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Hans Habe, Autor der Menschlichkeit

2017
978-3-7720-5612-3
A. Francke Verlag 
Joseph Peter Strelka

Hans Habe (1911-1977) ist einer der interessantesten österreichischen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Bereits mit dreiundzwanzig Jahren bewältigte er als Herausgeber einer Tageszeitung unglaubliche politische Aufgaben. Sein politisches Engagement setzte er als Auslandsberichterstatter für das Prager Tagblatt in der damaligen Völkerbundstadt Genf und später auch als Freiwilliger in der Französischen Armee fort. Nach dem Ausbruch aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager gelang ihm die Flucht nach Amerika, von wo er als amerikanischer Abwehroffizier nach Europa zurückkehrte. Er wurde schließlich in München Herausgeber der Neuen Zeitung und beschloß sein abenteuerliches Leben mit einer märchenhaft idyllischen Altersphase in Ascona, im Schweizer Kanton Tessin.

Hans Habe (1911-1977) ist einer der interessantesten österreichischen Autoren des Zwanzigsten Jahrhunderts. Bereits mit dreiundzwanzig Jahren bewältigte er als Herausgeber einer Tageszeitung unglaubliche politische Aufgaben. Sein politisches Engagement setzte er als Auslandsberichterstatter für das Prager Deutsche Tagblatt in der damaligen Völkerbundstadt Genf und später auch als Freiwilliger in der Französischen Armee fort. Nach dem Ausbruch aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager gelang ihm die Flucht nach Amerika, von wo er als amerikanischer Abwehroffizier nach Europa zurückkehrte. Er wurde schließlich in München Herausgeber der „Neuen Zeitung“ und beschloss sein abenteuerliches Leben mit einer märchenhaft idyllischen Altersphase in Ascona, im Schweizer Kanton Tessin. ISBN 978-3-7720-8612-0 Strelka Hans Habe Joseph P. Strelka Hans Habe Autor der Menschlichkeit edition patmos Hans Habe edition p atmos Herausgegeben von Joseph P. Strelka Band 21 Joseph P. Strelka Hans Habe Autor der Menschlichkeit Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach ISBN 978-3-7720-8612-0 DEM ANDENKEN AN JOHANNES HOCK, SEN . GEWIDMET INHALTSVERZEICHNIS Jugend und Studium in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Journalist in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Journalist in Genf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Französischer Soldat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Im deutschen Gefangenenlager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Amerikanischer Abwehroffizier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Herausgeber der Neuen Zeitung in München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Der Roman Off Limits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Der Roman Im Namen des Teufels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Aufenthalt in St. Wolfgang und in Ascona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Der Roman Ilona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Der Roman Die Tarnowska . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse . . . . 105 Habes Israelreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Besuch in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Besuch in Tel Aviv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Besuch in Bethlehem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Abschied von Israel in Haifa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Das Altersleben der Idylle im Tessin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 VIII Inhaltsverzeichnis JUGEND UND STUDIUM IN WIEN Als Susanne Falk einen Aufsatz über Hans Habe schrieb, da wählte sie als Titel „ Eine Galerie von Feinden “ 1 . Das trifft durchaus die Wahrheit und sollte nur dahingehend ergänzt werden, daß dieser Galerie von Feinden doch auch einige Freunde gegenüberstanden. So wie auch Mißerfolg und Erfolg, Beglückungen und Schicksalsschläge in extremer Stärke sein Leben und Werk kennzeichneten. Hans Habe wurde als János Békessy am 12. Februar 1911 in der Hauptstadt der ungarischen Reichshälfte der alten Donaumonarchie Budapest geboren. Die Eltern waren jüdisch und erst als Erwachsene zum Calvinismus übergetreten. Das Kind wurde sofort calvinistisch getauft. Die Eltern beschlossen, zum Christentum überzutreten, „ weder aus Überzeugung, noch unter unmittelbarem Druck, sondern weil sie annahmen, daß es ihr Kind oder ihre Kinder als geborene Christen leichter haben würden. “ 2 Schreiben und Lesen lernte er von seiner Mutter, die zwar auch Volksschullehrerin war, aber weit darüber hinaus eine durch besondere Fähigkeiten begnadete sensible Persönlichkeit. Mit sieben Jahren las er wie ein Erwachsener. Für seine Erziehung war jedoch seine deutsche Gouvernante Adele Bienert zuständig. Da sie gar nicht ungarisch sprach, wurde Deutsch seine eigentliche Muttersprache. Sie führte ihn auch schon früh in die deutsche Literatur ein und dem Achtjährigen waren bereits Gedichte von Goethe und Schiller, Heine und Hölderlin geläufig. In den späteren historischen, politischen und philosophischen Kommentaren seiner Autobiographie erklärte er sehr richtig, daß sich der Erste Weltkrieg von allen vorangegangenen Kriegen dadurch unterschied, daß er durch die „ Verlogenheit seiner ideologischen Tarnung “ gekennzeichnet war. Obwohl er schon von Kind an ein gläubiger Mensch war, der als Achtjähriger mit seinem Gott rechtete und der in seiner Reifezeit die tiefinnere Gewißheit Gottes als Voraussetzung für alles andere betrachtete, übersah er in seinen Kommentaren den Zusammenhang, daß nämlich die „ ideologische Verlogenheit “ die Folge der Gottesferne darstellte und die Ideologien zu Ersatzreligionen wurden. Für seine Autobiographie Ich stelle mich hat er als Motto an den Anfang einen Abschnitt aus dem Buch eines chinesischen Esoterikers, Dschuang Dsi, gestellt, in dem sich der Held der Erkenntnis seines eigenen Ich stellt, was Zeugnis für seine tiefe Weisheit ablegt. 1 In der Zeitschrift David, Heft 90, 09/ 2011 2 Hans Habe: Ich stelle mich. Meine Lebensgeschichte. München 1954, S. 27 Während für Habe mit dem Zerfall der Donaumonarchie die Buntheit der Lebensfreude zusammenbrach und außerdem die Stabilität Europas verloren ging, war sein Vater bei aller praktischen Klugheit politisch ahnungslos. Dieser wurde 1918 zu einem Anhänger der Revolution. Da er gewöhnlich zuerst ein sehr weitmaschiges Gewissen besaß, das erst später durch ein ernsthafteres Gewissen korrigiert wurde, tappte er mit den Worten Habes in „ die Falle des Kommunismus “ hinein und übernahm für den kurzfristigen kommunistischen Diktator Béla Kun die ungarische Provinzpresse. Wenn das vielzitierte Wort „ Österreich ist eine Operette mit tragischem Ausgang “ zutrifft, dann gilt dies für Ungarn in einem noch höheren Maße. In den hundert Tagen des Béla-Kun-Regimes berührten sich Operette und Tragödie wie nie zuvor, heißt es in der Autobiographie. Dem roten Terror folgte ein nicht weniger schrecklicher, weißer Terror und Habes Eltern versteckten sich mit dem kleinen Sohn in dem kleinen Kurort Balatonboglár, dem Heimatdorf der Mutter am Plattensee. Sein Vater wurde gefunden, verhaftet und infolge seiner Hilfe für Verfolgte des roten Terrors wieder freigelassen. Es war seinen Eltern aber klar, daß sie vor dem Ausbruch des Antisemitismus fliehen mußten. Sie planten die Flucht mit Hilfe eines Onkels von Habe, der viele Schiffskapitäne und Matrosen kannte. Der Schiffsoffizier, Jen ő Kellner, nahm es auf sich, die Familie auf einem großen alten Raddampfer nach Wien zu schmuggeln. Er wies den dreien eine schmale, versteckte, finstere Kabine tief unten neben der Kabine des Kapitäns an. Die Eltern saßen auf einem schmalen Bett und der kleine Sohn erhielt einen Liegestuhl. Habes Vater war aus Opportunitätsgründen zum Calvinismus übergetreten und die Mutter nahm ihm zuliebe zerknirscht die Taufe auf sich. Sie konnte Habe nicht im jüdischen Glauben erziehen und wollte ihn auch nicht im christlichen Glauben erziehen. Außerdem fand sie es falsch, überhaupt in die reine Kinderseele einzugreifen. Sie war glücklich, als sie seine eigene Beziehung zu Gott entdeckte. Auf dem ächzenden, alten Raddampfer hatte der Achtjährige zum ersten Mal still gebetet. Damals war sein „ lieber Gott “ ein alter Mann mit einem weißen Bart, der auf einer weißen Wolke saß, und er bat den alten Herrn zu verhindern, daß die Soldaten die finstere Kabine fanden. Gegen vier Uhr früh legte das Schiff in der Grenzstation Göny ű an und blieb dort etliche Stunden vor Anker liegen. Die Schiffskorridore widerhallten von den Stiefeln der Grenzbeamten. Als es still wurde, setzte der Dampfer seine Reise fort. Leutnant Kellner öffnete mit Schweißperlen auf der Stirn die Türe und berichtete, daß einer der Offiziere herunter kommen wollte. „ Ich habe es ihm ausgeredet “ , sagte er. Der Achtjährige aber war sich sicher, daß der alte Herr mit dem weißen Bart den Sinn des Offiziers geändert hatte. Der Vater brachte die Familie in einer Pension in Baden unter und begann in Wien seinen meteorhaften Aufstieg als Wirtschaftsjournalist, Verleger und Zeitungsherausgeber. Der Sohn jedoch entdeckte ernsthaft die Literatur. Er 2 Jugend und Studium in Wien wünschte sich zu Weihnachten keine Indianergeschichten, sondern die 220 Bände von Kürschners deutscher Nationalliteratur. Darüber hinaus las er auch die wichtigsten Werke der Weltliteratur. Als Entspannung gab es daneben zwischendurch Detektivgeschichten. Er bildete jedenfalls seinen eigenen literarischen Geschmack aus, den er besser mit seinen Abneigungen als mit seinen Neigungen erklären konnte. Er wurde in das ehemalige Wiener k. k. Franz-Joseph-Gymnasium, das heutige Gymnasium Stubenbastei, geschickt, war besonders schwach in Mathematik und Chemie, doch glänzte er in Deutsch und Geschichte. Als Kind hatte er im Ersten Weltkrieg die Ehre eines Vaters gerettet, als sich dieser, dem Sohn zuliebe, aus einem eine Nervenkrankheit simulierenden Drückeberger in einen hoch dekorierten Kriegshelden gewandelt hatte. Als Gymnasiast wurde er auch distanzierter Zeuge eines der allerersten Nazi- Gewaltverbrechen. Einer der Mitarbeiter seines Vaters war Hugo Bettauer, der durch den prophetischen Roman Die Stadt ohne Juden - gemeint war Wien - in die Geschichte eingegangen ist. Der Student, der auf Bettauer schoß, war ein exaltierter Nazi, der sich bei Gericht mit der Behauptung verteidigte, Bettauer sei der „ Aufwertung der Seelen “ im Weg gestanden und mußte daher beseitigt werden. Dann aber fand ein Ereignis statt, das eigentlich Habes Vater allein betraf. Es war wie ein Fluch, weil es auch auf den Sohn weitreichende Auswirkungen haben sollte, da die Feinde des Vaters wie in Hitlers „ Sippenhaftung “ auch den Sohn mit angriffen, und zwar ohne jemals aufzuhören. Die Angriffe dauerten über den Zweiten Weltkrieg hinaus, ja über den Tod Habes hinaus mit einer unentrinnbaren Gewalt wie eine antike Schicksalstragödie. Keineswegs die gesamte „ Galerie von Feinden “ wurde dadurch geschaffen, aber ein wesentlicher Teil davon. Ein anderer wesentlicher Teil rekrutierte sich aus Nationalisten und Antisemiten, die wenigstens wirklich ihn selbst meinten und die ebenso wenig aufgaben oder ausstarben. Als die Aktienkurse ins Bodenlose fielen und die Börse zusammenbrach, wurden Schuldige gesucht. Als sich herausstellte, daß Habes Vater nicht spekuliert und kein Geld verloren hatte, tauchte plötzlich die Anschuldigung auf, er sei ein Erpresserjournalist. Da die Beschuldigungen nicht zu einer Verhaftung ausreichten, begannen die Gegner „ Material “ aus seiner Zeit als Jugendlicher und aus seinen journalistischen Anfängen in Ungarn zusammen zu tragen. Es begann eine Art Kesseltreiben durch Materialsammlungen und Veröffentlichungen. Besonders gefährlich wurde es, als sich der Verbrechensjäger Karl Kraus in seiner Fackel gegen Békessy wandte, wodurch die gesamte große Kraus-Gemeinde gegen ihn stand. Békessys Verhaftung wurde in Konzertsälen, in Parlamentsdebatten und in eigenen Broschüren gefordert. In Kabaretts wurden Einakter über den Erpresser gespielt. Sein Name tauchte auf den Titelseiten aller Zeitungen auf. Habes 3 Jugend und Studium in Wien Schulkollegen erkundigten sich ironisch, wie es ihm gehe. Im Haus konferierten jede Nacht etliche Rechtsanwälte, Graphologen, Sterndeuter und Wahrsager, die Békessys Salon belagerten und ängstlich um die Zukunft befragt wurden. Es wurde bis zuletzt keine Anklage erhoben, weil der Vater nach Paris ging. Wäre aber Anklage erhoben worden, wäre er zweifellos sofort von Ungarn ausgeliefert worden. Von Gegnern angezettelte Prozesse brachten auch ihnen kein Ergebnis. Erst später übersiedelte er dann nach Ungarn. Es ist verständlich, daß der Sohn eine schwere Vater-Neurose davontrug. Aber es ist wirklich unverständlich, daß dieses Kesseltreiben auch gegen den Sohn immer wieder neu aufflackerte, sei es aus Haß oder Neid oder nur aus einer Karl- Kraus-Verehrung heraus. Als mitten im Zweiten Weltkrieg Habes Vater in New York allen Leuten, die er kannte, stolz erzählte, sein Sohn würde die Millionenerbin Eleanor Davies heiraten, erhielt Eleanors Vater, der Botschafter Joseph E. Davies, von einer ganzen Gruppe von Gegnern des Vaters Békessy einen anonymen Brief, in dem der Sohn Habe mit sehr konkreten Angaben beschuldigt wurde, ein Lügner, Hochstapler und Schwindler zu sein. Er, der in der französischen Armee gekämpft hatte und mehrmals ausgezeichnet worden war, wurde als Feigling bezeichnet, der den Krieg friedlich in Cannes überlebt hätte. Botschafter Davies zeigte Habe vertraulich den Brief, der innerhalb von vierundzwanzig Stunden die Lügen durch Dokumente widerlegte. Botschafter Davies lud ihn ein, das Wochenende mit der Familie in Palm Beach zu verbringen, wo Mrs. Davies ein traumhaftes Märchenschloß besaß. Habes Instinkt sagte ihm aber, daß er nicht zu dieser Gesellschaft gehörte, und sagte ihm auch, daß die einzige, die das so klar erkannte, seine Feindin, nämlich die künftige Schwiegermutter, Mrs. Davies war. Das war nicht ein primitives soziales Vorurteil seinerseits. Er hätte keineswegs ein europäischer Hocharistokrat sein müssen, er hätte auch viel ärmer sein können, als er war, wäre er nur etwas dümmer gewesen, dann hätte ihn Mrs. Davies mit offenen Armen aufgenommen. Einmal, als sich ihre Verwandte Barbara Hutton mit ihm in ein Gespräch einließ, bemerkte er, wie der Blick von Mrs. Davies „ seit Minuten vielleicht auf mir geruht war und es war kein Zweifel, daß sie in meinem Blick die Ironie wahrgenommen hatte, die weniger der Erbin galt als der Gesellschaft, der sie angehörte. Daß ich den Frack besser zu tragen wußte als die meisten Gäste, täuschte meine einzige würdige Gegnerin keinen Moment. Sie, und sie allein hatte unter dem steifen Frackhemd den verkleideten Fallschirmjäger entdeckt. “ 3 Um aber zur Flucht von Habes Vater nach Budapest zurück zu kehren: Habe wollte nicht mit seinem Vater nach Budapest gehen, sondern er wollte in Wien bleiben und sich selbst gegen alle Widerstände durchsetzen. Im Sommer 1929 machte er in Wien die Matura und genoß sodann im Geburtsort seiner Mutter 3 Ich stelle mich, op. cit., S. 418 4 Jugend und Studium in Wien am Plattensee in vollen Zügen das Gefühl der Freiheit. Dann brachte ihn seine Mutter nach Heidelberg, wohin der Vater ihn geschickt hatte, in der Annahme, ihm hier die Geborgenheit der deutschen Universitätsstadt zu verschaffen, die er in Wien in Frage gestellt sah. Der Sohn hatte auch selbst seiner Freundin Margit mitgeteilt, die Wiener wüßten genau, was sie tun: „ Sie hassen mich und ich hasse sie. Du weißt nicht, wie ich diese Stadt hasse. Alles, was sie tun, ist verlogen. Sie sind stolz auf ihre ,Gemütlichkeit ‘ , aber sie sind nicht gemütlich, sondern kleinlich und bösartig. Sie faseln vom ,goldenen Wiener Herzen ‘ , aber sie haben kein Herz. “ 4 Ganz gegen des Vaters Plan kam es in Heidelberg zum ersten direkten Zusammenstoß mit Antisemiten. Es sollte nicht der letzte sein. Habe hatte sich einer farbentragenden, schlagenden Verbindung angeschlossen. Die Frage nach dem Religionsbekenntnis hatte er wahrheitsgemäß mit „ evangelisch, helvetisches Bekenntnis “ beantwortet. Er wußte, daß die Verbindung keine Juden aufnahm, die alle als feige galten. Er wollte ihnen seine Überlegenheit im Fechten beweisen und siegte in jedem Duell. Er erhielt den ehrenvollen Beinamen „ Degen “ , bis der für seine Aufnahme zuständige Kommilitone ihn zu sich bat. Er zeigte ihm einen Zeitungsausschnitt aus der Deutschösterreichischen Tageszeitung, dem Organ der österreichischen Nationalsozialisten, drei Jahre alt. Der Titel lautete: „ Der Jude Békessy flieht nach Budapest. “ Habe verließ Heidelberg und fuhr nach Wien. 4 Ich stelle mich, op. cit., S. 180 5 Jugend und Studium in Wien JOURNALIST IN WIEN In Wien wurde der Neuzehnjährige Korrespondent der ungarischen Montagszeitung Reggeli Újság. Sein Vater schrieb an den Chefredakteur, Regierungsrat Ernst Klebinder, und bot ihm einen Nachrichtenaustausch zwischen Wien und Budapest an. Klebinder sagte zu und so lernte Habe einen der großartigsten, aber auch korruptesten Journalisten kennen. Klebinder war es, der ihm den Auftrag gab, für den Reggeli Újság Bundeskanzler Dr. Ignaz Seipel um ein Interview zu ersuchen, und der ihm empfahl, für das Interview nicht seinen wirklichen Namen, sondern ein Pseudonym zu benützen. „ Hans - Hans - Hans Habe “ schlug Klebinder vor. Habe verstand nicht gleich und so erhielt er die Erklärung: „ Hans Békessy - Ha-Be. “ So entstand sein Pseudonym und der Bundeskanzler zeigte Sympathie für den neunzehnjährigen Interviewer. Diese Beziehung führte hinein in den nächsten Krach Habes mit den Antisemiten. Eines Abends im Jahr 1931 lud ihn der Bundeskanzler ein, ihn zu besuchen. Er teilte Habe mit, von Bundespräsident Miklas mit der Regierungsbildung betraut worden zu sein, und übergab ihm für die Budapester Presse die Namensliste der neuen Regierungsmitglieder. Habe gab die Namensliste nach Budapest durch und war entsetzt, am nächsten Morgen in den Wiener Tageszeitungen zu lesen: „ Regierungsbildung Seipel gescheitert. Dr. Schober mit der Regierungsbildung beauftragt. “ Dieser war Wiener Polizeipräsident und durch die blutige Niederschlagung der Unruhen vor dem Justizpalast zum Massenmörder von 1927 geworden, den Karl Kraus damals auf Riesenplakaten aufgefordert hatte, als Polizeipräsident zurück zu treten. Dr. Johann Schober war aber auch Vertreter der Großdeutschen Partei. Habe war daher verzweifelt. Am darauf folgenden Abend empfing ihn Dr. Seipel wieder und berichtete ihm, daß in der vergangenen Nacht um zwei Uhr früh plötzlich der deutsche Gesandtschaftsrat Carl Clodius auf dem Ballhausplatz erschienen war und dem Bundespräsidenten mitgeteilt habe, daß das Deutsche Reich gegen die Ernennung Dr. Seipels protestiere. Im Interesse der geplanten Zollunion zwischen den beiden Staaten, solle der Bundespräsident Dr. Schober zum Bundeskanzler ernennen. Um drei Uhr früh habe der Bundespräsident daraufhin Dr. Schober mit der Regierungsbildung beauftragt. Es war eine ungeheuerliche Einmischung in die Rechte eines souveränen Staates gewesen. Am darauf folgenden Morgen hatte Habe diesen Vorfall in seiner Zeitung beschrieben. Es war ein unerhörter Coup in der Zeitungsgeschichte. Alle Zeitungen übernahmen den Bericht. Der Ballhausplatz und die Deutsche Botschaft hüllten sich jedoch in Schweigen. Der radikale Dr. Schober aber war nicht so klug. Er wandte sich um Hilfe an einen seiner Parteifreunde, der kein anderer war als der spätere NS-Bürgermeister von Wien Ingenieur Hermann Neubacher. Dieser schrieb sofort in der Wochenzeitung Der Anschluß einen schreierischen Leitartikel gegen Habe: „ Man ist ausgerechnet dem Söhnchen des Erpressers Békessy aufgesessen. “ Damit wurde Habe als Lügner gebrandmarkt. In der Zwischenzeit war ein für Habe überaus unerfreuliches Ereignis eingetreten. Dr. Seipel war aufgrund seiner Erkrankung plötzlich ein sterbender Mann, weilte zur Kur abgeschottet in einer Klinik in Meran, und konnte keinen Rat geben. Daher wandte sich Habe an Dr. Seipels designierten Vizekanzler Carl Vaugoin, der ihm riet, Neubacher sofort auf Ehrenbeleidigung zu klagen und der ihm einen guten Anwalt empfahl. Da Habe nach österreichischem Recht noch nicht einmal volljährig war, mußte sein Vater seine Zustimmung zur Großjährigkeitserklärung geben. Habe ging nicht ohne Bangen zur Gerichtsverhandlung. Obwohl er im Recht war, konnte dies nur ein Mann mit Sicherheit bestätigen: Dr. Seipel, der von den Ärzten bereits aufgegeben sterbend im Sanatorium Wienerwald im niederösterreichischen Feichtenbach lag. Habes Nervosität war stündlich gewachsen. Er wußte, daß seine ganze Zukunft vom Ausgang dieses Prozesses abhing. Der angeklagte Neubacher war nicht einmal persönlich erschienen, sondern ließ sich von einem jungen, energischen Rechtsanwalt vertreten, Dr. Arthur Seyss- Inquart, der neun Jahre später als kurzfristiger Übergangs-Bundeskanzler Hitler zur Besetzung Österreichs einladen sollte und der aufgrund seiner Tätigkeit als Reichskommissar für die besetzten Niederlande in Nürnberg zum Tode verurteilt worden war. Kurz vor Eröffnung der Verhandlung wurde dem Vorsitzenden ein eingeschriebener Brief übergeben. Er enthielt eine eidesstattliche Erklärung, die der sterbende Dr. Seipel im Sanatorium Wienerwald abgegeben hatte. Nach der Verlesung des Briefes verzichtete der Verteidiger Neubachers darauf, den Wahrheitsbeweis zu führen und ersuchte nur um eine milde Strafe. Neubacher wurde zur gerichtlichen Höchststrafe verurteilt. Einen Tag später, trat die „ Regierung Schober “ zurück. Der Anschluß Österreichs an Deutschland war damit noch einmal abgewendet. Als am 14. September 1930 die NSDAP einen großen Wahlsieg errungen hatte, fuhr Habe zur „ Siegesfeier “ in den Berliner Sportpalast, um als Auslandsjournalist Hitler zu interviewen. In einem Nebenraum waren nach der Rede Hitlers mit ihm Goebbels und zwei Dutzend Gehilfen versammelt. Das Zwiegespräch wurde zu einem seltsamen Dialog, in dem jede Frage von einem ganzen Chor beantwortet worden war. „ Die Antworten des Führers waren so hohl und nichtssagend, daß es Dr. Goebbels auffiel; er forderte Habe bald auf, ihn zu einer anderen Versammlung zu begleiten. In seinem Wagen gab er ihm ein Interview, das zwar voll demagogischer Phrasen war, aber immerhin Hand und Fuß hatte. 8 Journalist in Wien Es war nicht sein Fehler, daß Habe ihn nicht ernst nahm, als er Hitler in jedem zweiten Satz hervorstrich. “ 1 Kurze Zeit später erhielt Regierungsrat Klebinder wiederholt Anrufe, in denen eine Männerstimme sagte: „ Schicken Sie nach Braunau am Inn, wenn sie etwas Interessantes über Hitlers Abstammung erfahren wollen. “ Am nächsten Tag sagte der Anrufer: „ Hitler hieß gar nicht Hitler. “ Habe wollte unbedingt nach Braunau fahren und so ließ ihn Klebinder endlich fahren. Er gab sich beim Hotelportier als deutscher Journalist aus, der ein Buch über den großen Mann vorbereite, und dieser verwies ihn an einige Familien, die Hitlers Familie gekannt hatten. Schon am ersten Tag stieß er auf den Namen Schicklgruber. Den Abend verbrachte er in der lokalen kleinen Bar und freundete sich mit der Bardame Hilde an. Am zweiten Tag erfuhr er, daß Hitler zwar nicht unehelich geboren war, daß sein Vater aber Schicklgruber geheißen hatte, während die Mutter eine geborene Hitler war. Sie hatte eine unverheiratete, reiche Schwester, die nicht wollte, daß der Name Hitler aussterbe und die ihren Reichtum jenem ihrer Schwäger versprach, der seinen Namen in Hitler umzuwandeln bereit war. Der kaiserlich-königliche Zollbeamte Schicklgruber war dazu bereit. Habe hatte das alles dokumentiert und wollte am nächsten Tag mit dem Schnellzug nach Wien zurückfahren. Am Abend besuchte er wieder die Bar. An einem Tisch saßen vier SA-Leute, die nichts tranken. Seltsamerweise ging Hilde mit einem kühlen Kopfnicken an ihm vorbei. Bald darauf aber saß sie plötzlich an seinem Tisch und sagte schnell und leise: „ Die wissen, weshalb Sie hier sind. Heute Nacht wollen sie mit Ihnen abrechnen. Mein Verlobter sitzt am Tisch hinter Ihnen. Er ist aus Amstetten und sein offener Mercedes steht im Hof. Tun Sie, als ob Sie auf die Toilette gingen. Zahlen Sie nicht. Setzen Sie sich in den Wagen. Rudi wird versuchen, Sie durch zu bringen. “ Habe befolgte den Rat genau. Der riesige Architekt kam und sie fuhren ab. Obwohl er das Gaspedal ganz durchtrat, vernahmen die beiden hinter dem Wagen die heulenden Motoren von mehreren Motorrädern. Habe begann um sein Leben zu fürchten, aber der Architekt blieb gelassen. „ Sie schaffen ’ s nicht. Alte Puch-Maschinen. Kommen mit dem Mercedes nicht mit. “ Er hatte Recht. Die Motorräder fielen zurück. Habe schrieb seinen langen Bericht. Den Leitartikel verfaßte ein Dr. Goldschläger, der schrieb: „ Herr Hitler hat soeben gefordert, daß alle Juden ihre ursprünglichen Namen wieder annehmen mögen. Das thüringische Innenministerium wird Herrn Hitler zweifellos gestatten, sich wieder Schicklgruber zu nennen. “ Wenige Stunden später erschien die Extra-Ausgabe mit der Schlagzeile „ Hitler heißt Schicklgruber. “ Eine Million Exemplare wurden nach Deutschland 1 Ich stelle mich, op. cit., S. 217 9 Journalist in Wien geflogen und - vierundzwanzig Stunden bevor die Deutschen zu den Wahlurnen gingen - in den Wahlkampf geworfen. Habe schlußfolgerte zuletzt, er hätte nie geglaubt, daß Lächerlichkeit tötet und er wüßte bis heute keinen anderen Weg, Diktatoren zu töten, als sie physisch aus dem Weg zu räumen. Der in Wien lebende Habe gab ausgezeichnete Analysen über die politischen Verhältnisse in Österreich. Trotzdem erklärte er zugleich, er hätte auch in dieser Zeit „ am Rande der Politik gelebt “ . Von Kindheit an, hätten ihn Literatur und Kunst, vor allem der Mensch selbst viel zu sehr bewegt, als daß er ein einseitiger „ Homo Politicus “ hätte werden können: „ Der musische Mensch und der politische Mensch sind Gegenpole. “ 2 Es war nur so, daß es dem denkenden Menschen unmöglich war, zum Hitlertum keine Stellung zu beziehen. Hitler ließ ihm keine Wahl. So blieb er in Wien und wurde mit dreiundzwanzig Jahren Besitzer, Herausgeber und Chefredakteur der großen Zeitung Morgen - Wiener Montagsblatt. Diese letzte im austrofaschistischen Österreich damals noch erscheinende liberale Zeitung, die Habe leitete, fiel der Polizeizensur des angeblich demokratischen Österreich zum Opfer. Er ging zurück nach Genf, wo er bereits ab 1932 nicht nur Korrespondent verschiedener Zeitungen in Wien war, sondern auch beim Völkerbund in Genf, unterstützt durch seine reiche Frau. Er fühlte sich nicht zum Politiker bestimmt, hatte aber seine Beziehung zur Gesinnung gefunden, die ihn nicht mehr loslassen sollte. 2 Ich stelle mich, op. cit., S. 263 10 Journalist in Wien JOURNALIST IN GENF Er genoß in Genf ein komfortables Leben, war Berichterstatter beim Völkerbund und Korrespondent der damaligen sehr angesehenen Weltzeitung Prager Tagblatt. Er wußte sehr genau, wie stolz er darauf sein konnte, von dieser einmaligen Zeitung anerkannt und zum ständigen Mitarbeiter gemacht worden zu sein. Wir verdanken Max Brod die wichtigsten Hinweise auf dieses einmalige Blatt. Bereits in seinem Roman Rebellische Herzen hat er es als eine „ Irrlichter Plantage “ beschrieben. Die berühmten großen europäischen Zeitungen hielten auf Fassade. Im Prager Tagblatt wurde alles abgelehnt, was an das Fassadenhaft- Imposante oder „ Tierisch Ernste “ - so nannte man es hier - auch nur von fern erinnerte. Es wurde nach einem eigenen Prinzip redigiert, wodurch es ein europäisches Kuriosum wurde. Es war eine Sehenswürdigkeit, die nirgends ihresgleichen hatte und seine Berühmtheit dem Umstand verdankte, daß es ein ausgezeichnet informierendes, verläßlich gemachtes Blatt war, gescheit und temperamentvoll, freiheitlich, farbig interessant, manches Mal von hohem literarischen Niveau. Es gehörte zum Stil der Mitarbeiter, alles so perfekt wie möglich und ohne Phrasen zu berichten und dabei den Anschein zu erwecken, als ob alles mühelos von selbst ginge, „ wie zum Spaß “ . Welches Blatt hatte noch solche Mitarbeiter wie Anton Kuh, Alfred Döblin, Egon Friedell, Arnold Höllriegel, Siegfried Jacobsohn, Franz Kafka, Theodor Lessing, Franz Molnar, Hans Natonek, Johannes Urzidil, Alfred Polgar, Leo Perutz und Joseph Roth. Max Brod hat aus seinem früheren Roman später ein eigenes Buch, Das Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion, gemacht. Friedrich Torberg hat dem Prager Tagblatt ein ganzes Kapitel in seinem Buch Die Tante Jolesch gewidmet. Habe war stolz, dazu zu gehören, und litt trotzdem darunter, weil er so dumme, ja entsetzliche Nachrichten aus Genf zu berichten hatte. Einem seiner Themen von Berichten für das Prager Tagblatt, der Konferenz von Évian, die im Juli 1938 auf Initiative des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt stattfand, um die Möglichkeiten der Auswanderung von Juden aus Deutschland und Österreich zu verbessern, hat er siebenundzwanzig Jahre später ein eigenes und eines seiner relevantesten Bücher gewidmet. Er litt nicht nur unter dem Eindruck der Konferenz von Évian, sondern er litt auch nicht weniger unter der Beobachtung, wie man im Genfer Völkerbund glaubte, durch schöne Reden und papierene Gesetze den rasenden Giganten Hitler überwinden zu können. In jenen Genfer Jahren hatten sich aber auch zwei der wesentlichsten privaten Erlebnisse Habes ereignet. Das erste war eine - verglichen mit den vielen Erlebnissen Habes mit Frauen - ganz unübliche und besondere Geschichte seiner Liebe zu Wanda. „ Wie soll ich sagen “ , fragte er, „ daß dieses Gefühl anders war, als alles, was ich vorher empfand und seitdem? “ Ein Jahr lang hatten sich die beiden fast täglich im gastlichen Haus eines Freundes gesehen, ohne daß ein Wort über Liebe gefallen wäre, obgleich sie einander sehr liebten. Wenn der Abend kam, ersannen sie beide, unabhängig von einander, hundert Vorwände, um einander zu sehen, in Gesellschaft und nie allein. Sie gestanden einander auch nie, weshalb sie Ausflüge vorschlugen, Picknicks arrangierten, Abendessen gaben. Hand in Hand mit diesem Erlebnis ging ein anderes, denn plötzlich begann Habe zwölf bis vierzehn Stunden am Tag zu arbeiten. Weil er ein tiefes Unbefriedigtsein mit seiner Tagesarbeit empfand. Jahre lang war der schöpferische Drang zu schreiben verrammelt gewesen und seltsamerweise „ ahnte er nicht, wer die Falltür geöffnet hatte “ . Er schrieb an seinem ersten Roman und ein ungewöhnliches Wunder, wie die Liebe zu Wanda, sollte auch der erste Roman werden. Zwar war er selbst kein Emigrant, aber das Erlebnis der Flucht vor dem Hitlertum hatte ihn tief beeinflußt und der Roman Drei über die Grenze wurde zum ersten Exilroman der Hitlerzeit. Er vollendete den Roman in drei Monaten und er wurde ein überwältigender Erfolg. Ein kleiner Genfer Verleger, Wilhelm Kessler, nahm zuerst das Buch zögernd in seinen „ Union Verlag “ , aber ehe es noch im Druck erschien, hatte ein Londoner Agent Habe an Vernon Bartlett empfohlen und dieser ihn an einen der ersten Verlage Englands, George G. Harrap, vermittelt, die Firma, die alle seine weiteren Bücher verlegen sollte. Die „ Book Society “ , Englands führende Buchgesellschaft, setzte ihn auf ihre Empfehlungsliste. Der New Yorker Verlag Dodd, Mead & Company erwarb die amerikanischen Rechte. Der Roman erschien in achtzehn Sprachen, darunter Russisch und Chinesisch. Es war der erste Exilroman der geschrieben wurde und zum ersten Mal war gezeigt worden, wie das Innere Deutschlands einem Gefängnis glich und wie viele Menschen um ihr Leben flohen. Das erste Kapitel des Romans, „ Die Landstraße “ , war das eigentliche Fluchtkapitel. Aufgelockert und zugleich spannungsverstärkend hatten innere Monolog-Stellen dem Ganzen atemberaubende Lebendigkeit verliehen. Drei Deutsche fliehen am selben Grenzübergang in die damals freie Tschechoslowakei, wo sie in Sicherheit sind: Die junge, hübsche Nora von Geldern und der Generaldirektor Dr. Kieser fliehen, weil sie Juden sind, Richard Sergius flieht, weil er bei seiner Verhaftung als kommunistischer Funktionär aus Notwehr einen Nazibonzen durch einen Faustschlag getötet hat und jetzt in ganz Deutschland gejagt wird. Rückblickend im Jahr 1954 schrieb Habe, daß er sich in Richard Sergius selbst beschrieben hatte, und klagte darüber, daß ihm die Personen nach lebenden Modellen mißlangen und die Produkte seiner Phantasie lebendiger waren. Das stimmt ganz besonders im Fall von Dr. Kieser, dessen Schicksal von 12 Journalist in Genf packender Tragik war und wo die Zusammenhänge auch politisch stimmten. Denn als im Roman die beiden Kriminalbeamten Dr. Kieser sagen, er würde aus England ausgewiesen werden, da geschieht dies im England des Premierministers Neville Chamberlain. Das war 1937, im Jahr des Erscheinens des Romans. Aber jener Neville Chamberlain, hatte zwei Jahre später die Tschechoslowakei in peinlicher Hitlerfreundlichkeit an Deutschland verraten. Wieder ein Jahr später lag allerdings die Freiheit Europas für einige Zeit allein auf den Schultern Englands, freilich eines Englands unter der Führung Churchills und kaum jemand anderer hätte dies durchhalten können. Weniger stimmen im Rückblick die Zusammenhänge mit Richard Sergius als Kommunistenführer. Im Jahr 1936 konnte man sich freilich nicht vorstellen, daß es jemals zwischen Hitler und Stalin eine Verständigung geben könnte. Als jedoch drei Jahre später der Hitler-Stalin-Pakt zustande kam, Außenminister Ribbentrop nach Moskau flog und nach seiner Landung das Orchester der Roten Armee das Horst-Wessel-Lied intonierte, da hätte Habe sein Alter Ego im Roman zu allem Möglichen, aber gewiß nicht zu einem Kommunistenführer gemacht. Wenn man das Buch aber aus seinem Erscheinungsjahr 1936 heraus betrachtet, dann hat es viele wirkliche Stärken, von denen die wohl wichtigste die lebendige und richtige Zeitschilderung in Deutschland ist. Das war auch das Problem mit dem zweiten Roman: Eine Zeit bricht zusammen. Es hatte über sechshundert Seiten und sollte eine umfassende Monographie Wiens werden. Wenn Habe klagte, daß außerhalb des deutschen Sprachraums kein Verleger es drucken wollte, dann lag es nicht an Habes mangelnder Kunst, sondern am Mangel an Interesse an diesem Thema. Er hatte das Buch 1938 geschrieben und es war in dieser Zeit, in welcher er den Namen Békessy ganz fallen ließ. Allerdings hat er von Zeit zu Zeit eine Reihe von Pseudonymen gebraucht: Antonio Corte, Frank Richard, Frederick Gert, John Richter, Hans Wolfgang und Alexander Holmes. Schon wenige Tage nach Vollendung des zweiten Romans und der Rückkehr aus dem Sommerurlaub wurde Habe die Gefährlichkeit der Situation klar. Hitler hatte im Sportpalast seine Forderungen an die Tschechoslowakei verkündet. „ Die lethargische Welt erwachte plötzlich zum Bewußtsein “ , schrieb er, „ daß es ein Ungeheuer durch Duldung genährt hatte. “ Aber darum, weil Habe selbst erwacht war, folgte ihm keineswegs der gesamte Rest der lethargischen Welt nach. Habe hatte jedoch seine Entscheidung für sich getroffen: „ Ich war nicht furchtlos von Natur, aber ich wollte den Krieg. “ Er hielt die Freiheit für so unteilbar wie den Frieden und er glaubte an die berechtigte Empörung der Gerechten, er glaubte an den Kreuzzug. Er erlebte, wie in der Nacht vom 23. zum 24. September 1938 auf dem jährlichen Ball des Präsidenten des Völkerbundes „ auf dem Vulkan getanzt wurde “ . Kurz vor Mitternacht brach plötzlich die Musik mitten im Tanz ab. 13 Journalist in Genf Dann suchten alle Augen den halb blinden irischen Ministerpräsidenten Éamon de Valera, der gerade Präsident der Völkerbundversammlung geworden war, doch dieser war verschwunden. Habe traf auf den tschechischen Geschäftsträger beim Völkerbund Jaromír Kopecký, der ihm berichtete, die Verhandlungen seien abgebrochen, Chamberlain hätte das Hotel Dreesen verlassen. Die kleine Entente und die Balkanstaaten hätten neuerlich ihre Solidarität bekundet. Man rechnete noch vor dem Morgen mit einer Kriegserklärung. Aber der Krieg brach nicht aus. Am Tag nach dem Ball hing alles noch in Schwebe. Am Abend sprach Hitler im Sportpalast, am darauf folgenden Sonntag wurden die abgebrochenen Verhandlungen wieder aufgenommen. Die Münchner Konferenz wurde beschlossen. Am 28. September traf Neville Chamberlain auf dem Flugplatz Croydon in London ein. „ I believe, it is peace for our time “ , sagte er zu den Journalisten. Sollte er wirklich daran geglaubt haben, dann war er einer von wenigen. In Genf glaubte kein Mensch daran. Die Tage der Hochspannung wurden von Resignation abgelöst. Daß der Völkerbund tot war, war jedermann klar. Die Delegierten packten ihre Koffer und strebten, so schnell sie konnten, ihren Hauptstädten zu. Sie waren nicht die einzigen, die wußten, daß der Kniefall vor der Aggression neue Aggression und Krieg bedeutete. Krieg unter viel schlimmeren Voraussetzungen. Habe schrieb seinen dritten Roman zur Klarstellung des Tatbestandes, der am 31. August 1939 in Emil Oprechts Europa-Verlag in Zürich erschien. Es ist ein Liebesroman, aber das Buch ist einem weltpolitischen Kampf gewidmet, nämlich den sechzehn Tagen der Verhandlungen zwischen dem englischen Premierminister Neville Chamberlain und Adolf Hitler um die Geschicke der Tschechoslowakei, einem Kampf, der mit der Kapitulation der Freiheit endete. Habe hat den Roman unmittelbar unter dem Eindruck dieser Kapitulation geschrieben und der Kritiker der Herald Tribune hatte ihn zu Recht den „ Liebesroman “ genannt, „ vor dem Goebbels zitterte “ . Am 5. April 1940 hat Goebbels denn auch sämtliche Bücher Hans Habes in Deutschland verboten. Die sechzehn Tage der zarten Liebe zwischen dem Deutschen Anton von Römer und der Deutschen Vera Hagenauer im Genf der neutralen Schweiz verlaufen parallel zu den sechzehn Tagen der Verhandlungen zwischen Chamberlain und Hitler. Aber diese Parallele ist nicht nur eine rein chronologische, sondern sowohl Anton als auch Vera machen angesichts dieser Verhandlungen eine tief greifende innere Entwicklung durch. Der Tod Veras am Ende der sechzehn Tage wirkt fast wie eine Ankündigung des Riesenverbrechens des Zweiten Weltkrieges, den Hitler alsbald danach vom Zaun gebrochen hat. Der Roman ist so aufgebaut, daß er als Ganzes, wie sonst nur eine kurze Novelle, in einen Rahmen gestellt ist. Der Öffnungsrahmen trägt den Titel „ Geschichte einer Geschichte “ und der Abschlußrahmen besteht aus den letzten dreieinhalb Seiten des letzten Kapitels. Er hat keine eigene Überschrift, sondern 14 Journalist in Genf einen wichtigen Anfangssatz. Die beiden Teile des Rahmens sind dadurch gekennzeichnet, daß sie kursiv gesetzt sind. Die Hauptfunktion des Öffnungsrahmens besteht darin, darauf hinzuweisen, daß es nicht um einen einfachen historischen Roman mit einer einmaligen Handlung geht, sondern daß seine Handlung das Beispiel eines allgemeinen Kampfes darstellt, wie er sich in der Geschichte oftmals wiederholt: des Kampfes der Kapitulation der Freiheit. Auf eine bestimmte Parallele wird sogar hingewiesen und es heißt: „ Die Parallelen sind in der Tat unheimlich. “ Der Kapitulation Chamberlains vor Hitler um des angeblichen Friedens willen wird die Kapitulation des Westens vor der Sowjetunion der „ Entspannung der Siebzigerjahre “ gegenüber gestellt. Letztere „ Entspannung “ wurde besonders lautstark durch die kampflustigen, sogenannten „ 68er “ vertreten. Habe ist nicht zufällig zu einem der Hauptangriffsziele dieser Gruppe geworden, der er sich auch mit Nachdruck entgegengestellt hatte. Mit einem Satz seines Öffnungsrahmens ist er auch direkt darauf eingegangen, indem er schrieb: „ Ich zitiere diese Worte “ Heines, „ weil ich das Zeter der Pharisäer, die mich heute Antifaschismus lehren wollen, mit Gelassenheit betrachte. “ So wie die falsche Entschuldigung Chamberlains für seine Kapitulation vor Hitler der Friede gewesen war, so war die heuchlerische Ausrede der „ 68er “ für die Entspannung gegenüber dem Kommunismus der Antifaschismus. Daß sie gerade auf Habe losgingen, der als Freiwilliger sowohl in der französischen als auch in der amerikanischen Armee gegen Hitler gekämpft hatte, zeigt besonders deutlich die Lächerlichkeit dieser Ausrede. Deshalb hatte Habe auch geschrieben: „ Antifaschismus heißt bedingungsloser Kampf gegen die Gewalt, mit der es, welche Chamäleonsfarbe sie auch annehmen mag, keinen Kompromiß geben kann. “ Der Abschlußrahmen erklärt durch seinen wichtigen, ersten Satz, den letzten der verschiedenen Titel, die der Roman Tödlicher Friede erhalten hat, ein Titel, der ohne diesen ersten Satz einfach unverständlich wäre. Dieser letzte Titel war Staub im September. Als der Roman 1939 zuerst in Emil Oprechts Europa-Verlag in Zürich erschienen war, legte der Gesandte Hitler-Deutschlands im Schweizer Bundeshaus in Bern Protest gegen die Veröffentlichung ein. Bald darauf, an dem Tag, an dem 1.150 Flugzeuge der deutschen Luftwaffe Warschau mit Bomben belegten, verlangte der Schweizer Bundesrat von Emil Oprecht unter der Hand den Roman aus dem Verkehr zu ziehen. Dieser „ Liebesroman “ gefährde die Schweizer Neutralität. Der mutige Emil Oprecht ließ jedoch lediglich einen neuen Umschlag mit einem neuen Titel drucken. Der Roman hieß jetzt nicht mehr Tödlicher Friede, sondern Zu spät? Die englische Ausgabe trug den Titel Sixteen Days. Die Ausgabe, die schließlich 1976 im Schweizer Walter Verlag in Olten erschien, trug den Titel 15 Journalist in Genf Staub im September. Der erste Satz des Abschlußrahmens: „ Der September ist verschwunden im Staub der Geschichte. “ erklärt diesen Titel. Die wunderbare, zärtliche Liebesgeschichte, so einfühlsam und bewegend dargeboten, wie nur ein ganz großer Erzähler es kann, und ein Liebesroman von dichterischer Größe ist im Staub der Geschichte verschwunden, denn die Menschheitskatastrophe des Zweiten Weltkrieges hat durch ihre Gewalt und Grausamkeit alles andere ausgelöscht. Aber der Abschlußrahmen gibt über diese Erklärung hinaus auch noch einen Ausblick auf das Geschick der Hauptpersonen des Romans weit über die sechzehn Tage hinaus. Die Hauptpersonen des Romans sind vor allem Anton von Römer, Ingenieur der deutschen Chemie, der sich seit drei Wochen in Patentfragen in Genf befand, und Vera Hagenauer, die Gattin des deutschen Botschaftsrats Walter Hagenauer, der nicht direkt an der Botschaft arbeitet, sondern für den deutschen Geheimdienst tätig ist. Walter Hagenauer selbst ist eine Person von beschränkter Wichtigkeit, denn er ist ein Vertreter des Bösen und bewirkt nur gegen seinen Willen als Katalysator des Guten, daß die Personen, mit denen er zu tun hat, in eine positive Richtung gedrängt werden. Eine Person von wesentlich größerer Bedeutung ist hingegen der ehemalige deutsche Astronomie-Professor Richard Singer, der nur ein ganz kleines Mansardenzimmer im Hotel bewohnte, in dem vor drei Wochen Anton von Römer abgestiegen war. Der jüdische Intellektuelle und Emigrant wohnte hier bereits seit dem Reichstagsbrand von 1933. Da er Ehrenmitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften gewesen war, hatte er gehofft, im Ausland höflich behandelt zu werden, hatte aber herausfinden müssen, daß sich die meisten Menschen in schlechten Zeiten nicht um die Gestirne des Himmels kümmern, sondern nur um die Astrologie, nach welcher die Sterne die Geschicke der Menschen lenken. Mit heiterer Entsagung, wie sie seinem Wesen entsprang, hatte er sich mit seiner bescheidenen Stellung abgefunden. Er liebte Deutschland mehr als alle anderen im Hotel und hatte sich eine Postkartensammlung mit deutschen Städte- und Landschaftsbildern angelegt. Wenig Liebe vermochte er jedoch für jene Deutschen zu empfinden, die aus dem jetzigen Deutschland Hitlers kommend im Hotel abstiegen. Der wesentlich jüngere Anton von Römer war die ganz große Ausnahme, an welchem der Fünfundfünfzigjährige sogar Gefallen fand. Mehr noch aber als der Professor zum Ingenieur fühlte sich der Ingenieur zum Professor hingezogen. Denn er vermittelte ihm jene Wärme väterlicher Freundschaft, die er zu Hause nie gekannt hatte. Der Professor besaß eine besondere Fähigkeit, ohne sein Mansardenzimmer zu verlassen, die letzten politischen Neuigkeiten zu wissen. Anton scherzte, er beziehe seine Nachrichten von den Sternen. Professor Singer aber kannte nicht nur die neuesten Nachrichten, sondern seine Kommentare dazu waren die besten, und bewiesen oft eine Gabe der Vorausschau auf die Zukunft. 16 Journalist in Genf Als Anton von seinem Verkehrsunfall, der direkt vor dem Hotel stattgefunden hatte, „ nach Hause “ kam, sagte der Professor zu ihm: „ Sie haben Kummer, nicht wahr? “ Anton war noch immer mit seinem Unfall beschäftigt, den der Professor von seinem Zimmer aus genau beobachten hatte können. Er wußte Bescheid. „ Werden Sie die Einladung annehmen “ , fragte er. „ Welche Einladung? “ „ Der deutsche Diplomat hat Sie doch sicher eingeladen mit ihrer Frankfurter Autonummer. “ „ Ja, er hat mich eingeladen. Aber ich werde nicht hingehen. Ich werde ins Spital gehen. “ „ Ist er verletzt? “ „ Nein, sein Chauffeur. “ „ Sie führen bereits Krieg. “ Anton verstand die Anspielung. Er wußte, daß er bereits längst wieder nach Hause hätte fahren können und daß er nach Ausreden suchte, um zu bleiben. Doch der Unfall ließ ihn nicht los. Im Fond des Diplomatenwagens war eine Frau gesessen, die durch die Regentropfen auf der Autoscheibe wirkte, als weinte sie. Jetzt erinnerte er sich an die Augen der Frau, die etwas zu suchen schienen. Im Krankenhaus, in dem er sich nach den gottlob nicht schweren Wunden des Chauffeurs bei diesem erkundigt hatte, traf er auf die Frau aus dem Fond, die aus demselben Grund gekommen war und gerade mit dem Professor des Krankenhauses über die Verletzung sprach. Als sie ihn sah, wandte sie sich an Anton: „ Herr von Römer? Ich habe Sie sofort erkannt. “ Anton begleitete sie, ohne um Erlaubnis zu fragen. Er nahm ihren Arm. Sie klagte, sie sei nicht sicher, wo sie hin gehöre. „ Sie hatten einen so sonderbaren Blick im Auto “ , sagte er und dann bekannte er von sich ein: „ Ich kam hier her, um sie zu treffen. “ „ Ein eigenartiges Rendezvous. “ „ Ich hatte das Gefühl, daß Sie etwas brauchen. “ Sie antwortete nicht. Als sie ein Taxi nehmen wollte, fragte er sie, ob er sie nach Hause bringen dürfe. Sie lehnte ab, aber fragte: „ Ich glaube, mein Mann hat sie eingeladen. “ „ Er war so freundlich. “ „ Kommen Sie heute Abend. “ Die leise, zärtliche Liebe hatte heftig zu keimen begonnen. Auch sie ließ der Autounfall nicht los und ihr Unbehagen der letzten Tage hatte sich plötzlich zu einer Unruhe gesteigert, die sie sich nicht erklären konnte. Zu Hause berichtete der Botschaftsrat Vera, daß von Römer bereits angerufen hatte. Der Botschaftsrat hatte ihm vorgeschlagen, daß sie sich am späten Abend im Moulin Rouge treffen sollten, da er vorher aus dienstlichen Gründen in das Bavaria mußte. Er verriet seiner Frau auch, daß Anton von Römer unter der Beobachtung des deutschen Geheimdienstes stehe, da er sich mit Giftgasen 17 Journalist in Genf beschäftigte. Und er vertraute ihr an: „ Mit dem Ingenieur von Römer ist alles in Ordnung. “ Stimmte das? fragte sie sich. Es konnte nicht stimmen. Der geheime Dienst des Deutschen Reiches mußte sich irren. Alles in Ordnung? Es war nicht in Ordnung, daß man einen fremden Mann durch eine regenverhangene Autoscheibe erblickte und sogleich empfand, man habe ihn schon immer gekannt; gegen Regel und Ordnung verstieß es, daß man erschauerte, wenn man seine Hand berührte; gegen Gesetz und Ordnung war es, daß man den Fremden noch am gleichen Abend zu sehen begehrte und daß man schwieg und log um seinetwillen. Hier war dem geheimen Dienst ein Fehler unterlaufen. Das Moulin Rouge strahlte im Glanz hunderter roter Glühbirnen. An dem Tisch, den der Botschaftsrat bestellt hatte, saß bereits Anton von Römer. Als die Hagenauers gekommen waren, tanzte Anton mit Vera. Der Botschaftsrat trank ihnen zu. „ Wir sehen uns heute zum dritten Mal “ , sagte Anton. „ Wenn man bedenkt, daß wir uns vorher ein ganzes Leben nicht sahen. “ „ Sind Sie dessen so sicher? “ „ Nicht so ganz. “ „ Warum nicht? “ „ Wir haben ein Geheimnis. “ „ Daß wir uns schon lange kennen? “ „ Nein. Daß wir uns am Nachmittag getroffen haben. “ Etwas erwidern? Sie sagte nichts. Ihre Knie zitterten. Das hatte sie oft gelesen, nie erfahren - bis jetzt. Am nächsten Tag hatte Anton eine neue Idee. Nicht für eine schlechte Sache kämpfen, auch wenn sie die des Vaterlandes war und auch nicht zu desertieren, um diese falsche Entscheidung zu vermeiden, sondern für die Befreiung des Vaterlandes zu kämpfen. Als Anton beim Botschaftsrat zum Abendessen geladen war, versuchte er, seinen Blick von Vera zu wenden, während Vera versuchte, ihn nicht anzusehen. Am Ende des Essens brachte der Bursche des Botschaftsrates auf einem Tablett ein Telegramm. Hagenauer öffnete es. Es war so einfach chiffriert, daß er es sofort verstand. Es war die Weisung, Anton von Römer überwachen zu lassen. Es war nicht sehr viel später, daß sich Anton an Freunde von ihm in Schottland wandte, die einen chemischen Betrieb leiteten und anfragte, ob sie bereit wären, ihn anzustellen. Er erzählte es auch Vera und die wollte auch gleich wissen, ob er dann einen weißen Mantel tragen werde, wenn er mit seinen Fläschchen und Retorten arbeitete. Die positive Antwort aus Schottland kam so spät, daß sie erst einlangte, als er Vera verzweifelt suchte und nicht mehr finden konnte, um ihr die gute Neuigkeit mitzuteilen. Eines Tages stand Vera in der Halle des Hotels und fragte: „ Wollen wir etwas spazieren fahren? “ Als er fragte, wohin sie fahren wollte, schlug sie Coppet vor, 18 Journalist in Genf das Schloß und den Park der Madame de Staël. Die meisten Details der Beschreibung von Coppet decken sich mit jener, die Habe in seiner Autobiographie über seinen eigenen Besuch mit Wanda gegeben hatte. Nur einige Details erleben Anton und Vera allein und das Wichtigste ist wohl, was Vera dem Führer über das Schloß berichtet und darüber, was Charles Augustin Sainte- Beuve über Benjamin Constant geschrieben hat: Constant war demnach ein Geist der Passivität, ein ebenso hervorragender wie unglücklicher Geist, eine Vereinigung aller Gegensätze, ein Patriot, der lange keine Heimat gehabt hat, ein zwischen zwei Jahrhunderte Versprengter. Es ging Vera nicht darum, mit ihrem Wissen zu prahlen, sondern Anton einen Spiegel vorzuhalten, wie er war und was ihr besonders viele Sorgen machte. Er hatte ihr weder erzählt, daß er nach Frankreich gegangen war, um sich als Freiwilliger zu melden, noch daß diese Meldung aufgrund von unvorhergesehenen Hindernissen nicht zustande gekommen war. Der Botschaftsrat konnte ihr erzählen, er hätte sich gemeldet, was bedeutete, sie könnte nicht mit ihm, rechnen. Anton hatte genug eigene Probleme. Sein Halbbruder Hermann, der ein großer Nazi-Führer war, versuchte, ihn nach Deutschland zurück zu holen. Nachdem ihm Anton in seinem Hotelzimmer entgegen geschleudert hat, daß sein „ Führer “ wie dessen Anhänger das Volk durch Konzentrationslager versklaven und Verbrecher seien, versucht Hermann es mit Gewalt, und greift zur seiner Pistole, um ihn zu zwingen. Anton erinnerte sich, daß Hermann schon als Kind immer ein großsprecherischer Feigling war und versetzt ihm einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht, durch den Hermann die Pistole fallen ließ, die Anton mit dem Fuß in eine Ecke stieß. Dann gelang es ihm, Hermann aus dem Zimmer zu drängen und die Tür zuzusperren. Ein eigenes Kapitel stellt der Ball des Völkerbundes dar, zu dem der irische Ministerpräsident als Präsident der Vollversammlung geladen hatte. Der Botschaftsrat besuchte gemeinsam mit Vera und Anton den Ball. Etliche Details der Ball-Beschreibung decken sich wieder mit der Beschreibung der Teilnahme Habes selbst an dem Ball, als er als Journalist in Genf gewesen war. Am folgenden Tag berichtete Vera Anton: „ Walter will dich sprechen. Er weiß alles. “ „ Alles, was ist das? “ „ Daß Du das Angebot einer Giftgaserfindung nicht weiter gegeben hast, daß Du Dich zur französischen Armee melden wolltest. Vielleicht noch mehr. Er wird Dich noch heute sprechen wollen. “ „ Meinethalben. “ „ Brich nicht alle Brücken ab! Sei vorsichtig! “ „ Ich habe alle Brücken abgebrochen. “ „ Um meinetwillen! Nicht alle Brücken! “ „ Vera, warum tust Du das alles? Das alles ist gefährlicher für Dich als für mich. “ 19 Journalist in Genf „ Ich liebe Dich. “ „ Warum soll ich dann die Brücken nicht abbrechen? “ „ Die Zeit ist noch nicht gekommen. “ „ Wann wird sie kommen? “ „ Sie wird kommen. “ Sie mußte einen festen Plan haben. Die Entdeckung, daß sie Anton liebte, war nicht alles, was ihr Gewissen auf die Probe stellte. Es wurde ihr auch bewußt, daß sie Walter nie geliebt hatte. Das aber stürzte sie in einen noch tieferen Konflikt. Später versuchte der Botschaftsrat durch eine Kette von Beschuldigungen einen Höhepunkt des Konflikts herbei zu führen. Aber das Ganze ging daneben. Sie erklärte, es gäbe nichts zu beichten und es gäbe nichts zu verzeihen. Sie fürchtete ihn nicht mehr. Sie wußte, daß sie Walter nicht verlassen konnte. Aber sie wußte auch, daß sie auch Anton nicht verlassen konnte. Sie war an ihn gebunden wie Walter an sie. Als der Botschaftsrat einmal überraschend einen ganzen Tag nach Basel fahren mußte, kam es auch zur körperlichen Vereinigung. Vera empfand keine Reue. Oder war es nur, weil sie Hochzeit gemacht hatte, während der Krieg ausbrechen würde. Aber der Frieden wurde wieder gerettet, zumindest vorläufig, durch die endgültige Kapitulation der Freiheit. In einem Gespräch mit Anton sagte ihm Professor Singer: „ Wir kennen nicht den Preis des Friedens . . . Ich glaube, daß es ein fürchterlicher Preis sein wird. “ Es waren letztendlich mehr als sechzig Millionen Tote durch den Zweiten Weltkrieg. Zwei Tage später, am 30. September, dem endgültigen Tag des Friedens, verschwand Vera um halb acht Uhr abends aus ihrer Wohnung, nachdem sie ausführlich Nachrichten im Radio gehört und den Revolver des Botschaftsrats zu sich genommen hatte. Sowohl Anton als auch der Botschaftsrat waren gleicherweise verzweifelt, aber getrennt auf der Suche nach ihr. In diesen Stunden kam es Vera zu Bewußtsein, daß sie nie so glücklich gewesen war, wie in den Armen Antons. Sie war nicht unglücklich, aber sie fühlte sich unfähig, auf das Glück zu verzichten. Als sie ihre Wohnung verließ, wußte sie nicht, was sie mit dem Revolver tun sollte. Sie hatte noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. Sie kannte keinen anderen Gedanken, als Walter zu entfliehen. Als sie in einem Kaffeehaus in ihre Handtasche griff, fühlte sie plötzlich den Revolver. Die Frau des Botschaftsrates und Geliebte Antons hatte sich das Leben nehmen wollen. Aber bedurfte es dazu dieses Gegenstandes? Hatte sie sich das Leben nicht schon genommen? Von einer Brücke, ohne sich zu fragen, ob sie jemand beobachte, ließ sie ihn ins Wasser gleiten. Sie hörte einen dumpfen Ton. Anton hatte ihr den Revolver genommen. Lange stand sie auf das Brückengeländer gestützt. Dann ging sie und schließlich lief sie. Sie fühlte sich verfolgt von jemandem, der sie verhaften wollte, wegen versuchten Lebens. 20 Journalist in Genf Sie übernachtete auf der Bank in einer Kirche. Am nächsten Morgen nahm sie die Wanderung wieder auf. Sie ging an ihrer Wohnung vorbei und blickte zum Fenster ihres Schlafzimmers hinauf. Dort oben schlief Vera Hagenau. Sie selbst konnte tun, was sie wollte. Sie ging zum Wasser des Sees hinunter. Im Gras entdeckte sie einen verlassenen Holzsteg, der ins Wasser führte. Sie dachte an den Park in Coppet und lächelte. Sie ging den Steg entlang und blickte in die Tiefe. Sie sah ihr eigenes Bild im Wasser und dachte, daß sich Anton über sie neigte. Langsam ließ sie sich ins Wasser gleiten. Am Morgen des 4. Oktober, dem Tag der dem Selbstmord Veras folgte, war die Leiche von Fischern bei der Ortschaft Bellerive entdeckt worden. Anton konnte nicht verstehen, was geschehen war. Trauer ist Abfinden mit dem Unabänderlichen, aber in dem Fieber, das ihn schüttelte, war die Sehnsucht nach einem Menschen, der nicht mehr ist. Sie war so lebendig in ihm wie eine Lebende. Sie war schon endgültig fort und noch nicht in die Erinnerung eingegangen. Er fragte, ob sein Gewissen ihn quäle, aber er hörte sein Gewissen nicht, denn Vera war nicht freiwillig in den Tod gegangen. Ein fremder Feind hatte sie sinnlos gemordet. Sie hatte im Leben geschwiegen und sie schwieg auch jetzt und gab den Feind nicht preis. Die Behörden hatten den Selbstmord in einen Unfall umgedeutet und die Kirche schloß sich an. Der Botschaftsrat hatte ihn zum Begräbnis eingeladen. Im Tod gehörte sie wieder ganz ihm. Am Grab sprach der Priester den Segen. Eine kleine Schaufel ging von Hand zu Hand, um etwas Erde auf den Sarg zu werfen. Dem Botschaftsrat folgten einige Beamte des Konsulats, Diplomaten befreundeter Nationen und der blonde Spitzel des Botschaftsrats mit der Brille ohne Fassung. Schließlich kam Anton und nach ihm Professor Singer. Den Blick gesenkt, sah Anton die Füße des Spions und des deutschen Militärattachés, der aus Bern gekommen war, die vor ihm gingen und Vera brauchte nicht mehr zu sagen, wer sie gemordet hatte. Anton von Römer kehrte nicht nach Deutschland zurück, sondern ging nach Schottland. Dem Botschaftsrat wurde nahegelegt, in Pension zu gehen. Professor Singer würde später zweifellos in ein anderes neues Deutschland zurückkehren. Er hatte seinen Freund Anton von Römer auf den Bahnsteig begleitet. Er saß auf einem der gepackten Koffer und sprach ihm Mut zu. „ Sehen Sie, Anton, es gibt keine Lösung, die von außen kommt. Nicht Krieg, nicht Frieden. Wir führen nicht immer Krieg mit den andern, wir führen immer Krieg mit uns selbst. Und mit uns selbst müssen wir Frieden schließen. Verspechen sie mir, daran zu denken? “ Anton versprach es. Als es aber endgültig ernst wurde und der Zweite Weltkrieg ausbrach, zeigte es sich, wie ernst es ihm war, eine Beziehung zur Gesinnung gefunden zu haben. Im Unterschied zu seiner Romanfigur Anton verließ Habe wirklich das komfortable 21 Journalist in Genf Leben in Genf und fuhr nach Paris, um sich als Freiwilliger zur französischen Armee zu melden. Habe hatte verstanden, daß Hitler nur durch einen Krieg beseitigt werden konnte. Obwohl er nicht furchtlos von Natur war, wollte er den Krieg. Als der Krieg ausbrach und die Engländer keine ausländischen Freiwilligen nehmen wollten, fuhr er nach Paris, aber es ging nicht so schnell, wie er gedacht hatte. Am Tag nach seiner Ankunft erfolgte die Kriegserklärung, doch hatte niemand Zeit für ihn. Das Kriegsministerium erklärte nicht zuständig zu sein. Man schickte ihn in die „ École Militaire “ , aber dort wußte man nicht, was zu tun mit ihm. Also schickte man ihn in die Werbezentrale für die Fremdenlegion. Dort war er zwar willkommen, aber er hätte sich für fünf Jahre verpflichten müssen. Also wurde er auf das Polizeikommissariat seines Bezirkes geschickt. Dort erhielt er den freundlichen Rat, wieder in die sichere Schweiz zurück zu kehren. Die offiziöse Organisation, bei der er sich seinerzeit gemeldet hatte, stellte ihm eine Legitimation aus, daß er Freiwilliger war, aber helfen konnte sie auch nicht. Als er in eine Kaserne geschickt wurde, verhörte man ihn zwei Stunden lang, weil man ihn für einen Spion hielt. Da half ihm endlich indirekt weiter, daß er sein Buch Tödlicher Friede geschrieben hatte, das der Schweizer Verleger Oprecht veröffentlicht hatte und in London unter dem Titel Sixteen Days zur Auslieferung bereit lag. Der Verlagsdirektor George G. Harrap schrieb ihm nämlich: „ Wir brauchen nur noch eine Fotografie von Ihnen in Uniform. “ Also ließ er sich im Warenhaus „ Printemps “ eine Uniform machen. Man konnte ihn dort auch gleich fotografieren. Als der Schneider Maß nahm, fragte der Direktor des Warenhauses: „ Wollen Sie denn wirklich Soldat werden? “ Habe bejahte und klagte über sein Schicksal. „ Warum sind Sie nicht früher gekommen? Bei uns muß man Protektion haben. “ Er gab ihm einen persönlichen Brief an den Gesundheitsminister. Habe fand das zwar seltsam, ging aber in das Gesundheitsministerium. Der Minister las den Brief seines Freundes und sagte: „ Es handelt sich also um den Militärdienst. Aber sind sie denn Franzose? “ Der Minister erklärte ihm, daß er ja gar nicht zum Militär müsse und keine Intervention notwendig sei. Habe klärte das Mißverständnis auf: Er wollte ja Soldat werden und erhielt schließlich einen Brief an die Rekrutierungsstelle der École Militaire. 22 Journalist in Genf FRANZÖSISCHER SOLDAT Eine Stunde später war er in der École Militaire. Nach wenigen Minuten war seine freiwillige Meldung angenommen. Nach einer halben Stunde wurde er medizinisch für tauglich erklärt. Dann hielt er seinen Marschbefehl in der Hand. „ Der Rekrut Jean Békessy (Hans Habe) hat sich am Mittwoch, den 18. Oktober, in der Kaserne Glignancourt zu Einkleidung und Abtransport zu melden. “ Nach der Einkleidung wurde er in das Ausbildungslager Le Barcarès transportiert. Die Kette der Enttäuschungen sollte sich aber fortsetzen. Das Lager hatte zuvor als Auffanglager für Flüchtlinge aus Spanien gedient und war einfach elend. Alle Flüchtlingslager, die Habe später, im und nach dem Krieg sah, waren geradezu paradiesisch im Vergleich zu diesem angeblichen Ausbildungslager. Die Verpflegung entsprach der Behausung. Der Ton, der herrschte, wie auch die Vorgesetzten vom Regimentskommandeur bis hinunter zum Sergeanten entsprachen der Fremdenlegion. Die Ausbildung freilich war etwas Besonderes. Nur ein Narr oder ein Saboteur konnte Le Barcarès als Trainingslager für einen europäischen Krieg ausgewählt haben. Die Uniformen stammten aus dem Ersten Weltkrieg und die Bewaffnung war in jeder Hinsicht völlig unzureichend. Habe nahm alles an und war ein Mustersoldat. Nach acht Wochen war er „ Corporal-chef “ und war oftmals besonders belobt worden. Im März 1940 marschierte das „ 21. Régiment de Marche des Volontaires Étrangers “ aus dem Lager von Le Barcarès. Habe marschierte in der ersten Reihe und trug die Fahne des Regiments. Die Geschichte seines Kampfes, seiner Gefangenschaft und seiner Flucht aus der Gefangenschaft hat er in seinem romanartigen Bericht Ob tausend fallen erzählt. Nichts darin ist erfunden. Das Buch ist 1941 in den USA erschienen. Die erste englische Ausgabe erschien 1942 in London, die erste deutsche Ausgabe erschien 1943 ebenfalls bei Hamish Hamilton in London. Nach dem Krieg erschien das Buch auch unter den Gesammelten Werken Habes in Einzelausgaben im Schweizer Walter Verlag in Olten. Daß das Buch in dieser letzten Ausgabe fünf Kapitel mehr hat, soll nicht darüber hinweg täuschen, daß es um nichts erweitert, sondern nur in mehr Kapitel unterteilt worden ist. Das Motto dieses Berichts, das den Titel erklärt, sind die Verse des Psalms 91: 5-7 von denen der siebente und letzte der relevanteste ist: „ Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehn tausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. “ Der Krieg hatte bereits acht Monate gedauert, ohne daß ein Schuß gefallen wäre. Habe war zum Infanterie-Beobachter ausgebildet worden. Als er zu seinem Regiment in das elsässische Mommenheim zurückgekehrt war, hatte der Oberst Alarmbereitschaft angeordnet. In einem Gasthof erlebte Habe den ersten Angriff deutscher Jagdflugzeuge mit Maschinengewehren. Am nächsten Tag brach das Regiment zur belgischen Front auf. Als sie in Saint-Mihiel zum ersten Mal den Besuch des kommandierenden Generals erhielten, hörte Habe wie sein Oberst Debuissy zu ihm sagte: „ Mon général . . . von meinen 2.300 Mann haben 800 keine Gewehre. Wollen wir ohne Waffen Krieg führen? “ Es ging kreuz und quer durch Frankreich. Dreißig bis vierzig Kilometer marschierten sie am Tag, um am Ende nur fünfzehn Kilometer vom Aufbruchsort entfernt zu sein. Die frische Truppe, die aus dem Elsass zum Entsatz der erschöpften Divisionen aufgebrochen war, wurde bereits auf dem Weg nach den blutenden Grenzen aufgerieben. Als Habe später seinen Bericht nieder schrieb, wußte er, daß auch darin eine satanische Planmäßigkeit lag. Es erwies sich, daß das 48. Infanterieregiment, das sie ablösen sollten, davon gelaufen war. Habe beobachtete, wie zwei Kompaniechefs seines Regiments keine Militärkarte besaßen, sodaß sie das Bauernhaus, wo sie sich einfinden sollten, nicht finden konnten. Als Habe einen versprengten Infanteristen des 48. Regiments traf und dieser erfuhr, daß er ein ausländischer Freiwilliger sei, fragte er, weshalb er sich der Armee angeschlossen hätte: „ Ich wollte gegen die Nazis kämpfen. “ „ Was haben dir die Nazis getan? Schön blöd bist du gewesen. “ Oberst Debuissy zog sein Regiment zusammen und gab dem dritten Bataillon des Hauptmanns Revel den Befehl, die Deutschen hinter den Ardennenkanal zurück zu werfen. Schon im ersten Ansturm drängte Hauptmann Revel an der Spitze der 11. Kompanie die fünffache Übermacht der Deutschen zwei Kilometer zurück und eroberte die Südhälfte des Städtchens Le Chesne. Er ließ hinter den Deutschen die Brücke über den Ardennenkanal sprengen. Von Attigny bis Sy hielt die 35. Division die Deutschen beinahe vier Wochen in Schach. Während sich westlich und südlich die Wehrmacht täglich um mehr als 50 Kilometer vorwärts schob, hielt die Spitze, welche sie in die siegreiche deutsche Sedan-Armee getrieben hatten, bis zum großen, endgültigen Zusammenbruch. Einmal, am 8. Juni, war Habe gemeinsam mit dem Rumänen Dr. Barati als Beobachter vorgeschickt worden und war 50 Meter von den deutschen Linien entfernt in einem Unterstand gesessen. Er hatte bereits die vorgeschriebenen zwölf Stunden absolviert und hatte Meldungen von einer geplanten deutschen Offensive durchgegeben, als sein Feldtelefon läutete und der Befehl kam, alle Papiere zu vernichten. Bleich geworden berichtete er das seinem Kollegen Dr. Barati. Der begann sich auch zu fürchten. „ Haben wir Befehl zurück zu gehen? “ „ Nein. “ Als sie Feuer machen wollten, um die Papiere zu verbrennen, protestierte einer der französischen Kanoniere, der mit seiner kleinen Panzer- 24 Französischer Soldat abwehrkanone neben ihnen lag. Also machten sie mit dem Spaten ein Loch in die Erde und warfen die zerrissenen Seiten des Meldehefts und des Chiffre-Buches hinein. Da das Ganze die Gefahr beschwor, sie könnten von den Deutschen gefangen werden, erinnerten sich beide, daß sie dann hingerichtet würden: Habe wegen seiner Bücher und Dr. Barati, der als Militärarzt wirken hatte wollen, aber nicht akzeptiert worden war, und der jetzt als Arzt mit der Waffe in der Hand kämpfte. Barati spielte mit der Kette am Handgelenk, an der die Erkennungsmarke hing. Am Abend stieg Habe illegal in die Ortschaft Noirval hinunter und betrat die leere Kirche. Er kniete in der ersten Bank und betete den Psalm 13: 2: „ Herr, wie lang willst Du mein sogar vergessen? “ Als er auf Zehenspitzen hinausging, entdeckte er in der letzten Bank Oberst Debuissy. Am Waldrand holte ihn der Oberst ein. „ Erinnerst Du Dich an Perpignan? “ fragte er und etwas später: „ Unser Regiment hat sich tapfer geschlagen. “ „ Jawohl, Herr Oberst. “ „ Der General “ , sagte er, „ der General meint: Jeder Fremde weniger ist ein Fresser weniger in Frankreich . . . Wir haben es nicht gewollt. Wir haben uns geschlagen “ , sagte er. Er drehte sich zur Kirche um. „ Möge Ihnen der Herrgott verzeihen. “ Habe verstand nicht, wen er meinte. Noch einmal ging er mit Dr. Barati vor zum Beobachterposten, um zwei Freunde abzulösen. Da die Telefonverbindung unterbrochen war, nahm er den kleinen Portugiesen Firmino Malagrida als Meldegänger mit. Habe und Barati sahen, wie die Deutschen langsam vorrückten, während die eigenen Truppen links und rechts zurück wichen. Barati und Malagrida sahen Habe an. Dieser kritzelte auf ein Blatt eine Meldung und gab sie Malagrida. Er sollte sie dem Oberst oder Oberleutnant Truffy bringen. Eine Stunde später hörten sie einige Deutsche hinter ihrem Rücken sprechen. Wieder eine Stunde später erschien aus dem durch Artilleriebeschuß brennenden Wald der kleine Malagrida und berichtete: „ Sie sind alle fort. “ „ Wer? “ „ Alle. Es gibt keinen Oberst mehr. Der Wald ist leer “ . Barati sprach es aus: „ Sie haben uns vergessen. “ Da entschied Habe: „ Wir gehen. “ Gegen Morgen kamen sie zum leeren Gefechtsstand im Wald. Drei Menschen standen allein sechs deutschen Divisionen gegenüber. Sie marschierten, so schnell sie konnten, die einzige freie Straße entlang. Die Deutschen hatten alle Ortschaften ringsumher in Brand gesteckt. Es gab Stuka- Angriffe, die Bomben auf die Toten auf der Straße warfen, auf der die drei Männer zu fliehen versuchten. Die Beobachtungsgeräte, die sie schleppten, schienen Zentner schwer zu sein. Eine ganze weitere Nacht waren sie marschiert. Als es dämmerte, erreichten sie den Wald von Cornay, wo sie den Obersten fanden. Er lobte ihre Tapferkeit und versprach, alle drei für das Croix de guerre einzugeben. Die drei fielen vor Erschöpfung in einen Bombenkrater und in tiefen Schlaf. 25 Französischer Soldat Später näherte sich Oberleutnant Truffy und winkte Habe zu sich. „ Warum sind wir zurück gegangen? “ fragte Habe. „ Der Oberst ist wütend. Er wollte den Abschnitt nicht kampflos räumen. Aber . . . “ „ Aber? “ „ Ich verstehe nichts mehr. Man hat uns gesagt, daß die Division zu unserer Linken zurück gewichen ist. Wir müßten ein paar Kilometer zurück, um die Linie auszugleichen. Und der Division zu unserer Rechten hat man gesagt, daß wir es waren, die dem deutschen Druck nachgegeben haben. Daß sie sich deshalb zurückziehen müßten. “ „ Ja, aber “ , Habe dachte den Gedanken nicht zu Ende, doch der Oberleutnant fuhr fort: „ So ging es weiter mit der ganzen Front. “ „ Aber das ist doch nicht möglich. Das wäre doch . . . “ auch dieser Satz blieb unvollendet. Truffy ging noch weiter. „ Neun Monate lang wurden die Vorbereitungen sabotiert. Wir wußten es. Aber was sollten wir tun? “ „ Die wollen also den Krieg verlieren. “ „ Sie denken gar nicht einmal so weit. Sie wollen nur Frieden haben, auch mit Hitler. Sie wollen um keinen Preis wahr haben, daß wir in einem Krieg zweier Welten begriffen sind. „ Aber das sind doch Verräter! “ „ Verräter? Sie sind aufrichtig. Denn wir sagen, daß wir für Frankreich kämpfen. Aber es geht nicht um Frankreich. Oder um Deutschland. Wir wagen nicht zu sagen: Ja, wir sterben für eine Idee! Siehst du, wir waren stolz, daß wir diesmal nicht singend in den Krieg zogen. Aber man gewinnt keinen Krieg ohne Gesang. Die Leute, die Du Verräter nennst, stehen auf der anderen Seite. Der Idee der anderen Seite sind sie treu - dem Verrat, der mit dem Pakt von München mit Hitler begonnen hat. “ In Habes Bericht folgt die Schilderung eines neuen, unplanmäßigen und chaotischen Rückzugs. Ein ganzes Kapitel „ Das Verbrechen von Sainte-Menehould “ beschreibt, wie plötzlich in dem Dorf, in dem sie lagerten, alles von Deutschen wimmelte, die sie abschossen. Im darauf folgenden Kapitel wird Oberst Debuissy vom kommandierenden Brigadegeneral erwartet. Es entspann sich folgender Dialog: General: „ Warum so spät, Oberst Debuissy? “ Oberst: „ Wir haben Sainte-Menehould gehalten, so lange wir konnten. “ General: „ Sie hätten sich längst zurückziehen können. Ich habe Sie hier um 21: 00 Uhr erwartet. “ Oberst: „ Es tut mir leid. Wir taten, was wir konnten. Leider war unsere Ausrüstung mehr als mangelhaft. “ General: „ Wie viele Mann sind gefallen? “ Oberst: „ Mindestens fünfhundert. Bei einer normalen Ausrüstung wären es vierhundert weniger gewesen. “ 26 Französischer Soldat General: „ Vierhundert Juden weniger meinen Sie. “ Oberst: „ Die Juden haben sich ebenso tapfer geschlagen wie die Christen. “ General: „ Sie sehen erschöpft aus, Oberst Debuissy. “ Oberst: „ Ich bin müde. “ General: „ Madame Debuissy wird sich freuen, Sie wieder zu sehen. “ Oberst: „ Heißt das, daß mir das Kommando meines Regiments entzogen wird? “ General: „ Das heißt, daß Sie innerhalb einer Stunde in einem Sanitätswagen in den friedlichen Süden gebracht werden. “ Oberst: „ Ich bin weder krank noch verwundet. Ich habe dieses Regiment ausgebildet. Ich gedenke bis zum letzten Atemzug an der Spitze meiner Leute zu bleiben. Mein Regiment hat sich heldenhaft geschlagen, mon général. “ General: „ Wie alt sind Sie? “ Oberst: „ Sechzig. “ General: „ Sie bedürfen der Ruhe. Sie werden in einer Stunde abgeholt. Zugleich trifft Oberstleutnant Landry hier ein. “ Oberst: „ Mein Nachfolger ist schon bestimmt? “ General: „ Jawohl. Genießen sie die wohlverdiente Ruhe. “ Oberst: „ Ist das ein Befehl? “ General: „ Ja. “ Oberst: „ Ich gehorche unter Protest. “ General: „ Ich bin überzeugt, daß Madame Debuissy nicht protestieren wird, Sie wieder bei sich zu haben. “ Eine Stunde später wurde Oberst Debuissy in einen Sanitätswagen verladen und nach Commercy gebracht. Dort wurde die Tragbahre in einen geräumigen Saal gebracht, in dem zwei Generale, ein Brigadegeneral und ein Divisionsgeneral im Gespräch begriffen waren. Der Raum war so groß, daß die Generale annehmen durften, der Oberst würde ihre Unterhaltung nicht hören. Der Brigadegeneral: „ Er wollte um jeden Preis weiter kämpfen. “ Der Divisionskommandeur: „ Diese Fremdenlegionäre sind lauter Scharfmacher. “ Der Brigadegeneral: „ Was soll ich berichten? “ Der Divisionskommandeur: „ Weiß ich nicht. “ Der Brigadegeneral: „ Er hat mir erklärt, daß er gegen die Krankheitsversion protestieren werde. “ Der Divisionskommandeur: „ Ich sage Ihnen ja. Der Mann macht uns dauernd Scherereien. War nichts Belastendes in seinen Papieren? “ Der Brigadegeneral: „ Ich habe seine gesamten Effekten untersuchen lassen. Aber es war nichts dabei, außer einer leeren Flasche. “ Der Divisionskommandeur: „ Alkohol? “ Der Brigadegeneral: „ Vielleicht. “ 27 Französischer Soldat Der Divisionskommandeur: „ Melden sie, daß alkoholische Exzesse eine plötzliche Absetzung notwendig erscheinen ließen. “ Oberst Debuissy, Ohrenzeuge des Gesprächs, schlug die Augen auf. Der Brigadegeneral trat an die Tragbahre. Er versicherte Debuissy, wie sehr er sich freue, ihn wieder zu sehen. Flüsternd teilte er ihm mit, daß er die Absicht habe, ihn für eine hohe Auszeichnung einzugeben. Als er geendet hatte, fragte der Oberst: „ Hat man unter meinen Sachen eine Flasche gefunden? Eine Flasche Jod. Eine Gewohnheit aus Afrika von mir. Ich trage immer eine Flasche Jod bei mir. “ Der General antwortete, daß der Oberst jetzt kein Jod brauchen würde. Noch am selben Tag wurde Oberst Debuissy weiter befördert. Das Regiment erhielt einen neuen Kommandeur. Die kommenden Erfahrungen zeigten, daß sich seine Vorgesetzten über ihn nicht zu beklagen brauchten. Er setzte der Wehrmacht keinen Widerstand entgegen. Im darauffolgenden Kapitel „ Die Hochzeit im namenlosen Dorf “ fällt dann zum einzigen Mal im ganzen Buch der Name der „ Fünften Kolonne “ . Das ist ein künstlerischer Meistergriff Habes. Die ganze erste Hälfte des Buches ist ein Aufschrei der Verzweiflung über diese „ Fünfte Kolonne “ , die heimliche, subversiv tätige oder der Subversion verdächtige Gruppierungen sind, deren Ziel der Umsturz einer bestehenden Ordnung im Interesse einer fremden aggressiven Macht ist. Heute sagt das vielen Lesern nichts mehr. Aber in vielen Arbeiten der politischen und militärischen Geschichte, über Geheimdienstgeschichte und sogar über Geschichte der Literatur der Zeit spielte sie eine wichtige Rolle. Sie ist die Lösung des Rätsels von Hitlers siegreichem Blitzkrieg in Frankreich. In den Arbeiten aber findet sich eine seltsame Übereinstimmung zwischen politisch sehr rechts stehenden Franzosen, die Anhänger der Vichy-Regierung waren und den schreierischen deutschen linken „ 68ern “ , die östlichen Geheimdiensten ihre Existenz verdankten. Beide Gruppen waren sich einig im Abstreiten der Existenz jener „ Fünften Kolonne “ Hitlers in Frankreich. Der Augenzeugenbericht des freiwilligen Kämpfers auf französischer Seite ist zusammen mit anderen Zügen eines der Hauptverdienste dieses Buches. Es ist eine erbitterte Anklage, nicht nur gegen die direkten Verräter Frankreichs auf der Payroll der Gestapo, sondern vor allem auch gegen die Spießer und Mitmacher, die schuldig „ Schuldlosen “ , wie Hermann Broch sie genannt hat, die das Verbrechen erst ermöglichten. Oberleutnant Truffy hatte recht gehabt, als er sagte, es gehe nicht um Nationalismen, sondern um eine Idee. Die Idee ist aber die Einsicht, daß die Freiheit ebenso unteilbar ist wie der Friede und daß alle jene Schwachköpfe und Feiglinge in Wahrheit die bösesten Kriegsverbrecher sind, die glauben, es sei vorteilhafter mit Despoten zu verhandeln. Chamberlain und Daladier, die mit Hitler in München konferierten, waren einfach zu dumm, um zu verstehen, daß sie damit seine Macht noch vergrößerten und alles viel ärger machten. Habe 28 Französischer Soldat macht es in seinem Buch deutlich, daß psychopathisch machthungrige Despoten wie Hitler oder Putin nur durch Krieg beseitigt werden können. Das Buch zeigt auch, wie entsetzlich Krieg ist, ja sein muß und wie nur für geistige Menschen, denen Sklavendasein unerträglich ist, der hohe Preis des Krieges es wert ist, für Freiheit und Menschenwürde zu kämpfen. Ein besonders wichtiges Verdienst sowohl des Buches Ob tausend fallen wie auch der Lebensgeschichte Ich stelle mich ist die zutiefst tröstliche und positive Seite, daß er ein Beispiel gesetzt hat, wie Intelligenz, Einsatzbereitschaft und Mut auch in aussichtslos erscheinenden Situationen eine Chance zur Erreichung des positiven Zieles haben. Sie müssen nicht notwendig zum eigenen Untergang führen, sondern können auch zum Sieg führen. So hoffnungslos gigantisch die französische Schlamperei war, Habe hat die Fahne in Ehre getragen. Und so satanisch raffiniert und vollkommen Macht und Organisation der Gestapo waren, Habe hat sie überwunden. Dabei scheint mir sein besonders tiefes Gottvertrauen, das sich durch seine Bücher zieht, von besonderer Wichtigkeit zu sein. Die zahlreichen und ausführlichen, labyrinthischen Liebesbeziehungen, die sich durch die Lebensgeschichte ziehen, waren zwar im Augenblick des Geschehens von großer Wichtigkeit für ihn, aber im Nachhinein waren sie nur allzu oft bedeutungslos. Der zweite Teil des Buches führt über den Marsch durch Auflösung und Chaos hinein in Habes Gefangenschaft, neue Todesgefahr und Flucht. Er schildert, wie das Regiment durch die Departements Marne, Meuse und Vosges marschierte. Überall wurden die Dörfer und auch Güterzüge der Eisenbahn geplündert, überall gab es betrunkene Offiziere und Soldaten, überall herrschte Chaos. Auf der Landstraße zwischen Nancy und Neufchâteau wurden sie von Oberleutnant Truffy angehalten. Er schickte den Freund Habes voraus und kam mit diesem nach. Truffy sagte: „ Wir dürfen stolz sein auf das Einundzwanzigste Regiment. Von den Überlebenden fehlt kein Mann. Das Regiment hat sich bis hierher durchgeschlagen - ich weiß nicht wie. “ „ Marschieren wir weiter? “ fragte Habe. „ Nein. Wir haben Befehl, die Waffen nieder zu legen. Wir sind vollkommen eingekesselt. Frankreich hat um Waffenstillstand angesucht. “ Habe lag im Wald und schloß mit seinem Leben ab. Würde er gefangen, jüdischer Abstammung, Ausländer und Freiwilliger im Kampf gegen Hitler, so würde das für Hinrichtung oder Folter und langsames Zugrundegehen im Konzentrationslager reichen. Aber das war noch nicht alles. Er hatte drei Romane veröffentlicht, die nach Einmarsch der Deutschen in Wien verbrannt worden waren. Hätte er daheim in Genf bleiben sollen? Nein. In einer Welt zu leben, in welcher Hitler regierte, wäre sinnlos gewesen. Am Morgen des 21. Juni ließ ihn Oberleutnant Truffy rufen: „ Sie haben Befehl, die Straße in Richtung Charmes aufzuklären. Es heißt, daß es noch eine Möglichkeit gibt, über Charmes durchzukommen. “ Als sie dann allein waren, 29 Französischer Soldat fuhr er fort: „ Ist natürlich Unsinn. Kein Mensch kommt durch. Es ist aber nicht notwendig, daß Du draufgehst. Wenn Du mit uns gefangen wirst, kannst Du Deine wahre Identität nicht verheimlichen. Versuch so viele Kilometer als möglich zwischen Dich und uns zu bringen. Wirf Dein Soldbuch weg und auch Deine Erkennungsmarke. Entferne die Nummer 21 von Deinem Kragen. Du hast ungefähr zehn Stunden. “ 30 Französischer Soldat IM DEUTSCHEN GEFANGENENLAGER Habe machte sich gemeinsam mit seinem polnischen Freund Dwonicki auf den Weg. Sie schafften am ersten Tag sechzig Kilometer. Vielleicht konnten sie doch noch durchkommen. Aber dann wurden sie in einem Bauernhaus von den Deutschen gefangen genommen. Im letzten Augenblick konnten beide ihre Soldbücher und Erkennungsmarken in das Herdfeuer der Küche werfen. Als gefragt wurde, ob jemand deutsch kann, meldete sich Habe. Er nahm seinen polnischen Freund Dwonicki mit, als er einem deutschen Unteroffizier und Gefreiten helfen sollte, versprengte französische Soldaten im Wald zu finden. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch wurden die beiden in ein riesiges Gefangenenlager für 40.000 Franzosen auf eine Wiese getrieben. Habe war überzeugt, daß ihm der HERR hier einen rettenden Engel geschickt hatte. Der Engel hatte rote Stiefel an, war blond und jung und blickte fröhlich in die Welt. Als er Habes Problem herausfand, meinte er, Habe könnte eigentlich sein älterer Bruder sein, dessen Verbleib er nicht kannte. Er wollte ihm seine Erkennungsmarke geben. Ihm blieb ja noch sein Soldbuch. Aber Habe meinte, zwei Gefangene mit demselben Vor- und Nachnamen wären in einem Gefangenenlager unmöglich. Doch der rettende Engel gab nicht auf. Er fand heraus, daß sie bald in zwei Gruppen geteilt werden sollten, um in zwei verschiedene Lager abtransportiert zu werden. Sie müßten es nur richtig einrichten, um in verschiedene Gruppen zu kommen. Er gab ihm nicht nur seine Erkennungsmarke, sondern auch einige Briefe seiner Mutter. Habe hieß jetzt Maurice Pionnier. Der Marsch nach Lunéville dauerte drei Tage. Es gab weder etwas zu essen noch etwas zu trinken. Habes Freund Dwonicki war entsetzt, daß er dauernd deutsch sprach. Aber es war der einzige Weg, mit den Wärtern Fühlung zu nehmen. Von dort ging es weiter in Gewaltmärschen endlich in das Lager von Dieuze. Es gab zuerst drei Tage Warten im Regen und wieder nichts zu essen und zu trinken. Habe vermochte sich durch seine Deutschkenntnisse einigermaßen durchzubringen. Als der Lagerdolmetsch Dr. Schneider, ein deutschblütiger Elsässer entlassen wurde, übernahm Habe dessen Stellung. Er entdeckte, daß die Stadt Dieuze jetzt deutsch war, daß aber vierzig Kilometer im Süden davon die französische Stadt Nancy lag. Die Grenze dazwischen wurde von der SS scharf kontrolliert. Da die deutschen Offiziere im Lager Dieuze vor allem für ihre Frauen gerne Seide, aber auch anderes gekauft hätten, wurde nun Habe ins Vertrauen gezogen, um alles in Nancy zu beschaffen. Da sich das Evakuierungslazarett für Dieuze in Nancy befand, wohin die seltenen schweren Krankheitsfälle gebracht werden mußten, wurde Habe zum Rotkreuz-Helfer ausstaffiert und gemeinsam mit einem deutschen Bewacher und einem angeblich Schwerkranken nach Nancy geschickt. Nachdem die erste Expedition gelungen war, folgten mehr Fahrten in das französische Nancy. Habe erfuhr, daß sich die französische Bevölkerung viel patriotischer und mutiger verhielt als so manche Generale im Krieg. Das galt vor allem für Lothringen. Nicht nur die „ Fünfte Kolonne “ war von der Gestapo bestens organisiert worden, sondern auch die Suche nach jüdischen Gefangenen, die als Freiwillige für Frankreich gekämpft hatten, wurde umsichtig und sogfältig organisiert. Das Netz begann sich um Habe zusammen zu ziehen. Als Hauptmann Kohlrausch, der Gerüchten zufolge enge Kontakte mit der Gestapo hatte, dem Dolmetscher und Lagerältesten Habe eines Tages eine Liste von elf Personen übergab, die sich unter falschem Namen im Lager befinden sollten, versprach er ihm einen Urlaub nach Paris zu seiner Frau, wenn er innerhalb von drei Tagen die Versteckten ausfindig machen könnte. Der vierte Name auf der Liste, war Habes eigener Name. Gleichzeitig wurden an alle Gefangenen gedruckte Karten verteilt, die sie nach Hause senden konnten, um ihre Familien von ihrem Schicksal zu verständigen. Es durfte nichts hinzu geschrieben werden als der Name und die Anschrift der Familie. Natürlich konnte keiner der Versteckten eine solche Heimatadresse angeben. Habe fuhr am nächsten Tag zu fünft nach Nancy, um Verbandstoff zu holen. Einer davon war Unteroffizier Daxer, der den Gefangenen Habe zu bewachen hatte. Nachdem die Geschäfte abgewickelt waren, vertraute er sich Habe an: Er wollte ein Bordell besuchen. Habe führte ihn in die Bordellstraße. Während Daxer verschwand, stieg Habe aus und lehnte sich an den Wagen. Da fühlte er sich am Ärmel berührt und etwas glitt in die weite Tasche seines Rocks. Neben ihm standen zwei Mädchen. Während er ihnen dankte, wußte er plötzlich, daß sie ihm helfen würden. Auf seine Frage, wo er sich verstecken könnte, antwortete die Kleine: „ Hotel St. Sebastian, Rue St. Sebastian. “ Inzwischen kehrte Unteroffizier Daxer zurück. „ Was sucht Ihr hier? “ fuhr er die beiden Mädchen an. Aber die Kleine nahm ihn nicht ernst. „ Ich heiße Jeanine “ , sagte sie zu Habe, „ und meine Freundin heißt Irene. Wir sind Kellnerinnen im Restaurant Coq d ’ Or auf der Place Stanislas. “ „ Weitergehen “ , forderte der Unteroffizier und der Wagen fuhr an. Am nächsten Nachmittag hielt Habe Ausschau nach einem Landser als Gefangenen-Begleiter und wählte einen besonders beschränkten Gefreiten. Als neuen Auftrag sollte er für den Lagerkommandanten ein Akkordeon kaufen. Er behauptete, einen Gelegenheitskauf im Restaurant Coq d ’ Or zu wissen. Wäh- 32 Im deutschen Gefangenenlager rend er bestellte, fragte er Jeanine, ob er morgen kommen könnte. „ Morgen und jederzeit. Die Besitzerin erwartet Sie. “ Nach Dieuze zurückgekehrt, suchte er fieberhaft nach einem Begleiter. Es mußte ein Arzt sein, denn nur mit einem Arzt konnte die Fahrt unternommen werden. Er entschied sich für Dr. Petit, den Jüngsten, und weihte ihn in den Plan ein. Als sie im Lazarett ankamen, verlangte der mitfahrende Unteroffizier Daxer, Habe sollte den Kranken herausheben. Der Leutnant-Arzt fiel Habe in den Arm. Dieser übersetzte: Zwei geübte Krankenwärter müßten das tun. Also stürmte Daxer davon, um zwei Krankenwärter zu holen. Habe und der Leutnant gingen zum Ausgang, der unbewacht war. Alles, was Habe wußte, war, daß die Rue St. Sebastian zwischen den vier großen Kirchen von Nancy lag. Schließlich wies der Arzt auf die Kirchen. Bald darauf standen sie in der Rue St. Sebastian und das Haus ihnen gegenüber trug die Aufschrift Hôtel St. Sebastian. Vorsichtig gingen sie einige Schritte hinauf, die Holzstiege knarrte und eine Frauenstimme rief: „ Wer ist da? “ „ Wir “ , antworteten die beiden nicht sehr geistreich. „ Kommt Kinder, . . . ich habe euch erwartet. “ Sie nannte sie Kinder und trotz der Gefahr der Todesstrafe zeigte sie sich als eine wahre Mutter. Sie kleidete die beiden nicht nur neu ein, sondern verschaffte ihnen auch Papiere, mit denen sie nach Dijon fahren konnten, das schon viel näher dem unbesetzten freien Frankreich gelegen war. Sie überlebten eine Razzia im Hotel und fuhren reich beschenkt nach Dijon ab. Freilich gab es hier neue Gefahren. Der Leutnant-Arzt und Habe trennten sich, weil jeder seinen eigenen Weg einschlagen wollte. Habe hatte einen besonders frechen Plan. Er wollte sich als Weinreisender und Schweizer Bürger ausgeben, in der Hoffnung, wenn es gelänge, offiziell einfach noch ganz nach Hause fahren zu können. Der Plan scheiterte nicht nur, sondern er hatte den Verdacht der deutschen Militärbehörden geweckt und hatte allen Grund, so rasch wie möglich aus Dijon weg zu kommen. Es wurden die schwersten Stunden von Habes Flucht. Habe erfuhr, daß die beste Chance in das unbesetzte Frankreich zu kommen in dem kleinen Ort Seurre lag. Er erhielt zwei Adressen, von denen die erste die wichtige zu sein schien. Aber der Mann mißtraute ihm, da er ihn für einen deutschen Agenten hielt, der ihn überführen wollte. Dafür half der Mann von der zweiten Adresse, ein hoch dekorierter Veteran des Ersten Weltkrieges. Er ließ ihn an den Fluß Doubs bringen, der die Grenze bildete, und einer der Fischer versprach ihm, ihn im Dunkel der Nacht überzusetzen. Habe wollte nicht zuwarten. Er bat den Fischer um eine Badehose, band sich seine Wertsachen um den Hals, sprang in den Fluß und schwamm. Ein deutscher Soldat sah ihn und schoß nach ihm. Die Schüsse waren zuerst zu weit rechts, dann zu weit links. Als er ans Ufer kletterte und zurückblickte, sah er, wie der Soldat sein Gewehr an einen Baum lehnte. Er hatte ihn nicht treffen wollen. 33 Im deutschen Gefangenenlager Er traf am Ufer auf einen Fischer, der ihm bestätigte, im freien Frankreich zu sein und der ihm weiterhalf. Noch am selben Abend machte er sich zu Fuß auf den Weg nach Saint-Bonnet, von wo er Verkehrsverbindungen nach Genf hatte. Er grüßte die Menschen, an denen der vorbeikam, die Häuser und die Kühe, die Schmetterlinge in der Luft, die Erde, die duftete, und den Himmel, der nahe war. Singend ging er hinein in den sinkenden Tag. Von Saint-Bonnet schlug er sich bis Annecy durch, wo er in der Kaserne der Chasseurs Alpins demobilisiert wurde. Seine Frau Erika holte ihn in einem teuren, weißen Talbot Sportwagen aus Annecy ab. In das „ heimatliche Genf “ konnte er trotzdem nicht zurück. Der berüchtigte und hitlerfreundliche Chef der Schweizer Fremdenpolizei, Dr. Rothmund erklärte, er hätte keine Lust „ für Herrn Habe mit dem Deutschen Reich einen Krieg anzufangen “ . Europa schien im Sommer 1940 verloren. Es gelang Habes Vater von einem bolivianischen Diplomaten für teures Geld zwei Visa für Habe und seine Frau zu kaufen. Die Visa waren illegal ausgestellt und galten ganz besonders nicht für Bolivien. Aber sie sollten bis zum damaligen Ausfallsland aus Europa - Portugal - reichen. Als Juan und Mrs. Bécessy, geboren in La Paz, machte sich Habe in dem noblen weißen Rennwagen auf den Weg. Habe stand auf einer schwarzen Liste von Franco-Spanien. Dennoch gelang es, gerade durch den teuren Sportwagen, bis nach Portugal zu kommen. Das Abenteuer der Flucht nach Portugal hat Habes Freund Erich Maria Remarque in seinem Roman Die Nacht von Lissabon beschrieben. Obwohl äußerlich eine Diktatur, schlug in Portugal ein demokratisches Herz. In der Tejo-Mündung lagen mitunter britische und amerikanische Schiffe vor Anker und die Wiederwahl von Franklin D. Roosevelt gab einem die Sicherheit, daß man nicht allein war. Es gab zwei Klassen von Ausländern: die Klasse der glücklichen Visumbesitzer und die Klasse der unglücklichen Visumsucher. In Habes Hotel wohnte auch Madame Ninon Tallon, die Vorsitzende des Flüchtlingsausschusses der unitarischen Kirche Amerikas. Als Habe ihr eine englische Übersetzung seines Romans Sixteen Days schenkte, auf dessen Titelblatt Habe stand, den sie nur als Signor Bécessy kannte, fragte sie: „ Warum sind Sie noch hier? In der amerikanischen Botschaft wartet ein Visum auf Sie. “ Zu seiner Überraschung erfuhr Habe, daß er neben Berühmtheiten als Nr. 48 auf der deutschen Liste von Präsident Roosevelts Liste für „ Anti-Nazi-Writers “ stand. Jetzt vollzog sich alles mit amerikanischer Effizienz. Am 20. November 1940 stach Habe auf der amerikanischen USS Siboney in See. Bei der Abfahrt zog er eine Schlußbilanz seines Lebens bis dahin und schrieb darüber in seinem Lebensbericht: „ Ich blicke zurück. Mit Demut und Stolz, und vor allem mit einem Dank ohne Bedingung. Im späten, aber beglückenden 34 Im deutschen Gefangenenlager Wissen, daß das Leben der einzige Zweck des Lebens ist. Ein Mensch zu werden der einzige Zweck der Geburt. Und atmen zu dürfen eine ewige Gnade. “ 1 Bereits auf dem Schiff hatte er ein Telegramm erhalten, in welchem ihn die Vertreterin der Leland-Hayward-Agentur, die seine beiden ersten Bücher nach Amerika vermittelt hatte, mitteilte, wie er sich bei seiner Ankunft im Hafen von New York zu verhalten hatte. Er erfuhr, daß er der erste Entkommene aus der Kriegsgefangenschaft war, der in den USA landete und daß er dadurch eine Sensation war. In New York schrieb Habe in weniger als vier Monaten A Thousand Shall Fall über sein französisches Kriegsabenteuer. Als er darauf zu einer kurzen Erholung nach Cape Code fuhr, erreichte ihn die Nachricht, daß bereits vor dem Erscheinen des Buches die vierte Auflage gedruckt wurde. Bereits das Interesse der Buchhändler garantierte einen Bestseller. Später dachte er oft, daß er dieses Kriegserlebnis nicht bereue und war überzeugt davon, daß er gerettet wurde, um dieses Buch schreiben zu können. Der Verlag Harcourt, Brace & Companie nahm mit Recht an, daß er einen Haupttreffer gemacht hatte, denn das Buch wurde bald darauf unter dem Titel „ Cross of Lorraine “ verfilmt. Durch Erikas Widerstand gegen das inhaltsleere Gesellschaftsleben in New York - sie nahm die Gelegenheit der Verfilmung wahr, um nach Kalifornien zu übersiedeln - und durch das selbstlose Interesse, das die Gattin Hemingways, Martha Gellhorn-Hemingway, seiner Karriere entgegenbrachte, verstand er, daß es klug war, den gesellschaftlichen Erfolgen in New York den Rücken zu kehren. Es ergab sich wieder einmal der Glücksfall einer einmaligen Gelegenheit, als der amerikanische Geopolitiker, Oberst Herman Beukema, Chef der historischen Abteilung der berühmten Militärakademie West Point, der Habes Buch gelesen hatte, ihn einlud, Vorträge darüber für die „ Graduating class of 1941 “ zu halten. So übersiedelte Habe im Herbst 1941 in das von der Armee verwaltete altehrwürdige „ Thayer Hotel “ , das an der U. S. Military Academy in West Point gelegen ist. Der Kommandant der Akademie, General Robert L. Eichelberger, hieß Habe im Namen der Vereinigten Staaten von Amerika in West Point willkommen. Für ihn waren die Vorträge ein Ansporn, endlich Englisch zu lernen. Eine Lehrerin aus der nächsten Ortschaft, Highland Falls, war ihm dabei sehr behilflich. Habe fühlte sich ungewöhnlich wohl in West Point. Auf Geschichte, Geographie und Sprachen wurde ebenso viel Wert gelegt wie auf militärische Tugenden. Die Kadetten sollten den Absolventen von Spitzenuniversitäten wie Harvard und Yale in keiner Weise nachstehen. Habe hat später in der amerikanischen Armee unter den Reservisten nicht immer populäre „ West Pointer “ kennen gelernt und 1 Ich stelle mich, op. cit., S. 378 35 Im deutschen Gefangenenlager die meisten davon an ihrer Bildung, ihrer aufrechten Gesinnung und ihren vorzüglichen Manieren sofort erkannt. In dem West Point benachbarten Vassar College hielt er ebenfalls einen Vortrag. Unter den Zuhörern befand sich Mrs. Eleanor Roosevelt, die sich mit ihm nachher lange unterhielt. Sie machte tiefen Eindruck auf ihn, lud ihn später ins Weiße Haus ein und wurde Taufpatin seines 1942 geborenen Sohnes Anthony (DeBekessy), der aus der dritten Ehe mit Eleanor Close stammte. Eine Einladung nach Washington erfolgte durch Mrs. Eleanor Rand, die Präsidentin eines Hilfskomitees, das hungernden Franzosen in deutschen Gefangenenlagern Liebespakete verschickte. Am Tage seiner Abreise aus New York hatte sich Habe bereits beim „ Local Board Nr. 25 “ der Rekrutierungsstelle seines Bezirks zum zweiten Mal als Freiwilliger gemeldet. Er wollte, wenn möglich, nur noch vorher seinen nächsten Roman Kathrin vollenden. Er hatte ihn 1942 in den USA abgeschlossen. Der Roman Kathrin, sein fünfter Roman, stand seinem Herzen besonders nahe und erhielt nicht die Anerkennung, die er sich dafür gewünscht hatte. Es ist aber ein großartiger Roman über eine ungewöhnliche Frau. Der Gesamttitel lautet Kathrin oder der verlorene Frühling und Frühling steht nicht wörtlich für einen bestimmten Frühling in Kathrins Leben, sondern steht metaphorisch für die Frühphase der jungen Jahre im Leben eines Menschen, in denen die erste Liebe und die Sonnenseiten des Lebens erfahren werden. Kathrin war eine junge Wienerin, die sich, zweiundzwanzig Jahre jung, in der alten österreichischen Monarchie mit einem hübschen Rittmeister verlobte. Damals mußten junge Offiziere, wenn sie heiraten wollten, eine „ Kaution “ hinterlegen, damit in einem Notfall für die Witwe gesorgt werden konnte. Wenn sie nicht wohlhabend waren, konnten sie ein Ansuchen stellten, daß ihnen diese Kaution erlassen wird und Kathrins Rittmeister hatte ein solches Ansuchten gestellt. Aber ehe noch das Ansuchen erledigt war, stürzte er bei einem Hürdenrennen so unglücklich, daß er wenige Stunden später in ihren Armen starb. Sie war im vierten Monat schwanger von ihm und dachte in Bitterkeit an ihn. Er hatte sich aus dem Staub gemacht und sie mit ihrem Kind allein gelassen. Sie besaß den Schlüssel zu seiner Junggesellenwohnung und holte sich aus ihr Geld und Wertgegenstände. Dann kaufte sie sich für die Hälfte des Betrages, den sie zur Seite gelegt hatte, einen Vater für ihr Kind. Sie heiratete einen Grafen Pankraz von Hugh, der doppelt so alt war wie sie, der schon damals keine Zähne mehr und nur wenige Haare hatte und der außer vielen, klingenden Vornamen nichts besaß. Sie beschaffte seine Papiere, bestellte das Aufgebot, gab ihm die Hälfte des Betrages, den er verlangte, schleppte ihn zum Standesamt und verließ ihn darauf sofort. Sie konnte sich legal Kathrin Gräfin Hugh nennen und diesen Namen auch als den Namen ihrer Monate später geborenen Tochter in die Matrikelbücher eintragen lassen. 36 Im deutschen Gefangenenlager Durch etliche Jahre überließ sie ihre Tochter Manuela Ammen, Kindermädchen und ihrer älteren Schwester Gertrude, weil sie jede Minute damit zubrachte, den zweiten Teil des auf die Seite gelegten Betrages dazu zu verwenden, zum gräflichen Namen des Kindes auch das gräfliche Vermögen zu schaffen. Das Geld sollte das Schweigen über die Vergangenheit erkaufen und, um die Vergangenheit ganz verschwinden zu lassen, übersiedelte sie von Wien nach Paris. Man nannte sie nicht umsonst Katharina die Große. Zehn Jahre nach dem Tod des Rittmeisters hatte sie in Monte Carlo Bertrand Lacoste kennen gelernt. Er spielte sehr hoch und es hatten sich bereits Hunderttausende Francs vor ihm aufgehäuft. Hinter dem Mann, dem er dieses kleine Vermögen abgenommen hatte, stand eine Frau. Da wollte er seinem Gegenspieler auch noch die Frau wegnehmen. Er sagte zu ihm: „ Madame scheint Ihnen kein Glück zu bringen. “ Sie aber fragte er: „ Wollen Sie sich nicht hinter mich stellen? “ Kathrin ging wortlos um den Tisch herum und stellte sich hinter ihn. Bertrand Lacoste, der geglaubt hatte, daß ihm Kathrin eine leichte Beute geworden war, mußte ein Jahr warten, bis sie seine Geliebte wurde. Sie wartete bis er ihr im Bois de Boulogne ein Palais kaufte und einrichtete, wo sie ihre Dienerschaft besaß und ihre Tochter mit der englischen Erzieherin aus Wien kommen ließ. Dann gab sie sich nicht nur ihm hin, da sie die Gastgeberin sein konnte, sondern bot ihm das warme, liebevolle Heim, das er zu Hause bei seiner Frau und seinen drei Söhnen nicht fand. So kam er jeden Tag um oder nach fünf Uhr und entschwand Punkt acht Uhr. Er war der Chef und einzige Aktionär der Lacoste Motorenwerke. Zwar verbreitete sich nach einiger Zeit das Gerücht, daß die schöne Frau, die man selten sah und noch seltener Gäste empfing, die Mätresse des Automagnaten war. Aber die beiden zeigten sich niemals zusammen, man hörte keine Skandalgeschichten und der Scheck, den sie jeden Monat erhielt, trug nie den Namen Lacoste. Sie hatte Monate vor der Geburt ihres Kindes gewußt, daß es ein Mädchen werden würde. Sie spürte, daß ein Sohn keine Fortsetzung ihrer weiblichen Existenz darstellen könnte und sie wollte ihre Seele weiter geben wie der Stafettenläufer die Stafette weitergibt, dem nächsten, ausgeruhten, besseren Läufer. Stets bereit, für ihr Kind jedes Opfer zu bringen, begann Kathrin in Paris in einer seltsamen Mischung von Selbstaufopferung und Egoismus die Seele ihres Kindes zu vergewaltigen. Eines Abends, als sie wieder schlaflos und sorgenvoll auf die Heimkehr ihrer Tochter Manuela von einem vornehmen Privatball wartete, ging sie immer wieder auf den Balkon hinaus und zurück ins Bett. Sie wollte nicht, daß die Tochter wußte, daß sie auf sie wartete. Endlich bog ein Wagen aus der Nebenstraße ein und sie hörte erleichtert Manuelas Stimme. Sie versuchte, ohne gesehen zu werden, herauszufinden, was los war und sah am Fuß der wenigen Stufen, die zum Tor führten, zwei Männer stehen, die sich ver- 37 Im deutschen Gefangenenlager abschiedeten. Kathrin trat rasch ins Zimmer zurück. Als Manuela leise die Tür öffnete, rief sie mit verschlafener Stimme, als wäre sie gerade erwacht: „ Bist Du es? “ „ Ja, Mama, ich komme. Ich zieh mich nur schnell aus. “ Sie sprachen durch die halb geöffnete Tür. „ Was glaubst du, wer mich nach Hause gebracht hat? “ Kathrin wußte, daß der erste Freund Manuelas Pierre war, hatte aber keine Ahnung vom zweiten. Die Tochter erklärte triumphierend: „ André Lacoste. “ Das war einer der drei Söhne Bertrands. „ Wie hat er Dir gefallen? “ „ Er ist fad. “ „ Das ist kein Urteil. „ Er tanzt wie ein Nilpferd. “ „ Er soll sehr gut aussehen. “ „ Du warst doch auf dem Balkon! “ Es stellte sich heraus, daß André Lacoste Manuela vier Stunden lang den Hof gemacht hatte, daß er nicht von ihrer Seite gewichen war, daß es schon richtig unangenehm war. Und es stellte sich heraus, daß André gefragt hatte, ob er Manuela am nächsten Tag anrufen dürfe und daß sie es erlaubt hatte. Dann war sie eingeschlafen. Da sie zu ihrer Mutter ins Bett gekrochen war, lag Kathrin auf dem schmalen Platz, der ihr geblieben war mit offenen Augen und schloß sie auch nicht mehr in dieser Nacht. Einer der Hauptstränge des Romans besteht in Kathrins meisterhaften Bemühungen, alle notwendig Beteiligten von der Richtigkeit und Notwendigkeit der Verbindung zwischen Manuela und André zu überzeugen: zuerst Manuela selbst, dann André, daraufhin Andrés Vater Bertrand Lacoste und schließlich sogar Andrés Mutter, die zu überzeugen niemand für möglich hielt. Nur Bertrand Lacoste hatte vermutet: „ Wenn das jemand kann, dann nur Kathrin. “ Es gelang Kathrin tatsächlich, wenngleich für einen hohen Preis: sie mußte ihre Beziehung zu Bertrand aufgeben. Also heiratete Manuela schließlich André Lacoste. Der Roman ist ein Entwicklungsroman, an dessen Ende Kathrin sogar ihr Gewissen entdeckt. Aber der Roman ist darüber hinaus noch mehr. Ganz entsprechend der Forderung Hermann Brochs gibt er eine Totalitätsansicht. Erstens stellt er grundsätzlich eine alte und eine junge Generation der Zeit gegenüber, in der er spielt, wobei die junge Generation recht schlecht abschneidet. Sie läßt die Fähigkeiten wie die Menschlichkeit der alten Generation vermissen. Der Roman gibt aber auch noch in einer zweiten Hinsicht eine Totalitätsschau, indem er die rein private Fabel von individueller Liebe oder Enttäuschung in das politische Umfeld der Zeit einbaut. Der Roman beginnt am Anfang des Ersten Weltkrieges, im Kriegswinter 1916, und reicht hinein bis in den Anfang 38 Im deutschen Gefangenenlager des Zweiten Weltkrieges. Er stellt dadurch überdies eine Verbindung zu Habes dritten und vierten Roman (Staub im September und Ob tausend fallen) dar: den Pakt von München, der im Mittelpunkt des dritten Romans steht, und in der Vorausschau kündigt er auch das Versagen der französischen Armee und das Gelingen der „ Fünften Kolonne “ an, die den vierten Roman dominieren. Diese Einbindung in die politischen Verhältnisse überschneidet sich überdies mit dem Generationenproblem, denn die junge französische Generation legt nicht den Heldenmut der alten Generation im Ersten Weltkrieg an den Tag. Und die junge deutsche Generation arbeitet und kämpft für Hitler. Der Roman schließt mit einem „ Epilog “ , der nicht nur eine Zusammenfassung des ganzen Bisherigen darstellt, sondern der auch eine Vorausschau auf die spätere Entwicklung vor allem der zwei Hauptpersonen Bertrand und Kathrin gibt. Es zeigt sich, daß die junge Generation versagt, während die alte Generation sowohl reifer als auch glücklicher wird. Bertrand erklärt Kathrin, daß er alle drei Söhne verloren hat, auch die beiden, die Kathrin gar nicht gekannt hat und die noch physisch am Leben sind. André war im Krieg zur Armee gegangen, hatte sich zu einem Himmelfahrtskommando gemeldet, bei dem er tatsächlich umkam. Er hatte die ganze Zeit ohne Wärme gelebt. Als er Manuela geheiratet hatte, hatte sie plötzlich alles Interesse an ihm verloren, wodurch er verzweifelt war. Den zweiten Sohn René hatte Bertrand verloren, weil er der Spielleidenschaft verfiel, und als er schließlich hohe, unbezahlbare Spielschulden gemacht hatte, einen Scheck fälschte. Vom dritten Sohn Paul war ihm klar, daß er absichtlich Unruhe in seinen, Bertrands, Betrieb geschaffen, ihn sabotiert hatte. Das hatte tiefere Hintergründe. Bertrand wollte auf Wunsch des Kriegsministeriums den Betrieb auf Flugzeuge umstellen, um gegen Hitler besser gerüstet zu sein, aber Paul hatte sich bereits der „ Fünften Kolonne “ verschrieben. Bertrand wußte und erklärte es auch, daß die Söhne für Millionen junger Menschen standen. Und das alles, weil die Welt vor einer Sintflut stand, nur daß es dieses Mal nicht Wasser, sondern Feuer regnen würde. Als er erklärte, man könnte kein Mensch sein, ohne zu leiden und Kathrin fragt: „ Haben wir genug gelitten? “ , da entdeckte er zum ersten Mal, wie schön sie wirklich war. Das leitete bereits über zur alten Generation. Kathrin bemerkte jetzt umgekehrt an Bertrand, daß zwar keine Freude und Jugend mehr in seinem Gesicht war, dafür aber ein solcher Frieden, daß sie spürte, ihn erst jetzt wirklich zu lieben. Kathrin hatte im Epilog auch erkannt, daß sie ihre Tüchtigkeit oft mißbraucht hatte, „ um Gott zu spielen “ , was das Böse schlechthin war und damit entdeckte sie ihr Gewissen. 39 Im deutschen Gefangenenlager Die beiden Vertreter der alten Generation wissen, daß sie einander nie so geliebt haben wie jetzt, in dieser Spätzeit. Sie saßen da und blickten wortlos auf ihre Hände, die gealtert waren. Aber vielleicht verbanden sie sich gerade deshalb so sehr miteinander, daß sie nicht mehr wußten, wem die eine Hand gehörte und wem die andere. Bertrand blieb jetzt auch fast immer noch lange nach acht Uhr abends. Als er einmal aber gehen mußte und seinen Pelz anzog, da sagte sie, wie besessen von einem Einfall: „ Komm Bertrand “ und führte ihn in ihr Schlafzimmer hinauf. Manuela schlief im Bett ihrer Mutter. Sie lag zusammengekauert, die Knie angezogen, einen Polster umklammernd. Bertrand preßte Kathrins Arm an sich. Sie standen wortlos nebeneinander. In dem großen Schweigen war nichts anderes zu hören, als das regelmäßige Atmen des Mädchens. 40 Im deutschen Gefangenenlager AMERIKANISCHER ABWEHROFFIZIER Über Habes Beziehung zu Eleanor Rand, ihren Stiefvater, den Boschafter Roosevelts in Moskau, und dessen Gattin Marjorie Davies ist schon das Signifikanteste gesagt worden. Die künftige Schwiegermutter, die mit ihrem gesunden sozialen Instinkt erkannt hatte, daß Habe nicht in ihre Gesellschaft gehörte, entwickelte sich zur Gegnerin seiner bevorstehenden Hochzeit. Als Habe aus Palm Beach von der Familie Davies abreiste, sagte er zu Mrs. Davies: „ Am 1. Mai gehe ich auf eine Vortragsreise durch alle Armeelager. Es ist Krieg; ich halte das für eine glänzende Hochzeitsreise. Wäre Ihnen der 22. April als Hochzeitstag genehm? “ „ Eleanor ist viel kränker, als Sie annehmen, Hans “ , erwiderte Mrs. Davies. „ Ich glaube, wir sollten Eleanor diese Entscheidung überlassen “ , erwiderte Habe. Einige Tage später traf Eleanor in New York ein. Zur Hochzeit war die Familie Davies nur durch einen Onkel vertreten. Habes Eltern waren da. Das Paar machte sich auf die Hochzeitsreise mit der Bahn, mit dem Flugzeug, mit dem Jeep zu hundertvier Trainingslagern. Nach der Rückkehr nach Washington gab es jene Art von Gesellschaftsleben, von Einladungen und Gegeneinladungen, wie Habe sie kaum aushalten konnte. Seine Einberufung zur amerikanischen Armee kam als Weihnachtsgeschenk des Jahres 1942. Im Januar rückte er ins Camp Upton auf der windigen Halbinsel Long Island zur Armee ein. Zum zweiten Mal wurde Habe ein begeisterter Soldat. Allerdings wurde er bereits nach wenigen Wochen in das Büro des Generals gerufen, wo ihm in höchst geheimnisvoller Weise ein versiegelter Marschbefehl übergeben wurde. Außerdem eine Fahrkarte nach Baltimore, wo er Instruktionen erhalten würde. In Baltimore wurde er in einen Armeelastwagen verfrachtet. Nach einigen Stunden Fahrt schlug der Wagen einen schmalen Pfad ein, der in die Berge führte. Hinter dem Tor des durch einen Drahtverhau umzäunten Armeelagers ging es zu Fuß weiter. Habe glaubte zu träumen, als eine Kompanie uniformierter SS-Soldaten an ihm vorbeimarschierte. Ein deutscher Militärlastwagen, wie er ihn aus dem französischen Gefangenenlager kannte, ratterte vorbei. Zwei deutsche Offiziere saßen steif im Fond des Wagens. Gleich darauf begegneten sie drei oder vier japanischen Soldaten. In der Schreibstube, in einer nüchternen, amerikanischen Armeebaracke, erfuhr er, daß er sich im „ Military Trainings Center “ in Camp Ritchie in Maryland befinde, einem Ausbildungslager des amerikanischen militärischen Geheimdienstes. Auf Veranlassung des Feldwebels holte ihn ein Gefreiter ab, um ihn zu seiner Baracke zu führen. Es gab neue Überraschungen. Der Gefreite entpuppte sich sofort als ein ehemals bekannter Komiker aus Wien. In der „ deutschen Baracke “ wurde er mit freudigem Hallo begrüßt. Zur einen Seite war sein Bettnachbar Hans Wallenberg, Sohn des früheren Chefredakteurs der BZ am Mittag. Auf der anderen Seite schlief der Schütze Klaus Mann, Sohn von Thomas Mann und selbst bedeutender Romanautor. Habe war sicher, daß es niemals ein seltsameres, aber auch lustigeres Armeelager gegeben hat. Die Küche wurde vom Chefkoch des New Yorker Luxushotels Waldorf Astoria geleitet. Das Lager hatte seine eigene, intern funktionierende Rundfunkstation und die Programme wurden täglich in fünf oder sechs Sprachen gesendet. Im großen Speisesaal hörte man kein Wort Englisch, aber mehr als ein Dutzend anderer Sprachen. Die größte Mehrheit der Abwehr-Rekruten waren noch nicht amerikanische Staatsbürger, rund die Hälfte waren Hitler-Emigranten, weniger als fünf Prozent waren in Amerika geboren. Daß diese „ Ritchie Boys “ , wie sie sich selbst nannten, von einem einmaligem Korpsgeist der Zusammengehörigkeit vereinigt waren, die sich an allen Fronten bewähren sollte, tatsächlich den Krieg gewannen, ist vielleicht etwas zu weit gegriffen. Aber zwei Tatsachen stehen zu ihrer Ehre wie zu jener Amerikas fest: Sie dienten in den geheimsten Missionen, aber nicht einer hat je sein neues Vaterland verraten. Hunderte sind gefallen oder wurden verwundet, die meisten sind mit hohen Orden zurückgekehrt. Aber all das wäre unmöglich gewesen, ohne das große Vertrauen, das ihnen die Vereinigten Staaten Franklin D. Roosevelts entgegen brachten. Die Franzosen hatten die Flüchtlinge vor Hitler entweder in Lager gesperrt oder aber in Himmelfahrtsregimenter mit unzureichender Bewaffnung gesteckt, wo sie rasch genug zugrunde gehen würden. Amerika hat das Kapital entdeckt, das es mit ihnen besessen hatte. Als Habe, nun bereits Unteroffizier, im beschleunigten Verfahren in Hagerstown die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, wußte er, daß er nach einer Woche Heimaturlaub bald seinen Marschbefehl erhalten würde. Er erhielt ihn bereits am Tag seiner Rückkehr. Als Mitglied der „ Ersten Amerikanischen Rundfunkeinheit “ wurde er auf das Kriegsschiff USS Barnett eingeschifft und es ging in einem Konvoi im Zick- Zack-Kurs zur Vermeidung deutscher U-Boote über den Atlantik einem unbekannten Ziel entgegen. Nach der Einfahrt in die Straße von Gibraltar, die durch einen ganzen Wald von Masten britischer Kriegsschiffe erfüllt war, bahnte sich die USS Barnett ihren Weg durch die stürmische Frühlingsnacht des Mittelmeers nach Oran. In der bewegten Hauptstraße von Oran traf Habe den amerikanischen Auslandskorrespondenten John T. Whitaker, der Oberstleutnant beim Office of Strategic 42 Amerikanischer Abwehroffizier Services (OSS) der aktiven Spionageeinheit der Armee war. Dieser fragte ihn, ob er bei einer interessanten Operation mitmachen wollte und Habe sagte gerne zu. Whitaker, ein arabisch sprechender Leutnant und Habe machten sich auf den Weg zum Palast eines arabischen Stammesfürsten in der Wüste, wo ein Geheimsender vermutet wurde, der den deutschen U-Booten Nachrichten zukommen ließ. Sie mußten vorher Schuldbeweise ausfindig machen, bevor amerikanische Militärpolizisten in das Stammesfürstentum eindringen konnten. Bei der Führung durch das Schloß zeigte ihnen der Fürst ein märchenhaft eingerichtetes Billardzimmer und er litt darunter, daß niemand sonst Billard spielte. Er war überglücklich zu erfahren, daß Habe Billard spielte. Der Stammesfürst begann Billard zu spielen und vergaß darüber Whitaker und den Leutnant, die sich um den Geheimsender kümmerten. In einer Scheune neben dem Palast entdeckten sie den Sender. Der Leutnant wurde ausgeschickt, die nächste Militärdienststelle zu benachrichtigen, und um vier Uhr früh wurde die Scheune von einer Kompanie Militärpolizisten besetzt. Der Sohn des Stammesfürsten hatte den Sender betrieben, war aber verschwunden. Habe machte die einfache Landung in Sizilien mit und die schwierige bei Salerno. Schließlich fand er wieder zu seiner Abteilung zurück. Er wurde dem 5. Armeekommando unter General Mark M. Clark unterstellt und machte zuerst mit der 82. US-Luftlande-Fallschirmjäger-Division die Eroberung von Neapel mit. Er drang mit einigen Offizieren und Mannschaften seiner eigenen Abteilung als einer der ersten in Neapel ein und fand eine alte, von den Italienern vor Jahren aufgegebene, aber leicht reparierbare alte Radiostation. Die Deutschen hatten Radio Neapel in die Luft gesprengt. Aber vierundzwanzig Stunden später meldete sich der amerikanische Armee-Rundfunk über die alte Station als „ Radio Neapel “ wieder. Habe wurde Oberleutnant. Bald darauf wurde er zurück nach Washington beordert, wo er den Befehl erhielt, ein eigenes, geheimes Trainingscamp zu errichten und zu leiten. Er sollte vier neue Kompanien für die Landung in Frankreich vorbereiten. Das Lager hieß „ Camp Sharpe “ und befand sich in der Nähe von Gettysburg. Schon im August und noch vor der vollen Ausbildung der vier Kompanien wurde er 1944 nach England geschickt und der 12. US-Heeresgruppe unter General Omar N. Bradley unterstellt. Er drang tatsächlich in Paris ein, vollbrachte Heldentaten bei der Beseitigung von Heckenschützen auf der Place de la Concorde, die er in seinem Lebensbericht gar nicht schilderte. Mit jener Mission in Paris beginnt der sechste Roman Habes, Wohin wir gehören, der 1946 erschien. Er ist einer der am wenigsten bekannten und zugleich großartigsten Romane Habes. Im Jahr 1947 erschien die englische Fassung von Wohin wir gehören unter dem Titel Aftermath. Aftermath bedeutet wörtlich Spätheu oder Nachmahd, aber hier ist der Begriff metaphorisch gemeint, denn der größte Teil des Romans spielt in der Nachkriegszeit. Der Roman ist so fesselnd und bedeutend durch seine Lebendigkeit. In den meisten Romanen 43 Amerikanischer Abwehroffizier Habes steckt ein Stück von ihm selbst, aber der Held des Romans Wohin wir gehören ist geradezu eine autobiographische Figur. In seiner Autobiographie hat Habe als „ den “ Helden des Romans die Figur des Major Ogden genannt, der erkennt, daß er dahin gehört, wo er sein Bestes leisten kann. Ein deutscher Kritiker wollte zwei Haupthelden sehen, außer Peter Ogden auch seinen Freund John Stroud. Stroud war Ogdens - Habes - bester Freund und Habe hat sehr genau gewußt, was er hier geschrieben hat. Die Worte des Titels werden auch der Frau, die Peter Ogden liebt, Maria, in den Mund gelegt. Einmal sagt sie, daß sie nach Berlin ging, weil die dahin gehöre, und ein anderes Mal sagt sie es vom bayrischen Ort Oberndorf, in dem sie sich nach dem Krieg niedergelassen hat. Der Ort, wo man hingehört, muß also nicht einzigartig, absolut und ewig gültig sein, sondern er kann wechseln. Peter Ogden hat ganz ohne Zweifel im Krieg in die Spezialeinheit der amerikanischen Armee gehört, in die er als „ Ritchie Boy “ kommandiert worden ist, aber nach dem Krieg entscheidet auch er sich für Oberndorf, wo sich die geliebte Maria niedergelassen hat. John Stroud, der im Krieg und in den ersten Nachkriegsjahren als Oberst Kommandant eines einzigartigen Riesenlagers mit deutschen Kriegsgefangenen gewesen ist, hat ebenso zweifellos dorthin gehört, wie er danach herausfand, daß er endgültig wieder - wie vor dem Krieg - Strafverteidiger im Gericht von Spokane, seiner Heimatstadt im Staat Washington, zu sein hat. Das erste Plädoyer, das er nach seiner Rückkehr in Spokane hält, ist von einer solchen Gewalt und Wirkung, daß er einerseits weiß, daß er nach Spokane gehört, andererseits ist ihm zugleich klar, daß er diese Wirkung und Gewalt den menschlichen Erfahrungen verdankt, die er als Lagerkommandant gesammelt hatte. Den Schluß des Romans bildet ein Brief, den Peter Ogden aus München seinem Freund John nach Spokane schreibt. Der Brief enthält die Beschreibung der Geburt eines Kindes, welches das polnische Mädchen Wanda geboren hat. Wanda war als ehemaliger Leutnant in der polnischen Armee nach ihrem Kampf gegen die Deutschen in ein Lager von „ Displaced persons “ gesteckt worden, das sie kurz verließ, um den Lagerkommandanten Oberst Stroud kennen zu lernen, weil sie den SS-Offizier sucht, der ihre ganze Familie getötet und sodann sie selbst zwischen den Leichen vergewaltigt hat. Da Stroud ihr helfen will, bleiben sie in Verbindung und es dauert nicht lang, bis Stroud sich zu einer eigenen Überraschung unsterblich in sie verliebt. Als sie schwanger wurde, nahmen alle, die davon wußten, vom behandelnden Arzt bis zu Stroud selbst an, daß sie eine Abtreibung wollte. Zur Überraschung aller erklärte sie, daß sie das Kind unbedingt behalten wollte, obwohl sie wußte und es auch wollte, daß Stroud zu seiner Familie nach Spokane zurückkehren würde. Die Geburt dieses Kindes beschreibt Peter Ogden, der mit Maria bei der Geburt anwesend war und der abgesehen von einem kurzen Augenblick vor dem Tod bei Sterbenden noch nie 44 Amerikanischer Abwehroffizier einen solchen Ausdruck der Seligkeit gesehen hat, wie jenen, der nach der Geburt über dem Antlitz Wandas lag. Die Beschreibung dieser Geburt gehört hier her, weil sie den Ort, wo man hingehört, nicht völlig in Frage stellt, aber doch kräftig relativiert. Durch die Stellung der Beschreibung als Abschluß des ganzen Romans wird die allgemeine Wichtigkeit und große Bedeutung ihrer Ideen noch unterstrichen. Peter Ogden schrieb: „ Weißt Du, was der kleine Mann besitzt, der heute geboren wurde und von dem ich behaupte, daß er nicht zufällig wie ein winziger Greis aussieht? Er ist reicher als Du und ich, John. In ihm ist Amerika und Europa, das Alte und das Neue, das Freie und das Unterdrückte, das Hungrige und das Satte, das Sichere und das Suchende. In ihm ist das Leiden seiner Mutter, die erfahren hatte, was Knechtschaft ist, und in ihm bist Du, der Befreier sein durfte. In ihm sind Ost und West und Kleinstadt und Großstadt und Land und Fabriken und die Erde zweier Kontinente und der Himmel, der sich über allen Kontinenten wölbt. Im ihm ist die Welt, John, nach der wir gestrebt haben, aber die Du und ich nicht finden konnten. Er ist das Kind zweier Sieger. Aber über seiner Wiege stand Maria. Und auch das ist gut so, glaube mir. Denn Sieg und Niederlage sind in der Welt nicht zu trennen. “ Solche menschheitsumfassende Selbstverständlichkeit ist Aufgabe und sollte das Bestreben jedes Autors sein und Habe besitzt sie. Im Fall des „ Kindes “ hebt sie die Wichtigkeit des Ortes, an den man gehört, auch keineswegs auf, aber es relativiert ihn. Denn auch das Kind wird als Erwachsener seinen Ort finden können, an den es gehört. Wie schon erwähnt, enthält der Roman noch mehr autobiographische Parallelen zwischen Habe und dem Helden Peter Ogden als die meisten anderen Romane. Peter Ogden hat nach dem Krieg als Major abgerüstet wie Habe selbst. Im Roman gehört Peter Ogden zur OSS, der aktiven Spionageeinheit des militärischen Geheimdienstes der USA. Der wirkliche Hans Habe gehörte zur Abwehr des militärischen Geheimdienstes, für den er als „ Ritchie Boy “ ausgebildet wurde, und er hat einmal sogar selbst ein solches Ausbildungslager geleitet. Einzelne Aktionen des Peter Ogden stimmen ganz mit jenen von Habe selbst überein. Zum Beispiel, daß er einer der ersten in Neapel war, noch bevor die amerikanischen Truppen es einnahmen oder der erste in Paris. Auch heißt es einmal ausdrücklich, daß Peter Ogden 1911 in Europa geboren wurde, was auch auf Habe zutrifft. Wie Habe selbst ist auch Peter Ogden zum ersten Mal von Europa zurück nach Amerika auf dem Truppentransporter USS General J. R. Brooke gefahren. Wie Habe selbst ist auch Peter Ogden bei seinem ersten Einsatz in Europa zunächst in Nordafrika gelandet. Auch den Einsatz im Traumpalast eines arabischen Stammesfürsten haben beide in gleicher Weise absolviert. 45 Amerikanischer Abwehroffizier Dazu kommt noch, daß eine andere Person des Romans nach dem Modell einer wirklichen Verwandten von Habe gezeichnet wurde. Die einflußreiche und mächtige Mrs. Barbara Draper im Roman gleicht völlig der Schwiegermutter Mrs. Davies von Habe, die in Florida ein Märchenschloß besaß. Habe selbst hat es in seiner Autobiographie bestätigt. Gleich das erste Kapitel des Romans beginnt mit der Habe nachgezeichneten Mission Peter Ogdens in Paris. Drei Tage bevor amerikanische Truppen die Stadt einnahmen, war er in Zivilkleidung auf einem Fahrrad von Rambouillet durch die deutschen Linien geradelt. Auf dem Gepäckträger des Rades hatte er seine Uniform, in ein Bündel geschnürt, mitgenommen. Er hatte die Aufgabe, mit der französischen Widerstandsbewegung Verbindung aufzunehmen, um zu ermitteln, daß sie wirklich bereit war, De Gaulle nach der Einnahme von Paris anzuerkennen, und dazu die Aufgabe, eine Radiostation zu sichern, damit sie nicht zerstört wurde, was ihm erst nach einem Kampf gelang. Am vorgesehenen Tag der Einnahme der Stadt hatte er seinen Fahrer Dirty Thompson zwischen neun und elf Uhr vormittags mit seinem Command Car vor sein Hotel bestellt und Thompson, der noch nie in Europa, geschweige denn in Paris gewesen war, stand um 9: 30 Uhr da. Peter hätte ihn beinahe nicht gesehen, denn auf seinem Wagen saßen acht Pariserinnen, durch deren Küsse Thompsons Wangen und Hemd von Lippenstiftfarbe überschüttet waren. Peter begrüßte ihn mit dem Ruf: „ He, Clark Gable! “ , einem der zwei berühmtesten jungen, männlichen Hollywoodstars, denen die Frauen nachliefen. Thompson, der im Zivilberuf Taxifahrer in Chicago gewesen war, fragte auch wie ein Taxifahrer nach der Adresse, wohin Peter wollte. Peter nannte die Champs-Élysées und Thompson fuhr los. Er stand im Wagen, hielt sich mit der Rechten an der Windschutzscheibe fest, während er mit der Linken abwechselnd lenkte und den jubelnden Frauen zuwinkte. „ Wie Hitler im Film “ , sagte er. Auf den Champs-Élsysées leitete Peter Thompson zum Haute-couture-Salon von Maggy Rouff. Es gelang ihm, Madame Rouff aufzutreiben, das Geschäft aufsperren zu lassen und ein Kleid für seine Frau auszusuchen. Thompson, der neben Peter stand, machte ihn darauf aufmerksam, daß auf dem Dach eines Hauses in einer Nebenstraße, auf die das Fenster hinausging, zwei Männer miteinander rangen. Einer von ihnen trug eine amerikanische Uniform, der andere trug Zivilkleidung. Sie waren so ineinander verschlungen, daß man unmöglich auf einen von ihnen mit Sicherheit schießen konnte. Als sich der offenkundig jüngere und stärkere für einen Augenblick am Kamin festhielt, um sich auszuruhen und zu einem Sprung auf den anderen ansetzte, nahm Peter Thompson dessen Gewehr weg und schoß am Beginn des Sprungs. Der Mann stürzte tot auf die Straße und Thompson wurde ausgeschickt, den anderen zu holen. Der andere war Major John Stroud aus Spokane im Staat Washington. Die beiden blieben seither eng miteinander verbunden. Wenig später wurde Major 46 Amerikanischer Abwehroffizier Stroud von seinem alten Freund General Joseph T. Lowell dazu bestellt, ein Riesenlager von zehntausend deutschen Kriegsgefangenen als eine Art Muster- und Versuchslager einzurichten um genaueres über die gegenwärtige Denkungsart der Deutschen zu erfahren. Peter war auf seiner letzten Mission drei Tage von Luxemburg aus im deutschen Rheinland gewesen. Auf dem Weg zurück war es in der Nacht kalt und es regnete, als er an einen Fluß kam. Es lagen noch dreißig Kilometer bis zu seinem Ziel, aber zwei Kilometer jenseits des Flusses lag Trier, wo die Frau vielleicht noch immer lebte, die Peter einst in Deutschland geliebt hatte. Ob es sie wohl hier noch gab? Nachdem er den Fluß überquert hatte, suchte er die kleine Villa am Westrand der Stadt auf, wo sie gewohnt hatte. Das Haus stand noch. Er war erkältet und hatte Fieber. Es war alles dunkel. Die Fenster waren mit Holz vernagelt. Er klopfte an die Tür. Er hörte schlurfende Schritte und die Stimme einer alten Frau fragte: „ Wer ist hier? “ „ Ich. “ „ Wer ist ich? “ Er fragte: „ Ist Maria hier? “ „ Kommen Sie doch herein, man kann das Licht sehen. “ Im gleichen Moment, indem er eintrat, öffnete sich eine Tür. „ Peter! “ sagte die Frau, die aus der Tür trat und er sagte: „ Maria. “ „ Wie siehst Du denn aus? “ „ Es regnet. “ „ Komm doch herein, Du mußt Dich trocknen. “ Und gleich darauf: „ Du mußt auch Hunger haben. “ Als der Morgen kam, saßen sie sich schon stundenlang gegenüber, Hand in Hand. Sie hatten begonnen mit dem Tag, an dem er gegangen war und sie endeten jetzt mit dem Tag, an dem er zurückkehrte. Er sagte, er müsse gleich gehen. Er frühstückte um sieben Uhr, denn um zehn Uhr mußte er drüben in Luxemburg sein. Luxemburg erschien ihm unendlich weiter als gestern Abend. Es war seine letzte Mission, denn der Krieg mußte bald vorbei sein. Nach dem Krieg erlebte er sodann bei seinem Freund Stroud, dem Lagerkommandanten, wie die böse Pest des Nationalsozialismus in keiner Weise völlig vorbei war. Wie sie Mörder gewesen waren, als sie an der Macht gewesen waren, so waren sie Mörder geblieben. Zu den wichtigsten, grundlegenden Lehren, die Peter wie Habe aus dem Krieg zogen, war die Erkenntnis des Unterschieds zwischen den Menschen, die Todesgefahren und Leiden mitgemacht hatten, und den anderen, bei denen das nicht der Fall war. Habe stellt auch überzeugend den Vorzog der Menschen dar, die ob Amerikaner oder Deutsche im Krieg viel durchzumachen hatten im Unterschied zu jenen, die von allem verschont blieben. Nach der Schilderung einer Party, die seine reiche Frau Patrizia mit vornehmen Gästen gegeben hatte, dachte Peter Ogden an den Jungen, der ihn bei Anzio auf seinen Schultern aus dem Feuer getragen hatte, er denkt an den todesmutigen Thompson, aber auch an den Schneidermeister, der ihm in einem Berliner Bombenkeller Schutz geboten hatte. Sie alle waren lebendig. 47 Amerikanischer Abwehroffizier Die vornehmen Gäste, die sich früh verabschiedeten, bedankten sich für einen „ bezaubernden Abend “ . Sie hatten darin große Übung. Trotzdem klang ihr Dank nicht echt. Es war wie eine unsichtbare Mauer, die sich in Amerika zwischen den aus dem Krieg zurückgekehrten Soldaten und den daheim Gebliebenen bildete. Die im Krieg waren, erkannten sich auch, wenn sie nicht in Uniform waren und nicht das goldene Veteranenabzeichen im Knopfloch ihres Anzugs trugen. Sie waren lebendig. Peter Ogden aber ist in einem gewissen Sinn zwischen Europa und Amerika geteilt. Geboren in Europa hat er das Erlebnis echter Zugehörigkeit erst als amerikanischer Bürger und Offizier gefunden. Als er seinen Vater im Gefängnis besuchte, der ein Naziführer und Kriegsverbrecher gewesen war, gab es von beiden Seiten nicht das geringste Verständnis, sondern nur totale Fremdheit. Maria, die Frau seines Lebens, war auch eine Deutsche, aber von ganz anderer Art. Auch nachdem Peter nach Amerika gegangen war, wechselte sie Briefe mit ihm. Sie wurde deshalb von der Gestapo verhaftet und festgehalten, wovon er nichts wußte. Er schrieb weiterhin Briefe an sie, bis ein Bekannter von ihr ihn in einem Schreiben bat, damit aufzuhören, weil er sie dadurch in noch größere Gefahr brachte. Sie selbst hätte wahrscheinlich nie so etwas geschrieben. Während des Krieges hielt sie trotz der Gefahr strengster Strafen des Konzentrationslagers und der Todesstrafe wiederholt Juden versteckt. Als sie nach Oberndorf in Bayern übersiedelt war, wurde sie bald zu einer Hilfe für jeden im Dorf, der Hilfe brauchte, und genoß großes Ansehen. Dann kam der Zusammenbruch. Die Ortschaft war von der Hauptstraße nur durch eine Brücke verbunden, die über einen reißenden Fluß führte. Die Wehrmacht war geflohen und hatte die Verteidigung der Ortschaft einem verläßlichen Nationalsozialisten, dem Bauernführer Michael Holzinger übertragen. Er gab den Bauern die Weisung, an der Brücke Sprengladungen zu befestigen und hinter der Brücke Schanzen aufzuwerfen. Am Nachmittag des 4. Mai wurden Männer und Frauen des Ortes aufgerufen, im Schulhaus Waffen entgegenzunehmen und zur Brücke zu marschieren, um sie zu verteidigen. Die Sprengung bedeutete Abgeschnittensein von Lebensmittelzufuhr, von Lieferungen aus der Stadt, von Freunden und Verwandten. Maria marschierte mit den anderen Bauern, mit der Schaufel auf dem Rücken und der Pistole im Gürtel. Der Bauernführer ließ in der Nähe der Brücke halten. Er erklärte der Gruppe: „ Wir werden die Brücke gegen die Amis verteidigen. Das ist der Auftrag des Führers. Verstärkungen sind im Anmarsch. Die Geheimwaffe kann in jedem Moment eingesetzt werden. Oberndorf ist bis zum letzte Mann und zur letzten Frau zu halten. Die Brücke wird jetzt gesprengt. Drei Freiwillige vortreten, welche die Zündschnur anzünden werden. “ 48 Amerikanischer Abwehroffizier Niemand rührte sich. Sein Gesicht lief rot an. „ Wer will sich freiwillig melden? “ fragte er noch einmal und betonte besonders das Wort „ freiwillig “ . „ Oder soll ich drei aus der feigen Bande herausgreifen? “ Maria, die in der zweiten Reihe stand, hob ihre Hand. „ Wer noch? “ fragte er. Maria trat aus der Reihe. „ Ich melde mich freiwillig “ , sagte sie, „ aber nicht zum Anzünden der Zündschnur. “ „ Sondern? “ fragte er verblüfft. Sie sprach ruhig: „ Das ist Unsinn. Unsinn und Selbstmord. Wir können den Ort nicht verteidigen. Außerdem wollen wir ihn nicht verteidigen. Wir haben es satt, für die Nazis zu sterben. “ Sie erwartete Zustimmung aus der Reihe der Bauern, aber keiner rührte sich. „ Die verräterische Sau wird erschossen. “ sagte der Führer. Er trat einen Schritt auf Maria zu. Sie sah ihm ruhig ins Gesicht. „ Wir fürchten uns nicht mehr. “ sagte sie. „ Wir haben keine Lust, sinnlos umgebracht zu werden. Wir sind froh, daß der Ort steht. Wir wollen nicht, daß er niedergebrannt wird, wie die Städte, die man geopfert hat. “ „ Schweig, du Sau! Die Brücke wird gesprengt! “ Jetzt stand er vor ihr. Aber er konnte sie nicht anfassen. Sie hatte die Pistole aus dem Gürtel gezogen. Sie befahl: „ Hände hoch! “ Als er nicht sofort reagierte: „ Hände hoch oder ich schieße. “ Sie stand ihm gegenüber. Dann wandte sie sich an die Bauern: „ Schneidet die Zündschnur durch! Die Idioten haben auf der Brücke zu viel Dynamit angebracht. Wenn die Brücke in die Luft geht, geht der halbe Ort in die Luft. “ Das wirkte. Vier oder fünf Mann bemächtigten sich des Bauernführers. Zwei liefen, die Zündschnur durchzuschneiden. Die Frauen umringten dankbar Maria. Sie steckte die Pistole in den Gürtel zurück. Sie fühlte sich müde, beinahe alt. Ihre nackten Knie zitterten. Sie hatte Angst, daß man es sehen könnte. In ihrem Gehirn ging alles durcheinander: Sie sah ihre Tochter Helga und Peter und sie hörte das Einschlagen der Bomben und das unregelmäßige Schlagen ihres Herzens. In der Nacht fielen die letzten Bomben. Aber sie klangen fern. Am nächsten Morgen rollten die ersten französischen Panzer über die Brücke. Als Peter Ogden für immer nach Deutschland zurückkehrte, stand Maria im Hafen von Bremen, um ihn zu erwarten. Zuerst sah er sie, dann erblickte sie ihn. Er war einer der ersten, der über die Landungsbrücke lief. Ihre Begegnung spielte sich genauso ab, wie er es erträumt hatte. Sie umarmte ihn nicht. Sie reichte ihm die Hand. Wortlos ergriff er sie. Sie standen sich gegenüber, zwischen den Steinen des halbverfallenen Hafens, umbrandet vom Lärm militärischer Kommandorufe und rufenden GIs, ohne einander umarmen zu können. So hatten sie gestanden, ineinander versunken, von Soldaten und Matrosen hin und her gestoßen. Bis Dirty Thompson, Peters alter Fahrer, der hinter Maria stand, beschloß einzugreifen. „ Welcome back, Major. “ sagte er. Der Major lächelte und 49 Amerikanischer Abwehroffizier reichte ihm die Hand: „ Hallo, Thompson! Ich freue mich, Sie wieder zu sehen. “ „ Ich freue mich, daß Sie wieder hier sind, Major. “ Um aber nach dem Bericht über den Roman den Bericht über Habes Leben fortzusetzen: Er leitete später sieben Monate die deutsche Abteilung des „ Freien Senders Luxemburg “ , der einer der stärksten und wesentlichsten Sender der ganzen Region war. Nachdem er in höchster Gefahr, von deutscher Besetzung bedroht, an seinem Posten festgehalten und weiter gesendet hatte, wurde er Hauptmann und erhielt das „ Croix de guerre de Luxembourg “ , die für herausragende Leistungen im Kampfeinsatz oder besonders verdiente Pflichterfüllung verliehen wird. In Januar 1944 ließ ihn sein vorgesetzter Oberst rufen und teilte ihm mit, daß Mr. Charles Douglas Jackson der Berater von General McClure und er selbst ihn vorgeschlagen hatten, nach dem Überschreiten des Rheins die neue deutsche Presse aufzubauen. Das führte dazu, daß Habe zum ersten Mal grundsätzlich seine Position Deutschland gegenüber klarstellte, umso mehr, als es Vorwürfe gegen ihn bezüglich antideutscher Ressentiments gab. Es war ihm klar, daß die Vorwürfe ihre Begründung in seinem Judentum und in seinem Amerikanertum hatten. Er fand jedoch die Resultate dieser Vorwürfe einfach grotesk und hat es zusammenfassend wie folgt formuliert: „ Wenn ein Regime, ein halbes Dutzend friedlicher Nationen überfällt, sechs Millionen Unschuldige ausrottet, den fürchterlichsten Krieg der Geschichte vom Zaun bricht, das eigene Volk vergewaltigt und dem öffentlichen Haß preisgibt; einen verlorenen Krieg schließlich bis zur Vernichtung des eigenen Landes und seiner schuldlosen Kinder fortsetzt - dann ist die Suche, warum ein halbwegs normaler Mensch diesem System gegenüber ein Ressentiment empfindet, schon an und für sich absurd. Ist der Nationalsozialismus jene Krebskrankheit, als die sie Deutschland und die Welt allmählich erkannt haben, dann ist es zwar der Mühe wert, zu analysieren, warum jemand nichts gegen Krebs hat: aber es ist blödsinnig, zu untersuchen, warum jemand etwas gegen Krebs hat. “ 1 Obwohl Habe immer schon ein Gegner jeglichen überspitzten Nationalismus - von welcher Seite auch immer - gewesen ist und obwohl er niemals an eine deutsche Kollektivschuld geglaubt hatte, gab es wieder einmal ein Kesseltreiben gegen ihn, das an die Vorwürfe gegen den unschuldigen Sohn des Erpresserjournalisten erinnert. Immer wieder wurde er als Anhänger des „ Morgenthau- Plans “ abgestempelt, obwohl er sich von Anfang an in allen ihm zur Verfügung stehenden Zeitungen radikal dagegen gewendet hatte. Eines der positivsten und erregendsten Abenteuer seines Lebens hingegen war die Gründung der ersten deutschen Zeitungen nach 1945. Die „ Public Information Division “ zerfiel in zwei Abteilungen. In der ersten wurden lokale 1 Ich stelle mich, op. cit., S. 471 50 Amerikanischer Abwehroffizier Verleger und Redakteure gesucht, die eine demokratische Zeitung aufbauen konnten. Die zweite Abteilung, deren Chef Habe war, gründete für die Armee in eigener Regie Zeitungen, die solange erscheinen sollten, bis eigene, lizensierte deutsche Zeitungen publiziert wurden. Habe gründete achtzehn solcher Zeitungen, deren Chefredakteur er war. Sie wurden zuletzt alle abgelöst von einem einzigen, ständigen Organ der Militärregierung, die Habe als richtige Zeitung gestaltete und der er den Namen „ Neue Zeitung “ gab. 51 Amerikanischer Abwehroffizier HERAUSGEBER DER NEUEN ZEITUNG IN MÜNCHEN Habe erlebte den „ Höhepunkt seines Lebens “ , als er in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1945 in der Münchner Schellingstraße die Rotationsmaschinen des ehemaligen NS-Zentralblatts Völkischer Beobachter in Bewegung setzte und die ersten Exemplare der Neuen Zeitung über das Rotationsband rollten. „ Major Habe “ hatte mit einem Knopfdruck das Wunder bewirkt. Die Auflage stieg rasch auf zweieinhalb Millionen. Der Erfolg der Neuen Zeitung übertraf alle Erwartungen. Obwohl die Papiererzeugung wieder angelaufen war, gab es nicht genügend Rotationspapier, sodaß weitere dreieinhalb Millionen Abonnenten abgelehnt werden mußten. Eine eigene Abteilung schrieb nur Entschuldigungsbriefe an drängende Käufer. Der „ Postkasten “ der Zeitung erhielt täglich achttausend Leserbriefe. Habe war überzeugt, daß er zum Deutschenhasser abgestempelt werden sollte, weil er zwischen zwei Deutschlands unterschied, dem NS-Deutschland und dem anderen Deutschland. Diese Unterscheidung ist es aber gerade, die sie nicht brauchen konnten, die Nationalsozialisten und die Nationalisten, weder historisch noch gegenwärtig. Sie wollten nur von einem Deutschland wissen, dem großen Chaos, in dem man sie mit dem besten Deutschland verwechseln konnte. Auf der anderen Seite waren jene Deutschen gegen ihn, die bald wieder an die Oberfläche geschwemmt worden waren und die befürchteten, daß er mit seiner Umerziehung Erfolg haben könnte. Schließlich gab es auch noch die Seite der amerikanischen Armee, die zunächst jede Fraternisierung strikt ablehnte und die ihn wegen seiner Deutschfreundlichkeit vor ein Kriegsgericht stellen wollte. Als er schließlich auf dem Truppentransporter USS General J. R. Brooke den Hafen von Le Havre verließ, um nach Amerika zurück zu kehren, war er rückblickend mit der Leistung seiner Neuen Zeitung zufrieden. Nach seiner Rückkehr nach Los Angeles lernte Habe im Kreis von Filmleuten Eloise kennen, in die er sich verliebte. Er versuchte, eine Scheidung von Ali Ghito durchzusetzen, doch war diese bereit, einen Kampf bis aufs Messer zu führen, um die Scheidung zu verhindern. Trotz dieser aufreibenden Bemühungen, ruhten seine üblichen Aktivitäten nicht. Er wurde Zeuge, wie Ungarn einer Diktatur Stalins anheimfiel, und er sammelte in Ungarn Stoff zu seinem Roman Black Earth über den tragischen Helden einer ungarischen Kolchose. Vorher - 1948 - war allerdings sein siebenter Roman Weg ins Dunkel (Walk in Darkness) erschienen. Er war ein solcher Erfolg, daß er verfilmt wurde, wobei der damals berühmte afroamerikanische Schauspieler John Kitzmiller die Hauptrolle ohne Gage spielte, weil er so ergriffen davon war, daß sich ein Weißer so völlig in eine schwarze Seele einfühlen konnte. Das Buch ist denn auch eine romanhafte Enzyklopädie aller Schmerzen und Leiden, welche die Verachtung und der Haß der Weißen gegen die Schwarzen auslösen konnten. Es ist eine hübsche Wendung, daß der schwarze Held des Romans, Korporal Roach der amerikanischen Armee, den Vornamen des Gründers des großen Staates der Freiheit und Gleichberechtigung „ Washington “ trägt. Er ist aus dem Krieg, dessen Gefahren und Todesdrohungen er aus der vordersten Front kannte, in seine Heimatstadt New York zurückgekehrt, in die armselige Wohnung seines Vaters, der ein Leichenbestatter in Harlem war. Der Roman beginnt mit einem Spaziergang Washingtons an einem warmen Märztag. Er war gerade nach drei Wochen aus dem Polizeigefängnis entlassen worden. Er war im Gefängnis gewesen, weil er einen weißen Mann in der Bar eines weißen Viertels zuerst den Whisky ins Gesicht geschüttet und ihn sodann geschlagen hatte. Der Mann war in die Bar gekommen und hatte den Stuhl verlangt, auf dem Washington saß. Als sich dieser nicht schnell genug erhob, hatte er ihn einen „ dirty Nigger “ genannt. Washington beschloß ins Kino zu gehen und einen Film anzusehen, der keine Romanerfindung ist, und der nach Kriegsende einer der großen Erfolgsfilme gewesen war. Der Film trug den Titel „ Die besten Jahre unseres Lebens “ . Es waren die drei besten Jahre dreier heimgekehrter Soldaten Der erste war ein Fliegerhauptmann, den seine Frau betrügt, der zweite war ein Sergeant, der seine Arbeit verliert, und der dritte war ein Matrose, dem beide Hände verbrannt waren. Sie hatten wirklich existiert und sie standen Washington nahe. Als er nach Hause in die 146. Straße kam, öffnete ihm sein Vater. Er ging zuerst durch die beiden Geschäftsräume. Im ersten standen Särge zur Auswahl, im zweiten wurden die Leichen gewaschen und geschminkt. Dann kamen die beiden Wohnräume. Im ersten schlief er mit seinen zwei älteren Brüdern und dem Großvater, im zweiten schliefen die Eltern. Washingtons Vater erzählte ihm, daß ihn sein Chef, der Besitzer einer Druckerei, gekündigt hatte. Nachdem er etwas gegessen hatte, ging er zu seiner Freundin Ruth. Als er berichtet hatte, daß er seine Arbeit verloren hatte, fragte sie ihn, was er nun zu tun gedenke. „ Ich werde überhaupt keine Arbeit suchen. Ich gehe weg. “ Er hatte genug von dem Elendsleben in Harlem, genug von Eltern, Großvater und Ruth, genug von den Blicken der weißen Menschen, die ihn haßten, und den weißen Menschen, die ihn nicht haßten, genug von den Freunden, die sich damit abgefunden hatten, Nigger zu sein, und von den Radikalen, die dummes Zeug von Gleichberechtigung redeten, genug von der kleinen Druckerei, wo sie Bibeln und Traktätchen erzeugten, und von den Büchern, die er verschlang, obwohl sie von Menschen handelten, die man auf der Straße nicht anstarrte. „ Ich gehe in die Armee. “ „ In die Armee? Der Krieg ist vorbei. “ „ Ich will nicht in den Krieg. “ „ Was willst du? “ „ Fort. “ 54 Herausgeber der Neuen Zeitung in München Als er nach acht Wochen im Armeelager auf dem Schiff stand, das aus dem Hafen von New York auslief, stand er zwischen zwei anderen Soldaten: Jim, kaum über neunzehn Jahre alt, der klein und schmächtig war und jetzt schon über Heimweh klagte, und Ira, einem riesigen schwarzen Sergeant. Sie waren auf dem Weg nach Deutschland. „ Wo immer es auch hingeht “ , sagte Washington, „ überall ist es besser als hier. “ Ira legte seine gesamte Autorität des Unteroffiziers in seinen Widerspruch: „ Du bist genauso ein dummer Nigger Jim. Ein Nigger ist überall ein Nigger. “ Das galt auch für die Armee. Die dreißig schwarzen Soldaten auf dem Schiff schliefen in einem eigenen Teil des riesigen Schlafsaals unter dem Deck. Es gab sogar eigene schwarze Divisionen in der Armee. Washington liebte Kinder und gab Kindern oft Schokolade aus seinen PX- Rationen. Dadurch lernte er in Deutschland eine erwachsene junge Deutsche namens Eva kennen, der er alle seine Rationen gab und die beiden verliebten sich ineinander. Ein Schwarzer mit einer deutschen Frau, so etwas gab es nur in Deutschland. Er war sicher, daß er sie nicht nur liebte, weil sie weiß war. In diesem Fall hätte er versucht, sie zu unterwerfen. Aber er liebte sie zärtlich und wenn seine Hände über ihre Haut strichen, dann geschah es so vorsichtig, als wäre sie aus zerbrechlichem Glas. Mitunter tauschte er seine Rationen auch in Geld ein, um ihr andere Geschenke zu machen. Dann begann er zu stehlen, um ihr noch mehr Geschenke machen zu können. Als sie ihm eröffnete, daß sie schwanger sei, begann er jeden Tag an das Kind zu denken und begann plötzlich zu beten. „ Laß mein Kind gesund zur Welt kommen und laß mich hier sein, um es zu sehen. Und bitte, laß es weiß sein. “ Bald wurde er fordernder: „ Wenn das Baby weiß ist, dann hast Du bewiesen, daß Du bist und dann will ich gut sein. Und wenn Du willst, daß ich ein Katholik werden soll, dann laß das Baby weiß sein, und ich werde jeden Sonntag in die Kirche gehen. Du kannst es machen, daß das Baby so aussieht wie Eva. Aber wenn es so aussieht wie ich, dann weiß, ich, daß es Dich nicht gibt. Und dann werde ich lügen und stehlen und rauben, und vielleicht auch morden. Und ich werde herum gehen und allen Farbigen sagen, daß Du weiß bist, genauso wie alle Weißen, nur noch schlimmer, und daß sie in der Kirche nur betrogen werden. Obwohl es ihm nicht gelang, die Zustimmung der Armee zur Heirat zu erhalten, begab er sich in wirkliche Gefahr. Denn es gelang ihm, daß der schwarze katholische Feldkaplan im Hauptmannsrang, Vater Durant, gemeinsam mit dem weißen Priester Müller eine kirchliche Heirat durchführte, weil die Kirche eben eheliche Kinder liebte. Im Bauernhaus von Evas Eltern gab es ein wirklich großes Hochzeitsfest mit Musik und einem riesigen Hochzeitsmahl. Man konnte sich also doch einen Platz an der Sonne erkaufen, man mußte nur wissen, wie man es richtig anpackt. Washington war plötzlich stolz auf sich. 55 Herausgeber der Neuen Zeitung in München Aber als sie in der Hochzeitsnacht zu Bett gingen, prasselten plötzlich Steine gegen die Hauswand. Dann traf ein Stein ein Fenster und ein anderer durchschlug es. Offenbar war es das Fenster des Brautvaters. Der Bauer lehnte sich fluchend aus dem Zimmer. Ein Chor von vier oder fünf Männern antwortete auf englisch: „ Heraus mit dem Nigger! Heraus mit dem Nigger! “ Washington hatte das Gefühl, als hätte er das alles schon einmal erlebt. Wenn nicht in diesem Dasein, dann in einem früheren hatte er das schon erlebt. Der Chor hatte wieder eingesetzt. Neue Steine flogen und ein zweites Fenster klirrte. Dann wurde es plötzlich still. Der Motor eines Jeeps sprang an. „ Sie gehen “ , sagte Washington leise. Als ob sie ihn gehört hätten, rief einer: „ Wir kommen wieder, Nigger! “ Dann stand der Bauer in langem Nachthemd mit einer Kerze in der Tür. „ Was war das? “ fragte er. „ Ich weiß nicht. “ sagte Washington. Dann kam eines Tages ein Leutnant Edwards und erklärte, er sei vom Hauptmann geschickt, der wütend sei, daß Washington ohne Erlaubnis der Armee geheiratet hätte. Er müsse ein Protokoll aufnehmen. Der Hauptmann wollte ihn vor ein Kriegsgericht stellen. Ein möglicher Ausweg wäre, daß Washington zurück nach Hause, nach Amerika, geschickt werde. Washington lehnte dies ab, weil er hier sein möchte, wenn sein Kind geboren wird. „ Sie scheinen nicht zu wissen, was ein Kriegsgericht ist “ , sagte der Leutnant. „ Sie werden auf keinen Fall hier sein, wenn das Kind geboren wird. “ Bald darauf tauchte der Armeegeistliche Vater Durant auf. Er beschwor Washington, zurück nach Hause zu gehen. Nach ein oder zwei Jahren könnte er als Zivilist zurück nach Deutschland kommen oder seine Frau nach Amerika nachholen. Der Kaplan wußte nichts oder nur die Hälfte. Er wußte nicht, daß Korporal Roach stehlen und die gestohlenen Waren verkaufen mußte, damit Eva für sich und das Kind Milch und Essen kaufen konnten, um zu überleben. „ Ich muß es mir überlegen, Sir. “ sagte Washington zu Vater Durant. „ Es ist nicht viel zu überlegen. Captain Jones wird Sie morgen früh kommen lassen. Sie müssen einwilligen, nach Hause zu gehen oder die Folgen tragen. “ „ Ich werde es mir bis morgen früh überlegen. “ Seinem Freund Ira vertraute er an, daß er desertieren werde. Der warnte ihn: „ Wenn man weiß ist, kann man leicht untertauchen. “ Aber Washingtons Entscheidung stand fest. Damit endet in diesem Roman mit dem ersten Buch die Geschichte seines Lebens in der Armee und es beginnt das zweite Buch mit seinem Leben im Untergrund. Zuerst ging er nach München, weil er wußte, daß er in der Nähe des Bahnhofs einen weißen Soldaten namens Smith treffen konnte, der Verbindungen zur Unterwelt hatte. Er entdeckte bald, daß er damit Mitglied einer Gemeinschaft geworden war, die ihn willkommen hieß. Er entdeckte es dadurch, daß er plötzlich wußte, daß 56 Herausgeber der Neuen Zeitung in München unter der Stadt München Kanäle liefen, wo Menschen wohnten, aßen und schliefen. Wenn das Leben an der Oberwelt durch die Stiftung einer komplizierten Moral und einem doch oft vorhandenen Streben nach Ordnung verwirrt war, so ging es in der Unterwelt viel einfacher zu und wurde durch eine primitive Gerechtigkeit der Nützlichkeit eine Art Frieden gehalten. Es war nur wichtig, was dem Leben diente und es ging um die Ausbeutung der Oberwelt ohne die nichtigen Vorurteile von Nationalität, Rasse und Religion. Während die meisten Outlaws in der Oberwelt, wenn sie nicht gerade im Gefängnis waren, mehr vegetierten als lebten, konnten sie in der Unterwelt bequem leben. Washington war überzeugt davon, daß ihm die Unterdrückung und Verfolgung als Schwarzer das Recht auf eine Art Wiedergutmachung gab. Jede Kiste, die er für sich erbeutet hatte, nannte er für sich „ Nigger “ . Wenn er für jedes Mal, wenn sie ihn „ Nigger “ genannt hatten, eine Kiste stahl, konnte er noch hundert Jahre stehlen. Während andere aus Sorge um ihre Sicherheit gezwungen handelten, genoß er seine Macht. Ja, er drohte zu vergessen, daß er nur reich genug werden wollte, um mit Eva und dem Kind nach Frankreich zu gehen. Zunächst hatte er sich einer Gruppe angeschlossen, die Waren raubte und verkaufte. Der Chef der Gruppe hieß Robert und man mußte den Anteil, den man für jede Aktion erhielt, mit ihm aushandeln. Er sagte Washington, daß sie für die nächste Nacht eine kleine Unternehmung planten und wenn er wollte, konnte er daran teilnehmen. Da mischte sich ein Mitglied der Gruppe, ein Amerikaner, der Dick hieß, ein und fragte Robert: „ Wollen Sie den armen Teufel als Kanonenfutter verwenden? “ Zu Washington aber sagte er: „ Der Direktor Robert fühlt sich als General. Er liebt Kanonenfutter. “ Robert begann das Unternehmen Washington zu erklären. Da sagte Dick vom Ofen her: „ Robert spricht von einem bewaffneten Raubüberfall. “ Robert erklärte, er kenne sich mit solchen Fachausdrücken nicht aus. Aber Washington war alarmiert. Bewaffneter Raubüberfall? Darauf stand schwerer Kerker. Er war bereit, illegal Zigaretten zu verkaufen oder einige Kisten zu stehlen. Das war harmlos. Robert gelang es aber, ihn zu überreden, mitzumachen. Bei der Unternehmung warteten sie in der Nacht auf zwei Lastwagen, von denen sie wußten, daß sie vorbeikommen würden. Washington, der noch seine amerikanische Uniform trug, hatte mit einem Gewehr in der Hand in der Mitte der Straße die Lastwagen anzuhalten. Die beiden Fahrer stiegen aus, um sich auszuweisen und weiter fahren zu können. Dann wurden sie von John und Dick, die sich schwarze Strümpfe über das Gesicht gezogen hatten und die mit gezogenen Pistolen von hinten kamen, überwältigt, gefesselt und in den Wald gelegt. Als der Anführer Robert bald darauf wegen seiner NS-Vergangenheit von den Amerikanern verhaftet wurde, übernahm Washington die Führung der Gruppe. 57 Herausgeber der Neuen Zeitung in München Dann kam der Tag, an dem Eva ihm sagte, sie hätte das Kind weggegeben. Sein Kind, um das sich alles drehte. Er fand heraus, daß es bei einer Jüdin war, die im Konzentrationslager sterilisiert worden war, sodaß sie keine Kinder gebären konnte. Im Krankenhaus erfuhr er, daß es ein Mädchen war und schon elf Tage alt war. Namen und Adresse der Frau wurden ihm gegeben: Wilhelmine Speyer, Domstraße 45. Er ging sofort hin und fand, daß Wilhelmine Speyer eine alte Frau war und das Kind ihre Tochter Martha hatte, die bei ihr wohnte. Als er sagte, er sei der Vater, brachte ihm Martha, die englisch sprach, sofort ein kleines, weißes Bündel. Zuerst wagte er kaum hinzublicken, aber dann sah er, daß das Kind weiß war und er lachte glücklich. Dann wollte er das Kind mitnehmen, aber Vater Durant, der den Verbindungsmann machte, hatte Frau Speyer gesagt, sie könne das Kind behalten. Martha erklärte ihm, daß das Kind aus praktischen Gründen eine Mutter bräuchte. Sie schlug vor, daß das Kind, das den Namen Louise hatte, bei ihr bleiben sollte. Dafür würde sie niemandem, auch Vater Durant nicht, sagen, daß Washington bei ihr gewesen sei. Er aber könne kommen und Louise besuchen, so oft er wollte. Martha hatte das Kind aus der Wiege genommen und viele Dinge getan, die er gar nicht verstand. Da war ihm plötzlich das Kind wichtiger als er selbst. Er widersprach nicht und ging, und es schien, daß er den Vorschlag akzeptiert hatte. Dann stellte sich aber heraus, daß Washington trotzdem mit seiner Frau Eva und dem Kind nach Frankreich wollte. Martha warnte ihn: „ Eva hat Ihnen die Geburt verheimlicht. Sie hat das Kind gleich nach der Geburt wegegeben. Sie wollte nie mehr von Ihnen hören. Sie hat von Vater Durant verlangt, daß die Ehe als ungültig erklärt wird. Wenn Sie jetzt zu ihr gehen, laufen Sie in eine Falle. “ Washington lief prompt in die Falle und nur mit großem Glück gelang es ihm, zusammen mit dem Kind und Martha auf seine Bergfestung sowie mit seinen Freunden Ira und Ernst zu entkommen. Aber er hatte auch Eva dieses Versteck verraten, sodaß die Flucht weiter ging. Sie trafen auf einen amerikanischen Militärpolizisten, der Ira, Ernst und Martha zurief: „ Hände hoch! “ Er hatte nicht bemerkt, daß in einiger Distanz Washington hinter ihm stand, der ihn erschoß. Jetzt war er auch ein Mörder. Er wollte noch immer nach Frankreich, wo es keine amerikanische Polizei gab. Es war ihm klar, daß er sich auf der Flucht von Martha und dem Kind trennen mußte. Man hatte ihm eine Adresse im französischen Dorf Gentilhomme gegeben. Er gab Martha Geld und diese Adresse und empfahl ihr, bis in die Nähe der Grenze einen Zug zu nehmen. Er machte sich allein auf der Straße auf den Weg. Für sich wiederholte er immer wieder das Wort „ Mörder “ . Soldaten, die Mörder waren, wurden erschossen. Im Grenzgebiet der französischen Zone Deutschlands sah Washington zum ersten Mal Neger, die keine Uniform trugen. Es waren afrikanische Neger aus den französischen Kolonien. Auch er besorgte sich einen Zivilanzug. 58 Herausgeber der Neuen Zeitung in München Im Rollwagen eines Bergwerks überquerte er die Grenze und kam auf der französischen Seite wieder heraus. Er nahm einen Lokalzug und war glücklich, daß die Flucht gelungen war. Er fand Martha und Louise bei einem Bauern, drei Kilometer außerhalb des Dorfes Gentilhomme. Der Bauer war froh über die Arbeitskräfte, fragte nicht viel und behielt sie gerne. Alles schien gelungen, bis Washington plötzlich unbedingt auf den Dorfball gehen wollte. Wieder warnte ihn Martha, daß die französische Polizei ihn suchte. Er aber sagte: „ Ich gehe, weil ich Lust dazu habe. Ich will kein Gefangener sein. “ Am nächsten Nachmittag bereits, als er draußen auf dem Feld war, kam Martha gelaufen, um ihn zu warnen, da die Polizei schon im Haus war. Sie riet ihm, hinter dem Dorf in den Wald zu gehen, sie würde am Abend kommen. Während sie noch sprachen, wurden sie von hinten von zwei Polizisten mit gezogenen Pistolen angerufen. Washington konnte nur die Hände heben. Die französische Polizei überstellte ihn an der Grenze der amerikanischen Militärpolizei. Dann saß er mit gefesselten Händen im Zug zwischen zwei Militärpolizisten. Je länger er nachdachte, umso friedlicher wurde er. Er war mit Louise und Martha bei dem Bauern glücklich gewesen und am glücklichsten auf dem Tanzfest. Aber Glück war eine morsche Brücke über einem Abgrund. Jetzt war er im Abgrund. Jetzt war er zu Hause. Im Gefängnis besuchte ihn ein Oberleutnant, der zu seinem Verteidiger bestellt worden war. Washington machte ihm das Leben nicht leicht, da er sich in allen Anklagepunkten für schuldig erklärte, außer der Anklage auf Kindesraub, da Louise seine Tochter war, auf die er ein Recht hatte. Seit er keine Angst hatte, fühlte er sich doppelt einsam. Er hatte nicht geahnt, daß er es am schwersten mit jenen haben werde, die sein Verteidiger „ Entlastungszeugen “ nannte. Sie wollten ihn mit Gewalt zurückzerren in das Leben, das er nicht wollte. Während des Kriegsgerichts erfaßte Washington selten die ganze Szene. Seine Augen hingen an den goldenen Knöpfen einer Uniform, an einem Tischbein oder an den bunten Bändern der Orden. Korporal Roach, sind Sie desertiert? Ja. Haben Sie geschoben, gestohlen, geraubt, getötet? Ja, ja, ja. So einfach hätte es sein können. Aber sie bestanden darauf, alles fünfzehn Mal aufzuzählen. Er hatte kaum bemerkt, daß sich die Richter zur Beratung zurückgezogen hatten. Dann verkündete der Vorsitzende, ein Oberst: „ Schuldig. “ Das Todesurteil hatte er kaum mehr vernommen. Nach der Urteilsverkündung bestand sein Verteidiger auf einem Gnadengesuch. Das Urteil sollte in Amerika vollstreckt werden. Das stimmte den Verteidiger zuversichtlich, weil es einen beträchtlichen Zeitgewinn gab. Washington verstand nicht. Wie konnte man Zeit gewinnen, wenn man tot war? In Amerika erhielt Washington einen neuen Verteidiger. Einen älteren Captain mit einem weißen Haarkranz. Er erhielt auch einige Besucher. Zuerst 59 Herausgeber der Neuen Zeitung in München einen Mr. Frank Brown vom Nationalverband zum Schutz farbiger Minderheiten, den er schließlich hinauswarf, sodann einen Reporter, der mit seinem ersten Satz seine Sympathie gewann, weil er ihm 1.000 Dollar für ein Exklusivinterview zusicherte. Er könnte sie seiner Tochter vermachen. Ihm stand er Rede und Antwort. Lediglich ein Luftpostbrief trieb ihm Tränen in die Augen. Er stammte von Vater Durant und Martha. Dann kam der Tag, an dem er geweckt wurde, als die erste Morgenröte durch das Kerkerfenster brach. Ein Arzt offerierte ihm eine Spritze, doch er lehnte sie ab. Man führte ihn in den Hof vor den Tisch des Kriegsgerichts. Ein paar geschniegelte Soldaten gingen hinter ihm vorbei, doch er nahm sie wahr. Sie sahen ganz so aus, als ob sie gut zielen würden. Ob sie schon gefrühstückt hatten? Es kam ihm der Gedanke, daß er ihnen vor der Salve, statt zur Befreiung der Neger aufzurufen, guten Appetit wünschen sollte. Das Urteil wurde noch einmal verlesen. Der schwarze Feldkaplan, der neben ihm stand, fragte ihn, ob er noch einen Wunsch hätte: „ Nein, Sir. “ Zwei Soldaten nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn über den Hof. Wahrscheinlich sollte er mit ihnen Schritt halten, aber er ging schneller und sie mußten ihre Schritte verdoppeln. Ein ganzes Leben hatte man ihm Belehrungen gegeben, aber die beste war wohl jene von dem Reporter, der ihn im Gefängnis besucht hatte. „ Ich bezweifle, ob Ihnen die Bibel viel helfen wird “ , hatte er gesagt. Washington hatte erwidert: „ Sie scheinen ein ehrlicher Mensch zu sein. “ „ Die Bibel wird nicht helfen. aber der Brief, den Sie mir gezeigt haben. Als ich Ihre Akten studierte, ist mir aufgefallen, daß Sie eine ganze Menge anständiger Menschen kennen gelernt haben, vielleicht sogar ein paar gute. Und das ist mehr, als die meisten von uns sagen können. Wenn ich Ihnen raten darf, denken Sie an die paar guten Leute, die Ihnen begegnet sind. Vielleicht auch an das Gute, das Sie getan haben. Sie können ja nicht nur Kisten gestohlen haben. “ Ein Soldat näherte sich mit einer schwarzen Binde. Er blickte noch einmal zum Himmel auf, dann schloß sich das Tuch um seine Augen. Es war dunkel um ihn, aber es war, als fiele ein Licht durch die Dunkelheit. Er konnte es sich nicht erklären, aber er war dankbar, weil er darüber nachdenken konnte. Dann konnte er nicht mehr nachdenken. Habe versuchte sich wieder als Chefredakteur in der Bundesrepublik, scheiterte aber zuerst mit der Münchner Illustrierten und sodann auch mit dem Echo der Woche. Trotzdem hatte er aber München, diese „ kleinste Großstadt der Welt “ , lieb gewonnen. Das Echo der Woche war eine Totgeburt, weil sich Habe gegen den von den Amerikanern betriebenen neuen deutschen Nationalismus wandte und das Blatt nur von den Amerikanern finanziert wurde. Die Großartigkeit der Mitarbeiter, das hohe Niveau der Zeitung vermochten nichts daran zu ändern. 60 Herausgeber der Neuen Zeitung in München Es blieb für Habe unergründlich, weshalb Shepard Stone, der Pressechef des amerikanischen Hohen Kommissars John J. McCloy, ihm die Chefredaktion des Echos der Woche anvertraut hatte. Denn vom ersten Tag des Erscheinens an herrschte in Mehlem, dem Sitz der Alliierten Hohen Kommission, Unheil verkündendes Schweigen. Die hohe Kommission hatte ein Kind in die Welt gesetzt, aber ebenso schnell setzte sie es wieder aus. Man wollte in Mehlem ein Organ gegen den Kommunismus haben. Daß Habe zwar ein Organ gegen den Kommunismus, aber auch gegen den deutschen Nationalismus schuf, stand nicht in den Büchern. Immer wieder kamen Freunde aus Bonn zu ihm, um ihn zu warnen. Daß sich der Idealist Habe gegen eine Mehrheit stellte, wenn er seine eigene Haltung für richtig und gut hielt, ist nicht ungewöhnlich. Aber daß er sich so verrechnen konnte, wie dies beim Echo der Woche geschah, war sehr ungewöhnlich. Die Neue Zeitung hatte er noch völlig unabhängig leiten können, weil man in der Militärregierung nicht Deutsch verstand. Inzwischen hatte man es gelernt. Daß eine Methode Habes, die bei den Austrofaschisten verfangen hatte, bei den Amerikanern nicht funktionierte, war auch nicht überraschend. Dazu kam eine der schrecklichsten neudeutschen Erscheinungen, die „ Männer mit den Aktentaschen “ . Fast jeden Tag erschien einer dieser Vertreter irgendeiner der Geheimorganisationen, von denen es plötzlich wimmelte. Diese Leute erkannte man durch ihre dicken Aktentaschen, die sie alle trugen und die sie niemals öffneten. Nach Habes Ansicht befanden sich in den Aktentaschen nur leere Schuhschachteln. Es war unklar, ob sie von den verschiedenen Abwehrorganisationen geschickt wurden oder aber eine kleine Erpressung auf eigene Faust versuchten oder ob sie einfach die Abwehr-Konjunktur benutzten und überhaupt nur Erpresser waren. Habe beförderte sie samt und sonders die Stiegen hinunter. Trotzdem zerrte das „ Material “ , das sie über ihn zu besitzen vorgaben, an seinen Nerven. Auch anonyme Briefe und Telegramme mit falschen Unterschriften strömten ununterbrochen auf seinen Schreibtisch. Das Damoklesschwert, das aber über ihm hing, hieß Ali Ghito (das ist Adelheid Schnabel), die bösartige Frau, von der er sich scheiden lassen wollte und von der allein es abhing, wann sie den Skandal zu entfachen wünschte. Sein Fehler war es gewesen, daran zu glauben, daß kein anderer den Kampf gegen die beiden drohenden Ideologien so gut zu führen verstand wie er und daß seine publizistische und politische Ethik seine privaten Eheirrtümer ausgleichen würden, während es umgekehrt so war, daß seine privaten Eheirrtümer seine öffentlichen Tugenden nullifizierten. Das alles wurde Habe klar, als er erfuhr, daß Ali Ghito als „ Frau Habe “ mit Mitteln reich ausgestattet, in Deutschland eingetroffen war. Er traf sie im großen Abendkleid bei einer Modenschau von Jacques Fath im Haus der Kunst in München. Als ihr Anwalt einen Tag später ihm ihre Rechnung präsentierte, erwiesen sich ihre Forderungen als unerfüllbar. Habe machte in seiner Verzweiflung einen letzten Versuch mit der Militärregierung. Er fuhr nach Mehlem und ließ sich bei Shepard Stone melden. Er 61 Herausgeber der Neuen Zeitung in München wurde gar nicht empfangen. Am selben Tag holte Ali Ghito zum Schlag aus. Sie fuhr zum Chefredakteur der Illustrierten Stern, die Habe sowohl in der Münchner Illustrierten wie auch im Echo der Woche angegriffen hatte. Sie lieferte dem Stern Berge von privatem Material gegen Habe. Die Wahrheit war durch einen noch viel größeren Teil bösartiger Dichtung ergänzt. Der Titel des Angriffs im Stern gegen Habe lautete: „ Hinaus mit dem Schuft aus Deutschland “ . Es war die Wiederholung des Schlachtrufs von Karl Kraus in der Fackel gegen Habes Vater. Das schier endlose Leiden Habes unter der Sippenhaftung, der Schmerz, der ihm unter seinem Namen Békessy durch Jahrzehnte hindurch zugefügt worden war, traf ihn von Neuem. Es war ein seltsames Schauspiel, das sich jetzt, nach dem Tod seines Vaters abspielte. Während zumeist die Zeit die Pein linderte, hatte hier die Zeit eine Pein schlimmer gemacht. Die Reaktion auf den Angriff im Stern war jedoch unerwartet. Aus allen Teilen Deutschlands kamen positive Reaktionen für Habe. Vor allem hatten sich um Fritz Kortner Männer versammelt, die eine Geldsammlung veranstalteten, denn Habe besaß gar nicht die Mittel, um den Prozeß führen zu können. Nach den ersten zwei Verhandlungen war es Habe klar, daß sich der Prozeß jahrelang hinziehen werde können. Doch wurde das Ganze nach eineinhalb Jahren friedlich beigelegt. Habe und der Chefredakteur des Stern Henri Nannen trafen sich in Hamburg. Nachdem sich Nannen durch Dokumente und Aussagen von seinem Unrecht überzeugt hatte, gaben die beiden eine gegenseitige Ehrenerklärung ab. Gegenseitig, weil in der Zwischenzeit Habe zu Unrecht Nannen nationalsozialistische Gesinnung vorgeworfen hatte. Habe ging nach New York, er ging nach Hollywood, aber nirgends gab es eine Aussicht auf Hilfe. Er haderte mit den Menschen rings um ihn, er haderte mit Amerika, er spielte Staatsanwalt, aber es half nichts. Er zog in ein Elendsquartier. Nachdem er seinen größten Irrtum erkannt hatte, änderte er sich grundlegend. Er vertraute sich seinem Freund Michael Blankfort an. Der empfahl ihn an einen Anwalt, der bereit war, auf sein Honorar zu warten. Dieser setzte sich mit Ali Ghito in Verbindung. Habe hatte den Menschen nicht getraut. Es genügte, daß er offen zu ihnen war und sie schienen ihm alle helfen zu wollen. Ali, die immer genau wußte, was los war, wußte von seiner verzweifelten Lage. Viel tiefer konnte sie ihn nicht stoßen. Sie willigte in eine zweite Scheidung ein, die auch in Amerika anerkannt war. Sie wurde 1953 in New Jersey ausgesprochen. Jetzt fand Habe den Mut, zu seinem Freund Jerome Ohrbach zu gehen, der eines der größten Warenhäuser Amerikas besaß. Er bat um einen Posten als Aufseher im Warenhaus, doch dieser lachte. „ Das ist ja Unsinn “ , sagte er. „ Aber ich kenne den Herausgeber der Daily News. Das ist die einzige demokratische Zeitung hier, die Dir entspricht. Vielleicht geben sie Dir eine Chance. “ Der Herausgeber empfing ihn. Dieser hatte seinen Namen nie gehört. Er schlug Habe daher vor, fünf Probekolumnen zu schreiben. Habe war belustigt, aber am nächsten Tag brachte er ihm seine „ Hausarbeiten “ . Er benötigte eine 62 Herausgeber der Neuen Zeitung in München Stunde, um nach Hause zu fahren. Als er daheim ankam, hatte der Chefredakteur bereits angerufen. Er möge zurückkommen. Am selben Nachmittag war er engagiert. Damit hatte plötzlich die große Umkehr eingesetzt. Eine der größten Filmfirmen wollte von Habe ein Drehbuch über die Tochter von Mata Hari, aus München kamen die ersten Telegramme mit Artikelaufträgen. Dazu wurde die außenpolitische Kolumne, die er für die Daily News schrieb, nach wenigen Monaten so beliebt, daß er Vorträge darüber halten mußte und vierzehn andere Zeitungen im Land sie regelmäßig abdruckten. Die Bücher, zu denen er sich bekannte, hat er unter seinem Namen Hans Habe geschrieben. Seine Illustriertenromane erschienen alle unter Pseudonymen und es ist eigenartig, daß er keinen Roman für die Münchner Illustrierte geschrieben hat, wo er doch ihr Herausgeber war. Den Roman mit dem Buchtitel Siebzehn: Die Tagebücher der Karin Wendt und ihres Lehrers schrieb er unter dem Pseudonym Frederick Gert. Veröffentlicht hat er das Buch aber unter dem Titel Siebzehn Jahre für die Berliner BZ. Unter dem Pseudonym Georg Herwegh schrieb er den Roman mit dem Titel Abenteuer in München für die Münchner Abendzeitung. Mit dem berühmten Stuttgarter Autor des 19. Jahrhunderts gleichen Namens fühlte er sich geistig verwandt, weil dieser wie er selbst aus politischen Gründen in verschiedene Länder getrieben wurde und stets für die Freiheit eintrat. Ob er bei seinem Pseudonym Peter Stone an den New Yorker Autor Irving Stone dachte, ist fraglich, obwohl dieser Themen Habes behandelt hatte. Als Peter Stone schrieb er den Roman Die Prinzessin mit der Bombe für das 8 Uhr Blatt. Der unter dem Namen Hans Wolfgang erschienene Roman Wegen Verführung Minderjähriger kann Habe nicht mit absoluter Sicherheit zugeschrieben werden, obwohl seine Autorenschaft durchaus möglich ist und von manchen angenommen wird. Im März 1951 mußte er erfahren, daß seine Eltern - sein Vater war entgegen seiner ausdrücklichen Warnung in das kommunistische Budapest gegangen - durch Selbstmord geendet hatten. Sein Vater hatte bei der Zeitung von Innenminister László Rajk eine Anstellung gefunden, der eine Tito-ähnliche Reform des Stalinismus durchführen wollte. Auf Betreiben Moskaus hin war Rajk jedoch nach einem Schauprozeß hingerichtet worden. In der Folge durfte er sich nicht mehr als Journalist betätigen. Daraufhin plante er seine Ausreise und es war ihm gelungen, für sich und seine Frau ein italienisches Visum zu erhalten. Das stalinistische Regime verhinderte jedoch deren Ausreise, indem es dem Ehepaar die Reisepässe entzog. Um als Anhänger Rajks noch Ärgeres zu verhindern, begingen die beiden Selbstmord. Doch es gab zuvor einen Anfang, weil er nicht allein war, sondern viele Freunde gefunden hatte, einen Anfang, weil Eloise bedingungslos an seiner Seite stand, und ganz besonders einen Anfang, weil in der Winternacht des 23. Februar 1951 in einem Münchner Krankenhaus seine Tochter Marina geboren 63 Herausgeber der Neuen Zeitung in München wurde. Mit diesem Kind wuchs in ihm die Erkenntnis des göttlichen Sinns der menschlichen Aufgabe. Aufgabe und Glück waren eins geworden. Allerdings traf ihn auch mit ihr der härteste Schlag seines Lebens. Denn seine Tochter Marina, die in Los Angeles lebte, wurde als Sechzehnjährige in der Silvesternacht von 1968 auf 1969 entführt und ermordet. Habe vermutete zu Recht den Mörder aus dem Umkreis jenes Charles Manson, dessen grausame Morde bald ganz Los Angeles in Angst und Schrecken versetzten. 64 Herausgeber der Neuen Zeitung in München DER ROMAN OFF LIMITS „ Es war der Anfang, aber vor allem “ , schloß er seine Autobiographie Ich stelle mich, „ weil ich keine Mauern mehr fürchte. “ Man wird in einen Kerkerhof geboren, in den Mauern aber sind tausend unsichtbare Türen. Man geht hinein und ist in einem anderen Kerkerhof. „ Die Wahrheit aber ist, daß es keine Mauern gibt ohne eine Tür Gottes. Mögen sie von einem Kerkerhof in einen andern führen, sie führen endlich ans Licht. “ 1 Zwei Jahre nachdem ihn die Redaktion der Daily News nach Europa geschickt hatte, erschien 1955 Habes achter Roman Off Limits. Als einer aus der großen Zahl der Kritiker, die ihn unbedingt schlecht machen wollten, sei es wegen der Sippenhaftung, sei es aus Antisemitismus, der das Buch besprach, warf Habe Großsprecherei und Anmaßung vor, weil er einmal sein Buch „ den “ Roman der Besatzung Deutschlands nach dem Krieg genannt hatte. „ Hätte James Jones seinen Roman Verdammt in alle Ewigkeit ‚ den ‘ Roman der amerikanischen Armee genannt, er hätte ein Recht darauf gehabt. “ Habe, schrieb er, hätte kein Recht, sein Buch „ den “ Roman der deutschen Besatzung nach dem Krieg zu nennen. Durch diesen Vergleich hatte sich der Kritiker zum Antiamerikanismus bekannt, der ihn bewegte, denn im Roman von Jones wird die amerikanische Armee nur schlecht gemacht, während sich in Off Limits eine ganze Anzahl überaus positiver Charaktere der amerikanischen Besatzer befindet. Habes Roman schildert ganz nach den Forderungen Brochs die „ Totalität “ der Besatzung, eine breite Skala von Amerikanern wie von Deutschen und dazu noch Erscheinungen wie den „ Schwarzen Markt “ , der durch die Besatzung hervorgerufen worden war. Kurze Zeit vor dem Erscheinen der deutschen Ausgabe des Romans Off Limits kam Habes erstes Sachbuch Our Love Affair with Germany heraus. Das Buch ist nur englisch erschienen und wahrscheinlich war es das einzige, das Habe selbst englisch geschrieben hat. Es ist vom Thema her eng mit Off Limits verbunden, denn es geht um die Verurteilung der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland. Das arrogante Verhalten der amerikanischen Besatzungssoldaten wird gerügt, für welche die Geschichte der Familie Hunter in Off Limits ein praktisches Beispiel gibt. Habes Kritik am Antiverbrüderungsgesetz (Non- Fraternization-Law) wird in Off Limits praktisch am Beispiel der Liebe von Frank Green zu Elisabeth Zutraven gezeigt. 1 Ich stelle mich, op. cit., S. 538 Der Ton der Angriffe ist schärfer als in Off Limits. Der amerikanische Bürger Hans Habe wollte nur seinen amerikanischen Landsleuten einen Spiegel vorhalten. Von den deutschen Ausländern und vor allem von den ehemaligen Angehörigen der NSDAP wollte er eine positivere Meinung erreichen, da die Absicht der Besatzung in einer Überwindung des NS-Gedankenguts bestand. Daß dem Buch sowohl Amerikafeindlichkeit als auch Deutschfeindlichkeit nachgesagt werden konnte, spricht für das Buch. Manches ist auch mißverstanden worden. So wurde in einer Kritik geschrieben, Habe sei grundsätzlich und radikal gegen eine Remilitarisierung Deutschlands. Er war nur bedingt dagegen, lediglich für den Fall, daß sich Deutschland nicht als Bündnispartner in die NATO und in die UNO einfügen können sollte. Wie voll sie in Deutschland eingebunden sind, steht jetzt fest. Auch daß er von der Qualität der deutschen Nachkriegsliteratur sehr wenig hielt, wurde ihm vorgeworfen. Er hat wie so oft Recht gehabt. Die großen Erfolgsnamen der Gruppe 47 Günter Grass und Heinrich Böll waren nicht halb so bedeutend, wie sie es von den deutschen Medien ausposaunen ließen. Habe hat bestimmt auch der Antiamerikanismus dieser Gruppe gestört. Der Roman Off Limits beginnt mit dem großartigen deutschen Menschenfreund und Arzt Dr. Adam Wild, dessen Diwan in seiner Ordination stets jedem Verfolgten zur Verfügung steht, aus welchem Grund auch die Verfolgung stattfand. Aber das Buch beginnt auch gleich mit dem Besuch eines amerikanischen Offiziers bei Dr. Wild, der nicht nur einer der positivsten Amerikaner des Romans ist, sondern zudem auch die Figur, welcher Habe einige autobiographische Züge von sich verliehen hatte, Major Frank Green. Major Green war wie Habe zunächst europäischer Jude gewesen, der vor Hitler nach Amerika geflohen war und der genauso wie Habe als Besatzungsoffizier wieder zurück kam und zwar auch so wie Habe als Abwehroffizier im Rang eines Majors. Dazu ging es ihm wie Habe darum, Gerechtigkeit walten zu lassen und Gutes zu tun. Elisabeth, die Frank seit ihrer Jugend her liebte, sagte zu ihm einmal: „ Du hattest immer schon eine beinahe panische Furcht vor der Ungerechtigkeit. “ Dr. Adam Wild aber erklärt Frank Green unter Verwendung seines ursprünglichen deutschen Namens einmal: „ Ich hatte diesen Franz Grün glatt abgeschrieben, ein höchst beschämender Unsinn, wenn ich daran denke, wie er einem rettenden Engel gleich erschien und mich gegen jedes Recht und jede Vorschrift aus dem Lager holte. “ Die alte Frau Wild aber, Adams Mutter sagte von ihm: „ Er ist wahrscheinlich ein guter Mensch. “ Frank Green war auch ein wirklicher Trostspender. Zu Elisabeth sagte er einmal: „ ,Man kann darüber nicht hinweg ‘ , immer wieder sagst du das. Aber gerade das ist es: man muß darüber hinweg und man kann es. “ Franks Bruder, Captain George Green, ist sein genaues Gegenstück im Bösen. Er beschlagnahmte willkürlich eine Münchner Villa, die dem Bankier Hitlers gehörte und in der auch dessen beide Kinder wohnten, die politisch das 66 Der Roman Off Limits Gegenteil des Vaters sind. George Green zog in die Villa ein, schwängerte die Tochter des Bankiers und ließ sie mit dem Kind sitzen. Ja, zuletzt wird er im Kalten Krieg zu einem Verräter Amerikas für den sowjetischen Osten und versuchte den eigenen Bruder Frank, den er immer gehaßt hatte, ins Verderben zu stürzen. Um einen kurzen Überblick über die breite Skala der Personen zu geben: Da ist General McCallum, der nach dem Modell des berühmten Panzergenerals und Kommandierenden der 3. US-Armee George S. Patton gezeichnet ist. Der deutsche General Stappenhorst, ein unverbesserlicher Nazi, ist ein Gegenspieler zu Frank Green, der mit Unterstützung von George Green eine deutsche Abwehr gegen den sowjetischen Osten aufbauen will, und ist überzeugt, daß der Dritte Weltkrieg demnächst ausbrechen wird, wodurch er Morgenluft wittert. Zu Stappenhorsts Stab gehört auch der ehemalige Gestapochef Dieter Griff und der SS-Obersturmbannführer Gerd Mante. Besonders weit ins Ungewöhnliche hinaus, um eine echte Totalität dazustellen, geht Habe mit dem seltsamen Paar des amerikanischen Majors William S. O ’ Hara, der vor dem Krieg in den USA ein radikaler Polizeisergeant gewesen war und der KZ-Kommandeuse Irene Gruß, die als Gattin eines Lagerkommandanten ihren eigenen Sex- und Grausamkeitsterror im Lager veranstaltet hatte. Als O ’ Hara sie verhaften sollte, verfiel er stattdessen einer abnormalen, sadomasochistischen Folterszene mit der Kommandeuse und brachte sie für sich in Sicherheit, damit sie beide ihre Sexspiele in Ruhe gemeinsam treiben konnten. Ein Deutscher jenseits aller politischen Lager ist Herr Wedemeyer, der ein Lokal eröffnen wollte und der vieles durch seine Kenntnisse von Zauberkunststücken erreichte. Es gelang ihm sogar, das Interesse General McCallums für die Zauberei zu wecken. Als der riesige und sehr starke Dr. Wild in ein amerikanisches Lager verschlagen wurde, bändigte er in einer Kraftszene einen wild gewordenen amerikanischen Korporal. Er wurde von vier Militärpolizisten verhaftet und dem Kommandanten des Lagers, einem Oberstleutnant Lee E. Perry vorgeführt. Nachdem er diesem den Vorgang mit dem Korporal geschildert hatte, erklärte ihm Perry: „ Ich hätte an Ihrer Stelle genauso gehandelt. “ Etwas später fügte er hinzu: „ Wir versuchen, keine Konzentrationslager zu machen. Vielleicht wundert Sie das, Herr Dr. Wild. Aber es ist leichter Konzentrationslager zu machen, als keine zu machen. Verstehen Sie? “ Da war der ehemalige Generalstabsoberst Armin von Sibelius, ein entkommener Verschwörer des Putsches vom 20. Juli gegen Hitler, der damals wie jetzt zwischen den Fronten steht und dadurch ein schweres Leben hat. Sogar als Kellner ist er zum Scheitern verurteilt. Auch ihn rettete Frank Green einmal aus einer schwierigen Situation und brachte ihn zu Adam Wild, wo er den Diwan im Ordinationszimmer benützen konnte. 67 Der Roman Off Limits Eine echte Hoffnung ist die junge, deutsche Generation. Da ist die junge, noch unmündige Inge Schmidt, Tochter eines ehemaligen NS-Blockwarts, dem man vorübergehend seine Pension gestrichen hat und der sie zur Prostituierten machen will, was nur ganz kurz gelang. Sie traf auf den Sohn des Bankiers von Hitler Dr. Eber, der mit seinem Vater nichts zu tun haben wollte und der sich in Inge verliebte. Er haßte die „ Gespenster der Vergangenheit “ . Als er auf Frank Green traf, war er von ihm begeistert. Er berichtete, daß Adam Wild in einem amerikamischen Lager war und bat ihn, ihm zu helfen. Da ist der ehemalige deutsche Oberst Zobel, der niemals ein Parteigänger Hitlers war und der mit dem Juli-Verschwörer Oberst Armin von Sibelius befreundet war. Aber Zobels Tochter Martha ist in den SS-Obersturmbannführer Mante verliebt und es taucht auch der ehemalige Bursche Zobels, der Gefreite Josef Maurer, auf, für den der Krieg auch nicht vorbei war und der sofort mit Mante gemeinsame Sache machte und wie viele Deutsche die Amerikaner nicht als Befreier, sondern als Feinde betrachtete. Die amerikanische Verordnung der ersten Zeit, wonach sich amerikanische Soldaten nicht mit deutschen Bürgern anfreunden durften, hat noch das ihre dazu beigetragen. Daß sie ohnehin praktisch nicht durchführbar war, bezeugen die vielen Besatzungskinder, die deutsche Frauen von amerikanischen Soldaten zur Welt brachten. Auf jeden Fall gab es auf beiden Seiten viele positive Erscheinungen, die das gegenseitige Verhältnis förderten, gleichgültig welche Stellung sie früher eingenommen hatten. Einen radikalen Fall stellte Elisabeth von Zutraven dar, die Jugendliebe des ehemaligen deutschen Juden Franz Grün, deren elterliche Gärten aneinander grenzten. Sie hatte später einen Vertrauten Hitlers geheiratet, der 1943 zum Gouverneur von Frankreich ernannt worden war. Seine Frau war durch die Vorgänge in Verwirrung gestürzt worden. Sie hoffte durch einen kurzen Besuch in Holland mit sich ins Reine zu kommen und klar zu sehen. Sie begann durch den Besuch tatsächlich klar zu sehen, aber die alte Ordnung war dadurch völlig zusammen gestürzt. Man hatte sie nämlich in Holland in ein Haus geführt, in dem man billig Gold kaufen konnte. In sämtlichen Zimmern waren Goldzähne zur Schau gestellt, die man toten Juden, nachdem sie vergast worden waren, ausgebrochen hatte. Elisabeth brach zuerst zusammen. Dann brachte sie zum Entsetzen ihres Gatten dieses Erlebnis als Anklage vor Hitler selbst auf. Als auch ihr Mann von ihrem Entsetzen unbeeindruckt blieb, wählte sie anstatt ihn zu verlassen einen anderen Weg, der ihr der richtigere schien. Gedeckt durch seine hohe Machtstellung verhinderte sie ein halbes Dutzend Judentransporte aus Frankreich. Sie versteckte französische Widerstandskämpfer. In ihrem ganzen Haus gab es nur Männer und Frauen der Résistance. Als sie das alles Adam Wild erzählte, hatte er eine Frage an sie: „ Ich “ , sagte er, „ ging am Anfang des Krieges zu Ihrem Vater, Elisabeth. Es ging um eine Jüdin, Frau Grün. Ich bat Ihren Vater für sie zu 68 Der Roman Off Limits intervenieren. Ist die Intervention zu Ihnen gedrungen? “ Er wußte, daß Frau Grün etwas später im Konzentrationslager an Angina pectoris verstorben war. Elisabeth antwortete ihm, sie sei zu Zutraven gegangen. Ihr Mann hatte gesagt, daß Theresienstadt ein Auffanglager sei, in dem Juden vor ihrer Auswanderung gesammelt würden. Er hatte ihr versprochen, Frau Grün würde eine Sonderbehandlung erfahren. „ Das hat sie “ , sagte Adam. „ Man hat sie nicht vergast, sondern sie starb eines natürlichen Todes. “ Da der berühmte Diwan im Ordinationszimmer gerade frei geworden war, fügte er hinzu: „ Sie können bei uns wohnen, Elisabeth. Der Diwan ist gerade frei geworden. “ Als ihr Adam sagte, daß Frank Green sie sehen wollte, erklärte sie ihm, daß sie ihn nicht sehen wollte. Aus ihrer Erklärung und ihrem Verhalten war ihm zweifelsfrei klar geworden, daß sie Frank sehr lieben mußte. Eine überaus positive Erscheinung ist auch der stellvertretende Chef der amerikanischen Abwehr für das Land Bayern, Colonel Graham T. Hunter, der den leer gelassenen Posten eines Chefs im Generalsrang ausfüllte. Er war mit General McCallum aus seiner Zeit in West Point her befreundet, der ihn auch bereits zur Beförderung zum General vorgeschlagen hatte. Hunter blieb konsequent dabei, den Nationalsozialismus zu unterbinden. Als er aufgrund der politischen Entwicklung fürchtete, das nicht durchziehen zu dürfen, verzichtete er auf seine Beförderung zum General, um schnell nach Amerika zurückgehen zu können, damit er nichts gegen seine Überzeugung tun mußte. Aus den Beziehungen und Spannungen einer so großen Zahl von Charakteren hat Habe die übliche, spannende Erzählung geflochten, die das Buch so großartig macht. Für den Schluß des Romans hat er sich als Höhepunkt den Endkampf zwischen den feindlichen Brüdern Frank und George Green aufgehoben. So wie George bereit war, sich mit deutschen Kriegsverbrechern einzulassen, um eine gemeinsame Abwehr gegen den sowjetischen Osten zu begründen, so war er auch umgekehrt bereit, zu einem Verräter Amerikas zu werden, indem er selbst nach dem Osten ging und sich der DDR im Kalten Krieg zur Verfügung stellte. Die amerikanische Abwehr war sich darüber durchaus im Klaren. Der ehrgeizige Wunsch von George war es jedoch, den feindlichen Bruder Frank in den Osten zu locken, damit er ihn endlich endgültig überwältigen und erledigen konnte. Frank, inzwischen Oberstleutnant, erhielt am 12. Juni 1948 einen Brief von George, in welchem er ihn ersuchte, ihn im Osten zu treffen. Es handle sich um die Möglichkeiten und Bedingungen seiner eventuellen Rückkehr in den Westen. Weshalb es natürlich auch nicht angezeigt wäre, überflüssige „ Vorsichtsmaßnahmen “ zu treffen. Er bäte ihn, ihm wenigstens in diesem Fall zu vertrauen. Frank fuhr sofort zu Colonel Hunter und übergab ihm den Brief. Sie einigten sich, daß Frank in den Osten gehen sollte. Natürlich verständigte Colonel 69 Der Roman Off Limits Hunter sofort den zuständigen Captain Symington, um die „ überflüssigen “ Vorsichtsmaßnahmen zu veranlassen. Das Café Breuer, in dem Frank einen Bekannten von George treffen und der ihn zu ihm führen sollte, lag sehr nahe der Sektorengrenze. Eine Kellnerin führte Frank zu einem Tisch, an dem ein Mann in Zivil mit einer dunkelblauen Schirmmütze saß, der ihm mitteilte, George erwarte ihn auf dem Alexanderplatz. „ Ich habe nicht die Absicht, in den Ostsektor zu gehen. “ sagte Frank. Der Mann erwiderte: „ Da der gegen Ihren Bruder ausgestellte Steckbrief läuft, kann er nicht herüberkommen. “ „ Es sind schon viele nicht zurückgekommen. “ „ Nur solche, die nicht eingeladen waren. Sie sind höflich eingeladen. “ „ Das muß ich mir erst überlegen. “ „ Es geht jetzt oder gar nicht. Wir können keine internationalen Verwicklungen brauchen. Ich werde Sie unversehrt wieder abliefern. “ „ Gut. Ich gehe mit. “ „ Gleich um die Ecke wartet mein Wagen. Ein Taxi. Kommen Sie mir in einigen Minuten nach. “ Es war ein klappriges, vorsintflutliches Gefährt. Ein Ost-Berliner Taxi. Frank stieg ein. Es erfüllte ihn mit Mißtrauen, daß das Taxi an der Sektorengrenze nicht gestoppt wurde. Der Fremde hielt auf dem bereits recht dunklen Alexanderplatz und deutete auf eine Ruine neben dem ehemaligen Polizeipräsidium. Frank stieg aus und aus der Ruine tauchte George auf in einem gut sitzenden, grauen Zivilanzug. George schlug vor, daß sie auf dem leeren Platz auf- und abgehen sollten, während das Taxi in der Mitte des Platzes wartete. Gleich zu Beginn stellte sich heraus, daß George nicht daran dachte, in den Westen zurück zu gehen. „ Warum hast Du es dann geschrieben? “ „ Ich mußte es schreiben. “ Es blieb im Dunkeln, was oder wer ihn dazu gezwungen hatte, es zu schreiben. Dann kam die überraschende Eröffnung von George: „ Ich spiele mit offenen Karten. Ich möchte Dich überzeugen, hier zu bleiben. “ „ Du bist verrückt geworden. “ George hielt ihm einen Vortrag, in dem wahre Probleme, die Frank bewegten, gemischt waren mit hohlen DDR-Phrasen, in denen er den Ostsektor als den einzig richtigen, moralischen und zukunftsträchtigen Ort hinstellte, in dem man heute leben konnte. Zwei Zivilisten tauchten aus den Ruinen auf, gingen zu dem Taxi und begannen mit dem Fahrer zu sprechen. Nachdem Frank George lange zugehört hatte und sie an einer Ecke des Platzes angelangt waren, sagte er zu George: „ Ich werde jetzt gehen. “ und begann langsam auf das Taxi zu zugehen. Da ergriff George seinen Arm mit einem Griff, der hart und entschlossen war. „ Geh nicht “ , 70 Der Roman Off Limits sagte er flüsternd, „ Sie bringen Dich nicht zurück. Sie haben die Weisung, Dich in die Zone zu bringen, wenn meine Mission scheitert. “ „ Hast Du das gewußt? “ „ Ja. “ „ Warum? “ „ Ich hatte keine Wahl. Geh weiter. “ „ Was wollen Sie von mir? “ „ Du weißt viel. “ „ Ich werde es nicht sagen. “ „ Doch, Du wirst es. “ Der Chauffeur saß am Steuer und rauchte. „ Zwei Freunde wollen mit kommen “ , sagte er. Frank sagte: „ Mein Bruder wohnt gleich um die Ecke. Ich möchte zu ihm gehen. “ „ Steigen Sie ein. “ sagte der Fahrer im Befehlston. Frank trat ein paar Schritte zurück und griff nach seiner Pistole. „ Was soll das? Darf man hier nicht zu Fuß gehen? “ Die beiden Männer packten ihn. Der Chauffeur griff unter den Fahrersitz und brachte einen riesigen Schraubenschlüssel hervor. Er kam aber nicht dazu, zu zuschlagen. Ein Wagen war plötzlich aufgetaucht, blieb nach einer scharfen Kurve vor dem Taxi stehen und aus allen vier Türen sprangen sieben oder noch mehr Männer mit gezogenen Pistolen hervor. Der Chauffeur ließ den Schraubenschlüssel fallen. Als einer der beiden Männer in seine Rocktasche griff, traf ihn ein Revolverknauf auf die Schläfe, sodaß er zusammensackte. Einer der Männer sagte: „ Let ’ s go. “ So schnell, wie sie aufgetaucht waren, verschwanden die Männer wieder im Wagen und nahmen Frank mit. Der Wagen raste zur Sektorengrenze. Einer sagte: „ Wir müssen schnell machen, ehe sie die Leute an der Grenze alarmieren. “ Aber der Anführer - Frank erkannte die Stimme des jungen Captain Yates - sagte verächtlich: „ Bei den Telefonen. “ An der Sektorengrenze traten ein deutscher Polizist und ein Russe auf den Wagen zu. Das Licht einer Taschenlampe fiel hinein. „ Einer zu viel “ , sagte der Polizist. Frank kramte seinen vorschriftsmäßig ausgestellten Passierschein hervor. Eine endlose Minute besahen der Deutsche und der Russe gemeinsam den Schein. Dann gab der Deutsche ein Zeichen, weiter zu fahren. Sekunden später waren sie auf dem Kurfürstendamm im Westen. „ Schade, daß wir den Wagen hier lassen müssen. “ sagte einer der Männer. „ Den Wagen hier lassen? “ fragte Frank. „ Was, Sie wissen es noch nicht, Colonel? “ fragte Yates. „ Wir müssen morgen früh hinaus fliegen. Die Russen haben Berlin blockiert. “ 71 Der Roman Off Limits Wie das Buch mit Adam Wild begann, so schloß es auch mit ihm. In seiner Schwabinger Wohnung war seine Mutter dabei, Weihnachtsgebäck zu backen. Als sie versuchte, kleine Backformen aus Aluminium von der Wand zu nehmen, aber zu klein dazu war, hob der riesige Sohn die kleine Frau empor, zappelnd wie ein Kind streckte sie die Arme nach den Formen aus. Adam gab einen Überblick über die Freunde der Figuren des Hauses zu dieser Zeit. Die Mutter schlug die Tür des Backofens zu und sagte: „ Jetzt bist Du einmal ganz still und hörst mir zu. Neulich, in einem alten Buch, habe ich eine chinesische Legende gelesen. Es ist die Geschichte eines Mannes, der nichts Besonderes besaß als ein Stück glimmendes Holz. Es war ein merkwürdiges Scheit, denn es brannte immer und verbrannte doch nie. Er sprach zu niemandem von seinem Schatz, denn er wollte nicht, daß man ihn auslache. Einmal in einer Hochwasserflut schlugen die Wellen über dem Scheit zusammen. Aber es glimmte weiter. Einmal in einer großen Feuersbrunst verbrannte alles, aber das glimmende Scheit verbrannte nicht. Als er starb, vermachte er das Scheit seinem Sohn und dieser wieder seinem Sohn und so weiter. So gibt es noch heute in der Welt ein Scheit, das in Wasser und Feuer nicht untergeht, sondern weiter glimmt. Eines Tages wird der Urenkel eines Urenkels entdecken, warum der Mann festhielt an dem glimmenden Scheit. Ich weiß es nicht, Du weißt es nicht und der Mann, der die Geschichte schrieb, wußte es auch nicht. “ Adam ging auf seine Mutter zu, hob sie hoch und trug sie in das Wohnzimmer „ Mutter “ , sagte er, „ seit ich ein Kind war, hast Du mir keine Märchen mehr erzählt. Damals aber müssen es Märchen gewesen sein, wie die Legende vom glimmenden Scheit. “ Sie lachte: „ Meinst Du, daß ich an allem schuld bin? “ Auch er lachte: „ Vielleicht. Und darum darfst Du Dich nicht beklagen, wenn ich das Scheit weiter trage. “ „ Durch Wasser und Feuer? “ fragte sie. „ Durch Wasser und Feuer. “ sagte Adam. Nur noch ein Wort zum Titel des Romans, der in den Nachkriegsjahren, der Zeit der Besatzung von jedem verstanden wurde, der aber heute, wie die Zeit der Besatzung überhaupt völlig vergessen ist. Damals fand sich die Aufschrift „ Off Limits “ , was so viel wie „ Für Zivilisten verboten “ bedeutete, in München auf Restauranttüren und Amtstüren, auf Wohnungen und Bars und Gartenzäunen. Im Roman wird die Aufschrift erwähnt, als der junge Bankierssohn Eber mit Inge Schmidt nach Garmisch-Partenkirchen fährt, um ihr Skifahren beizubringen. In dem kleinen Ort machten es die Verbotstafeln schwer für die Besucher, Nahrung und Unterkunft zu finden. Hier flößten sie sogar ein Gefühl schlechten Gewissens ein. - Ihr wollt Euch vergnügen, ihr Deutschen, schienen die Tafeln zu sagen, habt ihr denn Hitler vergessen und den Krieg und das Verbrechen und 72 Der Roman Off Limits das Elend? Mit diesem Problem während der Besatzungszeit beschäftigte sich der Roman, sodaß der Titel wirklich sehr treffend gewählt war. In Amerika hatte Habe die breiteste Skala seines Lebens durchlaufen: Beglückung sowohl wie das tiefste Unglück seines Lebens, nicht zuletzt aber hatte er wichtige, neue Erkenntnisse gewonnen. 73 Der Roman Off Limits DER ROMAN IM NAMEN DES TEUFELS Habes sechster Roman trägt den Titel Im Namen des Teufels. Wie Off Limits der Roman der deutschen Besatzung gewesen war, so war Im Namen des Teufels der Roman der Geheimdienste. Hatte es aber in Off Limits sowohl unter den amerikanischen Besatzern als auch unter den besetzten Deutschen gleicherweise positive wie negative Gestalten gegeben, so ist das Bild, das Habe von den Geheimdiensten entworfen hat, fast ausschließlich negativ. Um auch hier ein Totalitätsbild zu geben, ließ Habe seinen Protagonisten, Georg Droste, für drei Geheimdienste gleichzeitig arbeiten, für den amerikanischen, den russischen und den deutschen. Um aber auch den doch sehr wichtigen britischen Geheimdienst nicht unerwähnt zu lassen, läßt er den Gatten seiner Geliebten, einen schwedischen Diplomaten, für die englische MI V arbeiten. Der Roman ist so angelegt, daß er seinem Protagonisten Georg Droste dessen Memoiren schreiben läßt, zu dem doppelten Zweck die Öffentlichkeit über die Arbeit der Geheimdienste zu informieren und zugleich seinen geliebten Adoptivsohn, den damals gerade sechzehnjährigen Johnny abzuschrecken, damit er niemals den Fehler seines Ziehvaters macht, und sich einem Geheimdienst verschreibt. Dieser Roman ist seiner sechsten und letzten Gattin Licci Balla, einer Bekannten seiner heißgeliebten toten Mutter, gewidmet, die er 1955 heiratete. Sie war nicht nur ungarische Schauspielerin, sondern lebte auch in St. Wolfgang, das er so liebte und wo er auch den Roman verfaßte. Im Roman gibt es nur eine einzige, kurze Stelle, an der er autobiographische Züge aufweist. Der durch die Geheimdienste zu einem geldgierigen Zyniker gewordene Georg Droste, der die Chefs aller drei Geheimdienste, für die er arbeitet, hintergeht, hat außer seiner Hingabe an seinen geliebten Adoptivsohn Johnny noch eine zweite, echte und rein menschliche Bindung durch seine tiefe Liebe zu Nora Güldendag. Georg Droste und Nora Güldendag verbrachten die Zeit ihrer erfülltem Liebe im österreichischen St. Wolfgang, wo auch Habe mit Licci Balla lebte, als er ernsthaft die Idylle eines idealen Familienlebens zu verwirklichen suchte. Was den Titel des Romans Im Namen des Teufels betrifft, so wird er ein Dutzend Mal zitiert, wobei eben zumeist eine neue negative Seite der Geheimdienste auftaucht. Das erste Mal wird erklärt, daß Gentlemen andere Gentlemen nicht betrügen, daß Ganoven andere Ganoven nicht übers Ohr hauen, daß die Geheimdienste aber zuerst ihre eigenen Angehörigen in eine Falle locken, damit diese Gefangenen dann anderen Fallen legen. Wer das Übel erkennt, heißt es, dem stehen drei Wege zu seiner Rückversicherung offen, von denen die konventionelle Welt nur zwei anerkennt: den Weg der Entfernung vom Geheimdienst oder den Weg der Opposition gegen ihn. Der dritte, wenig bekannte Weg, ist der Weg der Opposition durch Annäherung. Die Lauen, Passiven und Duldsamen legen ein Mönchsgewand an: Sie verstecken sich vor dem Teufel und werden darum gepriesen. Die Kühnen, Aktiven und Unbeherrschten legen einen schillernden Panzer an, fordern den Teufel zum Duell, um ihn zu töten und werden darum gepriesen. Die dritten legen das Gewand des Teufels an und sie werden verdammt, obwohl sie die einzigen sind, die erkannt haben, daß Kenntnis vor Erkenntnis kommen muß. Da dies in Drostes Memoiren steht, sieht er sich wohl selber so und ist eine positive Figur. Er hatte sich dem Teufel verschrieben, erklärte er, wollte aber nicht besser sein als der Teufel, sondern teuflischer. Das konnte Nora, mit der ihn eine wirklich tiefe Liebe verband, nicht verstehen, „ weil dem Reinen der Versuch den Teufel zu übertölpeln, so unverständlich ist, wie die Bereitschaft, ihm zu dienen. “ Je näher Georg Droste Nora kam, umso mehr wuchs seine Angst, er könnte nicht weiter von den Geheimdiensten Geld beziehen und zugleich ihre Liebe behalten. Es kommt auch wirklich zur Krise und er verliert Nora, weil er ein Spion ist. Er wußte, weshalb er schon vorher seinen ebenso tief geliebten Adoptivsohn Johnny vor einem ähnlichen Schicksal wie seinem eigenen bewahren wollte. Drostes geliebte Nora hatte bereits ihre eigenen bösen Erfahrungen mit Geheimdiensten gemacht. Ihr Mann, Gunnar Güldendag, war schwedischer Diplomat gewesen und hatte für den britischen Geheimdienst gearbeitet. Er war vom sowjetischen Geheimdienst gekidnappt und verschleppt worden. Droste hatte einen Zeitungsausschnitt mit einem Bild gesehen auf dem Nora in schwarzem Kleid einem Sarg folgt. Sie war eine Witwe. Fünf Jahre später erklärte die sowjetische Regierung, was sie fünf Jahre bestritten hatte, nämlich daß der Legationsrat Gunnar Güldendag während der Belagerung Budapests in russische Hände gefallen war. Er war zu fünfundzwanzig Jahren schweren Kerkers verurteilt und in einem Lager nahe der iranischen Grenze gefangen gehalten worden. Nora sah es ganz richtig, daß die Sowjets ein Zeichen ihrer Freundlichkeit setzen wollten, indem sie ihn jetzt frei ließen. Es ging ihnen darum, im Korea- Krieg die Sympathie neutraler Nationen zu gewinnen. Gunnar Güldendag hatte seine Arbeit für die Briten ganz entsprechend den Geheimdienstregeln keinem anderen Menschen mitgeteilt, nicht einmal seiner Gattin Nora. Sie trug ihm das nach und fand sich plötzlich in der bösen Situation, daß die Lügen ihres Gatten jetzt durch die Lügen des Geliebten abgelöst worden waren. 76 Der Roman Im Namen des Teufels Sie verließ Droste allerdings mit der wahren Erklärung, sie hätte geglaubt, Gunnars Witwe zu sein, aber es hatte sich herausgestellt, daß er noch ihr Gatte war. „ Er braucht mich “ , sagte sie zu Droste, „ und du brauchst mich nicht. Er ist ein alter gebrochener Mann. Er geht auf einen Stock gestützt, und sein Gesicht ist wie die Wand eines Gefängnisses, auf die der Häftling mit einem Blechlöffel die verstrichenen Jahre geritzt hat. “ Aber das war nicht alles. Nora warf ihm vor, daß in ihrem gemeinsamen Leben sogar seine Träume Lügen gewesen wären. „ Du kannst kein neues Leben beginnen, Georg, wie der Mörder oder der Dieb “ , sagte sie ihm. „ Die ganze Welt fordert und fördert die Besserung der Mörder und Diebe: aber die Welt, die dir den Auftrag gab, fordert ebenso gebieterisch, daß der Spion bleibt, wer er ist. “ In einer kleinen Konditorei in der Nähe der Schiffsanlegestelle nahmen die beiden Abschied voneinander, der ihnen beiden ungeheuer schwer fiel. Er hielt ihre Hand. Er konnte sich später nicht mehr erinnern, was sie gesprochen hatten. Er wußte nur noch, daß er ohne Unterbrechung gesprochen hatte. Sinnloses wohl, und Zweckloses oder Zweckvolles nur in dem Sinn, als er den Augenblick der Trennung um jeden Preis hinauszuzögern suchte. Während er noch neben Nora saß, ihre Hand haltend, an dem kleinen runden Marmortisch, war es ihm, als erlebte er ihre Zweisamkeit schon in der Erinnerung; und er meinte, je länger er dieses Zusammensein ausdehne, desto länger würde die Erinnerung währen. Vielleicht wartete er auch auf ein Wunder, das sich nur ereignen könnte, so lange sie einander nicht verließen. Seine Rede lief im Kreise; seine Sätze waren ohne Punkte; seine Blicke suchten Hilfe und er wußte nicht, worauf er wartete. Als sie sich trennten, bat sie ihn ernsthaft, nicht zu versuchen, sie wieder zu sehen. Er hielt sich an ihr Gebot. Etliche Zeit später, es war wiederum der Augenblick gekommen, in seinem Haus am Bisamberg bei Wien die Ferienankunft seines Adoptivsohnes Johnny aus dem Schweizer Internat vorzubereiten, um in den vierzehn Tagen so viel wie möglich für Johnny zu tun, da stieg dieses Mal plötzlich eine Angst um Johnny in Georg Droste auf. Wenn ihm selbst etwas geschah, würde Johnny allein bleiben. Trotz aller legaler finanzieller Sicherstellung, die er getroffen hatte, gab es keinen Menschen, der sich um ihn kümmern würde. Da begannen sich plötzlich Gedanken an Nora einzustellen und aus seinem Unterbewußtsein brach der Wunsch hervor, sie doch wieder zu sehen, ja sogar auch ihr das Manuskript seiner Memoiren anzuvertrauen. Ja, sogar die Idee tauchte auf, eine Begegnung zwischen ihr und Johnny herbei zu führen. Ein chinesischer Bekannter und Kenner der Materie gab ihm den Rat: „ Wenn Sie als Botschafter des Teufels auftreten, werden Sie am Ende Ihre Loyalität bekennen; wenn Sie in seinem Namen sprechen, sprechen Sie am Ende mit seiner Zunge. In der Konversation mit dem Teufel bleibt man immer Verlierer. Man kann ihn nur besiegen, wenn man ihn nicht versteht. Ich bin kein Christ, Droste, 77 Der Roman Im Namen des Teufels ich weiß nicht, ob der Teufel das Kreuz fürchtet. Aber ich weiß, daß er das offene Visier fürchtet. Machen Sie Schluß und verschweigen Sie nichts. “ Nachdem die Polizei einmal in Abwesenheit Drostes in seinem Haus einen Einbrecher festgenommen hatte, der offenbar das Manuskript vergeblich suchte, das sich im Safe des Panzerschranks von Drostes Bank befand, stieg dessen Panik vor Verfolgung steil an und er schrieb entgegen der Abmachung einen Brief an Nora Güldendag in Schweden. Der Brief war kurz und glich dem Hilferuf eines Ertrinkenden. Zugleich war er von einer Dringlichkeit, die jedes Bedenken gegen die Wahrheit verhinderte. Sofort erhielt er ein Telegramm von Nora, die ihre Ankunft für den nächsten Tag im Parkhotel Schönbrunn ankündigte. Um weder Nora, noch seinen Plan zu gefährden, fuhr er mit allen Vorsichtsmaßnamen eines guten Spions in das Parkhotel, völlig sicher, unbeobachtet zu sein. „ Ich will mich kurz fassen “ , sagte er. „ Ich habe meine Erinnerungen geschrieben. “ Er wies auf seine Aktentasche. „ Sie enthalten das Wichtigste meiner Erlebnisse der letzten Jahre. Ich habe sie für die Öffentlichkeit, vor allem aber für Johnny bestimmt. “ „ Wer ist Johnny? “ Droste berichtete kurz wie er nach dem Tod Grants den kleinen Johnny adoptiert hatte, der in einem Schweizer Internat erzogen würde und der morgen in der Frühe in den Ferien hier in Wien eintreffen würde, um verwöhnt zu werden. „ Ich hätte nicht gedacht, daß Du so menschlich sein kannst, Georg. “ „ Würdet Du im Fall meines Todes die Vormundschaft übernehmen? “ Er erklärte, daß es ihm darum ging, Johnny zu warnen, ein Leben zu führen, wie er selbst es geführt hatte. „ Im Safe einer Bank wären die Memoiren vielleicht sicher, aber sicher nicht, daß Johnny sie erhält. Du allein kannst beurteilen, wann er sie erhalten soll. “ „ Willst Du ihn morgen zum Mittagessen hierher bringen? “ Er war erleichtert. „ Ich habe Dich zum Testamentsvollstrecker und zu Johnnys Vormund bestimmt. Das Testament liegt bei Notar Dr. Tiefenbacher hier in Wien. “ „ Du hast Angst, Georg. “ „ Ja. Ich habe Angst. Dieses Manuskript ist ein gefährlicher Besitz. “ Als Johnny Grant-Droste am nächsten Morgen in Wien eintraf, wurde er von einer schluchzenden alten Frau und einem Mann mit kurzen, eisgrauen Haaren empfangen. Die alte Frau war Marie, die Haushälterin Drostes, der Mann war Oberpolizeirat Dr. Hrovacka, ein ehemaliger Schulkollege von Droste, der ihn von der Ergreifung des Einbrechers in seinem Haus in Kenntnis gesetzt hatte. Die Haushälterin hatte am Morgen, als sie das Haus betrat, Droste ermordet in seinem Arbeitszimmer aufgefunden. Der Panzerschrank im Büchergestell war 78 Der Roman Im Namen des Teufels aufgebrochen, der Schreibtisch durchwühlt. Der Tote war neben dem Schreibtisch gelegen. Als Johnny die weinende Marie und den Oberpolizeirat erblickte, wußte er sofort, was los war. Er sagte später zu Nora, daß er beim Anblick der weinenden Marie dasselbe empfunden hatte, was er auch empfand, als er den Briefträger sah, der die Todesnachricht seines wirklichen Vaters Mr. Grant gebracht hatte. Der Polizeirat nahm Johnny in sein Büro auf der Rossauer Lände mit. Zwei Stunden später meldete sich telefonisch eine Frau, die mit tränenerstickter Stimme mitteilte, daß sie zweckdienliche Angaben zu machen hätte. Als sie eintraf und im Büro des Polizeirats Johnny sah, ging sie auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: „ Ich habe Deinen Vater gekannt, Johnny. Ich habe ihn sehr geliebt. Er hat gestern in der Nacht viel von Dir gesprochen. “ Sie verständigte sich mit dem Polizeirat durch einen Blick, daß sie mit ihm allein sprechen wollte und dieser schickte Johnny mit der Aufgabe Fotografien auszusortieren in das anschließende Archivzimmer. Dann übergab Nora Güldendag dem Polizeirat den Brief, mit dem sie Droste aus Stockholm nach Wien gerufen hatte. Sie stellte sich vor und berichtete, daß sie von Droste zur Testamentsvollstreckerin und zum Vormund von Johnny bestimmt worden war, was der Notar auch sofort telefonisch bestätigte. Was sie verschwieg, war die Tatsache, daß sie Drostes Memoiren-Manuskript an ihre eigene Bankadresse in Schweden geschickt hatte. „ Sie wissen nicht, was mit dem Manuskript geschehen ist, Frau Güldendag. “ „ Nein. Davon weiß ich nichts. “ „ Er hat halt Memoiren geschrieben, der Droste. Sie waren hinter den Memoiren her. “ „ Vielleicht hat sie der Mörder? “ fragte Nora. „ Der Mörder hat sie nicht, gnädige Frau. Der Mörder war über die kleinste Einzelheit, im Leben Drostes unterrichtet, aber er wußte nicht, was sogar “ - er lächelte bei diesen Worten - „ die Polizei wußte, daß Droste nämlich die Memoiren nicht zu Hause aufbewahrte. Es ist erstaunlich, was die geheimen Dienste alles nicht wissen. “ „ Ein gewöhnliches Verbrechen schließen Sie aus? “ „ Gänzlich. “ Der Polizeirat bat Nora, für den Fall, daß sie doch noch etwas über das Manuskript erfahren sollte, ihn sofort zu verständigen. Eine Warnung sei notwendig. Es wäre, als ob jemand einen Koffer mit Dynamit bei sich trage. Dann aber ersuchte er sie, mit Johnny zu sprechen. Er würde veranlassen, daß dieser vorläufig ihrer Obhut anvertraut werde. Als er eine Stunde später Johnny im Archivzimmer aufsuchte, fand er ihn in lebhaftem Gespräch mit Frau Güldendag. Er legte dem Jungen die Hände auf die Schultern und fragte ihn mit einem Lächeln, ob er mit Frau Güldendag gehen 79 Der Roman Im Namen des Teufels oder ob er bei ihm bleiben wollte. „ Ich will bei ihr bleiben. Georg wollte, daß ich bei ihr bleibe. “ Nora erklärte, daß sie beide noch viel miteinander zu besprechen hätten. Noch bevor ihr der Polizeirat den Rat geben konnte, mit Johnny so bald wie möglich abzureisen, hatte sie bereits erklärt: „ Wir nehmen das Nachtflugzeug nach Stockholm. “ Als die beiden sein Zimmer verlassen hatten, trat er ans Fenster, um ihnen in den Hof nachzublicken. Nora und Johnny gingen Hand in Hand. Der Junge hielt die Hand Noras so fest, als ob er sie nie wieder loslassen wollte. Der Roman war recht erfolgreich und wurde auch zu einem Hörspiel verarbeitet. Erika Mann, deren Bruder Habes Bettnachbar im Abwehr-Ausbildungslager von Camp Ritchie gewesen war, so wie Droste in der Abwehr gearbeitet hatte, attestierte als Kritikerin dem Roman „ eklatante Eleganz “ . In der von Jeffrey Kent 1995 herausgegebenen Druckschrift zu Licci Habes Tod wird wiederholt auf die ungewöhnliche Harmonie dieser Ehe hingewiesen. Es sieht aus, als wäre sie das wirkliche Modell zu Drostes tiefer Liebe für Nora im Roman gewesen. 80 Der Roman Im Namen des Teufels AUFENTHALT IN ST. WOLFGANG UND IN ASCONA St. Wolfgang war als Endstation von Habes Leben gedacht gewesen: mit Haus, Frau und Kind und der Idylle eines bürgerlichen Lebens. Eloise und die Tochter Marina waren zwar mit ihm nach St. Wolfgang gekommen, aber bereits 1954 in die USA zurückgekehrt. War am Beginn bei seiner Ankunft der Anblick von St. Wolfgang durch seine Jugenderinnerung rein positiv gewesen, so blieb ihm die Begegnung mit der Realität des österreichischen Lebens in den Fünfzigerjahren nicht erspart. Der Weltbürger konnte in der provinziellen Beschränktheit nur leiden und aus seiner Sicht war es unvermeidlich, daß er mit der Ignoranz der deutschen und noch mehr der österreichischen Presse zu kämpfen hatte. Dazu kam noch der Bruch mit der ehemaligen Jugendfreundin Hilde Spiel, die sich bald darauf den linken Feinden Habes in die Arme warf. Habe fühlte sich schließlich in St. Wolfgang so unwohl, daß er 1960 in einem Brief an Emil Belzner Grillparzer zitierte, der geschrieben hatte: Man gab mir die Gewißheit Mein Streben sei verkannt, Und ich ein armer Fremdling In meinem Vaterland Die Übersiedlung in den Tessin war ein durchaus folgerichtiger Schritt, nicht nur weil das Klima viel besser war. Auch das Klima der alten Schweizer Demokratie sagte ihm zu und überdies wurde er besonders geschätzt. Es gibt ein Bild, auf dem der Kurdirektor von Ascona Habe eine lokale Pfeife für seine Pfeifensammlung übergibt. Die ersten Jahre nach 1960 wohnte Habe in Ascona im Haus „ La Timonella “ , in der Via Giovanni Serodine. Hier entstanden einige seiner bedeutendsten Romane wie Ilona, Die Tarnowska, Die Mission und Tod in Texas. Im Jahr 1966 übersiedelte Habe in ein Haus, das „ Casa Acacia “ hieß, das noch steht und das heute ein Habe-Museum ist. Es birgt alle jene Sammlungen, die er selbst angelegt hatte. Hier hat Habe mit Licci sowie deren Mutter „ Mummi “ und deren Schwester Erna gelebt. In seinem autobiographischen Buch Erfahrungen, das er wie Im Namen des Teufels Licci gewidmet hat, bekannte er: „ In Ascona fühle ich mich heimisch. “ Es gefiel ihm, daß die Fasane im Garten bis an die Türe kamen. Sie wußten, wer im Winter für sie sorgte. Nicht zuletzt liebte er die Menschen. „ Hier lebt ein freies Volk “ , schrieb er, „ die Vögte hatten hier Pech, den Bau der Zwingburgen in Bellinzona hätten sie sich sparen können. Das Italienische der Menschen ist tessinerisch. Sie haben von Italien und von der Schweiz genommen, was ihnen am besten gefiel. “ Er berichtete, daß man das Bügeleisen beim Bürgermeister kaufte, daß der Buchhändler Stadtpräsident des benachbarten Ortes war, der natürlich in Indien gelebt hat, ein Philosoph, der sich mit dem Ursprung der Menschen beschäftigte. Aber auch wenn der Installateur kam, weil man ihn angerufen hatte, begann er zuerst zu philosophieren. Er ist ein alter Seebär, der aus Helgoland stammen könnte. „ Ich nehme es niemand übel, daß man es mir übel nimmt, in Ascona zu wohnen, mindestens zweimal im Monat lese ich, daß ich das nicht tun sollte, denn in Ascona lebt man in Saus und Braus und weiß nicht, was in der Welt vorgeht. “ Er hielt dem entgegen, daß man in Großstädten viel besser „ sausen und brausen “ könnte und daß es am Zeitungsstand Asconas belgische, spanische und amerikanische Zeitungen gab. Obwohl ihm aber die Äpfel des Nachbarn ins Fenster hingen, wüßte er genau, wie es in dem Verlies zugeht, das DDR heißt. „ Und außerdem möchte Licci nirgendwo anders leben. “ Er gab zu, daß Ascona kein „ Mittelpunkt “ war, doch verglich er es mit einem Ozeandampfer. „ Da trifft man Inder und Holländer, Ungarn und Japaner. “ Wer nach dem Süden fuhr, blieb hier stehen, wer aus dem Süden kam, machte hier halt. Der Weltbürger Habe hatte seine amerikanischen Erinnerungen für die arroganten Europäer zu einem zwei Seiten langen „ Amerikanischen Notizbuch “ verarbeitet. Es endet mit dem ebenso überraschenden wie tiefsinnigen und klugen Satz: „ Anti-Amerikanismus Ersatz für Antisemitismus. “ So wie Im Namen des Teufels ein Roman der Geheimdienste ist, so ist der Roman Die rote Sichel ein Roman der Kolchosen. Der Roman Die rote Sichel war bereits in dieser Zeit englisch geschrieben und 1952 abgeschlossen worden. Seine deutsche Ausgabe erschien 1958. Er zeigt das Problem am Beispiel Ungarns, das der in Budapest geborene Habe nicht nur sehr gut kannte, sondern in welchem Land er nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Kolchosen gesehen hatte. Sein Protagonist ist wie alle seine Helden ein aufrechter Verfechter von Freiheit, Menschlichkeit und echtem Gottglauben. Auf den ersten Blick sieht es aus, als hätte Habe weit in die Vergangenheit ausgeholt, denn er beginnt mit der Versklavung der Menschen im Feudalismus und führt über die Zeit der Befreiung vom Feudalismus in die Zeit der neueren, noch größeren Versklavung durch die Kolchosen. In Habes Leben reichte das Problem der Kolchosen in Ungarn deshalb herein, weil er das kommunistische Ungarn bereist hatte. Obwohl in Ungarn als Teil der alten österreichischen Donaumonarchie die Leibeigenschaft bereits durch Kaiser Joseph II. im 18. Jahrhundert abgeschafft worden war, was 1848 noch erweitert wurde, bestand unter den aristokratischen 82 Aufenthalt in St. Wolfgang und in Ascona ungarischen Großgrundbesitzern die alte, feudalistische Leibeigenschaft ungehindert bis 1919 weiter. Habe gibt ein lebendiges Beispiel dafür am Helden seines Romans Béla Sulyok, der als Sohn eines leibeigenen Dienstboten des Grafen Gyula Terézváry 1914 in dem Kuhstall geboren wurde, in dem seine Familie lebte. Theoretisch hatte freilich der Vater Bélas Akos einen einjährigen Vertrag mit dem Grafen, durch drei Kreuze unterschrieben, da er nicht lesen und schreiben konnte. Der Vertrag war auf gegenseitigen Wunsch bereits einige Male erneuert worden. Nach Ablauf des Vertrages gab es einige Tage Freiheit, in denen Akos Sulyok den Ort verlassen hätte können, freilich nur, um einen Vertag mit einem anderen Großgrundbesitzer zu unterschreiben, da er mit seiner Familie leben mußte. Nicht nur der geringe Lohn, sondern mehr noch der Umstand, daß der Großteil in Naturalien ausbezahlt wurde, verhinderte jegliche Ersparnisse. Bélas Vater war dabei ein Dienstbote in relativ günstigen Umständen. Er fühlte sich aus mehreren Gründen vom Glück begünstigt. Er lebte nicht in einem Schweinestall, wo man nicht einmal aufrecht stehen konnte, sondern in einem Kuhstall, in dem man auch kochen, Wäsche waschen, ja sogar Wiegen und Betten aufstellen konnte. Auch verdiente er so viel, daß er seinen Sohn einige Tage in der Woche in die Schule schicken konnte, da die Kinder in der Schule Schuhe tragen mußten und Béla ein Paar Schuhe besaß. Außerdem besaß Akos das außerordentliche Privileg eine eigene Kuh halten zu dürfen. In der Schule gab es zwei Klassen und, nachdem Béla die zweite Klasse für Fortgeschrittene besucht hatte, hörte er bei jedem neuen Besuch der Klasse immer wieder dasselbe. Er kannte die im Lesebuch enthaltenen Gedichte der großen Nationaldichter Pet ő fi, Arany, Tompa und Vörösmarty auswendig und las auch der Reihe nach die Bücher der Schulbibliothek. Er konnte allerdings nur in den Ferien lesen. Während er Hirte von Kühen und Schweinen war, las er die Geschichten von Don Quichotte, von Robinson Crusoe und vom ungarischen Freiheitshelden Rákóczi. Akos Sulyok hatte aber in noch einer anderen Weise Glück. Unter seinen Kindern befanden sich vier Söhne und nur eine Tochter. Denn als die Söhne das achtzehnte Lebensjahr erreicht hatten, konnte jeder seinen eigenen Vertrag unterschreiben und selbst arbeiten. Die Tochter hingegen mußte von deren Eltern erhalten werden, bis sie verheiratet war. Das älteste Kind von Akos war ein Mädchen, das Kató hieß und das sich in der Schule als so intelligent und bildungshungrig erwiesen hatte, daß der Ortspfarrer das Studium der Bürgerschule und des Lehrerinnenseminars bezahlt hatte. Sie war bereits Lehrerin an der lokalen Schule und verdiente also auch selbst Geld. Der kleine Béla hatte „ Geheimnisse “ . Das erste bestand darin, daß er jeden Nachmittag um fünf Uhr zu den Eisenbahngleisen hinausging, die am Rande der Ortsgrenze vorbeiführten, um den Schnellzug nach Budapest zu sehen, der vorbei brauste. Manches Mal winkten Leute aus dem Zug dem Hirtenjungen zu. 83 Aufenthalt in St. Wolfgang und in Ascona Ein zweites „ Geheimnis “ war, daß er ein freundschaftliches Verhältnis mit dem Dorftrottel Maté unterhielt, der ihn mitunter besuchte, wenn er die Kühe hütete, um mit ihm zu sprechen. Ein drittes „ Geheimnis “ war, daß aufgrund seiner lebhaften Phantasie die Märchengestalten seiner Bücher ein geheimes Leben in seinen Vorstellungen führten. Als einmal ein Wanderzirkus im Ort war und sich die Buben darum balgten, durch ein Loch im Zirkuszelt einen Blick ins Innere zu werfen, war die gräfliche Kutsche gefahren gekommen und er hatte die kleine, siebenjährige Komtesse gesehen. Mit ihrem Goldgürtel und ihren glänzenden Lackschuhen hatte sie den Eindruck einer Märchenprinzessin auf ihn gemacht. Auch das war ein „ Geheimnis “ , das er allerdings mit seiner Schwester Kató teilte. Der heranwachsende Béla entdeckte, daß jedes Mitglied der Familie an etwas glaubte. Die Mutter glaubte an Gott und betete den Rosenkranz. Sein älterer Bruder István glaubte an den Gutsverwalter und an die reichen, grundbesitzenden Bauern, als besäßen sie die Weisheit der Welt und den Schlüssel zur Wahrheit. Béla aber, der die Gedichte Pet ő fi und die Romane Jókais verschlang, glaubte an gar nichts und der Glaube der anderen erschien ihm falsch. Als er eines Abends nach dem Füttern der Schweine nach Hause kam, merkte er bei seinem Eintritt sofort, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war. Seine Schwester beugte sich über Istváns Bett, sein Vater hatte den Kopf in die Hände gestützt und seine Mutter war dabei, ein Tuch, das sie aus einer Schüssel mit Wasser genommen hatte, auszuwinden. Er sah, daß István ein tiefer, roter Streifen von seiner Stirn über die Nase bis zum Mund lief und er erfuhr, daß der Verwalter István geschlagen hatte. Der eingeschüchterte und völlig machtlose Vater flüchtete sich in den Ausspruch: „ Er wird schon etwas gemacht haben. “ Béla legte sich auf Befehl seiner Mutter in sein Bett und brach unwiderstehlich in ein Schluchzen aus. Sein Unmut richtete sich gegen seinesgleichen, gegen die Dienstboten, die wie sein Vater ihr Los in Ergebenheit trugen. Er ging am Sonntag in die Kirche, nur weil er dann nachher die Zeitungen und Bücher des Geistlichen lesen durfte. Er las die Zeitung Nemzeti Újság, deren Wiener Korrespondent Habe gewesen war. Er las auch die Gedichte Pet ő fis, dessen „ Nationallied “ ihm tiefen Eindruck machte: Auf Ungarn, auf zu Taten. Jetzt müßt ihr es endlich sagen! Wollt ihr frei sein oder Sklaven? Ihr müßt handeln und nicht fragen. Als Béla mit einer Stahlgabel das gemähte Heu auf den Heuwagen preßte, erblickte er einen Reiter, dem ein Landwagen folgte, der von zwei kräftigen Braunen gezogen wurde. Der Reiter winkte die Bauern herbei und Béla schloß sich ihnen an. Im Wagen saß der Graf und neben ihm seine Tochter. Während 84 Aufenthalt in St. Wolfgang und in Ascona der Graf mit den Bauern sprach, starrte Béla die junge Gräfin an. Alle anderen standen mit schüchtern niedergeschlagenen Augen da. Da erfaßten ihn die Augen der Gräfin. Als der Graf weiter fahren wollte, flüsterte sie ihm etwas zu. Der Graf nickte und wandte sich an den Verwalter, der auf dem Pferd saß. „ Wird gemacht, Exzellenz “ , erwiderte dieser. Die junge Gräfin zeigte auf Béla mit den Worten: „ Diesen da! “ Da rief ihn der Verwalter im Wegreiten zu: „ Wie heißt Du? “ Béla erhielt bald die Mitteilung, sich beim Majordomus des Grafen zu melden und erfuhr, daß er zum Stallburschen ausersehen war. Er erhielt zusammen mit zwei anderen Stallburschen ein weiß bezogenes, sauberes Bett mit einem Schrank für jeden. In seinem Schrank fand er zwei neue Anzüge sowie zwei weiße Hemden und zuletzt - wovon er seit seiner Kindheit geträumte hatte - ein Paar Röhrenstiefel. Im Stall war ihm die Pflege von sechs Pferden anvertraut, was keine schwere Arbeit war. Béla aber wollte nicht mehr als Dienstbote für den Grafen arbeiten, wollte kein Sklave mehr sein und mit Katós Hilfe gelang es ihm, nach Budapest zu fliehen. Dabei hatte er herausgefunden, daß Kató nicht nur dachte wie er, sondern daß sie in Verbindung mit einer geheimen Organisation war, deren Mitglieder sich „ Falukutató “ , das heißt „ Erforscher der Dorfes “ nannten, mit denen er sich in Verbindung setzen konnte. Er wurde zu einer Sitzung eingeladen, auf der er vier Männer traf, von denen der intelligenteste und wichtigste József Ács hieß, der unter der kurzen, kommunistischen Herrschaft Béla Kuns der jüngste „ Volkskommissar “ gewesen war, was Minister bedeutete und der in direkter Verbindung mit Moskau stand. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, nahm Ungarn an der Seite Hitler- Deutschlands teil und ungarische Truppen marschierten zusammen mit deutschen in Russland ein. Der zum Militär eingezogene Béla gehörte zum 11. Honvéd-Regiment der 14. Infanteriedivision. Als sich herausstellte, daß er etwas russisch konnte, mußte er am Radio Feindnachrichten abhören und dem Kompaniechef berichten, die er in die Irre führte. Als er einmal Hilferufe einer Frau hörte, ging er ihnen nach und entdeckte, daß ein ungarischer Soldat dabei war, die Frau zu vergewaltigen, die er sodann befreite. Er sollte sie bald wieder sehen, denn als Dolmetscher zum Abwehroffizier der Division gerufen, wurde sie als gefangene Partisanin vorgeführt. Er half ihr beim Verhör und bot sich sogar an, gefährliche Dinge für sie zu verstecken. Bei einer Offensive wurde Béla verwundet und geriet in russische Kriegsgefangenschaft. Als er im Gefangenenlager plötzlich gesucht wurde, führte man ihn dann zum russischen General und er erkannte überrascht in ihm jenen József Ács, den er aus der Sitzung in Budapest kennen gelernt hatte und der ihn freundlich als „ Genosse “ ansprach. Er forderte Béla auf, aus den 200.000 gefangenen Ungarn 10.000 heraus zu suchen, mit denen man drei ungarische Divisionen aufstellen konnte, die bereit waren, auf der Seite der Russen zu 85 Aufenthalt in St. Wolfgang und in Ascona kämpfen. Vor die Wahl gestellt, entweder als Gefangener weiter nach dem Osten abtransportiert zu werden oder als Soldat wieder in die Heimat zurückkehren zu können, meldeten sich überraschend viele und Béla konnte Ács 200.000 melden. Es hatte wohl Ács dahinter stehen müssen, sodaß Béla plötzlich zu einem russischen Hauptmann gemacht wurde. Als sich die Truppen Bélas Heimat näherten, stellte ihn General Ács sogar an die Spitze des gesamten 8. Regiments, um dort einzumarschieren. Im Jeep neben seinem Fahrer sitzend fuhr Béla zum Schloß. Die russischen Soldaten hatten nur Bélas Schwester Kató und die junge Gräfin gefunden und hatten sie in den Keller gesperrt. Kató und die junge Gräfin, die sich in den letzten Monaten so sozial benommen hatte, daß sie die „ rote Gräfin “ genannt wurde, waren enge Freundinnen geworden. Beide waren überglücklich, Béla als russischen Offizier zu sehen. Das änderte sich auch nicht, als er das Schloß für das russische Hauptquartier requirierte. Er mußte rasch zu seinem Regiment zurück und nahm an dessen Spitze mit einer Handvoll von Soldaten in der ersten Reihe die Bahnlinie Budapest - Bicske - Komárom, wodurch den geschlagenen deutschen und ungarischen Armeen der zweite Rückzugsweg nach Wien abgeschnitten wurde. Marschall Tolbuchin machte Béla darauf zum Major und verlieh ihm den hohen Leninorden. Béla folgte wieder einmal weiblichen Hilferufen und fand in einem Zimmer vier russische Soldaten, von denen einer, voll betrunken, dabei war, eine Frau zu vergewaltigen. Béla nahm vorsichtshalber das Gewehr eines der Soldaten an sich und zwang den Betrunkenen, die Frau freizugeben. Wild vor Zorn richtete dieser seine Maschinenpistole auf Béla, worauf dieser ihn erschoß. Bald darauf tauchte die „ Partisanin “ Anna Nikolajewna in der Uniform eines russischen Leutnants auf. Sie sagte ihm, daß sie ihn ein Jahr lang gesucht hatte. Dann legte sie ihre Arme um seinen Hals. Von Ács wurde Béla nach Budapest beordert. Dort verlas Ács die Namen der neuen Regierung nach dem Sieg über die Deutschen. Er machte Béla zum Landwirtschaftsminister, damit er seine Lieblingsidee der Landaufteilung verwirklichen konnte. Bei der ersten Beratung meldete sich Minister Dezsö Schwarz zu Wort, der soeben aus Moskau gekommen war und erklärte, es sei blutloser und vor allem billiger, mit dem Gürtel zu operieren als mit dem Strick. Genosse Garas plante, unseren Feinden den Strick um den Hals zu legen, er legte ihnen lieber den Strick um den Magen. Es wäre fortschrittlicher, zuerst die Staatsfeinde, dann die Aristokratie und schließlich den bürgerlichen Mittelstand verhungern zu lassen. Eine Hinrichtung sei schnell vorbei und auch schnell vergessen. Die aus ihren Wohnungen vertriebene Bourgeoisie ist ein dauerndes Beispiel für die gesamte Bevölkerung. Béla war entsetzt. Was ihn am tiefstem bedrückte, war der Umstand, daß der Vorsitzende Ács, den er so verehrt hatte, keinen Einwand dagegen erhob. Ács wich seinem Blick aus. Sollte er sich für die Ehre bedanken, daß er nicht 86 Aufenthalt in St. Wolfgang und in Ascona gekommen sei, um zu erschießen, zu henken oder auszuhungern? Als Ács die Sitzung aufheben wollte, meldete er sich zu Wort, um wenigstens einige Sätze zu sagen, in denen nicht von gespaltenen Köpfen oder zusammen gezogenen Stricken die Rede war. „ Genossen “ , sagte er, „ wir haben noch ein anderes Versprechen zu erfüllen als die Ausrottung dieser oder jener Gesellschaftsschicht. Die größte Errungenschaft dieser Revolution wird die Bodenreform sein. “ Habes Romane sind zwar Dichtung, aber immer auf fundierter, historischer Grundlage. In der Zeit des Stalinismus hat man nicht nur Millionen Kulaken, sondern auch zahllose Vertreter des städtischen Mittelstandes in der Ukraine verhungern lassen. Jetzt endlich, sah Ács Béla an und versprach, diese Frage auf eine der nächsten Tagesordnungen zu setzen. Abends, nach der Sitzung, lag Béla zusammen mit der geliebten, ehemaligen Partisanin Anna auf dem Stroh, das sie in einer Grotte ausgebreitet hatten. Sie fragte ihn nach seinen Plänen bei der Landverteilung. Er wollte mit den großen Gütern anfangen und zuerst das Land unter die Dienstboten aufteilen, die dort gearbeitet hatten. Dann kamen die Bauern, die selbst auf dem Feld gearbeitet hatten, denen er mehr geben wollte. Die Aristokraten und Grundbesitzer sollten so viel erhalten wie alle andern. Die Russin Anna kannte den Kommunismus besser als er. Sie sagte: „ Ich habe Angst um dich, Béla. “ „ Warum hast du Angst? “ „ Sie werden sagen, du bist kein guter Kommunist. Sie werden sagen, du bist ein Anarchist und noch Ärgeres, daß du mit den Grundbesitzern unter einer Decke steckst. Du bist ein Träumer. “ „ Ja, ich bin ein Träumer. Meine ganze Kindheit und Jugend habe ich geträumt. Ich träumte davon, daß eines Tages jedermann hingehen könnte, wohin er wollte und daß kein Mensch einem andern Menschen gehört. Und ich habe geträumt, daß niemand mehr in Ställen wohnt und daß keine Kinder mehr im Stroh geboren werden. Und daß sich jeder ein Haus bauen kann, groß genug für seine Kinder. Millionen Menschen haben denselben Traum. Ich werde zu ihnen hinausgehen und werde fragen, ob sie aufwachen wollen. “ „ Ich habe Angst um dich, weil ich dich liebe. Und weil ich weiß, daß du in dein Verderben gehst. “ Zuerst sah alles wunderbar aus. Sein Landverteilungsplan war von Ács genehmigt und vom Ministerrat gut geheißen worden. Dann empfing er in seinem heimatlichen Vargafalva wie in allen anderen Orten eine Delegation der Kommunistischen Partei. Die fünf Männer, die hier kamen, hatten schon vor Jahren gegen alle andern eine kommunistische Zelle gebildet. Béla sprach zuerst zur Delegation und fragte dann jeden einzelnen um seine Meinung. Der letzte, der sprach, sagte: „ Was ich tun würde, ist in Russland längst getan. Sie müssen Kolchosen bilden. Wenn sie Angst haben, die Neubauern fürchten das Wort, 87 Aufenthalt in St. Wolfgang und in Ascona dann nennen sie es anders. Béla erklärte mit Nachdruck: Durch die Abschaffung der Grafen sei es mit der Tyrannei vorbei. Aber nicht nur mit der Tyrannei, sondern auch mit der Vormundschaft. Er wolle keine neuen Vormundschaften. Er dachte an den Kommissar, der jeder Kolchose vorsteht. Einige Monate lebte Béla in der glücklichen Illusion, seine Absichten schnell und erfolgreich in die Tat umsetzen zu können, bis Ács ihn rufen ließ, um die bevorstehenden Wahlen mit ihm zu besprechen. Béla war zwar bereit, in seinem eigenen Komitat als Listenführer der Kommunistischen Partei zu kandidieren, was Ács gewünscht hatte. Als er aber von den geplanten Wahlfälschungsmethoden hörte, um seinen Sieg zu sichern, lehnte er es ab, an diesem „ Kuhhandel “ teilzunehmen. „ Ich fürchte, sie haben keine Wahl, Sulyok “ , sagte Ács. „ Glauben sie nicht, daß sie mir es leicht machen. Ihr Schuldkonto wird immer länger. “ Als Béla überrascht nach diesem Schuldkonto fragte, erklärte ihm Ács, daß er einen russischen Soldaten erschossen hatte, daß die lokale Kommunistische Partei berichtet hätte, er hätte ein Verhältnis mit der jungen Gräfin, daß er vergessen hätte, in die Kommunistische Partei einzutreten. Ács erklärte, er sei es langsam müde, immer als Bélas Schutzengel aufzutreten. Da entschloß sich Béla, bei dem „ Kuhhandel “ mitzumachen, wenn Ács auf einen anderen Handel einginge. Der fragte: „ Welchen Handel? “ Béla erklärte: „ Ich lasse mich als kommunistischer Kandidat wählen und sie schützen dafür meine Bodenreform. “ „ Einverstanden “ , sagte Ács. Die geschickte Arbeit der Regierung, Kolchosen durchzusetzen, zeigt der Roman zuerst an einem Gespräch zwischen Bélas Schwester Kató und der jungen Gräfin Margit, die gemeinsam den Rest des gräflichen Gutes bearbeiteten. Um das Heu rechtzeitig einzubringen, hatte Margit eine Vereinbarung mit dem Bauern Józska getroffen, daß die beiden Frauen bei ihm eine Stunde arbeiten würden, wenn er dafür mit seinem Pferd käme, um den Heuwagen einzufahren. Kató war sehr zufrieden damit. „ Wenn wir uns nicht untereinander verständigten, kämen sie gleich wieder mit ihrer Gemeinschaftsfarm. “ Margit wußte, daß sie in Németszarka eine solche Gemeinschaftsfarm bereits durchgesetzt hatten. Die Russen hatten ihnen das Vieh weg getrieben. Außerdem hatte man ihnen das Blaue vom Himmel versprochen. Margit wußte noch mehr „ Gestern sind bei uns drei Traktoren angekommen. Sie stehen im Stall von Imrédi. Keiner kann sie verwenden, der sich nicht einverstanden erklärt, an der Gemeinschaftsfarm teilzunehmen. Am Balaton war das Gleiche geschehen. Sobald sie in Fonyód eine Kolchose gebildet hatten, waren auf einmal Pferde da. Kühe und Stiere sollten sie auch bekommen. 88 Aufenthalt in St. Wolfgang und in Ascona In der kommunistischen Zeitung Szabad Nép war Bélas „ bourgeoise “ Landaufteilung angegriffen worden. In der Agrarstadt Hajdúböszörmény waren zwei Bauern wegen „ Sabotage des Aufbauwerkes “ verhaftet worden. Als sich Béla nach ihrem Verbleib erkundigte, erfuhr er, daß sie in das „ Sammellager “ Zalaegerszeg gebracht worden waren. Er hatte von der Existenz dieses Konzentrationslagers nichts gewußt. Es unterstand der gemeinsamen Verwaltung des Innen- und des Justizministeriums. Es gab keinen Einspruch. Telefonisch erfuhr Béla aus dem Komitatssitz Szolnok, daß im ganzen Komitat die Russen requirierend herumzogen, um das verbliebene Vieh zu beschlagnahmen. Dann kam der entscheidende Tag, an dem Béla in der letzten Stunde erfuhr, daß ein Ministerrat abgehalten werden sollte. Als er kam, begrüßten ihn die bereits anwesenden Minister so kühl, daß er sich wie ein ungebetener Gast in einem Kreis alter Freunde fühlte. Als Ács die Sitzung eröffnet hatte, erklärte er, daß der Regierung die Auszeichnung zu teil geworden sei, daß der russische Stadtkommandant von Budapest, General Tasimko, an der Sitzung teilnehmen würde. Ein oder zwei Genossen könnte er noch anhören, bevor der General käme, auf den er mit der Tagesordnung warten wollte. Es meldete sich der Kultusminister zu Wort, der mitteilte, daß der Kirchenbesuch nach der Revolution nicht wie erwartet abnehme, sondern zunehme. In elf Kirchen, sieben katholischen, drei calvinistischen und einer lutherischen hätte der Kirchenbesuch in den letzten drei Monaten um 44 Prozent zugenommen. Dann kam der General, angekündigt von seinem Adjutanten, und begleitet von einem Major, der sein Dolmetscher war, der jedes Wort der Sitzung in größter Schnelligkeit flüsternd übersetzte. Als Béla zum letzten Tagesordnungspunkt über die Lage der Weinbauern gesprochen hatte, meldete sich Finanzminister Tass zu Wort, einer derjenigen, die aus Moskau gekommen waren. Er erklärte, daß die Minister keinen Erfolg der gegenwärtigen Bodenreform wünschten, da sie eine bourgeoise Angelegenheit wäre. „ Wir, denen es vergönnt war, die Situation in der Sowjetunion zu studieren, sehen weder einen Anlaß noch eine Möglichkeit, es besser zu machen, als es dort geschieht “ und das waren die Kolchosen. Der General nickte befriedigt. Daraufhin trat Béla in einer letzten Aussprache mit Ács von der Politik zurück, dankte als Landwirtschaftsminister ab und erhielt wie alle früheren Dienstboten in seiner Bodenreform zwanzig Joch Grund, die er bewirtschaftete. Er war ein Bauer und konnte wieder frei atmen. Als Kató und Béla schon einige Zeit in dem kleinen Haus wohnten, das er sich gebaut hatte, war es ihm gelungen, eine Musterwirtschaft zu schaffen. Er besuchte jetzt auch eifrig am Sonntag die Kirche von Németszarka und Margit ging wie zufällig in dieselbe Kirche. 89 Aufenthalt in St. Wolfgang und in Ascona Am Abend, wenn er die Zeitung von A bis Z gelesen hatte, starrte er stundenlang vor sich hin. Kató sah, daß er nicht glücklich war. Später ertönte dann einmal ein Gesang und als er näher kam, hörten sie, daß die Männer „ Talpra magyar, hi a haza “ sangen, die verbotene Hymne von Sándor Pet ő fi. Als die Gruppe, bei der auch Frauen und Kinder waren, in einiger Distanz vor dem Haus hielt, kam ein Mann an die Tür und grüßte: „ Isten áldja “ - „ Gott segne dich “ , ein Gruß, der ebenso wie die Nationalhymne verboten war. „ Wir kommen, dich abzuholen, Sulyok “ , sagte er. „ Wir marschieren nach Székesfehérvár. Wir verlangen, daß der Pfarrer Rózsavölgyi freigelassen wird. Und daß man uns die Pflüge zurückgibt. “ Béla schlug ihnen vor, allein für sie nach Székesfehérvár zu gehen. Aber er konnte nicht weiter sprechen. „ Wir wollen alle nach Székesfehérvár! “ riefen sie im Chor. Béla hob die Hand, um sich Gehör zu verschaffen, aber da hörte man schon wieder Gesang. Eine zweite Gruppe kam, um sich der ersten anzuschließen. Von Ortschaft zu Ortschaft wuchs der Zug an und schließlich schätzte die Gendarmerie, die sich nicht mehr einzugreifen traute, die Zahl der Menschen auf 3.000. Béla marschierte an der Spitze. Auch in ihm war die kalte Überlegung verstummt. Etwa zehn Kilometer vor Székesfehérvár kam der Zug zum Stehen. Ein russischer Raupenwagen, der ihnen entgegen gekommen war, versperrte den Weg. Im Wagen saßen ein Dutzend Polizisten und ein Dutzend russischer Soldaten. Ein Polizeioberst sprang heraus und kam auf Béla zu. Als ihm dieser die Forderungen des Zuges mitteilte, erklärte er, nicht ermächtigt zu sein, darüber zu verhandeln. Als Béla erklärte, in diesem Fall sei das Gespräch sinnlos, sagte der Oberst: „ Ich spreche im Namen der Regierung und der russischen Besatzungsbehörde. Ich habe ihnen mitzuteilen, daß ihr Aufmarsch gegen das Versammlungsverbot verstößt und daß er, wenn notwendig, mit Gewalt verhindert wird. “ Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Béla sah sich um und es war, als setzte sich ein Wald von Sicheln in Bewegung, die einzigen Waffen, die sie besaßen. Als die ersten Häuser von Székesfehérvár auftauchten, sah Béla nach einer Kurve der Straße, was sie erwartete. Auf beiden Seiten der Straße standen vier Panzer, in Abständen je zwei hintereinander. Zwischen den Panzern waren Polizisten und Gendarmen aufgereiht. Am Rand der Straße, den Graben entlang, waren Maschinengewehre in Stellung gebracht. Als sie das Feuer eröffneten, stürmte die erbitterte Menge mit Sicheln und Sensen vorwärts. Sie eroberten den ersten Panzer, sie verletzen und töteten Gendarmen und Soldaten. Als Béla bereits auf dem zweiten Panzer stand, hörte er ein Maschinengewehr rattern. Dann spürte er einen kurzen, harten Schlag gegen die Brust. Es regnete Maschinengewehrkugeln um ihn. Er griff mit der Hand aus Herz und die Hand war voll Blut. Dann fiel er tief, er wußte nicht wie 90 Aufenthalt in St. Wolfgang und in Ascona tief. Aus der Erde stieg ein betäubender Duft. Nur ihn spürte Béla Sulyok. Den Geruch von Pulver und Brand spürte er nicht. Er spürte, wie er aufgehoben und auf ein Feld gebettet wurde, auf seine geliebte ungarische Erde. Dann sah er wie Gesichter, die sich über ihn beugten: Margits Gesicht und das Gesicht des Dorftrottels, der neben ihm gegangen war. Ein sanfter Arm lag warm unter seinem Kopf. Es war, als höbe ihn dieser Arm hoch, damit er noch einmal nach Westen blicken konnte. Im Westen lag sein Vargafalva. Über Vargafalva versank die Sonne. Béla Sulyok lächelte. Ihm war, als ginge über Vargafalva die Sonne auf. Damit schließt der Roman. Die Kommissare hatten nicht einfach die alten Grafen ersetzt. Ihre Unterdrückung war tiefer und ihre Grausamkeit war größer als jene der Grafen gewesen. Der Gründung von Kolchosen stand nichts mehr im Wege, zumindest vorläufig. Bis vier Jahre später, die ungarische Revolution den ganzen Spuk wegfegte. 91 Aufenthalt in St. Wolfgang und in Ascona DER ROMAN ILONA Im Jahr 1960, dem Jahr in dem Habe nach Ascona übersiedelte, war einer seiner kommerziell erfolgreichsten Romane, dessen Auflage eine Million überstieg, mit dem Titel Ilona fertig gestellt worden und erschienen. An Manfred George, den Herausgeber der deutschsprachigen Zeitschrift Aufbau, die in New York erschien, hatte er geschrieben, daß er an dem Roman vier Jahre gearbeitet und dabei sein Herzblut gegeben hatte. Der Roman spielt wie Die rote Sichel in Habes eigentlicher Heimat Ungarn. Es ist ein Frauenroman, der drei Generationen von Frauen darstellt: die Titelfigur Ilona, ihre Tochter Zita und ihre Enkelin Eva. Schon daß es ein Frauenroman ist, schaffte gewisse Probleme. Denn die Emanzipation der Frauen, die sich 1960 in Europa noch in den ersten Anfängen befand, hatte in dem danach folgenden halben Jahrhundert eine so radikale Entwicklung erfahren, daß der Roman heute ganz anders wirkt. Obwohl die Grundidee von der Gleichwertigkeit der Geschlechter absolut richtig ist, hat sich in der Zwischenzeit auch ein radikaler Flügel entwickelt, der den „ Machos “ eben solche „ Feminas “ gegenüberstellt, die mehr Schaden als Nutzen anrichten. Als der Roman erschienen war, hatte der männliche Kritiker Karl Schumann geschrieben, die Titelfigur sei eine hundertprozentige Frau, „ klug aus Instinkt, schön aus innerer Harmonie, erfolgreich aus Treue zu sich selbst, gefeit gegen ‚ große Zeiten ‘ , aus Einsicht in die natürliche Ordnung. “ Erika Mann freilich, die er aus der Zeit des Ausbildungslagers in Maryland durch ihren Bruder Klaus kannte und deren Urteil er erbat, war bereits damals sehr kritisch. Freilich hatte Habe wohl nicht gewußt, daß sie kein normales Sexleben führte. Von den heutigen weiblichen Kritikerinnen sind viele kritisch. Obwohl es ein Frauenroman ist, gibt es natürlich auch männliche Figuren und die wichtigste davon ist Ilonas Bruder Lajos. Er scheint dem Vorbild Bélas in der Roten Sichel nachgezeichnet zu sein. Im Ersten Weltkrieg, in dem ein unfähiger österreichischer Generalstab Hunderttausende von österreichischen Soldaten sinnlos und verbrecherisch zum Kanonenfutter machte, empfand sich Lajos so versklavt wie Béla durch seine Dienstbotenstellung. Lajos desertierte aus der Armee und fand Unterschlupf bei seiner Schwester Ilona, die eine Begnadigung für ihn erwirkte. Als er sich wiederum weigerte, am Krieg teilzunehmen, wurde er als Revolutionär zu zwanzig Jahren schweren Kerker verurteilt. Als die alte Donaumonarchie zusammenbrach, wurde er ein Mitglied des Revolutionsrates, so wie Béla russischer Offizier geworden war. Die negativste männliche Figur in Ilona ist der ehrgeizige Hochbauingenieur Konrad Severin, der Mitglied der NSDAP wurde. Er wird zum Vater von Ilonas Enkelin Eva. Da er den Unsinn seiner Partei ernst nahm, starb er zuletzt gegen Ende des Zweiten Weltkrieges den „ Heldentod “ . Ilona war die Tochter eines Stationsvorstehers in dem kleinen, ungarischen Dorf Kisnémet. Da ihre Mutter bei der Geburt gestorben war, kümmerte sich der Vater liebevoll um sie und ihre drei Geschwister. Als sie siebzehn Jahre alt war, nahm sie ihre Tante Rose mit nach Budapest, wo sie in ihrem Modesalon Schneiderei lernen sollte. Aber der Modesalon der Tante war tatsächlich ein privates Bordell für hochstehende Personen. Ilona, die seit ihrer Kindheit in den gleichaltrigen Zoltán aus ihrem Heimatdorf verliebt war, weigerte sich, wie die Tante es wollte, die Geliebte des Fürsten Tassilo Kontowski zu werden. Bald darauf aber verliebte sie sich in den Grafen Feri Aporfalvi, der gleichfalls aus Kisnémet stammt. Da er bald starb, griff sie doch auf das Angebot des Fürsten Kontowski zurück und wurde dessen Geliebte. Da sie sich schwanger fühlte, verheiratete er sie mit einem Baron Rattowitz zu einer Scheinehe, damit das Kind ehelich geboren würde. Zur Betreuung des Kindes kam Ilonas Schwester Teréz nach Budapest. Die Tochter erhielt den Namen Zita und Teréz zog mit dem Baby nach Wien, während Ilona den Fürsten Kontowski auf seinen weiten Reisen begleitete. Knapp vor dem Ersten Weltkrieg war sie mit dem Fürsten nach St. Petersburg gefahren, wo sie ihren Jugendfreund Zoltán wieder traf, der ein berühmter Pianist geworden war. Sie verbrachte eine Nacht mit Zoltán und gestand später dem Fürsten ihre Untreue. Kontowski, der sie nicht verlieren wollte, verzieh ihr und bat sie, ihn zu heiraten. Er konnte jedoch die Annullierung ihrer Scheinheirat mit Baron Rattowitz nicht durchsetzen. Als der Erste Weltkrieg begann, schickte sie Kontowski zurück nach Wien, während er als Botschafter nach Schweden ging. Dadurch waren die beiden jetzt getrennt. Ilona wurde Lazarettschwester und begegnete an der Front Dr. Franz Sales, der ihr ein Freund und Lehrmeister wurde. Sie überlegte sogar Medizin zu studieren. Als ihr Jugendfreund Zoltán in das Lazarett eingeliefert wurde, regte er an, daß Ilona sich nach Wien versetzen lassen sollte und durch die Hilfe Kontowskis gelang dies auch. Als der Krieg aber andauerte, bekam sie Sehnsucht nach der Heimat und zog zusammen mit der Tochter Zita und der Schwester Teréz zu ihrer Schwester Margit nach Ungarn. Nach einigen Jahren zog Ilona nach Berlin, wo sie den Verleger Stefan Herrdegen kennen lernte, in den sie sich verliebte. Sie wollten heiraten, doch mußte Ilona zuerst die Scheidung ihrer Scheinehe mit Baron Rattowitz durchsetzen. Während dieser Bemühungen starb Rattowitz, sodaß der Weg für ihre Ehe frei war. 94 Der Roman Ilona Als sich die politische Lage zuspitzte und der Zweite Weltkrieg sich abzuzeichnen begann, waren Ilona und Stefan klug genug, nach England ins Exil zu gehen. Vorher hatte Ilona noch einmal ihr Heimatdorf besucht und verabschiedete sich von der Familie. Nach dem Krieg konnte Ilona nicht sofort nach Berlin zurückkehren, da sie keine Einreiseerlaubnis erhielt, sondern sie mußte bis 1948 warten. Als sie schließlich in Berlin war, nahm sie ihre inzwischen herangewachsene Enkelin Eva zu sich. Die rote Sichel, die - wie bereits erwähnt - 1952 auf englisch erschienen war, schließt in der deutschsprachigen Ausgabe kurz vor dem Ungarnaufstand von 1956, weil sie negativ ausgehen sollte. Es ging ja darum, den Fluch der Kolchosen sichtbar zu machen. Der Roman Ilona schließt positiv mit der Aussicht Evas auf ihre Hochzeit und dem Aufstand von 1956, der für einen Mann der Freiheit wie Habe von höchster Wichtigkeit war. Der Roman ist zu Recht ein lebendiges und bewegendes Kapitel Zeitgeschichte von der Jahrhundertwende bis zur damaligen Gegenwart genannt worden. Was für alle Romane Habes gilt, das gilt für Ilona und auch für den darauf folgenden Roman Die Tarnowska ganz besonders. Obwohl sie Dichtung sind, fußen sie auf gründlich recherchierten historischen Studien. Das Material für diese beiden Romane ist in seinem Nachlaß in der Boston University besonders umfangreich dokumentiert. Es reicht von einem Aufsatz über Albert Schweizer, einem über die russischen Wanderprediger und den Geistheiler Rasputin, einer Darstellung der russischen Revolution, einem über ein österreichisches Husarenregiment bis zu einer über die Erziehung von Teenagern. Ilona war nicht nur ein kommerzieller Erfolg, sondern auch weltweit ein Erfolg bei den Kritikern und ganz besonders bei der amerikanischen Kritik. Die New York Times pries Habe als einen Meistererzähler, der zu atemloser Lektüre anregte, die Los Angeles Times verglich ihn sogar mit Tolstoi und die Chicago Tribune fühlte sich an Pasternaks Doktor Schiwago erinnert. Der Zeitgeist bei Erscheinen des Romans nahm keinen Anstoß daran, daß besonders maskuline, tatkräftige und emanzipierte Frauen abschätzig als „ Mannweib “ bezeichnet wurden. Die Kritiker und auch die weiblichen Kritikerinnen fanden es durchaus richtig, daß Ilona wie ihre Tochter ihr Schicksal ganz von ihrem Mann abhängig machen. Zita überlegte, ob sie nicht einen Beruf annehmen sollte, doch verwarf sie dann immer wieder alle Verwirklichungspläne einer Ausbildung. Sie scheiterte an den Schwierigkeiten der Zeit, die sie daran hinderte, ihren Platz als Ehefrau und Mutter an der Seite ihres Gatten zu finden. Es lag nicht an mangelnder Emanzipation, sondern an mangelnder Intelligenz, die auch bei Männern gegeben sei kann, wie das Beispiel von Konrad Severin zeigt, wenn Frauen ernste Gefahren der Politik nicht erkennen. So ist es Ilona nicht klar, daß Russland nicht mehr sicher war, als sich die Revolution ankündigte. Zita war völlig blind für die Gefahren des Nationalsozialismus und begann sie erst zu entdecken, als ihre Mutter mit Stefan Herrdegen nach England 95 Der Roman Ilona floh. Wie viele andere blieb die Mutter nicht in England, sondern reiste nach drei Jahren in London weiter nach New York. Nach der Enttäuschung durch ihren Mann und nachdem sie auch Zoltán verlassen hatte, war Zita nach Berlin gegangen. Als sie die Bombennächte nicht mehr aushielt, floh sie in das kleine, alte Heimatdorf Kisnémet, wo sie beim Großvater und bei Tanten unterkam. Wieder zurück in Berlin, verfiel sie dem Alkoholismus und beging dann schließlich Selbstmord. Nachdem Ilona endlich nach Deutschland zurückkehren konnte, nahm sie ihre Enkelin Eva zu sich, die in der Zwischenzeit bereits so heran gewachsen war, daß bereits an eine Ehe zu denken war. Der Ungarnaufstand von 1956, der in der Roten Sichel nicht erwähnt worden war, bildete einen Höhepunkt als Ausgang des Romans llona. In der Roten Sichel wollte der Autor keinen positiven Abschluß, weil es doch im ganzen Roman um die sinnlose Bösartigkeit der Kolchosen ging und die Einheit des negativen und tiefen Tons beibehalten werden sollte. Im Roman Ilona war das nicht der Fall und ein Mann der Freiheit - wie Habe - war glücklich, auf diesen großen Sieg der Freiheit hinweisen zu können. 96 Der Roman Ilona DER ROMAN DIE TARNOWSKA Habe lebte bereits im Tessin, als sein Roman Die Tarnowska erschien. An den Beginn des Romans hatte Habe eine Liste der „ Hauptpersonen “ gestellt. Das bildete eine gute Vorbereitung für die Einleitung, die den Titel „ Die Entstehung der Tarnowska “ trägt. Darin berichtete er, wie viele umfangreiche Materialien er bereits auf der Reise im Gepäck hatte, als er mit seiner Gattin Licci nach Venedig fuhr, um dort an Ort und Stelle dem Schicksalsweg von Gräfin Tarnowska nachgehen zu können. Dazu paßt auch die vorangeschickte Bemerkung, die im Gegensatz zu den meisten Vorbemerkungen in seinen Romanen stand, daß nämlich die im Buch erwähnten Ereignisse alle „ historischen Tatsachen “ entsprechen. Das gilt allerdings nicht für alle Stellen, in denen der „ Pater Generalis “ des Dominikanerordens auftritt, der eine Erfindung Habes darstellt. Diese Erfindung des Dominikaners entsprang keiner spielerischen Laune des Autors, sondern war eine dichterische Notwendigkeit, was man erkennt, wenn man in der Einleitung über die Entstehung der Tarnowska eine Einführung in Habes Roman-Poetik liest. Sie zeigt, wie tiefsinnig und totalitätsumfassend der Roman nach Habe zu sein hat. Es sieht so aus, daß er sich die Frage stellt: „ Was zwang mich, dem Lebensstrom der Tarnowska nachzugehen? “ und sofort selbst antwortet: „ Die Überraschung, was im Leben, Untergang und Prozeß der Tarnowska alles eingefangen war: der Bazillus unserer Krankheit, die Entstehung einer neuen Heilkunst, die Auseinandersetzung zwischen Religion und Wissenschaft, Justitia mit offenen Augen, Ungeduld der Evolution . . . Die Überzeugung schließlich, daß sich in der Schuld der Tarnowska unsere eigene Schuld spiegelt. Eine Welt, die sich wie keine zuvor die Überwindung des Schmerzes zum Ziele gesetzt hat, leidet nicht nur, sondern sie wühlt geradezu im Leid. “ Was also der Strom heute trägt - das süße Leben und die Lust der Qual, Dummheit der Besitzenden und Hochmut der Besitzlosen, Exzeß der Freiheit und selbstgewählte Sklaverei, Triumph über den Tod und Sehnsucht nach dem Tod, Blindheit vor dem Teufel und nutzlose Erkenntnis - das alles trägt den Strom, seit er aus dem Felsen brach. Es ist die ganze Roman-Poetik, die er hier ausbreitete und welche die Gedankentiefe, die psychologische Meisterschaft und die Universalität seiner Romane einsichtig macht. Was aber auch sie nicht einsichtig macht, ist die Technik von Habes Schreiben, durch die er es erreicht, in den richtigen Abständen jeweils neue Spannungselemente einzubauen, sodaß im Leser das Gefühl entsteht, er könne das Buch einfach nicht aus der Hand legen, bis er es zu Ende gelesen hat, das Geheimnis des „ Pageturners “ . Der Roman setzt gleich spannungsgeladen mit der Verhaftung der Gräfin Tarnowska ein, nachdem sie mit dem Schnellzug aus Kiew mit ihrem zwölfjährigen Sohn Tioka und der Zofe Elise in Wien angekommen war. Zwei schwarzgekleidete Polizisten in Zivil hatten sie auf dem Bahnhof erwartet. Als die Tarnowska im Wiener Polizeigefängnis auf der Rossauer Lände einem Hofrat vorgeführt wurde, teilte er dieser nicht nur mit, daß sie auf Ersuchen der venezianischen Behörden verhaftet worden sei und an diese ausgeliefert würde, sondern „ der Ordnung halber “ teilte er ihr auch die Punkte der Anklage mit, die gegen sie erhoben wurden. Am Morgen des dritten September war der vierundzwanzigjährige Student Nicolaus Naumow, Sohn des Gouverneurs von Orel, in der venezianischen Wohnung des Grafen Pawel Egrafowitsch Kamarowskij, des Verlobten der Tarnowska, erschienen und hatte vier Revolverschüsse auf diesen abgefeuert, an denen er bald darauf erlag. Nach seiner Verhaftung hatte Naumow zuerst versucht, sich zu erschießen und als die Waffe versagte, hatte er gestanden, daß die Tarnowska es gewesen war, die ihn vielleicht auf Anraten ihres Liebhabers und damaligen Rechtsanwalts Prilukow zu diesem Mord angestiftet hatte. Sie hatte ihn am Grab eines gemeinsamen Freundes, des Barons Wladimir Stahl, schwören lassen, nicht eher zu ruhen, als bis er ihren Verlobten beseitigt hatte. Der Roman ist in drei Teile geteilt: 1. „ Die Untersuchung “ : von der Verhaftung in Wien bis zur Gegenüberstellung mit der Jugendliebe der Tarnowska, dem „ Dominikaner “ , Pater Andrej, Graf Andrej Wyrubow. 2. „ Der Tatbestand “ : von der Rückblende in die Kindheit der Tarnowska bis zu ihren Reisen in Europa und ihren sexuellen Ausschweifungen. 3. „ Der Prozeß “ : über die Gerichtsverhandlung zweieinhalb Jahre nachher. Habes Hauptquelle für den Roman war Maria Tarnowska von Vivanti Chartres. Er hat aber im Verlauf von dreißig Jahren vom ersten Plan bis zum Erscheinen des Romans vielerlei Protokolle von Gerichtsverhandlungen und polizeilichen Vernehmungen sowie zeitgeschichtliche Dokumente benützt. Diese trockenen Dokumente hat er mit der verlebendigenden Kraft seiner Fiktion Leben eingehaucht. Habe hatte C. G. Jungs „ Genialität und Psychoanalyse “ gelesen und eine zweite wichtige Quelle war Friedrich Mörchens Darstellung der Tarnowska in seinem Bericht „ Über degenerierte Frauen höherer Stände “ , der ein Beitrag zum „ 4. internationalen Kongreß zur Fürsorge für Geisteskranke “ von 1911 gewesen ist. Der erste Teil des Romans endet mit der Gegenüberstellung von Tarnowska und Andrej, dem sie in ihrer Jugend verbunden war. Aber jetzt trägt sie ihm nach, daß er sich in seinem Dominikanerhabit nicht von ihr verführen ließ, sich ihrer sexuellen Anziehungskraft widersetzte, während er ihr nachtrug, daß sie jetzt 98 Der Roman Die Tarnowska noch überhaupt versucht, ihn zu verführen. Jetzt glaubte er plötzlich in der ausgelebten Sexualität der Tarnowska den Teufel zu sehen und versuchte mit dem kirchlichen Mittel der Beichte ihre Seele zu retten. Während sie früher mitunter ihren Anwalt (und Geliebten) Prilukow traf, trennte sie sich von ihm, nachdem sie sein Geld verbraucht hatte. Als sie Moskau verließ, traf sie im Zug den Grafen Kamarowskij, der sich sofort in sie verliebte, ihr die Ehe versprach und sie unter seine Fittiche nahm. Sie hatte seinem Ehewunsch entsprochen, obwohl er ihr zuwider war, weil er immer öfter versuchte, von ihr gezüchtigt zu werden. Auf der Verlobungsfeier mit ihm begann die Tarnowska eine Affäre mit dem jungen Studenten Nicolaus Naumow, der sich nicht wünschte geschlagen, sondern auf andere Art psychisch gequält zu werden. Aber auch für Prilukow, mit dem die Affäre gelegentlich noch andauerte, bedeutete gequält zu werden einen Lustgewinn. Immer tiefer begann die Tarnowska in dem mächtigen Sog von sexueller Gewalt, Geldabhängigkeit und in der bei ihr in der Zwischenzeit ausgebrochenen Kokainsucht zu versinken. Die sadomasochistischen Ausschreitungen hatte nicht sie eingeleitet, sondern sie war von den Männern gewünscht worden. Rein und groß war ihre Liebe zu ihrem Sohn Tioka und aufrichtig war ihre Anerkennung der moralischen und psychischen Anständigkeit des Dominikaners. Einerseits gibt es kaum eine Kleinigkeit an Äußerlichkeiten bis zu den Roben der italienischen Richter, die Habe nicht recherchiert hätte, andererseits war die zwingende Kraft für die gesamte Darstellung der Tarnowska seine Roman- Poetik, die ihn zum Einbauen reiner Fiktion zwang, wenn es dichterisch notwendig war. Das Eingehen der Tarnowska auf die sadomasochistischen Bestrebungen der Männer war ihre Waffe in der von männlicher Grausamkeit beherrschten Welt des Alltagslebens. Ihre Fähigkeit, das zu erkennen und auszunützen, machte sie zur Herrin der Situation. Dies führte dazu, daß die Tarnowska aus der männlichen Perspektive durch die Benützung dieses Wissens als eine Repräsentation jenes Weiblichen gesehen wurde, welche eine Geisel des Mannes war. Habe hat aber in der Regel seine Erzählung aus der Perspektive des Weiblichen (und der Adelsperspektive) der Tarnowska dargestellt. In ihrer Perspektive sehen die beiden Polizisten, die sie verhafteten, wie Zwillinge aus, beamtete Proleten, die mit der Gesellschaft erst in Berührung kamen, nachdem sie wie eine faule Frucht vor ihre Füße gefallen war. Auch wenn man bei dieser Perspektive aristokratisches Vorurteil in Rechnung stellt, so ist doch auch etwas sehr Richtiges dran. Denn durch das Wort „ Zwillinge “ wird den Polizisten jede individuelle Persönlichkeit abgesprochen und daraufhin sogar auch ihr eigenes Denken, wenn es heißt: „ Die Hüter des Gesetzes, machtlos, hüteten nur ihre dumme Pflicht. “ 99 Der Roman Die Tarnowska Es ist offenkundig zugleich des Autors Wunsch, die Anteilnahme des Lesers an seiner Romanheldin zu erwecken und zu fördern und zugleich damit das Leserverständnis für die Tarnowska zu vertiefen. Denn obwohl das Sprichwort sagt, daß Liebe blind macht, ist es doch auch so, daß sie auch tieferes Verständnis für einen geliebten Menschen vermittelt, als kühle Distanz oder als Haß. Sie kann als Katalysator für Menschlichkeit dienen und das ist das Höchste, was möglich ist, und worum es dem Autor auch geht. Aus dem Gelingen des Anstiftens der Tarnowska durch die Männer zu sadomasochistischem Verhalten resultierte auch ihre Macht über die Männer. Mitunter war das aber auch gar nicht notwendig. Sogar der Staatsanwalt unterlag ihrer Männer bezwingenden Macht. Er versprach ihr zu helfen, wenn sie mit ihm schliefe. Sie versprach, mit ihm zu schlafen, wenn sie ihre volle Freiheit erlangt hätte, doch wurde er von ihrem Fall abgezogen. Die Tarnowska war ein erfolgreicher Roman. Habe konnte in einem Brief an George Marton schreiben: „ Trotz der heftigen Gegenkampagne, angefangen bei dem Kapo Neumann bis zu den Knaben der Gruppe 47, scheint sich Die Tarnowska als ein großer Erfolg anzulassen. Obwohl das Buch erst seit wenigen Tagen ausgeliefert wird und in den meisten Städten noch gar nicht zu haben ist, druckt Desch bereits die dritte Auflage, zwei Auflagen sind ausverkauft. Die ersten Pressestimmen waren geradezu überwältigend. Endgültiges wird man aber erst in vier bis fünf Wochen sagen können. “ Da der Erfolg aber blieb, wurde der Roman schließlich auch verfilmt. Die Schlüsselwörter des Zitats sind „ Kapo “ und „ Knaben “ . Beide Wörter waren nach dem Zweiten Weltkrieg den Gebildeten durchaus geläufig. Kapo hat sich zwar auch in der im Krieg entfalteten speziellen Bedeutung, wenngleich in einer verharmlosten Erklärung im Duden gehalten, aber nicht so, wie ein Kenner wie Habe es verwendet hatte. Im Duden steht: „ Häftling eines Konzentrationslagers, der ein Arbeitskommando leitet “ . Das könnte sogar die offizielle Erklärung der SS gewesen sein. Das Wesentliche am Zitat war, daß die meisten „ Kapos “ einen noch größeren Terror gegenüber den Häftlingen ausübten als die SS-Bewacher. Die spezielle „ Gruppe 47 “ hat trotz ihres eigenen Propaganda- Gedröhnes nicht die Aufnahme in den Duden geschafft. Mit dem „ Kapo Neumann “ war der österreichische Autor Robert Neumann, der 1939 - 1947 Präsident des Österreichischen P. E. N. in London war, gemeint gewesen. Er ist Literaturlesern, und zumal älteren, durch die köstlichen Parodien-Bände: Mit fremden Federn und Unter falscher Flagge bekannt. Aber diese Seite Neumanns hatte Habe überhaupt nicht gemeint. Was er meinte, war, daß Neumann zwar wie ein KZ-Kapo selbst ein Hitlergegner war, daß er aber gegenüber anderen Hitlergegnern seinen eigenen Terror entfaltete. Er war zwar ein Exilant und dazu noch ein sehr aktiver und auch ein sehr aktives Mitglied des Internationalen P. E. N. gewesen, aber sein erster Terror hatte sich gegen den eigenen Präsidenten des Internationalen P. E. N. Charles Morgan gerichtet, einen 100 Der Roman Die Tarnowska Autor von mehr literarischen Verdiensten und größerem Ruhm als er selbst. Beim Kongreß des Internationalen P. E. N., in dem Neumann seit 1950 einer der Vizepräsidenten war, sprach er sich 1955 in seiner Schlußansprache gegen die Parolen über den Kalten Krieg des P. E.N-Präsidenten Charles Langbridge Morgan aus und wurde dafür in der Presse als Kommunist attackiert, was aber weit her geholt war. Neumann war auch der Initiator der Abwahl von Pierre Emmanuel, eines entschlossenen Antikommunisten, der Präsident des P. E. N.-Clubs von Frankreich gewesen war. Neumann attackierte auch die Gruppe 47, doch ließ er dabei eines der wichtigsten Mitglieder aus, gegen das er nichts einzuwenden hatte: Heinrich Böll. Ja, er setzte sogar durch, daß Böll der nächste Weltpräsident wurde. Böll war aber jener Autor der Gruppe 47, der die engsten Beziehungen zur Sowjetunion, ja zum KGB besaß. Dadurch war er der meistübersetzte deutsche Autor ins Russische geworden. Daß der Zeit seines Lebens bedingungslose Gegner des Kommunismus Hans Habe, Neumann einen „ Kapo “ nannte, war ebenso selbstverständlich wie boshaft. Neumann war übrigens vor Habe in das Tessin gezogen und hatte bald nach dem Erscheinen der Tarnowska sein Buch Dämon Weib geschrieben. Bleibt noch die wichtige Erklärung für den Grund, weshalb Habe die Gruppe 47 „ Knaben “ genannt hatte. Es geht um weitaus mehr, als darum, daß sie für die damalige Zeit aus jungen, unreifen Autoren bestand. Wenn es in Susanne Swantje Falks gründlich gearbeitetem und sehr gutem Buch über Habe (Wien 2008) ein eigenes Unterkapitel mit der Überschrift „ Habe und die Gruppe 47 “ gibt, dann hätte sie in diesem Unterkapitel kaum ahnungsloser und unrichtiger vom Wesentlichen ablenken können. Das Wesentliche ist, daß eine Generation, die den Totalitarismus des Nationalsozialismus selbst erlebt und erfahren hatte, einer Generation gegenüber stand, die ihn nur aus Berichten, Büchern und Zeitungen kannte, was im besten Fall ein blasser Abklatsch von der Realität war. Die „ Knaben “ kannten den Nazismus nur aus zweiter Hand. Das Eigenartige und Wesentliche ist, mit welcher im diesem Fall die unerfahrene Generation die erfahrene Generation bagatellisierte, ja der völligen Unwissenheit zieh, die sie selbst in ihrer angeblich hohen Intelligenz verbesserte und wettmachte. Die unerfahrene Generation erhob mitunter sogar den Vorwurf, daß es überhaupt keinen nennenswerten Widerstand gegen Hitler in dessen Zeit gegeben hatte, und daß sie, die Unerfahrenen, die ersten waren, die seine wirkliche Gefahr entdeckt hatten. Für einen Mann wie Hans Habe, der sowohl als Freiwilliger in der französischen Armee als auch als Freiwilliger der amerikanischen Armee in gefährlichen Einsätzen Dutzende Male sein Leben in die Schanze geschlagen hatte, von einer für ihn jugendlichen Autorengruppe, die zudem oft mehr durch ihre Propagandatüchtigkeit als durch dichterische Leistung glänzte, gesagt zu 101 Der Roman Die Tarnowska bekommen, er sei ihnen gegenüber ein Ahnungsloser, was die Gefährlichkeit Hitlers betraf, war für den Verfasser des wahrscheinlich ersten Exilromans überhaupt (Drei über die Grenze) den Goebbels verbrennen hatte lassen, ein starkes Stück. Seiner Erbitterung über die Gruppe 47 hatte Habe in einem Brief an Manfred George, den Herausgeber der New Yorker deutschsprachigen Emigrantenzeitschrift Aufbau Ausdruck verliehen. Er schrieb an Manfred George, daß er eigentlich gerne auf die „ Grass-Verherrlichung “ des Aufbau in einem Artikel reagiert hätte. „ Während hier “ (das ist im ehemaligen Deutschland) „ jeder, der im Exil war, sabotiert, übergangen, geschmäht, boykottiert und verleumdet wird, bleiben beim Aufbau die „ Emigranten “ im ungedruckten Übersatz, dafür stimmte der Aufbau in den 47er Chor ein. “ Mit der Propagandatüchtigkeit der Gruppe 47 begannen die linken Mafia- Gruppen in der deutschen Literatur. Habe hatte auch ein scharfes Auge auf den Antisemitismus, der begonnen hatte, sich als Antizionismus zu tarnen. In einem Brief an Kurt Eichner, der im Deutschen Literaturarchiv im Marbach erhalten ist, heißt es: „ Es gibt in Deutschland immerhin Hunderttausende, die nichts gelernt und alles vergessen haben. Und so optimistisch wie Sie kann ich die Jugend nicht sehen. Die Dummheit der sogenannten Linksintellektuellen ist nicht weniger besorgniserregend als der Zug eines neuen Nationalismus. “ Als ich 1964 zum ersten Mal aus Wien in der University of Southern California angekommen war, geisterte das alte Gespenst eines solchen „ Linksintellektuellen “ zumindest bei einem Professor und vielen Studenten der Germanistik herum. Es hieß Ludwig (nicht Herbert) Marcuse und war besonders stolz, in der linken, deutschen Wochenzeitschrift Die Zeit schreiben zu dürfen. Als fleißiger Abonnent und Leser gab er mangels eines eigenen Urteils die Weisheiten, die er aus der Lektüre gelernt hatte, sofort laut weiter. Zu einer der essentiellsten dieser „ Weisheiten “ gehörte die Wichtigkeit der Gruppe 47 im Allgemeinen und die Wichtigkeit des Günter Grass im Besonderen. Kein Wunder, daß einem wirklichen Dichtungskenner wie Habe davor graute. Habe wußte, daß die radikalen Rechten den Nationalsozialisten und die radikalen Linken den Kommunisten zuneigten, wie er auch wußte, daß der Nationalsozialismus und der Kommunismus die beiden größten politischen Verbrechen des Jahrhunderts gewesen waren. Sogar in einem Roman über die weibliche, sexuelle Leidenschaft, wie Die Tarnowska, gibt es eine in dieser Hinsicht bemerkenswerte politische Beobachtung über den Unterschied zwischen Anarchismus und Kommunismus: „ Die Anarchisten schaffen Unordnung zum Zwecke späterer Ordnung; die Kommunisten Ordnung zum Zwecke späterer Unordnung. “ Als der Staatsanwalt, der die Tarnowska liebte, sie einmal in der Nacht aus dem Gefängnis holte und sie auf dem Friedhof zum Grabe des Grafen Kamarowskij führte, den sie durch Auftrag hätte morden lassen, da dachte 102 Der Roman Die Tarnowska sie vor dem Grab: „ Schlaf gut Pawel, ich habe dich nicht gemordet. “ Als der Staatsanwalt, noch immer vor dem Grab, sie daran erinnerte, daß Gott allwissend sei, nickte sie. Da Gott allwissend war, wußte er, warum Pawel Kamarowskij sterben hatte müssen. Sie wußte es nicht. Der auktoriale Erzähler Habe manifestierte damit zweifellos, daß sie unschuldig war. Schuldig war sie lediglich an ihrer Macht über die Männer, die auch ihr Fluch waren, und dies war der Grund, weshalb man sie zur Hexe stempelte. Der Dominikaner Graf Wyrubow wußte auch, daß er sie im 15. Jahrhundert auf den Scheiterhaufen geführt hätte, während er jetzt dabei war, Wasser auf das Feuer zu gießen. Als im Prozeß schließlich das Urteil gesprochen wurde, da wurde Naumow, der wirkliche Täter, zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, Tarnowskas ursprünglicher Rechtsanwalt und Liebhaber Prilukow zu zehn Jahren, die Tarnowska selbst aber zu dreizehn Jahren. Habe wußte, wie er seine Absicht, seiner Heldin einen Platz in den Herzen der Leser zu schaffen, mit der üblichen Großartigkeit umsetzen konnte. Seine Perspektive des Mitleids glich am ehesten jener des Dominikaners, der in einem gewissen Sinn außerhalb der Gesellschaft stand und welcher der höheren, überirdischen Ordnung bereits nahe war. Die Tarnowska war 1962 erschienen. Ein Jahr später reiste Habe mit seiner Frau Licci in die USA, wo er in New York der Premiere des zu einem Stück umgearbeiteten Romans Der Weg ins Dunkel beiwohnen wollte. Habe wollte diesen Aufenthalt aber auch dazu benützen, um einen Reisebericht über seine amerikanische Wahlheimat am Beginn der Sechzigerjahre zu schreiben. Er reiste darum planmäßig durch das ganze Land. Als am Ende dieser Reise Präsident Kennedy ermordet wurde, veränderte dieses Ereignis seinen ganzen Plan und an Stelle des Reisberichts schrieb er einen Bericht über die Ermordung unter dem Titel Tod in Texas. Nachdem Habe nicht ohne vorangegangene Skepsis eine Rede Kennedys in Washington gehört hatte, war er ein begeisterter Anhänger des Präsidenten geworden. Dessen Tod traf ihn so hart, daß er in einen wirklichen Schockzustand verfiel, den er auch in seinem Buch beschrieben hat. Er war zunächst sogar unfähig gewesen zu schreiben und konnte nur langsam mit seinem Buch beginnen. Kennedy war aus der Sicht Habes ein Wegweiser in die Zukunft, sowohl für die USA als auch für Europa. Das Buch kam auf die Bestsellerliste der Zeit und der Züricher Weltwoche. Das Buch war eines der ersten, das eine umfassende Analyse der Zustände während der Ära Kennedys gab, was den großen Erfolg des Werks begründete. 103 Der Roman Die Tarnowska Habe hatte sowohl mit einem führenden Vertreter der Terrororganisation des Ku-Klux-Klans als auch mit Martin Luther King gesprochen, von dem er sich wie von Kennedy ein Ende der unmenschlichen Rassentrennung erhoffte. Habes nächstes Buch ist ein oberflächlich rein journalistisches. Unter dem Titel Meine Herren Geschworenen hat er zehn Kriminalfälle des 20. Jahrhunderts beschrieben. Dafür ist sein folgendes Buch Die Mission von 1965 ein besonders wichtiges, das die Schande von einunddreißig Nationen dem Vergessen entreißt, die bei der Konferenz von Évian, 27 Jahre früher, das Angebot Hitler-Deutschlands, die auf deutschem Reichsgebiet lebenden Juden gegen ein Lösegeld von 250 US-Dollar pro Kopf freizulassen, abgelehnt hatten. Die deutschen Behörden hatten absichtlich zum Träger der „ Mission “ einen weltberühmten jüdischen Arzt, Dr. Heinrich von Benda, gemacht, weil sein Auftreten in den Augen der anderen Nationen weniger anstößig wirken würde. Dr. von Benda hatte im Grunde keine Wahl, ob er die Mission annehmen wollte. Abgesehen von seinem eigenem, stand auch das Leben seiner zweiten Ehefrau und seiner Kinder auf dem Spiel. Dr. von Benda verhandelte getrennt mit den einzelnen Konferenzteilnehmern. Besonders der kolumbianische Delegierte und der amerikanische Botschafter unterstützten ihn dabei. Im Gegensatz zu Benda sahen sie das Scheitern seiner Mission voraus. Die Nazis erhöhten den Druck auf Dr. von Benda durch die Mitteilung, daß im Falle des Scheiterns der Mission 40.000 Juden zum sofortigen Abtransport in Konzentrationslager freigegeben würden. Gerade daß Dr. von Benda an das Gewissen der Nationen appellierte, rief deren Unmut hervor. Im Unterschied zu ihm wußten sie nämlich, daß das auf diese Art bezahlte Lösegeld Deutschland die Möglichkeit eröffnet hätte, Waffen für einen Krieg zu produzieren, der womöglich ganz Europa, wenn nicht die ganze Welt ins Verderben stürzen könnte. So wird das Leben der Juden mit dem Frieden Europas aufgewogen. Man konnte sich schließlich nur auf eine geringe Anzahl von Flüchtlingen zu deren Rettung einigen, einen verschwindend geringen Teil gegenüber den Massen, die man wissentlich und hilflos in ihr Verderben schickte. Die Mission, die 1966 auch in Amerika erschien, wurde zu Habes bedeutendstem Roman, der in den frühen Siebzigerjahren bereits eine Auflage von 300.000 Exemplaren erreicht hatte. Der Name Dr. von Benda ist Fiktion und steht für den wirklichen Wiener Otologen Heinrich Neumann Ritter von Héthárs, dessen Andenken Habe den Roman auch gewidmet hat. Habe war Neumann bei einer Konferenz in Genf begegnet, bei der sie im selben Hotel gewohnt hatten. Dort hatte Neumann Habe auch von dieser seiner „ Mission “ erzählt. 104 Der Roman Die Tarnowska DIE STUNDE NULL. HABES BEITRAG ZUM AUFBAU DER DEUTSCHEN PRESSE Das nächste Buch Habes Im Jahre Null. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Presse, das im Jahre 1966 erschien, ist schon aufgrund des Themas eines der bedeutungsvollsten. Denn die Stunde Null bezeichnet den Wendepunkt vom Zusammenbruch des Hitler-Staates zum neuen, freien Europa. Habe schildert darin seinen Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse nach dem Zweiten Weltkrieg. Hans Habe, damals noch im Rang eines Oberleutnants, wurde nämlich aus Italien, wo er an der Eroberung von Salerno teilgenommen hatte, nach Washington geflogen. Zuerst ging es zum Camp Sharp, das er selbst geleitet hatte, und im Februar 1944 von dort zum Camp Ritchie, wo er selbst seine Ausbildung erhalten hatte. Hier hatte er ein Gespräch mit General Banfill, der ihm folgendes eröffnete: „ Wir werden in Deutschland eine neue Presse ins Leben rufen müssen. Sobald wir deutschen Boden betreten, werden wir die Nazi- Zeitungen verbieten. Andere gibt es nicht. Es wird eine Weile dauern, ehe wir deutsche Verleger, Herausgeber und Journalisten finden, denen wir die deutsche Presse anvertrauen können. Da aber ein uninformiertes Volk ein gefährliches Volk ist, werden Sie in jeder Stadt, die unsere Truppen besetzen, eine Zeitung gründen. “ Dem folgte ein überraschender Satz: „ Ihr Hauptquartier wird Bad Nauheim sein. Der Kurort liegt zentral, unweit von Frankfurt. Sie werden mit ihrem Stab im Hotel Bristol wohnen. Die Luftwaffe hat die Weisung, Bad Nauheim zu schonen. “ Im Pentagon übergab Habe eine Wunschliste mit Namen einem Abwehroffizier. Es waren die Namen von Soldaten die perfekt Deutsch verstanden und die früher vor allem Redakteure, Journalisten und Schriftsteller, Metteure und Maschinensetzer gewesen waren, aber auch einfach Intellektuelle, die besonderes Wissen über die Kultur von einzelnen Städten hatten. Es sollten möglichst jüngere Leute sein, und solche, denen man geheimes Material anvertrauen konnte. Achtundvierzig Stunden später trafen die rund achtzig Ahnungslosen in Camp Sharp ein. Sie wurden nicht nur als Presseleute ausgebildet, sondern auch auf den Gebieten der Frontpropaganda und der öffentlichen Meinungsforschung. Da Camp Sharp ein sehr geheimer Ort war, trugen sie alle auf ihren Uniformaufschlägen die Zeichen der verschiedensten Waffengattungen, denen sie gar nicht angehörten. In den ersten Wochen durften sie das Lager gar nicht verlassen und sie mußten einen Revers unterschreiben, daß sie niemanden, nicht einmal ihren Frauen, den Zweck ihres Aufenthalts verraten durften. Zum Abschluß des Kurses veranstaltete Habe in den Wäldern von Maryland ein Feldmanöver. Einmal fuhr Habe mit seinem Sergeanten Hanus Burger in seinem Jeep nach Aachen, als es noch nicht von den Amerikanern befreit war. Gleichsam unter den Augen der deutschen Wehrmacht machte er mit Aachener Bürgern Schallplattenaufnahmen, die er dann von Radio Luxemburg aus sendete. Ein anderes Mal hatte einer von Habes Männern, Sergeant Eaton, einen deutschen Generalmajor „ gefangen “ genommen. Der General hatte sich im Wald versteckt, mit dem Wunsch gefangen genommen zu werden. Er verlangte zu Habe geführt zu werden. Es stellte sich heraus, daß der General regelmäßig die Sendungen von Radio Luxemburg gehört hatte, daß er überzeugt war, der Krieg sei für die Deutschen verloren, und daß er seine Überzeugung dem deutschen Volk über Radio Luxemburg bekannt machten wollte. Ein deutscher General, der das deutsche Volk auffordern wollte, die Waffen niederzulegen, das war ein unerhörter Glücksfall für Habe. Habe wollte natürlich den Grund wissen, weshalb der General den Krieg für verloren halte. Der in Österreich geborene Berufsoffizier erklärte: „ Ich habe musikalische Gründe. “ Er war mehrere Jahre lang Kommandant der Festungsstadt Metz gewesen und hatte als begeisterter Musikliebhaber jeden Sonntag Platzkonzerte veranstaltet. Eines Sonntags, als er sich gerade zum Konzert begab, traf Generalfeldmarschall Keitel mit Stabsoffizieren zu einer unangemeldeten Inspektion in Metz ein. Zum Unglück geriet ein Programm in die Hände Keitels und er oder einer seiner kunstbeflissenen Offiziere stellte fest, daß an diesem Sonntag Werke von zwei Juden gespielt wurden, Giacomo Meyerbeer und Jacques Fromental Halévy. General von P. wurde in den Ruhestand versetzt, bezog sein Waldhäuschen in der Nähe der belgischen Grenze und wartete auf die Alliierten. „ Denn “ , so sagte er, „ ein Land das Meyerbeer verbietet, kämpft für eine schlechte Sache. “ Habes Leute brachten ihren General in ihrem Haus „ Annie “ in der Rue Brasseur bequem unter. Tagsüber spielte der General Schach mit einem von Habes Agenten, der im Zivilleben zu Amerikas Amateurschachmeistern gehört hatte. Am Abend mußte sich der Agent entschuldigen, er hatte dringend zu spionieren. Damit war aber noch nicht das Ende gekommen. Nachdem der General zwei Wochen zum deutschen Volk gesprochen hatte, erhielt Habe einen Anruf von seinem Vorgesetzten Oberst Powell. Er machte Habe darauf aufmerksam, daß sie allesamt bald in einem Militärgefängnis enden würden. Eaton hatte den General in jenem Kampfgebiet „ gefangen genommen “ , indem sich die 3. US-Armee des keineswegs humorvollen Panzergenerals George Patton Jr. befand. Erstens hatte ein Unteroffizier der 12. Heeresgruppe in diesem Gebiet nichts zu suchen, auf keinen Fall aber hatte er das Recht, in Pattons Revier Generale zu erlegen. Außerdem hatte er kein Recht, einen deutschen General als seinen Gefangenen 106 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse zu betrachten. Der Oberst gab Habe die Weisung, den General so schnell wie möglich auf Pattons Gebiet zurück zu schmuggeln. Unter einem Vorwand verlud Eaton den allen liebgewordenen Hausgenossen in einen Ambulanzwagen und brachte ihn in einen Wald an der Grenze. Dort schlug er ihm einen Erholungsspaziergang vor. Als sie tief genug im Wald waren, machte der bewaffnete Eaton kehrt und lief so schnell er konnte zurück zum Sanitätsauto. Am nächsten Tag nahm dann die 3. US-Armee General von P. offiziell gefangen. Es hatte sich vorher kaum jemals ereignet, daß ein Wärter vor seinem Gefangenen davon gelaufen wäre. Nachdem Habe als erster in Zivilkleidung durch beide Frontlinien nach Paris geradelt und als erster Amerikaner dort eingetroffen war, stand er am 25. August 1944 zusammen mit seinem Zimmerkollegen Hanus Burger in seinem Zimmer im ersten Stock des Hotels Scribe und blickte auf den weiten Lichthof hinaus. An allen Fenstern gegenüber standen Offiziere, winkten und prosteten einander zu. Jeder hatte ein Mädchen am Arm, nicht alle von ihnen waren noch angezogen. Man wiegte sich im Takt der Musik, die von unten herauf drang. Man trank Champagner, küßte sich und feierte die Befreiung. In einem kleinen, versteckten Studio sprach Habe seine Botschaft zu den deutschen Landsern: „ Paris hat sich selbst befreit. “ Am nächsten Tag, an dem General De Gaulle seinen feierlichen Einzug in Paris halten sollte, blieb Habe in seinem offenen Jeep auf der Place de la Concorde in der wartenden Menge stecken. Der festliche Zug mit dem General an der Spitze hatte fast den Platz erreicht, da kam es zu einer Panik. Vom Dach des Marineministeriums eröffneten ein paar Miliciens das Feuer auf die Menge. Es war die Tat von Desparados. Auf dem riesigen, weiten Platz gab es keine Deckung. Um Habe herum herrschte Todesangst und Hysterie. Habe reagierte auf eine seltsame und für ihn eigentümliche Weise. Er stand auf, zog seine Pistole aus dem Gurt, stemmte die linke Hand in die Hüfte und feuerte in Richtung auf das Dach, wo die winzigen, kaum sichtbaren Heckenschützen hinter ihren Maschinengewehren hockten. Es war völlig sinnlos. Seine Pistole reichte nicht im Entferntesten so weit. Aber er erreichte, was er beabsichtigt hatte. Die Menschen um ihn herum sahen entgeistert den verrückten, amerikanischen Offizier an, der breitbeinig in seinem Jeep stand und seine Pistole leer schoß. Die Panik in Sichtweite beruhigte sich. Dann hatten auch die Männer in den amerikanischen Panzern die Rohre ihrer Geschütze auf das gegenüberliegende Dach gerichtet. Ihre Salven krachten, die griechischen Säulen splitterten und bröckelten und der Spuk war vorbei. Habe ging in das Haus an den Champs-Élysées, in dem damals ein einmaliger Brain Trust versammelt war. Sein bester Freund im Hauptquartier, Major Martin Herz, führte ihn gleich direkt zu Charles Douglas Jackson, dem Managing- Director von Time-Life International. 107 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse Jackson erklärte seinem Besucher: „ Habe, es ist so weit. Sie haben vierundzwanzig Stunden, um dem General Ihren Plan zum Aufbau der deutschen Presse vorzulegen. Sie müssen auch sagen, wen Sie nach Bad Nauheim, Ihrem neuen Hauptquartier, mitnehmen wollen. Wir selbst werden, sobald das möglich ist, in Ritters Parkhotel in Bad Nauheim unser Quartier aufschlagen. “ Habe antwortete: „ C. D. “ - er nannte ihn mit den Initialen seines Vornamens - „ die scheinen im Pentagon an einem neuen Baedeker zu arbeiten. “ Die Konferenz bei General McClure, vierundzwanzig Stunden später, war für die Zukunft der deutschen Presse von größter Bedeutung. Habe hatte verschiedene Zeitungstypen geplant, doch sollte es auf jeden Fall eine richtige Zeitung werden. Es waren Leitartikel, Reportagen, Feuilletons sowie ein Wirtschafts- und sogar ein Sportteil vorgesehen. Leserbriefen sollte ein weiter Platz eingeräumt werden. Aber der General erklärte: „ Wir wollen Mitteilungen und Richtlinien veröffentlichen, sonst nichts. Die Deutschen brauchen sich keine Meinung zu bilden - the Germans have to be told. “ „ Herr General “ , wandte Habe ein, „ die Deutschen sind ein Kulturvolk, trotz allem. “ „ Die Deutschen haben aufgehört ein Kulturvolk zu sein. “ „ Die Presse “ , versuchte Habe, „ gehört nicht zum Show-business. Wir tragen mit besseren Zeitungen nicht zur Belustigung der Deutschen bei, wie wir sie andererseits bestrafen, wenn wir ihnen Informationen vorenthalten. Wir planen, soviel ich weiß, die zerstörten Wasserleitungen herzustellen. Zeitungen sind so notwendig wie Wasser. “ Habe hätte sich gegen den aufrechten, aber engstirnigen Mann niemals durchsetzen können, hätte er nicht in dem späteren Labour-Abgeordneten Richard H. Crossman, dem Präsidenten der Columbia Broadcasting System William Samuel Paley und in dem Schriftsteller und Literaturkritiker Anthony Powell Verbündete gefunden. Kaum war Habe nach Luxemburg zurückgekehrt, als er am Morgen des 16. Dezember mit der Nachricht geweckt wurde, daß die Deutschen zwanzig Kilometer vor Luxemburg stünden, ja auf einen halben Kilometer an die Sendetürme von Junglinster vorgedrungen seien. Die Offensive wurde von Generalfeldmarschall Rundstedt gelenkt und ihnen gegenüber standen die Panzer des SS-Generals Sepp Dietrich. Von den Deutschen trennten ihn nur ein paar in Eile an die Front geworfene Köche und Militärpolizisten. Eine halbe Stunde später wurde Habe in das Gebäude der Luxemburger Postsparkasse befohlen, wo der Befehlshaber der 12. Heeresgruppe General Omar N. Bradley residierte. Es waren etwa vierzig Offiziere in dem großen Raum, von dem eine ganze Wand von einer strategischen Landkarte eingenommen wurde. Die Stimmung war gedrückt. Die Dezembernebel hingen so dicht vor den Fenstern, daß man nicht einmal die nächste Brücke sehen konnte. Jede Hoffnung, daß die 108 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse britisch-amerikanische Luftwaffe aufsteigen und den deutschen Vormarsch aufhalten würde, schien geschwunden. Kurz nachdem General Bradley begonnen hatte, die durch die deutsche Offensive in den Ardennen entstandene Lage zu erklären, traf auch der Oberkommandierende General Eisenhower ein. Sein Gesicht war gerötet, aber er zeigte keine Sorge. Er begnügte sich damit, dem Lagebericht seines Heeresgruppenkommandeurs kopfnickend zuzustimmen. General Bradley erklärte, daß sich die deutsche Verzweiflungsoffensive rapid in Richtung Lüttich entwickle. „ Sie werden “ , sagte Bradley mit der Ruhe eines theoretisierenden Universitätsprofessors und der Kühnheit einer Wahrsagerin, „ die Stadt Luxemburg aussparen. Die deutschen Panzer rollen mit ihrem letzten Benzin. Ihr Ziel sind unsere Öl- und Benzindepots in Lüttich. Der deutsche Generalstab kann den Krieg nur mit unserem Brennstoff fortsetzen. An dem strategisch unbedeutenden Luxemburg haben die Deutschen kein Interesse. “ Das klang umso überzeugender, als Bradley mit seinem Stab in Luxemburg zu bleiben gedachte. Habe ließ sich bei Bradley melden. Während er im Zimmer seines Adjutanten Major Mason auf ihn wartete, glaubte er seinen Ohren nicht zu trauen, als er minutenlang nichts als den Namen Marlene Dietrich hörte. Marlene hatte am Abend vorher für die Soldaten der Garnison Luxemburg gesungen. Während die deutschen Einheiten aus dem Raum Trier zum nächtlichen Angriff antraten, saß Marlene schon wieder im Jeep, um sich zu einer vorgeschobenen Einheit bringen zu lassen. Die Frontlinie befand sich jetzt in solcher Unordnung, daß man fürchtete, Marlene würde mitten in die deutsche Panzeroffensive geraten und möglicherweise in die Hände der Waffen-SS fallen. Für einige Stunden, bis es gelang, Marlene zu finden, stand der Krieg still. Man kümmerte sich im Gebäude des Heeresgruppenkommandos nur um das Schicksal des Stars. Endlich empfing General Bradley Habe. Dieser berichtete ihm, das Luxemburger Rundfunkhaus sei bis unters Dach mit geheimem Material gefüllt. Wenn er das Material verpacken und abtransportieren ließe, sodaß es später von neuem geordnet werden müßte, würde die Frontpropaganda erst in Wochen, ja vielleicht in Monaten wieder in Schwung kommen. Überdies würden die Luxemburger in eine Panik verfallen, wenn sie erfahren würden, daß die Amerikaner Radio Luxemburg geräumt hätten. Bradley zögerte nie. Er zögerte auch diesmal nicht. „ Wieviel Leute brauchen Sie? “ fragte er. „ Mindestens zehn. “ „ Wenn Sie zehn Freiwillige finden, können Sie bleiben. “ Alle wollten bleiben und Habe mußte neun selbst aussuchen. Vor Weihnachten erschienen Major Martin F. Herz und Richard H. R. Crossman in Luxemburg. Sie sollten mit Habe ein Flugblatt entwerfen, das über den deutschen Linien abgeworfen wurde. 109 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse Dieses Flugblatt, entworfen von dem späteren britischen Minister Crossman, wurde neben dem berühmten „ Passierschein “ zum erfolgreichsten Propagandacoup des Zweiten Weltkrieges. Er entwarf ein Flugblatt, das auf der einen Seite eine Landkarte zeigte. Hier war der deutsche Vormarsch eingezeichnet, wie er sich ereignet hatte. Gestrichelte Pfeile deuteten außerdem an, in welcher Richtung die deutsche Wehrmacht vorzustoßen gedachte. Die Zeichnung entsprach dem Rundstedt-Plan, den Bradley - Strategie ist eine Wissenschaft - nachgedacht hatte. Auf der anderen Seite wurde dem deutschen Überraschungsmanöver und der Tapferkeit der deutschen Soldaten Achtung gezollt. Dann aber wurde der Wahrheit entsprechend auch berichtet, daß die letzten Benzinvorräte der deutschen Wehrmacht erschöpft waren, sodaß sie unbedingt Lüttich mit den amerikanischen Öl- und Benzindepots erreichen müßten, sonst sei der Krieg für Deutschland verloren. Aber das Unbehagen für Habe in seinem belagerten Luxemburg war groß. Er verschanzte sich mit seinen Leuten im Rundfunkhaus, das sie nach Oberstleutnant Samuel S. Rosenbaum die „ Rosenbaum-Linie “ nannten. Habe hatte in der Vorhalle des Funkhauses alle geheimen Informationen aufstapeln lassen. Rundherum waren offene Benzinkanister gruppiert worden. Sollten die Deutschen die Station überrennen, dann hätten Habes Leute Handgranaten geworfen, um das Benzin in Brand zu setzen und das gesamte Material wäre in einem einzigen Flammenberg untergegangen. Das Unbehagen wuchs, als Habe erfuhr, daß die Deutschen deutsche Fallschirmjäger in amerikanischer Uniform abgeworfen hätten. Ja sogar amerikanische Jeeps waren mit ihnen eingesetzt worden. Die abgeworfenen deutschen Fallschirmjäger waren offenkundig Deutsch-Amerikaner, denn sie sprachen akzentfrei englisch. Auch besaßen sie täuschend gefälschte amerikanische Militärpapiere. Sie hätten Verwirrung und unermeßlichen Schaden anrichten können. Habe hatte in der Nähe des Funkhauses in einem Wohnhaus ein Dutzend deutscher Kriegsgefangener untergebracht, die bereit waren, über den Rundfunk zu ihren Landsleuten zu sprechen. Eines Tages eskortierte einer von Habes Leuten, ein Wiener Rechtsanwalt namens Brandstätter, der in der amerikanischen Armee Sergeant Otto Brand hieß, einen deutschen Leutnant zurück ins Gefangenenhaus. Freundlich und gemütlich, wie sie es gewohnt waren, unterhielten sich die beiden in deutscher Sprache. Das blieb bei der Luxemburger Zivilbevölkerung, die vom Absprung deutscher Fallschirmjäger gehört hatte, nicht unbeachtet. Als sie den Stadtpark durchquerten, wurden die beiden von Zivilisten umzingelt. Kurz darauf tauchten einige amerikanische Panzerjäger auf, die Polizeidienst versahen. Diese harten Jungen nahmen den deutschen Offizier und den amerikanischen Sergeanten kurzerhand fest. Den deutschen Offizier hätten sie geschont, aber den deutschen Spion sofort an den nächsten Baum 110 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse gestellt und erschossen, wenn er nicht sechs Fangfragen richtig beantworten konnte, die besonders so zusammengestellt waren, daß nur erfahrene, amerikanische GI ’ s sie beantworten konnten. Die erste Frage war, was Dr. Pepper bedeutete. Es war ein nur in Amerika bekanntes Getränk der Coca Cola-Art. Der unglückliche Wiener Rechtsanwalt konnte sie nicht beantworten. Erst bei der zweiten Frage hellte sich sein Gesicht auf. Sie lautete: „ Was versteht man unter ,tough shit ‘ ? “ Sogar er war schon lange genug in der Armee, zu wissen, daß ,tough shit ‘ Pech bedeutete. Daher wurde er zum Gefechtsstand der Panzerjäger gebracht. Inzwischen hatte Habe bereits vom Unglück seines „ Sergeanten Brand “ erfahren und hatte sich zum Kommandeur der Panzerjäger begeben, um ihn zu befreien. Er hatte nicht mit der Stimmung in Luxemburg gerechnet. Auf seine Erklärung Brand sei einer seiner Leute, reagierte der junge Hauptmann mit argwöhnischer Ironie: „ Und wer, wenn ich fragen darf, sind Sie? “ Habe wies seine Papiere vor. Der Hauptmann, dem schon Habes Akzent nicht gefallen hatte, lächelte: „ Ich habe die Deutschen überschätzt. Diese Papiere sind miserable Fälschungen. “ Nur mit größter Mühe erreichte Habe es, daß der Hauptmann Habes Vorgesetzten, Oberst Clifford R. Powell, ans Feldtelefon bat. Lächelnd kehrte der junge Hauptmann von seinem Gespräch zurück. „ Entschuldigen Sie, Captain “ , sagte er. „ Sie können gehen. “ „ Wieso haben Sie mich denn identifiziert? Der Oberst hat mich doch gar nicht gesehen. “ „ Sie sind entlassen. “ Der Hauptmann hatte offenkundig genug von der Komödie. Erst als er zurück im Funkhaus war, erfuhr Habe, wie nützlich oft unmilitärisches Benehmen ist. Er hatte sich vom Anbeginn seiner militärischen Laufbahn an geweigert, sich einen militärischen Haarschnitt zuzulegen. Ebenso trug er den Stahlhelm nur in einem äußersten Notfall, da dieser, so hieß es, dem Haarwuchs nicht bekömmlich sei. Oberst Powell hatte den Panzerjäger-Captain gefragt, ob der Mann, der sich als Captain Habe ausgab, einen Stahlhelm trug. „ Nein, er trägt, keinen Stahlhelm. “ „ Hat er lächerlich lange Haare? “ „ Ja, er hat lächerlich lange Haare. “ „ Zum Teufel, dann lassen Sie ihn gehen. “ So konnte Habe mit seinem befreiten Unteroffizier zur „ Rosenbaum-Linie “ zurückkehren. Am Morgen des 28. Dezembers 1944 brach die Wolkendecke auf, die zwölf Tage über der Front gelagert und jede Operation der alliierten Luftwaffe verhindert hatte. Ein kristallklarer, blauer Winterhimmel wölbte sich über Luxemburg. Freilich: um zwölf Uhr mittags verfinsterte sich der Himmel wieder, doch war es eine Verfinsterung, um die Habe in zwölf schlaflosen Nächten gebetet hatte. Hunderte von britischen und amerikanischen Bombern, Kampfflugzeugen und Jägern flogen über Luxemburg nach dem Osten. Unter den ersten Maschinen, die aus London aufstiegen, waren auch jene, die vier Millionen des Crossman ’ schen Flugblatts mit sich führten. Es gab in den 111 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse Ardennen kaum einen deutschen Landser, der nicht ein solches Flugblatt zu Gesicht bekommen hätte. Als Feldmarschall Rundstedt zum Rückmarsch blies, erinnerten sie sich, daß der Sprit der deutschen Wehrmacht nicht ausreichen würde, um die abgeschriebenen Einheiten in die Heimat zurück zu führen. Die in Eile von den Amerikanern errichteten Kriegsgefangenenlager reichten nicht aus. Die Zahl der enttäuschten, betrogenen Landser, die sich ergaben, war zu groß. Am Tag der deutschen Kapitulation im Krieg erhielt Habe in Bad Nauheim die gute Botschaft, auf die er Monate gewartet hatte. Sein Freund aus dem Camp Ritchie, Captain Hans Wallenberg, der an der Invasion von St. Tropez mit der 7. US-Armee teilgenommen hatte, war ihm endlich zugeteilt worden. Nun stand ihm ein wahrer Vollblutjournalist zur Seite. Hans Habe war einer jener Menschen, welche die Gabe haben, jeweils in die wichtigsten und entscheidendsten Situationen versetzt zu werden. Als er am 17. Juli 1945 in seinem Zimmer im halbzerstörten Ullsteinhaus in Berlin saß, erschien bei ihm ein amerikanischer Fregattenleutnant, der den Auftrag hatte, ihn unverzüglich an einen ungenannten und nicht näher bestimmten Ort zu bringen. Nach einer ebenso geheimnisvollen Fahrt durch die Gluthitze der zerstörten Stadt kamen sie nach Neubabelsberg, wo der Weg plötzlich durch mehrere Straßensperren unpassierbar war. Habes Begleiter mußte verschiedene Dokumente vorweisen, damit sie weiter fahren konnten. In der verhältnismäßig gut erhaltenen Filmkolonie, in der sich viele Stars ihre Villen erbaut hatten, kam Habe plötzlich sein Schwiegervater, der amerikanische Botschafter Joseph E. Davies entgegen. Er erklärte Habe, er sei ihm auf seinen Wunsch für die Dauer der Potsdamer Konferenz als Adjutant zugeteilt worden. Habe hatte noch nie von einer Potsdamer Konferenz gehört und hatte keine Ahnung, daß die drei Siegermächte sich anschickten, die Oder-Neisse-Linie festzulegen und Deutschland in Besatzungszonen aufzuteilen. Habe war plötzlich der einzige Außenstehende, der wußte, daß die Konferenz zwischen den großen Drei - Truman, Churchill, Stalin - in Potsdam stattfand und zwar im Palais Cecilienhof, der einst Landsitz des deutschen Kronprinzen Wilhelm gewesen war. Das war nicht einmal den Generalen der Besatzungsmächte bekannt. Habe sah schon damals, daß sich die drei Siegermächte zwar einig waren, Deutschland aufzuteilen und für immer die Auferstehung eines kriegslüsternen Deutschland zu verhindern, daß sie sich jedoch gegenseitig mißtrauten. Bei allen Gesprächen, die in den Villen der amerikanischen Delegation geführt wurden, ging es vor allem darum, das Mißtrauen der Russen zu zerstreuen. Habes Schwiegervater, der Botschafter in Russland gewesen war, pendelte den ganzen Tag zwischen dem Sitz Trumans in der Kaiserstraße 2 und dem Haus Stalins hin und her. Seine Mission bestand hauptsächlich darin, Stalin zu überzeugen, daß 112 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse sich England und Amerika nicht gegen die Sowjetunion verschwören würden und daß es ihnen um die Vernichtung eines kriegerischen Deutschland ernst war. Sehr interessant für Habe war die Einstellung der Konferenzteilnehmer zum abwesenden Frankreich. Die Politik war offenkundig vielfach von militärischem Denken beherrscht. Weder die Amerikaner, noch die Engländer, noch die Russen betrachteten Frankreich als eine Siegermacht. Bei einer Cocktailparty im Hause Stalins unterhielt sich Habe einmal mit einem russischen General, der mit unverhohlener Verachtung über die kriegerischen Leistungen der Franzosen spottete, wie auch über die „ Höflichkeit “ der Amerikaner, den französischen Bundesgenossen die Eroberung von Paris zu „ überlassen “ . Er hatte Habes Buch Ob tausend fallen gelesen, da es Pflichtlektüre in der russischen Armee war. Das alles hing natürlich mit der Tatsache zusammen, daß niemand an die Rolle dachte, die Frankreich in einem befriedeten Europa spielen würde. Habe, der besonders an der Stimmung gegenüber Deutschland interessiert war, fiel vor allem die völlige Abwesenheit einer durchdachten Deutschlandpolitik auf. Es war trotzdem überraschend für ihn, daß ihn eines Abends, als er bei Truman speiste, der amerikanische Präsident eine halbe Stunde lang gespannt zuhörte, als Habe über Deutschland sprach, denn alles was dieser sagte, schien ihm völlig unbekannt zu sein. Aus einem Volk ohne Raum war ein Raum ohne Volk geworden. Einer von Trumans Beratern meinte beschwichtigend, Deutschland werde fünfzig Jahre brauchen, um sich auch nur halbwegs zu erholen. Habe aber fragte sich, ob das Scherzwort des Schriftstellers Emil Kuh tatsächlich zutreffe: „ Wie sich der kleine Moritz die Weltgeschichte vorstellt, so ist sie. “ Keine Ahnung hatte Habe davon, was sich die Russen wirklich dachten. Dafür war der Eindruck groß, den Stalin machte. In seiner weißen Uniform erinnerte er Habe an die Zarenbilder. Obwohl Stalin selbst Truman als Vorsitzenden der Konferenz vorgeschlagen hatte, gebärdete er sich durchaus als der Gastgeber der Potsdamer Konferenz. Er eignete sich durchaus für diese Rolle, da er auch ungemein charmant sein konnte. Kaum ein Gesellschaftslöwe hätte sich liebenswürdiger geben können, als der sowjetische Diktator. Jedes Mal, wenn Habe den Weg durch die schönen Wälder nach Potsdam zurücklegte, wurde ihm jedoch bewußt, daß er es mit dem gefürchtetstem Diktator der Welt zu tun hatte, also mit einem Mann, der sich fürchtete. Während Truman und Churchill innerhalb der Absperrung fast gar nicht bewacht wurden, sorgten Hunderte von russischen Soldaten für die Sicherheit Stalins. Von der Villa Stalins an - sie lag auf halbem Weg zwischen Filmkolonie und Hohenzollernsitz - säumten Russen in dichten Reihen den schmalen Waldweg. Sie standen so nahe beieinander, daß sich ihre Gewehre bei der Ehrenbezeugung berührten. Habe fand es als symbolisch, daß die beiden Sieger aus dem Westen zwischen ihrem Wohnsitz und dem Konferenzort fast ausschließlich russischen Soldaten begegneten. 113 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse Am Vorabend der letzten Sitzung fuhr Habe nach Berlin zurück als ein wahrhaft „ verhinderter Journalist “ . Denn er durfte von der Potsdamer Konferenz in der Allgemeinen Zeitung, die bald darauf erscheinen sollte, kein Sterbenswörtchen schreiben. So näherte sich der 7. August, an dem die Allgemeine Zeitung zuerst erscheinen sollte. Am Nachmittag des 6. August saß Habe über die Manuskripte gebeugt, die in der ersten Nummer erscheinen sollten, als ihm ein Sergeant den Besuch von zehn oder zwölf amerikanischen Kriegsberichterstattern meldete. Habe nahm an, daß sie Näheres über die erste amerikanische Zeitung Berlins etwas erfahren wollten. Gleich darauf zeigte es sich, daß sie dafür nicht das geringste Interesse hatten. Sie okkupierten Habes Zimmer, machten es sich in den Sesseln und auf den Tischen bequem und bestürmten ihn mit Fragen wie: „ Was sagen die Deutschen dazu? “ - „ Was denken die Berliner jetzt? “ -„ Welchen Eindruck hat die Sache auf die deutsche Bevölkerung gemacht? “ Welche Sache? Habe hielt sich mit „ Naturlauten “ über Wasser und versuchte, seine Inquisitoren so schnell wie möglich los zu werden, damit der sich in den Monitorraum begeben könnte, wo seine „ Abhörer “ den ausländischen Rundfunkanstalten lauschten. Als er endlich den Raum betreten konnte, berichtete gleich der erste Abhörer: „ Soeben ist die Nachricht durchgegeben worden, daß unsere Luftwaffe über Hiroshima in Japan eine Atombombe abgeworfen hat. Es soll eine Bombe sein, die vieltausendfach stärker wirkt als alle bisher bekannten Bomben. Man spricht von fünfzigtausend bis sechzigtausend Toten. Habe lief in sein Zimmer zurück, um die amerikanischen Korrespondenten von der „ Reaktion “ des deutschen Volkes zu unterrichten. Nachdem er sie los geworden war, schickte er seine eigenen Reporter aus, um Berlins wahre Reaktion auf die Atombombe zu erfahren. Einer mußte Professor Hahn suchen und befragen. Dann saß Habe Wallenberg stumm gegenüber. Nach einer Weile sagte Wallenberg: „ Ich glaube, noch keine Zeitung hat für ihre erste Nummer eine solche Sensation gehabt. Ich bin nicht sicher, ob ich nicht lieber auf sie verzichtet hätte. “ Die Reporter der Allgemeinen Zeitung und die amerikanischen Meinungsforscher stellten fest, daß der Abwurf der Atombombe vornehmlich ein Gefühl der Erleichterung ausgelöst hatte. Den Deutschen wurde bewußt, daß ihnen, hätten sie Hitlers Parolen auch nur einige Monate länger befolgt, das gleiche Schicksal wie den Japanern widerfahren wäre. Von humanitären Gefühlen war wenig wahrzunehmen. Allgemein herrschte die Meinung, der Krieg werde nun auch im Fernen Osten bald beendet sein; die westlichen Alliierten würden sich dann mit größerer Aufmerksamkeit dem Aufbau Deutschlands widmen können. Zum Gefühl der Erleichterung trug auch die Tatsache bei, daß die Amerikaner, nicht die Russen, die Atombombe besaßen. Zwölf Prozent der Befragten wunderten sich, warum eine so überlegene Macht, wie die USA es waren, 114 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse die Atombombe nicht auch gleich über der Sowjetunion abgeworfen hatte. Von jener moralischen Entrüstung gegenüber den Amerikanern, die sich zwanzig Jahre später, etwa während des Vietnam-Konflikts unter der riesigen sowjetischen und kommunistischen Propaganda entfalten sollte, war nichts zu bemerken. Der Allgemeinen Zeitung in Berlin war eine längere Lebensdauer bestimmt als allen anderen amerikanischen Zeitungen mit Ausnahme der Neuen Zeitung. Das war nicht nur der Bedeutung Berlins wegen selbstverständlich, sondern auch, weil Habe hier mit einer neuen Situation konfrontiert war. Er stand in einem Konkurrenzkampf. Unter der Führung des Schriftstellers Peter de Mendelsohn rückten englische Zeitungsmacher in Berlin ein, und jenseits des Brandenburger Tors veröffentlichten die Russen ihre Tägliche Rundschau. Habe mußte tun, was ihm am schwersten fiel. Nachdem er gemeinsam mit Hans Wallenberg der Allgemeinen Zeitung ein Gesicht gegeben hatte, ließ er Wallenberg mit zwei anderen seiner besten Leute, Peter Wyden und Eric Winters, in Berlin zurück. Zwar erhielt Wallenberg täglich aus Bad Nauheim das Material, das auch die anderen Zeitungen erhielten, beispielsweise Walter von Molos historische Aufforderung an Thomas Mann nach Deutschland zurück zu kehren, oder das Feuilleton von Frank Thieß, in dem das Wort „ innere Emigration “ geprägt wurde. Man einigte sich darauf, daß Wallenberg das Material nach seinem Gutdünken verwenden und ihm sein eigenes Material hinzufügen sollte. Wallenberg machte eine brillante Zeitung, neben der sich die Organe der anderen Besatzungsmächte provinziell ausnahmen. Die Allgemeine Zeitung wuchs und wuchs, sodaß Wallenberg mit seinem amerikanischen Stab nicht auskam und sich entschließen mußte, deutsche Mitarbeiter hinzuzuziehen. Das ganze besetzte Deutschland war nach der Überzeugung Habes ein Narrenschiff. Er konnte es den Historikern nicht verübeln, wenn sie meinten, daß auch seine Improvisationen auf dem Gebiet der Presse etwas absonderlich waren. Im Herbst begann sein größtes Experiment im Jahre Null: die Gründung der Neuen Zeitung. Der Entschluß, eine große, überregionale Zeitung ins Leben zu rufen, die auch nach der Lizenzierung aller anderen Blätter weiter existieren sollte, war in Washington gefällt worden. Dort hatte man Blut geleckt. Die vertraulichen Berichte, die Washington aus Deutschland erreichten, sprachen von einem ungewöhnlichen Erfolg der „ amerikanischen “ Zeitungen für die deutsche Bevölkerung. Zugleich hieß es, daß die deutschen Lizenzträger - unter ihnen befanden sich Männer wie Theodor Heuss und Heinrich Knorr - , welche die Lizenz für die Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung erhalten hatten, und Curt Frenzel, der den Augsburger Anzeiger zu einer der erfolgreichsten deutschen Zeitungen machte, die Zeitungen ausbauen wollten. Es hieß also, daß die neuen Herausgeber den Amerikanern zwar dankbar waren, aber ihre Zeitungen durchaus unabhängig zu gestalten gedachten. Die Vereinigten Staaten brauchten eine Stimme im „ neuen Land “ , bedurften ihrer umso mehr, als die Russen ihre 115 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse eigenen Zeitungen diktatorisch regierten und die Konturen des Kalten Krieges sich abzuzeichnen begannen. Die Wahl des Ortes, wo diese überregionale Zeitung erscheinen sollte, wurde Habe überlassen. Er wählte aus mehreren Gründen München. Der wichtigste Grund war, daß nur die nicht allzu schwer beschädigte Druckerei des riesigen NS-Blattes Völkischer Beobachter in der Schellingstraße imstande war, eine Zeitung von überregionaler Bedeutung und Verbreitung zu produzieren. Habe hatte dort gleich nach der Besetzung Münchens die Münchner Zeitung ins Leben gerufen, die nun in der Neuen Zeitung aufgehen sollte. München war auch darum besonders geeignet, weil es nicht allzu weit von Frankfurt entfernt war, wo inzwischen der Militärgouverneur für Deutschland, General Dwight D. Eisenhower in dem unversehrten IG-Farben-Gebäude - man nannte das Haus witzig GI-Gebäude - sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Unweit von Frankfurt wieder, in Bad Homburg, hatte der Generalstab der ehemaligen psychologischen Kriegsführung, jetzt des Informationsdienstes, unter General McClure seine Residenz errichtet. Habe betrachtete es auch als symbolisches Moment, München zu wählen. Die Stimme des sieghaften Amerika über den Nationalsozialismus sollte in der „ Hauptstadt der Bewegung “ , wie die Nazis München getauft hatten, und aus der Druckerei des Völkischen Beobachters ertönen. Habe hatte für den Leitartikel der ersten Nummer als Autor General Eisenhower vorgesehen. Er hielt das nicht nur für angemessen, sondern wollte damit auch den General für das Projekt gewinnen. Mit Habes Ankunft in München und mit seiner Zeit in der Schellingstraße begann ein neues Kapitel in seinem Leben. Er hat es selbst „ den Ernst des Lebens “ genannt. Auf der einen Seite begann das journalistische Ringen um die Gunst des Publikums, auf der anderen Seite das, was man heute die eigentliche „ Umerziehung “ nennt, auf der einen Seite der direkte Kontakt mit Deutschland, auf der anderen Seite der Kampf gegen die Auswüchse der Besatzungspolitik, auf der einen Seite der Weg von psychologischer Kriegsführung zum friedlichen geistigen Aufbau, auf der anderen Seite die psychologische Kriegsführung gegen eine noch immer militärischem Denken verhaftete Obrigkeit. Es war selbstverständlich, daß hier auch ein Stilbruch sichtbar wurde. Das Anekdotische mußte in den Hintergrund treten und die Geschichtsschreibung trat in ihre Rechte. Eine ungeduldige Schar von Journalisten erwartete Habe in der ehemaligen Hauptstadt der Bewegung. Diese neue Redaktion setzte sich zu gleichen Teilen aus Deutschen und Amerikanern zusammen. Dabei war es ungemein schwierig, deutsche Journalisten anzustellen, da sie allesamt vorerst vom amerikanischen Geheimdienst durchleuchtet werden mußten. Allerdings gab es in dieser Redaktion auch einen Mann, den Habe - seine Kompetenzen wie gewöhnlich ganz überschreitend - dem hochnotpeinlichen Screening entzogen hatte. Dieser Mitarbeiter hieß Erich Kästner. 116 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse Habe war mit der Hoffnung und mit dem Entschluß nach Deutschland gekommen, das Dichteridol seiner Jugend zu finden und ihm zu helfen, wieder seinen gebührenden Platz in der Literatur einzunehmen. Mit seiner treuen Gefährtin Luiselotte Enderle hatte sich Kästner am Ende des Krieges ins österreichische Zillertal abgesetzt. Habe schickte einen Jeep mit Armeerationen nach Mayrhofen und bald darauf saß ihm Erich Kästner gegenüber. Erich Kästner, unterstützt von Luiselotte Enderle, übernahm die Leitung des Feuilletons, das sehr bald mustergültig für die deutsche Presse werden sollte. Es ist eine merkwürdige Sache um die Kultur. Jeder glaubt, etwas davon zu verstehen, für jeden wird sie im Nu zum „ Anliegen “ . Während sich Habes Vorgesetzte in Bad Homburg so gut wie gar nicht um die Politik kümmerten, mußte er für seinen Kulturteil einen ununterbrochenen Kampf führen, der mitunter groteske Formen annahm. Daß die Neue Zeitung den Deutschen die Segnungen der amerikanischen Demokratie vorführen sollte, darüber bestand zwischen Habe und der hohen Generalität keine Meinungsverschiedenheit. Aber die hohe Generalität wünschte auch, die amerikanische Kultur oder was sie darunter verstand, nach Deutschland zu verpflanzen. Und da Militärs meinen, man könne alles am besten mechanisch und durch Verordnungen erledigen, erhielt Habe die Weisung, im Kulturteil der Neuen Zeitung mindestens zwei amerikanische Autoren für je einen deutschen zu drucken. Das war sowohl Unfug wie auch praktisch unmöglich. Gewiß gab es eine Reihe hervorragender amerikanischer Autoren, die in Deutschland vergessen oder unbekannt waren, die man also dem deutschen Leser präsentieren mußte. Habe hatte ohnehin von der amerikanischen Kultur nicht so hochmütig falsche Vorstellungen wie die meisten Europäer. Aber da gab es auch all die deutschsprachige Literatur, die seit den zwölf Jahren der Hitler-Herrschaft nicht zu Wort gekommen war. Wichtiger schien es ihm, Thomas Mann und Stefan Zweig, Alfred Polgar, Hermann Kesten, Erich Maria Remarque, Franz Werfel und unzähligen anderen Vertretern der Exilliteratur eine Tribüne zu öffnen. Da waren auch die jungen Deutschen, die mit ihren Romanen, Novellen, Gedichten, mit ihren Gemälden und Zeichnungen den ganzen Tag und die halbe Nacht in Kästners Redaktionszimmer saßen. Sollten sie enttäuscht werden, damit Habe sein Soll erfüllte? Eines Tages wurde Habe nach Bad Homburg befohlen. General McClure war nämlich wütend. Ein paar der deutschen Sprache mächtige, amerikanische Bürokraten hatten die Neue Zeitung einer hochnotpeinlichen Analyse unterzogen und festgestellt, daß Habe rund vierundsiebzig Prozent „ Deutsche “ gedruckt hatte. Es wäre wahrscheinlich zu einem ernsten Zusammenstoß gekommen, wenn sie in der Liste der „ Deutschen “ , die in seinem Feuilleton einen beträchtlichen Platz eingenommen hatten, nicht John Steinbeck und Carl Sandburg entdeckt hätten. 117 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse „ Herr General “ , sagte Habe mit stillem Triumph, „ ihre Analyse trifft nicht zu. John Steinbeck, in Kalifornien geboren, ist heute der bedeutendste amerikanische Romancier neben Hemingway und Faulkner. Von Sandburg, dem Lincoln-Biographen wollen wir nicht sprechen. “ Der General war in Verlegenheit. „ Richtig, richtig “ , sagte er schnell, „ aber Steinbeck und Sandburg haben deutsche Namen. Die Deutschen werden sie für Deutsche halten. “ Also belehrt, doch nicht bekehrt, zog sich Habe zurück. Zu Ehren des Generals sei gesagt, daß er sein Auswertungsteam zum Teufel jagte. Endlich konnte Habe im Kulturteil seiner Zeitung frei schalten und walten. Die Kultur freilich ist der deutsche Seismograph, der alle Unwetter anzeigt. Habe mußte sich nur mit Erich Kästner unterhalten, um zu sehen, welche Verheerung der Nationalsozialismus angerichtet hatte. Selbst ein so bedeutender, so lebhaft interessierter Mann wie Kästner hatte es nicht vermocht, über die Mauer des deutschen Gefängnisses zu blicken. Habe erinnerte sich, daß er ihm einmal einen Aufsatz von Arthur Koestler übergeben hatte und Kästner hatte noch nie von dem berühmten Autor von Darkness at Noon gehört. Mit wenigen Ausnahmen, zu denen die Werke seines persönlichen Freundes Hermann Kesten gehörten, war ihm alles, was an Exilliteratur im letzten Jahrzehnt erschienen war, kaum vom Hörensagen bekannt. Eine andere besorgniserregende Erscheinung war der subkutane, aber dennoch schon feststellbare Widerstand gegen die Emigranten. Kästner war sich seiner Abwehrstellung gar nicht bewußt und doch war sie da. Ging es nur darum, die im Dritten Reich unterdrückten Autoren zu publizieren, stand ihnen das Feuilleton der Neuen Zeitung weit offen. Aber die ersten und übrigens falschen Nachrichten von der beabsichtigten Rückkehr der Dichter im Exil - Thomas Mann im besonderen - wurden mit deutlicher Nervosität aufgenommen. Man wollte den Verbannten lieber die Spalten der Zeitung als die Tore Deutschlands öffnen. Man liebte Kafka, aber nicht Thomas Mann. Kafka war tot. Die wenigen Autoren der sogenannten inneren Emigration wünschten jetzt - übrigens nicht unbegreiflicher Weise - die Früchte ihrer redlichen Haltung zu ernten, wünschten sie möglichst nicht mit den Heimgekehrten teilen zu müssen. Die Kluft zwischen der Emigration und dem neuen Deutschland war nicht die einzige Kluft. Im Dezember 1945 glaubte die Neue Zeitung zwei Ereignisse auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu müssen. Auf der einen Seite war es in Karlsruhe bei einer Brecht-Aufführung zu stürmischen Demonstrationen gekommen. Auf der anderen Seite waren in Augsburg, wo Kunstbegeisterte eine Ausstellung moderner Kunst gestürmt hatten, in den Straßenbahnen Frauen, die Lippenstift verwendet hatten, beinahe verprügelt worden. Habe glaubte, seiner Eigenschaft als Umerzieher nicht gerecht zu werden, wenn er nicht gegen beide Erscheinungen protestiert hätte. Er schrieb eine Glosse mit dem Titel Freiheit des Geschmacks, in der er von sich einbekannte: „ Es wäre überhitzte Aufgeregtheit, behaupten zu wollen, daß nun alle Leute, die Bert 118 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse Brecht, moderne Malerei oder geschminkte Lippen nicht mögen, böse Nazi seien. Weder Bert Brecht noch geschminkte Lippen teilen die Welt in zwei Lager, was schon daraus hervorgeht, daß der Schreiber dieser Zeilen eine ausgesprochene Aversion gegen die Dichtungen Bert Brechts empfindet, aber schön geschminkte Lippen keineswegs verachtet . . . Manche Menschen sind so sehr im Geist dem Dritten Reich verhaftet, daß sie vor jeder fraulichen Mode oder jeder künstlerischen Richtung, die ihnen mißfällt in eine Panik verfallen . . . Was ihnen nicht behagt, wollen sie mit Pfeifen abschaffen, wie es früher mit Dekreten abgeschafft wurde. Sie müssen erst lernen, daß in einer Demokratie das Schlechte durch einen natürlichen Ausscheidungsprozeß verschwindet. Ohne Dekrete, aber auch ohne Pfeifen. “ Habe betrachtete Amerikas Loyalität gegenüber den sowjetischen Verbündeten als eine Pflicht, aber eben nur als eine Pflicht. Sobald die akute Gefahr von rechts gewichen war, entdeckte er die Gefahr von links. Er wollte um jeden Preis verhindern, daß das deutsche Volk von einem Extremismus in einen anderen verfalle. Er betrachtete es auch nicht als eine seiner geringsten Aufgaben, den Unterschied zwischen der amerikanischen und der sowjetischen Besatzung zu demonstrieren. Er glaubte nicht, daß man Demokratie importieren könne, ohne sie attraktiv zu gestalten. In Washington, Paris und Bad Homburg waren von Anbeginn an ganze Gruppen angetreten, um ihm seine Arbeit zu erschweren. Politisch zeichneten sie sich dadurch aus, daß sie entweder bis zum Grade der absoluten Blindheit prodeutsch oder aber anti-deutsch waren. Sie streuten zwar unentwegt Sand in das Getriebe der Neuen Zeitung, aber Habe hatte das Glück, daß sie eines verband: Sie wußten nicht mehr vom Journalismus als er vom Seiltanzen. Die aus Amerika importierten sogenannten Experten waren entweder Gelehrte und Theoretiker wie der Sozialwissenschaftler Joseph Dunner oder Pressebeamte, die sich in irgendwelche Stiftungen geflüchtet hatten. Sie standen zeitweise unter der Führung von Oberstleutnant Shepard Stone. Das Haus in der Schellingstraße war eine Hochburg der Freiheit. In dem Trümmerfeld der deutschen Städte war es auch eine Insel. Obwohl das deutsche Leben grau war, rührte sich unter dieser grauen Oberfläche bereits das Leben und dieses Leben war nirgends so deutlich wahrzunehmen, wie in der Neuen Zeitung. Vor allem hier wurde das Antiverbrüderungsgesetz (Non-Fraternization-Law) zwischen Amerikanern und Deutschen, der unmenschliche Pestkordon, den irgendein krankes Soldatenhirn erfunden hatte, stillschweigend außer Kraft gesetzt. Es geschah nicht selten, daß hohe amerikanische Offiziere im Vorzimmer Hans Wallenbergs oder im langen Korridor vor Habes Zimmer eine Stunde lang warten mußten, da Wallenberg und Habe deutsche Gäste empfingen. Das bedeutete keineswegs, daß beide besonders prodeutsch gewesen wären. Selbstverständlich waren sie immun gegenüber früheren oder künftigen Nationalsozilisten und sie konnten sich darum auch mit den „ neuen Deutschen “ unbe- 119 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse fangen unterhalten. Ein ununterbrochener Strom von Besuchern ergoß sich in die Redaktionsräume der Neuen Zeitung. Der Kontakt mit dem deutschen Leben stimmte Habe optimistischer, als es, wie die Ereignisse später zeigten, hätte sein sollen. Die Stimmung der deutschen Besucher, besonders wenn es sich um Intellektuelle handelte, war geradezu euphorisch. Fast keiner von ihnen, obwohl das durchaus begreiflich gewesen wäre, hatte Wünsche, die mit dem schweren Leben des Tages zusammen hingen. Sie waren an Büchern interessiert, fragten auch viel nach ausländischen Büchern und Theaterstücken, berichteten von geistigen Kreisen, die sich gebildet hatten, planten Ausstellungen und luden zu Diskussionsabenden ein. Das Ergebnis der plötzlich ausgebrochenen Freiheit war eine regelrechte Explosion von geistiger Aktivität. Der große Zusammenprall mit dem Hauptquartier erfolgte erst, nachdem Hans Wallenberg aus Berlin zurückgekehrt war. Er hatte in Berlin die russischen Gräueltaten persönlich erlebt und hatte Augenzeugenberichte über das Verhalten der Russen in Schlesien und in den Sudeten gehört. Habe wußte, daß seine gesamte demokratische Besatzungspolitik auf unfruchtbaren Boden fallen müßte, wenn er sich nicht von den Russen distanzierte. Wallenberg schrieb daher einen geharnischten Kommentar über das Verhalten der Russen. Das war gegen die offizielle Besatzungspolitik. Aus dem Hauptquartier in Bad Homburg wurde ein Oberst nach München geschickt, um Habe und Wallenberg den Prozeß zu machen. Habe hat darüber berichtet, daß er dieses Gespräch nie vergessen werde, nicht nur weil es um das Schicksal der Neuen Zeitung ging, sondern weil es auch einerseits die Blindheit der westlichen Alliierten zeigte und weil es andererseits die sowjetische Legende Lügen strafte, der Westen hätte von vornherein einen Kalten Krieg gegen die Sowjetunion geplant. Das Gespräch mit dem Oberst schloß mit dessen Drohung, er werde die falsche Haltung Habes in Bad Homburg General McClure melden. Habe und Wallenberg mußten nach Bad Homburg fahren, wo ihnen befohlen wurde, jede Kritik an der Sowjetunion zu unterlassen. Habe erwies dem Rettungsversuch Deutschlands durch Professor Karl Jaspers seine Hochachtung und wies darauf hin, daß es in Hitler-Deutschland keinen anderen Widerstand gegeben hatte, als jenen, der sich in den hinterlassenen Schriften von Rudolf Borchardt, Albrecht Haushofer, Wolfgang Borchert und einigen wenigen anderen geäußert hatte. Und er schloß: „ Für den Fortbestand der deutschen Literatur hatte einzig und allein die Emigration gesorgt. “ Es gibt im Buch Im Jahre Null ein eigenes Unterkapitel über „ Die Ursprünge der Gruppe 47 “ , das zum Besten gehört, was je darüber geschrieben wurde. Habe hatte sie in ihrem ersten Anfang in amerikanischen Kriegsgefangenenlagern kennen gelernt. Habe sah, daß diese jungen deutschen Kriegsgefangenen nur einen Kampf gegen die Hitler-Ideologie führten, der akademisch war, während ihr Kampf gegen den amerikanischen Kolonialismus lebendig, wichtig und 120 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse radikal war. Es ging ihnen um Opposition um jeden Preis, sie verwechselten Freiheit mit Raubbau an der Freiheit und legten einen intellektuellen Hochmut an den Tag, dem jede Verbindung mit dem Volk fremd war. Ihre Kurzsichtigkeit erschreckte ihn. Er war so schockiert, daß er einen besorgten Brief darüber an Thomas Mann und einen ebenso besorgten Bericht an General McClure schrieb. Das letzte Kapitel des Buches trägt den Titel „ Ende einer Affäre “ und schildert Habes Abgang aus der Armee. Als ihm Oberst Anthony Powell, sein Vorgesetzter, der ihn gegen die uniformierte Bürokratie stets abgeschirmt hatte, die Mitteilung machte, daß er im Sommer 1946 seinen Abschied nehmen werde, bat auch Habe um seine Entlassung. Gemäß dem Punktesystem das für jedes halbe Jahr in Europa und für jeden Orden fünf Punkte vorsah, hatte er das Recht, seine Entlassung zu verlangen. Zum Abschied heftete man ihm am 19. März 1946 die „ Bronze Star Medal “ für seine Verdienste um den Wiederaufbau des Pressewesens in Deutschland an die Brust, eine der höchsten militärischen Orden der Vereinigten Staaten, die es gab. Ebenso sehr freute es Habe aber, daß die Informationsabteilung der Armee seinen Vorschlag, Hans Wallenberg zu seinem Nachfolger als Chefredakteur der Neuen Zeitung zu machen, ohne den geringsten Widerspruch akzeptiert hatte. Er wußte, daß sich sein „ Kind “ , die Neue Zeitung in guten Händen befand. Das Jahr Null war vorbei, aber die Neue Zeitung sollte weiter bestehen. Die Abschiedsfeier fand in der Schwabinger Villa statt, in der die meisten amerikanischen Redakteure der Neuen Zeitung wohnten. Niemand kümmerte sich um die amerikanischen Gesetze, die noch immer den Verkehr mit den Deutschen verboten. Sie waren alle gekommen - von Erich Kästner bis Werner Fink, von den deutschen Metteuren bis zu den amerikanischen Chauffeuren. Bis tief in die Morgenstunden tranken amerikanische Offiziere, deutsche Schauspielerinnen, amerikanische Professoren und deutsche Aristokraten, deutsche Druckereiarbeiter und Amerikanerinnen in Uniform teils schlechtes deutsches Bier und teils schlechten kalifornischen Wein. Habe dachte zurück: an Siege und Niederlagen, an Fehlschläge und Tiefschläge, an manchen prophetischen Moment und manchen bitteren Irrtum, an den Rausch mancher großer Momente und an politische Ernüchterung, an Unrecht, das er selbst getan und an die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war, an die Baracken im Camp Sharp, an den verschneiten Park von Luxemburg, an das Hotel Bristol in Bad Nauheim, an eine leere Wohnung in Braunschweig und an das Morgengrauen in der Schellingstraße. In seiner Abschiedsrede zitierte Habe die Zeilen, die Alfred Kerr zu seinem eigenen sechzigsten Geburtstag geschrieben hatte: 121 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse Was ist unsre Rolle, In Tiefen und Höh ’ n Der irdischen Scholle? - : Leuchtend vergehn! Im „ Faust “ scheint die volle Wahrheit zu stehn: ‚ Es sei wie es wolle, Es war doch so schön! ‘ Dreißig Jahre später, als er das Buch Im Jahre Null schrieb, blickte Habe zurück auf das „ große Abenteuer des Narrenschiffs “ , das durch das Jahr Null gesteuert war. Es fiel ihm aber nichts anderes ein: Es sei wie es wolle, Es war doch so schön. Habes Versuch als Chefredakteur der Münchner Illustrierten scheiterte an seiner Fremdheit des Geschäfts mit Illustrierten, sein Versuch als Chefredakteur des Echos der Woche scheiterte aus politischen Gründen, da frühere SS-Mitglieder, die sich gefährdet fühlten, dafür sorgten, daß die meisten Anzeigekunden, von denen das Blatt lebte, ihre Aufträge zurückzogen. Am 1. Dezember 1958 wechselte Habe mit einer Kolumne zur Bild-Zeitung Axel Springers. Die Bezahlung, die sich eine Zeitung mit dreieinhalb Millionen Lesern leisten konnte, scheint eine Hauptrolle gespielt zu haben. Er selbst war lediglich für seine eigene Kolumne verantwortlich. Als das Kesseltreiben gegen Axel Springer in anderen Blättern zunahm, schrieb Habe in der Welt einen radikalen Verteidigungsartikel, in dem er vor allem den Spiegel und Die Zeit angriff. Ein wesentlicher Teil war gegen die linksradikale „ Political Correctness “ gerichtet. Der eigentliche Herd des Ursprungs der Anti-Axel-Springer-Kampagne war in der DDR, in der auch eine „ Entmachtung des Springer Verlages “ gefordert wurde und in der Walter Ulbricht selbst im Neuen Deutschland den Springer-Konzern als „ Meinungsfabrik “ attackiert hatte. Die Beziehung zwischen Habe und Springer war so eng, daß Habe sich an Springer wandte, um ihn um seine Solidarität im Kampf gegen die Gruppe 47 und den Spiegel zu ersuchen. Bereits 1966 war Habes Roman Christoph und sein Vater erschienen. Darin geht es um einen Generationenkonflikt, wie er in Österreich kaum, in Deutschland aber schon immer eine große Rolle gespielt hatte. Hier geht es allerdings insofern um einen besonderen Generationenkonflikt, als Christophs Vater, Richard Wendelin, so sehr in nationalsozialistische Verbrechen verwickelt war, daß gegen ihn nach dem Ende des „ Dritten Reiches “ ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Der fünfzehnjährige Christoph erlebt 1945 den Sturz seines Vaters. Der Vater wird zwar freigesprochen, doch Christoph bricht bewußt alle Brücken ab und geht zunächst unter einem Decknamen nach Israel, wo er eineinhalb Jahre in einem Kibuzz arbeitete. Dort verliebte er sich unglücklich 122 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse und kehrte enttäuscht nach Deutschland zurück, wo er wieder unter einem Pseudonym als Journalist zu arbeiten begann. Sein Verleger schickte ihn nach Polen, wo er die NS-Vergangenheit führender Persönlichkeiten der Bundesrepublik ausforschen sollte, um ein Theaterstück darüber zu schreiben. Trotz eines ganzen Jahres in Polen schrieb er keine einzige Zeile. Eine Reise nach Ungarn führte zu mehr Erfolg. Er verliebt sich erfolgreich in Eva, eine Übersetzerin und entdeckte für sich das Thema des Ritualmordes. Er studierte besonders den Fall eines Ritualmordes im 19. Jahrhundert, bei dem die schuldigen Dorfbewohner alle freigesprochen wurden. Habe gestaltete die Figur Christophs zu einer Symbolfigur einer neuen Generation, welche nicht nur die Fehler der Väter erkennt, sondern die zur Bewältigung der deutschen Vergangenheit beiträgt. Noch in Budapest schrieb Christoph sein Drama „ Der große Prozeß “ , das in München uraufgeführt wurde. Der fünfzehnjährige Adam, der die Hauptrolle spielte, wurde auch für Christoph zu einem wirklichen Hoffnungsträger der neuen Generation. Der Roman wurde entgegen der Befürchtungen Habes zu einem Erfolg. Es scheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß Habe die besondere Protestbewegung der 1967/ 68 Jahre abgelehnt hat. Er „ glaubte ihr nicht “ . Ja, er fühlte Mitleid mit dieser protestierenden Jugend, deren wilde Gesten ihn an die zappelnden Bewegungen der Figuren im Marionettentheater erinnerten. Er erklärte, daß hier „ eine feige politische und geistige Opposition ihre Rechtfertigung in einem Protest “ suchte, „ von dem sie mit Sicherheit wußte, daß er nichts zu ändern vermag “ . Im Jahr 1969 folgte der Bildband über Habes „ Heimatstadt “ Wien - so wie es war. Er nannte darin die Tradition Wiens „ museal “ . Die Stadt lebe gut vom „ K. u. k.-Kitsch “ , doch könne man auch den gängigen Klischees eine gewisse Realitätsnähe nicht absprechen. Man sei aber dabei, sich von den Klischeevorstellungen zu befreien, was auch vom Bild der Bewohner als „ die angeblich gemütlichen und liebenswürdigen “ Wiener gelte. Trotzdem konnte gesagt werden, daß Habe in diesem Buch seine eigenen Erinnerungen an Wien „ mit einer zuckersüßen Glasur aus Wehmut nach der ,guten, alten Zeit ‘ überzogen hatte “ . Ebenfalls im Jahr 1969 erschien Habes Roman Das Netz, der die Ermittlungen nach dem Mörder einer Wiener Prostituierten namens Hertha Enzian in Rom schilderte. Die Polizei war zunächst hilflos, während Emilio Bossi, ein Reporter der Zeitschrift Quest´Ora, den Mörder Aurelio Morelli entdeckte. Bossi schlug dem Herausgeber der Zeitschrift, Carlo Vanetti, vor, den Mörder nicht sofort der Polizei zu übergeben, sondern ihn zunächst zu veranlassen, seine Memoiren über den Mord zu schreiben. Diese Memoiren würden mit Sicherheit als Serie abgedruckt zu einer Steigerung der Auflagenhöhe der Zeitschrift führen. Morelli hatte sich nämlich in einem Fischerdorf versteckt. Er war ein alleinstehender, wenig erfolgreicher Schriftsteller, der auch noch zwei weitere 123 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse Morde an jungen Frauen begangen hatte. Er fand sogar noch Zeit, einen vierten Mord zu begehen, ehe der ermittelnde Polizeibeamte durch Hinweise einer Kollegin der getöteten Hertha Enzian namens Christa Sonntag erfährt, wer der Mörder war. Er leitete eine Großfahndung ein, doch konnte Morelli noch bis Neapel fliehen, wo er sich selbst das Leben nahm. Zwischen den behördlichen Ermittlern, den Reportern und Verlegern, den Zeugen des Mordes, den Angehörigen des Opfers und dem Mörder selbst entsteht aus Verdächtigungen, Anschuldigungen, Komplizenschaft und Korruption ein Netz, das letztlich einen weiteren Mord auslöst. Die Tatmotive wurden allerdings erst durch die Veröffentlichung der Memoiren sichtbar. Es sind Morellis gestörtes Verhältnis zu seiner eigenen Sexualität und der große Haß des Fünfzigjährigen auf die Jugend im allgemeinen und auf junge Frauen im besonderen. Er versucht dabei in seinen Memoiren die Sexualmorde dadurch zu verharmlosen, daß er ein verlogenes Geflecht von moralischen „ Rechtfertigungen “ aufbaut, in denen er die Jugend für den allgemeinen Verfall der Sitten und die „ Verteufelung des Alters “ verantwortlich macht. Das Buch besteht aus fünf großen Abschnitten mit folgenden Überschriften: I. Der Jugendmörder, II. Der Schacher, III. Der Kompromiß, IV. Das Alibi, V. Stille Nacht. Entsprechend diesem Aufbau ist jeder der fünf Abschnitte in Unterkapitel gegliedert, die als Überschrift nur den Namen der aktuell erzählenden Figur aufweisen. Jede Figur scheint pro Abschnitt mindestens einmal als Ich-Erzähler auf, wobei die Reihenfolge variiert. Dabei ist auffallend wie viel Raum der Figur des Mörders Aurelio Morelli gewidmet wird. Das deprimierend Gemeinsame ist, daß fast alle am Tod des hübschen, jungen Mädchens verdienen wollen, einschließlich ihres eigenen Vaters. Das Ganze ist jedoch so packend erzählt, daß auch dieser Roman wie Ob tausend fallen verfilmt wurde. Nachdem der Film angelaufen war, erschien die Paperback-Ausgabe mit dem Untertitel „ Das Buch zum Film “ . Die Gesamtausgabe erreichte zwar nicht eine Auflage wie Ob tausend fallen, nämlich sechs Millionen, aber immerhin eine Auflage von achthundert Tausend Exemplaren und machte damit den Roman zum drittbesten verkauften Buch Habes. Habe hatte sich keinen großen Erfolg erwartet. An Jan Herchenröder hatte er geschrieben: „ Ich möchte doch noch einmal sehen, ob die deutsche Literatur ganz und diktatorisch von einer Minderheit beherrscht werden kann. Mag sein, daß es mein letzter Versuch ist. “ An die Kritikerin Elisabeth Castonier aber hatte er geschrieben: „ Das Netz meine ich - Mangel an Selbstkritik gehört nicht zu meinen vielen Untugenden - , ist mir wie kein anderes Buch gelungen; es ist mein wichtigstes Buch. Wichtig in manchem Sinne. Ich habe es gewagt, alle Tabus zu brechen, sozusagen in einem Aufwaschen. Die Kritik an den Massenmedien und an der Jugend noch dazu ein bißchen viel wäre es, auch wenn man weniger Gegner hätte. “ 124 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse Aber Castonier antwortete ihm: „ Auch ohne Ihre Bitte vom 19. 3. hätte ich an den Verlag geschrieben, das heißt ich schrieb bereits. Denn ich finde das Netz brillant, weil es im spannenden Rahmen Sozialkritisch-Psychologisches bringt. Es wird ein ,chronischer ‘ Bestseller werden - und wird Ihre Feinde verärgern, aus Futterneid. “ Castonier hatte richtig gesehen, daß Habe im Netz zwei seiner Lieblingsthemen aufgegriffen hatte, die Überheblichkeit der Jugend gegenüber dem Alter und die Korrumpierbarkeit der Medien. 125 Die Stunde Null. Habes Beitrag zum Aufbau der deutschen Presse HABES ISRAELREISEN Im Jahr 1970 unternahm Habe gemeinsam mit seiner Frau Licci zwei mehrere Wochen lange Reisen nach Israel. Das Ergebnis war eines seiner weitaus bedeutendsten Bücher Wie einst David. Darin beschrieb er interessante persönliche Begegnungen und auch seine Eindrücke von Landschaft, Geschichte, Wirtschaft und Politik in so packender Weise wie üblich, sodaß ein summarisches und lebendiges Bild Israels daraus entstand. Helmut Thielicke, der weltbekannte Heidelberger evangelische Theologe und Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, hat es auf den Punkt gebracht, wenn er schrieb: „ Ich habe bisher nichts gelesen, was mir Israel, so nahe gebracht hätte. “ Sowohl die Familie von Habes Vater als auch die Familie von Habes Mutter waren Juden, ließen aber auch ihr Kind bei der Geburt taufen, um ihm Schwierigkeiten zu ersparen. Man unterschied zwischen „ geborenen “ und „ getauften “ Christen. Den geborenen Christen gewährte man eine Bewährungsfrist, gleichgültig ob Katholiken oder Calvinisten wie Habe. Das änderte sich erst, als sich Ungarn aus einem „ Regnum Marianum “ in einen Satelliten Hitlers verwandelte. Man tötete 200.000 Juden, ob sie „ geborene Christen “ waren oder nicht. „ Eichmann erntete in Ungarn. “ Die meisten ungarischen Juden gingen überrascht in den Tod. „ Wie konnte man ihnen so etwas antun, da sie doch Ungarn waren. “ Es ist kein Widerspruch, daß viele ungarische Juden schon früh nach Palästina ausgewandert waren, obwohl sie die Chance hatten, Bewährungschristen zu werden - rund 200.000 Israelis, ein Achtel der Bevölkerung, stammen aus ungarischen Sprachgebieten. Nur ein Teil floh vor dem Antisemitismus. Der größere Teil entwich dem eigenen Opportunismus. Auch Theodor Herzl, der Apostel des Zionismus, stammte aus Ungarn, denn er wurde in Budapest geboren. Der Zionismus konnte Habe nicht gleich überzeugen. Man flieht nicht aus Überzeugung und Angst ist nur für den beschämend, der sie einflößt. Hatte er deshalb so lange gezögert? Fürchtete er die Enttäuschung? Er fürchtete nur die Liebe. Man trennt sich nicht leicht von Balatonboglár, dem Heimatdorf, in dem er in seiner Kindheit seine Ferien verbrachte und das immer wieder eine Stätte der Zuflucht in Gefahr geboten hatte. Als sich Habes Schiff nach Israel der Meerenge von Korinth näherte, stand er auf der Brücke neben einem Landpfarrer aus Tours. Der Pfarrer, dick und mit rosarotem Gesicht, wie aus den Contes drôlatiques, führte Pilger ins Heilige Land, vier Frauen und fünf Männer. Einer der Männer, Amateurphotograph, erkundigte sich nach den Linsen von Habes Leica. Er zeigte ihm auch den Reiseplan der Pilger. Verkündigungsbasilika in Nazareth, Gottesdienst, Krippenplatz in Bethlehem, Gottesdienst, Besuch der russisch-orthodoxen Kirche am Fuße des Ölbergs, kein Gottesdienst, Grabeskirche in Jerusalem, noch kein Plan, der See Genezareth, Kapernaum, Via Dolorosa, Gethsemane, der Berg der Bergpredigt, Gottesdienst nach Bedarf. Zwei junge Juden, Käppchen auf den Haaren, standen auf dem Turm der Kapitänsbrücke und Habe blickte zu ihnen hinauf. Die schwarzen Gewänder der Juden flatterten im Wind. Die französischen Pilger an Habes Seite trugen große Kreuze auf den Rockaufschlägen, rot, aus Wachsleinwand. Auch die Damen trugen rote Kreuze, eine war unverheiratet und hatte einen Minirock. Habe empfand die Kreuze als überflüssig. Man würde die Pilger nicht für Juden halten, sie marschierten hinter ihrem Pfarrer einher, an den Liegestühlen vorbei, wie bei einer Prozession. Christus trug das Kreuz nicht auf dem Rockaufschlag. Aber der Amateurphotograph aus Tours und Habe hatten etwas gemeinsam - Gethsemane zum Beispiel. Habes Religionslehrer im Gymnasium hieß Achberger und war jetzt Pastor in Graz. Er hatte Habe in Ascona besucht. Der Religionsunterricht hatte jedes Jahr mit dem Evangelium des Matthäus begonnen und über Johannes kam man nie hinaus. Beim Alten Testament hat die Schule gefehlt. Der israelische Botschafter in Bern hatte Habe gesagt, daß ihm in Haifa das israelische Außenministerium einen Reiseplan unterbreiten würde. Habe hatte zu seiner Frau Licci gesagt: „ Bethlehem ist sicher nicht dabei, aber wir werden es uns anschauen, auf dem schwarzen Markt . . . “ Vom Schiff schilderte Habe über verschiedene Personen, unter anderem über einen kleinen Mann mit einer Schildmütze, wie sich der Antisemit den Juden vorstellt. Er spielte unentwegt Schach mit dem neuen belgischen Botschafter in Israel, der seiner neuen Mission entgegen fuhr. Da war auch Garfinkel, Isaak Garfinkel, der zu Habes Überraschung erster Klasse reiste. Der Speisesaal war halb leer, denn das Mittelmeer benahm sich, seiner jüngsten strategischen Bedeutung bewußt, wie der Atlantische Ozean. Garfinkel war nicht seekrank. Garfinkel bediente sich vom Hors d´ œ uvre, als hätte die Speisekarte nicht fünfzig mehr Gänge anzubieten. Garfinkel hatte in Uruguay gelebt. Er war dorthin aus Lemberg geflohen. Er war Herrenschneider, doch verstand er wenig von Uniformen, sonst wäre er in Südamerika weiter gekommen. Seine Tochter, jetzt dreißig und verheiratet, und sein Sohn, jetzt vierundzwanzig, hatten Israel gewählt. Garfinkel zeigte die Photographien seiner Enkelkinder. „ Moshe sieht mir ähnlich “ , sagte er. Ebenso hätte er sagen können, daß ihm Prinz Charles von England ähnlich sieht. Aber er kannte seine Kinder eben nur von Schnappschüssen. Jetzt würde er bei ihnen bleiben. „ Du brauchst Dich um nichts zu kümmern “ , hatte ihm die Tochter geschrieben. In Neapel hatte Habe einen amerikanischen Flugzeugträger vor Ort gesehen. In Athen konnte man einen halben Tag die Stadt und die Akropolis besuchen. Der Hafen von Piräus aber war ganz grau vor englischen und amerikanischen 128 Habes Israelreisen Kriegsschiffen. Vor Rhodos ankerte das Schiff bei stürmischer See. Habe las in seinem Reiseführer: „ Gewiß haben die Götter des Olymp mit Vorbedacht Rhodos an diese Stelle gesetzt, als äußersten Vorposten der griechischen Kultur an der Einfahrt in den Orient. “ Und Habe kommentierte: „ Reiseführer beziehen ihre Informationen direkt vom Olymp. “ Die Habes gingen an Land, um sich die Stadt anzusehen. Zuerst fuhr er mit seiner Frau in einem Taxi zu dem verlassenen Franziskanerkloster des antiken Ialyssos hinauf, dann flanierten sie durch die Altstadt. Basare, Juwelenläden, echte und falsche Antiquitäten, Diners Club, byzantinische Kerzenhalter, Lederarbeiten, Corriere della Sera, Le Monde, Die Welt, meerblauer Türkis aus Persien. In der engen Hauptstraße, die vom kreisförmigen Hauptplatz aufsteigt, wurden die Rolläden herunter gelassen. Die Judenstraße. Auf Rhodos lebten über zweitausend Juden. Im Zweiten Weltkrieg kamen die Deutschen und verschleppten die Juden nach Auschwitz, auch Frauen und Kinder. Nur drei Familien kamen zurück. Für Interessierte öffnet einem eine Frau, Lucia Salam, die Synagoge. Sie berichtet: „ Seit 1943 gibt es keine Gottesdienste mehr. Wir bekommen keine zehn Männer mehr zusammen. Wir sind nur fünfunddreißig. “ Die Schiffsreise wurde fortgesetzt. Im Schiffssalon wurde Bingo gespielt. Schiffspassagiere werden Kinder. Der Baßgeiger rief die Zahlen aus, auf englisch, deutsch, italienisch. Der Pfarrer aus Tours rief: „ Bingo! “ Ein Jude nach dem anderen hatte den Salon verlassen. Sie standen draußen in der Nacht und sahen nichts anderes, als was man jede Nacht sieht, die Silberbrücke über dem Wasser. Sie blickten alle in die Richtung, in der Israel liegen mußte. Sie suchten es mit der Seele, ob es Israelis waren oder amerikanische Feriengäste oder Juden aus der Diaspora auf Verwandtenbesuch oder junge Einwanderer oder müde Wanderer. Am frühen Morgen legte das Schiff in Haifa an. Leuchtend weiße Quadersteine übereinander gehäuft. Es sind nicht die drei Stufen des Berges Karmel, es sind hunderte Steine. Die griechischen Inseln hatten bereits einen orientalischen Eindruck gemacht. Sie waren noch weiter nach Osten gefahren und waren plötzlich wieder im Westen. Columbus hat Indien gesucht und Amerika gefunden. In Habes „ Zweiter Israelischen Ode “ heißt es: Das Abendland lebt jetzt im Morgenland . . . wollt ihr gar paradoxes hören? - Die Juden fliehen nicht, sie geben euch Asyl. Israel hat 481 Zeitungen und Zeitschriften, davon 24 Tageszeitungen verschiedener politischer Schattierungen; die wichtigsten erscheinen in Tel Aviv, acht in fremden Sprachen, Jerusalem Post englisch, Jedioth Chadashoth deutsch, Új Kelet ungarisch, zwei arabische Blätter. Nur in Skandinavien werden mehr Zeitungen gelesen als in Israel. Die gesamte Auflage der israelischen Zeitungen, 129 Habes Israelreisen bei einer Bevölkerung von drei Millionen, ist größer als die der ägyptischen bei einer Bevölkerung von fast dreiunddreißig Millionen. Es war Habe nicht möglich, einen israelischen Reporter zu überraschen. Der Kulturredakteur von Haaretz, welche die israelische New York Times genannt wird, war sogar über Habes Fehde mit deutschen Literaten bestens unterrichtet. An einer Restauranttür hatte Habe zum ersten Mal die Begegnung mit einem jener Maîtres d´hôtel, die den Gast mit dem höflichen Ultimatum empfangen: „ Fleisch oder Milch? “ Obwohl der erstaunlich gute Gesundheitszustand der Israelis auch der koscheren Kost zu verdanken ist, hatte Habe Mühe, sich mit den rituellen Gesetzen anzufreunden. Er schrieb, daß ein Zivilist eher die militärischen Geheimnisse Israels kennen lernte, als daß ein Unerfahrener den koscheren Geheimcode begreifen könne und gelangte zu der Formulierung: „ Israel ist eine sozialistische Demokratie mit gastronomischer Diktatur. “ Gewiß hatte er gewußt, daß er kein Schweinefleisch erhalten könnte. Aber daß er darauf verzichten müsse, nach einem Steak-Dinner Milch in seinen Kaffee zu träufeln, war ihm neu. Wer am Sabbat eine Zigarette rauchen will, kann es jedenfalls nicht dort tun, wo er gegessen hat. Er meinte, ein jüdisch gastronomischer Baedeker sei fällig. Habe hatte dem Außenministerium geschrieben, daß er sich das Kinderheim Ahava in Kirjat Bialik ansehen wollte. Als ihm einmal ein Verleger ein zu geringes Honorar angewiesen hatte, hatte er gefordert, daß das Geld einem israelischen Kinderheim überwiesen werden sollte. Seither hatte er immer wieder Geld dorthin geschickt. Daher schickten ihm jedes Jahr zu Weihnachten die Kinder des Heims einen Olivenzweig und eine Merry-Christmas-Karte. Als er im Heim ankam, wurde er von der stellvertretenden Leiterin empfangen, da die Leiterin selbst abwesend war. Da die Stellvertreterin aus Wien stammte, gab es Apfelstrudel zum Kaffee. Das Kinderheim Mossad Ahava hat eine deutsche Tradition. Es war 1917 in Berlin für Pogrom-Kinder gegründet worden. Die Eltern waren auf der Flucht vor den Kosaken gewesen. „ Look Westward, Jew “ , hatte man den Juden gesagt. Im letzten Moment waren die Kinder evakuiert worden. Sie waren im sicheren Hafen Palästinas angekommen. Dreißig Jahre später rüttelte der Wüstenwind an den Toren von Mossad Ahava. Neue Flüchtlinge kamen, dieses Mal aus arabischen Ländern. Christus ist nur einmal auferstanden. Der Teufel steht jeden Tag auf. Hundertzwanzig Kinder, keine Waisen, aber die Eltern wollen von ihren Kindern nichts wissen. Die meisten stammten aus Marokko und Algerien. Zerrüttete Ehen, Spieler, Diebe, Prostituierte, Juden allesamt, doch anders, als man sich die Juden in Europa oder den USA vorstellte. Diese Eltern nahmen ihre Kinder aus der Schule, sobald sie lesen und schreiben konnten, prügelten sie und schickten sie betteln. Ein junges Schweizer Ehepaar hatte Habe und seine Frau herumgeführt. „ Die meisten Kinder kriegen wir hin “ , sagte die junge Schwei- 130 Habes Israelreisen zerin. „ Wir kriegen sie hin. Wir schaffen es. “ Zum ersten Mal hörte Habe den „ Refrain Israels “ . Als sie bei einer Reihe von Bäumen vorbeikamen, entdeckte Habe oben in den Ästen aus Brettern gezimmerte kleine Häuser die sich die Kinder gebaut hatten. Die junge Schweizerin erklärte: „ Im Herbst werden die Kinder unruhig. Dann bauen sie sich diese kleinen Häuser in den Ästen. Sie haben nie von Sukkot, vom jüdischen Laubhüttenfest, gehört. Darauf folgt der Tag Simchat Tora, der Tag der Gesetzesfreude. Davon hatte auch Habe nichts gewußt. Aber er schlußfolgerte gleich: Vielleicht ist das jenes Geheimnis Israels, Freude am Gesetz. Die Studenten in Berkeley lasen die Mao-Bibel. Sie sollten sich in Israel die „ Freude am Gesetz “ erklären lassen. Es geht um zeitüberdauernde, konstante, religiöse Gesetze, nicht um willkürliche, die nur schnell einer bestimmten politischen Situation angepaßt sind. Solche willkürliche Gesetze waren die britischen in der Mandatszeit. Die Engländer hatten die türkische Zitadelle geehrt und hatten sie zum Zentralgefängnis für rebellische Juden umgebaut. Jüdische Untergrundkämpfer wurden hier hingerichtet. Sterbend sangen sie, unbelehrbar, die israelische Nationalhymne, haTikwa, Hoffnung. Man soll nicht sagen, daß die Welt nicht einig ist. Araber, Türken, Griechen, Christen, Mohammedaner, kaum spricht man das Wort „ Jude “ aus, schon sind sie sich einig. „ Geschichtliche “ Ansprüche sind ein Hohn auf die Geschichte. Wo beginnen sie, wann und wer will sie datieren? Aber wenn man schon an geschichtliche Ansprüche glaubt, warum soll dann der jüdische Kalender nicht gelten? Die britische Herrschaft dreißig Jahre, die babylonische fünfzig Jahre, dazu je zwei Jahrhunderte regierten die Perser, die Hellenen, die Kreuzfahrer, die Mamelukken, je dreihundert die Römer und Byzantiner, vierhundert die Ottomanen, vierhundertsechzig Jahre die Araber, aber die Epoche des ersten jüdischen Tempels währte sechs Jahrhunderte, die des zweiten Tempels über sechs Jahrhunderte, zwölfhundert Jahre insgesamt. Habe schrieb, daß „ ein Jahr vor der Israelreise sich bei ihm in Ascona eine Stimme aus dem Hotel Europe gemeldet hatte: „ Hier Kiesler. “ „ Doch nicht Karl Kiesler? “ „ Sie erinnern sich? “ „ Ob ich mich an Dich erinnere! Ich kann noch Deine Unterschrift fälschen, habe ich sie doch oft unter Entschuldigungen gesetzt: ,Mußte wegen Zahnschmerzen dem Unterricht fernbleiben. ‘“ Karl Kiesler aus Wien, damals cand. ing. war Habes Erzieher gewesen. Das Ehepaar Kiesler existierte wirklich und sie waren die zwei Israelis, die offenbar den bewunderten Autor Hans Habe zur Reise nach Israel eingeladen hatten. Kieslers Zeit als „ Erzieher “ Habes ist wohl Romanerfindung. Habe war in seiner Jugend unter der Obhut seiner Tante in Dornbach (Wien, 17. Bezirk) aufgewachsen. Seine Frau, Hedy Kiesler, die Habe in seiner Autobiographie erwähnt, war eine berühmte Schönheit, besser bekannt unter dem Namen Hedy Lamarr, die nicht 131 Habes Israelreisen mit dem Gatten nach Israel, sondern ohne ihn nach Kalifornien ausgewandert war. Die „ behagliche Villa auf Moriah Avenue “ und auch die jüdische Köchin klingen dafür wieder ganz nach Wirklichkeit. „ Eine sanfte Hand lag über dem Land “ , schrieb Habe, denn in Israel gibt es keinen Neid und gibt es auch keine Generationsprobleme. Trotzdem war der „ Dritte Weltkrieg “ bereits längst ausgebrochen und war Israel eines seiner Schlachtfelder. Die kommunistische Welt, Moskau und Peking, bedienten sich der Guerillas, ihr Nationalismus wurde angeheizt, wie ein Ofen, der im Zimmer steht, aber von außen mit Kohlen gefüllt wird. Die Palästinenser waren Araber wie alle anderen, nicht besser, nicht schlechter, mehr Kohle im Ofen. Die politischen und militärischen Führer Algeriens, Syriens, Jordaniens, des Irak: Sie werden immer nach der Existenz Israels trachten, aber Regime kommen und gehen. „ Die Araber? “ sagte der Archäologe, „ ,Tausend und eine Nacht ‘ . Niemand spricht hier von Lügen, man spricht von Märchenbüchern. “ Ein anderer sagte: „ In einem so kleinen Land kann man nicht lügen. “ Und ein dritter: „ Wenn uns die Amerikaner überhaupt etwas geben, ist es Ersatz für verlorene Maschinen. Mit Lügen würden wir uns ins eigene Fleisch schneiden. “ Die zweite Schwiegertochter: „ Wir lügen nicht, es ist ganz einfach. “ Sie sagte „ wir “ und meinte das Volk, Regierung, Generalität. „ Dayan hat es im Rundfunk erklärt. “ Wenn es Dayan erklärt, muß es stimmen. Hier glauben junge Menschen, was Generale sagen. Habe sprach mit seiner Frau darüber, spätnachts, in ihrem Hotel. Die „ sanfte Hand “ , hatten sie auf der Stirn gespürt, weil hier noch Väter sind und Vaterland noch Vaterland ist, Familie noch Familie und Autorität noch Autorität, Moral noch Moral, weil man hier noch glaubt und hofft und kämpft ohne Haß? Oder begann Habe den Frieden zu finden im kriegerischen Land, weil seine Ahnen Juden gewesen waren? Von einem der Gäste jenes Abends erhielt Habe wenige Tage später einen Brief. Er kam vom Straßenvermesser, Doktor der Philosophie, achtundzwanzig Jahre alt, in dem stand: „ Es wäre doch nicht natürlich, wenn David, der einen Goliath besiegt hat, von einem anderen Goliath gerettet würde. Unsere Lage ist hoffnungslos wie die der Schweizer im fünfzehnten Jahrhundert, als sie von den Supermächten Österreich und Burgund, die der Holländer, als sie im sechzehnten Jahrhundert von den Supermächten England und Spanien angegriffen wurden. So hoffnungslos, nicht hoffnungsloser. Besten Dank. Sie brauchen sich um uns keine Sorgen zu machen. “ Das Land ist nicht erst biblisch geworden durch die Bibel: Gott hat sich dabei etwas gedacht, als ER es wählte, hier ist er zu Hause, Moses war kein Norweger, Christus stammte nicht aus Sydney. Die Sonnenstrahlen hinter einer Wolke. Die Sonnenstrahlen wie fünf Finger weidende Schafe und der Hirtenstab wie ein 132 Habes Israelreisen Bischofsstab. Die Vögel zwitscherten höflich miteinander, die Laute sind leise, der Bauer ging behutsam, als schonte er die Erde unter seinen Füßen, der Dunst über den Bergen färbte sich zum Regenbogen - Heiligenbilder. Aber die Maler malten, was sie sahen; Habe sah, was sie sahen, nicht, was sie malten. Gott ist in Juda bekannt, sein Name ist groß in Israel. In Salem erstand seine Hütte und seine Wohnstatt auf Zion. Gott hat keine Adreßänderung angegeben. Als Israel seine Unabhängigkeit schließlich errang, war das Land hoffnungslos unterbewässert; es gab rund 165.000 Hektar unregelmäßig bebauten Landes, heute gibt es eine Nutzfläche von beinahe einer halben Million Hektar; auf 30.000 Hektar waren die Pflanzungen bewässert, heute auf über 170.000; der Waldbestand hat sich versechsfacht, allein die Alleen der Landstraßen sind mehr als 900 Kilometer lang. An landwirtschaftlichem Wachstum pro Jahr steht Israel unter allen Staaten der Welt an erster Stelle. Zeira-Steiner aus Wien und Haifa hat es zusammengefaßt - sechzehn blockfreie Staaten fordern den bedingungslosen Rückzug Israels aus allen besetzten Gebieten. Die Judenverfolgung ist zivilisierter geworden. Bring dich selbst um, Jude, wir legen dir den Revolver auf den Tisch. Man hat dem Oberst Redl den Revolver auf den Tisch gelegt. Selbstbedienung. Heraus mit den Golanhöhen! Tiberias ist fast ganz von Juden bewohnt - trotzdem Asien. 400 v. Chr. saßen hier Juden über der Bibel, das Grab Maimonides´, das Grab des Märtyrers Rabbi Akiba, das Grab des Wundertäters Meir Baal haNes. Moscheen, Kirchen, Synagogen, in der Nähe Rosh Pinna, hier kämpften Byzantiner, Kreuzfahrer, Sarazenen, Türken, die Karawanenstraße blutgetränkt, Stützpunkt der britischen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, Militärlager im Unabhängigkeitskrieg, Artilleriestellungen im Sechstagekrieg. Die heißen Quellen sind berühmt, die tauben Dämonen heizen die Bäder für König Salomon, sie wissen nicht, daß er tot ist, sie hören nicht das Artilleriefeuer. Plötzlich hörten die Habes plätscherndes Gewehrfeuer, sodann eine Maschinengewehrsalve. Ein Autobus mit Kindern war vor ihnen angekommen. Die Kinder spielten am Jordan. Sie stiegen schön folgsam in den Autobus. Ende des Ausflugs. Damaskus 70 Kilometer in der Luftlinie. Sollten die Habes weiterfahren? Sie fuhren weiter. Ein ausgebrannter Panzer im Straßengraben, gleich darauf eine gelbgebrannte Kanone im Feld. Dort, wo der steile Pfad in den Himmel zu münden scheint, verstellt ein Armeelastwagen den Weg. Ein Soldat im Stahlhelm: „ Sie können leider nicht weiterfahren. “ Ein kleiner, rundlicher Major 133 Habes Israelreisen sprang vom Panzer; „ Eigentlich ist Herr Habe mein Landsmann. “ Der Major stammte aus Preßburg. „ Wird drüben gekämpft? “ Achselzucken. Die Habes fuhren zurück und schlugen eine Nebenstraße ein, um weiter zu kommen. An einer Straßenkreuzung ein Panzerwagen, auch hier ging es nicht weiter. Habe wollte aussteigen, als ein Offizier auf seinen Wagen zukam. Er war schlank, etwa vierzig, knochiger Intellektuellenkopf. „ Sind Sie nicht Herr Habe? Wir sind Landsleute. “ Er stellte sich vor: „ Hauptmann Boros aus Budapest. “ Natürlich waren beide Israelis. Aber wie sich die Iren in Amerika nach einem Jahrhundert noch Iren nennen, deshalb keineswegs schlechtere Amerikaner, so scheuen sich die Israelis nicht zu sagen, woher sie stammen. Niemand fürchtet sich, die israelische Identität zu verlieren. Die Habes wandten um. Der Major aus Wien und Haifa winkte vom Panzer, Hauptmann Boros aus Budapest und Tel Aviv winkte vom Straßenrand. Nicht nur die Kinder winken in Israel. Die Habes wurden im Kibuzz Ma ’ agan erwartet, am Südende des Sees Genezareth. Ma ’ agan ist ein kleiner Kibuzz mit etwa 150 Mitgliedern, das bedeutet mit den Kindern und Alten und Helfern an die 300 Menschen. Ma ’ agan ist ein armer Kibuzz, ein Bananen-Kibuzz; noch hat Israel nicht alle Mittel, Israel kann nicht mit dem westindischen Export wetteifern, fünfzehn Prozent der Ernte geht verloren. Sie waren zu viert: die Habes, der Sekretär des Kibuzz und Zeira, der Fahrer. Das Essen war nicht ganz so schlicht, wie es sonst ist, denn die ungarische Köchin hatte Habes Frau in Budapest kennen gelernt. Es war ein ungarisches Essen, Krautwickel, Paprikahuhn. So hatte man einst im Nobelrestaurant Gundel in Budapest gegessen und so aß man jetzt, in der kommunistischen Zeit, bei Gundel in Budapest nicht mehr. Auch die flinke, kleine Frau, welche Habe und seine Frau bediente, war Ungarin. Sie hatte das Konzentrationslager überlebt. In Nazareth war Habe und seiner Frau ein Führer zur Verfügung gestellt worden. Er hieß Antoine Shahim und war ein christlicher Araber. Er wollte den Habes gleich die ganze Stadt zeigen und führte sie darum in seinem Wagen zum Salesianer Kloster auf den grünen, bewaldeten Hügel hinauf, von wo man ganz Nazareth sehen kann. Zurzeit Christi war Nazareth eine jüdische Stadt. Irgendwo muß eine Synagoge stehen, doch ist sie schwer zu entdecken. Es gibt vier Moscheen, von denen die größte neben der Verkündigungskirche steht. Die Moscheen in Nazareth sind nicht die einzigen, die im Staat Israel gebaut wurden. Im zentralen Teil des Landes hat es bis 1948 kein einziges Minarett gegeben, jetzt gibt es deren zehn. Rund eine halbe Million israelische Pfund hat die Regierung für sie gespendet. Vor der israelischen Staatsgründung lebte die Geistlichkeit des Islam vom Grundbesitz der mohammedanischen Kirche und von Spenden. Jetzt wird sie vom Staat bezahlt. Über 200 Diener Mohammeds, die, in mehr als 90 Moscheen Allah preisen, erhalten jährlich Gehälter von 200.000 Pfund 134 Habes Israelreisen vom Ministerium für religiöse Angelegenheiten. Die vier islamischen Gerichtshöfe werden ebenso vom israelischen Staat erhalten. Ungehindert pilgern die israelischen Muslime nach Mekka und Medina. Aber die al-Salam Moschee von Nazareth wartet vergeblich auf die Pilger aus arabischen Ländern. Die ägyptische und die syrische Regierung erlauben ihren Staatsangehörigen nicht, die israelische Grenze zu überschreiten und die Jordanier werden von ihrer Regierung einer strengen Kontrolle unterzogen. „ Terroristen haben es leichter “ , kommentierte Habe. Der dem Islam innewohnende Fanatismus hat den Charakter der Araber geprägt und ist für Israel lebensgefährlich, doch ist die Wurzel des Glaubens von der Baumkrone der Gewalt weit entfernt. Wenn sich heute alle Araber taufen ließen, so blieben sie nicht weniger fanatisch. Neben George Habbasch, dem Führer der radikalen palästinensischen Terrororganisation, gehören viele arabische Terroristen christlichen Kirchen an. Die arabischen Führer spielen auf dem Instrument althergebrachter, also unkontrollierter Begriffe, wenn sie behaupten, sie könnten keine Antisemiten sein, da sie selbst Semiten sind: Was man gedankenlos Antisemitismus nennt, richtet sich nicht gegen die Semiten. Dennoch kann man in den Beteuerungen der arabischen Elite ein Körnchen Wahrheit entdecken. Zwar hassen sie alle Juden, auch Nicht-Zionisten, auch Juden in der Diaspora, aber es ist der Haß gegen ein Volk, nicht gegen eine Rasse oder eine Religion. Wem es, mit Heine zu sprechen, „ just passieret “ , dem ist es egal, aber so kurzsichtig ist kein Israeli, daß er nicht zwischen dem Völkerkrieg von Kairo und dem Religionskrieg von Oberammergau zu unterscheiden vermöchte. Den intellektuellen Juden ist es klar, daß Rabbi Jesus kein Abtrünniger war. „ Er war ein Jude in Wort und Tat “ , schreibt Abba Eban. Aber für die Mehrheit der Israelis ist Jesus der verlorene Sohn, der sich vom Hause des Vaters immer mehr entfernt hat. Er kehrt nie wieder. Das Symbol des ans Kreuz geschlagenen Christus ist für den Juden doppelt, wenn nicht gar dreifach schmerzlich: Ein Jude wurde gekreuzigt, doch wurde das Kreuz auch allen blutigen „ Kreuzzügen “ vorangetragen. Herzl hat in seinem Buch Der Judenstaat geschrieben: „ Unser heutiger Antisemitismus darf nicht mit dem religiösen Judenhaß früherer Zeiten verwechselt werden. “ So ist auch in seinem Buch Der Judenstaat von Religion kaum die Rede. Und doch beruht der Judenstaat auf den Fundamenten der jüdischen Religion. Das ist seine Stärke, aber auch seine Schwäche. Wenn antijüdische Ressentiments nicht zu antichristlichen Ressentiments geführt hätten, wären die Juden nicht menschlich. Umso erstaunlicher ist die schier rigorose Duldsamkeit des jüdischen Staates gegenüber der christlichen Minderheit. Vor dem, Sechstagekrieg gab es 56.000 Christen in Israel: Die Zahl hat sich fast verdoppelt. Etwa 52.000 sind Katholiken, davon 24.000 römisch-katholisch. 30 Orden und Kongregationen, 2.500 Priester und Mönche sowie 600 Nonnen wirken im Heiligen Land. Es gibt über 210 Kirchen und Kapellen, neue werden gebaut. 135 Habes Israelreisen Christliche Kirchen verwalten 54 Volksschulen und Mittelschulen mit 10.000 Schülern. Christliche Zeitschriften erscheinen in verschiedenen Sprachen. Kol Israel, der israelische Rundfunk, überträgt christliche Gottesdienste und sendet religiöse Programme. Israel ist ein religiöses Land, vermutlich das letzte der Erde, ein Land, das sich des Glaubens nicht schämt und das Heil nicht verachtet, das Exil des emigrierten Gottes. Wollt ihr gar ein Paradoxon hören? Gott ist in die eigene Heimat verbannt, Gott ist in Juda bekannt. Nazareth kann auch der „ Frank Sinatra Histadrut Club “ mitten in der Stadt nichts anhaben. „ Die Club-Bibliothek ist für die Angehörigen aller Religionen offen. “ Daß die Kommunisten 1970 Nazareth zu ihrer Zielscheibe wählten, ist kein Zufall. Die jungen Schriftsteller der „ New Left “ trommelten im Dezember zum Angriff. Sie hofften nicht zuletzt auf die Araber. Da es sich um Nazareth handelte, bedienten sich die Linksradikalen urchristlicher Argumente. Vielleicht dachten sich die jungen Revolutionäre: Was von Nazareth ausgeht, erobert Israel, erobert, wer weiß, die Welt. Trotz einer der violentesten Wahlkampagnen für das Bürgermeisteramt, unterlagen die Kommunisten. Ihr dreißigjähriger Kandidat, der Schriftsteller Tufia Sajjad, blieb auf der Strecke. Über dem Heimatdorf liegt eine milde Hand. Der Prior der Franziskaner, die den Dom betreuen, ist Franzose. Die Habes hatten Glück, denn ihr Führer kannte ihn und hatte mit ihm telefoniert. Dadurch führte sie der Prior selbst durch den Dom der Verkündigung, wo darunter die Wohnung Josephs und Marias liegt, die als Schutz für das Kinderzimmer Jesu diente. Die Verkündigungskirche ist ein Asyl und eine Festung, doch eine Festung nur, weil es fester Mauern bedarf, um das Zärtliche zu schützen. Von außen eine Burgmauer, Öffnungen wie Schießscharten, doch die Grotte der Verkündigung hat sich von der Kirche befreit, nicht zu Ehren der Kirche ist sie da, die Kirche zu ihrer Ehre. Eine junge Hand hat sich schützend über das Alte gelegt. Die Wohnung der Heiligen Familie ist isoliert. Man betrachtet sie von oben. Der Führer der Habes, Antoine Shahim, hatte sie in sein Haus eingeladen, was für einen Araber sehr ungewöhnlich war. Es gab Kaffee und süßes Backwerk und sie lernten die Frau und den kleinen Sohn kennen. Die nächste Station war der Kibuzz Ayelet HaShahar. Es war bereits dunkel, als sie eintrafen. Es sah aus wie ein großes, amerikanisches Motel mit überfülltem Parkplatz, Souvenirshop und Neonlicht. Aber der Eindruck täuschte. Das war nicht der Kibuzz, sondern das Gästehaus des Kibuzz mit schlichten, aber hübschen Zimmern. 136 Habes Israelreisen Ayelet HaShahar war 1915 von russischen Einwanderern gegründet worden. Es liegt nördlich vom See Genezareth, unmittelbar an der syrischen Grenze, nicht weit vom Libanon, sowohl im Bereich der „ langröhrigen Kanonen “ wie der Katjuschas. Das Gerippe des syrischen Flugzeugs, das 1948 über dem Kibuzz abgeschossen wurde, ist noch auf dem Feld hinter den Wirtschaftsgebäuden zu sehen. Die Gerippe der Kibuzzniks, die dem syrischen Angriff zum Opfer fielen, modern in der Erde. Dov Eshkol, mit dessen Namen der Kibuzz verbunden ist und der das Gästehaus gebaut hat, ist eine legendäre Figur. Wenn der schmale Mann im Farmerhemd, der wie ein Meister im Fliegengewicht aussieht, nicht gerade auf dem Feld arbeitet, mit Gästen diskutiert, Zimmerschlüssel aushändigt, Versammlungen leitet und Honig verkauft, führt er Krieg. Oberst Eshkol hat auch am Sechstagekrieg teilgenommen. Eshkol machte das Ehepaar Habe mit einem Ehepaar bekannt. Sie aßen zusammen auf der „ Milchseite “ des Restaurants. Neben wenigen Restaurants und Privathäusern ißt man in Israel am besten im Kibuzz. Die Erzeugnisse des Kibuzz sind fast nicht zu verderben. Die Tomaten sind faustgroß, die Gurken sind saftig, die Milch ist dickflüssig und Israels Erzeugung von Zitrusfrüchten ist weltberühmt. Auch das Obst ist ungewöhnlich schmackhaft. Das Ehepaar mit dem die Habes speisten, lebte seit über 30 Jahren im Kibuzz. Die rotblonde Frau mit den feinen, müden Zügen stammte aus Berlin, der Mann mit dem vierschrötigen, unbeweglichen Arbeiterkopf aus Mönchengladbach. Früher haben sie beide das Feld bestellt. Jetzt hatte sie einen Posten in der Verwaltung und er reparierte Traktoren. „ Ich arbeite frühmorgens und am Abend, wenn die Hitze nachläßt “ , sagte er. „ Keine festgesetzten Arbeitsstunden? “ „ Die Arbeit muß getan werden. Wann ist egal. “ Nicht nur die freiwillige Mitgliedschaft unterscheidet den Kibuzz von der Kolchose. Im Gesellschaftsraum des Gästehauses wurde ein Film über den Kibuzz vorgeführt. Im Film wurde berichtet, daß 94.000 Israelis in 235 Kibuzzim leben. Das sind 23 Prozent der Landarbeiter, die 30 Prozent der landwirtschaftlichen Erzeugnisse des Landes produzieren. Nicht nur die Kibuzzniks, auch die Kibuzzim besitzen kein Land. 92 Prozent des Bodens gehören dem Staat, der ein bestimmtes Gebiet für 49 Jahre an den Kibuzz vermietet. Der Kibuzz verwendet den Profit, den er macht, zum Ausbau des Kibuzz. Der Wert der gesamten landwirtschaftlichen Erzeugung Israels beträgt etwa 580 Millionen Dollar im Jahr. Mit diesem Resultat kann sich relativ gerechnet kein Land der Erde messen. Fast 90 Prozent der Wasserreserven des Landes sind genutzt, bei weitem die höchste Rate in der Welt. Viele Kibuzzim haben Industrien entwickelt, von Konserven bis Motorroller. Rund sechs Prozent der Industrieproduktion Israels wird im Kibuzz erzeugt. Der Kibuzz exportiert in die USA und die Bundesrepublik Deutschland. 137 Habes Israelreisen Nach der Filmvorführung hatten sich andere Kibuzzniks zu Habe und seiner Frau gesellt. Sie saßen in der Halle des Gästehauses und sprachen vom Erfolg des Kibuzz und vom Mißerfolg der Kolchose. „ Die Mitgliedschaft ist freiwillig “ , erklärte ein Kibuzznik. Das hatten sie schon gehört. Es erklärte nicht alles. Sie lebten in einer intelligenten Welt. Der Bauernjunge wird Rechtsanwalt - aber daß der Rechtsanwalt Bauer wurde, das wurde nur in Israel versucht. Ein junger Kibuzznik, Doktor der Nationalökonomie, sagte lächelnd: „ Mit Intelligenz lassen sich Kartoffeln besser aus der Erde buddeln - es ist nicht logisch, es ist wahr. “ Habes Kommandeur im Zweiten Weltkrieg, General Omar N. Bradley, pflegte zu sagen: „ Ich schicke keine Patrouille ohne einen Offizier hinaus - größere Verantwortung, bessere Leistung. “ Habe beobachtete einmal in Ungarn Kolchosbauern, die Ziegel für einen Bau ablieferten. Sie warfen sie vom Wagen, die Hälfte zerbrach. Sie erfüllten ihr zeitliches Soll, zum Teufel mit den Ziegeln! Der Kibuzz ist eine Offiziersgesellschaft, kein Triumph des Sozialismus, sondern der Aristokratie. Das sagte niemand so, aber einer der Kibuzzniks bemerkte: „ Die Zahl der Kibuzzniks in Regierung und Diplomatie, in der Knesset und unter hohen Offizieren ist drei Mal so groß, wie es der Zahl der Kibuzz-Mitglieder entspricht. “ Moshe Dayan, der siegreiche General im Sechstagekrieg wurde im Kibuzz Degania geboren. Der junge Nationalökonom meinte nachdenklich: „ Die Kolchose ist ein Resultat der kommunistischen Gesellschaft, die israelische Gesellschaft ist ein Resultat des Kibuzz. “ Und mehr: Es ist schwer zu übersetzen, was Chaim Weizmann in einem amerikanischen Interview geäußert hat: „ The Kibuzz is Israel - only more so. “ Habe beobachtete gerade einen Hippie, der sich über die Bartheke des Gästehauses lehnte. Er verlangte einen Drink. Er bekam einen Orangensaft. Im Kibuzz gibt es keine Jugendkriminalität, kein Sexverbrechen, kein Rauschgift - Agatha Christie wäre der Titel „ Mord im Kibuzz “ nicht zu empfehlen. Es gibt keinen. Kibuzzniks erhalten keinen Lohn - für Nahrung, Kleidung, Wohnung sorgt die „ Gruppe “ . Man ißt gemeinsam im Speisesaal, kein einzelner besitzt mehr als ein Zimmer, kein Ehepaar mehr als zwei. Nach der Vorführung des Films hatte Habe eine Engländerin, die den Film erläuterte, nach den Privilegien der Vorstandsmitglieder gefragt. „ Sie dürfen mehr arbeiten “ , hatte sie gesagt. Als eine der besten Oberschulen Israels gilt die eines jungen Kibuzz im Hula- Tal. Nach der Arbeit verbringen die Eltern fast jede freie Stunde mit ihren Kindern, vermutlich mehr Zeit als arbeitende Eltern irgendwo in der Welt auch in Israel ihren Kindern widmen. 138 Habes Israelreisen Die Zelte der ersten Kibuzzniks standen im Sumpfland des Jordantals. Heute ist Israel ein Industriestaat, der jährlich Waren im Werte von weit über vier Milliarden Dollar erzeugt. Die industrielle Erzeugung Israels ist seit der Unabhängigkeit des Landes auf das Fünffache gestiegen und wächst jährlich um mehr als ein Zehntel. Es gab 1948 rund 89.000 Industriearbeiter, jetzt gibt es 260.000. In einem modernen Staat wirkt die Lebensform des Kibuzz anachronistisch. Die Siedler von Degania waren Pioniere. Die Kibuzzniks von 1970 sind Mönche. In einer neuen Form der landwirtschaftlichen Siedlung ist jetzt dem Kibuzz eine überwältigende Konkurrenz entstanden - in den Moschawim. In den letzten 20 Jahren ist die Zahl der Moschaw-Siedlungen verschiedener Art von 91 Dörfern auf 400 gestiegen. Sie haben mehr Mitglieder als die Kibuzzim, etwa 140.000. Moshe Dayans Vater gehörte zu den Gründern des ersten Moschaw - vielleicht ein Symbol. In diesen Kooperativen, die nicht Kooperativen im üblichen Sinn, sondern geschlossene Dörfer von 120 bis 150 Familien sind, gemeinsam und doch unabhängig verwaltet, wird jedem Mitglied von Anbeginn ein Stück Land zugeteilt. Die Produktionsmittel bleiben praktisch, die Häuser aber nur theoretisch Eigentum der Gemeinschaft. Das Haus ist die dauernde Wohnstätte des Siedlers, Möbel und Hausrat gehören ihm allein. Die Mitglieder der Moschawim bestimmen selber, welchen Anteil des Gewinns sie für die gemeinsamen Dienstleistungen bezahlen wollen, 70 Prozent oder auch nur 40 Prozent. Seit der Gründung des ersten Moschaw ist die Zahl der Moschawim um 350 Prozent gestiegen. Freiheit und Privatbesitz sind kongruente Größen. Ein israelischer Soziologe, der übrigens der Arbeiterpartei angehörte, sagte zu Habe: „ Wo vollständige Freiheit herrscht, wie in Israel, da mag sich die Entwicklung zum Kapitalismus langsam vollziehen. In diesem Jahrhundert wird Israel ein demokratisch sozialistischer, das heißt ein volkssozialistischer Staat bleiben, aber der Fortschritt in Richtung Kapitalismus ist in der freien Gesellschaft nicht aufzuhalten. “ In Eilath traf Habe einen ehemaligen Kibuzznik, der jetzt in einem blühenden Moschaw lebt. Der zweiunddreißigjährige Mann war in einem Kibuzz geboren. Er hatte eine englische Jüdin geheiratet, mit der er vier Kinder hatte, alle rothaarig wie er. „ Ich habe meine Frau kennen gelernt, als sie in den Kibuzz kam “ , sagte er. „ Sie war achtzehn, so wie ich. Unsere Arbeit war sehr verschieden, wir aßen zu verschiedenen Zeiten, und wenn wir zufällig gleichzeitig in den Speisesaal kamen, konnten wir niemals nebeneinander Platz finden. Privatbesitz im Moschaw? Nein, es kommt auf das Privatleben an. “ Das Privatleben unterscheidet den Moschaw vom Kibuzz. Die gemeinsame Küche ist eine nützliche Idee. Der gemeinsame Speisesaal ist unbarmherzig. 139 Habes Israelreisen In den Moschawim arbeiten die Frauen nur so viele Stunden, als es ihr Haushalt erlaubt. Der Tagesraum für die Kinder ist eine Notwendigkeit, aber die Mutter will nachts das nächtliche Weinen ihres Kindes hören. Wenige Kilometer südlich von Ayelet HaShahar führte der Weg auf den Berg der Seligpreisungen hinauf, wo Jesus von Nazareth die berühmte Bergpredigt gehalten hat. Dort befinden sich das Kloster und die Kirche der Seligpreisungen, die von italienischen Franziskanerinnen betreut werden und deren Kirche bis heute von zahlreichen Touristen besucht wird. Die Wiesen fallen ab zum See Genezareth, der auch See von Tiberias genannt und an dessen Nordufer sich Kapernaum befindet, das als Wohn- und Wirkungsgebiet Jesu eine große Rolle gespielt hat. 140 Habes Israelreisen BESUCH IN JERUSALEM Als Jerusalem 1967 wieder vereinigt wurde, da folgten den Fallschirmjägern die Archäologen der Universität von Jerusalem und der Israel Exploration Society auf dem Fuß. Wozu erobern, wenn man nicht gräbt? Es gibt auf dem ganzen Rund der Erde keinen naiveren Menschen als den israelischen Archäologen. Er steigt mit dem Öllämpchen der Kultur in die Höhlen Judäas hinab, während oben längst Millionen unter den Fackeln der Anti-Kultur-Revolution marschieren. Er blättert im Steinbruch der Geschichte, wie seine Vorfahren im Talmud blätterten, während seine Feinde in den Zeichnungen der Atomkanonen blättern. Er findet im Sand der Wüste die Gerechtigkeit, die der Wind des Hasses längst verweht hat. Er glaubt an Beweise in Stein und Bronze, in Ton und Erz, in Pergament und Eselshaut, und ahnt nicht, daß im Prozeß gegen die Juden Beweise nicht zulässig sind. Die Schuld der Kirche am Antisemitismus zu leugnen, der katholischen wie der protestantischen, hieße die Geschichte leugnen. Aber daß der Antisemit den Juden haßte, weil er immer noch die „ jüdischen Mörder “ Christi haßte, mag bis zum Ende des Mittelalters wahr gewesen sein. Aber es ist es nicht mehr so. Antisemitismus ist die Rechtfertigung lang begangener Verbrechen. Die christliche Welt hat nicht die semitischen Araber, sondern die semitischen Juden verfolgt. Sie hat nicht den Semiten, sondern den Juden gegenüber ein schlechtes Gewissen. Was bei den arabischen Führern bewußte politische Heuchelei ist, das ist bei der linken Jugend des Westens zum großen Teil gutwillige Ahnungslosigkeit. Für sie, so sagt sie, sei der Antisemitismus „ kein Problem “ , ihr Antizionismus habe andere und die allerredlichsten Motive. Der Antisemitismus ist für die „ linke Jugend “ Westeuropas „ kein Problem “ , weil Hitler dieses Problem „ endgültig “ gelöst hat. Nur eben nicht so endgültig, daß er die Entstehung des Staates Israel verhindern hätte können. Und so hat sich denn auch, mit den überlebenden Juden und ihren Kindern, die Adresse des Antisemitismus geändert. Die junge Generation - ein unbewußter Prozeß - hat den westeuropäischen Juden gegenüber kein schlechtes Gewissen. Ein schlechtes Gewissen zu haben, den Judenmord zu verdammen oder zu rechtfertigen, überläßt sie den Vätern und Großvätern. Sie glaubt „ kein Problem zu haben “ und weiß nicht, daß ihr Problem nur ausgewandert ist. Israel hat die Juden gelehrt, auf die Liebe der Nichtjuden zu verzichten. Habe begann die Juden zum ersten Mal zu verstehen, als er in seinem Roman Die Mission den jüdischen Professor von Benda sagen ließ: „ Immer wenn die Juden ihrer eigenen Sache sich annehmen, hatte es in Anklage, Verurteilung und Verfolgung geendet. Schlichen sie sich an der Wand lang, waren sie feig, traten sie aus dem Schatten, waren sie unverschämt; knauserten sie mit ihren Mitteln, waren sie geizig, gingen sie mit dem Geld großzügig um, trumpften sie auf; strebten sie vorwärts, waren sie vom Ehrgeiz zerfressen, gaben sie sich bescheiden, fehlte es ihnen an Mut; kämpften sie, geschah es, um Ehren einzuheimsen, kämpften sie nicht, waren sie ehrlos. “ Mit stolzer Resignation hat sich Israel von dem Popularitäts-Wettbewerb abgemeldet, in dem das jüdische Volk seit 2.000 Jahren keinen Preis erringen konnte. Die nichtjüdischen Freunde Israels, die den militärischen Sieg des kleinen Landes bewunderten, verurteilten jetzt das „ militärische “ Israel. Ohne diese, ihrer unmilitärischen Art wegen übrigens hoch gepriesenen Militarisierung von 1967, wäre Israel im Juni 1967 vernichtet worden. Dem großen Friedensfreund Ben Gurion wird das Wort zugeschrieben: „ Wir leben von Wundern. Aber wir sollten uns darauf nicht verlassen. “ Bei Samuel heißt es: „ ,Der Herr der Heerscharen ist Gott über Israel ‘ und das Haus deines Knechtes David wird vor dir Bestand haben. “ Am 16. Mai 1967 hatte Präsident Nasser zu den ägyptischen Gewerkschaften gesagt: „ Ich habe immer gewußt, daß wir in der Lage sein werden, den Abzug der UN-Beistandstruppen zu fordern, sobald wir unsere Vorbereitungen abgeschlossen haben. Genau das ist nun geschehen. Der Krieg wird jetzt unbegrenzt sein, und unser Ziel ist die Vernichtung Israels. “ Wie in jedem Krieg, wechselt nicht nur das Glück, es wechselt auch die Popularität der Gegner. Seit 1914 werden die Kriege immer häufiger im Namen einer Ideologie geführt. Der Zweite Weltkrieg war ideologischer als der Erste, der Dritte ist ideologischer als der Zweite. Die Kurve der sinkenden Popularität Israels verläuft parallel mit der steigenden Popularität des Kommunismus im Westen. Israel ist kein faschistisches, es ist nicht einmal ein kapitalistisches Land. Es ist im Gegenteil das einzige Land der Welt, in dem das Experiment des demokratischen Sozialismus gelungen ist und damit der Beweis für den von Moskau und Peking geleugneten Unterschied zwischen Sozialismus und Anführungszeichen-Sozialismus erbracht wurde - und dies nicht etwa wie in Schweden mit Hilfe einer bestimmten Regierung, sondern auf der Grundlage eines verbürgten Regierungssystems. Es ist ein Land ohne „ Korruption von oben “ wie es Thomas Macaulay nannte, ohne Unterdrückung und Ausbeutung, ohne Klassen- und Kastenherrschaft. Es ist ein Land ohne Hunger und Elend, in dem die Palästinenser jenes sozialen Fortschritts teilhaftig werden können, der ihnen in arabischen Ländern, nicht zuletzt in Jordanien, vorenthalten wird. Es ist ein Land ohne das Kainszeichen der Vergangenheit. Hier wurden keine unschuldigen Bürger gemordet wie in Deutschland, hier gab es keine Verräter wie in Frankreich, hier wüteten keine McCarthys wie in Amerika, hier gab es nichts, das an den deutsch-sowjetischen Pakt von 1939 gemahnte. Dagegen ist kein 142 Besuch in Jerusalem dialektisches Kraut gewachsen. Ohne das jüdische Schicksal wäre Israel nicht der fortschrittliche Musterstaat des Nahen Ostens, aber wer Israel deshalb beneidet, müßte die Juden um ihre 6 Millionen Toten beneiden. Die Freiheit der Intellektuellen ist in Israel unbegrenzt - und das Volk verehrt seine Heerführer; die Mitbestimmung der Studenten ist so alt, wie es die hohen Schulen sind, und die Studenten beugen sich dem Wissen ihrer Lehrer; das Durchschnittsalter der Professoren beträgt 36 Jahre - und an der Klagemauer räumen Soldaten alten Männern im Kaftan ihren Platz ein; keine Religionsgemeinschaft wird unterdrückt und die eigene Orthodoxie wird geachtet; man tanzt am Samstagabend am Dizengoff-Platz - und die Synagogen sind voll. Schulmeisterliche Eltern werden als Rarität angesehen. Israel ist von allen Seiten bedroht und man ist in den dunkelsten Straßen Tel Avivs sicherer als bei Tag auf New Yorks Fifth Avenue. Es gibt kein Gesetz gegen Pornographie und es werden, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, weniger als vier Prozent so viele pornographische Druckerzeugnisse verkauft wie in den USA. Weniger als zwei Prozent so viele wie in Dänemark; mit rund 700.000 Mitgliedern umfaßt die Gewerkschaft Histadrut rund 80 Prozent der Wahlbürger - und sie wählen zwölf verschiedene Parteien ins Parlament. Deshalb ist Israel für die kommunistische Welt, wie sich Präsident Anwar as-Sadat von Ägypten ausdrückte, „ unerträglich “ . Deshalb fordert der beamtete Sendbote des Ostens in der Weltorganisation des Friedens den Rückzug Israels auf unhaltbare Positionen. In Ungarn wurde nach dem Sechstagekrieg die Geschichte vom Minister und seinem Chauffeur erzählt. Fünf Tage lang ärgerte der Chauffeur seinen volksdemokratischen Herrn mit israelischen Siegesmeldungen. So viele Meilen seien die Israelis wieder vorgestürmt, so viele Flugzeuge hätten sie vernichtet, so viele Schlüsselstellungen erobert. Der Minister schwieg. Am nächsten Tag, just an dem Tag, an dem der Krieg entschieden war, schwieg der Chauffeur. Neugierig geworden klopfte ihm der Minister auf die Schulter: „ Was - heute keine Siegesmeldungen? “ Betroffen wandte der Chauffeur sich um: „ Genosse Minister, haben Sie gewußt, daß diese Israelis Juden sind? “ Während in Moskau Schauprozesse gegen die Juden inszeniert und Todesurteile gefällt werden, nur weil die Mehrheit der russischen Juden auswandern will, marschiert das gaullistische Frankreich an der Spitze der westlichen Gegner Israels. Außenminister Lopez Bravo von Spanien bekundet seine Solidarität mit den Arabern, und linksradikale Studenten des deutschen SDS demonstrieren gegen die israelischen Botschafter Ben Nathan und Ben Chorin. Im Mai 1969 enthält sich die reaktionäre Union des démocrates pour la République jeder Äußerung gegen die „ antijüdische Massenhysterie “ - so die Neue Zürcher Zeitung - , die Orléans gerade ergriffen hatte. Der Anwalt der rebellierenden Studenten in Berlin, Horst Mahler, flieht nach einem Bombenanschlag, in die Arme der palästinensischen Guerillas. 143 Besuch in Jerusalem Wo sie einen Goliath finden können, da schlagen sich die Intellektuellen, von Stockholm bis Bombay und von Quebec bis Rio de Janeiro auf die Seite Davids, zuweilen aus Redlichkeit, zuweilen emotionell naiv, ohne Prüfung von Recht und Unrecht wie im Fall Biafra, oft voll blinden Ressentiments gegen das „ Establishment “ , wie im Fall der lateinamerikanischen Menschenräuber. Der „ David- Look “ ist unter allen Umständen große Mode - es sei denn, daß es sich um den israelischen David handelt. Er ist Jude. In der Frage des Antisemitismus haben die Israelis eine Niederlage erlitten, die sie sich nicht eingestehen. Die Gründer des Zionismus, wie alle Revolutionäre, haben sich in manchem geirrt, aber ihr größter Irrtum war die Hoffnung, mit der Gründung des Staates Israel würde der Antisemitismus verblassen, zu einem Skelett abmagern, endlich verschwinden. Es gibt in Herzls Buch Der Judenstaat keine tragischeren Sätze, als diese: „ Man wird in den Tempeln beten für das Gelingen des Werkes. Aber in den Kirchen auch! Es ist die Lösung eines alten Druckes, unter dem alle litten. “ Der Antisemitismus gleicht dem Verwandlungskünstler Leopoldo Fregoli, der an einem einzigen Varietéabend in zwei Dutzend verschiedenen Masken zu erscheinen vermochte. Einmal richtete sich der Antisemitismus gegen die Ostjuden, ein anderes Mal „ nur “ gegen „ die assimilierten “ Juden, ein drittes Mal nur gegen die jüdischen Hausierer, ein viertes Mal „ nur “ gegen die Rothschilds, ein fünftes Mal „ nur “ gegen den jüdischen „ Linksdrall “ , ein sechstes Mal „ nur “ gegen den jüdischen „ Konservatismus “ . Jetzt, da sechs Millionen Juden ermordet wurden, richtet er sich nur gegen den „ Judenstaat “ . Eine Freundin, die Botschaftsrätin in Wien gewesen war, hatte Habe und seiner Frau geraten, Yad Vashem, zu sehen. Es liegt am Fuße des Berges der Erinnerung. Vorerst sahen sie nur ein Bürogebäude. Der Mann, welcher sie in seinem Arbeitszimmer empfing, war Katriel Katz, Vorsitzender des Direktoriums von Yad Vashem. Er war ehemaliger Generalkonsul Israels in New York gewesen und zuletzt Botschafter in Moskau, vor Abbruch der Beziehungen. Habe stellte politische Fragen: „ Sind die Sowjets überzeugt, daß im Fall eines Krieges die USA eingreifen würden? “ „ Als ich aus Moskau abreiste, waren die Russen sicher, daß ein neuer arabischer Angriff mit sowjetischer Hilfe die Amerikaner auf den Plan rufen würde. “ „ Fürchten sie die Konfrontation? “ „ Wir wollen sie möglichst vermeiden. “ „ Haben Sie Hoffnung für die Juden in der Sowjetunion? “ „ Der Antisemitismus hat im ganzen Ostblock die Form des Antizionismus angenommen. Nicht nur in Russland, wo der Antisemitismus das Zarenreich überlebt hat. Unter dem Vorwand des Antizionismus gibt es in einem Staat des Ostblocks einen regelrechten ,Arier-Paragraphen ‘ . Der Ministerpräsident der DDR tritt für eine Liquidation Israels ein. “ 144 Besuch in Jerusalem Verhaltener Zorn liegt über Yad Vashem, in die Würde des Todes mischt sich hier trotzige Ungeduld: Man betrauert die Ermordeten und man grüßt den Widerstand. Nirgends in Israel ist man so ergriffen wie hier. Das Haus der Erinnerung: ein trotziger Felsblock, das glatte, gigantische Viereck ruht auf Steinen, als hätten sie jüdische Sklaven in der ägyptischen Gefangenschaft aus der Erde geschlagen oder in der deutschen. Das Haus der Erinnerung liegt auf einem milden Hügel, in einem Olivenhain, die Blumen leuchten, es ist Frühling um das Haus der Erinnerung. Unten alte arabische Dörfer und neue Siedlungen. Ein kleiner Wald. Ein seltsamer Wald, alles hier ist seltsam, seltsam der Name des schmalen Weges im seltsamen Wald: Avenue der gerechten Christen. Unter jedem Baum eine Tafel, nicht die Art der Bäume nennen die Tafeln, Cupressus sempervirens oder Pinus sylvestris, die Bäume haben Namen von Menschen, von gerechten Christen: Monsignore Pierre-Marie Théas aus Frankreich und Ochrym Sieroczuk aus der sowjetischen Ukraine. Für 540 von ihnen hat Israel Bäume gepflanzt. Mehr Bäume werden gepflanzt werden. Die Prüfungskommission arbeitet noch immer. Habe erhielt eine schwarze Kippa und trat aus der grellen Sonne in die Dunkelheit, in die Halle der Erinnerung, Ohel Yizkor. Das Auge gewöhnt sich, von oben fällt ein schüchternes Licht in das steinerne Zelt, in einer Ecke brennt die Ewige Flamme. Man sieht den Marmorboden von oben, es ist, als hätte ihn keines Menschen Fuß betreten. Der Marmorboden ist endlos, irgendwo muß er enden; er verliert sich in der finsteren Endlosigkeit, wie die Leiden der Juden. Kein einziger Gegenstand, kein rituelles Gerät, Symbole besagen nichts. Nur Namen auf dem Marmorboden, es sind nicht Menschennamen, Namen der Unmenschlichkeit sind es, Dachau und Treblinka, Auschwitz und Babyn Jar, Mauthausen und Bergen-Belsen. Über zwanzig Namen und vier Millionen, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Eingelassen in den Boden sind die Mordstätten. Katriel Katz gab den Habes später ein Dokument, auf dem das Wort des Baal Shem Tov, des großen jüdischen Mystikers stand: „ Vergessen führt zum Exil, und Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung. “ Die Toten von Auschwitz sind die Verwandten der Israelis, die Toten des Ghettos von Warschau sind ihre Brüder. Im Tagebuch eines der Gettokämpfer in Warschau, Ludwik Landau, finden sich die Worte: „ Wir haben hier einen neuen Krieg eröffnet, den jüdisch-deutschen Krieg. Juden haben die dritte Front eröffnet, die sich den Fronten in Russland und in Nord-Afrika anschließt. “ Am 25. April 1968, am 25. Jahrestag der Revolte, sagte ein Abgeordneter in der Knesset: „ Denn sie waren es, die jungen Männer und Frauen der zionistischen Jugendbewegung, die Geschichte machten. Sie - nicht ihre deutschen Feinde. Sie - nicht die Polen, von denen sie gehaßt wurden und die sich mit den Unterdrückern der Revolte verbündeten. Sie - nicht die gleichgültige Welt, die sich blind stellte, als der Feind aufstand, um das jüdische Volk zu zerstören. Sie - 145 Besuch in Jerusalem nicht die offizielle Führung der jüdischen Gemeinden in der Diaspora. “ Der Abgeordnete, der das sagte, war Gideon Hausner, der Ankläger im Eichmann- Prozeß. Und so ist Yad Vashem, das die Rede Hausners veröffentlichte, der sonderbarste Friedhof der Welt, eine Grabstätte, wo kein Sarg versenkt wird und wo die Totengräber nach den Wurzeln graben. So dachten die Habes bis zu ihrer letzten Station. Ein Tor tat sich auf. Die Architektur von Yad Vashem ist von mächtiger Schönheit, aber wenn man zurückdenkt, sieht man nur dieses Doppeltor. Schwarze Steine ineinander verkeilt, dazwischen schmale, rechteckige Öffnungen; daß sich das Tor öffnet - man kann es kaum verstehen, ein Kerkertor. Der Raum, dahinter ein schwarzer Würfel, schwarz der Steinboden, schwarz die Decke und schwarz sind die Wände, doch ist das nicht so sicher, daß es hier Wände gibt; man sieht die Mauern nicht, denn in den schwarzen Regalen bis zur Decke reichend stehen schwarze Briefordner, nur sie sind schwarz, Briefablage, alphabetisch, Post unerledigter Geschäfte. Das hier ist keine Briefablage. Jedes Blatt Papier spricht von einem Toten. In kleinen Buchstaben, oben auf dem Papier: „ Für die Registration für die Opfer des Unheils. “ Name, Vorname, Name des Vaters, Name der Mutter, Geburtsdatum, Wohnort vor dem Krieg, Wohnort im Krieg - keine Frage nach dem Wohnort nach dem Krieg - Name der Ehefrau, Name des Ehemannes, Kinder unter achtzehn, Umstände des Todes. Und weil an dieser strengen Stätte nur jene Toten Anrecht auf ein Blättchen Papier haben, für die ein Lebender Zeugenschaft ablegen kann, sind es bisher nur 1,5 Millionen, deren Namen bezeichnet sind - nur 1,5 Millionen. Der Verwalter von Yad Vashem, der das Ehepaar Habe begleitete, putzte sich die Nase. Er war nicht erkältet. Habe weiß nicht, wie viele Hunderte er schon durch Yad Vashem geführt hatte, aber er benutzte sein Taschentuch nicht, weil er erkältet war. Draußen, am großen Gefängnistor, stand ein Tisch. Er öffnete die Schublade, fragte zögernd: „ Wollen Sie das? “ Er hielt ein Formular in der Hand. „ Ich, der Unterzeichnete, . . . wohnhaft in . . ., Verwandtschaftsgrad . . . erkläre, daß es diese Zeugenschaft meines besten Wissens . . . “ Habe dachte an die schöne Schwester seiner Mutter, geborene Aranka Marton, sie war die jüngste, verheiratet mit einem Christen, einem ungarischen Nationalspieler, Ferencz Egyházy; er dachte an die große, hagere Schwester seiner Mutter, geborene Adele Marton, sie pflegte Kuchen für ihn zu backen; er dachte an die sieben Schwestern seiner Mutter, es waren acht Töchter. Licci dachte an ihren Schwager, Ernö Klein, geboren in Preßburg, ermordet in Dachau. „ Wir möchten mehrere Formulare mitnehmen “ , sagte Habe zu dem Verwalter. „ Wir haben genug “ , sagte er. Man kann sie brauchen. Die Bürger Israels kennen keinen Lokalpatriotismus, weil ein bestimmter Lokalpatriotismus alle anderen verdrängt. Die Florentiner und Neapolitaner 146 Besuch in Jerusalem beugen sich nicht unbedingt der Superiorität Roms. Marseille und Nizza blicken nicht hypnotisiert nach Paris, sogar die New Yorker sagen: „ New York is not America. “ Aber kein Bewohner Haifas, kein Bewohner Tel Avivs liebt seine Stadt so sehr, daß er nicht seufzte: „ Jerusalem - das ist etwas anderes. “ Jerusalem, das ist Israel. Aus Gold und Silber ist die Stadt, über der jetzt das Licht des Nachmittags verfließt; man hat es erwartet und ist betroffen, denn Gold und Silber sind nicht massiv, es ist nicht Gold und Silber eines Altars, eines Kirchenfensters. Die Hand Gottes liegt über Rom, doch sieht man auch seinen Arm, der sich aus dem Himmel streckt, und seine Finger reichen über die Stadt hinaus, über das Festland und die Meere, über die fünf Erdteile. Die Hand Gottes ruht nicht schützend über Jerusalem, Gott ist unter Jerusalem begraben. Aus der Erde Jerusalems streckt sich die Hand Gottes empor, die Hand des begrabenen Gottes, sie ragt aus der Erde, um mit fünf Fingern, die sich zu einem Pokal formen, das wenige zu wahren, das ewig ist. Die arme, kleine Hand Gottes umfaßt nicht viel, den letzten Besitz des begrabenen Gottes. Zum Schutz des Grabes, aus dem die lebendige Hand ragt, sind Mauern errichtet. Gott ist schutzbedürftig. Die Tore in der Mauer sind nicht Stadtpforten, eher Schießscharten einer Burg. Damaskustor und Jaffator und Herodestor und Löwentor und Zionstor; über allen könnte das umgekehrte Dante-Wort stehen: Beim Eintritt hier laßt alle Hoffnungslosigkeit fahren. Das alte und das neue Jerusalem. Unter den Fenstern der Habes der Swimmingpool des King David Hotels. Jenseits des Hotelgartens breite Straßen. Ein paar hundert Meter von Habe und seiner Frau entfernt stand die Mauer, die Jerusalem in zwei Teile zerbrach. Am 29. Juni 1967 brach die Mauer, sie fiel um wie eine Spielkarte. Die Photographie die diesen Moment festhielt, ist berühmt geworden wie jenes Bild von der japanischen Pazifikinsel Iwojima, als die amerikanische Flagge über der Insel wehte. In einem alten Fremdenführer von Habe, nämlich drei Jahre alt, heißt es vom Davidsturm: Photographierverbot wegen der Nähe der Demarkationslinie. Das Hotel von Habe hätte vor dem Sechstagekrieg aus Ostjerusalem von einem Artillerie-Bombardement in einer Stunde zerstört werden können. Ein solches Feuer fiel über Jerusalem am 5. Juni 1967. Das Feuer fiel über Wohnhäuser und Synagogen, Schulhäuser und Märkte, Krankenhäuser und Museen. Zwei Tage später, am 7. Juni 1967, am 28. Iijar 5.727 jüdischer Zeitrechnung, meldete Fallschirmjägeroberst Mordechai Gur, auch Motta genannt, geboren in Jerusalem, 1948 am Gazastreifen verwundet, 1956 in Sharm el Sheikh abgesprungen, noch nicht vierzig Jahre alt: „ Har haBait bejadenu - wir sind am Ölberg angelangt. “ Jerusalem war heimgekehrt. Am ältesten ist die Geschichte Jerusalems. Über tausend Jahre, bevor es 70 n. Chr. von den Legionen Roms erobert wurde, war es die Hauptstadt des israelitischen Reiches gewesen. Im Jahr 132 n. Chr. haben die Rebellen von 147 Besuch in Jerusalem Simon bar Kochba die Stadt kurz eingenommen; es folgten die römische Herrschaft, die byzantinische Herrschaft und wieder die jüdische Herrschaft, von 638 - 1099 spricht man von der muselmanischen Periode, aber die Araber regierten von Bagdad und Ramla und Damaskus; die Türken kamen, die Tartaren, Mamelucken und die Kreuzfahrer; die Alliierten bezwangen es 1917 mit Hilfe der jüdischen Legion; ein Jahr später legte Dr. Chaim Weizmann den Grundstein zu Jerusalems hebräischer Universität. Jerusalem wurde siebzehn Mal zerstört und ist siebzehn Mal auferstanden: Symbol des Judentums. Im Psalm 137: 5 steht: Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechte vergessen. In Jerusalem ist König David begraben, in Jerusalem steht die Klagemauer, an der die Juden die Zerstörung des Tempels durch König Titus beklagten, auf dem Berg Moriah war Abraham bereit, seinen Sohn zu opfern, und es heißt im Psalm 137: 6: Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wo ich dein nicht gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein. Historisches Recht? Und warum dann nicht das der Moslems? Es mag wohl wahr sein, was die Israelis sagen, daß Jerusalem nie die Hauptstadt der arabischen Welt war, daß es nur eine der drei heiligen Stätten des Islams ist, im Schatten von Mekka und Medina, aber hier sind die Fußspuren Mohammeds, wie an die Auferstehung Christi die Christen glauben, so glauben die Moslems, daß von dem Felsen, auf dem jetzt die Felsen-Moschee steht, die Omar-Moschee, Mohammed zum Himmel stieg. Jerusalem ist eine unteilbare jüdische Stadt, weil die überwiegende Mehrzahl ihrer Bewohner - der ganzen Stadt, es gibt keine halben Städte - Juden sind, und weil Juden in zwanzig Jahren den westlichen Teil der Stadt, der ihnen zugesprochen, aufgebaut haben zu einer Stätte des Wissens und der Kunst und der Heilung und des Fortschritts - das Hadassah Hospital, die Hebrew University, das Israel-Museum, die Knesset, das Kongreßzentrum Binyanei Hauma, den Biblischen Zoo und das Artists House - während der östliche Teil der Stadt hindöste in Schmutz und Elend. Jerusalem ist schließlich eine jüdische Stadt, weil man nicht ewig in der Heuchelei verharren kann, daß der Ausgang des Krieges gleichgültig ist; die Israelis haben den Sechstagekrieg nicht heraufbeschworen - „ Meine Söhne . . . mit der Hilfe Gottes werden wir uns treffen in Tel Aviv und Haifa “ , meinte Abd as-Salam Arif, der Präsident von Irak. Die Israelis haben den Krieg gewonnen, und man kann von ihnen nicht verlangen, „ originell “ zu sein und die Beute herauszugeben, so wie Jean-Baptist Alphonse Karr anläßlich der Debatte über die Todesstrafe meinte: „ Je veux bien alors, que messieurs les assassins commencent! “ Jerusalem - ein religiöses Problem also? Ein religiöses Problem, ohne Zweifel, doch eben religiös ist es unlösbar. Wie viele Geschichtsbücher, Pandekten, heilige Schriften man aber auch herbeischleppen mag: Keine der drei großen Religionen wird beweisen können, daß eine ihrer heiligen Stätten „ heiliger “ ist als die andere. Christus wurde hier gekreuzigt, David liegt hier begraben, Mohammed ritt von 148 Besuch in Jerusalem hier zum Himmel. Die heiligen Stätten der Juden sind nicht heiliger als die der anderen. Das Bild, das Habe am meisten rührte, war der oberste Seelsorger der israelischen Armee, Oberrabbiner General Shlomo Goren, ein alter Mann mit einem wallenden, weißen Bart, dessen kleine Militärmütze über der hohen Stirn verrutscht ist, mitten in den Kämpfen herbei geeilt ist und das Horn der Juden in der Hand, den Schofar blasend. Auch der Pilger, der durch die Via Dolorosa schreitet, ist nicht minder gerührt, und nicht minder gerührt ist der alte Araber, den Habe aus der Ferne bei der Fußwaschung vor der Omar-Moschee beobachtete. Habe selbst ist von den Bildern so tief ergriffen, nicht weil die Juden an ihrer Klagemauer stehen, sondern weil seit der Teilung der Stadt kein Jude diese Mauer berühren durfte, weil er es aber jetzt darf. Ende Mai 1948 meldete der Kommandeur der gegen die Juden eingesetzten jordanischen Streitkräfte Abdullah at-Tall: „ Nur vier Tage nach unserem Einmarsch in Jerusalem wurde das jüdische Viertel ein jüdischer Friedhof. “ Aus den Synagogen wurden Pferdeställe, in Synagogen verrichteten arabische Soldaten ihre Notdurft, die Bücher der Kabbala und tausendjährige Schriften wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt und die Mauern wurden abgerissen. Die Habes hatten jetzt, 1970, den jüdischen Friedhof auf dem Ölberg gesehen. Tausende umgeworfene Steine, von 50.000 Gräbern nur 12.000 noch halbwegs erhalten, mitten im jüdischen Friedhof eine Moschee, Grabsteine als Stufen, darauf tritt man, die Gräber aufgewühlt, ganze Reihen von Gräbern als Laufgräben der Latrinen verwendet, ein Grab als Benzinstation, Grabsteine zum Häuserbau abtransportiert, das Haus eines jordanischen Offiziers ganz aus Grabsteinen, über Gräbern ein Parkplatz - den Grabstein der Dichterin Else Lasker-Schüler hat man gefunden, ihr Grab nicht mehr. Von den fünfunddreißig jüdischen Gotteshäusern im alten Teil Jerusalems wurden bei der jordanischen Besetzung im Jahr 1948 vierunddreißig dem Erdboden gleich gemacht. Ein Geleitzug mit jüdischen Ärzten und Krankenschwestern wurde am 13. April 1948 überfallen. Siebenundsiebzig Arzte und Schwestern wurden getötet. Der Sunday-Telegraph-Kriegsberichterstatter Royce Jones berichtete von der Furcht christlicher Araber, die ihm sagten: „ Nach dem Samstag kommt der Sonntag - unser Sprichwort heißt, daß nachdem die Juden geschlachtet worden sind, die Reihe an die Christen kommt. “ Wenige Tage nach Beendigung der Feindseligkeiten empfing Levi Eshkol die Repräsentanten der Christen und Moslems. Der Zugang zu den heiligen Stätten, die in der Altstadt für Juden von 1948 - 1967 gesperrt waren, wurde für Pilger aller Religionen frei gegeben. Dreihundert beschädigte Häuser von Mohammedanern wurden mit Hilfe der Regierung aufgebaut. Für die Wiederherstellung von christlichen Stätten, welche die jordanische Armee beschädigt hatte, setzte Israel sogleich 200.000 Pfund aus. Die ersten christlichen Würdenträger, die der israelischen Regierung nach dem Sechstagekrieg ihre Anerkennung aussprachen, 149 Besuch in Jerusalem waren der spätere Patriarch der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche, Theophilos, der Griechisch-Orthodoxe Patriarch von Jerusalem, Benedictos, der Patriarch von Konstantinopel der Armenischen-Apostolischen Kirche, Shenork Kaloustian, sowie der katholische Bischof José Gonçalves da Costa von Brasilien. Am rührendsten aber war das Zeugnis der Nonnen des Hospizes von Saint-Vincent-de-Paul von Jerusalem., die in einem spontanen Brief an die Londoner Catholic Herald gegen die arabische Gräuelpropaganda protestierten: „ Krieg ist Krieg, und die Juden führten ihren Krieg mit dem einzigen Ziel, ihre Existenz zu bewahren, indem sie zugleich jedes Menschenleben, das sie nur konnten, retteten. “ Offenbar gibt es von der Kriegsregel, daß sich Soldaten an Nonnen vergehen, wenigstens eine Ausnahme. Die Frage ist also nicht, wer Jerusalem besitzt, sondern wer Jerusalem behütet. Vergangenheit und Gegenwart haben die Frage beantwortet. Der Islam hat sein religiöses Recht auf Jerusalem nicht verscherzt, denn Mohammed wußte nicht, was in seinem Namen geschehen würde. Das Christentum hat sein religiöses Recht auf Jerusalem nicht verscherzt, denn Christus wußte nicht, was in seinem Namen geschehen würde. Aber der jüdische Friedhof auf dem Ölberg wurde zerstört, und kein islamischer Friedhof in Israel wurde zerstört. Aber jüdische Friedhöfe in Los Angeles und in Köln und Arras wurden zerstört, und kein christlicher Friedhof in Israel wurde zerstört. Es gibt einen alten Spruch in Jerusalem, so alt, daß niemand mehr weiß, woher er stammt: „ Zehn Maß von Schönheit kamen in die Welt; Jerusalem bekam davon neun Maß, die übrige Welt eins. Zehn Maß von Leid kam in die Welt; Jerusalem bekam davon neun, die übrige Welt eins. “ Und weil auch die Juden von zehn Maß Leid neun bekamen, sind ihnen die Stätten des Glaubens, ist ihnen Jerusalem anvertraut. Vor der Tür des Nebenzimmers saß ein Polizist. Er grüßte, als die Habes vorbeikamen. In seinem graublauem Hemd, mit den Fallschirmjägerstiefeln, Pistole auf der Hüfte, mit den kurzen blonden Haaren, der Schrankkofferfigur, unter der sein Lehnstuhl verschwand, sah er wie ein Texas Ranger aus. In der Nacht, als die Habes heimkehrten, saß ein anderer da. Am Morgen wieder ein anderer. Alle sahen wie Texas Rangers aus, oder wie Sheriffs in den Wild-West- Filmen. Alle grüßten. Und alle waren merkwürdig. Die Habes sagten nur Schalom, Schalom, aber sie lernten ein Stück Israel kennen. Neben jedem der Polizisten, die sich ablösten, lag eine Vielzahl von Büchern und Zeitschriften. Einer las Agnon. „ Ein Agnon-Verehrer “ , sagte das Stubenmädchen. Ein anderer las Atlantic Monthly. Sie blicken aus ihrer Lektüre nur auf, wenn die Habes vorbeikamen. Sie bewachten Angie E. Brooks, die Außenministerin von Liberia, Präsidentin der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Die Habes begegneten ihr überall, in der Knesset, bei Empfängen, in der Hotelhalle, auf den Straßen. Eine riesige Negerin wie aus Gone with the Wind, mit einem kleinen Engels- 150 Besuch in Jerusalem gesicht unter dem Turban. Sie grüßte jeden, noch ehe man grüßen konnte. Sie hätte Grippe, hatte man gesagt, sie werde im Hadassah Hospital gepflegt. Sie war im Hadassah Hospital gewesen, aber sie hatte keine Grippe. Mit einem schweren Augenleiden war sie nach Israel gekommen. Wahrscheinlich wiederholten die Ärzte im Hadassah Hospital den israelischen Refrain: „ Wir werden es schaffen. “ Ihr Sohn begleitete sie. Die Habes sahen ihn in der Hotelhalle, das Juden- Käppchen auf dem schwarzen Kopf. Er grüßte nach rechts, er grüßte nach links, Schalom, Schalom. Es war ganz überflüssig, Angie Brooks zu bewachen. Die Habes hörten von den Polizisten im King David Hotel, daß die Ärzte es geschafft hatten. Deshalb grüßte sie alle, noch ehe man sie grüßen konnte. Ihr Sohn wußte, was zu erfahren auch in einem Gefechtsstand am Suezkanal nicht leicht wäre, daß Rechtsanwälte bessere Landarbeiter sind. Und Agnon-Leser sind bessere Soldaten, natürlich nur, wenn sie wie Texas Rangers aussehen. Im Übrigen hat Chagall zwölf Fenster im Hadassah Hospital gemalt. Die Habes lernten auch Jerusalem bei Nacht kennen. Botschafter Arie Aroch, Direktor der kulturellen und wissenschaftlichen Abteilung des Außenministeriums hatte sie zum Abendessen gebeten. Sie nahmen den Aperitif in seiner Wohnung. Aroch gehört zu den bedeutendsten Malern Israels. Er wollte sich bald zurückziehen und nur noch der Malerei widmen. Mit Politikern, die Maler sind, hat man es leichter. Seine hübsche, lebendige Frau sprach ein halbes Dutzend Sprachen. Sie aßen in einem ausgezeichneten Restaurant, Chez Simon. Die Arochs hatten auch einen der erfolgreichsten jungen Dichter eingeladen. Hava Bitan. Die mit von der Partie waren, hatte Habe gewarnt, daß der Dichter sehr weit links stünde. Nach dem Abendessen fuhren sie nach Ostjerusalem. Der junge Dichter wollte ihnen den Weg der Fallschirmjäger im Sechstagekrieg zeigen. Bei Tag ähnelte das äußere Bild Jerusalems Tiberias oder Nazareth oder den Städten und Dörfern in den besetzten Gebieten. Schon bei der Ankunft in Haifa hatten die Habes empfunden - erste Eindrücke sind oft die richtigsten - : Israel ist der Okzident im Orient. Das alte Ostjerusalem bei Tag: Arabermarkt unter den Arkaden, Hammelkeulen hingen an Fleischerhaken, hunderte Säcke mit den Gewürzen des Orients, ein Mann im Burnus bahnte seinem Esel einen Weg, islamische Reliquien, Fußwaschung vor der Omar-Moschee, ein Mohammedaner lag auf dem Boden, Kaffeeservice aus Messing, ein kleines Mädchen führte einen blinden Araber, Araber feilschten mit Arabern, mit den Reisenden feilschen sie nicht, erwachter Stolz, jemenitische Stickereien flatterten im Wind, Briefmarken wurden verkauft, jordanische Männer mit dem Bild Husseins, ein Araber jagte bettelnde Kinder davon. Jenseits der Mauer, im Westen: Wolkenkratzer, die Hebrew University, die Knesset, das Hadassah Hospital. Hier verkrustet Schmutz, dort wirbelt der Staub der Baustellen, dort schreitet die Zeit, hier steht sie still, alles zum Greifen nahe, der Orient war hier in den Okzident 151 Besuch in Jerusalem gezwängt, jenseits des Okzidents liegt wieder der Orient, die Zeit ist eine tickende Zeitbombe. Nirgends in den besetzten Gebieten hatte Habe in so viele haßerfüllte Augen geblickt wie in den Straßen Ostjerusalems. Sogar der Händler, bei dem die Habes ein Kleid für Licci kauften, maß sie voll Haß. Habe hatte im Zweiten Weltkrieg ein halbes Jahr unter Arabern gelebt; er kannte ihre geschäftstüchtige Servilität. Wer lange unterdrückt war, ist tüchtig. Hier ist davon nichts zu spüren. Je größer die Niederlage, je größer der Stolz. Sieger achten manchmal die Besiegten, die Besiegten verachten immer die Sieger. Über Völkerhaß lassen sich Brücken bauen; die Brücken über Religionshaß sind morsch. Die scheintote Stadt Ostjerusalem wartete auf den Morgen, auf das Scheinleben. Am 7. Juni 1966 lautete der Befehl der jordanischen Streitkräfte an die Imam Ali ibn Abi Talib-Brigade von Jerusalem: „ Es ist die Ansicht des Hauptquartiers Westfront, einen Angriff gegen die Motza-Siedlung zu richten, sie zu zerstören und alle Bewohner zu töten. “ Es war ein Jahr vor dem Sechstagekrieg. Am 23. November 1967 hat Abdel Nasser über Radio Kairo verkündet: Der Krieg ist nicht beendet, er hat erst begonnen . . . Wenn die Zeit kommt, werden wir zuschlagen. “ Das ist erst vier Jahre her. Das schlafende Jerusalem wartet auf seine Zeit. Hinter den herabgelassenen Rolläden wachte nur die Angst, Angst vor den Siegern, Angst vor Terroristen, die könnten sich einschleichen, sinnlose Heldentaten verlangen, Angst vor Freunden, Angst vor Verrätern. Man wartete nicht auf Jassir Arafat oder George Habasch, man wartete auf Allah. Frieden? Frieden ist die Gewöhnung an die Niederlage. Es könnte sein, daß sich die Araber Jerusalems an die Niederlage gewöhnen; jedenfalls gibt es keinen anderen Weg zum Frieden. Außenminister Abba Eban empfing Habe und dessen Frau in seinem Haus. Es gehörte ihm nicht, es war die Residenz des Außenministers, Golda Meir bewohnte es vor ihm. Für den Botschafter eines Entwicklungslandes wäre es zu bescheiden. Ein schlichtes Bürgerhaus mit einem kleinen Garten. Allerdings besitzen die Botschafter von Entwicklungsländern nicht so viele schöne alte Bücher. Habe kannte Abba Eban nur von Photographien, von der Wochenschau, aus dem Fernsehen. Er ist nicht photogen, in Wirklichkeit halb so beleibt wie auf den Bildern, halb so alt. Er ist fünfundfünfzig, sieht jünger aus. Suzanne Eban ist blond, schlank, ein klassisches Profil mit einer kleinen Nase: Man denkt an Fürstin Gracia Patricia von Monaco, geborene Grace Kelly. Der in Südafrika geborene Minister sprach französisch, persisch, türkisch, arabische Dialekte, ein wenig deutsch. Habe einigte sich mit ihm auf Englisch. Er wollte Professor in Cambridge werden. Stattdessen wurde er Oberst des britischen Intelligence Service. Er bildete jüdische Freiwillige für Palästina aus, für das besetzte Europa; zehn Jahre vertrat er Israel in Amerika, seit 1966 ist er Außenminister. 152 Besuch in Jerusalem Habe und seine Frau Licci, geübte Emigranten, hatten Freunde, von denen sie sagten: Mit denen könnte man emigrieren. Abba Eban ist ein Kompagnon für schlechtes Wetter. Die Weltpresse liebte es, Abba Eban als „ Taube “ zu bezeichnen. Das kommt wohl daher, daß man andere israelische Staatsmänner als „ Falken “ abstempelt. Im Israel weiß man, daß die Ausdrücke in propagandistischer Absicht gebraucht werden. Die amerikanischen „ Falken “ wollen immer weiter fliegen, zum Beispiel nach China. Die weißen Tauben Amerikas treten für einen bedingungslosen Abzug der amerikanischen Truppen ein, die grauen für „ Vietnamisierung “ des Krieges. In Israel kann es die einen so wenig geben wie die anderen. Der totale Abzug der amerikanischen Truppen aus Vietnam würde für die Sicherheit, würde gar für die Existenz Amerikas keine Gefahr bedeuten. Amerika müßte nicht auf die Früchte eines mit großen Opfern errungenen Sieges verzichten, da es zwar Opfer gebracht, aber bis jetzt keinen Sieg errungen hat. Ein Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967 wäre ein Selbstmord und ein Mordversuch am Weltfrieden. Die „ weißen Falken “ , Israels Mehrheit, suchten das direkte Gespräch mit den Arabern. Es ist nicht, weil Israel die Araber demütigen möchte; sie sind viel zu viel gedemütigt. Es ist auch nicht, weil Israel sich der Illusion hingibt, Verträge mit den Arabern würden seine Existenz garantieren. Die Nachfolger Stalins haben aus den Fehlern der Amerikaner gelernt, die im Zweiten Weltkrieg, des Churchill-Planes nicht achtend, Europas „ weichen Unterleib “ , die Mittelmeerländer, unterschätzten. Die Israelis drängten auf den Dialog mit den Arabern vornehmlich aus einem Grund, den sie nicht aussprechen können, ohne die Araber noch mehr zu verletzen. Sie wollen den Arabern helfen, wenn auch nicht uneigennützig. Sie hoffen, israelische Hilfe könnte gegen arabische Friedfertigkeit eingetauscht werden. Die Sowjets lehren die Araber mit Raketen umzugehen. Kein Volk ist beleidigt, wenn man es lehrt, mit Raketen umzugehen. Die Israelis würden die Araber lehren, wie man die Wüste bewässert, und das ist ziemlich beleidigend. Im jordanischen Bürgerkrieg im Herbst 1970 sandte Israel 35 Lastwagen mit weit über 200 Tonnen Mehl, Zucker, Öl und Milchkonserven über die Allenby- Brücke in das hungernde Land. Daß es israelische Lebensmittel waren, hatte das Internationale Rote Kreuz nur nebenbei erwähnt. Die Zahl der Studenten in Israel ist von 1948 bis 1971 von 1.790 auf über 35.000 gestiegen. Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen hat sich verzehnfacht. Israels Atomreaktor in Nachal Sorek bedient sich Methoden, die kleinen Ländern sonst verschlossen sind. Israel besitzt achtzig große Computeranlagen, die gesamte arabische Welt vierzig. Es war nicht schwer zu überprüfen, was Abba Eban Habe gesagt hatte: Das kleine Land gewährte sein technisches Know-how 50 Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika. Jährlich kommen 1.500 Lernbegierige aus den Entwicklungsländern nach Israel. Das Volksein- 153 Besuch in Jerusalem kommen in Israel wird im Nahen Osten, nicht ausgenommen auch die Türkei, nur von Kuwait übertroffen - es beträgt pro Kopf etwa 1.500 Dollar und damit neun Mal so viel wie in Jordanien. Das einzige Land des Nahen Ostens, das den Nahen Osten vor Elend oder Kolonisation, oder vor beidem, zu bewahren vermag, ist Israel. Entwicklungshilfe während man sich selbst entwickelt, und Entwicklung unter den Augen derer, denen man hilft. David nach seinem Sieg über Goliath als Entwicklungshelfer für den König von Gat, was als eine „ jüdische Frechheit “ empfunden wird. Wie bei den Israelis fand Habe mehr Zuversicht bei Abba Eban, als er sich solche selbst abzuringen vermochte. Abba Eban war vor kurzem aus den USA zurückgekommen und schilderte ein Gespräch mit Präsident Nixon. Das Gespräch hatte auf derselben Terrasse des Weißen Hauses stattgefunden, wo General Eisenhower im Herbst 1956 ihn angefahren hatte: „ Wann wollen Sie Ihre Truppen zurückziehen - Dienstag oder Mittwoch? “ Der Ton hatte sich geändert. Auf Habes direkte Frage, ob die Sowjets wissen. daß die USA eine Vernichtung Israels nicht dulden würden, antwortete Eban mit einem klaren „ Ja “ . „ Aber es wird sich hoffentlich als überflüssig erweisen. “ Obwohl jeder große Krieg scheinbar wegen einer Nation begann, der Erste Weltkrieg scheinbar wegen Serbien, der Zweite Weltkrieg scheinbar wegen Polen, fürchten die Israelis nichts so sehr wie einen Weltenbrand, der, sei es auch nur scheinbar, ihrethalben beginnen könnte. Abba Eban sagte auch noch: „ Hätten wir den Sechstagekrieg verloren - die Intellektuellen hätten sich zweifellos auf unsere Seite gestellt. Mitleid mit den Juden ist eine Tradition, von der man sich schwer trennt. “ Abba Eban wandte sich ab, der offenen Gartentür zu; es war, als suchte sein Blick die zehn Millionen Juden, die den Weg nach Israel nicht gefunden hatten. Bisher hatte er immer gelächelt, jetzt wurde er ernst. „ Ein Problem? “ sagte er. „ Es gibt kein Problem. Nicht mehr. Vor dem Sechstagekrieg - vielleicht. Wir konnten nie ohne die Juden in der Diaspora existieren, aber wir wußten nicht, daß die Diaspora ohne uns ebenso wenig existieren kann. Die Juden der Diaspora haben immer ihre Hände nach uns ausgestreckt. Im Sechstagekrieg haben sie mit uns geweint. “ Die Armen der Stadt sollen die Tempelmauer in Liebe errichtet haben, in störrischer Hoffnung haben sie sie bewahrt, 19 Meter hoch, 24 Steinlagen, winzig die Menschen an ihrem Fuß, das Leid wird klein, wenn es zum großen Leid hinaufblickt, das Leid des einzelnen hat sich in die Ritzen verkrochen, nur das Leid aller hat Bestand. Jahrhundertelang hat die geduldige Mauer dem Kummer der Juden gelauscht, ihren traurigen Geheimnissen, die Juden haben sie angeschrien und angefleht, ihre grausamen Verluste haben sie ihr anvertraut, die Klage über ein verlorenes Kind oder ein geschlagenes Heer, über das Blut, das nebenan in den Straßen Jerusalems floß, oder über das Gas, das sich in der Ferne ausbreitete, ihren ganzen Jammer über die gebrochenen Versprechen, die 154 Besuch in Jerusalem unerfüllten Verheißungen, die Verluste von gestern und heute und immer. Sollten sie vor diesem gigantischen Beichtstuhl aus Stein nicht auch ihr eigenes Schicksal beklagt haben, ihre Schwächen und Zerrissenheit und Flucht und Härte? Juden, die auszogen aus dem Heiligen Land, pflegten vor ihrer Abreise an der Mauer zu beten und in eine der Spalten einen Nagel, zu stecken, um zu bekunden, daß sie festgenagelt seien an das Land des göttlichen Wortes; noch heute stecken Juden Zettelchen mit ihren Bitten zwischen die Quadersteine, Glauben und Aberglauben, und ein Wunder nur, daß die Mauer alle Klagen verschlungen hat und nicht zusammenbrach unter ihrer Last, daß sie alle Klagen aufgenommen hat, und nicht, Klage über Klage häufend, in den Himmel gewachsen ist; aus Stein muß das Ohr Gottes sein, es hätte sich sonst längst geschlossen. Am 15. Juni 1967 strömten 200.000 Juden aus ganz Israel herbei, um ihre Hände auf die Mauer des erfüllten Versprechens zu legen; nie waren es so viele, auch nicht am neunten Tag des Monats, Tischa beAv, am Gedenktag der Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Ist es so, daß überall in der Welt Klagemauern stehen, überall, wo es Juden gibt, steht eine Klagemauer und überall, wo es sie gab, in Auschwitz und Bergen- Belsen, Treblinka; überall, wo es einen Tempel gibt, steht eine Klagemauer und überall, wo es sie gab und wo sie ausgebrannt sind. Die Sehnsucht nach Gethsemane kann auch der freie Himmel über dem Garten nicht wecken. „ Da kommt Jesus mit ihnen an ein Gut, genannt Gethsemane, und sagt zu den Jüngern: Setzet euch, bis ich dorthin gegangen bin und gebetet habe! “ Gethsemane - das hebräische Gat-Schmanim - Ölpresse - war also ein Garten, oder nach anderen Bibel-Übersetzungen ein Gehöft; einem Freund Christi hat es wohl gehört, ein freies Land am Fuß des Ölberges, ein Wald von Olivenbäumen, von dunklen Zypressen umgeben, eine Palme, ein Dattelbaum, und wenn Christus „ dorthin “ ging, dann muß es dort groß genug gewesen sein, um sich den Blicken der Jünger zu entziehen. Und zu allem Überfluß zeigt der junge Araber auch noch einen Olivenbaum, einen bestimmten, der zu Christi Zeit dort gestanden haben soll; er weiß es genau. Habe dachte zurück an die Rührung, mit welcher er zum ersten Mal die Verhaftung Christi gelesen hatte, für die das Wort gilt, das der lange in Paris versteckte Jude Tristan Bernard zu seiner Frau bei seiner Verhaftung durch die Gestapo gesagt hat: „ Jusqu ’ à maintenant nous avons vécu dans la peur, désormais nous viverons dans l ’ espoir. “ (Bis jetzt haben wir in der Furcht gelebt, jetzt werden wir in der Hoffnung leben.) Wie sollte Habe sich die Erinnerung an Gethsemane seiner Phantasie bewahren? 86 Prozent der Bevölkerung Israels besteht aus Juden. Israel hat drei religiöse Parteien mit insgesamt 18 von 120 Abgeordneten des Parlaments. Obwohl sich nur Agudat Jisra ’ el mit vier und Poalei Agudat Jisra ’ el mit zwei Abgeordneten als 155 Besuch in Jerusalem „ orthodox “ bezeichnen, faßt die größte der drei Parteien, die nationalreligiöse Partei Mafdal, die Gesetze der Thora, die religiöse Tradition des Judentums und die Verquickung von Staat sowie die Staatsreligion ebenso wörtlich auf. Sind fünfzehn Prozent der Israelis orthodox? Nicht jeder der Wähler hat eine er drei Parteien aus religiösen Gründen gewählt; orthodoxe Juden geben zuweilen auch einer nichtreligiösen Partei ihre Stimme. Größer als 15 Prozent ist die Minorität jedenfalls nicht, und doch übt sie einen Einfluß aus, der ihrer Zahl keineswegs entspricht. Diese Absurdität ist umso absurder, als sie im Gesetz verankert ist - Israel ist ein so formalistischer Rechtsstaat, daß auch die Absurdität nur kraft der Legalität existiert. Paradox ist die Macht der Orthodoxie auch, weil sie nicht nur den Ideen eines modernen Staates, sondern auch den Grundsätzen des Zionismus widerspricht. Theodor Herzl hat in seinem Buch Der Judenstaat geschrieben: Werden wir also am Ende eine Theokratie haben? Nein! Der Glaube hält uns zusammen. Die Wissenschaft macht uns frei. Wir werden daher theokratische Valleitäten gar nicht auf uns kommen lassen. Es ist Israel gelungen, den politischen Einfluß der Generalität zu „ kasernieren “ , aber es ist nicht gelungen, den Klerus in den Tempeln „ festzuhalten “ - und das ist wiederum umso paradoxer, als die „ Orthodoxen “ keine „ echten “ Zionisten sind: Der jüdischen Orthodoxie gemäß kann nur der Messias die Juden ins Land rufen. Der Messias ist noch nicht erschienen, der Judenstaat ist bestenfalls eine Vorschußleistung. Die Einheit der Juden ist nur denkbar, wenn die Tradition gewahrt bleibt - so das Oberste Gericht. Daher sind auch Ziviltrauungen in Israel ungültig. Die Orthodoxie maßt sich aber zudem Rechte an, wo sie keine besitzt; „ Auserwählte “ behandelt sie anders als andere Sterbliche. So wird der Segen von orthodoxen Rabbinern zum Judentum Konvertierten mit Juden verweigert, nicht hingegen von anderen Rabbinern. Während sich viele fromme Jeschiwa-Studenten freiwillig zum Militärdienst melden, sind orthodoxe Mädchen noch immer vom Militärdienst befreit. Zwischen Sonnenuntergang am Freitag bis Samstagabend ist den Orthodoxen keine Zerstreuung gestattet; sie dürfen nicht Auto fahren, nicht reisen, keinen Sport treiben, nicht Licht machen, nicht kochen, kein Geld anfassen. Die Majorität der Israelis beachtet diese Gesetze nicht. Israels Autostraßen sind am Wochenende überfüllt, es wird Fußball gespielt, das Fernsehen überträgt Sendungen, mit besonderer Genehmigung darf sogar getanzt werden, aber in Bnei Berak, einer Stadt mit mehrheitlich ultraorthodoxen Juden, werden Autofahrer am Freitag mit Steinen beworfen - was, sollte man glauben, auch ein verbotenes Amüsement ist, und in Mea Shearim, die ebenfalls hauptsächlich von ultraorthodoxen Juden bewohnt wird, wollte man sogar eine Hebamme daran hindern, mit dem Auto zur Entbindung zu fahren. Nicht minder sonderbare Blüten trieb die Intoleranz, als eine 0,15 Agora Briefmarke eingezogen werden mußte, da sie die Synagoge von Tunis darstellte. 156 Besuch in Jerusalem Die Orthodoxen betrachteten es als Blasphemie, daß man diesen Marken einen Stempel aufdrückte oder sie mit der Zunge befeuchtete. Will man nicht an ein Wunder glauben, läßt sich der Fortbestsand des Judentums nur so erklären, daß das religiöse Judentum jahrhundertelang die Brücke über das Vakuum der „ Landlosigkeit “ schlug. Über die Brücke der Religion kehrte das jüdische Volk nach Eretz Israel zurück. Nicht die Rothschilds und Kafkas, die Warburgs und Mahlers, die Rathenaus und Modiglianis, die Dreyfus´ und Einsteins retteten das Judentum vor der totalen Zerstörung: Es waren die verhöhnten und verpönten, die verprügelten und verjagten Juden des Ostens mit Pajes. Die Orthodoxie ist jene sichtbar Spitze des Eisbergs, die über die Oberfläche des Meeres herausragt: Der Eisberg der Tradition ist sechsmal größer. Ben Gurion, kein Orthodoxer, erklärte, daß Mischehen in Israel zwar durchaus „ ungefährlich “ seien, in der Diaspora aber neun von zehn Kindern aus Mischehen für das Judentum verloren sind. Richtig oder nicht: Falsch ist es jedenfalls, daß Israel unbedingt mit zehn Millionen ausländischer Juden, dem „ Weltjudentum “ , rechnen kann. Die Zahl der Juden, die nie einen Tempel besuchen und dann doch nach Israel auswandern, ist gering. Der Tempel verbindet die Juden der Diaspora mit Israel. Deshalb werden in der Sowjetunion nicht alle Juden verfolgt, sondern nur jene, die beten. Da Gott die Juden nicht verlassen hat, wollen auch sie ihn nicht verlassen. Im Jahr 1966 wurden in Israel 61 neue Synagogen gebaut, vornehmlich mit staatlicher Hilfe; im Jahr 1968 entstanden 431 ohne staatliche Hilfe. Vor dem Sechstagekrieg gab es drei religiöse Zeitschriften, 1970 gab es vierzehn. Bei einer Umfrage erklärten 81 Prozent der Israelis, mit größeren und kleineren Einschränkungen an den religiösen Grundgesetzen festhalten zu wollen. Habe hatte in den Universitäten und Armeelagern mehr junge Juden mit Kippa gesehen als in den Straßen der Städte. Mit der ihnen eigenen Logik errichteten die Juden gegen eine moralische Angriffsfront eine moralische Verteidigungslinie. Bei ihrem Bau konnten sie auf ihre westlichen Verbündeten nicht rechnen: Amerika konnte Phantoms liefern, eine neue Moral nicht mehr. Die Juden, allein, wie so oft in ihrer Geschichte, mobilisieren ihre älteste und bewährteste Waffe: die Religion. Bis etwa 1967 stand die Tradition im Dienste der Religion. Jetzt steht die Religion im Dienste der Tradition. Die Waffen der Orthodoxie sind verrostet. Die neue Moral Israels braucht neue Waffen. Die Knesset, das Parlament, ist wahrscheinlich das seltsamste Gebäude und für den jungen Staat wohl das bezeichnendste. Es ist, von außen und innen, das Parlament einer Großmacht. In nichts anderem, doch darin, erinnert es an das Bundeshaus in Bern: kleines Land, große Demokratie, das muß demonstriert werden. Während sich die israelischen Ministerien durch äußere Schlichtheit auszeichnen, ist nicht nur der Plenarsaal imposant, imposant sind auch die 157 Besuch in Jerusalem Beratungszimmer und Büros der Minister und der Abgeordneten. Will Israel zeigen, daß es nicht von Ministerien, daß es von der Volksvertretung regiert wird? Vielleicht ist ein Volk, dessen Geschichtsbuch das Alte Testament ist, wirklich eine Großmacht. Es gibt Männer mit wallenden weißen Bärten, Nathan der Weise als Member of Parliament, junge Leute mit langen Haaren, die in der Carnaby Street nicht auffallen würden, Araber, die sich eleganter kleiden, ein paar Parlamentarier beugen sich, mit dem Judenkäppchen auf dem Kopf, über die Budget-Protokolle, als läsen sie im Talmud. Obwohl rund ein Drittel der Abgeordneten einmal im Kibuzz arbeitete, fällt die Abwesenheit bäuerlicher Gesichter auf. Nicht unbedingt Intellektuellenköpfe, Intelligenzköpfe auf jeden Fall: am ehesten eine Gewerkschaft der Aristokratie. Mit wenigen Ausnahmen scheinen die Fünfzigjährigen zu dominieren. Die Jugend dieses Landes wählt nicht die Jugend dieses Landes. Wenn Agnon-Leser bessere Soldaten sind, dann sind Talmud-Leser bessere Parlamentarier. Neben den Schweizern sind die Israelis wahrscheinlich das Volk, das zuerst denkt und dann handelt. Noch mehr Merkwürdigkeiten. Parlamentarier haben in manchen Ländern ihre Kirchen, aber ein Gotteshaus im Parlament gibt es nur in der Knesset. „ An gewissen Tagen “ , sagte ein Abgeordneter zu Habe, „ ist der Tempel zwischen zwei Sitzungen immer voll. “ Eine milde Hand liegt über der Knesset. Das Königreich David und Salomons umfaßte rund 120.000 Quadratkilometer gegenüber 90.000 Quadratkilometer Israels nach dem Juni 1967. Der jüdische Staat, wie er von den Zionisten vorgeschlagen wurde, sollte erheblich kleiner sein, etwa 50.000 Quadratkilometer. Von den arabischen Nachbarn Israels, die sich auf ihre alten Rechte beriefen, war damals kein einziger selbständig. Auch Palästina, das „ Nationale Heim der Juden “ , wie man es nannte, war nicht selbstständig, aber jüdische Einwanderer konnten sich in Gebieten nieder lassen, die ihnen später verschlossen waren. Nach der ersten Teilung Palästinas gab es jüdische Flüchtlinge, um die sich niemand kümmerte. Das britische Mandatsgebiet war um 22.000 Quadratkilometer größer als Israel nach dem Sechstagekrieg. Nach der ersten Teilung Palästinas, 1921, schrumpfte das jüdische Homeland auf rund 27.000 Quadratkilometer zusammen, während die Jordanier ein mehr als drei Mal so großes Gebiet erhielten. Jerusalem, Bethlehem, Hebron lagen im „ jüdischen Teil “ Palästinas. Der Judenstaat, dessen Konturen sich vor mehr als einem halben Jahrhundert klar abzeichneten, war der Keil der westlichen Zivilisation im kolonialen Asien. Einer der Führer der arabischen Delegation schrieb nach der Balfour-Deklaration, die den Juden ein Heim versprach, von der Pariser Konferenz an einen zionistischen Politiker: „ Wir, Araber, insbesondere die Intellektuellen unter uns, stehen der zionistischen Bewegung sehr sympathisch gegenüber . . . Wir arbeiten zusammen für die Neugestaltung und den Wiederaufbau des Nahen Ostens, und unsere beiden Bewegungen ergänzen einander . . . Keine unserer Bewegungen 158 Besuch in Jerusalem kann Erfolg haben ohne die andere. “ Der Mann, der so schrieb, war Emir Feisal, der spätere König Feisal I. von Irak. Chaim Weizmann schrieb 1921, er blicke „ einer Zukunft entgegen, in der Juden und Araber Seite an Seite in Palästina leben und gemeinsam für den Wohlstand des Landes arbeiten werden. “ Bis zum Unabhängigkeitskrieg jagte ein Plan den anderen - gemeinsam war ihnen das von den Briten übernommene Prinzip Ludwigs XIV.: Diviser pour mieux régner, und die Absicht, die jüdische Existenz zu zerstören. Die Großzügigkeit der Mächte reduzierte zwischen 1937 und 1948 das den Juden zugedachte Territorium auf 5.500 bis 14.500 Quadratkilometer; 1938 wurde ernsthaft der britische Plan von Sir John Woodhead erwogen, der den Juden 1.275 Quadratkilometer zusprach, etwa ein Zwölftel des Gebietes der Schweiz: für ein Land zu wenig, für ein Konzentrationslager zum viel. Die arabischen Erben der türkischen, britischen und französischen Kolonisation verfügen heute noch über ein Gebiet, das 120 Mal größer ist als der Judenstaat nach 1967; allein die vier Nachbarstaaten Israels haben eine Bevölkerung von rund 38 Millionen, 12 Mal so viel wie Israel. Ein israelischer Abgeordneter berichtete Habe: „ Man erzählt sich bei uns die Geschichte vom lieben Gott, der, über die Lage im Nahen Osten beunruhigt, seinen Sendboten zur Erde schickt. Zurückgekehrt, berichtet der göttliche Korrespondent von schweren Kämpfen und bitterem Elend in Amman, von Sandsäcken, Verdunkelung und Bunkern in Kairo, von Zensur und Panzeraufgebot und Polizeipatrouillen in Damaskus. ,Und was hast du in Tel Aviv gesehen? ‘ fragt der Herr. ,In Tel Aviv tanzen sie in den Straßen. ‘ ,Diese Juden! ‘ ruft der liebe Gott stirnrunzelnd aus. ,Sie verlassen sich schon wieder auf mich! ‘“ - „ Wir haben “ , fügte der Abgeordnete hinzu, „ das Konto der Wunder überzogen. “ Als Habe die Frage nach der möglichen Einigkeit der Juden in der Knesset überlegte, wurde ihm sofort klar: Wenn die Juden einig wären, wären sie keine Juden. Abgeschossene israelische Flieger werden in den arabischen Ländern keineswegs nach den Vorschriften der Genfer Konvention behandelt. Der 23jährige Leutnant Moshe Goldwasser wurde - das wurde dem Internationalen Roten Kreuz bewiesen - von den Ägyptern gefoltert. Die Palästinenser führen ihren Krieg gegen Frauen, Kinder, Greise. Im offiziellen Lesebuch der ägyptischen Schulen für die dritte Klasse der Mittelschule heißt es auf Seite 163: „ Verwandelt jedes jüdische Haus in eine Klagemauer. “ Nur mit einer Moral, die an die Engländer im Zweiten Weltkrieg erinnert, kann das ständige Gefühl der Unsicherheit überwunden werden. Israel verwendet mehr als ein Viertel seines Sozialprodukts für seine Sicherheit - zweieinhalb mehr die USA. Bei einem Budget von 13,6 Milliarden Pfund gibt Israel fünfeinhalb Milliarden für seine Verteidigung aus, etwa 40 Prozent des Staatshaushalts. Die quantitative Steigerung des Kriegspotentials der arabischen 159 Besuch in Jerusalem Länder beträgt seit 1967 rund 120 Prozent. Israels Finanzen balancieren auf einem Seil über dem Abgrund. Bei einem Einkommen von monatlich über etwa 1.200 Dollar bezahlen die Israelis, neben anderen Abgaben, 62,5 Prozent Einkommensteuer. Die Wertzuwachssteuer beträgt durchschnittlich 30 Prozent. Ein würdiger Lebensstandard ist kaum aufrecht zu erhalten, die Wirtschaft befindet sich in einer permanenten Krise, Kunst und Wissenschaft vermögen ihre Potenzialität nicht auszunützen. Begin und seine Anhänger behaupten, die Israelis würden einen neuen, von den Arabern provozierten Krieg gewinnen - was vermutlich zutrifft - , aber für die Ansicht, die Sowjetunion werde, den Dritten Weltkrieg fürchtend, mit Frontsoldaten und Piloten auf keinen Fall eingreifen, gibt es keinen überzeugenden Beweis. Der Vater der arabischen Guerillas, Ahmad al-Shukeiri, hat zweifellos für die Palästinenser gesprochen, wenn er 1970 einem deutschen Reporter erklärte: „ Für Verhandlungen gibt es nur eine Chance: Wenn die Israelis einwilligen, ihren Staat zu liquidieren, werden wir gerne über die Liquidation reden. “ Teddy Kollek, der die Statur eines Meisterringers besitzt, ist während der Besuche von Habe Bürgermeister von Jerusalem. Er geht ohne Begleitung durch das nächtliche Jerusalem, auch durch die Altstadt, vor seinem Haus wacht kein Polizist, und er frühstückte auf dem Balkon des Bürgermeisteramtes auch in jener Zeit, in der er Schützen auf den nahen jordanischen Dächern, eine ideale Zielscheibe geboten hatte. Die Habes frühstückten mit Teddy Kollek um acht Uhr früh, auf eben jenem Balkon, der seinem Büro vorgebaut ist. Er hatte schon zwei Stunden Arbeit hinter sich und vor Mitternacht verläßt er selten sein Amt. Den Befehl der Vereinten Nationen, die besetzten Gebiete unberührt zu lassen, hat der Bürgermeister von Jerusalem vollkommen ignoriert. Er spricht vom Aufbau Jerusalems - die Begriffe Ost- und Westjerusalem kommen in seinem Vokabular nicht vor - wie irgendein europäischer, japanischer oder amerikanischer Bürgermeister. Die New York Times verkennt die Lage, wenn sie schreibt: „ Es wäre politisch nützlich, wenn ihm die israelische Regierung Halt geböte, in Jerusalem ,Tatsachen zu kreieren ‘ , auf diesem empfindlichsten aller umstrittenen Gebiete . . . “ Wenn die Regierung nicht mit Teddy Kollek übereinstimmte, hätte sie ihm für den Wohnungsbau nicht rund 28 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt. Israel weiß, daß Jerusalem ein „ empfindliches “ Gebiet ist, ein umstrittenes ist es keineswegs. Teddy Kollek „ kreiert “ keine Tatsachen. Jerusalem ist eine Tatsache. Der Politiker Teddy Kollek steht in Israel nicht zur Diskussion, da Aufbau und Ausbau Jerusalems keine symbolische oder symptomatische Geste ist: Israel hat den östlichen Teil dieser Stadt nicht provisorisch besetzt, sondern eindeutig annektiert. 160 Besuch in Jerusalem Im östlichen Teil der Stadt sind neue Siedlungen entstanden wie bei Stuttgart, Zug oder Houston. Teddy Kollek hat das pestilenzialische Kanalsystem der Altstadt in Ordnung gebracht. Die Elektrifizierung von Stadtteilen, wo nach Sonnenuntergang nur Kerzen und Öllämpchen brannten, ist so gut wie vollendet. Wo sich früher Unrat zu Bergen häufte, wie bei einem Generalstreik in London, Paris oder New York, da funktioniert jetzt die Müllabfuhr wie in Zürich, Oslo oder Stockholm. Die Zahl der neuen Wohnungen geht in die Tausende. 5.000 neue Hotelzimmer im alten Jerusalem erscheinen Teddy Kollek nicht zu viel. Das Jerusalem Hilton Hotel mit 416 Zimmern wird eine ernste Konkurrenz für das renovierte King David Hotel der Neustadt sein. In spätestens zehn Jahren rechnet Teddy Kollek, Bürgermeister einer Stadt von 265.000 Einwohnern, mit einer halben Million Bürgern. Hamdi Taher Kana´an (1910 - 1981), der frühere Bürgermeister von Nablus, sagte der International Herald Tribune: „ Wenn Sie Ramat Eshkol ansehen “ - eine Siedlung in Ostjerusalem, die 2.500 Wohnungen umfaßt - „ dann können Sie nicht annehmen, daß die Israeli Frieden schließen wollen. Sie haben in drei Jahren im besetzten Teil der Stadt mehr gebaut als wir in hundert. Meinen Sie, die Juden würden das wieder aufgeben? “ Wahrscheinlich würde Teddy Kollek darauf antworten: „ Sie haben ganz recht, wir werden Ostjerusalem nie wieder aufgeben. Unter anderem auch deshalb nicht, weil wir versuchen, in drei Jahren die Unterlassungen von hundert nachzuholen. “ Indes stößt der Idealismus Teddy Kolleks auf Hindernisse, die viel tiefer im Boden des Nahen Ostens wurzeln. Die Araber sehen in den Israelis neue Kolonisatoren. Ihre Vorstellungen von der Kolonisation sind vage. Die Voraussetzung für die Kolonisation ist die Herrschaft eines fremden, meistens überseeischen Staates, in jedem Fall die Unterdrückung und die Ausbeutung einer Majorität durch eine mächtige, ausländische Minderheit. Der Kolonialherr gewährt dem Kolonialland so viel Freiheit und Entwicklungsmöglichkeit, wie ihm behagt: Seine Repräsentanten bilden in der Kolonie ihrerseits eine „ Kolonie “ , leben aber nicht mit den „ Eingeborenen “ . Nichts von alledem trifft auf Israel zu. Weder ist Israel im Nahen Osten eine fremde Macht, noch befinden sich die Araber auf dem Gebiet Israels in der Mehrheit, noch kann sich Israel entwickeln, ohne die Araber an seiner Entwicklung teilhaben zu lassen. Mit Ausnahme der Armee, wo ein gewisses Mißtrauen gegenüber den Arabern herrscht, sind die Chancen der Araber die gleichen wie die der Israelis: Wenn sie in manchen Berufen nur schwer an die Spitze gelangen, so gilt das ebenso für die ungebildeten jüdischen Einwanderer aus Afrika und Asien. Für die Ost-Berliner ist West-Berlin eine Hoffnung, für die Araber Ostjerusalems ist Westjerusalem eine Herausforderung. Israel, das, indem es sich selber entwickelt, Entwicklungshilfe gewährt, paßt in kein Lexikon der Politik. Der Idealist Teddy Kollek, der hofft, Elektrizität aus dem Westen werde von den Arabern lebhaft begrüßt werden, will nicht wissen, daß für die Araber noch 161 Besuch in Jerusalem immer das Wort Ex oriente lux gilt: Kommt das Licht nicht aus dem Osten, ist es kein Licht. An genau derselben Stelle, wo Teddy Kollek jetzt die Wohnsiedlung Ramat Eshkol baute, wollte kurz vor dem Sechstagekrieg König Hussein mit dem Bau seines Sommerpalastes beginnen. Hat es der Politiker Teddy Kollek leicht mit den Israelis, hat es der Idealist schwer mit den Arabern, so hat es der Baumeister Teddy Kollek schwer mit den Israelis und den Arabern. Unter allen genialen Künstlern geborenen Narren sind die genialsten Architekten die närrischsten. Der architektonischen Besessenheit Teddy Kolleks versuchen die Israelis Zügel anzulegen. Der Architekt ist der Feind des Historikers. Der stürmische Aufbau Jerusalems drohte einen Moment lang - entgegen den Plänen Kolleks - das biblische Bild Jerusalems zu zerstören. Dem Optimismus Teddy Kolleks scheint das alles nichts auszumachen. Er meint, zusammen mit den internationalen Architekten, die man nach Jerusalem eingeladen hat, wird sich die rechte Lösung finden. Und die Araber? Die Araber Ostjerusalems seien nicht anders als die alten Westjerusalems, mit denen man seit Jahrzehnten ausgezeichnet auskomme. „ Mit der Zeit werden sie begreifen. Mit der Zeit werden wir es schaffen. “ Der Bürgermeister beugte sich über eine Brüstung, um einer davon eilenden Sekretärin etwas zuzurufen. Habe las in seinen Augen die ganze Liebe, die er für Jerusalem empfindet. Und die ganze Entschlossenheit, mit der er das vereinte Jerusalem verteidigt. Der Grundstein der Universität auf dem Skopusberg - der größten Hochschule des Landes - wurde 1918 gelegt. Im Jahre 1925 wurde die Universität eröffnet, 1948 ging sie in die Emigration. Zwanzig Jahre verwehrte Jordanien Lehrern und Studenten den Zugang zu der Lehranstalt. Im westlichen Teil Jerusalems mußte eine andere Hochschule errichtet werden, mit einer Filiale in Rehovot. In Rehovot wurde bereits 1932 eine landwirtschaftliche Forschungseinrichtung von Tel Aviv nach Rehovot verlegt, welche später Standort der agrarwissenschaftlichen Fakultät der Hebräischen Universität von Jerusalem wurde. 1934 gründete Chaim Weizmann das Daniel-Sieff-Forschungsinstitut, dieses wurde 1949 in Weizmann-Institut für Wissenschaften umbenannt. Es ist heute ein multidisziplinäres Institut für naturwissenschaftliche Forschung und Ausbildung mit dem Schwerpunkt Grundlagenforschung. Der Makrokosmos der jüdischen Schicksals - Heimkehr und Flucht, Flucht und Heimkehr - spiegelte sich im Mikrokosmos der Universität. Heute wirkt sie mächtiger als die Universität von Harvard. Amerikas berühmteste Universität hatte im Jahre 1971 15.000 Studenten, Israels 16.000, 2014/ 15 hatte Harvard 21.000 und die Hebrew University 23.500 Studenten. Auf sieben Studenten kam damals in Jerusalem ein Professor, im Weizmann-Institut kam ein Professor auf einen Studenten. Im Sechstagekrieg schloß die Universität ihre Tore. Lehrer und Schüler waren damit beschäftigt, ihr Land zu verteidigen. Sie wollten nicht, 162 Besuch in Jerusalem daß ihre Hochschule wieder ins Exil gehe. Es geschah nicht selten, daß ein Professor, Leutnant der Reserve, unter dem Kommando eines Studenten stand, eines Hauptmanns oder Majors. Zwischen solchen Steinen kann das Unkraut des Generationenhasses nicht wuchern. Vom 18. bis zum 21. Lebensjahr dienen die jungen Israelis in der Armee. Studenten unter 21 Jahren findet man selten. Die Diskussion, ob man mit 18 Jahren wählen darf, käme ihnen absurd vor. Wenn sie zum ersten Mal den Campus betreten, haben sie die Wahl zwischen Leben und Tod hinter sich. Das Durchschnittsalter der Professoren an der Hebrew University ist vierzig. Es gibt viele 30jährige Professoren: Reife Männer unterrichten reife Männer. Obwohl staatsbürgerliche Pflichten den Lehrgang verzögern - jedes Jahr etwa 60 Tage Militärdienst - verlieren die Studenten Israels keine Zeit. Etwa 2.000 Ausländer studierten damals in Jerusalem, meistens Amerikaner, daneben 250 Araber und Drusen. Die Zahl der Araber wächst von Jahr zu Jahr. Man hat im Sprachunterricht ein neues System, entwickelt. Nach drei, spätestens fünf Monaten ist fast jeder Ausländer imstande, den Vorlesungen in Iwrith zu folgen. Der Vizepräsident der Universität Bernard Cherrick erklärte den Habes: „ Fast keine Studenten wohnen auf dem Campus. Platz wäre genug, aber sie wollen zu Hause wohnen. “ „ Sie meinen allein? “ „ Nein, zu Hause. Bei den Eltern. Es ist eine soziale Frage. Wir sind ein armes Land. Rund 90 Prozent der Studenten müssen sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Das ist schwer, wenn man auf dem Campus wohnt. “ Die Studenten Israels sind nicht durchgefallen. Sie glauben auch nicht, daß die Gesellschaft durchgefallen ist, zumindest nicht die israelische. Wenn ihnen etwas nicht paßt, sagen sie es. Es gibt Bilder, die ihnen nicht gefallen: Sie nehmen sie aus den Rahmen. Sie zerschlagen nicht den Rahmen. Sie wollen lernen, nicht belehren. Sie formen an der unförmigen Gesellschaft: Kleinholz läßt sich verbrennen, nicht formen. Sie sind gegen Verwicklung, sondern für Entwicklung. Da sie die bestehende Gesellschaft nicht für verloren halten, sind sie für die Weltrevolution verloren. Ein Student in Fliegeruniform, ein junger Negerpriester, Mädchen in Miniröcken, Mädchen in Hosen, Studenten mit dem Käppchen, Studenten und Studentinnen liegen im Gras, lesen Zeitungen, diskutierende Gruppen, Gespräch, nicht Geschrei, schnelle Schritte und lange Pausen. Es fiel den Habes auf, daß die Altersunterschiede fortgezaubert waren: Ein weißhaariger Professor saß neben Studentinnen auf der Treppe. Am Abend versammelten sich die Studenten der Hebrew University im B´nai B ’ rith Hillel Center. Die Habes hatten sie wahllos ausgewählt und nur der Präsident der Studentenschaft war nicht zufällig hier. Nur daß alle englisch sprachen, war die Bedingung gewesen. Zehn Jungen, drei Mädchen. Eines der Mädchen brachte Tee, ein Junge reichte 163 Besuch in Jerusalem kleine Bäckereien herum. Habes Frau wußte nicht, wohin sie sich setzen sollte: Drei Studenten brachten ihr gleichzeitig eine Sitzgelegenheit. Die Jungen arrangierten den Halbkreis so, daß die Mädchen die besten Plätze bekamen. Habe hatte es bei seiner Tageslektüre in den Zeitungen erfahren, daß Inserate wie das folgende an der Tagesordnung waren: Wir gratulieren mit großer Liebe Rella und Sanyi Friedmann, früher Kolozsvár, jetzt Natanja, zu ihrem 25. Hochzeitstag, und wir wünschen noch viele gesunde Jahre bis hundertzwanzig - ihre Kinder Sosi und Beni sowie ihr Enkelkind Chajele. Solche Anzeigen waren in den israelischen Blättern häufiger als Todesanzeigen. Sentimentalität am fünfundzwanzigsten Hochzeitstag der Eltern sollte erlaubt sein. Wozu ein Herz haben, wenn man es nicht auf Händen trägt? Habe stellte auch die Frage nach Rauschgift auf den Israelischen Universitäten. Ausländische Studenten - vornehmlich amerikanische und deutsche - , die in den Campus Rauschgift zu bringen versuchen, werden von den Studenten ausgestoßen. Da bedarf es nicht der Mitbestimmung, sie tun es ganz von selbst, Selbstbestimmung. Eine kleine Psychologin antwortete ihm daher: „ Die meisten von uns haben den ausländischen Studenten den Gefallen getan und es einmal ausprobiert. Ich kenne niemanden, der es ein zweites Mal versucht hätte. “ Leise sagte ein anderes Mädchen: „ Wir sind Israeli. Wir fliehen nicht. Nicht einmal vor uns selbst. “ Habe fragte, wie es mit der Meinungsfreiheit stünde. Ein Jus-Student erklärte, die sei absolut. „ Aber “ , fügte er hinzu, „ ein Land im Krieg muß auf gewissen Gebieten - vornehmlich handelt es sich um Filme - eine Zensur üben. “ Habe fragte: „ Sind sie sicher, daß die Regierung ihre Rechte nicht mißbraucht? “ „ Wir haben sie ja gewählt “ , sagte eine Studentin der Medizin. „ So einfach ist es nicht “ , warf der Studentenpräsident ein. „ Im Jahr 1969 wurden zum Beispiel 69 Filme verboten. Zehn waren, wenn ich mich recht erinnere, arabische Propaganda. Zehn oder zwölf, meist deutsche, waren pure Pornographie. Die übrigen stellten Grausamkeiten aller Art dar. “ „ Sie sind aber genau informiert “ , meinte Habe. Man lachte. Der Nationalökonom erklärte es: „ Natürlich, Er sitzt ja in der Zensurkommission. “ Der Jurist tuschelte mit ein paar Studenten und wandte sich dann an Habe: „ Darf ich Sie etwas fragen? “ und Habe bejahte. „ Warum fragen Sie uns nicht etwas Schwieriges? “ Habe fragte, was die Studenten für etwas Schwieriges hielten. „ Zum Beispiel unser Verhältnis zu den Arabern. “ Jeder der dreizehn sagte seine Meinung. Sie überlegten, verbesserten sich, die jungen Gesichter wurden alt. Man sah, daß sie Juden waren, alle Juden sind alt. Während die jungen Juden einen Wall bauen müssen gegen arabische Angriffe, 164 Besuch in Jerusalem bauen sie zugleich einen Wall gegen den eigenen Haß. Die jungen Juden hatten keine Zeit für den Generationenkonflikt, sie waren beschäftigt, ihr Seelenheil zu wahren. Der Gott der Rache des Alten Testaments, das war nicht mehr ihr Gott. Weit eher der Gott des Propheten Jesaja: „ Horch es ruft: In der Wüste bahnet den Weg des Herrn; macht in der Steppe eine gerade Straße unserem Gott. “ Unter der geraden Straße verstehen die jungen Israelis den Weg zwischen notwendiger Verteidigung und überflüssigem Haß. Keiner der dreizehn Studenten hielt die Araber für böse oder minderwertig oder blutrünstig. Keiner zweifelt, daß es möglich wäre, mit den Arabern in Frieden zu leben. Einige kritisierten, daß eine relativ geringe Zahl der Araber die Universitäten besuchen kann. Ein niedrigeres Bildungsniveau, notwendige Sicherheitsmaßnahmen: Gewiß. Aber auch Vorurteile der älteren Professoren. „ Wenn wir alle Araber haßten, wären wir Nazis “ , sagte die Studentin der Medizin. Die Psychologiestudentin mit der runden Brille sagte: „ Militarismus im Krieg - was für ein Unsinn! Keiner von uns ist gern Soldat, nicht wahr? “ Es gab nur Zustimmung. „ Unsere Generale geben militärische Befehle - sonst nichts. “ Als Habe von Heldenverehrung sprach, sagte der Jurist: „ Wir trauern um unsere Helden. Ist das verboten? “ Der Studentenpräsident lächelte verschmitzt: „ Doch, wir ehren unsere Helden. Unserem Generalstabschef im Sechstagekrieg, Jitzchak Rabin haben wir zum Beispiel als Tapferkeitsmedaille einen Doktorhut aufgesetzt. Dann schickten wir ihn als Botschafter nach Washington. Beim Empfang der Doktorwürde sagte Jitzchak Rabin: „ Diese Armee kam aus dem Volk und kehrt zum Volk zurück, zu einem Volk, das sich in Zeiten der Krise zu großen Höhen erhebt und kraft seiner Sittlichkeit und seiner Stärke alle seine Feinde besiegt. “ Gewiß gibt es auch unerfreuliche Erscheinungen. Dan Orfy, einer der besten Journalisten Israels, warnte auf drei Spalten vor dem Trojanischem Pferd, in dessen Inneren sich die Agitatoren der Neuen Linken Israels, der Sciach, verbergen. Durch sie gibt es wilde Streiks an den Hochschulen und sie klagen, daß die Prüfungsfragen zu schwer seien. Einen der bedeutendsten Architekten des Landes, Professor Alfred Mansfeld, haben streikende Studenten „ abgeschossen “ . Linksradikale Studenten werden von amerikanischen linksradikalen Gruppen, die teilweise von Agenten östlicher Geheimdienste unterwandert waren, zu Apparatschiks ausgebildet. Der Student Uri Davis forderte im staatlichen Rundfunk und Fernsehen zur Militärdienstverweigerung auf. Auf dem Schiff, das Habe schließlich von Eretz Israel entführte und nach Hause trug, dachte er zurück, an die jungen Israeli, die er kennen gelernt hatte, an das Mädchen mit der Brille, den Jungen mit der bleichen Hand, an den Dichter der Marseillaise und er schrieb einen Appell an sie: 165 Besuch in Jerusalem Ihr wollt es kompliziert, es ist so einfach: daß man keinen Gott anbetet als den einen - Ihn (nicht Mao, Nasser oder Ho Tschi-minh); daß man kein Bildnis schafft, nicht Götzen ehrt (die Tafeln, die ihr tragt, sind umgekehrt); daß man nicht eitel nennt des Herrn Namen (ihr schafft euch Bildnisse in leerem Rahmen); daß man zu ruhn vermag am siebten Tag (ein komfortables Grab ist auch ein Grab); daß man die Eltern ehrt und Ehre erblich (auch wenn er greisenhaft und sie gebrechlich); daß man nicht töte, morde, schlachte (und wenn Profit lockt und die Blutdurst lacht); daß man nicht Ehe bricht und nicht betrügt (auch wenn Gesetz wird, daß man lügt); daß man nicht stiehlt, was ein andrer erwarb (und steht im „ Kapital “ auch, daß man´s darf ); daß man nicht falschen Eid spricht vor Gericht (auch wenn der Meineid Mode ist); daß man nicht neidvoll äugt des Nächsten Weib (böse Absicht ist kein Zeitvertreib). Es darf kein Traum gewesen sein. Bitte enttäuscht mich nicht! Das unmittelbar nächste Ziel von Habes Autoreise durch Israel war Jericho. Sie hatten nicht die Hauptstraße gewählt, sondern sie fuhren durch die Wüste und durch den heißen Wüstenwind. Westlich von Jericho befand sich das Kloster der Versuchung, das auf dem Platz stand, auf dem nach dem Bericht der Bibel Satan Jesus zu verführen versuchte. Und da war dann Jericho. Römische Geschichte, biblische Geschichte. Markus Antonius hat die Stadt seiner Kleopatra geschenkt; undankbar und geschäftstüchtig, wie sie war, verpachtete sie Jericho an Herodes den Großen. Jericho aber schloß und blieb verschlossen vor Israel. Niemand ging hinaus und niemand ging hinein. Sechs Tage belagerten die Juden die Stadt, dann war der Sechstagekrieg vorüber. Am siebenten Tag „ stießen die Priester in die Posaunen; da sprach Josua zum Volk: Erhebet das Feldgeschrei: denn der Herr gibt euch die Stadt. “ Die Posaunen ertönten, die Mauer fiel. Am Morgen des 6. Juni 1967 war es anders. Obwohl, wie Oberst Uri Ben-Ari versicherte, „ genug Posaunen zur Verfügung standen “ , zog er es vor, Jericho mit einem Panzerbataillon zu nehmen. Jericho ist keine Steinfestung, keine Lehmoase, ein Krankenkassen-Badeort in arabischer Fassung. Das subtropische Klima hat das Städtchen begünstigt, die Fruchtbarkeit der Ebene: Gemüsegärten und Bananenpflanzungen, Die Orangen dufteten, Dattelbäume am Straßenrand. Jericho profitierte von seinem Klima, es profitierte auch von den Palästinensern, die Jordanien hier angesiedelt hatte. Dennoch nichts von der Feindseligkeit Ostjerusalems. Einige Geschäfte 166 Besuch in Jerusalem waren trotz der Mittagshitze geöffnet. Vor den Cafés saßen Araber. Sie spielten Karten und blickten nicht auf. Nur hie und da ein Jeep mit israelischen Soldaten. Außerhalb der Stadt wieder die Öde. Im sandigen Bergland brütete das verlassene Flüchtlingslager in der Sonne. Da war es also, das Flüchtlings- Problem. Es ist das schwerste Problem des Nahen Ostens. Die Frage ist, ob die Flüchtlingsfrage ein geschichtliches Problem ist oder ein menschliches. Wie sah es aus, aus der Nähe, auf den Sandfelsen von Jericho? Die Geschichte nahm ihren Anfang nach dem Ersten Weltkrieg, mit der Ansiedlung der Juden im palästinensischen Mandatsgebiet. Damals lebten 562.000 Araber in den Gebieten, die den Juden versprochen waren. Die Juden wollten mit den Arabern leben. So sehr wollten sie es, daß die Zahl der Araber zwischen 1922 und 1947 auf 1,2 Millionen anstieg. Die Bevölkerung Ägyptens vermehrte sich um 25 Prozent, die Bevölkerung Jordaniens blieb unverändert; die Araber strömten nach Palästina. Enteignung? Artikel 6 des Völkerbundmandats verpflichtete die Engländer, jüdische Siedlungen zu fördern, aber die Juden mußten jedes Stück Land von den Arabern teuer erwerben. Der Preis des zum größten Teil wertlosen Landes stieg auf das Fünffache: Es gab Bodenspekulation und einen Goldrausch. Die wichtigste und am meisten umstrittene Frage ist heute, wie viele Palästinenser vor 1948 im späteren Israel gelebt haben. Beide Parteien haben ihre eigene Buchhaltung. Wie immer man es dreht und deutelt: Die in den 1920er Jahren noch vom objektiven Völkerbund angegebene Zahl 562.000 ist unbestritten. Die restlichen 638.000 Araber waren nur zum geringsten Teil Palästinenser; sie waren in die jüdischen Gebiete gekommen wie die Goldgräber um die Jahrhundertwende ins kanadische Klondike. Indes spielte es keine wesentliche Rolle, wenn man alle Araber, die vor 1948 in Palästina lebten, als Palästinenser ansähe. Als nämlich nach dem Unabhängigkeitskrieg die Grenzen Israels festgelegt wurden, lebten 750.000 Araber an den Westufern des Jordan und im Gazastreifen. Subtrahiert man die Zahl 750.000 von den 1,2 Millionen ergibt es 450.000. Von diesen waren 157.000 in Israel geblieben, die übrigen waren vor allem nach Syrien und in den Libanon geflohen. Es mag eine veraltete Eigenschaft sein, wenn Mark Twain nach einem Besuch vom „ verwüsteten Zustand “ des Heiligen Landes sprach, aber genau die gleichen Worte gerbrauchte der Hohe Kommissar für Palästina im Jahre 1923 über das Gebiet von Esdraelon, indem er schrieb: „ Das Land war unbewohnbar. Es gab kein Haus, keinen Baum. “ Esdraelon gehört heute zu den fruchtbarsten Gebieten Israels, was einer aus dem macht, was ihm anvertraut wurde, läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Wenn Engländer und Amerikaner nichts von geschichtlichen Lehren wissen wollen, gebrauchen sie den Pleonasmus Past history - als ob nicht alle Geschichte „ vergangen “ wäre. Die 1920er Jahre sind „ vergangene Geschichte “ - das Jahr 1948 kann es nicht sein. In diesem Jahr wurde Israel geboren. 167 Besuch in Jerusalem Die Palästinenser waren vor die Wahl gestellt, auf palästinensischem Boden unter jüdischer Herrschaft oder in Arabien, ihrer großen Heimat, zu leben. Da sie keines von beiden wollten, war der Krieg gegen Israel das logische Verhalten. Die Juden ihrerseits können auf Israel nicht verzichten. Für sie ist Israel nicht bloß eine Provinz wie Schlesien für Polen oder Palästina für die Araber. Sie haben keine andere Heimat. Also ein Kompromiß? Es wäre möglich. Da jedoch die Araber die Heimatdörfer der Palästinenser als integralen Teil der arabischen Welt betrachten, ist für Israel, und umfaßte es nur den Garten Golda Meirs, auf ihrer Landkarte kein Platz. Wer das Recht der Palästinenser auf „ Palästina “ befürwortet, hat sich für die Tilgung Israels von der Landkarte entschieden. Wer mag das nicht wollen. Die Araber lassen ihm keine Wahl. Im Jahr 1948 fand im Nahen Osten eine Völkerwanderung statt. Die arabische Welt dokumentierte durch Taten, daß die Palästinenser Araber waren - nicht, wie sie selbst behauptet hatten, bloß Süd-Syrer. Syrien nahm 78.300 Flüchtlinge auf, Jordanien 248.000, der Libanon 90.000, Ägypten 118.000. Es ist richtig, daß nur 157.000 Araber in Israel blieben. Ebenso richtig ist es, daß sich der Treck nicht in einer einzigen Richtung bewegte. Gleichzeitig mit der Flucht der Araber aus Israel begann der Exodus der Juden aus den arabischen Ländern. 235.000 flohen aus Marokko, 124.000 aus dem Irak, 46.000 aus Jemen, 43.000 aus Tunesien, 37.000 aus Ägypten, 32.000 aus Libyen, 12.000 aus Algerien, über 8.000 aus Syrien und dem Libanon. Ein unfreiwilliger Bevölkerungsaustausch hatte stattgefunden - nach Kriegen findet er immer statt: einmal am grünen Tisch, einmal über grüne Felder: Hier 562.000 Palästinenser, dort: 537.000 Juden. Der Gedanke, diese Juden wieder in den arabischen Ländern anzusiedeln, wäre absurd, aber nicht absurder als die Rückführung der Palästinenser nach Israel. Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR sperrten ihre Flüchtlinge aus dem Osten nicht in Lager. Die beiden deutschen Staaten gingen davon aus, daß Deutschland den Krieg verloren hatte Derlei wird seit Jahrtausenden immer anerkannt - wenn es sich nicht um jüdische Sieger handelte. Deutschland hat Deutsche als Deutsche aufgenommen, es hat ihre Bitterkeit gedämpft, nicht geschürt, ihr Heimweh gemildert, nicht angefacht. Um die jüdischen Flüchtlinge kümmert sich bis heute niemand. Juden zu vertreiben ist ein Gewohnheitsrecht, schließlich sind sie geübte Flüchtlinge. Die Palästinenser, weniger geübte Flüchtlinge, wurden zwar von der UNO versorgt, aber statt einem „ Lastenausgleich “ bürdeten ihnen die arabischen Staaten die unerträgliche Last eines ewigen Flüchtlingsdasein auf; sie werden ihnen, wer weiß, die Last des Dritten Weltkrieges aufbürden. In den 23 Jahren, in denen die Juden Israel in das blühendste Land des Nahen Ostens verwandelt hatten, konnten die Palästinenser nichts, aber auch gar nichts leisten. Sie haben auf keinem Gebiet zur Entwicklung des Nahen Ostens 168 Besuch in Jerusalem beigetragen, sie haben sich selber nicht entwickelt. Wer kein Terrorist wurde, der blieb ein Bettler. Das Jahr 1971 war nicht das Jahr 1948. Vom Examen der Zeit sind auch Flüchtlinge nicht befreit. Kein Land anerkennt als Emigranten, wer seine Heimat nicht verlassen mußte. Wer sein Land ohne Zwang verläßt, um in ein anderes zu ziehen, ist Auswanderer und Einwanderer, aber kein Flüchtling. Die Mehrheit der Araber verließ das spätere Israel aus drei Gründen. Wie die Hitlersche Propaganda den Deutschen im Zweiten Weltkrieg weiß zu machen versuchte, daß der Feind sie niedermetzeln würde, so hatte die arabische Propaganda das Bild der Juden als Söhne des Dschingis Khan an die Wand gemalt. Der Generalsekretär der Arabischen Liga verkündete am 15. Mai 1948: „ Das wird ein Krieg von Zerstörung und Schlächterei sein, wie der der Mongolen und der Kreuzfahrer. “ Je größer die Primitivität, desto größer ist die Empfänglichkeit für Propaganda. Was bei den Deutschen nur zum Teil verfing, das wirkte bei den Arabern wie ein Erdbeben - sie flohen in Panik. Wenn die Juden die Palästinenser hätten vertreiben wollen, wäre deren Zahl nicht von 1948 - 1966 von 157.000 auf 313.000 gestiegen. Die Araber in Israel blieben unversehrt. Zwischen 1948 und 1967 gab es kein einziges Araberlager in Israel. In Lagern zu darben, war den Palästinensern in ihrer arabischen Heimat vorbehalten. Sie verloren ihre Heime in Israel, weil ihre arabischen Brüder sie ihrer Heimat beraubten. Die Vereinten Nationen setzten auf die arabische Karte, sie verurteilten die Flüchtlinge zum ewigen Exil. Mit der absurdesten Entscheidung, die sie je gefällt hat, gelang der UNO ein wahrer Homunkulus-Akt: Sie erzeugte den Palästinenser in der Retorte. Sie beschloß kurzerhand, daß Palästinenser war, wer mindestens zwei Jahre in Palästina gelebt hatte. Ein Araber, der zwei Jahre dort gelebt hatte, wo die Juden - sieht man von ihrem historischen Anspruch auf Eretz-Israel ab - seit Jahrzehnten lebten, war zum Palästinenser ernannt worden, eine rückwirkende Staatsbürgerschaft, die neueste Neuheit in der Geschichte. In ihrem Eifer, den Ölscheichs zu gefallen, verriet die UNO nicht nur den von ihr selbst geschaffenen Staat Israel, sie verriet auch die Palästinenser. Sie wählte Araber zu Palästinensern honoris causa, demütigte sie aber zugleich: Nur jene Palästinenser nahm sie unter ihre Fittiche, die in den Flüchtlingslagern blieben. Die im Sechstagekrieg aufgefundenen UNRWA-Registrierkarten in Hebron und Jericho zeigen, daß dort seit 1948 kein Flüchtling verblieben ist. Zugleich nahm die Bevölkerung in einem Lager des Gazastreifens jedes Jahr um 15 Prozent zu. Palästinische Frauen mußten wohl jedes Jahr Vierlinge zur Welt gebracht haben. Die arabischen Staaten haben nicht nur ein politisches, sie haben auch ein materielles Interesse an der Aufrechterhaltung der Lager: Jordanien allein erhält von der UNO jährlich eine Riesensumme. Zu dem großen Konzept gesellt sich das kleine Geschäft. Der Flüchtling, der obwohl er außerhalb 169 Besuch in Jerusalem des Lagers Arbeit gefunden hat, im Lager registriert bleibt, verdient doppelt; er verdient vielleicht noch mehr, wenn er seine Karte verkauft. Es waren Araber, nicht Juden, die Habe und dessen Frau in Jericho von dem schwunghaften Schwarzmarkt mit Registrierkarten und Rationen berichteten. Haben die arabischen Staaten viel mehr Palästinenser integriert, als sie zugeben wollen und die UNRWA ermitteln kann, so haben doch auch viele Palästinenser das unwürdige Lagerleben freiwillig gewählt. Bewohner von Jericho, keineswegs israelische Kollaborateure, erzählten Habe nicht ohne Bitterkeit von der Ablehnung ihrer Anträge, den Flüchtlingen Arbeit zu geben. In Ländern, in denen das durchschnittliche Einkommen eines Flüchtlings außerhalb des Lagers 200 Dollar im Jahr beträgt, ein wahres Paradies des „ Sozialismus “ - in Israel verdient ein ungelernter arabischer Taglöhner rund 1.600 Dollar - , ist es niemand übel zu nehmen, daß er den Tag lieber mit Kartenspiel und Opiumpfeife verbringt. Die Palästinenser haben Israel nicht unter Zwang verlassen. Israel hat die Palästinenser, die im Land blieben, nicht verfolgt, es hat sie weder unterdrückt noch gedemütigt. Daß sie sich nicht so schnell entwickelten wie die europäischen Juden und deshalb auch nur so wenige prominente Positionen einnehmen, ist kein Resultat der Diskriminierung. Gegenüber den asiatischen und afrikanischen Juden sind sie keineswegs benachteiligt; mit dem durchschnittlichen Araber anderer Länder verglichen, bilden sie eine Elite des arabischen Volkes. Das ist von größter Bedeutung, da es das Charakteristikum des Exilierten ist, daß seinesgleichen in der Heimat mißhandelt wird. An der Flüchtlingsmisere ändert das nichts. Wer sich im Lager von Jericho umgesehen hat, braucht seine Phantasie nicht zu bemühen. Aber Jericho liegt nicht auf israelischem Boden. Die Ungeheuerlichkeit, die den Kindern der Panik zugefügt wurde, wurde ihnen von den arabischen Staaten zugefügt. 120 Millionen Araber verweigerten ein paar 100.000 Arabern eine menschenwürdige Existenz. Neben Nahrung und Unterkunft erhielten die Palästinenser etwas, was dem versuchten und verführten Menschen fast so lieb ist wie das tägliche Brot. Dieser Mensch will nicht nur leben, er will auch töten. Arabische Lastwagen bringen keine Lebensmittel, sie bringen Waffen in die Lager der Palästinenser. Die meisten Araber in den Diensten der UNWRA gehören einer Terrororganisation an. Träten sie ihr nicht bei, wären ihre Tage gezählt. Bleiben die Kinder der Palästinenser zu rund 30 Prozent Analphabeten, so sieht sie doch jeder Fernsehzuschauer in Europa oder Amerika täglich beim eifrigen Handstand oder bei der noch amüsanteren Waffenübung. Nie, kein einziges Mal haben die Vereinten Nationen dagegen protestiert, daß unter ihrer Ägide eine Armee ausgebildet wird. Die Friedensorganisation finanziert Übungslager des Krieges. Der Heuchler auf Jordaniens Königsstuhl, der den kommunistischen Einfluß fürchtet, aber im Ziel der „ Ausrottung der Israelis “ mit ihnen übereinstimmt, schrieb 1969 die Sunday Times: „ Die Fedajins stellen den kämpfenden Teil der 170 Besuch in Jerusalem palästinischen Nation dar. “ Im gleichen Jahr betonte der Ministerpräsident des „ neutralen “ Libanon Abdullah al-Yafi: „ Wir unterstützen die Tätigkeit der Fedajin, sie ist legal. “ Die arabische Befreiungsfront wurde im Irak geschaffen. In Kuwait und Saudi-Arabien werden fünf Prozent von den Gehältern der dort lebenden Palästinensern an die Fatah abgeführt: auf alle Theater- und Kinokarten gibt es einen zweiprozentigen Zuschlag zugunsten der Terroristen. Die beste militärische Ausbildung erhalten die Palästinenser in Algerien; der Sudan und Libyen finanzieren sämtliche Guerilla-Organisationen; die Waffenlieferungen Syriens reichen weit über die Landesgrenzen. Mitleid mit Flüchtlingen ist ein humanes Gefühl, Mitleid mit Terroristen eine Ironie. Hilfe für Flüchtlinge ist eine Friedensaufgabe, Hilfe für Terroristen eine Kriegserklärung. Gerade weil es zehnmal mehr Flüchtlinge als Terroristen geben mag, müßte der Flüchtlingsstatus neu formuliert werden. Nicht der Verlust der Lebensmittelkarte, sondern die Mitgliedskarte einer Terrorgruppe sollte entscheiden, wer Flüchtling und wer Terrorist ist. Die arabischen Machthaber verhinderten die Zählung der Friedfertigen und damit eine allmähliche, für die Israelis wie für die Palästinenser annehmbare Lösung. Im Artikel 18 der Konvention - Al-mitthaq al-watani al-falastini, so der arabische Name - heißt es: „ . . . die Existenz Israels ist als illegal zu betrachten. Die Verteidigung Israels ist deshalb genauso illegal wie eine Aggression, der Kampf gegen Israel ist legal. “ Artikel 21 besagt: „ Das arabisch-palästinensische Volk lehnt jede Lösung ab, welche die totale Befreiung Palästinas mit welchem anderen Vorschlag auch immer ersetzen will . . . “ Artikel 6 schließlich enthüllt die Lügenhaftigkeit, mit der Arafat und Habasch im Ausland von einem Zusammenleben mit den Juden im „ befreiten “ Palästina sprechen: „ Nur jene Juden werden als Palästinenser anerkannt, die vor der zionistischen Invasion “ - als Invasionsdatum wird das Jahr 1917 angegeben - „ ständig in Palästina gewohnt haben. “ Mit einem anderen Wort: Die Palästinenser wollen die Geschichte auslöschen. Mit einem zweiten Wort: Wer sich ihre Sache zu der eigenen macht, will Israel auslöschen. Nichts unter dem Zwang der großen Mächte und der kleinen Terroristen, alles unter dem Zwang der Liebe und des Mitleids! Das allein entspricht der jüdischen Tradition. Recht zu haben entbindet nicht von der Pflicht, Gutes zu tun. Je mehr Palästinenser, die in Israel friedlich leben wollen, Israel aufnimmt, desto schwerer wird es einer feindlichen Welt fallen, den Vernichtungskrieg gegen das Land der Juden zu predigen. Die Habes waren auf dem Weg nach Be ’ er Scheva in der israelischen Wüste, dem Negev. Dabei sahen sie den jährlichen Dreitagemarsch, ein endloser Zug junger Menschen. Sie sahen nicht wie Hippies aus, aber ihre Kleidung war fröhlich, bunt, unkonventionell. In diesem Jahr fielen nur 32 aus von siebzehntausend. 171 Besuch in Jerusalem Be ’ er Scheva wurde am 22. Oktober 1948 von den Israelis genommen. Heute ist Be ’ er Scheva die fünftgrößte Stadt Israels. In einem alten Prospekt - drei Jahre alt - steht: 60.000 Einwohner. Heute sind es 75.000. Immerhin hatten, neben König David, auch die Ägypter die Bevölkerung gezählt. Damals hatten 3.000 Menschen in der Wüstenstadt gedarbt. Die Habes hielten im Desert Inn. Die Zimmer waren elegant möbliert mit Blick auf den Swimmingpool. Die Bar hieß „ Zelt des Scheichs “ . Man konnte Pferde oder Kamele zum Reiten mieten. Die Kellner sahen aus wie Stewards. In der Saison spielte eine Tanzkapelle. Zur wichtigsten Devisenquelle Israels zählt nach dem Export von Zitrusfrüchten der Tourismus. In den letzten Jahren wurden fast 70 neue Hotels gebaut, 49 davon vergrößert. Da der Bürgermeister gerade in Tel-Aviv weilte, empfing seine schöne Frau die Habes zum Tee und vertraute sie danach der Obhut Dita Nazors an. Sie spielte eine führende Rolle in der Stadtverwaltung. In vierundzwanzig Stunden hatten die Habes eine Freundin gewonnen. Die Habes liebten Dita Nazor, weil sie Israel liebten: Dita Nazor ist Israel. Sie stammte aus Brünn (Brno), von wo alle Wiener stammen, die nicht zufällig, wie Licci, in Preßburg (Bratislava) geboren wurden oder wie Habe selbst, in Budapest. Jung kam Dita Nazor nach Israel, sie studierte. Obwohl Dita Nazor immer noch eine junge Frau war, war Be ’ er Scheva damals noch immer nicht viel mehr als ein Dorf. Sie hatte die Neustadt wachsen gesehen, Stein für Stein, Haus für Haus. Sie zeigte den Habes das Bürgermeisteramt, ein schlichtes Gebäude. Später, als sie in eine Beduinensiedlung hinausfuhren, mußten sie durch die Industriegegend. Be ’ er Scheva ist eine der größten Industriestädte des Landes mit Kalisalzen, Kaolin, Keramik, Mühlen, Spinnereien, Baumaterialien, Stricken, Möbeln, Zigaretten. Sie kamen an einem Gelände vorbei, auf dem Tausende von Klosettschüsseln standen, wie Sparbüchsen in einem Souvenirladen sahen sie aus. Dita Nazor sagte, daß übrigens jetzt zum ersten Mal eine Industrie aus Tel Aviv nach Be ’ er Scheva übersiedelt ist. Nach einer Stunde mit Dita Nazor wußte Habe, was Pioniergeist heißt. Schwarzer Rauch von unzähligen Schornsteinen lag über dem Industriegelände. Obwohl Zeira, Zeira-Steiner aus Wien und Haifa, bedächtig fuhr, wie immer, waren die Habes in fünf Minuten auf freiem Land, mitten unter den schwarzen Zelten der Beduinen. „ Ich werde vorgehen, vielleicht kann ich es richten “ , sagte Dita Nazor, „ vielleicht empfängt uns einer der Häupter des Stammes. “ Rund 30.000 Beduinen leben in Israel, sie gehören wie die Drusen zu den treuesten Bürgern des Landes. Der älteste Sohn des Chiefs zeigte den Habes die Wohnung, welche die Familie demnächst beziehen wird. Ein ganzes Dorf im Rohbau. Hübsche Einfamilienhäuser, Geschäfte unter Arkaden. „ Hier werden wir unseren Laden 172 Besuch in Jerusalem haben “ , sagte der Sohn des Scheichs. Dita Nazor übersetzte sein Hebräisch ins Deutsche. Der Vater war von ungewissem Alter: hochgewachsen, dürr, Adlernase und Adelskopf. Er lud die Habes mit einer Geste voll Grandezza in sein Zelt ein, hinter dem Haus, auf dem freien Feld, doch wirkte das Feld jetzt nur noch wie ein Garten und das schwere Zelt nicht viel anders als die Indianerzelte, die wohlhabende Kinder im Park ihrer Eltern aufpflanzen. Die Chance, daß der Vater ins Haus ziehen würde, sah der Sohn eher pessimistisch - der „ Chief “ kam bis jetzt ohne Elektrizität und fließendes Wasser aus, er legte auf derlei Äußerlichkeiten keinen Wert. Er breitete einen Teppich aus und etwas, das einer Matratze glich, wurde den Habes zum Sitzen angeboten. Zeira hatte wegen seines Bandscheibenleidens keine große Lust, sich kreuzbeinig niederzulassen. Dita Nazor überredete ihn, am Ende tat er es doch. Es lebe die Zusammenarbeit mit den Beduinen. Die Zeremonie des Kaffeemachens konnte beginnen. Fünf oder sechs Kinder halfen dem Vater, schleppten Holz herbei, machten Feuer, holten Kaffeetässchen, die sie wuschen. Leider wuschen sie dabei auch ihre schwarzen Hände. Licci flüsterte Dita Nazor zu, ob sie den Kaffee trinken müßte. Sie mußte. Die Kaffeeproduktion dauerte eine volle Stunde, vom Stampfen der Kaffeebohnen bis zur dampfenden Tasse. Die Gasfreundschaft war nicht äußerlich. Die Habes fanden Zeit, sich zu unterhalten, trotz der doppelten Übersetzung. Bis jetzt hatten die Habes keine Frauen gesehen. Man kochte Kaffee für fremde Frauen. Die eigenen waren nicht zur Kaffeestunde geladen. Als die Habes gingen, begegneten sie den beiden Frauen des Gastgebers. Er hatte nur zwei, er hätte mehr haben können. Die Vielweiberei ist in Israel verboten, aber wer schon vor der Staatsgründung mehrere Frauen hatte, durfte sie behalten. Demokratie ist Kompromiß. Die beiden Frauen waren nicht verschleiert, sie waren nur schwarz vermummt. Fast alle Beduinenfrauen trugen schwarz. Mit freundlich kuriosem Neid betrachteten sie Licci in ihren Pepitahosen. Sie wollten auch die Ketten um ihren Hals sehen. Sie werden in den Geschäften arbeiten und die Wohnungen mit Elektrizität und Wasserleitung beziehen. Es dürfte sich für eine Weile ein ziemliches Hin und Her abspielen zwischen Haus und Zelt. Die Frauen sind fortschrittlicher als die Männer - um das zu wissen, bedurfte es allerdings keines Besuchs in einem Beduinendorf. Der Frohsinn des Fortschritts kommt vom Trübsinn der Unterdrückung. Die Geschäftsstraße war eine geschäftige Straße. Zeira fand schwer einen Parkplatz. In den Geschäften der WIZO, der tapferen israelischen Frauenorganisation konnte man entzückende israelische Arbeiten finden, Silbergegenstände, Eilatsteine. Der Fremde ist nicht enttäuscht, aber Luxus ist ein Luxus, den sich die Israelis nicht leisten können. Einförmiges Grau lag über den Läden. Fast alles, was zum täglichen Leben gehört, ist billig, besonders jene landwirt- 173 Besuch in Jerusalem schaftlichen Produkte, deren Preise durch staatliche Subventionen kontrolliert sind. Dita Nazor hatte die Habes zu einem „ Drink “ nach dem Abendessen eingeladen - eine Façon de parler, da sich die Tische unter den belegten Brötchen, Kuchen und Sandwiches bogen. Sie und ihr Mann, einer der angesehensten Bürger der Stadt und Oberst der Reserve, hatten Nobilitäten Be ’ er Schevas eingeladen, darunter mehrere Ärzte des Central Negev Hospitals, das mit 420 Betten zu den modernsten des Landes gehörte. Der Chefarzt, ein berühmter Chirurg ungarischer Herkunft, kam spät. Unterdessen wußte man, warum die Hubschrauber Be ’ er Scheva überflogen hatten. Palästinenser im Gazastreifen hatten eine Bombe gegen einen Autobus geworfen. Wie gewöhnlich, war sie nicht dort explodiert, wo es die Terroristen geplant hatten. Die Juden blieben unverletzt, ein arabisches Kind wurde getötet, fünf Kinder waren schwer verletzt. Die Hubschrauber der Armee hatten keinen Israeli, sondern die arabischen Kinder ins Spital geflogen. Der Chefarzt hatte bis zehn Uhr operiert. Später, als Habes „ Zweite israelische Ode “ in einer israelischen Zeitung erschien, wurde er vor „ Übertreibungen “ gewarnt. Leser meinten, das seien doch die allzu rosigen Eindrücke eines Fremden. Neben den Arabern, sagten die Israelis, würden sie von der Zufriedenheit bedroht. Der analytische Geist der Juden warnte sie vor übertriebenem Enthusiasmus. Es kann auch sein, das ihre Selbstkritik eine Folge der arabischen Nachbarschaft ist. Arabische Selbstüberschätzung resultierte in jüdischer Selbstunterschätzung, arabische Prahlerei in oppositioneller Bescheidenheit. Die Unterhaltung bewegte sich auf einem Niveau, wie man es in keiner Provinzstadt der Erde fand, mit Ausnahme der Schweiz. Israel ist ein Land ohne Provinzialismus. Die Palästinenser versuchten nicht nur die Israelis, sondern auch die friedlichen Araber zu terrorisieren. Diese befanden sich in einer verzweifelten Lage. Wenn sie Terroristen beherbergten, bekamen sie es mit den Israelis zu tun, wenn sie sich weigerten, bekamen sie es mit den Guerillas zu tun. Mit einer wahren Kollaboration konnten die Fedajin fast ausschließlich bei jenen Arabern rechnen, die in Grenzbezirken wohnten und den Terroristen nur für eine Nacht aufnahmen oder nur für kurze Zeit versorgen mußten. Die unabhängige Tageszeitung Haaretz hat mit der Nouvelle Vogue des Extremismus und der Kriminalität so wenig Sympathien wie die religiöse Zeitung HaTzofe, das Gewerkschaftsorgan Davar so wenig wie die konservative Jedi ‘ ot Acharonot oder die weitverbreitete Ma ‘ ariw. Die Juden befolgten das schöne Wort Walt Whitmans: Den Staaten, oder jenen von ihnen, oder jeder Stadt in den Staaten: Widerstehet viel und gehorchet wenig! 174 Besuch in Jerusalem Da Dita Nazor auch der neuen Universität von Be ’ er Scheva angehörte, holte sie nach dem Frühstück die Habes zu einem Besuch an der Universität ab. Die Universitätsgebäude, zum Teil unvollendet, lagen in der sengenden Wüstensonne. Daß noch überall gehämmert wurde, störte die Lehrer und Studenten kaum. Als vor nicht ganz fünf Jahren die ersten Räume fertig gestellt waren, gab es fünfzig Studenten, 1971 waren es über 1.700, bis zum Ende des Jahrzehnts sollten es an die 10.000 werden. Zum Abschied brachte Dita Nazor Habes Frau eine Rose aus ihrem Garten. Rosen im Negev. Sie winkte mit beiden Händen. Sie sahen noch lange ihre winkenden Hände. Habe war von Tel Aviv in den Süden nach Eilat geflogen, das der Auslöser für den Sechstagekrieg war. Nachdem der Suezkanal, entgegen dem UNO-Beschluß von 1951, für Israel geschlossen worden war, wurde Israel nun, auch entgegen den Beschlüssen der Vereinten Nationen vom Süden blockiert. Denn die erneute Sperrung der Straße von Tiran für israelische Schiffe und den internationalen Schiffsverkehr von und nach Eilat schnitt den Hafen von den internationalen Seewegen ab. Zugleich erklärte Syriens Verteidigungsminister Hafiz al-Assad: „ Unsere Vorbereitungen für die Aggression sind abgeschlossen. “ Radio Kairo schilderte die Situation: „ Angesichts der Blockade des Golfs von Akaba stehen Israel zwei Möglichkeiten offen, beide blutgetränkt. Entweder stirbt Israel im Würgegriff der arabischen militärischen und wirtschaftlichen Blockade, oder es stirbt im Kugelregen der arabischen Kräfte, die es vom Süden, Norden und Osten umfassen. “ Israel wählte das Leben. Die von der UNO sanktionierten Abmachungen von 1956 haben den Israelis die Zufahrt nach Eilat garantiert. Am 23. Mai 1967 wurde die Straße von Tiran gesperrt. Die United Nations Emergency Force sollte zwischen den zwei Gegnern stehen. Ein Wink Nassers genügte und U-Thant gehorchte. Die UN-Truppen zogen ab. Ob die Sowjets den Arabern eine neue Aggression gestatten oder befehlen, hing allein von ihrer Einschätzung gegenüber den Vereinigten Staaten ab. Die Chance der Fehlspekulationen und Mißkalkulationen war enorm. Es könnte sein, daß Moskau meint, ein zweites Mal würden die Araber Israel auch ohne direkte militärische Hilfe der Sowjetunion besiegen können. Da aber auch ein zweites Mal die Araber barfuß durch die Wüste laufen würden, müßten die Russen dann doch eingreifen. Der Dritte Weltkrieg stünde vor der Tür. Es könnte sein, daß die Sowjets glauben, die Vereinigten Staaten würden sogar einer direkten, sowjetischen Aggression tatenlos zusehen. Dafür gibt es Anzeichen. Es vergeht kein Monat, ohne daß der sowjetische Staatschef, der russische Ministerpräsident oder Außenminister auf einem Flugfeld einen arabischen Potentaten auf beide Wangen küßte. Es könnte auch sein, daß die allmähliche, und sei es auch nur ungewollte Zerstörung der NATO durch die Ostpolitik der Regierungen Brandt, Pompidou und Colombo die Russen in dem Glauben wiegt, die USA vermögen das 175 Besuch in Jerusalem Mittelmeer nicht mehr zu verteidigen, selbst wenn sie es wollten. Halb Europa stolperte blindlings in die sowjetische Unsicherheitskonferenz. Indes pflegen die Amerikaner, nicht sehr phantasiebegabt, nur nach einem Pearl Harbor aufzuwachen. Es könnte aber schließlich auch sein, daß die Sowjetunion just den Fehler begeht, nur mit Washington zu rechnen und Israel außer Acht zu lassen. Vielleicht denkt man in Moskau, Israel würde vor sowjetischen Truppen kapitulieren, ohne, bevor es in den Tod geht, nicht Kairo oder Amman, sondern Leningrad und Moskau anzugreifen. All diese Fehlspekulationen und Mißkalkulationen können morgen zum Dritten Weltkrieg führen, den die Sowjetunion, ihrer Niederlage gewiß, vermeiden möchte. Nur außerhalb Israels herrscht der Aberglaube, die Araber würden sich mit der Herstellung des Status quo vom Mai 1967 zufrieden geben. Wäre es so, hätte der Sechstagekrieg nicht stattgefunden. So lange Israel lebt, schwebt es in Lebensgefahr, so lange es lebt, wird es in Lebensgefahr schweben. Im Gazastreifen sind seit dem Sechstagekrieg etwa siebzig Israelis getötet worden, etwa tausend wurden verletzt. Beträgt sie Zahl der getöteten Araber - fast ausschließlich Opfer ihrer eigenen Terroristen - mindestens das Dreifache, so ist die Bilanz für die Araber mit ihrem unerschöpflichen Menschenreservoir doch höchst günstig. Israelis und Araber messen nicht mit den gleichen Maßen. Der israelische Dichter Schalom Ben-Chorin hatte geschrieben, Gott habe dem Menschen verboten, Bildnisse zu machen, „ denn ICH, der Herr mache selbst die ,Bildnisse ‘ , in der Wüste, auf Meinem Berge. “ Da ist sein Berg, der Berg Sinai, der Berg Mose und der Zehn Gebote. Auf ihm wurde das Gesetz gegeben, das einzige, das noch gilt, alle anderen Gesetze sind verwässerte Versionen. Die Klagemauer, die Omar-Moschee, Bethlehem - heilige Stätten, doch sind es zugleich Übersetzungen der Handschrift Gottes, hier ist das Original, die eigene Handschrift. Habe dachte: Keine Macht der Welt hat das Recht, den Juden Jabal Moussa streitig zu machen, den Berg Mose. Blutgefärbt war das Rote Meer 1956 und 1967. Habe dachte an die Golanhöhen. Dort hatte er verstanden, was man in Ascona und New York, in Paris und Tokio nicht verstehen kann. Landkarten zeigen nicht die Schlagadern eines Volkes, die Lifelines, wie die Engländer sagen. Die Wüste läuft in einem spitzwinkeligen Dreieck aus. Am östlichen Schenkel, beinahe an der Spitze, liegt der winzige Hafen Scharm el-Scheich. Im Osten, so nahe, als könnte es mit der ausgestreckten Hand die Halbinsel fassen - Saudi-Arabien. Gibt Israel Scharm el-Scheich auf, gibt es sich selbst auf. Im Sechstagekrieg hatte die israelische Admiralität im Juni gemeldet: MTB Schwadron in Scharm el-Scheich eingetroffen. Israelische Flagge gehißt. Krieg um Eilat, Frieden in Eilat. Lange Hotelreihen am Badestrand, die Zebrarücken der Badekabinen, Sonnenschirme, Kinder bauen Sandburgen, 176 Besuch in Jerusalem Bikinis, ein paar Soldaten legen ihre Uniformen auf einen Felsen, Picknickkörbe: Israelische Riviera. Fast keine Stadt Israels entwickelte sich so rasch wie Eilat, trotz des widrigen Klimas, im Sommer ist die Hitze beinahe unerträglich. Heute 14.000 Einwohner, in vier fünf Jahren rechnet man mit 30.000. Das Spital ist nach dem Sechstagekrieg aus dem Sand gewachsen. Das Theater spielt jeden Tag, für 14.000 Einwohner. Habe sah sich das Programm an: ein Stück von Shaw, ein Stück von Arthur Miller, ein Operngastspiel mit „ Traviata “ . Das Ozeanische Museum, das Kulturzentrum - amerikanische Gewerkschaften ließen es bauen, Freunde der israelischen Gewerkschaftler. Bald wird sich der Wüstenhafen selbst ganz mit Wasser versorgen. Habe aß in einem Hotel am Strand. Nachher zündete er sich eine Zigarette an. Sofort eilte ein Kellner herbei: „ Rauchen ist heute verboten. “ Er hatte vergessen, daß Sabbat war. 177 Besuch in Jerusalem BESUCH IN TEL AVIV Ein eigenes Kapitel hat Habe Tel Aviv gewidmet. Die Stadt war um die Jahrhundertwende nicht viel mehr als ein Wüstendorf nördlich der arabischen Stadt Jaffa gewesen, welche die Juden Y ā f ō nannten. 1906 schloß sich eine Gruppe von Juden, darunter Bewohner von Jaffa, zur Heimstatt-Gesellschaft (Ahuzat Bayit) zusammen. Ziel war es, ein hebräisches urbanes Zentrum in einer gesunden Umgebung zu schaffen, das nach den Regeln der Ästhetik und moderner Hygiene geplant werden soll. Die ersten 60 Grundstücke kaufte Jacobus Kann, ein Niederländer, der damit das türkische Gesetz umging, nach dem es Juden nicht erlaubt war, Land zu erwerben. Meir Dizengoff, später Tel Avivs erster Bürgermeister, schloß sich ebenfalls der Ahuzat Bayit Gesellschaft an. Diese jüdischen Siedler begannen 1909, nach dem Muster europäischer Vorstädte, eine neue Stadt zu bauen, die sie 1910 Tel Aviv nannten. Tel Aviv war als unabhängige hebräische Stadt mit breiten Straßen und Boulevards, umfassender Wasserversorgung und nachts beleuchtet mit Straßenlampen geplant. Der Name „ Tel Aviv “ ist einer poetischen Übersetzung des Titels des utopischen Romans Altneuland von Theodor Herzl entliehen. Darin steht „ Tel “ (vielschichtiger Siedlungshügel) für „ alt “ und „ Aviv “ (Frühling) für „ neu “ . Die hebräische Übersetzung von Theodor Herzls Buch Altneuland ist nämlich poetischer als das Original: Altneuland, Tel Aviv, Hügel des Frühlings. Nachdem bereits nach fünf Jahren Tel Aviv eine Fläche von über einem Quadratkilometer einnahm, schritten die osmanischen Herrscher 1917 gegen das Wachstum der Stadt ein und vertrieben die Juden aus Jaffa und Tel Aviv. Erst Ende des 1. Weltkrieges, nachdem die Osmanen besiegt waren und die Briten die Kontrolle über Palästina übernahmen, war es Juden gestattet in ihre Häuser zurückzukehren. Dann aber wurde Tel Aviv beinahe gleichbedeutend mit Palästina; hier betraten fast alle Pioniere zum ersten Mal das gelobte Land. Als General Lord Allenby Palästina von den Türken befreite, begrüßten ihn die wenigen jüdischen Einwohner von Tel Aviv. In seinen Erinnerungen beschreibt er, wie er einige Jahre später statt eines Dorfes eine Großstadt fand. Er spricht von dem „ unglaublichen Tel Aviv “ . Mit beinahe 390.000 Einwohnern war Tel Aviv damals die größte Stadt Israels. Heute ist es nach Jerusalem die zweitgrößte Stadt Israels. Eine der bedeutsamsten Straße ist nach Lord Allenby benannt. Oft hatte Habe auf der Überfahrt zu seiner Frau gesagt: „ Ich kann nicht gut ein Inserat in die Zeitung setzen: ,Freundin Magda gesucht. ‘“ Magda war eine Freundschaft Liccis, aus der Zeit, als Licci noch in Budapest spielte. Magdas Mann war gestorben und sie war nach Israel ausgewandert. Wie sie jetzt hieß, wußte Licci nicht. „ Magda, das ist ein bißchen wenig “ , sagte Habe und dabei blieb es. Licci hatte einen Pelzmantel nach Israel mitgebracht; es sollte dort, hieß es, besonders tüchtige Pelzmacher geben, die aus einem nicht mehr ganz modernen Breitschwanz den allermodernsten machten. Was die Habes gehört hatten, sei ausnahmsweise richtig, hatten die Kieslers in Haifa gesagt, es gäbe viele Prinzen unter den Pelzmachern Israels, der König aber residiere in Tel Aviv, er heiße Stephan Braun. So schleppten die Habes den Pelz nach Tel Aviv. Jedermann in Tel Aviv kannte Stephan Braun. Die Habes fuhren in die Allenby Street, fanden ein kleines Palais und läuteten an. Und dann sah Habe nur noch zwei Frauen, die sich schluchzend in den Armen lagen. Magda war Directrice bei Stephan Braun. Kaum aber hatten Licci und Magda ausgeschluchzt, schluchzten auch schon Licci und Stephan Braun selber. Sie hatten die gleiche Schulbank gedrückt, in Preßburg. Nicht nur der Pelz geriet in Meisterhände. Unter Stephan Brauns Ägide waren die Habes mitten im Leben Tel Avivs. Habe hielt einen Vortrag im Writers House und er las aus seinen Büchern im HaGesher Theater. Die Habes aßen mit dem aus Wien stammenden Pressechef der Regierung, David Landor, der seinerseits die Chefredakteure der führenden Tageszeitungen eingeladen hatte. Habe sprach im Hilton mit einem Dutzend von Reportern. Anregende Stunden verbrachten die Habes mit dem holländischen Rektor der Universität, André de Vries. Nicht zuletzt sprachen sie im Verteidigungsministerium mit dem aus Bulgarien stammenden Sprecher der Armee Oberst Caleff. Habe traf den Übersetzer seiner Bücher und erst dann gingen sie auf Entdeckungsreise. Die Geschäftsstraßen ein Stück altes Wien, Handel mit Wandel, Eile mit Weile, Geschäft mit Gemütlichkeit. Das Café Ritz ein Stück altes Budapest, Literatur mit Humor, Kunst mit Schmus, Kultur mit Koketterie. Dizengoff- Platz, leuchtende Springbrunnen, hier tanzte man am Wochenende. Namen, die man kennt. Habima-Platz mit dem jüdischen Nationaltheater. Das Helena- Rubinstein-Museum für Moderne Kunst - vor wenigen Jahren waren die Habes noch im Penthouse der Rubinstein in New York gesessen unter den Bildern mexikanischer Primitiven, sie verstand von Kunst so viel wie von Kosmetik. Der Rothschild Boulevard und die Balfour Street. Die Kaffeehäuser auf der Dizengoff-Straße - der Name kehrte immer wieder, denn Dizengoff war eine Legende. Die Restaurants waren gepflegt, aber ohne Glanz, mit fast keinen Preisunterschieden. In den Geschäften gab es alles, was man braucht, aber nichts Überflüssiges. Die Männer und Frauen waren gut angezogen, aber bescheiden. Man könnte glauben, daß sie alle derselben Klasse angehören, daß es hier keine Armen gäbe und keine Reichen. Habe hatte dies mit einem kurzen Satz alles auf den Punkt gebracht: Israel hat die Seele einer Demokratie und das Aussehen einer Volksdemokratie. 180 Besuch in Tel Aviv Ich selbst erinnere mich, daß bei meinem ersten Besuch in Israel, dieses äußerliche Aussehen einer Volksdemokratie geradezu verstörend auf mich gewirkt hatte, bis ich, je länger je mehr das Gegensätzliche dazu, im Geistigen erkannte, das über das Politische der Demokratie weit hinausging. Die Abschaffung von Privatinitiative und Privatbesitz resultiert in jener „ Arbeit ohne Unternehmergeist “ , der nach Theodor Herzl keine Zukunft beschieden ist. Israel verwirklichte den Arbeiterstaat mit Unternehmergeist; es hat vom Sozialismus und Kommunismus genau so viel importiert, wie es dem kleinen Staat zuträglich ist. Es braucht nicht zu verstaatlichen, da es vom Staatsbesitz ausgeht; es verhindert die Kapitalbildung nicht von einem willkürlichen Zeitpunkt an, sondern von vornherein; es requiriert nicht Produktionsmittel, sondern stellt sie, je nach den Gegebenheiten, dem einzelnen zur Verfügung. Es fördert den Ehrgeiz und unterdrückt den Neid. Es hat erkannt, daß der Mittelstand kein Schimpfwort ist, wie der Begriff verräterischer Weise sowohl von den hochkapitalistischen als auch von den kommunistischen Staaten gebraucht wird. Die Löhne stiegen 1971 um zehn Prozent, der Verbrauch stieg nur um etwa drei Prozent. Trotz einer gewaltigen Expansion gab es nur eine geringe Erhöhung des Zahlungsmittelumlaufs, wenige Gastarbeiter und keine nennenswerte Zahl von Arbeitslosen. Das Wunder der israelischen Wirtschaft besteht in der Erfindung des Besitz-Sozialismus. Das aber ist die politisch-humane Seite des israelischen Sozialismus, das ist die atmosphärische: Man versteht sie in den Straßen von Tel Aviv. Der kommunistische Staat muß einen Zwang ausüben, weil er sich in einer Zwangslage befindet. Um die Privatinitiative zu unterdrücken, genügt es nicht, die Produktionsmittel zu enteignen. Da die Privatinitiative ein menschlicher Urinstinkt ist, muß der kommunistische Staat, will er sich gegen die menschlichen Instinkte durchsetzen, auch die Freiheit enteignen. Daß Alexander Solschenizyn in der Sowjetunion nicht publizieren durfte, ist keine Parallelerscheinung des Kommunismus, sondern seine logische Folge. Der Sowjetstaat muß seine Jünger einsperren, er hat keine Wahl. Wo hingegen der Staat die Privatinitiative nicht unterdrückt, sondern nur den Profit kontrolliert wie im sozialistischen Israel, da gehört zwar die Kritik der Regierung zum täglichen Brot, aber es besteht kein ernsthafter Zweifel am System. Heile Welt und heile Wirtschaft sind nicht kongruent, aber ähnliche Größen. Freilich hängt das auch alles mit dem Charakter des Volkes zusammen, dessen Existenz die moderne Soziologie hartnäckig verneint. Habe war ein Konservativer in Europa und ein Sozialist in Israel, nicht weil die israelischen Juden, sondern weil der israelische Sozialismus ein Sozialismus der Arbeitenden, nicht der Bürokraten ist, der Reformer, nicht der Revolutionäre, der Girondisten, nicht der Jakobiner, der Lebensfrohen, nicht der Asketen, 181 Besuch in Tel Aviv der Citoyens, nicht der Proletarier. Die Israelis sind Bürger der Welt, aber Enfants de la Patrie. Stephan Braun wollte Habe und seiner Frau das „ andere “ Israel zeigen. Er führte sie daher an einem Abend in das eleganteste Nachtlokal Tel Avivs. Es war ein Lokal wie viele andere, in Paris und Rom, in New York und Los Angeles, ein halbdunkles Lokal - je dunkler, desto eleganter. Das ist das Gesetz der Eleganz, ein teures Lokal, vorzügliches Essen, erlesene Weine; nur wenige junge Menschen. Offenbar das Lokal einer finanziellen Elite, also hübsche Frauen und müde Männer. Die Attraktion war der junge Dirigent und Sänger einer ausgezeichneten Band, ein nichtjüdischer Neapolitaner, der sich vor einigen Jahren, bei einem Besuch in Israel, in eine Sabra - eine in Palästina geborene Jüdin - verliebt hatte und in Israel geblieben war. Man sagte Habe, daß er Iwrith ohne Akzent sang, aber mit neapolitanischem Temperament. Man hörte dem Neapolitaner zu, man tanzte, gut gelaunt, aber etwas blasiert. Dann plötzlich änderte sich alles. Habe spürte es, aber er verstand es noch nicht. Der Sänger hatte den ganzen Abend vor seiner Kapelle gestikuliert, dann nahm er plötzlich das Mikrophon in die Hand, er bewegte sich auf die Mitte der Tanzfläche zu, seine Stimme klang wie eine Posaune, kein Schmalz mehr, eher Metall, und auf einmal sang das ganze Lokal mit, die Gäste stellten die Gläser nieder und die Kellner stellten die Flaschen nieder, und die Kellner sangen mit und die Besitzer und die Musiker, und in der Tür der Küche tauchten Köpfe auf, auch die Köche sangen mit und die sogar Putzfrauen. Habe verstand nur „ Oh, Jerusalem “ - es klang wie Oh, Jerusalem. „ Jeruschalajim schel Sahav “ , Jerusalem aus Gold. Naomi Schemer hatte das Lied im Sechstagekrieg geschrieben und komponiert, aber es ist kein Kriegslied, es geht auf die Sage vom Rabbi Akiba zurück, der die schöne Rachel heiratete, und weil sie arm waren, konnte er ihr nichts geben, er sagte ihr nur, daß er ihr das Schönste auf der Welt geben würde, Jeruschalajim schel Sahav, Jerusalem aus purem Gold. Die Fallschirmjäger hatten das Lied gesungen, die Matrosen und die Soldaten vor dem Sturm. Der Neapolitaner trug das Mikrophon vor sich her wie eine Fackel, er ging auf die Tische zu, die Menschen an den Tischen erhoben sich, kamen auf ihn zu; auch hier, in Tel Avivs exklusivstem Lokal, gab es keine Klassenunterschiede mehr, keine Altersunterschiede; es war nicht bloß, daß sie alle um ihre Kinder gebangt hatten, in den Tagen des Krieges, sie waren nicht nur stolz auf ihre Kinder, sie waren stolz auf sich selbst, denn sie waren es ja, die den Weg nach Jerusalem gebaut hatten, Jeruschalajim schel Sahav, Jerusalem aus purem Gold. Am nächsten Abend, es war ein Sabbat, wollten die Habes Jaffa bei Nacht sehen. Sie stiegen die steilen Stufen in das alte Jaffa hinauf. Habe dachte, daß man Israel nirgends näher sein könnte als in Jaffa. Da stand das Kloster von St. Peter, zu Ehren des Heiligen errichtet, der bei Simon abzusteigen pflegte. Das Haus des Simon aber, oder was davon übrig ist, stand nahe bei der kleinen Moschee, der ältesten Jaffas. Ein paar Schritte weiter 182 Besuch in Tel Aviv sah man den Hafen, der unter König Salomon der Hafen Jerusalems gewesen ist. Jaffa ist so etwas wie der Montmartre von Tel Aviv, aber es erinnert an Capri; ein Capri inmitten der Erinnerungen an das Alte und das Neue Testament, aber auch an den Koran. Das Seltsamste jedoch sind die Kaffeehäuser, die dicht nebeneinander, mit Blick auf den Hafen und Tel Aviv standen. Hier wagte man zu lachen, Alte und Junge - ein heiteres Land lag an der Bucht von Tel Aviv. Jaffa an diesem heißen Sabbat des Jahres 1970 war keine Enttäuschung. Da Habe kein Israeli war, brauchte er nichts von Archäologie zu verstehen. Er hätte es für vermessen gehalten, wenn er Masada und Qumran, die beiden Hochburgen der israelischen Archäologie, beschrieben hätte. Ihr Anblick überwältigte ihn. Was mächtig zu ihm sprach, war die Geschichte, waren nicht die Steine. Über die Geschichte hatte er dann auch packend geschrieben. Es war das Jahr 70 n. Chr., schrieb er, die Juden waren besiegt, Iudaea devicta, nur die Festung Masada trotzte noch dem Sieger aus Rom, 960 jüdische Zeloten widerstanden drei Jahre lang. Am Passahtag versammelte ihr Führer Eleasar ben Ja ’ ir aus dem Geschlecht der Juda von Galiläa, seine Getreuen um sich - Männer, Frauen und Kinder. Der berühmte römisch-jüdische Geschichtsschreiber Josephus Flavius, der noch in dieser Zeit gelebt hatte, sprach von einer „ melancholischen Aufgabe “ . Denn Eleasar sagte zu seinen Getreuen: „ Ungeschändet sollen unsere Weiber sterben, ohne die Knechtschaft gekostet zu haben unsere Kinder! Möge unser Sterbekleid der Ruhm sein: Sie haben sich die Freiheit nicht rauben lassen! “ Dann legten sie sich hin und ließen sich von ihren eigenen Männern töten. Die letzten zehn losten aus, wer neun von ihnen und zuletzt sich selbst töten sollte. (Der Selbstmord ist nach dem jüdischen Glauben eine besonders große Sünde.) Man hatte in Masada die Tonscherben gefunden mit den Namen der Helden, die ihre „ melancholische Aufgabe “ erfüllt hatten. Man steht auf den steilen Felsen von Masada und blickt hinaus auf den schmalen See, der den Namen das „ Tote Meer “ führt und am anderen Ufer war die jordanische Wüste. Nie wieder Masada? Die Auffindung und Ausgrabung von Masada ist das Werk des größten israelischen Archäologen: Professor Jigael Jadin. Professor Jadin hatte seinen Josephus Flavius besonders genau gelesen und war dadurch auf die Spur von Masada gekommen. Neben Golda Meir und Mosche Dajan ist Jadin die populärste Gestalt Israels. Generalmajor Jadin kämpfte im Israelischen Unabhängigkeitskrieg und war von Ende 1949 bis 1952 Generalstabschef der israelischen Armee. Danach widmete er sich wissenschaftlichen Studien und begann sein Lebenswerk in der Archäologie. Er grub in bedeutenden Stätten der Region, wie Qumran, Hazor, Gezer, Tel Megiddo und Masada aus. Masada hatte Jadin in nur elf Monaten freigelegt. Er schrieb später, es hätte unter normalen Verhältnissen für die Arbeit 26 „ archäologischer Jahreszeiten “ bedurft. 183 Besuch in Tel Aviv Unbezahlte Freiwillige aus 28 Ländern hatten geholfen: Alte und Junge, Christen und Juden, Gelehrte und Bauern sowie Studenten und Handwerker. Zwischen 1965 und 1991 wurden die Rekruten der israelischen Armee auf der Bergfestung von Masada vereidigt, die 2001 von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen worden ist. Masada ist bis heute eine der wichtigsten Erinnerungsorte für Israelis, da es als das Symbol für die Freiheit Israels gilt. Am Toten Meer, weiter nördlich gelegen, befindet sich auch der zweite Schatz Professor Jadins: Qumran. Hier haben vor 2.000 Jahren die Essener gelebt, eine jüdische Sekte, die sowohl von den Römern als auch von den Pharisäern verfolgt wurde. Sie haben die Schriftrollen vom Toten Meer verfaßt, neben der Bibel das wertvollste Stück jüdischer und frühchristlicher Geschichte. Diese wurden 1947 unter ungewöhnlichen Umständen aufgefunden. Um diese Zeit waren Towara-Beduinen auf ihrem Schmuggelgang nach Bethlehem. Zwei Hirtenjungen liefen einer verlorenen Ziege nach. Müde des hoffnungslosen Suchens in der Steinwüste, begannen sie, Steine in die Felslöcher zu werfen, sie hofften, die Ziege aufzuscheuchen. Sie stießen auf mehrere Krüge, die zu ihrer Enttäuschung kein Gold, sondern nur Rollen aus aneinander gehefteten Tierhäuten enthielten. In Bethlehem zeigten sie diese einem christlichen Hirten, der sich einige davon aneignete. Andere wurden nach langem Feilschen an den Metropoliten der Syrischen Kirche, Athanasius Yeshue Samuel, verkauft. Durch amerikanische Archäologen wurde der Vater von Jadin, Professor Eleasar Sukenik von der Hebrew University of Jerusalem, auf den Fund aufmerksam. Obwohl Bethlehem um diese Zeit heiß umkämpft war, machte er sich auf den Weg und erwarb die ersten Rollen für die Universität vom Antiquitätenhändler Kando. Dort stellte man fest, daß es sich um die ältesten hebräischen Schriften aus biblischer Zeit handelte. Der Metropolit seinerseits, floh im Unabhängigkeitskrieg nach Amerika und brachte sie nach Amerika, um sie dort per Zeitungsannonce zu verkaufen. Im Wall Street Journal fand der Sohn des israelischen Generals, Archäologen und Politikers Jigael Jadin nach Sukeniks Tod 1954 in New York die Anzeige: „ Biblische Handschriften zu verkaufen. Zumindest bis 200 v. Chr. datiert. Ein ideales Geschenk für erzieherische und religiöse Institutionen. “ Mit Hilfe eines New Yorker Papierfabrikanten konnte Jadin die Rollen für den Staat Israel erwerben. Sukenik war der erste, der eine Verbindung zwischen den Schriftrollen vom Toten Meer und den Essenern herstellte. Nachdem die Habes wieder in Jerusalem waren, sahen sie die Rollen im Israel-Museum, der größten Kultureinrichtung des Landes, das international zu den führenden Museen für bildende Kunst und Archäologie zählt. Es ist ein moderner Bau von Schönheit und Dimension. Hier gibt es die hebräischen Schriften der Maimonides-Synagoge und abstrakte Gemälde von Willem de Kooning, die Samson-Graphik Dürers und Festkleider jüdischer Frauen, 184 Besuch in Tel Aviv Spenden der Rotschilds und die Unterstützung der Errichtung des Gebäudes durch den deutschen Verleger Axel Springer als Wiederaussöhnung des deutschen Volkes mit dem jüdischen Volk. Springer ist neben Adenauer der populärste Deutsche in Israel. Zum Israel-Museum gehört aber auch ein seltsames Haus mit rundzeltartigem Dach, das „ Haus des Buches “ , das später in „ Schrein des Buches “ umbenannt wurde. Wegen der Bedeutung der Funde vom Toten Meer wurde die Errichtung dieses Bauwerkes anstelle der Einrichtung eines Innenraums im Israel-Museum beschlossen. Darin werden Originale und Faksimiles antiker Schriftrollen des Alten Testaments aufbewahrt, allen voran das Buch Jesaja - daher der Name Schrein des Buches. Auch enthält die Ausstellung weitere Fundstücke von Qumran am Toten Meer. Um die Rollen nicht dem Licht auszusetzen, leuchten die zylinderförmigen Glaskästen nur so lange auf, als man die Schriften bewunderte, die Rollen sind mit allen Mitteln der modernen Technik geschützt, aber man gelangt zu ihnen durch eine Art Grotte, gebaut aus den Steinen von Qumran, sodaß man hier vollends vergißt, in einem Museum zu sein: Erst im Schrein des Buches ist man wirklich am Toten Meer. Insgesamt sieben Schriftrollen hat man in Qumran gefunden, darunter die Gemeindeordnung der Essener mit einem Katalog der Sünden und ihrer Buße. Die nächste Station der Habes war Rehovot, südlich von Tel Aviv. Wo war man? Es ist schwer zu sagen. Man befand sich im Weizmann-Institut, dem Gehirn Israels. Warum dann nicht in Israel? Weil diese Gebäude mitten im Grün weder europäisch noch asiatisch sind, am ehesten amerikanisch, aber das auch nicht so recht. Sie scheinen aus der Hand eines kühlen Gottes gefallen zu sein, Produkte seines Gehirns, nicht seines Herzens. Alles, was man in Israel empfunden hat, an Emotion und Enthusiasmus, an Qualen und Zweifeln, an Seligem und Unseligem: Hier scheint es verstummt. Hier regiert der Zweck. Hier herrscht Luxus. Das Haus des Präsidenten könnte das Haus des Präsidenten der Republik sein, nur ist das Haus des Präsidenten der Republik weniger imposant. Dafür hat ja auch der Präsident des Instituts, Professor Albin Sabin, die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung erfunden. Die Gartenanlagen sind nicht wild und von Pionierhand gepflanzt wie sonst im Land, sind abgezirkelt wie auf einem Reißbrett, englischer Rasen, gepflegt wie in einem irischen Country Club, es sollte nicht wundern, wenn ein paar Damen auftauchten, hoch zu Roß, auf dem Weg zur Fuchsjagd. Man wundert sich zuweilen, daß der israelische Geheimdienst so viel über die Araber weiß und die Araber so wenig von Israel wissen. Am Eingang des Weizmann-Instituts passiert man mehrere diskrete Kontrollen, denn Israel lebt nach außen, das Gehirn Israels nach innen. Im schlichten Speisesaal - er ist nicht luxuriös, das wäre ja überflüssig - erzählte Shalhevet Freier, der stellvertretende Direktor des Instituts, ein junger, sympathischer Gelehrter, daß das Institut augenblicklich 450 Professoren und 450 Studenten habe. 185 Besuch in Tel Aviv Das Weizmann-Institut kann sich kein Temperament leisten. Es denkt für Israel. Es hat etwas von einer Wetterwarte auf dem Mond, von einem Laboratorium auf der Venus, von einem Feldherrnhügel auf dem Mars. Ganz Israel ist Vergangenheit. Das Weizmann-Institut ist die Zukunft. Auch im Gespräch mit Professor Freier - er hat, um sich administrativen Aufgaben widmen zu können, seine mathematische Karriere aufgegeben - wird deutlich: „ Wir können nur die Besten gebrauchen. “ Er sagte: „ Wir suchen nicht Gelehrte für unsere diversen Fakultäten - angewandte Mathematik, zum Beispiel, Elektronik, organische Chemie, Isotopenforschung, Atomphysik - , wir bauen Abteilungen um die Gelehrten. ‚ Was soll das heißen? ´ Wenn ein Forscher nachweisen kann, daß seine Arbeit Erfolg verheißt, wird eine Abteilung für ihn errichtet: Er hat keine andere Verpflichtung, als hier zu lehren. Momentan bauen wir eine Abteilung für zwei amerikanische Mathematiker. “ Die Studenten sind samt und sonders Postgraduates, sie haben also ihr eigentliches Studium hinter sich. Hier wird nichts Grundlegendes gelehrt, sondern Perfektion. Die meisten Professoren sind ehemalige Studenten, wenn man diese Studenten als Studenten bezeichnen kann. Ausländer? Eine beträchtliche Zahl. Befindet sich einer unter ihnen, der nicht Iwrith versteht, wird in seiner Klasse englisch unterrichtet. Auf solche Kleinigkeiten soll es im Weizmann-Institut nicht ankommen. Die Qualität der Zitrusproduktion Israels ist nicht zuletzt auf die Forschungen des Weizmann-Instituts zurück zu führen. Beim Mittagessen sagte Habe zu Professor Freier: „ Ich habe gehört, daß Sie aus Disteln Papier erzeugen. “ „ Was bleibt uns übrig? Sie wissen, wie wertvoll jeder Baum in Israel ist. Disteln haben wir genug. “ Irgendetwas hier mußte doch so sein wie auch anderswo. Also fragte Habe Professor Freier: „ Haben Sie Probleme mit den Studenten? “ Professor Freier sah ihn an wie ein Mondbewohner einen Erdengast: „ Probleme, was meinen Sie? “ Ein Studentenproblem nie gehört. Ein Problem hat man höchstens mit den Scheuerfrauen. Denn die Bücherei und das Buffet sind 24 Stunden geöffnet. „ Der Tag ist etwas kurz “ , erklärte darum Professor Freier. Habe konnte es nicht unterdrücken zu antworten: „ Na ja, das Weizmann- Institut wird das schon ändern. “ Woher kommen die Mittel des Instituts. Es brauchte damals etwa zehn Millionen Dollar im Jahr. Damals eine erstaunlich geringe Summe. „ Vieles bauen wir selber “ , sagte Freier bescheiden. „ Etwa eine Million bringen uns jetzt unsere Industrien ein. “ Gegenwärtig hat es etwa 200 Millionen Dollar zur Verfügung. Die Zuwendung des Staates Israel deckt etwa ein Drittel des Budgets. Der Restbetrag wird aus Fördermitteln für die Forschung, Spenden und Gewinnanteilen finanziert. 186 Besuch in Tel Aviv Habe erinnerte sich, daß sie beim Gang durch das Gelände an einer Reihe von Gebäuden vorbeigekommen waren, die auf Bronzetafeln, sehr amerikanisch - wohlbekannte Namen von Industrieunternehmungen getragen hatten. deutsche, englische, amerikanische Industrien hatten Aufträge an das Weizmann-Institut erteilt. Erfindet mal was. Dann erfand man eben. „ Man behauptet, der Sechstagekrieg sei im Weizmann-Institut gewonnen worden. “ Ein noch bescheideneres Lächeln Freiers: „ Das ist immerhin denkbar. “ Als die Habes das Institut verließen, kam der Chamsin - ein sehr trockener, heißer Wüstenwind - in heißen Wellen auf sie zu. Auf dem weiten Raum des Instituts hatten sie nichts von Hitze gespürt. War es dort immer kühl? Hatten sie vielleicht insgeheim eine Kühlanlage für die Natur erfunden? Nach einem Mittagessen, das Botschafter Avigdor Shoham gegeben hatte, im Hotel Intercontinental, einem einstmals jordanischem Hotel auf den Hügeln im Osten Jerusalems - gab es überaus aufschlußreiche Gespräche. Da der offizielle „ Gastgeber “ auch die Frau des Generaldirektors im Außenamt, Mrs. Raphael und Korrespondenten führender deutscher Zeitungen eingeladen hatte, machten sich die Habes erst nach dem Essen auf den Weg nach Bethlehem. 187 Besuch in Tel Aviv BESUCH IN BETHLEHEM Es war von den „ verwalteten “ Gebieten die Rede gewesen, nun waren die Habes wieder im besetzten Gebiet. Die Israelis - wieder nur eine Minderheit - argumentierten mit dem historischen Recht der Juden auf die eroberten Gebiete. Sie sagten: Nicht wir halten Hebron besetzt, die Araber hielten es unter Besatzung. Wir haben unser biblisches Land zurückerobert. Nirgends in den Gebieten, welche die Habes besuchten, spürte man die schwere Hand des Siegers. Es kam vor, daß sie stundenlang keinen israelischen Soldaten sahen. Sämtliche strengen Urteile, welche die Militärregierung fällte, waren Urteile gegen palästinensische Terroristen. Die besetzten Gebiete glichen noch lange nicht dem „ alten “ Israel. Die Felder waren zum großen Teil unbebaut oder spärlich kultiviert, die Dörfer verfallen und schmutzig, die Städte wuchsen nur langsam. Dennoch: überall Zeichen eines neuen Lebens. Kein Quadratmeter Land war enteignet worden, Regierungsbesitz arabischer Staaten nur dann, wenn er nachweisbar Juden weggenommen worden war. Wo früher mit dem primitivsten Pflug geackert worden war, da saßen jetzt Araber auf modernsten Traktoren. Dörfer, die Elektrizität nie gekannt hatten, verfügten zum Teil sogar über Straßenbeleuchtung; wo es noch kein warmes Leitungswasser gab, sahen die Habes gewaltige Warmwasserspeicher. Die arabische Industrie, in jämmerlichem Zustand, hatte zu blühen begonnen. In der Tabakfabrik von Al-Eizariya, wo pro Tag eine Tonne Zigaretten produziert worden war, wurden jetzt fünf Tonnen erzeugt. Die Israelis haben rund 30.000 Arabern in den verwalteten Gebieten Arbeit gegeben und sie verdienten dreimal so viel wie vorher. Am religiösen Leben hatte sich nichts geändert. Sämtliche 73 Moscheen des Gazastreifens sind geöffnet, ihre 191 Angestellten wurden von der Regierung bezahlt. Die Armen, die von Jordanien im Monat viereinhalb Kilogramm Lebensmittel erhalten hatten, bekamen von den Israelis zehn Kilogramm. Es war kein Zufall, daß die Städte allmählich beinahe israelisch wirkten: Für ihren Ausbau hatte Israel bisher über eine halbe Million Dollar zur Verfügung gestellt. In Ramallah ist die Zahl der Telephonanschlüsse von 600 auf rund 1.000, in Bethlehem von 480 auf 650, in Nablus von 1.500 auf 1.800 gestiegen. Habe hatte mit keinem Terroristen gesprochen, aber er hatte nicht den Eindruck, daß sie populär waren. Eine amerikanische Rundfrage ergab, daß sie außerhalb des Gazastreifens von rund 80 Prozent der Araber abgelehnt wurden, daß ihre Anhänger sich sogar am Suezkanal in der Minderheit befanden. Das ist jedoch eine Frage der Methode: Die Araber mißbilligten die Mittel, nicht den Zweck. Sowenig Habe einen Araber fand, der den Fortschritt in den besetzten Gebieten verneinte, so wenig fand er einen, der darin nicht gerade die größte Gefahr für die arabische Unabhängigkeit gesehen hätte. Wie ein Refrain kehrte der Satz zurück: „ Wenn die Israelis das tun “ - eine Geste in die Richtung des neuen Krankenhauses - , „ dann wollen sie bleiben. “ „ Wäre das so schlimm? “ Gesten der Verzweiflung. Die Araber, die den israelischen Jeeps nachblicken, sehen sich nach Mondmenschen um. Mit dem Feind kann man sich versöhnen. Nicht mit dem Fremden. Die Israelis, obwohl sie doch selbst leidenschaftliche Patrioten sind, wollten nicht verstehen, daß man Nationalismus noch nie mit Elektrizität besiegt hat. Am wenigsten auf einem fremden Planeten. Die Araber legten kein großes Gewicht auf Elektrizität. Im Schein der Glühlampe sehen sie die jüdische Überlegenheit klarer, ihre Minderwertigkeitsgefühle treten ans elektrische Licht. Unter keinen Umständen wollen sie Israelis sein, auch nicht unter den günstigsten. Daß das Problem mit der Zeit dennoch hätte gelöst werden können, ist kein Trost. In den ersten eineinhalbhalb Jahren der Besatzung entwickelte sich die Zusammenarbeit zwischen Toubas, wie man die Araber der Westseite, und Tajobas, wie man die Juden nennt, ungemein hoffnungsvoll. Aber ungefähr Ende 1968 hatten sich die arabischen Länder erholt, zur gleichen Zeit setzte die aggressive Expansionspolitik der Sowjets im Nahen Osten ein. Das aber sind genau solche Realitäten wie ein gewonnener Krieg. Es ist daher beinahe gleichgültig, ob eine Annexion der besetzten Gebiete möglich wäre. Israel kommt nicht zum Frieden, die Araber kommen nicht zum Fortschritt. Über dem Platz vor der Geburtskirche strahlt der Stern von Bethlehem. Kein Jude hat je daran gedacht, ihn zu entfernen. Die Israelis entfernten nur, was die christlichen Pilger jahrelang als freche Blasphemie empfunden hatten. Auf alten Postkarten ist es noch zu sehen: Bis zum Juni 1967 hing unter dem Stern von Bethlehem das Porträt König Husseins. Wahrscheinlich meinten die Jordanier, dies sei der König, den die Christen anzubeten gekommen waren. Die Geburtskirche ist eine Festung, viele Fenster sind vergittert, nur die Glockentürme erinnern an eine heilige Stätte. Was wollten sie beweisen, sie, die diese Burg bauten? Daß sie den Stürmen der Zeit standhalten würde? Ein loses Blatt aus dem Evangelium wird der Zeit länger trutzen. Daß er gesiegt hat, er, der hier geboren wurde? Beinahe 2.000 Jahre sind vergangen, mächtige Kathedralen sind entstanden, festere Burgen und er hat noch immer nicht gesiegt. Daß es niemand wagen würde, seine Geburtsstätte anzugreifen? Am Weihnachtstag 1960 drohten Palästinenser mit Bomben auf Bethlehem. Um den Platz der Geburtskirche wachten israelische Soldaten in Stahlhelm mit der Maschinenpistole in der Hand über die Pilger. 190 Besuch in Bethlehem Die Kirche wirkt von innen kleiner, man fühlt sich beinahe geborgen. Leider ist gleich der Fremdenführer da, leider sagt er die Wahrheit. Die Geburtskirche „ gehört “ den Griechisch-Orthodoxen - „ they own in “ , sagt der Araber in seinem übereifrigen Englisch - , aber nein, ein Teil der Kirche „ gehört “ den Katholiken - „ they own it, too “ - , und der südliche Teil, ja, der gehört den Armeniern - „ it ’ s owned by the Armeniens “ - , eine religiöse Aktiengesellschaft. Wachende Priester oder Mönche lösen sich ab, anscheinend haben sie kein großes Vertrauen zueinander, die Griechen, die Lateiner, die Armenier, da könnte wohl einer beten, der nicht an der Reihe ist, fünfzehn Lampen weisen auf den Platz der Geburt, silberne Lampen, ein silberner Stern über dem Geburtsplatz, die Lampen gehören verschiedenen christlichen Gemeinschaften, „ they own it “ , man beginnt zu ahnen, warum er nicht siegen konnte, in 2.000 Jahren. Der Krippenplatz ist tief unten, enge Treppen, es ist beinahe dunkel, nur die Kerzen brennen, im Kerzenlicht sieht man die Gesichter der knienden Gläubigen, arabische Frauen, amerikanische Touristen, ein junger Priester wie von Greco, eine alte Frau, sie sieht aus als kniete sie hier seit hundert Jahren, das Wachs der Kerzen schmilzt auf den Gesichtern, das Wachskind in der Krippe kann der Andacht nichts anhaben. Kaum hatte man die Wüstenstraße erreicht und blieb stehen, da sah man von einer Anhöhe die Felder von Bethlehem, ein paar Olivenbäume, auch das Gras war olivengrün, weidende Schafe, eine schwarze Ziege, und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde, die hielten Nachtwache über der Herde, ein Hund bellte, es war der einzige Laut, ein kleiner Araberjunge saß unter dem Olivenbaum, hütete die Schafe, kein Fremdenführer streckte die Hand aus, noch kein Eintritt fürs Hirtenfeld, es gehörte nicht Griechen und Lateinern und Armeniern. Am Stadtrand von Bethlehem das Grab der Rachel. Draußen Soldaten mit Maschinenpistolen. Drinnen eine Wand, eine kleine Klagemauer, orthodoxe Juden drückten ihre Lippen an die Mauer, junge und alte, mit Käppchen und breiten Hüten, und wenn sie sich abwandten von der Mauer, ist in ihren traurigen, dunklen Augen der gleiche Glanz, wie in den Augen der versteinerten Knienden an der Krippe. Vielleicht erinnerten sie sich, warum Jakob sein geliebtes Weib Rachel hier begraben hatte: Er hatte gedacht, die vertriebenen Kinder Israels würden an Bethlehem vorbeikommen, und Rachel würde für ihr Seelenheil sorgen. Vor dem Grabmal von Rachel wurde die Wache abgelöst. Es hatte sich viel geändert. Habe berichtete auch über seine Begegnung mit zwei israelischen Offizieren. Der eine hieß Joseph Caleff - Oberst: Aluf Mishne - , der Sprecher der Armee. Die Habes hatten ihn in Tel Aviv besucht. Der andere hieß Yefet Ben Amos - Oberstleutnant: Sgan Aluf - , Kommandeur einer Militärschule. Ihn hatten sie in Haifa besucht. 191 Besuch in Bethlehem Oberst Caleff fragte, in welcher Sprache sie sich unterhalten wollten. Sie könnten es sich aussuchen. Dann erklärte der Oberst Habe zwei Stunden lang die militärische Lage. Was er sagte, eignete sich nicht zur Niederschrift: erstaunlich genug, daß er es ihm anvertraute. Nach einer Weile sagte Habe: „ Sie haben mir jetzt so viel über die Dispositionen des Feindes erzählt - ist das nicht vertraulich, ja geheim? “ Der Oberst zog den Vorhang beiseite: Der arabische Aufmarschplan, in Ägypten, Jordanien, Syrien. Mit einem Bambusstab in der Hand sprach er weiter, mit der gleichen wissenschaftlichen Präzision, die Habe im Zweiten Weltkrieg an seinem Kommandeur, General Bradley, bewundert hatte. Über das sehnige, sehr männliche Gesicht ging ein Lächeln: „ Sie glauben doch nicht, daß die Araber nicht wissen, daß wir es wissen? “ Habe erwiderte: „ Ich dachte, der israelische Geheimdienst funktioniert so gut, nicht der arabische. “ Der Oberst nickte: „ Ich hoffe, daß das zutrifft. Aber wenn unser Geheimdienst funktioniert, dann vornehmlich, weil wir nicht 007 spielen. 90 Prozent der Spionage ist alberne Kinderei. Wir haben die Abwehr auf das Notwendige reduziert. “ Oberst Caleff glaubte nicht, daß die Araber ohne aktive Hilfe von den Sowjets einen Krieg gegen Israel gewinnen könnten, auch nicht mit russischen Waffen. „ Die meisten russischen Panzer mußten wir umbauen. Sie eigneten sich nicht für den Krieg in warmen Regionen. Daß wir die Mirage verbessert haben, ist kein Geheimnis. Frankreich liefert jetzt die von uns verbesserten Maschinen an die Araber. “ Der Oberst setzte sich wieder an den leeren Schreibtisch und spielte mit dem Bambusstab. 192 Besuch in Bethlehem ABSCHIED VON ISRAEL IN HAIFA In Haifa führte Shaul Kariv durch die „ School of Basic Education “ . Habe dachte an eine Schule für primäre Ausbildung, aber es war kein Rekrutenlager im üblichen Sinn. Gleich nach dem Eintritt fiel Habe das seltsame Gehaben der Soldaten auf. Sie salutierten schüchtern, ungeschickt, einige wandten sich ab, andere lachten, manche blickten düster oder drückten sich an die Wand. Der Kommandant, der Habe begrüßte, ähnelte dem schönen, jungen Beduinen, den er bei Be ’ er Scheva gesehen hatte. Oberstleutnant Yefet Ben Amos war Jemenite. Er kommandierte diese Militärschule, an der Zurückgebliebene ausgebildet werden oder aber Israelis, die keine Schulbildung erhalten hatten. Ein Jemenite von so hoher Bildung wie Yefet Ben Amos erschreckte diese Rekruten nicht. Was er erreicht hatte, ermutigte sie. Er war ihr Vorbild. „ Ein Soldat ohne Schulbildung ist ein wertloser Soldat. Man kann heute mit Analphabeten keinen Krieg führen “ , erklärte der Kommandant. „ Wie lange dauert die Ausbildung? “ „ Drei Monate. “ „ Kriegen Sie sie hin? “ „ Natürlich - mit Ausnahme von 20 Prozent. Die sind hoffnungslos. Die werden ausgemustert, möglichst ohne sie seelisch zu belasten. “ Licci hatte auf dem Weg durch das Lager überraschend viele weibliche Offiziere gesehen. Der Kommandant ließ einen der Chen-Offiziere bitten. Er war der hübscheste Hauptmann, den Habe je gesehen hatte. „ Wir haben hier nur weibliche Instruktoren “ , erklärte der Kommandant. „ Aus einem besonderen Grund? “ „ Aus einem psychologischen Grund. Junge weibliche Instruktoren erhöhen den Ehrgeiz der Rekruten. “ Als der Kommandant die Habes hinaus geleitete, sah er Habe lächelnd an und sagte: „ Sie glauben gar nicht, was man mit etwas Liebe fertig bringt. “ Auf dem Weg zurück in die Stadt fragte Habe Shaul Kariv: „ Was hat Sie bewogen, mir gerade dieses Lager zu zeigen? “ „ Sie sollten keine falschen Vorstellungen von Israel bekommen. Nicht jeder Israeli hat das Schießpulver erfunden. “ Der Zionismus ist die Entschuldigung der verschämten Antisemiten. Er macht es ihnen möglich, das Wort Jude zu vergessen und mit dem Wort Israeli zu ersetzen. Sie haben nichts gegen die Juden im eigenen Lande, wenn sie auch nie aufhören, sie instinktiv und mit Worten, wenn auch nicht immer mit Taten auszusondern: Fremde sind es, mehr oder weniger willkommene. Heißt das, daß alle Nichtjuden Antisemiten sind? Keineswegs ist das der Fall, doch eben jene, die nicht antisemitisch denken und fühlen, entlarven die anderen, die Antisemiten. Die große Zahl von Nichtjuden, die nicht antiksemitisch sind, sind auch keine Feinde Israels. Es war scheinbar noch nie so kompliziert und war in Wirklichkeit noch nie so einfach. Man mußte nur das Wort Israel aussprechen, um den Antisemiten zu erkennen. Nur ein Blinder oder ein Lügner kann daran zweifeln, daß ein Sieg der Araber über Israel den Tod von mindestens 2,5 Millionen Juden bedeuten und die übrigen Juden der Welt einer mörderischen Judenhetze ausliefern würde: Das wissen die Araber, die Sowjets, die Chinesen und das wissen auch die Freunde der Israelis im Westen. So ist ja das winzige Israel nicht der Verbündete des „ imperialistischen “ Amerika, sondern Amerika ist die Schutzmacht Israels. Israel hat getan, was seit den Tagen Mose der Juden Mission gewesen ist: Es hat eine Krise heraufbeschworen. Es ist eine Krise der verschämten Antisemiten. Wem die Menschlichkeit abgeht, der ist gefeit gegen Krisen. Es ist eine Krise der verschämten Antisemiten, vor allem der Linken Europas und Amerikas, in deren humaner Weltanschauung der Antisemitismus nicht so recht passen will, und unter diesen wieder der Intellektuellen, zu deren Tugenden es gehört, daß sie leichter erröten als andere. Nun, da die seit Jahren schwelende Krise der Humanität akut geworden ist, dank Israel, muß sich die Welt außerhalb der kleinen Staaten am Mittelmeer entscheiden. Der Mensch ist eine miserable Kreatur Gottes - miserabel, aber göttlich. Er ist des Vaters mißratener Sohn - sein Sohn immerhin. Wir haben wenig Anlaß zur Hoffnung - und kein Recht auf Hoffnungslosigkeit. Es war lange gesprochen worden. Habe war der letzte, der gesprochen hatte, dann war es still. Zu ihren Füßen lag der Hafen, vor wenigen Stunden war die Enotria eingelaufen. Einer der neuen Freunde der Habes, der junge Straßenvermesser, sagte zu Habe: „ Warum, bleiben Sie nicht bei uns in Israel? “ Habe erklärte: „ Ich würde euch nicht viel nützen. Vor dreißig Jahren - vor zwanzig noch - es wäre etwas anderes gewesen. Ich spreche kein Wort hebräisch. Ein einziges Wort spreche ich richtig aus: „ Toda “ . Toda heißt Danke! Habe bekannte von sich ein, er denke oft an Jerusalem, an Tel Aviv und Be ’ er Scheva, aber er träume von Haifa. Haifa war für ihn zunächst, wie die anderen Städte Israels, eine unbekannte Stadt gewesen. Aber es war zusammengesetzt aus Mosaiksteinen, die er alle kannte: Marseille und San Francisco, Wien und Pittsburg. In diesem Hafen waren die Habes angekommen, von diesem Hafen sollten sie Israel verlassen. Der Berg Karmel hat drei Stufen, aber vom Hafen scheint es, als wäre jede Straße ein Stufe, höher und höher steigt die weiße Stadt, das Dunkelgrün der Pinien im Weiß. Vor den Kaffeehäusern auf einem der Karmel-Plateaus saßen noch die gleichen Leute, sie hatten auf Habe gewartet. Wenn die Palästinenser 194 Abschied von Israel in Haifa immer wieder von Haifa sprechen, fast noch mehr als von Jerusalem, obwohl keine israelische Stadt so wenig arabisch ist wie diese, kann man es verstehen. Man sieht den Rauch der riesigen Fabriken, Ölraffinerien, Reedereien - aber das Grün trinkt den Rauch, in der Mittagsstunde macht der Riese ein Nickerchen, Supermarkets wie in Kalifornien, der milde Westen, aber keiner drängt, man läßt dem anderen den Vortritt, wie alle, die viel arbeiten, hat Haifa Zeit, eine sanfte Hand liegt über der Stadt am Meer. Heimweh nach Haifa: Vielleicht lag es an den Menschen. Nicht daß sie anders wären als anderswo in Israel, die Habes hatten hier nur mehr Freunde gewonnen, ein glücklicher Zufall. Und hier begann es. Und hier hatte es nicht geendet. Von einem der neuen Freunde mußte Habe sprechen. Für ihn war dieser schlanke Mann mit dem weißen Knebelbart und dem jungen Gesicht und den aristokratischen Händen - Mr. Israel. Habe wollte dem Einwanderer aus der Schweiz, der Israel 1931 zum ersten Mal besuchte, kein Denkmal setzen. Dr. Reuben Hecht hat sich selbst ein Denkmal gesetzt; Habe wußte es nur nicht. als sein Schiff vor Haifa ankerte; im Hafen steht sein Monument. Das ist der Silo, eine Getreidefestung, ohne die das Bild Haifas so unvollständig wäre wie das Bild von Paris ohne den Eiffelturm, man findet sie auch auf Briefmarken. Indes käme Paris zur Not ohne den Eiffelturm aus, Israel nur schwer ohne den Silo Dagon. Denn Reuben Hechts Silo mit dem 70 Meter hohen Turm, einer der größten Silos der Welt, ist kein bloßer Getreidespeicher, keine bloße „ Mühle “ von gigantischen Dimensionen. Vom Silo aus, einer Reihe von Silos vielmehr, werden 45 Prozent der importierten Güter Israels an Land gebracht. Im Jahre 1960 waren das etwa 2,5 Millionen Tonnen. In wenigen Jahren hatte Reuben Hecht seinen Arbeitern über eine Million Pfund zinsfrei geliehen, damit sie Wohnungen kaufen und ausbauen konnten. Er hatte auch sonst originelle Ideen, der seltsame Mann; er führte rund 90 Prozent seiner Gewinne an die Regierung ab, vom Rest zahlte er 70 Prozent Steuern. Portrait eines israelischen Kapitalisten. Man hatte Reuben Hecht im sicheren Hafen der Schweiz wohl für einen Narren gehalten, besonders als man hörte, daß er in den Gefängnissen der britischen Mandatsverwaltung saß. Wie es ein langer Tag gewesen war, der erste Tag in Haifa nach der Ankunft der Habes, so waren die letzten Tage zu kurz. Sie hatten keine Zeit für Emotionen. Als Fremde waren sie gekommen, nun ergriff sie schon, noch auf dem Boden Haifas, das Heimweh nach Eretz Israel. Sie wollten sie nicht sehen, die ankernde Enotria. Sie taten noch mehr als sonst. Fleiß ist die Überwindung des Schmerzes. Eigentlich hätte Habe nur zwei Mal in Tel Aviv und einmal in Jerusalem sprechen sollen. Bei einem seiner Vorträge hatte ihn der Dichter Emanuel bin 195 Abschied von Israel in Haifa Gurion einführen sollen. Er sagte, Habe sei „ zum Flüchtling . . . schon im Mutterleib prädestiniert gewesen “ . Schmerzliche Wahrheit. Und doch nicht so schmerzlich wie gestern, denn Schalom Ben-Chorin hatte ihn mit den Worten willkommen geheißen, welche die Menge in Jerusalem Agrippa zugerufen hatte: „ Unser Bruder bist du! “ In Haifa war keine Lesung geplant gewesen, aber gleich nach der Ankunft der Habes war er gebeten worden, auch in Haifa zu sprechen. In Haifa war gerade mit Hilfe der Regierung und unter den festen und behutsamen Händen des neuen Bürgermeisters Moshe Flieman eine Universität für die Jugend des ganzen Nordens im Entstehen. Man plante für 10.000 Studenten. Vom Pro-Rektor Benjamin Akzin hörte Habe zum ersten Mal die Worte: „ Können Sie uns helfen? “ Er wußte nicht, daß er helfen konnte. Er fürchtete nur, daß er es nicht im israelischen Rhythmus tun könnte. Der Direktor des Nationalen Zentrums für Palästinensische Studien in Beirut, Aniy Zayis stellte fest, daß die Vorstellungen der arabischen Studenten von der Größe Palästinas zwischen 110 Quadratkilometern und 66 Millionen Quadratkilometern schwanken. Viele hielten die Knesset für einen Offiziersklub. Die Habes saßen nach ihrer Rückkehr in Bern bei einem Abendessen mit dem israelischen Botschafter, als sich ein Journalist über dessen Schulter beugte: „ Monsieur l´Ambassadeur - Nasser est mort. “ Die Habes erfuhren, daß Terroristen vom Libanon in Israel eingedrungen waren und mehrere Kibuzzim unter Feuer genommen hatten, daß Israel von den Vereinten Nationen verurteilt worden war, daß Jerusalem neue Opfer israelischer Zivilisten durch Angriffe von Terroristen gemeldet hatte, daß Kairo neuerdings die bedingungslose Rückgabe aller von den Israelis eroberten Gebiete gefordert hatte. Der jordanische Sender es-Salt spielte im Programm „ Blumenbouquet “ neue Kinderlieder. Eines davon lautete: Ja Malik Hussein, führ deine Armee über das Wasser und laß deine Vögel das Fleisch Israels fressen. Dann eine zweite, neue Meldung: „ Israel wird von den Vereinten Nationen verurteilt. “ Jede Abreise ist hastig. Diese war es nicht. Als hätten die Habes die Zeit betrügen wollen, saßen sie in der Hotelhalle. In ein paar Stunden würden sie das Land verlassen, in dem die Entscheidung fällt. Entscheidung über Israel? Nicht nur über Israel. Im Psalm 2: 1 fragt David: „ Warum toben die Heiden und die Völker reden so vergeblich? “ Zu Toben und vergeblichen Dingen werden die Völker ermutigt werden, wenn die Gerechtigkeit weint, weil nur noch blöde Massen zählen und geölter Reichtum und mordende Raketen. Im Psalm 16: 6 rühmt David: „ Das Los ist mir gefallen auf das Liebliche; mir ist ein schön Erbteil worden. “ Ist Israel nicht das geheime Vaterland aller, die an ein Vaterland glauben, die liebliche Stätte, wo den Erben noch das Erbe gefällt, wo die 196 Abschied von Israel in Haifa Generationen miteinander leben und nicht gegeneinander? Im Psalm 28: 1 ruft David: „ Wenn ich zu Dir rufe, Herr, mein Hort, so schweige mir nicht, wo du schweigest, ich gleich werde denen, die in die Grube fahren. “ Und in Israel wird es sich entscheiden, ob der Mann im braunen Hemd tatsächlich Urheber und Exekutor des Todesurteiles gegen die Juden gewesen ist oder ob die Welt, hätte sie dazu Gelegenheit gehabt, Schmiere gestanden hätte beim großen Verbrechen; ob sich die Welt tatsächlich mit Gram und Grauen abgewandt hat von den Mördern der Juden oder ob alles, was seitdem gesagt und getan wurde, Heuchelei war und Lippendienst, ob die Menschheit gelernt hat, sich zu schämen oder ob sie verharren will in Schamlosigkeit. Golda Meir, Israels guter Geist in böser Stunde, hat es ausgesprochen mit einer Familiengeschichte: „ Ich denke manchmal an den letzten Rat meiner Schwester, als ich von Zuhause davonlief. ,Das Wichtigste ist ‘ , sagte sie mir, nie in Erregung zu geraten, ruhig zu bleiben und kühl zu handeln . . . Sei tapfer! ‘ Das war der Rat, als es hieß, von Zuhause fortzulaufen. Jetzt aber ist es der Rat, zu Hause zu bleiben. Wir sind heimgekehrt, wir sind entschlossen zu bleiben und, um zu bleiben, werden wir kämpfen bis zum Tod. Und wir werden siegen, weil wir eine geheime Waffe haben: Wir haben keine Wahl. “ Es ist immer David gegen Goliath. Als die Enotria im Hafen von Haifa angelegt hatte, vor wenigen Wochen, hatten die Habes ängstlich Ausschau gehalten nach den Kieslers, den einzigen israelischen Freunden. Wie wäre es gewesen, wenn Karl damals nicht angerufen hätte in Ascona? Und wenn er und Ilse nicht über alle ihre Schritte gewacht hätten in „ ihrem “ Israel? Nun waren sie wieder da, bei der Abschiedsparty auf der Enotria, natürlich mit den Söhnen und den Schwiegertöchtern, und Dutzende waren da, Schriftsteller und Journalisten und Universitätsprofessoren und die Vertreter der Hafenbehörde und die Vertreter der Stadt und Shaul Kariv und die Hechts und Freunde, die keine Funktion hatten, nur Freunde. Ein Leben lang hatte Habe empfunden, daß Abschiednehmen nicht schwer ist, leichter als Abschiedgeben - wer wegfährt, fährt ins Volle, wer zurückbleibt, bleibt in der Leere. Jetzt war das gar nicht mehr so sicher. Habe blickte hinab auf die Geschäftigkeit des Hafens und empor, zu der Ruhe der Stadt, und er dachte an den rothaarigen Lehrer in Kiryat Bialik, der den Kindern beibringt, daß sie nicht lügen dürfen, und an die Pionierfrau in Be ’ er Scheva, die so stolz ist auf einen neuen Fahrstuhl, und an Hauptmann Boros, den man vielleicht heute früh von seinem Kaffee an die Front gerufen hatte, und an Rouget de Lisle, der keine Obszönitäten sehen will, und an Zeira, der sich beeilen mußte, um dem nächsten Fremden die Ruinen von Kapernaum zu zeigen. Er dachte, wo mag Isaac Garfinkel sein. Wo immer er ist, er fürchtet keinen Zollbeamten mehr. Er beneidete sie, weil sie bleiben durften, zu Hause, in einer Heimat, in der ihre Träume Wirklichkeit werden und in der sie glauben können an die Vergangenheit, von der er kleinmütig dachte, daß sie vergangen ist, und an eine 197 Abschied von Israel in Haifa heile Welt, an die zu glauben er sich geschämt hatte. Er beneidete sie, und er hatte Angst um sie. Er hatte oft Angst empfunden um einen Freund, um eine Frau, um ein Kind, er wollte nicht wegfahren, weil er fürchtete, sie aus der Ferne nicht beschützen zu können, und nun hatte er Angst um ein ganzes Volk, obwohl er wußte, daß es seines Schutz nicht bedurfte, daß es, wer weiß, ihn beschützen würde. Die Motoren rüttelten am Schiff, die Seile knarrten, die Gläser klirrten. Die Gäste mußten an Land. Ein violetter Abend senkte sich über Haifa. Keiner der Freunde verließ den Hafen. Licci hatte seinen Arm genommen, er fühlte, wie sich ihre schönen kleinen Hände in seinen Arm verkrampften. Und sie hatten doch Israel nur einen Besuch abstatten wollen! Dann sahen sie nur noch die winkenden Hände, die flatternden Taschentücher. Sie sahen sie noch lange, ohne ein Fernglas. Es mußte eine optische Täuschung gewesen sein, die weiße Stadt im Abendnebel wurde immer kleiner, und die winkenden Hände wurden nicht kleiner. Eine Täuschung. Schon lange mußte die Enotria ihre Seile eingezogen haben. Und es war doch so, als läge das Schiff noch im Hafen. Als blieben sie gebunden an Israel. Habe korrigierte die Druckfahnen seines Buches Wie einst David in einem Londoner Hotelzimmer. Auf der Straße unter seinem Fenster wurden die neuesten Ausgaben der Zeitungen verkauft. Sie berichteten von großzügigen ägyptischen Offerten, von U Thants unverhüllten Drohungen - der Sprecher der Araber bei der UNO verlangte neuerdings den Rückzug Israels auf die Grenzen vor 1948 - , von dem Druck, den Washington auf Jerusalem ausübte, von der offenen Allianz zwischen England, Frankreich und der Sowjetunion gegen Israel. Die Welt, gewohnt sich dem Zwang zu beugen, verlangte von Israel, daß es sich dem Zwang beuge. Habe überlegte, ob es sein könnte, daß sein Buch Wie einst David genauso wie sein Roman Tödlicher Friede im Jahr 1939 zu spät herauskäme. Wer mit Lüge und Dummheit um die Wette laufen will, mußte ein Nurmi sein. Im Jahre 1939 verstanden wenigstens die Amerikaner den Titel des prophetischen Buches You Can´t Do Business With Hitler von Douglas Miller. Ein dauerhafter Frieden im Nahen Osten wäre nur durch direkte Verhandlungen zwischen Israel und den Arabern, durch die eindeutige westliche Unterstützung Israels und die Festlegung sicherer Grenzen möglich geworden. Wie 1938 in München haben sich die Demokratien selbst verraten. Kaum dreieinhalb Jahre nach dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg versuchte die Welt, das alte Bild wieder herzustellen - der besiegte oder übertölpelte Shylock statt des siegreichen David. In diesem Ziel sind sich Osten und Westen einig. Der Judenstaat ist, was die Juden immer waren: allein. Seit über Zion die jüdische Fahne weht, gibt es zwar eine jüdische Einsamkeit, aber kein jüdisches Getto. Eine Welt, die triumphiert, weil sie Israel in einen Scheinfrieden dränge, bereitete ihren Selbstmord vor. Der Chamberlainsche Regenschirm von 1938 ist im Jahre 1971 ein sowjetischer Fallschirm. 198 Abschied von Israel in Haifa In der Diaspora konnten 6 Millionen Juden getötet werden, ohne daß die Welt unterging. Die 2,5 Millionen Juden Israels werden nicht enden, wie der Jude in Shakespeares Lustspiel geendet hat. In Krieg und Frieden wird die Welt lernen müssen, daß David nicht stirbt, wie Shylock abgetreten ist. Mit Israel beginnt das sechste, ungeschriebene Buch Mose. 199 Abschied von Israel in Haifa DAS ALTERSLEBEN DER IDYLLE IM TESSIN Ein für Habe besonders wichtiges Ereignis war seine Reise nach Israel gewesen, deren Ergebnis er in seinem Buch Wie einst David zusammengefaßt hatte. Er fand eine für ihn wichtige Vertiefung seiner Beziehung zum Judentum. Auf seinem Schreibtisch stand jetzt eine Menora. Auch wenn es weiterhin Madonnenbilder und christliche Weihnachtsbäume gab. Er lebte in Ascona, in der herrlichen Landschaft des Tessins. Habe gehörte dem Israelischen Journalistenverband an. Er war Gouverneur der Universität Haifa. Im Jahr 1942 hatte er bereits die Jerusalem-Medaille und 1972, nach der Rückkehr von der Reise, den Theodor-Herzl-Preis ( „ Herzl- Literaturpreis “ ) erhalten. Das nächste Buch Habes, fast ebenso wichtig wie das Israelbuch waren Die Erfahrungen von 1973, die seine Memoiren enthalten und damit viele bedeutende Eröffnungen über ihn selbst. Diese Einsicht in das Selbst ist zu Recht ein Buch genannt worden, das wirklich etwas verändern kann, und ein Buch, das lehrt, wie man sich von seinem Leid befreien kann. Für Habe selbst war das wichtigste Rettungsmittel die Flucht in die Arbeit. Aber die Erfahrungen enthalten auch bedeutende Details über seine Lieblingsbücher. So weiß man aus seinem Werk, daß er ein echt gläubiger, religiöser Mensch war, dessen autobiographische Gestalten immer wieder in Augenblicken der Krise eine einsame Kirche aufsuchen, um in einer Stunde der Meditation und des Gebets in der Zwiesprache mit Gott Kraft und Stärke zu gewinnen. Unter den Lieblingsbüchen findet sich auch das Tibetische Totenbuch, was diese Religiosität noch verstärkt und erweitert, weil es das Verhalten der Seele nach dem Eintreten des klinischen Todes behandelt und zugleich über das beschränkt Dogmatische hinaus universelle Bedeutung besitzt. Aber auch sonst finden sich unter den Lieblingsbüchern sehr interessante, vielsagende Beispiele. Da sind etwa die Gesammelten Werke von Joseph Roth, der sich von einem linken Sozialkritiker zu einem katholischen Monarchisten gewandelt hatte, da ist der ganze Matthias Claudius in seiner edlen Einfalt und tiefen Schlichtheit und da ist der chinesische Klassiker Der Traum von der roten Kammer aus dem Kaiserreich Chinas des 18. Jahrhunderts. Hier zeigt sich auch, daß Habe, wenn man die Übersetzungen seiner Bücher zu den Originalen hinzurechnet, nicht weniger als 400 Bücher geschrieben hat. Und es zeigt sich mit besonderem Nachdruck die Wichtigkeit von Disziplin und Pflichtgefühl für diesen ungewöhnlichen Autor, die selbst die Gegner anerkannt haben. Habes nächster großer Roman von 1975 war Palazzo. Dieser Venedig-Roman gehört in die Reihe der erfolgreichsten von Habes Romanen wie Die Tarnowska und Das Netz. Er selbst hat zu dem Roman gesagt: „ Palazzo ist für mich der Inbegriff des verfallenden und versinkenden Venedig und Venedig der Inbegriff der versinkenden Gesellschaft. Was mich also zu dem Buch bewogen hat, ist das Gefühl des Verfalls. Man hat dieses Gefühl nirgends so stark wie in Venedig. “ Dem Roman aber hat er die Widmung vorausgestellt: OB SIE AUF VERLORENEM POSTEN STEHEN -‚ DEN KÄMPFERN FÜR DIE ERHALTUNG VENEDIGS DEN HÜTERN DES SCHÖNEN UND BLEIBENDEN GEWIDMET Mit einem Zitat aus Byrons Childe Harold ’ s Pilgrimage nahm der Autor das Thema des Verfalls noch einmal auf, führte nahtlos vom lyrischen Ich in Byrons Trauergesang auf Venedig weiter zu seinem eigenen Erzähler und stieg erst dann in die eigentliche Handlung ein. Die Heldin ist Seniora Anna-Maria Santarato, die Besitzerin des am Canale Grande gelegenen Palazzo Santarato, der es unmöglich ist, den Palazzo dem Ruin zum überlassen oder einem reichen amerikanischen Interessenten zu verkaufen. Sie versucht, den Verfall aufzuhalten, wogegen sich alle ihre drei Kinder stellen, allen voran Paolo, der den Palazzo verkaufen möchte. Aber auch die zuständigen Behörden verstehen ihre Haltung nicht. Die einzigen, die sich auf ihre Seite stellten, waren ihr treuer Gefährte Dario und ihr jüngster Enkelsohn Romolo, denen allerdings der Ernst der Lage nicht bewußt war. Aber Seniora Santarato hatte eine kühne Idee. Seit langer Zeit besaß die Familie einen echten Tizian, „ Mädchen mit Blumenkorb “ , den sie allerdings nur mit Zustimmung ihrer Kinder verkaufen durfte. Sie beauftragte heimlich einen professionellen Kunstfälscher mit der Herstellung einer Kopie, die sie ebenso heimlich mit dem Original austauschte. Den echten Tizian verkaufte sie einem Kunsthändler. Mit dem Erlös, den sie noch einmal heimlich zwischen sich und den drei Kindern aufteilte, versuchte sie die Instandsetzung des Palazzo zu verwirklichen. Paolo erfuhr von seiner Schwester Laura von der Fälschung des Tizian und forderte nach der Idee seiner Frau Teresa die Entmündigung der Mutter. Sein eigener Sohn Remus durchkreuzte seine Pläne, weil er Regisseur werden wollte und seine eigene Entführung organisierte, um Geld von seinem Großvater zu erpressen, der ein millionenschwerer Brauereibesitzer war. Der Plan mißlang zwar, doch wurde Remus durch seine Aktion so populär, daß sich einige Geldgeber für sein Filmprojekt fanden. 202 Das Altersleben der Idylle im Tessin Als Paolo die Mutter entmündigen wollte, traten ihre beiden Töchter Laura und Claudia wie auch Dario und ihr jüngster Enkel auf ihre Seite und mit Hilfe eines kritischen Gutachters verhinderten sie den Plan. Seniora Santarato konnte im Palazzo wohnen bleiben. Ein Herbststurm richtete indessen so großen Schaden des Gebäudes an, daß sein Fortbestehen noch gefährdeter wurde. Der Enkel, Romolo, dem die Großmutter sehr viel bedeutete, stellte sich gegen seinen Vater und wollte über die Ferien hinaus bei der Großmutter bleiben. Das allerdings gestatteten seine Eltern nicht. Inzwischen hielt der Palazzo einem neuerlichen Sturm stand. Da setzte Seniora Santarato Romolo als ihren Haupterben ein. Sie hoffte, daß er den Palazzo für künftige Generationen erhalten konnte. Praktisch das letzte Buch von 1976 trägt den Titel Ein Leben für den Journalismus. Dichtung und Journalismus in Habes Werk sind zwei Hälften, die sich gegenseitig ergänzen und die ohne einander nicht existieren hätten können. Im ersten Band von Leben für den Journalismus hat Habe seine erfolgreichsten Reportagen veröffentlicht. Die Texte erfüllen alle die Kriterien der Reportage: Sie sind informativ, basieren auf intensiven Recherchen, stellen das individuelle Schicksal einer Person in den Vordergrund, um an deren Beispiel für den Leser nachvollziehbare bzw. „ nacherlebbare “ Tatsachen unter einem stark subjektiven Betrachtungswinkel zu dokumentieren. Nicht zuletzt erfüllen sie den obersten Zweck der Reportage, dem Leser die Realität bewußt zu machen. Allerdings lassen sich einige Beispiele anführen, die belegen, daß zwar Reportagen und Romane Habes ihrer jeweiligen Textsorte entsprechen, daß sie jedoch auch Kriterien anderer Textsorten aufweisen, so etwa fiktionale Elemente in der Reportage wie auch Vermittlung von Faktenwissen im Roman. Die fiktionalen Elemente in der Reportage dienen dabei vorwiegend der Bekräftigung der Aussage und veranschaulichen die beschriebene Problematik. Darum hat auch Habes langjähriger Freund und Mitarbeiter Ernst Cramer, der seine Grabrede hielt, in dieser erklärt: „ Ich bin davon überzeugt, daß einige von Hans Habes Büchern noch gelesen werden, wenn viele heutigen Scheinkoryphäen der deutschen literarischen Szene höchstens noch unter ,ferner liefen ‘ in Literatur-Nachschlagwerken zu finden sind. Über seine Rolle als Publizist aber, da bin ich mir ganz sicher. Da fehlt uns die brillante Feder von Hans Habe schon heute. “ Wenn noch 1983, sechs Jahre nach Habes Tod, ein neuer Titel, Ungarischer Tanz, erschien, dann war es eben nur ein Titel, denn das Buch selbst war eine posthume Neuauflage der Roten Sichel von 1959. Im Jahre 1976 wurde eine Drüsenkrankheit festgestellt und ein Jahr später starb er in Locarno. Am Grab sprach Ernst Cramer, enger Lebensgefährte in vielen Stationen von Habes Leben. Er war der einzige seiner Familie gewesen, der den Todeslagern entkommen war und in die USA emigrieren konnte, wo er sich wie Habe zur Armee meldete. Er war Habes Sergeant im „ Camp Sharp “ . Wie 203 Das Altersleben der Idylle im Tessin Habe war er bei der Landung in Europa dabei, war er schließlich Chefredakteur- Stellvertreter der Neuen Zeitung der amerikanischen Armee. Als engster Mitarbeiter Axel Springers hatte er sich um Habes Beiträge für die Springer-Blätter bemüht. Aufgrund des Testaments von Habes letzter Gattin wurde in Lachen (Kanton Schwyz) am 25. Juli 1996 eine Habe-Stiftung ins Leben gerufen, die dem Eidgenössischen Department des Inneren untersteht. 204 Das Altersleben der Idylle im Tessin EDITION PATMOS Herausgegeben von Josep P. Strelka Bisher sind erschienen: Band 1 Joseph P. Strelka Des Odysseus Nachfahren Österreichische Exilliteratur seit 1938 1999, X, 297 Seiten €[D] 29,- ISBN 978-3-7720-2880-9 Band 2 Stefan H. Kaszy ń ski Kleine Geschichte des österreichischen Aphorismus 1999, X, 163 Seiten €[D] 29,- ISBN 978-3-7720-2881-6 Band 3 Karl S. Guthke Der Blick in die Fremde Das Ich und das andere in der Literatur 2000, VI, 451 Seiten €[D] 74,- ISBN 978-3-7720-2882-3 Band 4 Robert G. Weigel Zerfall und Aufbruch Profile der österreichischen Literatur im 20. Jahrhundert 2000, XIV, 213 Seiten €[D] 29,- ISBN 978-3-7720-2883-0 Band 5 Joseph P. Strelka Der Paraboliker Franz Kafka 2001, VIII, 111 Seiten €[D] 19,- ISBN 978-3-7720-2884-7 Band 6 Joseph P. Strelka Poeta Doctus Hermann Broch 2001, VI, 145 Seiten €[D] 24,- ISBN 978-3-7720-2885-4 Band 7 Hartmut Steinecke Von Lenau bis Broch Studien zur österreichischen Literatur - von außen betrachtet 2002, 215 Seiten €[D] 34,- ISBN 978-3-7720-2886-1 Band 8 Joseph P. Strelka Exil, Gegenexil und Pseudoexil in der Literatur 2003, X, 172 Seiten €[D] 38,- ISBN 978-3-7720-2887-8 Band 9 Joseph P. Strelka (Hrsg.) Lyrik · Kunstprosa · Exil Festschrift für Klaus Weissenberger zum 65. Geburtstag 2004, 287 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8067-8 Band 10 Joseph P. Strelka Arthur Koestler Autor - Kämpfer - Visionär 2006, 178 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8144-6 Band 11 Karl S. Guthke Die Erfindung der Welt Globalität und Grenzen in der Kulturgeschichte der Literatur 2005, VI, 589 Seiten, geb. €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8142-2 Band 12 Joseph P. Strelka Vergessene und verkannte österreichische Autoren 2008, XII, 218 Seiten €[D] 42,- ISBN 978-3-7720-8287-0 Band 13 Robert G. Weigel (Hrsg.) Arthur Koestler Ein heller Geist in dunkler Zeit. Vorträge des Internationalen Arthur Koestler Symposiums der Universität Auburn 2007 2009, 223 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8312-9 Band 14 Joseph P. Strelka Dichter als Boten der Menschlichkeit Literarische Leuchttürme im Chaos des Nebels unserer Zeit 2010, 397 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8386-0 Band 15 Karl S. Guthke Die Reise ans Ende der Welt Erkundungen zur Kulturgeschichte der Literatur 2011, VIII, 509 Seiten, geb. €[D] 148,- ISBN 978-3-7720-8415-7 Band 16 Joseph P. Strelka Dante und die Templergnosis 2012, XVIII, 304 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8443-0 Band 17 Robert Weigel (Hrsg.) Ernst Schönwiese Aspekte seines Werks. Vorträge des Internationalen Ernst Schönwiese Symposiums der Universität Auburn 2012, 240 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8465-2 Band 18 Joseph P. Strelka Dante - Shakespeare - Goethe und die Traditionskette abendländischer Autoren 2014, XIV, 280 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-7720-8530-7 Band 19 Karl S. Guthke Geistiger Handelsverkehr Streifzüge im Zeitalter der Weltliteratur Mit Erinnerungen von Karl S. Guthke an die „Goldenen Jahre“ der akademischen Migration 2015, X, 293 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-7720-8572-7 Band 20 Joseph P. Strelka Begegnungen mit geistigen Größen, an denen ich innerlich wuchs Ein Buch des Dankes 2015, XIV, 182 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-7720-8573-4 Band 21 Joseph P. Strelka Hans Habe, Autor der Menschlichkeit 2017, VIII, 204 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-7720-8612-0 Hans Habe (1911-1977) ist einer der interessantesten österreichischen Autoren des Zwanzigsten Jahrhunderts. Bereits mit dreiundzwanzig Jahren bewältigte er als Herausgeber einer Tageszeitung unglaubliche politische Aufgaben. Sein politisches Engagement setzte er als Auslandsberichterstatter für das Prager Deutsche Tagblatt in der damaligen Völkerbundstadt Genf und später auch als Freiwilliger in der Französischen Armee fort. Nach dem Ausbruch aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager gelang ihm die Flucht nach Amerika, von wo er als amerikanischer Abwehroffizier nach Europa zurückkehrte. Er wurde schließlich in München Herausgeber der „Neuen Zeitung“ und beschloss sein abenteuerliches Leben mit einer märchenhaft idyllischen Altersphase in Ascona, im Schweizer Kanton Tessin. ISBN 978-3-7720-8612-0 Strelka Hans Habe Joseph P. Strelka Hans Habe Autor der Menschlichkeit edition patmos