen Darstellung der Würdelosigkeit des Menschen, dessen Versuche, so etwas wie Würde für sich zu reklamieren, auf Kosten anderer gepflegte Mythen sind. Im biblischen Text der Schöpfungsgeschichte erschafft Gott den ersten Menschen Adam aus dem Schlamm der Erde. Dass er ihn nach seinem Ebenbild schafft und über alle anderen irdischen Geschöpfe stellt, begründet die Würde des Menschen. Aus einer 83 Vgl. L 87: „dieser donnernde Gott“ vs. „diese[s] milde[] Tier“ und L 103: „Ihr Allmächtiger, der Direktor der Fabrik, dieses Pferd mit seinem riesigen Leib“. 84 So ist die Rede davon, dass „[d]er Mann […] mit dem Tier in sich rechnen [muss]“ (L 151), auch wird er zum „riesigen Pferd“ (L 25), zum „Stier“ (L 126), zum „Terrier“ (L 215), „schrei[t]“ (z. B. L 25 und 148) und geht „mit wilden Klauen“ (L 56) auf die Frau los. 85 Beim Sex lässt der Mann der Frau „seine Abfälle […] da“, „Schlamm [tritt] aus seinem Mund und seinem Genital“ (L 21), Gerti wird „mit Sperma eingeschmiert“ (L 39) bzw. „mit dem Schlamm [des] Vaters und hl. Geistes“ „vollgeschmiert“ (! ) (L 134), schließlich „spuckt“ der Direktor „seiner Frau schreckliche Kotklumpen ins Ohr“ (L 152). Vgl. weiterhin L 57. 440 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks Rippe Adams wird dann die erste Frau erschaffen, die relativ lange namenlos bleibt. In Lust ist es der meist namenlose Mann, der die Frau ‚erschafft‘, sie aber gleichzeitig in den Schlamm wirft und sich daran ergötzt. Der Schöpfungsakt verleiht dem Geschöpf keine Würde, sondern degradiert es zum Objekt extremer Gewalt. Schöpfer und Geschöpf sind zudem metaphorische Tiere. Die Vorstellung der Menschenwürde wird so ad absurdum geführt. Der Mord Gertis an ihrem Sohn ist schließlich der ultimative Versuch einer Auflehnung gegen den Mythos des männlichen Schöpfers. Die Gestaltung dieser Tötungsszene, die den Text abschließt und innerfiktional nicht beurteilt wird, ist vom außerfiktionalen Standpunkt her zu problematisieren. Wieso tötet Gerti den Sohn? 86 Der Vorgang wird als ein verstörend liebevoller beschrieben. „Zärtlich küßt“ Gerti das Kind vor der Tat und trägt es „auf ihren Armen dahin wie einen knospenden Strauch, der einzupflanzen ist“ (L 254). Unmittelbar bevor sie ihn mit einer Plastiktüte erstickt, wird der Sohn mit dem Geschlecht des Vaters assoziiert: „Es [i. e. das Kind; MG] freut sich gewiß aufs Wachsen, ähnlich dem Glied des Vaters“ (L 254). Gegenüber Gerti, so wird suggeriert, nimmt der Sohn qua Geschlecht dieselbe Rolle ein wie der Vater: „[S]o sehr ist er ihr Vorgesetzter gewesen, ein kleiner Kriegsgott“ (L 254). Diese Motivparallelen (Glied, Vorgesetzter, Gott) implizieren, dass der Sohn die Herabwürdigung Gertis weiterführt. Der Kindsmord als negativer weiblicher Schöpfungsakt in Umkehr des männlichen oder als weiblicher Destruktionsakt ist der Versuch, den Kreislauf der Entwürdigung durch einen (zu verurteilenden) Akt zu durchbrechen, die eigene Würde wiederzugewinnen, indem ein Stellvertreter des Patriarchats als Quelle der Entwürdigung der Frau beseitigt wird. Dass der Mord im Text allerdings recht unvermittelt passiert und textlich nicht wirklich vorbereitet oder vorweggenommen wird und dass zudem die innerfiktionalen Reaktionen darauf (etwa durch den Direktor, die Gesellschaft) vollkommen ausgeblendet werden, lässt ihn als ohnmächtige Verzweiflungstat in einer ausweglosen Situation erscheinen, als von vornherein sinnloses Aufbegehren. Darin liegt auch der entscheidende Unterschied zu Woyzecks Mord an Marie, der in Büchners geradezu perverser Gesellschaftskritik zum letztmöglichen selbstbestimmten Akt wird, der die Degradierung zum Tier zu konterkarieren und die eigene Würde wiederherzustellen vermag; dieser Mord, der sich, wie in Jelineks Text, ausgerechnet gegen den einzigen vom Täter geliebten Menschen richtet, ist geplant, (auch textlich-motivisch) vorbereitet und kann nur deshalb zu einem Akt der Würde 86 Vgl. dazu auch Christine Hamm, Das tote Kind: Weiblichkeit, Sexualität und Mütterlichkeit in Elfriede Jelineks Lust , in: Elfriede Jelinek: Tradition, Politik und Zitat. Ergebnisse der Internationalen Elfriede Jelinek-Tagung 1.-3. Juni 2006 in Tromsø, hg. von S. Müller u. C. Theodorsen, Wien 2008, S. 251-269. VIII.3. Lust (1989) 441 werden. 87 Insofern ist der abschließende Erzählerkommentar in Lust („Aber nun rastet eine Weile! “; L 255) zynisch: Statt aufzurütteln und zum kritischen Hinterfragen eines Systems aufzurufen, das Frauen so sehr herabwürdigt, dass die Gewalt gegen das eigene Kind das letzte verbliebene Ventil ist, wird eine Veränderung - wie eine sinnvolle Deutung des Mordes - als nebensächlich und somit letztlich unmöglich hingestellt. Wie in anderen Texten Jelineks fehlt jede Hoffnung auf Rekonstitution der Menschenwürde. 88 VIII.3.4. „[W]er deutet uns das? “-- Die Erzählerin In Lust begegnet dem Leser eine bemerkenswerte Erzählinstanz, die, analog zur Autorin, 89 als eindeutig weiblich entworfen ist; die Erzählerin inszeniert sich als Sprachrohr ihres Geschlechts und betrachtet ihre weibliche Figur Gerti als Stellvertreterin für alle Frauen. 90 Abgesehen von der Erzählerin kommt die weibliche Stimme nicht zu Wort; als Gerti ihren Mund „wieder zügellos […] zum Sprechen benutzen [will]“, „muß [sie] statt dessen [den Mund] aufsperren und den Schwanz Michaels in das Kabinett ihres Mundes einlassen“ (L 120). 91 Entwürdigung bedeutet auch, die weibliche Stimme zum Schweigen zu bringen. Die Erzählerin hingegen tritt im Text markant in der ersten Person Singular hervor. Sie markiert den Text nicht nur deutlich als ihr Produkt, sondern exponiert ihn als konstruiertes, fiktionales, ästhetisches Gebilde, das sie souverän und nach Belieben überblickt. Zwar weist die Erzählerin mehrfach auf die literarische Kommunikationssituation hin - auf der einen Seite eine Erzähl- 87 Vgl. dazu oben, S. 183 - 186. 88 Laut Alexandra Pontzen markiert der letzte Satz des Textes den Kindsmord als „letzten Akt einer pervertierten Schöpfung, indem er auf den letzten Tag der Schöpfung, den Sonntag verweist - den Tag, an dem der Roman einsetzt“ (Lust - keine Lust. Der weibliche Körper im erotischen Roman von Ulla Hahn bis Elfriede Jelinek, in: Der deutsche Roman der Gegenwart, hg. v. Wieland Freund u. Winfried Freund, München 2001, S. 53-76, hier S. 61). 89 Federmair merkt an: „[I]ch halte es nicht für ergiebig, die Erzählerin von der Autorin zu differenzieren“ (Sprachgewalt als Gewalt gegen die Sprache, S. 61). Auch Luserke (Ästhetik des Obszönen, S. 65) spricht von „Autorinnenkommentare[n]“, nicht von Erzählerinnenkommentaren. 90 Vgl. Formulierungen wie „wir Frauen“ (L 145). 91 Vgl. dazu auch Svandrlik, Art. Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr ; Lust ; Gier , S. 106. Lücke spricht vom „Zusammenhang von Unterdrückung, Erniedrigung und Aphasie“ (Elfriede Jelinek, S. 88). - Einmal schreit Gerti (L 84): „Der Wind erpreßt Stimme von ihr. Einen unwillkürlichen, nicht sehr wilden Schrei preßt es ihr aus den Lungen, einen tauben Ton. So hilflos wie der Acker des Kindes, aus dem die Töne geschlägert werden, das sich aber gut daran gewöhnt hat.“ Es ist jedoch kein Schrei der Auflehnung, des Protests, auch kein Schrei, mit dem sie sich Gehör verschaffen will; er ist „unwillkürlich“, „hilflos“ und - welch Kontrast zur animalischen Wildheit des Mannes - „nicht sehr wild“. 442 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks instanz, die sich als Quelle des Erzählten ausweist und dieses kommentiert, auf der anderen der Leser als Rezipient -, 92 doch eine positive, lehrhafte Deutung bleibt innerfiktional aus - genauso wie jede Empathie und jedes Mitleid. Gleichwohl sind ihre Kommentare über den Menschen sowie über die Funktion und das Wesen von Sprache und Literatur aufschlussreich. Der hyperbolisch beschriebenen Entwürdigung der Frau stellt die Erzählerin in ihren Kommentaren keineswegs ein Frauen- und Menschenbild entgegen, dem ein utopisches Potential eignet. Die Natur des Menschen ist sein Geschlechtstrieb; die „Arbeit“, die metonymisch für das kapitalistische Gesellschaftssystem steht, ‚zerstört‘ den Menschen (L 79). Wiederholt betont die Erzählerin, dass der Mensch ein egoistisches, würdeloses Wesen ist: „Wir sind ja keine Tiere, daß alles immer sofort geschehen muß, wir überlegen, ob der Partner überhaupt zu uns paßt und was er sich leisten kann, ehe wir ihn zurückstoßen“ (L 100). In Anspielung auf Menschenwürdebegriffe, die den Menschen aufgrund seiner Fähigkeit, sich reflektiert von Trieben zu distanzieren, vom Tier abgrenzen, wird die vermeintliche Sonderstellung des Menschen behauptet, jedoch sofort wieder ironisiert, denn die Vernunftbegabung dient nicht dem moralischen Handeln, sondern der auf den eigenen Vorteil gerichteten Instrumentalisierung des Anderen. Den der menschlichen Selbstvergewisserung dienenden Ausspruch „Wir sind doch keine Tiere“ entlarvt die Erzählerin als überhebliche und inhaltsleere Phrase. Denn immer wieder wirft sie die Frage auf, ob der Mensch nicht doch als „Tier […] gedacht war“ (L 111). Dieses Oszillieren zwischen verschiedenen pejorativen Bestimmungen des Menschen ist irritierend - und diese Irritation ist Programm. Von den würdelosen Figuren im literarischen Kosmos lässt sich keine kohärente Geschichte mehr erzählen; sie sind keine konsistenten Individuen, keine Subjekte, wie sie die literarische Tradition kennt, sondern Deformierte, Würdelose, deren Würdelosigkeit in immer neuen sprachlichen Verfahren obsessiv konzeptualisiert wird, 93 denen auch in der ästhetischen Darstellung keine Würde zugesprochen wird, die keine ‚erzählerische Würde‘ besitzen. Jelinek hat diese innerfiktionale Destruktion des Subjekts, die sie als Abbildung der real-außerfiktional bereits vollzogenen versteht, selbst beschrieben: Es [i. e. das bürgerliche Subjekt; MG ] existiert nicht nur in meinem Werk nicht mehr, es existiert überhaupt nicht mehr. Aber es ist natürlich die Illusion eines gigantischen 92 Vgl. etwa L 105: „Ich fordere Sie ernstlich auf: Luft und Lust für alle! “; L 145: „mit all meinen Lesern“; L 156: „Sie sind eingeladen, sich das anzuschauen! “; L 234: „bitte sehen Sie selbst“. 93 Vgl. dazu auch Pontzen, Lust - keine Lust, S. 61-62. VIII.3. Lust (1989) 443 Marktes, den Menschen zu suggerieren, sie wären einmalig und unverwechselbar und imstande, individualistisch zu handeln. 94 Menschenwürde - auf diese These laufen die Analysen immer wieder hinaus - ist ein Mythos, der den bürgerlichen, besitzenden Klassen als Unterdrückungsinstrument dient. Der Text hinterfragt diesen Mythos auch dadurch, dass er Elemente bildungsbürgerlichen Kulturguts ironisiert. Sie webt Schlagworte kanonischer Texte der deutschsprachigen Literatur in ihren Text: Der Anfang des Romans rekurriert auf die Sprache Hölderlins, 95 die Erzählerin benutzt den Schillerschen Terminus „Spieltrieb“ (L 29) in Bezug auf den krankhaften Sexualtrieb des Direktors, bezeichnet die Familie, in Anspielung auf Lessings wirkmächtige kunsttheoretische Schrift als „laokoonische[] Gruppe“ (L 137; als der Direktor Gerti, die den Sohn an sich drückt, verprügelt), nennt dann Leitbegriffe der Weimarer Klassik in Bezug auf Gertis Alkoholproblem („Sie trinkt aus Neigung, viele trinken aus Pflicht“; L 208), travestiert schließlich Büchners revolutionäre Flugschrift Der Hessische Landbote , als sie, mit Blick auf die ungleiche Verteilung ökonomischer Ressourcen feststellt, dass „wir […] Krieg in den Hütten [haben]“ (L 154), nur um kurz darauf zu beschreiben, wie der rücksichtslose Sohn „das Verhältnis zwischen Natur und Naturrecht [stört]“, wenn er Tiere misshandelt und sich dem Skisport hingibt. 96 Indem Versatzstücke aus ikonischen Texten der 94 Winter, Gespräch mit Elfriede Jelinek, S. 14. 95 Vgl. dazu grundlegend Jutta Schlich, Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur. Am Beispiel von Elfriede Jelineks „Lust“ (1989), Tübingen 1994, S. 253-282; vgl. auch Schestag, Sprachspiel als Lebensform, S. 194-196; Doll, Mythos, Natur und Geschichte, S. 163-165; Lücke, Jelinek, S. 86-87. - Schestag kritisiert die Positionen Gürtlers und Burdorfs, die beide vorschlagen, in den intertextuellen Verweisen auf den hymnischen Stil Hölderlins ein utopisches Potential zu sehen, und urteilt treffend: „Von ‚Ausweg‘ […] kann bei Jelinek nirgendwo die Rede sein. Jelinek verweigert Positivität radikal. Sie will nicht heilen […]“ (Sprachspiel als Lebensform, S. 195-196). - Jelinek selbst bemerkt dazu: „Mich interessiert […], wie sich ein Hegelsches Herr / Knecht-Verhältnis jetzt in Sprache manifestiert, wer der Herr des Diskurses ist und wer der Unterlegene. In Lust habe ich das umgedreht und habe die höchste Ausformung der deutschen Sprache, nämlich die Hölderlinsche Sprache und Lyrik, den Ausgebeutetsten - natürlich mit Veränderungen und Bearbeitungen - in den Mund gelegt und die Klischees der Werbung, der Sprichwörter, den real Herrschenden zugeeignet; also jenen, die am liebsten der Illusion des Individualismus huldigen“ (Winter, Gespräch mit Elfriede Jelinek, S. 14). 96 In der Forschung wird auf weitere Prä- und Intertexte verwiesen, etwa von Heinrich Waggerl und Paul Celan (vgl. Schestag, Sprachspiel als Lebensform, S. 194), Euripides ( Medea ), Goethe ( Faust ) und Ibsen ( Lille Eyolf ) (vgl. dazu Hamm, Das tote Kind, S. 252 und 256-260), E. T. A. Hoffmann ( Der Sandmann ) (vgl. dazu Doll, Mythos, Natur und Geschichte, S. 172-174), D’Annunzio, de Sade, Poe, Rilke, Baudelaire (zu den letztgenannten vgl. Lücke, Jelinek, S. 83). - Vgl. auch Dolls Kommentar: „Über weite Strecken ist der Text Lust Intertext, der sich aus alltäglichem, literarischem und religiösem Sprachgebrauch 444 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks deutschsprachigen Literaturgeschichte (und ihres Würdediskurses! ) in hartem Kontrast neben sexuelle Perversion, Gewalt, Alkoholismus und kapitalistische Ausbeutung gesetzt werden, wird die Diskrepanz zwischen den jeweiligen Menschenbildern - das aufklärerisch-klassische Bild des erhabenen, moralischen und perfektiblen Vernunftwesen Mensch bzw. die Büchnersche Auffassung des Menschen als an sich wertvolles Wesen, dem bedingungslose Empathie gebührt - sowie der Entwürdigung und der Würdelosigkeit, die Lust obsessiv umkreist, überdeutlich. Vor diesem Hintergrund wirken die intertextuell aufgerufenen Menschenbilder wie Hohn. Die literarische Tradition erscheint so als höchst problematisches Klischee ohne jede Relevanz für die zeitgenössische Realität, ja als ideologisch bedenklich, da sie die Mythos der Menschenwürde und der Humanität festigt, statt sozialrevolutionäres Potential zu entfalten. Selbst Büchners revolutionäres Pamphlet ist zum bloßen Spender für Wortmaterial und Kalauer verkommen. Die Erzählerin definiert sich und ihre Rolle aber mehrfach gerade dadurch, dass sie ihre literarische Arbeit hervorhebt und reflektiert - nur um am Ende einen doch desillusionierten und desillusionierenden Eindruck zu hinterlassen. Ihren eigenen Status bewertet die Erzählerin durchaus ambivalent: Sie ist als Frau gesellschaftlichen Erwartungen unterworfen, als Künstlerin aber „frei“ (L 80). Sie profitiert selbst von der Arbeit der Ausgebeuteten (L 80), bezieht aber gleichzeitig Selbstbewusstsein aus dem Akt des Schreibens. „Heute haben wir einmal Sonne, bestimme ich jetzt“ (L 164), merkt sie fast trotzig an, was im Vergleich zu Gertis Verlust von Entscheidungsgewalt und Selbstbestimmung als Versuch anmutet, eine Würde des Erzählens, eine Würde der Literatin zu postulieren. Dieses Selbstbild wird wiederholt: In einem Anfall der Wut gegenüber seiner Familie schreit der Direktor „zornig seine Entscheidung: daß sie alle drei zwar von einem Vater gemacht, aber von mir erdacht sind! “ (L 225). In einer spektakulären Verschmelzung oder Überblendung der Ebenen des Erzählens und des Erzählten stehen sich auf der einen Seite der männliche Kapitalist, dem eine absolute Entscheidungsgewalt zugeschrieben wird, sowie der „Vater“, der (als männlich imaginierte) Schöpfergott, und auf der anderen Seite die Erzählerin gegenüber, die ihre Überlegenheit behauptet, da alles Fiktionale ja Resultat ihres kreativen Schaffens ist. Dass sie einer innerfiktionalen Figur einen Hinweis auf sich, ihre Schöpferin, in den Mund legt, profiliert sie als Erzählerfigur, speist, den er Verfremdungen unterzieht, um unter semantischen Verkleidungen Herrschafts- und Besitzerverhältnisse sichtbar werden zu lassen“ (Mythos, Natur und Geschichte, S. 152). VIII.3. Lust (1989) 445 die sich als autonom, unabhängig und somit vom Kreislauf der Entwürdigung und Würdelosigkeit losgelöst positionieren will. 97 Doch werden Kunst, Literatur und Sprache nicht als Mittel der Überwindung der Würdelosigkeit idealisiert. Die Erzählerin begreift sich selbst als Teil, ja als Produkt des kapitalistischen Systems (L 135), und auch die Wirkungsmöglichkeiten der Sprache werden fraglich: Bereits im zweiten Kapitel heißt es: „Die Sprache selbst will jetzt sprechen gehen! “ (L 28). Dieser programmatische Ausspruch postuliert, dass die Sprache, wenn sie auf eine bestimmte Art benutzt wird - etwa im Sinne der von Jelinek konturierten Ästhetik des Obszönen -, enthüllenden Charakter und somit eine poetologische Legitimation besitzt. 98 Nun scheint die Erzählerin die Frage umzutreiben, ob die obsessiv Entwürdigung und Würdelosigkeit enthüllende Sprache ausreicht oder ob der Anspruch an die Literatur und an sie als Erzählerin höher ist. Zum einen hinterfragt sie die grundsätzliche Angebrachtheit von Sprache, Gertis Entwürdigung zu artikulieren („Worte reichen dafür nicht aus“; L 50), zum anderen weist sie auf die potentielle Bedeutungslosigkeit von Sprache und Worten hin (L 235), ja auf ihre mögliche vollständige Ablehnung: „In den Fichten braucht man die Sprache nicht mehr. Schmeißen wir sie halt weg! “ (L 238). 99 Dieses Zweifeln an der Sprache innerhalb eines ästhetischen Konstrukts, das aus dem Material Sprache besteht, lenkt den Fokus umso stärker auf die durch die Sprache erzielten Effekte und die mit Sprache erzeugten Bilder. Der Text zelebriert den Drang, 97 Besondere Wirkung erhalten die Worte der Erzählerin („von mir erdacht“) dadurch, dass sie am Ende eines Abschnitts platziert sind und ihnen somit zwangsläufig ein kurzes gedanklich-kognitives Innehalten folgt. - Zur Parallelisierung von Schreibakt und Sexualakt vgl. Helga Gallas, Sexualität und Begehren in Elfriede Jelineks Roman Lust (1989), in: Methoden in der Diskussion, hg. v. J. Cremerius [u. a.], Würzburg 1996, S. 187-194, hier S. 192-193. 98 Vgl. dazu auch Matthias Luserke-Jaqui, Trivialmythos Lust und Liebe. Über Elfriede Jelineks Lust , in: Grundbücher der österreichischen Literatur (wie Anm. 73), S. 102-108, hier S. 107-108. Zu Jelineks Ästhetik des Obszönen vgl. oben, S. 407 - 408 und Kap. B.VIII.2.2.3. 99 Dies ist wohl eine Anspielung auf ein Lied von Wolf Biermann ( Von mir und meiner Dicken in den Fichten ), in dem der Sexualakt im Freien - unter den Fichten - beschrieben wird. Wenn das sexuelle Verlangen das einzige ist, was den Menschen antreibt, und die Sprache hier als nicht nötig erachtet wird, verliert sie ihre Daseinsberechtigung. - Biermanns Lied sorgte innerhalb der westdeutschen Frauenbewegung für Kritik, da es den Sexualakt auf animalische, lieblose Art beschreibt, die Frau zum passiven Objekt degradiert und ihre Gefühle vollkommen ausblendet. Biermann wehrte sich und betonte, dass seine damalige Partnerin, die im Lied gemeint ist, „ums Verrecken nicht auch die leisesten Andeutungen von Geringachtung ihrer Menschenwürde [! ] hinnehmen“ würde. Dass Jelinek also gerade dieses Lied anzitiert, ist kein Zufall. Vgl. zum Lied und zu der zitierten Äußerung Biermanns Keith Bullivant, Zu Wolf Biermanns Von mir und meiner Dicken in den Fichten , in: Liebesgedichte der Gegenwart. Interpretationen, hg. v. H. Gnüg, Stuttgart 2010, S. 28-33. 446 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks ja die ‚Lust‘, genau hinzusehen; dazu zwingen die engmaschigen Motivnetze, die auf hyperbolische, mitunter redundant anmutende Weise ähnliche Bilder aufrufen. Der Blick ist in diesem Kontext nicht mehr Instrument der Machtvergewisserung und der Herabsetzung, sondern eine eindringlich eingeforderte Rezeptionshaltung. 100 Die schonungslose, obszöne Sprache hat jedoch poetologische Folgen. Heiter 101 kann Jelineks Literatur nicht mehr sein: „Haben Sie noch immer Lust zu lesen und zu leben? Nein? Na also“ (L 170). 102 Kurz vor Ende des Textes stellt die Erzählerin dann die entscheidende Frage: „[W]er deutet uns das? “ (L 245). Anders formuliert: Erfährt der offengelegte Verlust jeder menschlichen Würde eine Deutung im Sinne einer Erklärung, die einen positiven Gegenentwurf beinhaltet, eine Anleitung für gesellschaftliche Veränderungen, die die Idee der Menschenwürde retten oder wiederherstellen könnten? Rekonstituiert die Literatur die Menschenwürde? Und ist das überhaupt ihre Aufgabe? 103 Der Text impliziert eine negative Antwort. Die Literatur beschränkt sich darauf, ‚die Sprache sprechen zu lassen‘ und den Würdeverlust festzustellen. Die Erzählerin wirkt bedrückend resigniert: „Mir ist kalt“ (L 209). VIII.4. Über Tiere (2007) 104 Der Theatertext Über Tiere besteht aus zwei ungefähr gleich langen Prosateilen, 105 die einander ohne jeglichen Paratext gegenübergestellt werden. Ihre kommentarlose Konfrontation erzeugt die dem Stück eigene Dynamik, die letzt- 100 „[W]eiden wir uns […] am Aufschneiden und Ausnehmen (an den Ausnahmen) von Menschen“ (L 186), verlangt die Erzählerin, sowie: „sehen Sie selbst“ (L 234). 101 Vgl. Schiller, Wallensteins Lager, Prolog, V. 138: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“ (zit. nach der Fassung des Erstdrucks von 1800, NA 8 N II, 457). 102 Zum Begriff der „Lust am Text“ vgl. Thomas Anz, Über die Lust und Unlust am Text. Zu Elfriede Jelineks Lust , in: Methoden in der Diskussion (wie Anm. 97), S. 195-210. 103 Vgl. ähnlich Endres, Keine Lust für niemanden, S. 100-101. 104 Über Tiere wurde im Jahr 2007 am Wiener Burgtheater uraufgeführt (Regie: Ruedi Häusermann). Der Text ist sowohl auf Jelineks Homepage (http: / / www.elfriedejelinek.com/ ; letzter Zugriff: 03. 04. 2017) als auch gedruckt erschienen. Im Folgenden wird die Buchfassung zitiert: Elfriede Jelinek, Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere. Drei Theaterstücke, Reinbek bei Hamburg 2009, hier S. 7-51. Zitate werden im Text in der Form (ÜT Seitenangabe) belegt. - Zu diesem Text vgl. Inge Arteel, Art. Über Tiere , in: Jelinek-Handbuch (wie Anm. 2), S. 181-183 und Susanne Utsch, Unterwerfendes Begehren, zwanghafte Begierde. Elfriede Jelineks Theatertext „Über Tiere“, in: Text + Kritik 117 (2007), S. 31-40. 105 2013 ergänzte Jelinek den Text um einen dritten Teil, der die schweizerische Volksabstimmung über sog. Verrichtungsboxen reflektiert. Dieser Teil ist noch unpubliziert (2016); die folgenden Ausführungen beziehen sich daher auf die beiden in Buchform publizierten Teile. Vgl. hierzu auch Agnieszka Jezierska, „Das ist mein Thema: Moral! VIII.4. Über Tiere (2007) 447 lich auf ein Jelineksches Leitmotiv zielt: die Destruktion jeglichen weiblichen Würdeanspruchs durch den Mann und dessen Blick auf die Frau. Der erste Teil des Textes ist der Monolog einer liebenden Frau, eine unbeantwortete Ansprache an ein stummes, abwesendes männliches Gegenüber. 106 Anders als in Die Klavierspielerin oder Lust hört der Rezipient hier eine längere, nicht erzählerisch vermittelte weibliche Selbstaussprache, die Stimme einer weiblichen Figur, die nicht die Erzählerin ist. Die Frau, eine Prostituierte, artikuliert ihre unerwiderte Sehnsucht nach ihrem Geliebten, einem ehemaligen Kunden. Ihr Monolog schwankt zwischen dem Versuch, in der Liebe ihre Würde zu finden und zu bewahren, und dem zwanghaften Wunsch, die eigene Persönlichkeit zu negieren. 107 Der Text beginnt mit einem Definitionsversuch - es ist der erste von mehreren: „Lieben ist eine bestimmte Art von Angewiesensein, mein Herr“ ( ÜT 9). Dieser Anfangssatz benennt das Thema des ersten Teils: die romantisch-klischeehaft anmutende Frage nach dem Wesen der Liebe und nach dem Platz des weiblichen Ichs. Die Anrede „mein Herr“ verortet den Text sogleich vor dem Horizont der Geschlechterdiskussion und der zwischenmenschlichen Verhältnissen inhärenten Entwürdigungsmechanismen. Mit ihrem Liebesgeständnis versucht die Sprecherin, ihre Reduktion auf einen käuflichen Körper zu überwinden. Dieser „war einmal […] [e]in Pfad […] für das betretende Liebkosen. Für das unbesorgte Besorgen“ (ÜT 10). Sie selbst stellt die Vorstellung der Liebe als höchste gesellschaftliche und ethische Macht sowie den Anspruch auf Absolutheit und Exklusivität als Mythos in Frage: „Liebe ist: nicht arbeiten müssen. Nur da sein. Wieso genügt das keinem? Wieso will jeder diese Arbeit, als ob er ein Haus bauen müßte? Damit er wertvoller wird? “ ( ÜT 17; vgl. ÜT 13). Auch in der Liebe hat das (weibliche) Subjekt kein uneingeschränktes Recht auf Selbstentfaltung und Selbstverfügung, sondern ist mit fremden (männlichen und / oder sozialen) Wünschen, Erwartungen und Rollenbildern konfrontiert. Als Prostituierte ist sie Objekt finanzieller Transaktionen und deshalb eingebunden in Überlegungen zu Preis und Wert ihres Körpers und Moral! Sour! “ Elfriede Jelinek schreibt über Prostitution, in: https: / / jelinektabu.univie. ac.at / moral / prostitution / agnieszka-jezierska/ (letzter Zugriff: 03. 04. 2017). 106 Lorely French spricht von einem „stream-of-consciousness monologue“ („Zu lieben, indem man nicht geliebt hat“: Love, Erotica, and Pornography in Elfriede Jelinek’s Über Tiere , in: Contested Passions. Sexuality, Eroticism, and Gender in Modern Austrian Literature and Culture, hg. v. C. Ruthner u. R. Whitinger, New York [u. a.] 2011, S. 389-400, hier S. 389). 107 Bisweilen wird auf den Zusammenhang mit Jelineks früherem Text Begierde & Fahrerlaubnis (1986) hingewiesen, auf den Jelinek in Über Tiere sogar anspielt (vgl. ÜT 9). Vgl. hierzu etwa Lücke, Jelinek, S. 135; French, „Zu lieben …“, S. 389; Arteel, Art. Über Tiere , S. 182; Utsch, Unterwerfendes Begehren, S. 33. 448 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks ihrer Dienste, denen sie entkommen möchte. Doch ihre Sprache bleibt infiziert: „Ich lasse mich jetzt auch vorbestellen, wenn auch nicht vertreiben, vielleicht erhöht das meinen Wert […]. Wäre ich vertrieben, ich würde was kosten. Warum zahlen, wenn es billiger auch geht? Warum etwas gratis nehmen, wenn man dafür zahlen kann? “ ( ÜT 16; vgl. ÜT 28). Dem Geliebten (und früheren Kunden) gegenüber macht sie sich zum willenlosen Objekt (vgl. ÜT 19). Als „bereits Gebrauchtes“ will sie wieder „[ge]braucht“ werden - sowohl in einem enthumanisierten sexuellen als auch im emotionalen Sinne. Letzteres erscheint jedoch als Klischee, in dem die hoffende Frau gefangen bleibt. Die Sprecherin übernimmt den herabwürdigenden Blick der patriarchalischen Gesellschaft und gesteht sich selbst keinen eigenen Wert zu; dieser entsteht erst in der Unterwerfung, in der Selbsterniedrigung, in der Reduktion zum Objekt des Begehrens. Auch als Prostituierte ist sie eine ‚Dienerin‘; die Aufgabe von Selbstverfügung und Selbstbestimmtheit wird zum Wesensmerkmal der Frau, zum Daseinszweck. Die kritische Einsicht, dass ein Dasein, das nur in Bezug zum Mann und nicht in sich selbst zweckhaft ist, eigentlich würdelos ist („zu nichts da“; ÜT 24), bleibt jedoch untrennbar mit der Sehnsucht nach Selbstaufgabe, nach Aufwertung durch den Mann verbunden - was die Stellung als fremdbestimmte Untergebene perpetuiert. Bisweilen versucht die Frau, gegen diese Herabwürdigung zu rebellieren. Dem Angebeteten gegenüber fordert sie ihren Platz ein: „Du hast immer Mädchen um dich rum. Und ich? Und ich? Und ich? Wo bleibe ich? Brüll! Schrei! “ ( ÜT 20). Mit dieser hörbaren Selbstbehauptung reklamiert sie nicht nur ein „Recht“ auf Liebe ( ÜT 22), sondern darauf, als Ich, als Person wahr- und ernstgenommen zu werden. Am Ende des Monologs wehrt sich die Sprecherin gegen das Verschwinden; in Anspielung auf Eduard Mörikes Gedicht Verborgenheit 108 fleht sie: [W]enn ich Welt bleiben kann, dann darf ich bleiben. […] Laß o Welt, o laß mich sein! Finger weg von mir! Wirds bald! Welt, o laß mich sein oder laß mich wenigstens diese eine Welt, die ich kenne, für dich sein […]. Laß mich eine Geliebte sein bitte oder laß mich wenigstens ganz sein. ( ÜT 28-29) Mörikes „Laß, o Welt, o laß mich sein! “ erhält bei Jelinek eine Dimension, die über den Wunsch nach Zurückgezogenheit und Ruhe weit hinausreicht. „Sein“ hat eine viel existentiellere, ontologische Bedeutung; die Sprecherin kämpft um das Recht, überhaupt als Mensch zu existieren und nicht als Reduktion, 108 Die Anspielung auf Mörikes Gedicht vermerken auch French, „Zu lieben …“, S. 393, Lücke, Jelinek, S. 136, Arteel, Art. Über Tiere , S. 181 und Utsch, Unterwerfendes Begehren, S. 34-35. VIII.4. Über Tiere (2007) 449 als Objekt oder Mittel zum Zweck - sie kämpft um das Recht auf Menschenwürde. Ein Weg zur Würde wäre die Anerkennung ihrer Persönlichkeit in einer (gleichberechtigten) Beziehung, in der Liebe („eine Geliebte sein“); „wenigstens“ aber ein selbstbestimmtes, freies Dasein soll ihr die „Welt“, mithin die Gesellschaft, zugestehen. Diese sprachliche Artikulation der weiblichen Forderung nach Menschenwürde wird jedoch gleich mehrfach konterkariert. An den Geliebten richtet sie die Frage: „Weißt du wer da spricht? […] Nein, ich weiß nicht, wer hier spricht“ (ÜT 19). Das „ich“ könnte sich auf den antwortenden Angesprochenen beziehen, meint aber eher die Sprecherin selbst. Diese Selbstverleugnung kennzeichnet die Sprache als inadäquates Mittel, einen weiblichen Anspruch auf Würde durchzusetzen. Wenn sie spricht, kennt sie sich nicht - ein Jelinekscher Topos: Genuin weibliches Sprechen ist unmöglich, da die Sprache von der patriarchalischen Gesellschaft okkupiert und daher stets eine Sprache der Entwürdigung der Frau ist. So schleicht sich auch die obszöne Sprache der Prostitution in den Monolog der Frau ein (vgl. ÜT 15, 20, 23, 29). Diese Sprache macht die Frau zur käuflichen Dienerin und transportiert die männliche Phantasie der willigen, sexbesessenen Frau. Der zweite Teil benutzt diese Sprache hyperbolisch - und dekonstruiert sie in einem polyphonen Stimmengewirr. Montage- und collageartig zusammengefügte Äußerungen von Zuhältern, Menschenhändlern und ihren Kunden - und einige wenige von Frauen - sind weder bestimmten Sprechern zugeordnet noch durch Anführungszeichen voneinander getrennt. Es entsteht der Eindruck eines großen Diskurses, dessen Thema die Frau und ihre sexuelle Ausbeutung ist. Unmittelbare Quelle für den zweiten Teil von Über Tiere sind Abhörprotokolle, die im Rahmen von Ermittlungen gegen Wiener Zuhälter und deren Kunden aus höchsten sozialen Kreisen entstanden. 109 Die Sprache des zweiten Teils ist somit kein rein ästhetisches Produkt, sondern Jelinek benutzt Versatzstücke aus den realen Protokollen, um aus ihnen ein fiktionales literarisches Werk zu komponieren. Die obszöne Sprache der Entwürdigung, die Jelinek in den Romanen als bewusste ästhetische Strategie einsetzt, um die Entwürdigung der Frau - durch den Mann, durch die patriarchalische Gesellschaft, deren Mythen und Sprache (! ) - zu illustrieren und zu enthüllen, findet ihre reale Entsprechung in den Abhörprotokollen - was die Diagnose der Autorin gewissermaßen post festum bestätigt. Denn diese Sprache verwehrt dem Signifikat - der Frau - jegliche Würde. 109 Die Abhörprotokolle wurden auszugsweise von Florian Klenk veröffentlicht („Einfach hinklatschen“, in: Falter 34 (2005), S. 24-29). Zu dieser Quelle vgl. auch Utsch, Unterwerfendes Begehren, S. 31-32; Arteel, Art. Über Tiere , S. 181; French, „Zu lieben …“, S. 390. 450 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks Tatsächlich treten im zweiten Teil bekannte Motive auf. Am auffälligsten ist das Sprechen über junge Frauen als Handelswaren, die einen bestimmten Preis haben, um den der „Kunde“ mit dem „Verkäufer“ ( ÜT 31 u. ö.) verhandelt. Wie in einer Preisliste werden die verschiedenen ‚Leistungen‘ beschrieben (vgl. z. B. ÜT 33), sogar „Sonderanfertigung[en]“ ( ÜT 34) sind möglich. Ungeniert äußern die männlichen Kunden ihre Wünsche und Erwartungen; 110 die Frauen werden zu Tieren degradiert („Maus“ [ÜT 42], „Ferkilein“ [ÜT 43], „Drecksau“ [ÜT 50]), auf ihren Körper reduziert und dadurch partialisiert („Fürs Schlafen wirst du nicht bezahlt, sondern für deine großen Brüste“ [ ÜT 46]), der Körper wiederum zum „Frischfleisch“ ( ÜT 46) oder zum Gebrauchsgegenstand (vgl. das Verb „brauchen“ [ ÜT 38]) objektifiziert. Hier wird nicht über Menschen gesprochen, sondern eben über Tiere - wie auf einem Viehmarkt. 111 Obszöne Textpassagen haben nicht nur die Funktion, diese Herabwürdigungen zu verbalisieren, sondern sie offenbaren auch die dem männlichen Prostitutionsdiskurs inhärenten Gewalt-, Macht-, Unterwerfungs- und Auslöschungsphantasien: Und sie werden gefickt, und sie werden gefickt, alle alle alle, mit Vollendung voll in den Mund, ohne Aufpreis. Und wenn nicht, dann kann man etwas machen, dann wird sie nie mehr arbeiten. Wenn ich mit ihr fertig bin, wenn ich mit der Vollendung fertig bin, wird sie nie wieder arbeiten können, und das ist das, was ich will. ( ÜT 38) Das Montageverfahren erlaubt es Jelinek, Doppelmoral und Scheinheiligkeit der männlichen Stimmen zu entlarven. Zum einen geben die Kunden vor, sich für die Persönlichkeit, das Wesen der Frauen zu interessieren, was sich durch den harten Kontrast zur obszönen Sprache der Prostitution als schamlose Heuchelei entpuppt: „[S]ie ist als Mensch in Ordnung. Als Mensch. Sie ist offen denkend. Ist sie offen denkend? Sie ist offen. Sie denkt. […] Ist sie offen denkend genug für Golden Shower […]? “ ( ÜT 42). Durch solche ‚harten Fügungen‘ werden Begriffe mit einer gewissen Aura und positiven Konnotationen - „Mensch“ und 110 Vgl. etwa ÜT 32 „Die Frau soll nicht zu erregt sein. Und sie soll nicht zu wenig erregt sein. Sie soll nicht zu trocken sein, sie soll naß sein, nein, nicht zu naß und nicht zu trocken. Bitte, ich will nicht unbedingt gleich ins Nasse greifen. Also, alles OK, man macht sich über die Frau her, und man macht sie hin, man macht sie her, und man macht sie hin, und alle machen alles hin.“ Der effektvolle Einsatz von Modalverben („die Frau soll“ vs. „ich will“) und von Personalpronomen („ich“ → „man“ → „alle“) verdient Beachtung; es wird insinuiert, dass die Entwürdigung der Frau über den Einzelfall hinaus ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist („alle“). 111 French bezieht den Titel auf die im zweiten Teil zu Wort kommenden Zuhälter, Kunden, Menschenhändler. Vgl. French, „Zu lieben …“, S. 396. Dem widerspricht Utsch, Unterwerfendes Begehren, S. 38 mit Bezug auf eigene Aussagen Jelineks und mit dem Hinweis auf Fotografien des amerikanischen Künstlers Paul McCarthy, die Jelinek dem Text auf ihrer Homepage als Illustrationen beigibt (letzter Zugriff: 03. 04. 2017). - Den Begriff des Viehmarktes benutzt auch Utsch, Unterwerfendes Begehren, S. 35. VIII.4. Über Tiere (2007) 451 „denken“ - als bloße Worthülsen gebrandmarkt. Denn weder die sprachliche, gedankliche noch die außersprachliche Behandlung der Frau nimmt sie als würdigen Menschen ernst. Zum anderen montiert Jelinek Ausschnitte aus den Abhörprotokollen, in denen sich Politiker mit humanitärem Engagement brüsten, und obszöne Versatzstücke, um den ‚Mythos Menschlichkeit‘, den sie bereits in Die endlose Unschuldigkeit in Frage stellt, zu desavouieren: Schnell, denn ich muß noch zu dieser Hilfsorganisation, um Straßenkinder zu begutachten, damit sie bessere Menschen werden, ich bin von der Parlamentsdirektion zu diesem Zweck entsandt […]. […] Wir schauen noch mal ins Internet, und dann stopfen wir dieses Loch zu, egal welches, nein dieses, nein, das dort, egal welches […]. ( ÜT 34; vgl. 35 und 39) Die Bedeutung solcher Stellen geht über die Kritik am einzelnen Fall von Doppelmoral hinaus; am Pranger steht eine Gesellschaft, die mit Begriffen und Werten wie „Menschlichkeit“, „Humanität“, „Menschenrechte“ oder „Menschenwürde“ hantiert und gleichzeitig Mitglieder der eigenen Gesellschaft permanent und systematisch entwürdigt. „Menschenwürde“ und „Humanität“ sind Mythen, ideologisch aufgeladene Strategien der Selbstlegitimation, die existierende Missstände kaschieren. Den charakteristischen Ton des zweiten Teils von Über Tiere prägen zwei weitere Verfahren. Den Text durchziehen zum einen Geminationsfiguren, manchmal in Form der einfachen Geminatio, meist jedoch in Form der Epizeuxis. Besonders häufig ist die Epizeuxis in Verbindung mit dem vulgären Verb „ficken“. 112 Der gehäufte, bisweilen aufdringliche Einsatz solcher Geminationsfiguren eröffnet verschiedene Deutungsperspektiven: Der Wunsch nach käuflichem Sex bekommt den Charakter einer fixen Idee, die Sprecher werden zu zwanghaftmaschinenartigen, lüsternen, ihren Trieben verfallenen Unmenschen. Gleichzeitig imitieren die Wiederholungen sprachlich die Bewegungen des Mannes beim Koitus. Wenn Sprache so zu (männlichem) Sex wird, verweist dies darauf, dass sie immer durch die patriarchale Macht und deren herablassenden Blick auf die Frau geprägt ist. Die Geminationen führen so eindrücklich die ständige Reproduktion der Herabwürdigung der Frau durch Sprache vor Augen. 113 Gleichzeitig offenbaren die Wortwiederholungen das Abstoßend-Dumme der Sprache der Prostitution. 112 Einige Beispiele: „und sie ficken und ficken und ficken und ficken“ (ÜT 38); „Und es wird gefickt. […] und wir ficken und ficken und ficken“ (ÜT 39); „Ficken ficken ficken“ (ÜT 43). - Die Epizeuxis kommt aber auch in anderen Zusammenhängen vor. Vgl. etwa: „Und eine Wahnsinnsart, menschlich menschlich menschlich“ (ÜT 45); „danke danke danke danke“ (ÜT 45); „Die neue ist super super super“ (ÜT 46). 113 Vgl. ähnlich Arteel, Art. Über Tiere , S. 183. 452 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks Am Ende des Textes mischen sich unter die Gesprächsfetzen Ausschnitte einer Teufelsaustreibungsszene, in der eine offenbar dem Wahn verfallene junge Prostituierte ‚behandelt‘ wird. Auch hier häufen sich die Wortwiederholungen: Gütiger Herr Jesus, komm komm komm! Ficken ficken ficken! Sie hat den Kopf gegen die Wand geschlagen gegen die Wand, bis die Zähne gesplittert sind gesplittert sind. […] Herr Jesus! Herr! Sie Herr Sie! […] Schreie Schreie Schreie. Ficken! […] Man hört die Dämonen schreien mit tiefen Stimmen, und manch ein Teufel muß nach dramatischem Ringen ausfahren aus dem Körper aus dem Körper. Aus mit dem Körper. Aus dem Körper. Die Frau starb. Das Mädchen stirbt. Ficken ficken! ( ÜT 48-49) Der Text endet ebenfalls mit einer Geminationsfigur: „Man sieht dies, wenn sie spricht, ob sie dieses oder jenes macht, und sie antwortet: Ja, mein Jesus, natürlich. Ja, natürlich. Ja, natürlich. Natürlich“ ( ÜT 50-51). Was genau hier passiert, wird nicht wirklich klar. In das Ritual der Teufelsaustreibung werden Bilder der Misshandlung und der Selbstverletzung geblendet; der Teufel könnte sowohl den Wahn des Mädchens als auch die Zuhälter oder Freier, die es aus sich entfernen will, meinen. 114 Deutet man den Exorzismus als Akt der Reinigung oder der Heiligung, dann stellt er den Versuch dar, eine Verunreinigung, eine Erniedrigung, die den weiblichen Körper verletzt und entstellt hat, rückgängig zu machen. Der Wahn wäre dann die Folge der vom Patriarchat gleichsam rituell und systematisch vollzogenen Entwürdigung. Am Ende jedoch steht - neben dem unausweichlichen „ficken! “ - das Einlenken, das Nachgeben, das fraglose Unterwerfen („Ja, natürlich“). Ein Entkommen aus den Fängen des Teufels - d. h. vor der Herabwürdigung durch den Mann - ist unmöglich. Zum anderen ist die Formulierung „Vollendung in den Mund“ ( ÜT passim) leitmotivisch. Das Motiv ist verwandt mit der Metapher der Frau als zu füllendes Gefäß, das die Ausscheidungen des Mannes aufzunehmen hat, in Lust . In Über Tiere erhält es allerdings eine spezifische Bedeutung. Die „Vollendung in den Mund“ lässt die Frau verstummen, erstickt ihre Stimme; die weibliche Stimme des ersten Teils wird von den größtenteils männlichen Stimmen des zweiten Teils abgelöst und ersetzt. Innerhalb des zweiten Teils werden die wenigen Frauen, die kurz zu Wort kommen und die Verfügung über sich und ihren Körper zu behaupten versuchen, 115 durch dieses Leitmotiv und die tyrannisch-stupide Epizeuxis „ficken, ficken, ficken“ zum Schweigen gebracht. Jelinek hat in einem Interview eine solche Deutung selbst vorgegeben: Also der zweite Teil ist „the real thing“, da fallen alle metasprachlichen Diskurse runter wie Kleider. Da spricht der Herr die Sprache des Herren, und er hat es nicht 114 Vgl. ähnlich ebd. sowie Utsch, Unterwerfendes Begehren, S. 37. 115 Vgl. etwa ÜT 37. VIII.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Jelinek 453 nötig, blumig drum herumzureden. Er sagt, was er will, er bestellt und bezahlt, und die Frau wird benutzt. Der zweite Teil löscht gewissermaßen den ersten aus und macht ihn dadurch lächerlich. 116 Gegen Ende des Textes wird das Leitmotiv variiert; aus der „Vollendung in den Mund“ wird die wiederholte Erwähnung der gesplitterten Zähne des (wahnsinnigen? ) Mädchens, das sich offenbar selbst derart schwer verletzt hat. Die Auflehnung gegen den Oralverkehr, der die Frau zum Schweigen bringt, hat somit einen hohen Preis: den Verlust der leiblichen Integrität sowie der Möglichkeit, zu einer eigenen Sprache, zu einer selbstbestimmten Identität zu finden. 117 VIII.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Jelinek Die Menschenwürde ist ein zentrales Thema in Jelineks Texten - im Sinne eines mit obsessiver Vehemenz und Konsequenz destruierten Mythos, einer negierten und pervertierten Idee, die jede Gültigkeit verloren hat. Aufgabe der Literatur ist die Schilderung dieser Negation und Pervertierung durch die gesellschaftliche Realität. Mittels einer obszönen Ästhetik der Entwürdigung enthüllt Jelinek die dem patriarchal-kapitalistischen System immanente Herabwürdigung des Menschen - in den meisten Fällen der Frau. Diese Sprache verbalisiert, verbildlicht und entlarvt die Verdinglichung und die sexuelle Ausbeutung des Menschen, seinen Verlust von Selbstbestimmung und Selbstverfügung, seine Reduktion zu einem nach Kriterien der ökonomischen Nützlichkeit bewerteten Mittel zum Zweck. Über die Illustration von Herabwürdigungen des Einzelnen durch andere oder die Gesellschaft an sich hinaus dient Jelineks Ästhetik der Würdelosigkeit der Entfaltung eines zutiefst negativen Menschenbildes. Die Theriomorphisierung des Menschen und seine objektifizierende Darstellung, die häufig ins Ekelhafte, ins Abstoßende, ins Obszöne kippen, scheinen jeden denkbaren utopischen Zug zu verhindern. Jelinek stellt eine katastrophale Diagnose; doch verweigert sie auch jeden Therapievorschlag? Man muss zwischen zwei Ebenen unterscheiden: Das innerfiktional entfaltete Menschenbild ist tatsächlich düster. Die Menschenwürde wird gründlich destruiert, ohne dass in den analysierten Texten innerfiktional ein utopischer, überwindender Zug erkennbar wäre oder die Menschenwürde ästhetisch rehabilitiert würde. Der Gestus der Autorin ist jedoch ein unverkennbar aufklärerischer; die verheerende Diagnose, die 116 Judith Gerstenberg, Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek, in: Elfriede Jelinek. Über Tiere. In einer musikalischen Durchquerung von Ruedi Häusermann [Programmheft zur Uraufführung], Wien 2007, S. 30-32, hier S. 32. 117 Vgl. dazu auch Arteel, Art. Über Tiere , S. 183. 454 B.VIII. Die Menschenwürde in ausgewählten Texten Elfriede Jelineks Sichtbarmachung von Entwürdigung und Würdelosigkeit sind in der außerfiktionalen Betrachtung der Ansatzpunkt für Widerspruch, Auflehnung und Veränderung - und bergen somit letztlich doch eine utopische Dimension. Jelineks Texte sind freilich wenig optimistisch, besitzen aber ein enormes, aufwühlendes appellatives Potential. Sie bieten keine direkten Lösungen an, fordern aber zu einer entmythologisierten Redefinition der Menschenwürde auf. 118 118 Delabar weist auf den Widerspruch hin, dass Jelineks Texte zwar jeder Utopie entbehren, ihr aber durch die Verleihung des Literatur-Nobelpreises „eine gehörige Portion des heutigen ‚Idealismus‘ (ausdrücklich als ‚social criticism‘) zuerkannt worden [ist], der in der Gesellschaftskritik das Bild einer funktionsfähigen Sozietät mitführt“. Alfred Nobel forderte explizit eine „idealistische Prägung“ des auszuzeichnenden Werks (vgl. Sex und Natur, S. 105-106 mit Anm. 3). - Heimann beschreibt Jelinek als Autorin, „die den Menschen in das zutiefst humanistische Zentrum ihres Schaffens gestellt hat“ (Die Zerstörung des Ichs, S. 304). - Vgl. weiterhin Rita Svandrlik, Das Zusammenwirken von Lust und Unlust beim Lesen von Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard, in: figurationen 15.2 (2014), S. 83-98. Svandrlik betont, dass das Thema Gewalt in Lust „keine Entspannung, also keine Peripetie“ erfahre, dass es kein „Identifikationsangebot“ gebe und „auch keine positiven weiblichen Figuren“ (ebd., S. 87). Gleichzeitig spricht sie von der „aufklärerische[n] Haltung der Autorin“ (ebd.) und macht die bemerkenswerte Feststellung, dass Jelineks Wirkungsästhetik durchaus auf das Mitleid des Rezipienten zielt, „obwohl die Figuren nicht mit psychologischer Innensicht, sondern gnadenlos von außen gezeichnet werden“. Ein „empathisches Lesen“ sei also möglich, auch wenn eine „Identifikation mit den Figuren völlig ausgeschlossen ist“ (ebd., S. 88). Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur 455 C. Zusammenschau: Literarische Dimensionen der Menschenwürde-- Zehn Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur 1 1 Die Ergebnisse der einzelnen Kapitel werden im Folgenden nicht en détail rekapituliert; hierfür sei auf die jeweiligen Kapitel inklusive Zwischenfazits verwiesen. Vielmehr sollen aufgrund der vorhergehenden Analysen einige grundlegende Gedanken formuliert werden. Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur 457 These 1: Die Literatur behandelt Menschenwürde als (auch) ästhetisches Problem. a) Die vorliegende Studie nahm ihren Ausgang von der Feststellung, dass die Menschenwürde im literarischen Kontext ein genuin ästhetisches Problem sein kann. Die Literatur beansprucht, die Menschenwürde mit ihren eigenen Mitteln zu behandeln, ohne notwendigerweise eine abschließende Antwort zu ihrer Begründung oder Geltung geben zu müssen. Wird die Literatur als eigener, unabhängiger Diskurs ernstgenommen, dann sind auch die Antworten, die sie auf die Frage nach der Menschenwürde liefert, von einer eigenen Qualität - nämlich ästhetisch-literarisch - und als solche zu würdigen und zu beschreiben. Der ästhetisch-literarische Diskurs ist autonom, nicht insofern er sich von der gesellschaftlichen, politischen oder rechtlichen Realität abkoppelt, sondern insofern er, diese aufnehmend, spiegelnd und verarbeitend, eine eigene Geltung jenseits bloß instrumenteller Illustrations- oder Hilfsfunktionen einfordert. Dass die Literatur, gleichsam in einem zweiten Schritt, Rückwirkungen auf die außerliterarische Realität haben kann, soll damit nicht ausgeschlossen werden - nur sind diese eben nicht ihre primäre Funktion. In den Worten Karl Heinz Bohrers ist das Ästhetische keine „sozialkritische Korrektur des generellen Diskurses, sondern vielmehr […] dessen Irritation. […] Die Irritation des Diskurses vollzieht sich […] als Subversion der Gültigkeit seiner normativen Begriffe.“ 2 Wenn die Literatur nun einen so hochgradig normativ-moralisch besetzten Begriff wie die Menschenwürde in den Blick nimmt, dann tut sie das (in den meisten Fällen) a priori nicht präskriptiv oder normativ, sondern tendenziell „explorativ“. 3 „Im Ästhetischen hört das Moralische auf, selbstverständlich zu sein“, so Hans Robert Jauß, denn der ästhetische Diskurs zielt auf ein „neues“, andersartiges Verstehen, „das erfordert, sich selbst ein moralisches Urteil zu bilden und zu vertreten“. Jauß zufolge begründet diese besondere Art der hermeneutischen Reflexion die „evidente Leistung“ des Ästhetischen „für die 2 Karl Heinz Bohrer, Die Grenzen des Ästhetischen. Wider den Hedonismus der Aisthesis, in: Die Grenzen des Ästhetischen, München / Wien 1998, S. 171-189, hier S. 188. Vgl. ebd.: „Das Ästhetische als autonomen Kern zu beanspruchen, ist nicht - wie Derrida behauptet - Teil der Absprache einer Gewaltenteilung mit dem Nichtästhetischen, sozusagen eine seine Strahlkraft verharmlosende Funktionalisierung innerhalb der ausdifferenzierten parallel gehaltenen Geltungsansprüche. Die Grenzziehung ist notwendig, weil sonst die […] banalisierenden Mißverständnisse des Ästhetischen als das Hedonistische oder das Humane oder das Soziale auftreten. Je reiner der ästhetische Kern erhalten ist, um so größer die Strahlkraft nach außen“. 3 Hans Robert Jauß, Hermeneutische Moral: der moralische Anspruch des Ästhetischen, in: Wege des Verstehens, München 1994, S. 31-48, hier S. 31. Jauß spricht von der Spannung zwischen „präskriptive[r]“ und „explorative[r]“ Moral, die das Verhältnis des Ästhetischen zum Moralischen prägt. 458 C. Zusammenschau: Literarische Dimensionen der Menschenwürde Selbstbehauptung des Humanen, Partikularen und Individuellen gegen den Absolutheitsanspruch des Allgemeinen, gegen den Dogmatismus letzter Wahrheiten wie gegen den Formalismus herrschender Gesetze“. 4 Mit anderen Worten: Menschenwürde als ästhetisches Problem zu betrachten, bedeutet, zu rekonstruieren, wie die Literatur ein ästhetisches Verstehen, eine ästhetische Annäherung (und keine primär inhaltliche) an die Menschenwürde ermöglicht - und genau dies ist ihre moralische Leistung. b) Mit seiner quasi beiläufigen Bemerkung, dass die „Würde der Menschheit“ „[ge]fühl[t]“ wird ( MW 1, 808), liefert Karl Philipp Moritz eine für den vorliegenden Kontext elementare Bestimmung - ausgerechnet in einem nicht ästhetisch-poetologischen Kontext. Wie bereits J. M. R. Lenz fokussiert Moritz die Menschenwürde nicht primär als ontische Qualität, die eine philosophische oder theologische Begründung und eine inhaltliche Konkretisierung erfährt, sondern als ästhetischen Begriff, der weniger von der ratio als von den unteren Erkenntnisvermögen, mithin sinnlich-emotional, erfasst wird. 5 These 2: Eine auf die Menschenwürde als analytische Kategorie zugespitzte Lektüre eines literarischen Textes lässt dessen „anthropologische Prämisse“ hervortreten. „Anthropologische Prämissen“, so Horst-Jürgen Gerigk, „sind Definitionen des Wesens des Menschen“, 6 jene Annahmen in Bezug auf das menschliche Wesen, die in der innerfiktionalen Welt gelten. Eine Analyse, die nach literarischen 4 Ebd., S. 32-33. 5 Christian Neuhäuser beschreibt ein „narratives Begründungskonzept“ der Menschenwürde, das ohne „Letztbegründung“ auskommt, meint damit aber keine primär ästhetische, literarische oder fiktionale Auseinandersetzung mit dem Begriff. Er zielt vielmehr darauf ab, die Menschenwürde „als Rechtsfertigungserzählung zu verstehen“: „Menschenwürde ist demnach nichts, was dem Menschen natürlicherweise zukommt, keine natürliche oder quasi-natürliche Eigenschaft des Menschen. Es ist auch nichts, was sich aus einem allgemein gültigen moralischen Naturgesetz ergibt […]. Vielmehr handelt es sich bei der Menschenwürde als Rechtfertigungserzählung um nichts anderes, als das kollektive normative Selbstverständnis der Menschheit.“ Dies erlaube die „Integration vieler verschiedener kultureller Erzählungen der conditio humana“. Kulturspezifisch könne sich diese Rechtfertigungserzählung zwar in literarischen Texten realisieren, allerdings gälten für diese eigene Regeln. Das „narrative Begründungskonzept der Menschenwürde“ beruhe schließlich „auf kontingenten, bzw. sozialen Vorstellungen von Würde“. Neuhäuser, Das narrative Begründungsmuster der Menschenwürde (mit einigen Bemerkungen zu seiner Relevanz für die Medizinethik), in: Menschenwürde und moderne Medizintechnik, hg. v. J. C. Joerden [u. a.], Baden-Baden 2011, S. 223-247, hier S. 232-233 (mit Anm. 14). 6 Gerigk, Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes, S. 12. - Zum Begriff der anthropologischen Prämisse vgl. auch oben, S. 234, 242 und 382. Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur 459 Dimensionen der Menschenwürde fragt, legt diese Annahmen frei - zunächst in Bezug auf den untersuchten Text, par extension möglicherweise auch in Bezug auf das Gesamtwerk eines Autors oder eine literarhistorische Epoche. Damit ist noch nicht gesagt, dass der jeweilige Text auch eine schlüssige Antwort auf die Frage nach der Begründung der Menschenwürde gibt. Jedenfalls lässt sich jedoch das seit der Antike diskutierte Verhältnis von Körper und Geist, von Trieb und Vernunft, von Emotionalität und Intellekt genauer fassen und beschreiben. These 3: Die Literatur leistet einen begrifflichen Beitrag zum Menschenwürdediskurs; Inhalt und Gültigkeitsanspruch der Menschenwürde entfaltet sie vorwiegend ex negativo. Auch wenn in der vorliegenden Studie die Menschenwürde als ästhetisches Problem im Fokus stand, so wurde doch immer wieder deutlich, dass die Leistung der Literatur auch eine begriffliche ist - die wiederum ästhetische Konsequenzen hat. a) Die begriffliche Auseinandersetzung kann recht explizit sein, wenn nämlich theoretische oder literarische Texte eine (Re-)Definition von Menschenwürde formulieren. Dies tun etwa Gottsched und Schiller, aber auch die programmatischen Positionierungen der Naturalisten und Expressionisten sowie Améry oder Neumann. Nicht immer wird Menschenwürde dabei als eindeutig inhärente Qualität verstanden; häufig verbindet sich mit dem Begriff ein konkreter ethischer Auftrag. b) Als anthropologisches Medium par excellence kann die Literatur eine Erweiterung des Würdebegriffs vornehmen: durch die Inklusion und Integration von vermeintlich Unwürdigen oder Würdelosen in den literarischen Kosmos. Dies kann entweder programmatisch fundiert sein, etwa wenn Moritz, die naturalistischen Programme oder Musil die literarische Auseinandersetzung mit den sozial Ausgegrenzten, mit den Armen, Kranken, Wahnsinnigen oder Suizidenten fordern, oder aber implizit in der literarischen Praxis geschehen. So sind die Wahl und die Zeichnung der Figuren bei Kotzebue und Büchner auch als begriffliche Auseinandersetzung mit der Menschenwürde zu verstehen, als literarische Opposition gegen normative, exkludierende Auffassungen von Würde, die an ein bestimmtes Idealbild des Menschlichen gebunden sind oder nur für bestimmte Menschengruppen gelten. c) Viele der untersuchten Texte - etwa jene von Kotzebue, Büchner, Holz und Schlaf, Seghers, Remarque, Fallada und Herta Müller - beschreiben ein bestimmtes Verständnis von menschlicher Emotionalität als Signum und Garant der Menschenwürde, das sich gegen die dualistische idealistische Tradition richtet. Diese Texte konturieren Emotionalität, Menschlichkeit, Solidarität und Empathie als 460 C. Zusammenschau: Literarische Dimensionen der Menschenwürde elementare, zutiefst menschliche ‚Fähigkeiten‘. Diese Perspektivierung ist naheliegend, besitzen diese Begriffe an sich doch bereits ästhetische Dimensionen. Auffällig ist, dass Emotionalität, Menschlichkeit, Solidarität und Empathie meist ausdrücklich als nicht vernünftig begründbare Einstellungen oder Handlungen konzeptualisiert werden. Sie erscheinen eher als zutiefst menschlicher Habitus oder als Praxis, die die Dichotomie zwischen autonomer Handlung und passiver Empfindung transzendieren und kein autonomes Subjekt voraussetzen. 7 Eng damit verknüpft ist die kommunikative, ‚pragmatische‘ Dimension der Menschenwürde, die besonders in den Texten über den Nationalsozialismus an Bedeutung gewinnt. Als eindeutig unverletzbar konzeptualisiert nur Seghers die Menschenwürde; gleichzeitig (und in gewissem Widerspruch hierzu) beschreibt ihr Roman - wie auch die Texte von Améry, Levi, Remarque und Herta Müller -, dass Menschenwürde in der Anerkennung durch andere Menschen, durch Achtung und Empathie entsteht. d) In den postum erschienenen Problemen der Moralphilosophie konstatiert Adorno: Wir mögen nicht wissen, was das absolut Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau. Und ich würde sagen, daß der Ort der Moralphilosophie heute mehr in der konkreten Denunziation des Unmenschlichen als in der unverbindlichen und abstrakten Situierung des Seins des Menschen zu suchen ist. 8 Eine ähnliche Aussage lässt sich auch in Bezug auf die Literatur formulieren. Wie in der juristischen Fachliteratur, die die Menschenwürde häufig von ihrer Verletzung oder Missachtung her zu konkretisieren versucht, 9 ist in den untersuchten literarischen Texten die Menschenwürde verletzung häufig der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit dem Begriff. Spätestens nach der Klassik und Schillers ästhetischem Großprojekt, das auf einer (wenn auch facettenreichen) positiven Definition von Würde beruht und diese nicht in ihrer Negation, sondern tatsächlich in ihrer Bestätigung inszenieren will, tritt das Verfahren ex negativo in den Vordergrund - in Ansätzen bereits bei Lenz, mit großer Vehemenz bei Kotzebue und Büchner, ebenso bei Holz und Schlaf, in vielen Texten über den 7 Vgl. hierzu ausführlich Monique Scheer, Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuan Approach to Understanding Emotion, in: History and Theory 51.2 (2002), S. 193-220. Scheer beschreibt Emotionen unter Rückgriff auf Bourdieus Begriffe des Habitus und der Praxis und vermeidet so ihre Kennzeichnung als rein biologische Reflexe oder passiv erlittene Zustände. 8 Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie (1963), hg. v. T. Schröder, Frankfurt / M. 1996, S. 261. 9 Vgl. dazu oben, S. 30 - 31, Anm. 68. Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur 461 Nationalsozialismus und schließlich bei Jelinek. Vor dieser negativen Folie vollzieht sich die sowohl implizite begriffliche als auch genuin ästhetische Leistung der Literatur. Diese besteht weniger in abschließenden, abstrakten inhaltlichen Festlegungen und einer Letztbegründung des Begriffs als vielmehr im indirekten Sichtbarmachen seiner konkreten Implikationen für die menschliche Praxis sowie seiner ästhetischen Vermittlung und Validierung. Die literarischen Texte inszenieren und beschreiben gewaltsame Reduktionen und Instrumentalisierungen des Menschen, die Zerstörung seiner Selbstbestimmung und Selbstverfügung sowie soziale Verhältnisse und Zustände, die mit der Würde des Menschen kollidieren und fordern so ex negativo bestimmte Elemente als unabdingbare Facetten der Menschenwürde ein: Gleichheit und elementare Rechte (Kotzebue, Büchner, Holocaust-Literatur), materielle Grundversorgung und gesicherte Existenzbedingungen (Büchner, Holz / Schlaf), Empathie (Kotzebue, Büchner, Holz / Schlaf, Seghers, Fallada), Selbstbestimmung und Selbstverfügung (Büchner, Jelinek). 10 e) Obwohl somit nach Aufklärung und Klassik positive Definitionsversuche der Menschenwürde tendenziell an Bedeutung verlieren und vielmehr die Frage nach der Gefährdung der Idee in der sozialen, politischen und historischen Realität, mithin die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit eines Lebens in Würde in den Vordergrund treten, ist doch auffällig, dass grundlegende Vorstellungen des aufklärerisch-klassischen Menschenwürdebegriffs als Bezugspunkte ihre Gültigkeit behalten (Vernunftfähigkeit, Selbstbestimmung, Willensfreiheit) - und sei es auch in ihrer Negation. These 4: Die Menschenwürde kann - je nach Relevanzrahmen - eine programmatische, eine poetologische und eine ästhetische Kategorie sein. a) Die Menschenwürde ist eine programmatische Kategorie, wenn ein bestimmtes Verständnis von Menschenwürde zur (impliziten oder expliziten) gedanklich-theoretisch-ideologischen Grundlage von Literatur deklariert wird. In Ansätzen ist dies bereits in der Frühaufklärung zu erkennen, wenn die Förderung und Entwicklung der Menschenwürde - verstanden als Kultivierung der Vernunft und des Geistes und als Perfektion des menschlichen Wesens - als 10 Vgl. auch Lützeler, Bürgerkrieg global, S. 64: „‚Positive Helden‘ des Menschenrechts sind selten, und so steht die ‚Denunziation des Unmenschlichen‘ jeweils im Zentrum der Handlung. Diese Negativleistung impliziert aber ein Verständnis von menschlicher Freiheit und Würde, das in der Tradition des Aufklärungsdenkens und in der Kontinuität einer Gefühlskultur steht, für die Autonomie und Empathie charakteristisch sind.“ Auch Lützeler weist auf die oben zitierten Ausführungen Adornos hin. - Die hier formulierte These bestätigt zudem jene bereits oben (vgl. S. 41) zitierte von Karin Tebben. 462 C. Zusammenschau: Literarische Dimensionen der Menschenwürde Ziel der Kunst ausgerufen wird. Deutlicher ist die programmatische Relevanz der Menschenwürde für die naturalistische und die expressionistische Literatur. Die Soziale Frage und die menschenunwürdigen Existenzbedingungen in der Großstadt sind die sozialgeschichtlichen Folien, vor denen sich der Naturalismus positioniert; zudem wird gerade die wissenschaftliche Problematisierung traditioneller Begründungsmuster der Menschenwürde (Gottebenbildlichkeit, Willensfreiheit) zu einer signifikanten programmatischen Voraussetzung der Literatur - ohne dass deshalb die Validität der Vorstellung an sich in Frage gestellt würde. Auch in den programmatischen Positionierungen des Expressionismus ist die Menschenwürde eine entscheidende Kategorie, im Sinne einer einerseits zurückgewiesenen, andererseits emphatisch reformulierten Idee. b) Die Menschenwürde ist eine poetologische Kategorie, wenn ihre programmatische Bedeutung Implikationen für die konkrete kompositorische oder ästhetische Gestaltung des literarischen Textes hat. Dies gilt etwa für die Figurenzeichnung des naturalistischen Dramas, das die Figuren nur noch eingeschränkt als handelnde Personen zeigen kann. Die Vorliebe des Expressionismus für vermeintlich Würdelose, sein exzessiver Rückgriff auf Tiermetaphorik und ekelhafte Motivik sowie den Menschen reduzierende ästhetische Strategien sind poetologische Konsequenzen der programmatischen Stellung zur Menschenwürde. Eine poetologische Kategorie ist die Menschenwürde aber auch, wenn sie in ein Spannungsverhältnis zum Begriff der Darstellbarkeit gerät. Was wie dargestellt werden soll und kann, was im Medium Literatur erlaubt ist, kann von der Bedeutung der Menschenwürde für den jeweiligen Text abhängig sein. Gottscheds Cato darf sich nicht auf der Bühne entleiben, Neumann will die Exekution seiner Figuren nicht detailreich narrativ ausbreiten - in beiden Fällen soll ein bestimmtes Bild des Menschen und seiner Würde nicht kompromittiert werden. Umgekehrt können gerade an die explizite Beschreibung eklatanter Verstöße gegen die Menschenwürde wirkästhetische Überlegungen gekoppelt sein - wie etwa bei Kotzebue, bei Büchner oder bei Weiss. c) Schiller stellt in diesem Zusammenhang zweifellos einen Sonderfall dar. Explizit und mit großer Emphase entwirft er die Menschenwürde als ästhetische Grundkategorie (wenn auch nicht ohne Widersprüche) - gleichsam als sowohl programmatische als auch poetologische als auch genuin ästhetische Kategorie. Programmatisch ist die verlorene Würde der Ausgangspunkt und die wiederzuerlangende Würde des ganzen Menschen, der sein gesamtes Potential ausschöpft und seine unterschiedlichen Vermögen miteinander zu versöhnen vermag, das ultimative Ziel der Kunst. Aus poetologischer, vor allem dramenpoetischer Perspektive ist die erhabene Würde ausschlaggebend, die Figuren fordert, die - selbst wenn sie moralisch zu verurteilen sind - den Primat der menschlichen Vernunft illustrieren. Eine genuin ästhetische Kategorie ist die Menschenwürde Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur 463 zum einen, insofern sich Schillers Ästhetik auf den Würdebegriff zuspitzen lässt; zum anderen ist die utopische Zielkategorie der Würde als ästhetischer Zustand konzeptualisiert, d. h. ästhetisch vermittelt und ästhetisch erfahrbar. These 5: Die Literatur kann Menschenwürde durch genuin literarische Mittel (re)konstituieren. Wenn Lenz und Moritz postulieren, dass Menschenwürde gefühlt werden kann, ja muss, dann betonen sie ihre vorreflexive, vordiskursive Qualität und konzeptualisieren sie als etwas, das nicht rational begründet werden muss. Tatsächlich haben die Analysen in dieser Studie gezeigt, dass Menschenwürde im Prozess der Rezeption von Literatur entstehen bzw. als Faktum transportiert werden kann. Diese Beobachtung fokussiert die außerfiktionalen Implikationen bestimmter literarischer Strategien; die Literatur hat das Potential, Menschenwürde außerfiktional (wieder)herzustellen. Die entscheidenden Begriffe lauten Identifikation, Empathie und Mitleid. Bereits für Lessings Mitleidspoetik ist das reflexive, reziproke Moment konstitutiv. Genau dieses bewirkt, via Empathie und Identifikation auf Seiten des Rezipienten, ein Bewusstsein für die anthropologische Gleichheit der bemitleideten Figur, eine Art Projektion von Menschlichkeit und Menschenwürde auf die - in den meisten Fällen - in ihrer Würde bedrohte oder ihrer Würde beraubte literarische Figur. Beispielhaft lassen sich die Implikationen bestimmter dramaturgischer oder narrativer Entscheidungen und Strategien im Hinblick auf die literarisch-ästhetische Konstitution von Menschenwürde in Kotzebues Negersklaven und Büchners Lenz beobachten. Kotzebue zieht bei der Zeichnung seiner Sklavenfiguren alle Register, um die Identifikation des Zuschauers zu ermöglichen. Nicht nur lenkt er eindeutig dessen Sympathien, sondern er fordert im „Vorbericht“ eine mitleidende Rezeptionshaltung explizit ein, die er zusätzlich innerfiktional durch eine Art Stellvertreterfigur vorgibt. Büchners ingeniöse narrative Präsentation seiner vermeintlich würdelosen Figur Lenz beruht auf einer doppelten Erzählperspektive: Personal sieht, erlebt und fühlt der Rezipient mit Lenz, auktorial artikuliert der Erzähler sprachmächtig die komplexen Empfindungen und Befindlichkeiten des Menschen Lenz. Die Erzählhaltung fordert vehement Empathie und Verständnis für diesen nur scheinbar Würdelosen. 11 Mit ganz 11 Hierin besteht der entscheidende Unterschied zur „ästhetischen Menschenwürde“ in K. P. Moritz’ ästhetischer Theorie. Diese legitimiert das Leiden des Individuums, das gleichsam zur Bedingung der Möglichkeit von Würde wird. Ganz anders ist es bei Büchner: Die Literatur geißelt und inszeniert das Leiden des Einzelnen und nutzt ihre genuin ästhetischen Mittel, um die Entwürdigung in der Literatur zu transformieren und zu trans- 464 C. Zusammenschau: Literarische Dimensionen der Menschenwürde ähnlichen Effekten kalkulieren die Texte Seghersʼ und Remarques; hier wird die Art des Erzählens zur Bestätigung der Würde von Entwürdigten. Etwas anders funktionieren die untersuchten Texte von Peter Weiss: Die prononciert sinnlich erzählten Exekutionen am Ende der Ästhetik des Widerstands sollen den Rezipienten schockhaft emotional involvieren; hier wird nicht unbedingt Menschenwürde konstituiert, sondern die Aufforderung zum Engagement für die Menschenwürde und gegen Entwürdigung genuin ästhetisch vermittelt. Die Ermittlung deklariert die unzähligen Opfer der NS -Gräuel in Auschwitz durch einen so simplen wie wirkungsvollen Sprechakt immer wieder zu „Menschen“ - nicht nur als außerfiktionale Erinnerung an das tatsächliche Menschsein der Entwürdigten, sondern auch, um ihnen zumindest sprachlich, in der ästhetischen Vermittlung, das verletzte, zerstörte oder aberkannte Menschsein zurückgegeben. Insofern sie die Menschenwürde literarisch konstituiert, produziert und kultiviert die Literatur nicht nur eine Rezeptions-, sondern in einem weiteren Sinne auch eine Geisteshaltung, die sich durch Mitleid-, Empathie- und Identifikationsfähigkeit auszeichnet. Das moderne Verständnis von Menschenwürde als Anrecht des Einzelnen auf Achtung als Mensch zielt auf genau diese Disposition. Aus dieser Perspektive ist die Literatur - als Prozess von der Produktion bis hin zur Rezeption - eine zutiefst ethische Angelegenheit. These 6: Die Literatur formuliert immer wieder Diagnosen der menschlichen Würdelosigkeit. Dieser Diagnosegestus (sowohl literarischer als auch programmatischer Texte) ist unterschiedlich akzentuiert, verbindet sich jedoch meistens unmittelbar mit der Bestimmung der Funktion und des Potentials der Literatur (bzw. der Kunst) selbst. Schiller leitet genau aus der grundsätzlichen Diagnose der Würdelosigkeit die Aufgabe der Kunst ab, den Menschen zu erziehen und zu wahrer Menschenwürde zu heben; J. M. R. Lenz diagnostiziert die Würdelosigkeit konkreter in der Enge der bürgerlichen Existenz - hier geht es eher um Formen des menschlichen Handelns, des Erlebens und der Entfaltung, die die Kunst gleichsam präfigurieren und vermitteln soll. In den Texten des Expressionismus ist die Diagnose Teil der prinzipiellen und radikalen Auflehnung einer jungen Generation gegen die überkommene bürgerliche Saturiertheit und Arroganz sowie gegen verstaubte normative Wertvorstellungen. Falladas Stunde zendieren - mit einem klar wirkästhetischen Impuls. Der Rezipient soll der Klage über die Entwürdigung zustimmen und an der Rekonstitution der Würde mitwirken. Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur 465 Null-Roman umreißt Würdelosigkeit als kollektives moralisches Versagen einer Gesellschaft; Würde ist hier auch eine kontingente moralische Qualität. In Jelineks Texten schließlich bleibt die verheerende und bedrückende Diagnose - die totale Destruktion der Vorstellung einer besonderen menschlichen Würde - ohne innerfiktionalen Hoffnungsschimmer, impliziert jedoch eine ungemein scharfe, von einem aufklärerischen Impetus getragene Sozialkritik. These 7: Der Ausdruck Ästhetik der Entwürdigung bezeichnet die Literarisierung der Entwürdigung des Menschen. Zu differenzieren ist zwischen der weiter gefassten „Ästhetik der Entwürdigung“ und der konkreteren „Rhetorik der Entwürdigung“. Die Ästhetik der Entwürdigung meint das Faktum, dass sowie die Art und Weise, wie die Literatur Menschenwürdeverletzungen und Vorgänge der Entwürdigung beschreibt und inszeniert. Konzeptualisiert werden diese Entwürdigungen auf mannigfaltige Weise: als Entindividualisierung, als Entpersonalisierung - durch die Destruktion von Autonomie, Willensfreiheit und Selbstverfügung, durch den Entzug von Freiheit -, als Erniedrigung, als gewaltsame Destruktion von leibseelischer Integrität, als Enthumanisierung, als Instrumentalisierung, als Partialisierung, als Reduktion - zum Tier, zu kreatürlicher Körperlichkeit, zum Ding, zu Schmutz. Urheber der Entwürdigung sind andere Menschen, die häufig metonymisch für ein bestimmtes Gesellschaftssystem, einen bestimmten Missstand stehen - der Sklavenhalter für das System der Sklaverei bei Kotzebue, der Doktor für die hierarchisch organisierte Gesellschaft und das Militär bei Büchner, der Direktor für die patriarchalisch geprägte Gesellschaft bei Jelinek -, die sozialen Umstände an sich (im Naturalismus) oder das System als abstrakte Größe, in dem jeder Einzelne an der Entwürdigung mitwirkt (in der Literatur über den Nationalsozialismus). Die ästhetische Gestaltung dieser Entwürdigungen variiert: von expliziten, ‚objektiven‘, (hyper)realistischen Beschreibungen und drastischen Darstellungen auf der Bühne über den Gebrauch bestimmter syntaktischer Konstruktionen bis hin zum leitmotivischen Einsatz bestimmter Metaphernkomplexe, Vergleiche usw. Die Rhetorik der Entwürdigung rückt eine ganz bestimmte Art der Entwürdigung in den Fokus: gewaltsame, herabwürdigende Sprechakte und ihre Verarbeitung durch die Literatur. Wieder sind zwei Facetten zu unterscheiden. In der besonderen Kommunikationssituation der Flugschrift setzt Büchner diese Rhetorik im Hinblick auf einen pragmatischen Effekt ein: Die (sprachlich wie real) herabgewürdigten Bauern sollen mit Empörung reagieren; mit denselben rhetorischen Mitteln werden die Herrschenden herabgewürdigt, was die grund- 466 C. Zusammenschau: Literarische Dimensionen der Menschenwürde sätzliche Gleichheit aller Menschen illustriert. Bedeutsamer ist die zweite Facette: Ein literarischer Text imitiert oder adaptiert potentiell außerliterarische entwürdigende Sprechakte, inszeniert sie in der Fiktion, um sie zu dekonstruieren und literarisch zu konterkarieren - um sie aus der außerfiktionalen Perspektive durchschaubar zu machen und ihre entwürdigende Qualität zu enthüllen. Die Literatur offenbart hier ein enormes sprachreflexives, ja sprachkritisches Potential, indem sie den Rezipienten für die Art und Weise sensibilisiert, wie über den Menschen gesprochen wird. Besonders augenfällig wurde dies in den Analysen des Dramas von Kotzebue, der literarischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (hier v. a. Weiss) und der Texte Jelineks - sie alle entlarven die gewaltsame, entwürdigende Macht von Sprache. These 8: Der Ausdruck Ästhetik der Würdelosigkeit bezeichnet die Literarisierung des (vermeintlich) würdelosen Menschen. Ausprägung, Mittel und Intentionen der Ästhetik der Würdelosigkeit können unterschiedlich sein. Genau genommen meint die Formulierung dreierlei: die Deklaration vermeintlich würdeloser zu kunst- und literaturfähigen Figuren, die ästhetisch-rhetorischen Strategien, um den Zustand menschlicher Würdelosigkeit zu inszenieren sowie die Ästhetisierung des Würdelosen, seine Assoziierung mit dem ‚Schönen‘. Inhaltlich konzeptualisiert werden kann diese Würdelosigkeit als Zustand fehlender Personalität, Autonomie und Selbstbestimmung, als Zustand der Reduktion, Vertiertheit oder Dinghaftigkeit oder als Zustand moralischen Versagens. Auf sprachlich-rhetorischer Ebene können syntaktische Konstruktionen den Verlust von Autonomie oder Individualität markieren sowie Metaphern und Metonymien Reduktion, Vertiertheit und Dinghaftigkeit denotieren. Nicht selten verbindet sich mit diesen Verfahren eine Motivik des Hässlichen, Ekelhaften, Abjekten, die die Idee eines besonderen menschlichen Werts und Status zusätzlich konterkariert. Explizit wurde die Formulierung Ästhetik der Würdelosigkeit in der vorliegenden Studie in Bezug auf Baudelaire, Heym, Benn und Jelinek benutzt. In allen Fällen ist diese Ästhetik programmatisch zu verstehen. Heym und Benn attackieren das bürgerliche Menschen- und Würdebild. Heym dient die Figur des Würdelosen zum einen zur metonymischen Beschreibung einer dekadenten, überkommenen Gesellschaft, zum anderen wertet er sie als enttabuisierte Quelle menschlichen Erlebens auf; gleichzeitig (und in Anschluss an Baudelaire) erfährt der Würdelose eine bemerkenswerte lyrische Ästhetisierung. In Benns expressionistischen Gedichten fungiert die Ästhetik der Würdelosigkeit als lyrisches Mittel der radikalen Negation der Menschenwürdevorstellung. Jeli- Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur 467 neks obsessiv-hyperbolische Ästhetik der Würdelosigkeit ist vor der Folie ihrer vernichtenden, quasi-hoffnungslosen Kritik an einem Gesellschaftssystem zu sehen, das (vor allem für die Frau) keine Würde zulässt. Doch auch in anderen Kontexten ist die Formulierung angebracht: Bei Büchner ist der Fokus auf die Geringsten der Ausgangspunkt sowohl seiner scharfen Sozialkritik als auch der literarischen Konstitution von Menschenwürde, bei Holz und Schlaf ist die Relativierung der Menschenwürde Folge (natur- und sozial)wissenschaftlicher poetologischer Prämissen. Fallada schließlich zielt auf ein moralisches Versagen des Einzelnen und der Gesellschaft. These 9: Die Literatur verarbeitet die begriffliche Spannung zwischen kontingenter und inhärenter Würde produktiv. Am Anfang dieser Studie wurde die dramenpoetische Ständeklausel als problematisch, ja geradezu widersprüchlich beschrieben, da sie kontingente Formen von Würde zur Voraussetzung der Tragödie erklärt, die dann wiederum den Anspruch hat, Aussagen über den Menschen an sich zu treffen. Büchners poetologische Entscheidung, auch den Geringsten nicht nur für literaturfähig, sondern zum dramenfähigen Protagonisten zu deklarieren - eine Entscheidung, die bereits bei Karl Philipp Moritz, sogar bis hin zum Gebrauch des Adjektivs „gering“, präfiguriert ist -, hat nicht nur einen klaren sozialkritischen Impetus, sondern auch Implikationen, die unmittelbar den Begriff der Würde betreffen. Mit der scharfen Zurückweisung kontingenter Würde im Hessischen Landboten geht die Forderung nach Respekt für die inhärente Würde jedes Menschen einher - und das Einklagen von Rechten, existenzieller Sicherheit und bedingungsloser Empathie. Wenn Lenz und besonders Woyzeck, dem jede kontingente Würde fehlt, zu poetischer Würde gelangen, dann mit der Absicht, durch die ästhetische Gestaltung der Texte die Menschenwürde auch dieser vermeintlich würdelosen Figuren zu behaupten. Die naturalistischen und einige der expressionistischen Texte ridikulisieren kontingente Formen der Würde - präzisiert als bürgerlicher Habitus und Konformität mit dem bürgerlichen Wertehorizont -, um diese als äußerliche soziale Konstrukte zu brandmarken, die existenzielle menschliche Probleme und soziale Herausforderungen bloß übertünchen. Jelinek schließlich destruiert nicht nur die Vorstellung inhärenter Würde auf hyperbolische Weise, sondern entlarvt auch kontingente Formen der Würde - gesellschaftliche Rollen und Stellungen, materielle Überlegenheit, Geschlecht - als fragwürdige patriarchale Konstruktionen, denen die Entwürdigung anderer Menschen inhärent ist. 468 C. Zusammenschau: Literarische Dimensionen der Menschenwürde These 10: Die Literatur inszeniert immer wieder folgende These: Entwürdigung ≠ Würdelosigkeit. Ein Großteil der untersuchten Texte ist der Einsicht verpflichtet, dass die Menschenwürde verletzt und in Frage gestellt werden kann; gleichzeitig demonstrieren sie, dass dies nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie dadurch endgültig verloren wird - dass der Entwürdigte also nicht unbedingt ein Würdeloser ist. Vielmehr werden die literarisierten Bedrohungen und Verletzungen der Menschenwürde auf unterschiedliche Weise ästhetisch konterkariert. Kotzebue und Büchner (re)konstituieren die Menschenwürde der Entwürdigten und fordern Mitleid und Solidarität ein. Die programmatischen Angriffe auf die Menschenwürde im Naturalismus und im Expressionismus bleiben nicht ohne Versuche der Neubestimmung; den entwürdigenden sozialen Verhältnissen steht im Naturalismus zumindest im Ansatz die Möglichkeit einer Überwindung entgegen. Die literarische Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen setzt auf die literarische Konstitution und das Postulat der Unzerstörbarkeit und der Unantastbarkeit von Menschenwürde (Seghers), auf begriffliche Reformulierungen (Améry, Neumann), auf Inszenierungen der Wiedergewinnung (Améry, Levi, Remarque), auf die Macht der Sprache als Würdegarant (Herta Müller), auf die nachdrückliche Vergegenwärtigung und Bestätigung des Menschseins der Opfer (Weiss). Gleichzeitig insinuieren manche Texte, dass es gerade der Urheber von Menschenwürdeverletzungen ist, der seine eigene Würde kompromittiert (Kotzebue, Weiss, Fallada). Gleichwohl gibt es Ausnahmen: Papa Hamlet demontiert die Menschenwürdevorstellung, ohne Anlass zur Hoffnung zu geben; Benns Lyrik destruiert sie ebenso schonungslos. Problematisch sind auch die Figur des Muselmanns und die Texte Jelineks; in Bezug auf beide fehlen innerfiktionale Momente, die eine außerfiktionale Restitution der Würde bzw. der Würdeidee nahelegen. Dass die Literatur, bisweilen in ein und demselben Text, Menschenwürde als sowohl gefährdet als auch bestätigt, als sowohl verletzt als auch wiederhergestellt, als sowohl missachtet als auch unantastbar konzeptualisiert, mag widersprüchlich und begrifflich inkonsequent erscheinen, besonders vor dem Hintergrund heutiger Diskussionen um die Adäquatheit und Stringenz des Begriffs. Nur: Ein literarischer Text ist keine theoretische Abhandlung; noch weniger ist der literarische Menschenwürdediskurs einheitlich und stringent. Die literarische Grundthese Entwürdigung ≠ Würdelosigkeit lässt sich als dialektische Figur denken; hier entsteht eine ästhetische Spannung, eine Irritation - die die Literatur allerdings nicht lösen muss. Genau diese Irritation, diese Uneindeutigkeit, diese Doppelbödigkeit hält sie aus, ja sie zeichnet sie aus - hier offenbart sich das genuin Literarische des literarischen Menschenwürdediskurses. VIII.5. Dimensionen der Menschenwürde bei Jelinek 469 D. Siglen und Literaturverzeichnis I. Siglen 471 I. Siglen Für häufig zitierte Primärwerke wurden Siglen gewählt, mit deren Hilfe Zitate im Haupttext belegt werden. Diese Siglen werden zwar beim jeweils ersten Vorkommen in einer Fußnote eingeführt, werden hier jedoch noch einmal gebündelt aufgelistet. Genannt werden die einzelnen Werke oder Ausgaben nur in Kurzform; die vollständigen Angaben finden sich unten im Literaturverzeichnis. Erscheinen im Text mehrere Zitate, die sich auf derselben Seite des Primärtextes finden, erscheint die Seitenangabe in der Regel nach dem letzten Zitat. Auch für das Wörterbuch der Würde wird eine Sigle verwendet. A Hans Fallada, Der Alpdruck AA Immanuel Kant, Kantʼs gesammelte Schriften (Akademieausgabe) AS Herta Müller, Atemschaukel ÄW Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands AW Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke BFA Bertolt Brecht, Werke (Berliner und Frankfurter Ausgabe) CA Gerhart Hauptmann, Sämtliche Werke (Centenar-Ausgabe) DS Georg Heym, Dichtungen und Schriften E Peter Weiss, Die Ermittlung EU Elfriede Jelinek, Die endlose Unschuldigkeit Fb Flugblätter der Weißen Rose (Hg. Siefken) FL Erich Maria Remarque, Der Funke Leben FS Arno Holz / Johannes Schlaf, Die Familie Selicke IM Primo Levi, Ist das ein Mensch? JSS Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne KS Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin KSA Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke (Kritische Studienausgabe) L Elfriede Jelinek, Lust LES Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.), Lyrik des Expressionismus LEV Silvio Vietta (Hg.), Lyrik des Expressionismus LW Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und Briefe in drei Bänden M Heiner Müller, Mauser (Werke, Bd. 4) MA Georg Büchner, Werke und Briefe (Münchner Ausgabe) MW Karl Philipp Moritz, Werke in zwei Bänden 472 D. Siglen und Literaturverzeichnis N Alfred Neumann, Es waren ihrer sechs NA Friedrich Schiller, Werke (Nationalausgabe) NS August von Kotzebue, Die Negersklaven PH Arno Holz / Johannes Schlaf, Papa Hamlet S Arthur Koestler, Sonnenfinsternis SA Gottfried Benn, Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe) SC Johann Christoph Gottsched, Sterbender Cato SK Anna Seghers, Das siebte Kreuz ÜT Elfriede Jelinek, Über Tiere V Bernhard Schlink, Der Vorleser WdW Gröschner / Kapust / Lembcke (Hgg.), Wörterbuch der Würde WL Franz Werfel, Das lyrische Werk II. Primärwerke Hier werden die in den einzelnen Kapiteln bearbeiteten und zitierten Primärtexte sowie benutzte Anthologien angeführt. Um die Fußnoten zu entlasten, wurden die Literaturangaben dort etwas reduziert: Herausgeber wurden nur mit abgekürzten Vornamen angeführt, Reihentitel wurden weggelassen. Die vollständigen Angaben finden sich hier im Literaturverzeichnis. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. In: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Hg. v. 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Alberti, Conrad 193 Améry, Jean 284-288, 403, 459 f., 468 Arendt, Hannah 20, 278 f., 362 Autonomie 29 f., 56 ff., 61, 64, 69, 73, 75, 92 ff., 97, 99, 105, 110, 120, 124, 141, 146, 148, 153 f., 162, 166, 168 f., 171, 178 f., 181, 183-186, 189, 191, 194 f., 202 f., 205, 209 f., 214, 216 f., 219, 222, 224, 240, 247, 263 ff., 268, 327, 331, 375-379, 382 f., 397, 400, 414, 445, 460 f., 465 f. Bahr, Hermann 238 f. Ball, Hugo 236 Baudelaire, Charles 241-245, 466 Becher, Johannes R. 247 f., 250, 258 ff., 269, 372 Behrens, Franz Richard 266, 268 Benn, Gottfried 177, 227 f., 233 f., 236, 245, 248, 250-261, 264, 266, 271 f., 349, 466, 468 Böll, Heinrich 293 ff. Bölsche, Wilhelm 191 f., 224 Borchert, Wolfgang 293 f. Brecht, Bertolt 180, 380-383, 385, 387, 389 ff., 394 ff., 398 f., 402, 406 Büchner, Georg 42, 96, 120, 122, 124, 132, 152-167, 171-174, 176, 178 ff., 182-187, 190, 199, 203, 242, 303, 308, 347, 440, 443 f., 459 f., 462 f., 465, 467 f. Bürger, Gottfried August 153 Cicero, Marcus Tullius 19, 28 f., 61, 130, 228 Conradi, Hermann 192 f., 224 Conrad, Michael Georg 192 f., 224 Däubler, Theodor 240 f. Descartes, René 73, 75 f., 115, 174, 177, 179 Determination 73, 89 f., 93, 166, 168 f., 175, 178 f., 183, 186 f., 194 ff., 202-206, 208-217, 219 f., 222 f., 225 f., 231, 254 Determinismus 30, 90, 193, 200, 210 f., 213-218, 377 Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit (s. Objekt, Objektifizierung) Edschmid, Kasimir 233, 237, 239, 249 Ehrenstein, Albert 247 ff., 266 f. Ekel, Ekelhafte 159 f., 244, 247, 254, 258, 267, 411, 416, 419 f., 424 f., 453, 462, 466 Empathie 146, 151, 156, 166, 172, 190, 205, 216, 311 ff., 322, 327, 330, 334 f., 342, 345, 351, 358, 386, 395, 400, 403, 442, 444, 459 ff., 463 f., 467 Engelke, Gerrit 260 Entwürdigung 30, 37 f., 40, 97, 101, 108, 127, 132-135, 139, 141 f., 145-148, 151, 158-161, 182 ff., 186 f., 190, 199, 201, 206, 209, 217, 225, 235, 251, 260 f., 265, 269, 272 f., 279 f., 284, 286 f., 289, 291 f., 302, 304, 307 f., 313, 315-320, 323-327, 329, 331, 334, 338 f., 342 f., 345-348, 350-355, 358, 360 ff., 365, 379, 391, 403, 405-414, 417-420, 422, 425-428, 430 f., 516 Register 433, 438, 440 ff., 444 f., 448-453, 463 ff., 467 f. Fallada, Hans 108, 366 ff., 370, 372, 403, 459, 461, 464, 467 f. Feuchtwanger, Lion 39 Freiheit 28, 39, 57, 60, 63, 66, 69, 73 f., 78, 80, 83, 89 ff., 93, 106 f., 109, 111 ff., 116, 118, 120, 123 f., 129, 133 ff., 149, 153-156, 158, 162 f., 165, 181, 187, 193 f., 202, 209 f., 217, 220, 237 ff., 277, 290, 298 f., 301, 303, 305, 327, 344, 375, 386, 391, 399, 412 f., 438, 461, 465 Fussenegger, Gertrud 277 Garve, Christian 84 George, Stefan 237 Gesellschaft 12, 40 f., 51, 58, 92, 94, 108, 149 f., 173, 175, 179, 184, 189 f., 196, 200, 227, 237, 247-250, 259, 264, 269, 272, 279, 283 f., 287, 289, 294, 301, 342, 366, 376, 381 f., 408, 417 f., 421, 423, 425 f., 434 ff., 440, 448 f., 451, 453, 465 ff. Gewalt 40, 45, 107, 125, 141, 143 ff., 151 f., 158 f., 161, 207, 233, 242, 245, 247, 262, 264, 279 f., 286, 290, 308, 329, 331, 335, 340 f., 345 ff., 357, 380, 391, 395, 397, 402 f., 407, 412 ff., 416, 424-429, 433 f., 438-441, 444, 450, 454 Goethe, Johann Wolfgang 17, 33, 40, 42, 71, 76, 91, 110, 119-124, 126, 154, 198, 218, 234, 236, 250, 275 f., 299, 303, 352, 409, 443 Goll, Yvan 269 Gott 49, 53, 56 f., 59, 65, 73 f., 76, 88 f., 91, 94, 115, 127, 133 ff., 142, 145 f., 161 f., 174 f., 180, 190, 219, 230 f., 235, 237, 250, 255 ff., 259 ff., 270, 273, 295, 303, 316, 328, 384, 428, 435, 437-440 Gottebenbildlichkeit 28, 30, 50, 53, 72, 133, 142, 158, 190, 202, 225, 229, 239, 252, 255, 261, 316, 343, 384, 395, 437 ff., 462 Gottsched, Johann Christoph 32, 49-55, 58-67, 74, 82, 155, 210 f., 341, 459, 462 Gumpert, Martin 266, 268 Hadwiger, Victor 262 f. Haeckel, Ernst 190 f. Haller, Albrecht von 105 f. Harmonie 69 f., 76, 101, 106, 108 f., 114, 116, 118, 123, 150 Hasenclever, Walter 266 ff. Hässliche 45, 52, 124, 190, 240-243, 246 f., 249 ff., 254 f., 258, 262, 274, 349, 407, 466 Hatvani, Paul 239 Haubach, Theodor 235 f. Hauptmann, Gerhart 190, 198 ff., 206-211, 213-217, 224, 247 Hausmann, Raoul 236 Held 54 f., 60, 67, 83 f., 91, 112, 129, 153, 184, 206, 231, 306, 344, 383, 385, 393, 409, 461 Herder, Johann Gottfried 77-80, 82, 94, 96, 108, 142, 177, 275 Heym, Georg 227 f., 235, 245-250, 252, 257, 259, 264, 271 f., 341, 466 Hitler, Adolf 275 f., 280 ff., 284, 302 f., 343 Holz, Arno 91, 190, 196 f., 201 ff., 205 f., 214, 216 ff., 220 f., 223 f., 459 f., 467 Huelsenbeck, Richard 236 Humanität 32, 45, 77 ff., 99, 117, 121 ff., 142, 192 f., 196, 199 f., 215 f., 222, 225 f., 228, 230, 275 f., 291, 294, 371, 390, 444, 451, 460 Humboldt, Wilhelm von 104, 119, 275 Identifikation 83, 85 f., 88, 151, 345, 350, 354, 383, 393, 395 f., 398, 400, 454, 463 Identität 56, 58, 132, 141, 262, 281, 326, 331, 354, 372, 378, 384 f., 387, 453 Individualität 88, 92, 101, 171, 181, 255, 264, 281, 315, 318, 326, 343, 355, 358, 383, 387, 419, 466 Individuum 23, 43, 45, 67, 73, 79, 88 f., 91, 93 ff., 97, 100-104, 106 ff., 113, 116, Register 517 119, 138, 152 f., 156, 163, 166, 174, 176, 181, 187, 189 f., 200, 203, 210, 217, 220, 226, 231, 237, 239, 253 f., 263-266, 269, 277, 282 ff., 287, 305, 316, 326, 341, 350, 354 f., 380-384, 392-395, 399 f., 412, 415 f., 418, 420 f., 425, 432, 435, 437, 442 f., 463, 465 Jelinek, Elfriede 108, 405-414, 416 ff., 420-427, 431-443, 445-450, 452 ff., 461, 465-468 Kaiser, Georg 236 Kanehl, Oskar 267 f. Kant, Immanuel 17, 19 f., 23, 28-31, 36, 49, 59, 73 ff., 77, 95, 98, 105, 109, 111 ff., 115, 120, 131, 134 f., 155 f., 159, 162, 166, 174, 176, 179, 181 ff., 194, 228, 242, 275, 280, 284, 301, 303, 362, 375, 388, 414, 420 f. Kersten, Hugo 239 f. Klabund 266, 268 Klemm, Wilhelm 265-268 Klüger, Ruth 291 Koestler, Arthur 380, 391 ff. Körper 30, 43, 51, 64, 66 f., 75 f., 89 f., 98 f., 139, 144 f., 159, 165, 174, 179, 181 f., 186, 195, 244, 247, 250-255, 258, 265 ff., 269, 274, 286 f., 307 f., 310, 327, 329, 333, 340, 344, 346, 349, 392, 394, 397, 407, 409, 411, 413 f., 416, 421 f., 424, 426-429, 432, 434 ff., 447, 450, 452, 459 Kosmos 77, 228, 234, 256 Kotzebue, August von 122, 125-131, 136 ff., 140-143, 145, 147-152, 172, 459 f., 462 f., 465 f., 468 Kreatürlichkeit 144, 152, 159 f., 164, 171, 180 f., 183, 186, 244, 251, 254, 256 f., 265, 267, 272, 274, 307, 317, 338, 344, 349, 359, 397 f., 465 Krieg 135, 153, 233, 239, 263-270, 277, 293, 300, 304, 341, 349, 368, 370, 443 Krone (der Schöpfung) 30, 50 f., 70, 113, 158, 177, 202, 229, 234, 250, 256 Kunst, Künstler 11, 25, 39, 45, 52, 68-71, 82, 86, 91, 98-104, 106, 108, 111, 114, 118-121, 124 f., 136, 143, 149, 166, 169, 171, 175, 179, 187, 189, 191-194, 197 ff., 201, 211, 228, 232 f., 237, 239-242, 244 f., 258, 264, 280, 288 f., 291 ff., 296 ff., 305, 337, 345 f., 348, 353, 406, 410, 412, 418, 424, 445 f., 450, 462, 464 Lenz, Jakob Michael Reinhold 88-94, 96, 108, 152, 166, 383, 458, 460, 463 f. Leonhard, Rudolf 267 f. Lessing, Gotthold Ephraim 71, 77, 80, 83-88, 92, 95, 103, 139, 141, 152, 198, 275 f., 443, 463 Levi, Primo 304, 314 f., 317, 319 f., 323 ff., 327 f., 331, 335, 339, 342, 354, 402 f., 460, 468 Leybold, Hans 258 Lichtenstein, Alfred 258, 264, 266, 268 Mann, Thomas 33, 38, 40, 235, 250 Marinetti, Filippo Tommaso 227, 233 Maschine 76, 88 f., 92, 179, 181 f., 213, 219, 238 f., 320, 342, 400, 437, 451 Menschenrechte 18, 21 f., 24, 40, 43 f., 78-81, 107, 110, 125, 143, 145, 150, 152 f., 157, 161-165, 184, 192, 277 ff., 282 f., 451 Menschenwürdeverletzung 30, 37, 103, 125, 128, 143 f., 158 f., 163, 165, 178, 184, 186 f., 205, 244, 259, 292, 297, 301, 304, 322, 333, 366, 376, 380, 398, 403, 414, 460, 465, 468 Mitleid 55, 60, 62, 65, 67, 78, 83, 85-88, 101, 127, 139-142, 146 f., 151 f., 171 f., 185, 187, 194 ff., 220 f., 269, 281, 301, 322, 332, 383, 389, 391 f., 394 ff., 398, 442, 454, 463 f., 468 518 Register Moral, Moralität 73, 88, 90, 95, 111, 121, 142, 179-183, 194, 230 f., 237 f., 243, 256, 293, 298, 300, 378, 392, 446, 457 Moritz, Karl Philipp 94-104, 119, 122, 152, 177, 458 f., 463, 467 Mühsam, Erich 236, 238 f. Müller, Heiner 380, 394-397, 399, 401 f. Müller, Herta 304, 335 f., 338 f., 403 f., 459 f., 468 Musil, Robert 240, 249, 459 Nebel, Otto 267 Neumann, Alfred 339-344, 403, 459, 462, 468 Nietzsche, Friedrich 17, 20, 32, 102, 198, 227-234, 256 Objekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit 11, 30, 40, 89, 134, 144 f., 159, 167, 169, 174, 181 f., 186, 205, 244, 252 f., 267, 279, 294, 315, 319, 326 f., 329, 350, 355, 357, 361, 364, 375, 398, 405, 407, 410-414, 418, 420, 422 f., 425 f., 428, 430, 432, 436, 440, 445, 447-450, 453, 465 f. Obszönität 45, 241, 254, 407, 411, 418, 424 f., 427 f., 430, 436 f., 439, 445, 449 f., 453 Ortega y Gasset, José 245, 258 Partialisierung 182, 186, 252, 266 f., 346, 350, 359, 428, 450, 465 Perfektibilität, Vervollkommnung 51-54, 66, 74, 81, 85, 87, 97 f., 101 f., 131, 175, 225, 260 f., 380, 444 Pico della Mirandola, Giovanni 19, 29, 31, 50, 228, 238, 438 Pinthus, Kurt 232 f., 235, 237, 240 Pope, Alexander 74, 96, 106 Rationalismus 49 f., 72 f. Rationalität 12, 25, 57-60, 75, 93, 98, 101, 120, 123, 167, 169, 182, 214, 241, 257, 308, 329, 359, 389 f., 398, 416, 431, 463 Remarque, Erich Maria 304, 325-329, 331, 333 ff., 403, 459 f., 464, 468 Rilla, Walther 235 f. Rosenkranz, Karl 242 Rubiner, Ludwig 237 ff., 257, 260 Runge, Wilhelm 268 Sack, Gustav 258 Schickele, René 258, 261 Schiller, Friedrich 20, 32, 38 ff., 42, 49, 68-72, 76 f., 81 f., 104-124, 126, 140, 152 f., 166, 171, 181, 184, 197 f., 210, 215, 218, 236, 250, 262, 275 f., 298 ff., 380, 391, 443, 446, 459 f., 462, 464 Schirach, Ferdinand von 10 ff., 22 Schlaf, Johannes 190, 201 ff., 206, 216 ff., 220, 223, 459 f., 467 Schlegel, August Wilhelm 70, 202 Schlink, Bernhard 17, 293, 296 ff., 373 ff., 378 f., 403 Schopenhauer, Arthur 20, 32, 194 ff. Schöpfung 49 f., 57, 66, 90 f., 98, 100, 158, 162, 168, 177, 186, 191, 219, 237 f., 256, 437-441 Schreyer, Lothar 234 Seghers, Anna 304 ff., 308 f., 311 ff., 328, 402 f., 459 ff., 464, 468 Selbstachtung 30, 34, 37, 134, 318, 321, 367 f., 370, 380 Selbstbestimmung 28, 30, 79, 97, 115 f., 133, 155 f., 163, 165, 187, 189, 214, 238, 302, 305, 341, 344, 362, 406 f., 411 ff., 415 ff., 419, 429, 432 f., 444, 453, 461, 466 Selbstbewusstsein 32, 84, 92, 106, 285, 318, 340, 344, 363, 370, 382, 387, 423, 426, 428, 438, 444 Selbstverfügung 30, 189, 224, 358, 413, 415, 429, 447 f., 453, 461, 465 Sexualität, Sex 59, 88, 90, 94, 137, 141, 144 f., 178, 244 f., 406 f., 409-412, 415, Register 519 419-430, 432 f., 436-439, 443, 445, 448 f., 451, 453 Shakespeare, William 38, 93, 146, 169, 201 f. Silesius, Johannes Angelus 261 Sinnlichkeit 12, 25, 72, 75 f., 79, 82, 87-90, 94, 96, 98 f., 101, 107 ff., 111 f., 114 f., 117 f., 153, 167, 172, 241, 245, 249, 267, 346, 348 f., 352, 392, 403, 458, 464 Solidarität 171, 185, 187, 264, 311 ff., 321, 324, 331, 368, 371, 373, 376, 386, 390 f., 396, 403, 459, 468 Stadler, Ernst 261 Suizid 41, 55 f., 58-67, 82, 146, 148, 155, 189, 209 ff., 214, 217, 225, 247, 307, 341, 344, 368, 370, 372, 392, 459 Taine, Hippolyte 191 Tier, Vertierlichung, Theriomorphisierung 30, 50 f., 65, 75, 89, 91, 110, 117, 127, 130, 132, 134, 142 f., 154, 158, 160, 168 f., 171, 174 f., 177 f., 182, 184, 186, 190 f., 195, 203, 207 ff., 218 f., 229, 234 f., 242, 244, 256 f., 267, 271 ff., 281, 284, 306 f., 318, 328, 330, 332, 369, 398, 407 f., 411, 418 f., 425, 439 f., 442 f., 446-453, 465 Toller, Ernst 261, 263 f., 266 ff. Trakl, Georg 258, 266, 268 Tugend 51, 53-61, 66, 69, 74, 78, 80, 85-88, 90, 106, 137, 142, 153, 180, 224, 243, 300, 318, 386 Verantwortung 30, 162, 215, 217, 297, 303, 341-344, 356, 363 f., 370, 377 f., 387, 393, 403 Vernunft 28, 50, 53, 57, 65, 69 f., 73, 76, 78 ff., 82, 88, 90 f., 98, 106 f., 109, 111 f., 115-118, 129, 134, 153 ff., 162, 166, 169 f., 174 f., 186, 188, 190 ff., 195, 202, 214, 216, 218, 221, 229, 233, 238, 243 f., 256, 261, 277, 285, 347, 414, 458-462 Vervollkommnung (s. Perfektibilität) Voß, Johann Heinrich 72, 80 Weiße Rose, Die 32, 113, 298 ff., 302 f., 340 Weiss, Peter 333, 339 f., 342, 345, 347 f., 350 f., 353-356, 358-362, 364 f., 403, 462, 464, 466, 468 Werfel, Franz 227, 247 ff., 257, 259-263, 268 Wilberforce, William 128 f., 138 Wille, freier Wille 29 f., 34, 57, 110 ff., 116, 134, 153, 166, 169, 181, 183 ff., 187, 191, 195, 204 ff., 210, 217, 220 f., 224 ff., 229, 259, 300, 320, 343, 370, 378, 413, 416, 461 f., 465 Wolff, Christian 51, 62, 66, 73 f. Wolff, Eugen 193 Würdelosigkeit 37 f., 40 f., 66, 107 f., 117, 124, 148, 151, 166, 169, 171, 182 f., 185 ff., 199, 203 ff., 207 f., 211, 218, 220-223, 225, 231, 235, 241, 243, 245-250, 252, 257-262, 264, 266, 269, 271 ff., 279, 288, 294, 299, 302, 306 ff., 317, 319 f., 322 f., 325, 327, 334 f., 341 f., 364, 366 f., 369, 371 f., 391, 393, 398, 403, 405, 418 ff., 425 ff., 431 f., 436, 439, 442, 444 ff., 448, 453, 463 f., 466 ff. Zech, Paul 247 f. Der für den heutigen Wertekanon zentrale Begriff der Menschenwürde wird zwar kontrovers diskutiert, bleibt aber unscharf. Die Literatur - als Medium, das in der Uneindeutigkeit und in der Doppelbödigkeit erst seine vollen Sinnpotentiale entfaltet - pflegt spätestens seit der Frühaufklärung einen eigenen Menschenwürdediskurs, der nicht bloß außerliterarische Argumentationen reproduziert, sondern die Frage nach der Menschenwürde auf eigene Weise, mit genuin literarischen Mitteln, beantwortet. Die Studie zeichnet die bislang vernachlässigten literarischen Dimensionen der Menschenwürde nach, anhand eines breiten Textcorpus, das von der Frühaufklärung bis in die Gegenwart reicht und unter anderem Texte von Gottsched, Schiller, Kotzebue, Büchner, Benn, P. Weiss, Schlink, Jelinek und von Schirach beinhaltet. ISBN 978-3-7720-8634-2 Graff Literarische Dimensionen der Menschenwürde Max Graff Literarische Dimensionen der Menschenwürde Exemplarische Analysen zur Bedeutung des Menschenwürdebegriffs in der deutschsprachigen Literatur seit der Frühaufklärung