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Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn, 1878–1918

2018
978-3-7720-5604-8
A. Francke Verlag 
Clemens Ruthner
Tamara Scheer

War Bosnien-Herzegowina, das 1878 nach dem Berliner Kongress von Österreich-Ungarn besetzt und 1908 annektiert wurde, so etwas wie eine k.u.k. (Ersatz-),Kolonie'? Der vorliegende interdisziplinäre Sammelband versucht diese Frage nach einem ,post/kolonialem' Zugang zur Geschichte, Gesellschaft, Kultur und Literatur der späten Habsburger Monarchie positiv zu beantworten. Die hier versammelten Aufrisse und Fallstudien wenden sich dem Begriff des Kolonialismus bzw. des Imperiums zu, einer emergenten bosnischen Literatur ebenso wie der imperial-österreichischen, der diplomatischen Vorgeschichte der Okkupation wie einer Diskursanalyse ihrer militärischen Narrative, der Konfessions- und Hygienepolitik, der Siedlerbewegung und der Entstehung einer bosnisch-herzegowinischen Volkskunde sowie imagologischen Fragen der mit der "Kolonie" verbundenen Selbst- und Fremdbilder. In einem weiteren Schritt werden auch die Nachwirkungen - die longue durée - des k.u.k. Kolonialismus bis in die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts exemplarisch aufgezeigt - etwa anhand von Gedächtnisformationen bosnischer Waffen-SS-Leute, der jugoslawischen Nachfolgekriege in den 1990er Jahren oder des Status von Bosnien-Herzegowina als EU-Protektorat heute.

Annäherungen an eine Kolonie K U LT U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 24 Clemens Ruthner / Tamara Scheer (Hrsg.) Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn, 1878-1918 Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn, 1878-1918 KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Milka Car, Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk, Klaus R. Scherpe und Andrea Seidler Band 24 • 2018 Kultur - Herrschaft - Differenz ist eine peer-reviewed Reihe (double-blind). Kultur - Herrschaft - Differenz is a double-blind peer-reviewed series. Clemens Ruthner/ Tamara Scheer (Hrsg.) Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn, 1878-1918 Annäherungen an eine Kolonie Umschlagabbildung: Kaiserbesuch, Brücke von Mostar (© Österreichische Nationalbibliothek) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung von: © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8604-5 Inhalt 5 Inhalt Vorwort der Herausgeber....................................................................................... 9 INTRO Clemens Ruthner Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie. Eine Einführung ........................ 15 Tamara Scheer „Kolonie“ - „Neu-Österreich“ - „Reichsland(e)“. Zu begrifflichen Zuschreibungen Bosnien-Herzegowinas im österreichisch-ungarischen Staatsverband, 1878-1918 .................................................................................... 45 VORGESCHICHTEN Martin Gabriel Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone zwischen Habsburg und Hoher Pforte, 1688-1869........................................................... 61 Raymond Detrez Zurückhaltung und Entschlossenheit. Zur Vorgeschichte der k. u. k. Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878 ........................................................ 77 Imre Ress „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“. Die Haltung Ungarns zu Bosnien-Herzegowina bis zur Ära Kállay .................................. 99 ÜBERNAHMEN Clemens Ruthner Besetzungen (1). Die Invasoren und Insurgenten des Okkupationsfeldzugs 1878 im kulturellen Gedächtnis................................ 123 Robert J. Donia „Proximate Colony“. Bosnien-Herzegowina unter österreichischungarischer Herrschaft ....................................................................................... 147 Aydın Babuna Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus ....................................................................................................... 163 6 Inhalt Valeria Heuberger Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-ungarischer Herrschaft (1878-1914) ......................... 193 Dennis Dierks Der Savindan. Zur Konstruktion eines nationalen Gedenktages im imperialen Kontext des habsburgischen Bosnien-Herzegowina .............. 211 Carl Bethke Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina. Überblick mit ‘bosniakischen’ Perspektiven ................................................. 237 Maximilian Hartmuth Amtssprache Maurisch? Zum Problem der Interpretation des orientalisierenden Baustils im habsburgischen Bosnien-Herzegowina .. 251 ABBILDER Clemens Ruthner Besetzungen (2). Anverwandlung der Orte, Neuformatierung der Fremde(n) ............................................................................................................... 269 František Šístek Der slawische Halbmond Tschechische Darstellungen bosnisch-herzegowinischer Muslime in Literatur, Reiseberichten und Memoiren (1878-1918)................................. 279 Johannes Feichtinger Nach Said. Der k. u. k. Orientalismus, seine Akteure, Praktiken und Diskurse.................................................................................................................. 307 Reinhard Johler Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die Institutionalisierung der österreichischen Volkskunde als Wissenschaft...................................... 325 Nedad Memić „Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“. Zur Internationalisierung des bosnischen Wortschatzes nach der k. u. k. Okkupation............................................................................................................ 359 Vahidin Preljević „Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“. Literatur, Kultur und Widersprüche der imperialen Konstellation im habsburgischen Bosnien-Herzegowina um 1900 ........................................................................ 373 Inhalt 7 Stijn Vervaet Serbischer Okzidentalismus? Anti-westliche Rhetorik in Bosnien- Herzegowina während der österreichisch-ungarischen Besatzung ......... 391 Anna Babka „Das war ein Stück Orient“. (Post-)koloniale Ambivalenzen und Fantasien in Robert Michels Die Verhüllte ...................................................... 407 Riccardo Concetti Robert Michel, oder: Wie die literarische Entdeckung Bosniens- Herzegowinas weder zu Ruhm noch zu politischer Hellsicht führen kann......................................................................................................................... 423 NACHWIRKUNGEN Franziska Zaugg „Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“. Erinnerungen bosnischer Waffen-SS-Soldaten an die österreichisch-ungarische Herrschaft im Ersten Weltkrieg............................................................................................. 441 Wolfgang Müller-Funk Auf der Drinabrücke. Die Geschichte eines Chronotopos ......................... 449 Boris Previšić Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion. Ingeborg Bachmanns Aufarbeitung des (post)imperialen südslawischen Erbes in Drei Wege zum See ................................................... 459 Ana Mijić Das ‘Wir’ im ‘Ich’. Zum Problem der Identitätskonstruktion im Bosnien-Herzegowina der Gegenwart ............................................................ 475 Vedran Džihić Ethnonationalismus in der longue durée ? Vermessungen der historischen und aktuellen Widersprüche Bosnien-Herzegowinas ......... 495 EPILOG Martin A. Hainz „Schau‘n gut aus“. Skizze zur Begriffslogik von Kolonie und Provinz ...... 531 Forschungsliteratur zu Bosnien-Herzegowina 1878-1918 ......................... 539 Vorwort der Herausgeber 9 Vorwort der Herausgeber 2018 jähren sich neben anderen Eckdaten der europäischen Geschichte wie 1918, 1938 oder 1968 auch drei einschneidende Ereignisse für Bosnien-Herzegowina: Nachdem der sog. Berliner Kongress der kontinentalen Großmächte im Juli 1878 das Mandat dazu erteilt hatte, wurde die damals osmanische Provinz ( Vilâyet-i Bosna ) noch im selben Sommer und Herbst von österreichischungarischen Truppen besetzt. 1908 annektierte dann die Habsburger Monarchie Bosnien und die Herzegowina und löste damit eine schwerwiegende internationale Krise aus. Im Herbst 1918 endete schließlich die k. u. k. Herrschaft in der Region mit dem Zerfall Österreich-Ungarns am Ende des Ersten Weltkriegs und der Gründung des SHS-Staates: das spätere (erste) Jugoslawien. Es mag symptomatisch erscheinen, dass diese Jahrestage schon 2008 in Österreich und Ungarn, aber auch international kaum beachtet worden sind. 1 2018 zierten zwar grüne Plakate mit der Jahreszahl 1878 etliche Bus-Haltestellen in Graz; sie erinnern aber nicht etwa an den Okkupationfeldzug (dem noch ein historisches Denkmal in der Radetzkystraße gewidmet ist), sondern an die ersten Straßenbahnen der Stadt: Signifikant für das größere Vergessen, dem sich das heute zumindest auf dem Papier unabhängige Bosnien-Herzegowina aufs Neue ausgesetzt sieht, nachdem das zerfallende zweite Jugoslawien durch seine blutigen Bürgerkriege der 1990er Jahre kurz und jäh ins sensationalistische Rampenlicht der Medien-Weltöffentlichkeit gerückt war. Das darauf folgende Stillschweigen zu durchbrechen und die habsburgische Vorgeschichte zum kurzen 20. Jahrhundert in der Region wieder historiografisch und kulturwissenschaftlich ans Licht zu bringen, hat sich der vorliegende Sammelband vorgenommen. Unter Rekurs auf Ansätze der kritischen Kolonialgeschichtsschreibung und der Post/ Colonial Studies soll transdisziplinär nach der österreichisch-ungarischen Involvierung in die Zeitläufte der bosnischenherzegowinischen Geschichte gefragt und speziell die Folgen dieser Intervention als kleine und große Paradigmenwechsel auf beiden Seiten aufgezeigt werden: WechselWirkungen 2 in politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller und religiöser Hinsicht, aber auch als Interaktion zwischen dem Gestern und Heute. 1 Abgesehen von zwei Tagungen in Wien (ÖAW, Dez. 2008) und Sarajevo (Filozofski Fakultät, April 2009), die von Autoren des vorliegenden Sammelbandes mit initiiert worden sind und so gewissermßen die Keimzelle für die vorliegende Publikation darstellen. 2 Dies ist auch der Titel eines in den USA veröffentlichten Sammelbands, als dessen deutschsprachige Fortsetzung sich der vorliegende versteht: Ruthner, Clemens / Reynolds 10 Vorwort der Herausgeber Hervorgegangen ist jener ‘post/ koloniale’ Zugang zur späten Habsburger Monarchie seit rund zwanzig Jahren aus der Forschungsarbeit und Interaktion zweier Teams, 3 des ehem. SFB Moderne an der Universität Graz 4 rund um den Historiker Moritz Csáky und des losen internationalen Netzwerks Kakanien revisited , das sich rund um die gleichnamige Internet-Platform 5 an der Universität Wien und Wissenschaftler/ innen wie Wolfgang Müller-Funk, Waltraud Heindl und anderen formierte, von denen auch etliche im vorliegenden Band vertreten sind. Mit ihnen hat sich eine Sichtweise konstituiert und verfeinert, die sich ebenso als Alternative zur Multikulti-Nostalgie des „Habsburgischen Mythos“ (Claudio Magris) wie zu den Opfer-Narrativen nationalistischer Geschichtsschreibung versteht: gleichsam als dritter Weg, der diese Denkfallen überspringt. Ganz in diesem Sinne geht auch unser Buch vor. Hier werden zunächst die „Vorgeschichten“ der Besetzung rekonstruiert, ebenso wie der Okkupationsfeldzug von 1878 selbst, der den größten k. u. k. Militäreinsatz zwischen der Schlacht von Königgrätz (1866) und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914) darstellt. Gefragt wurde bereits im „Intro“ betitelten Anfang des Sammelbandes nach der Anschlussfähigkeit des Paradigmas der Kolonie, des Kolonialismus bzw. des Orientalismus für die besetzten Gebiete. Die historische wie theoretische Auseinandersetzung mit diesen Begriffen soll die Leser(innen) in die Lage versetzen, die Aussagekräftigkeit der folgenden Fallstudien zu beurteilen, die sich in drei Abschnitte gliedern: Darin werden die Auswirkungen der Okkupation sowohl im politischen bzw. sozialen Feld („Übernahmen“ wie etwa in der Administration, der Siedlungs- und Religionspolitik etc.) als auch im symbolisch-ästhetischen Raum („Abbilder“) beschrieben - wobei der kolonialen Formatierung des Fremden in kulturellen Repräsentationen (Literatur, Volkskunde, Architektur und anderen Medien), wie insgesamt der k. u. k. Identitätspolitik und den einheimi- Cordileone, Diana / Reber, Ursula / Detrez, Raymond (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878-1918. New York: P. Lang 2015 (= Austrian Culture Series 24). In diesem Rahmen erschienen auch die hier wiedergegebenen Beiträge von Raymond Detrez und Robert Donia zum ersten Mal (auf Englisch); wir danken dem Verlag für die freundliche Gewährung der Übersetzungs- und Wiederabdrucksrechte. 3 Vgl. etwa die beiden initialen Publikationen: Müller-Funk, Wolfgang / Plener, Peter / Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited . Das Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen, Basel: Francke 2002 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 1); Feichtinger, Johannes / Prutsch, Ursula / Csáky, Moritz (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis . Innsbruck: StudienVerlag 2003. 4 Später aufgegangen im Institut für Kulturwissenschaft und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. 5 Siehe online unter www.kakanien.ac.at . Vorwort der Herausgeber 11 schen Reaktionen darauf besondere Aufmerksamkeit zukommt. Im letzten Teil unseres Sammelbands schließlich wird nach den „Nachwirkungen“ des vierzig Jahre langen österreichisch-ungarischen Intermezzos in Bosnien-Herzegowina bis zum heutigen Tag gefragt - also der longue durée in Denkformen und Praktiken im ehemaligen „Reichsland“, das sich nach dem traumatischen Krieg von 1992-95 aufs Neue in der Situation eines (EU-)Schutzgebiets wiedergefunden hat: Habsburgs ‘Dark Continent’? 6 Wir freuen uns jedenfalls, dass wir für die Bearbeitung dieser Themen internationale Expert(inn)en - aus den sog. Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie, aber auch weit darüber hinaus - gewinnen konnten; ihnen allen möchten wir an dieser Stelle unseren herzlichen Dank sowohl für ihren wertvollen Beiträge als auch für ihre Geduld aussprechen. Weiters möchten wir Mag. Martin Pammer, dem österreichischen Botschafter in Sarajevo, für sein großes Engagement danken, 7 wie generell dem Außenamt (BMEiA) in Wien und der ÖKV Sarajevo für die Subvention und den Vertrauensvorschuss in Hinblick auf die Relevanz unseres Unterfangens. Komplementär dazu sei allen Leser(inne)n eine anregende Lektüre gewünscht und der Hoffnung auf Feedback, ja auf Fortsetzung dieser Diskussionen Ausdruck verliehen: Viele der hier vorgebrachten Gedanken und Fallbeispiele verstehen sich als erste Skizzen und Denkanstöße, in denen vermutlich noch das Potenzial für etliche Detailstudien (Forschungsprojekte, Monografien, Dissertationen o. ä.) steckt. Wien/ Graz, im Sommer 2018 6 Vgl. Ruthner, Clemens: Habsburgs ‘Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur imperialen österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018 (= Herrschaft - Kultur - Differenz 23).- Dieser Monografie sind auch die (überarbeiteten) Beiträge von Clemens Ruthner zu diesem Sammelband entnommen. 7 Der von ihm initiierten und mitorganisierten Tagung Naša Bosna - Bečka škola vom 21. April 2016 an der Philosophischen Fakultät der Universität Sarajevo verdanken wir mehrere Beiträge zum vorliegenden Sammelband. INTRO Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 15 Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie Eine Einführung Clemens Ruthner (Dublin/ Ljubljana) Riesige, undurchdringliche Wälder, Flüsse in breiten Tälern, Almen mit eckigen, strohbedeckten Bauernhäusern, leise plätschernde Springbrunnen in den Vorhöfen der Moscheen mit ihren schlanken Minaretten, kühn projektierte Brücken in gewaltigen Bögen über grünklare Flüsse, trotzige Burgen und Klöster mit dem mattgoldenen Glanz ihrer Heiligenbilder - ein Stückchen Orient im Gebirge und in der Nachbarschaft des Mittelmeers - das ist Bosnien-Herzegowina, kaum eine Halbtagsreise von Mitteleuropa entfernt! Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren dies unwahrscheinlich rückständige und verwahrloste Provinzen, selbst dem Türkischen Reiche entfremdet und irgendwie unheimlich. Trotzdem wurden die Österreicher, als sie 1878 als Okkupanten kamen, keineswegs gut, sondern mit Mißtrauen empfangen. Dieses Mißtrauen wurde jedoch im Laufe der nächsten 40 Jahre abgebaut. Der Monarchie gelang es, durch eine vorbildliche Administration[,] korrektes und gerechtes Verhalten und viel Geduld sowie durch technische Leistungen das Vertrauen der Bosnier immer mehr zu gewinnen. Es war ein weiter Weg, der von den ehemaligen Insurgenten zu den treuesten Regimentern der k. u. k. Armee führte - er dauerte nur 40 Jahre, aber er war in seiner Art wunderbar. Als es 1918 zum endgültigen Zusammenbruch kam, der zur chaotischen Nachkriegslage führte, wurde von den Bosniern oftmals der österreichischen Verwaltung mit leiser Wehmut gedacht, weil sie Recht und Ordnung garantiert hatte. 1 Gleichsam in nuce fasst der Klappentext zu Ernests Bauers faktenreichem Buch Zwischen Halbmond und Doppeladler (1971) das gängige österreichische Populärnarrativ von der habsburgischen Besetzung (1878), Verwaltung und Annexion (1908) sowie dem Verlust Bosnien-Herzegowinas (1918) zusammen. Bauer listet hier nicht nur die gängigen topografischen, architektonischen und kulturellen Stereotypen auf, sondern führt in Folge noch andere narrative Operationen aus: Nicht nur werden die Herzegowiner/ innen aus dem Bild herausredigiert - es passiert ihnen nur allzu häufig, dass sie unter den Bosnier/ inne/ n subsumiert 1 Bauer, Ernest: Zwischen Halbmond und Doppeladler. 40 Jahre österreichische Verwaltung in Bosnien-Herzegowina. Wien: Herold 1971, Umschlag. 16 Clemens Ruthner werden -, sondern auch die Ungarn als imperiale Partner der österreichischen Besatzung sind verschwunden. Vergessen wird ebenso, dass viele Soldaten, die Bosnien-Herzegowina 1878 besetzten, selber Südslawen waren. Dafür wird die Erfolgsgeschichte erzählt, wie aus rückständiger Wildnis ‘Zivilisation’ wird - so sehr, dass die neuen bosnischen Untertanen förmlich betrübt sind, als ihre Besatzer sie wieder verlassen. Hier wird offenkundig die postimperiale Trauerarbeit jener, die der Herrschaft verlustig gegangen sind, auf die Beherrschten rückprojiziert, ganz im Sinne von Svetlana Boyms Definition, wonach Nostalgie „a longing for a home that no longer exists or has never existed“ sei, „yet the moment we try to repair ‘longing’ with a particular ‘belonging’.“ 2 Heute ist dieses Narrativ freilich auch in Bosnien-Herzegowina durchaus anschlussfähig, gibt es doch dort die Floskel der Großeltern-Generation vom Švabo babo , dem netten „schwäbischen“ (= ‘deutschen’) Väterchen - Kaiser Franz Joseph? -, dem all die schönen k. u. k. Gebäude, Bahnlinien, Straßen usw. im Land zu verdanken seien. Bei dieser Familienaufstellung sei aber daran erinnert, was die früh verstorbene amerikanische Germanistin Susanne Zantop in ihrer stimulierenden Arbeit zu Conquest, Family and Nation in Precolonial Germany, 1770-1880 über die Konstruktion von Liebes- und Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie in den Narrativen der europäischen Imperien formuliert hat: jene „Kolonialfantasien“ seien häufig „stories of sexual conquest and surrender, love and blissful domestic relations between colonizer and colonized, set in colonial territory, stories that made the strange familiar, and the familiar ‘familial’.“ 3 Ähnlich meint Sara Suleri in ihrem Buch The Rhetoric of English India (1997), koloniales Schreiben dekodiere „the colonized territory through the conventions of romance, reorganizing the materiality of colonialism into a narrative of perpetual longing and perpetual loss.“ 4 Damit erschließt sich einer kritischen Lektüre letztlich wohl auch die Nähe von Bauers naivem Narrativ zu kolonialen Denkmustern und Diskursen; die Frage ist, ob diese aus der untersuchten Epoche von 1878-1918 stammen oder nachträglich hinzugefügt worden sind. Als Konsequenz der sog. Postcolonial Studies ist nun in den Geschichts- und Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte oft diskutiert worden, ob jener moderne europäische Kolonialismus als globales Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts besser als Herrschaftskultur oder in Begriffen einer politischen Öko- 2 Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York: Basic Books 2001, p. 13. 3 Zantop, Susanne: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770-1870. Durham, London: Duke University Press 1997, p. 4, vgl. auch p. 2. 4 Suleri, Sara: The Rhetoric of English India. Chicago: University of Chicago Press 1992, p. 10. Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 17 nomie zu beschreiben sei. 5 Mit den Worten der prominenten Kolonialhistoriker Laura Ann Stoler und Frederick Cooper: To some, colonies were a domain of exploitation where European powers could extract land, labor, and produce in ways that were becoming economically less feasible and politically impossible at home. […] To others, colonies have marked a place beyond the inhibitions of the increasingly bourgeois cultures of Europe. […] Still other analyses have looked at colonies as laboratories of modernity, where missionaries, educators, and doctors could carry out experiments in social engineering without confronting the popular resistances and bourgeois rigidities of European society at home […]. Finally, a flood of recent scholars has located in the colonies the Other against whom the very idea of Europeanness was expressed […]. 6 Für welche Herangehensweise man sich auch entscheiden mag, handelt es sich beim historischen Kolonialismus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg um eine der sichtbarsten Auswirkungen eines zeitgenössischen Imperialismus kapitalistischer Prägung, der der Welt bis heute zwei Gesichter zeigt(e): 7 Zum einen steht er für militärische Eroberung und Fremdherrschaft über Menschen anderer Ethnien bzw. Hautfarben, für Ungleichheit, Ausbeutung und paternalistische Identitätspolitiken im Zeichen der „Zivilisation“, aufoktroyiert auf der Basis latent oder manifest rassistischer Diskurse, die einen ‘faulen’, zurückgebliebenen Eingeborenen 8 beschwören, den es zu zähmen und erziehen gilt. Zum anderen brachte der Kolonialismus aber auch moderne Infrastruktur und Öffentlichkeit, 5 Vgl. etwa Stoler, Ann Laura / Cooper, Frederick: Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda. In: diess. (Hg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World. Berkeley: U of California Pr. 1997, pp. 1-56, hier p. 4 u. 16. 6 Ibid., p. 5. 7 Zur Kolonialismus-Definition in Hinblick auf eine Abgrenzung von bzw. Kontextualisierung mit dem Imperialismus-Begriff vgl. Balandier, Georges: The Colonial Situation. A Theoretical Approach [1951]. In: Wallerstein, Immanuel (Hg.): Social Change. The Colonial Situation. New York: Wiley 1966, pp. 34-81, hier p. 39 u.ff.; Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Frankfurt/ M.: EVA 1955, z. B. p. 309ff.; Said, Edward: Culture and Imperialism. New York: Knopf 1993. London et al.: Vintage/ Random House 1994; Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte - Formen - Folgen. München: C.H. Beck 1995, 3 2001 (= Wissen in der BR 2002), p. 26ff.; Reinhard, Wolfgang: Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart: Kröner 1996, 2 2008 (= KTG 475), p. 1; Hodder-Williams, Richard: Colonialism. Political Aspects. In: Smelser, Neil J. / Baltes, Paul B. (Hg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences. Vol. 4. Amsterdam et al.: Elsevier 2001, pp. 2237-2240, hier p. 2237; Young, Robert J.C.: Empire, Colony, Postcolony. Chichester: Wiley Blackwell 2015, p. 59ff. 8 Vgl. etwa Alatas, Syed Hussein: The Myth of the Lazy Native. A Study of the Malays, Filipinos and Javanese from the 16th to the 20th century and its function in the ideology of colonial capitalism. London: F. Cass 1977. 18 Clemens Ruthner neue Produkte und Lebensstile ebenso wie Pressewesen, 9 Bildungs- und Rechtssysteme, was für viele Kolonien den ersten Schritt in eine Zivilgesellschaft darstellte und es jenen „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon 10 ) paradoxerweise ermöglichte, schlussendlich die Kolonialherrschaft gewaltsam oder auch friedlich abzuschütteln. Man könnte hier in Anlehnung an die Begrifflichkeit Horkheimers und Adornos 11 von einer doppelten ‘Dialektik des Kolonialismus’ sprechen, 12 in der einerseits das vorgebliche Aufklärungs- und Reformprojekt der mission cilvilatrice 13 (Rudyard Kiplings „White Man’s Burden“ 14 ) in Unterdrückung und langwierige Verwüstung der späteren Dritten Welt ausgeartet ist, dies aber andererseits nicht nur eine Selbstentfremdung dieser Regionen nach sich zieht, sondern auch einen wichtigen Schritt in Richtung Modernisierung und Dekolonialisierung darstellt. Wie im Folgenden behauptet werden soll, zeigte die Habsburger Monarchie 1878-1918 Bosnien-Herzegowina beide Seiten dieses kolonialistischen 15 Janus- 9 Zur gesellschaftlichen Dynamik, die mit der Einführung bzw. Duldung ‘eingeborener’ Massenmedien - der Schaffung von „bürgerlicher Öffentlichkeit (Habermas) - ausgelöst wird und letztendlich zur Dekolonisation beiträgt, vgl. etwa Kalpagam, Uma: Colonial Governmentality and the Public Sphere in India. In: Journal of Historical Sociology 15 (2002), nr. 1, pp. 35-58. 10 Vgl. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde [1961]. Vorwort von Jean-Paul Sartre. Übers. von Traugott König. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1981, 142014 (= st 668). 11 Vgl. Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947]. Frankfurt/ M.: Fischer Taschenbuch Verl. 1988 (= FW 7404). 12 Dies geschieht freilich unter einem anderen Vorzeichen als bei Fieldhouse, D.K.: Colonialism 1870-1945. An Introduction. London: Weidenfeld & Nicolson 1981. Dieser schreibt: „Ultimately the twin forces of imperial disillusionism and moral concern and colonial resentment and ambition fused to generate decolonization. This was the dialectic of colonialism as an historical phenomenon. In its beginnings was its end.“ (ibid., p. 49) 13 Zur „civilizing mission“ als zentraler Ideologie zur diskursiven Legitimierung des Kolonialismus vgl. etwa Barth, Boris / Osterhammel, Jürgen (Hg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jh. Konstanz: UVK 2005; Mann, Michael: „Torchbearers Upon the Path of Progress“. Britain’s Ideology of a „Moral and Material progress“ in India. In: Fischer-Tiné, Harald / Mann, Michael: Colonialism as Civilizing Mission. Cultural Ideology in British India. London, New York, Neu-Delhi: Anthem 2004, pp. 1-26. Conklin, Alice V.L.: A Mission to Civilize. The Republican Idea of Empire in France and West Africa, 1895-1930. Stanford: Standford Univ. Pr. 1997.- In Bezug auf Österreich-Ungarn vgl. Telesko, Werner: Colonialism without Colonies. The Civilizing Missions in the Habsburg Empire. In: Falser, Michael (Hg.): Cultural Heritage as Civilizing Mission. From Decay to Recovery. New York, Wien: Springer 2015, pp. 35-48. 14 Eine online-Fassung von Kiplings gleichnamigem Gedicht von 1899 findet sich in englischer und deutscher Sprache etwa unter www.loske.org/ html/ school/ history/ c19/ burden_full.pdf 15 Vgl. dazu auch Ruthner, Clemens: ‘K.u.k.Kolonialismus’ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren Klärung. In: Feichtinger, Johannes et al. (Hg.): Habs- Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 19 kopfes (gleichsam das „österreichische Antlitz in allen Formen“ , 16 um mit Karl Kraus zu sprechen). Dies soll nun in Form eines historischen Abrisses näher ausgeführt werden, an den analytische Überlegungen anschließen. 1. Zur Vorgeschichte der Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878 Die Motive, warum genau Österreich-Ungarn den halbherzigen Anschluss Bosniens und der Herzegowina ans eigene Staatsgefüge plante und durchführte, werden bis heute disktiert und sind wohl zwischen den Zeilen der mantrahaft wiederholten k. u. k. „Friedens- und Kulturmission auf dem Balkan“ zu finden - dies umso mehr, als sich einem historischen Rückblick beide Optionen - ‘ take it or leave it ( to the Serbs)’ - als potenziell gleich katastrophal darbieten. Man tut wohl gut daran, auch hier mit Eric Hobsbawm das „Age of Empire“ in Europa als signifikante politische Handlungsfolie anzusehen, wie dies zum Beispiel die Historiker Arnold Suppan, Evelyn Kolb oder Robin Okey getan haben. 17 Auch sonst weicht in der kanonisierten Geschichtsschreibung des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts das Narrativ von der Vorgeschichte der Okkupation 1878 nicht wesentlich von den Leitlinien ab, die die renommierte Balkanhistorikerin Barbara Jelavich und andere Forscher/ innen vorgezeichnet haben: 18 1875 brach auf dem Gebiet der „Europäischen Türkei“ - wie der Balkan damals häufig genannt wurde - eine Revolte gegen die osmanische Herrschaft aus; sie begann als Protest von unzufriedenen herzegowinischen Landpächtern burg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck: Studienverlag 2003, pp. 111-128; online in: Kakanien revisited , www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ CRuthner3.pdf[2003]; bzw. Ders.: Habsburgs ‘Dark Continent ’. Postkoloniale Lektüren zur imperialen österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 23), Kap. A1. 16 Kraus, Karl: Nachruf . In: Die Fackel , Nr. 501-507 v. 25.01.1919, pp. 1-120, hier p. 116 u.ff. 17 Vgl. Suppan, Arnold: Zur Frage eines österreichisch-ungarischen Imperialismus in Südosteuropa. In: Wandruszka, Adam et al. (Hg.): Die Donaumonarchie und die südslawische Frage von 1848 bis 1918. Texte des ersten österreichisch-jugoslawischen Historikertreffens Gösing 1976. Wien: Verl. der ÖAW 1978, pp. 103-131; Kolm, Evelyn: Die Ambitionen Österreich-Ungarns im Zeitalter des Hochimperialismus. Frankfurt/ M. et al.: P. Lang 2001 (= EHHS 3: 900); Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Mission’ in Bosnia, 1878-1914. Oxford: Oxford Univ. Pr. 2007, p. 220. 18 Vgl. Jelavich, Barbara: The Habsburg Empire in European Affairs, 1814-1918. Chicago: McNally 1969 (European History Series), pp. 115 ff.; Dedijer, Vladimir/ Bozić, Ivan/ Ćirković, Sima/ Ekmečić, Milorad: History of Yugoslavia. Hg. v. Marie Longyear, übers. v. Kordija Kveder. New York et al.: McGraw-Hill 1974, pp. 393 ff.; Bérenger, Jean: L’Autriche-Hongrie 1815-1918. Paris: A. Colin 1994; pp. 115 ff.; Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer von der Frühzeit bis zur Gegenwart. Munich: C.H. Beck 2002, pp. 129 ff.; u. a. Vgl. auch die Beiträge von Raymond Detrez und Martin Gabriel zum vorliegenden Sammelband. 20 Clemens Ruthner gegen ihre muslimischen Grundherren, der rasch eskalierte, eine große Zahl von Opfern forderte und eine Flüchtlingswelle auslöste. Bald unterstützten Serbien und Montenegro den Aufstand, der sich bis 1876 bis Bulgarien ausbreitete. Ungeachtet der Tatsache, dass osmanische Truppen in den entbrennenden Kämpfen schlußendlich siegreich blieben, ging der Konflikt auch mit einer innenpolitischen Krise der Hohen Pforte selbst einher, die einen mehrfachen Führungswechsel - sogar in Form eines Staatsstreichs - bewirkte. 19 In Anbetracht der zunehmenden Instabilität des „kranken Manns am Bosporus“ und ehrgeizig imperialistischer russischer Pläne gab die Habsburger Monarchie die Tradition ihrer Balkanpolitik seit den Staatskanzlern Kaunitz und Metternich auf, die sich mit den Worten Mark Pinsons wie folgt beschreiben lässt: „(1) to keep Russian presence and influence to a minimum and (2) to maintain the status quo with the Ottoman administration“. 20 Es gibt Anzeichen für eine expansionistische Neuorientierung der österreichisch-ungarischen „Orientpolitik“, die scheinbar nicht nur in Wiener Militär- und Hofkreisen um sich griff, sondern auch mit der Person eines key player verbunden ist, nämlich dem gemeinsamen Außenminister, Graf Gyula ( Julius) Andrássy (1823-1890). 21 1877, während des Russisch-Türkischen Kriegs, der eine weitere Folge des Konflikts von 1875/ 76 war, erklärte Österreich-Ungarn seine Bereitschaft zu einer wohlwollenden Neutralität gegenüber dem Zarenreich; als Gegenleistung boten die Russen Bosnien-Herzegowina der Habsburger Monarchie an. 22 Diese Vereinbarung fand freilich nicht am 3. März 1878 Eingang in den Friedensvertrag von San Stefano. Da jedoch die dort getroffenen Abmachungen zur territorialen Neuorganisation der Region (z. B. das Entstehen eines großbulgarischen Staates) die europäischen Großmächte nicht wirklich befriedigten, wurde für 13. Juni des selben Jahres der Kongress von Berlin einberufen, der die Frage der Balkan-Grenzziehungen aufs Neue diskutieren sollte. Eines der bedeutendsten Resultate dieser Verhandlungen war, dass das Osmanische Reich die Verwaltung 19 Vgl. Jelavich 1969, pp. 115-120. 20 Pinson, Mark: The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Historic Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia. Cambridge MA: Harvard Univ. Pr. 1994, p. 86. 21 Vgl. etwa Kos, Franz-Josef: Ein Plan österreichischer Militärs zur Erwerbung Bosniens und der Herzegowina (1869). In: Österreichische Osthefte 34 (1992), pp. 36-53; Haselsteiner, Horst: Bosnien-Herzegowina: Orientkrise und die südslawische Frage. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996 (= IDM Book Series 3), pp. 9-30; Kolm 2001, p. 105f.; außerdem Wertheimer, Eduard von: Graf Julius Andrássy. Sein Leben und seine Zeit. Vol. III. Stuttgart: DVA 1913. 22 Dedijer et al. 1974, p. 396; Hösch 2002, pp. 132 ff.; Haselsteiner 1996, pp. 15 ff.; Jelavich, Barbara: History of the Balkans. 2 vol. Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 1983, p. 59; Donia, Robert J.: Islam under the Double Eagle. The Muslims of Bosnia and Hercegovina, 1878-1918. New York: Columbia Univ. Pr. 1981, pp. 8 ff. Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 21 Bosniens und der Herzegowina auf Antrag des britischen Unterhändler Lord Salisbury an Österreich-Ungarn abtreten musste. Artikel 25 des Berliner Vertrags formulierte am 13. Juli 1878: The Provinces of Bosnia and Herzegovina shall be occupied and administered by Austria-Hungary. The Government of Austria-Hungary, not desiring to undertake the administration of the Sandjak of Novi-Pazar, which extends between Servia and Montenegro in a south-easterly direction to the other side of Mitrovitza, accepts the Ottoman Administration will continue to exercise its functions there. Nevertheless, in order to assure the maintenance of the new political state of affairs, as well as freedom and security of communications, Austria-Hungary reserves the right of keeping garrisons and having military and commercial roads in the whole of this part of the ancient Vilayet of Bosnia. To this end the Governments of Austria-Hungary and Turkey reserve to themselves to come to an understanding on the details. 23 Dies ist das vage und vorläufige Verhandlungsergebnis von Berlin, das sich vor allem konkreter Zeitvorgaben über die Dauer der Fremdadministration Bosnien-Herzegowinas, aber auch jeder Angabe über künftige Konsequenzen enthält. Im charakteristisch launigen Stil des britischen Habsburg-Historikers A.J.P. Taylor liest sich diese für den österreichisch-ungarischen Außenminister aporetische no-win situation wie folgt: Russia had constantly pressed them on Austria-Hungary, to tempt her into setting the example of partition. For this reason Andrássy had tried to avoid the offer; on the other hand, he [= Andrássy, CR] could still less afford their union with the Slav state of Serbia. At the Congress of Berlin he squared the circle. 24 Richard Georg Plaschka beschreibt das diplomatische Tauziehen als prélude der gewaltsamen militärischen Besetzung Bosnien-Herzegowinas als Strategiespiel der beteiligten Länder: Bismarck konnte für Deutschland mit Distanz agieren, hat die Rolle des proponierten ‘ehrlichen Maklers’ zu erfüllen versucht, seine Neigung zu Rußland und dessen Zaren nicht unterdrückt, sein Verständnis in bezug auf Bosnien und Hercegovina deutlich gemacht. Großbritannien, bemüht um Wahrung und Steigerung seiner Position im 23 Zit. n. Israel, Fred L. (Hg.): Major Peace Treaties of Modern History, 1648-1967. New York: Chelsea House 1967, p. 985.- Zur österr.-ungar. Präsenz im Sandschak von Novipazar vgl. Scheer, Tamara: „Minimale Kosten, absolut kein Blut“. Österreich-Ungarns Präsenz im Sandschak von Novipazar (1879-1908). Frankfurt/ M. et al.: P. Lang 2013 (= Neue Forschungen zur ostmittel- und südosteuropäischen Geschichte 5). 24 Taylor, A.J.P.: The Habsburg Monarchy 1809-1918. A History of the Austrian Empire and Austria-Hungary [1948]. Harmondsworth: Penguin 1990, p. 166; vgl. Sugar, Peter F.: Industrialization of Bosnia-Herzegovina, 1878-1918. Seattle: Univ. of Washington Pr. 1963, p. 20ff. 22 Clemens Ruthner östlichen Mittelmeer, geriet zum härtesten Gegenspieler Rußlands, erwog ein britisch-türkisches Bündnis, zog geschickt wie heimlich - schon vor dem Kongreß - Fäden in Richtung seines Zugriffs auf Zypern, unterstützte aber ebenfalls und vorangehend die Intentionen Österreich-Ungarns. Frankreich, zurückhaltend operierend, nahm in Anspruch, die Rechte der Christen im Orient als Schutzmacht zu vertreten, wahr, hatte noch die offene Fragen seiner Aspirationen auf Tunis mit zu berücksichtigen. Italien erwies sich, um seine Machtsphären-Absichten in Richtung Albanien zu realisieren, als zu wenig vorarbeitend und durchsetzungsfähig. Österreich-Ungarn machte seine Wünsche in Richtung Bosnien-Hercegovina ebenso umsichtig wie nachdrücklich deutlich. 25 Barbara Jelavich indes fokussiert in ihrem Narrrativ ganz auf Andrássys wenig triumphale Rückkehr aus Berlin: Despite these great gains Andrássy did not receive a triumphant welcome home. Francis Joseph among others did not like the terms of the occupation of Bosnia and Hercegovina. He would have preferred a direct annexation. In contrast, the Magyar leaders were displeased with the acquisition of more Slavic peoples in the Empire. 26 Der französische Historiker Jean Bérenger schließlich detailliert noch mehr die Konsequenzen von Andrássys ‘Erfolg’, den er eher als Pyrrhus-Sieg ansieht: Elle [= l’occupation, CR] provoqua des manifestations en Hongrie. L’opinion suivait avec méfiance la politique russophile d’Andrássy, qui n’était justifiée que par le maintien du status quo dans les Balkans; le renforcement des petits États balkaniques et l’occupation de la Bosnie rompaient cet équilibre. Elles heurtaient les sentiments turcophiles des Hongrois et surtout l’occupation de la Bosnie accroissait le nombre de Slaves à l’intérieur de la monarchie, tandis que la gauche manifestait son hostilité à une guerre de conquête, qui coûta de nombreuses vies humaines. Les libéraux autrichiens manifestèrent également leur désaccord à l’égard d’une opération jugée ruineuse et inutile. Elle contribua à la chute du cabinet libéral Alfred Auersperg car François-Joseph n’aimait pas que l’on empiétât sur son domaine réservé. 27 Diese anzitierten Textbeispiele könnten in einer von Hayden White 28 beeinflussten Meta-Optik illustrieren, wie das historiografische Narrativ zur Vorgeschich- 25 Plaschka, Richard Georg: Avantgarde des Widerstands. Modellfälle militärischer Auflehnung im 19. und 20. Jahrhundert. 2 Bde. Wien, Köln, Graz: Böhlau 2000 (= Studien zu Politik und Verwaltung 60/ I+II), vol 1, p. 88. 26 Jelavich 1969, p. 122.- Zur Haltung Ungarns vgl. auch den Beitrag von Imre Ress zum vorl. Sammelband. 27 Bérenger 1994, p. 117. 28 Vgl. White, Hayden: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe. Baltimore et al.: Johns Hopkins University Press 1973 [dt.: Metahistory: Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/ M.: Fischer 1991]; Ders.: Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 23 te der Okkupation Bosniens und Herzegowina 1878 zwischen Personifikation (Andrássy als global player ) und Metonymie (die Staaten bzw. die politischen ‘Kräfte’) oszilliert. In seinen grundlegenden Zügen ist das Narrativ freilich entweder identisch bei den meisten konsultierten Historiker/ inne/ n oder zumindest kompatibel mit den existierenden anderen Versionen. 29 2. Gründe, Bosnien-Herzegowina (nicht) zu besetzen, und die Entwicklung des Gebiets von 1878-1914 […] ein fruchtbares, geordnetes Land, ein Absatzgebiet für unsere Industrie, ein Gebiet für den Schaffensgeist unserer Unternehmer; die Sicherung eines strategisch unentbehrlichen Gebietes für die Sicherheit unserer Monarchie gegen Süden vom Meere und vom Lande her. 30 Während sich die Vorgeschichte der k. u. k. Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878 bei den konsultierten Forscher/ inne/ n ziemlich konsistent ausnimmt, sind die unmittelbaren Beweggründe für diese letzte - und letztlich fatale - territoriale Expansion der Habsburger Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg weniger eindeutig; üblicherweise werden in der Geschichtsschreibung drei Motive genannt, hinter denen allesamt ein imperialistischer Bezugsrahmen sichtbar wird: 1. Strategische Gründe. Hier wird angenommen, dass Österreich-Ungarn den Bedarf verspürte, sein gefährdetes Kronland Dalmatien durch die militärische und infrastrukturelle Besetzung des bosnisch-herzegowinischen Hinterlands zunächst gegen das Osmanische Reich und später gegen den Panslawismus bzw. serbische Expansionsgelüste abzusichern 31 - wozu schon Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1978 [dt.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett Cotta 1991]. 29 Vgl. auch den Beitrag von Raymond Detrez zum vorl. Sammelband. 30 Spaits, Alexander: Der Weg zum Berliner Kongress. Historische Entwicklung Bosniens und der Herzegowina bis zur Okkupation 1878. Illustriert von Otto Gstöttnek. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1907 (= Unsere Truppen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Einzeldarstellungen I), p. 94. 31 Vgl. Sugar 1963, pp. 20 ff.; Jelavich 1983, p. 59; Haselsteiner 1996, pp. 16 ff. Malcolm, Noel: Bosnia. A Short History. New York: NYU Pr. 1994; Pan Macmillan 1996, 2002, p. 136; Detrez, Raymond: Reluctance and Determination. The Prelude to the Austro-Hungarian Occupation of Bosnia-Herzegovina in 1878. In: Ruthner, Clemens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878-1918. New York et al.: P. Lang 2015 (= Austrian Culture Series 41), pp. 21-40, hier p. 22. 24 Clemens Ruthner Feldmarschall Radetzky 1856 und Admiral Tegetthoff 1869 geraten hatten. 32 Diese Motivation erwies sich jedoch durch die bereits damals absehbare Tatsache geschwächt, dass ein slawischer Bevölkerungszuwachs von mehr als einer Million Menschen die bereits existierenden ethnischen Spannungen im Habsburger Reich nur verstärken würde. 33 (Überliefert sind hier etwa die geflügelten Worte des ungarischen Ministerpräsidenten Kálmán Tisza, man müsse „zwischen den beiden Übeln das kleinere wählen“. 34 ) 2. Wirtschaftliche Gründe . Bosnien-Herzegowina beherbergt(e) große Lagerstätten an Kohle, Eisenerz und anderen Metallen (deren Ausbeutung erst in Titos zweitem Jugoslawien in Angriff genommen werden sollte). Dieser Reichtum an Bodenschätzen brachte Historiker wie Bérenger 35 dazu, gewisse ökonomische Interessen hinter Österreich-Ungarns Invasionsplänen anzunehmen. In Anbetracht der zur Verfügung stehenden Quellen ist es jedoch generell schwierig festzustellen, inwiefern dieses Motiv - zusammen mit der Gewinnung eines neuen Absatzmarktes - 1878 tatsächlich eine große Rolle spielte. 36 Andererseits werden die „Naturschätze“ des Landes in den Schlussbemerkungen zum Operationsbericht des Okkupationsfeldzugs explizit erwähnt. 37 32 Vgl. Spaits 1907, p. 83; Fournier, August: Wie wir zu Bosnien kamen. Eine historische Studie. Wien: Reisser 1909, p. 5. 33 Vgl. Sugar 1963, p. 26; Pinson 1994, p. 119; Malcolm 1996, p. 136. 34 Wertheimer 1913, p. 144. 35 Bérenger 1997, p. 255; vgl. Malcolm 1996, p. 136; Kolm 2001, pp. 18 f., 105 f., 244 ff. 36 Dies wird etwa von Robin Okey 2007, p. 17, bestritten.- Die Behörden Österreich-Ungarns waren später äußerst zurückhaltend mit Subventionen und verfügten einerseits, dass die besetzten Gebiete sich von ihrem eigenen Einkünften zu finanzieren hätten (vgl. dazu etwa Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österr.-ungarischen Epoche (1878-1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg 1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93, p. 235); auf diese Weise kamen keine großen Staatsinvestitionen für die Wirtschaftsentwicklung zustande - außer für den Eisenbahnbau. Zum Anderen waren weder die neu geschaffene k. u. k. Bergwerksbehörde noch die Bosna -Bergbaugesellschaft selbst in der Lage, die örtlichen Bodenschätze konsequent und umfassend zu erschließen; auch der Informationsfluss mit privaten Investoren funktionierte nicht wirklich. Details bei Sugar 1963, pp. 105 ff., 159 ff.; vgl. weiters Malcolm 1996, p. 141; Wessely, Kurt: Die wirtschaftliche Entwicklung von Bosnien-Herzegowina. In: Wandruszka, Adam / Urbanitsch, Peter (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Wien: ÖAW 1973-1989, vol. 1, pp. 528-566; Lampe, John / Jackson, Marvin: Balkan Economic History 1550-1950. From imperial borderlands to developing nation. Bloomington: Indiana Univ. Pr. 1982, pp. 264-322. 37 Abtheilung für Kriegsgeschichte des k. k. Kriegsarchivs: Die Occupation Bosniens und der Hercegovina durch k. k. Truppen im Jahre 1878. Nach authentischen Quellen dargestellt. Wien: Verlag des k. k. Generalstabes/ W. Seidel 1879, p. 908. Ebenso finden sie auch in einer Denkschrift von Graf Burián, einem der ehem. k. u. k. Gouverneure des Gebiets, Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 25 3. Territoriale Expansion. Diese Argumentation geht davon aus, dass nach den erlittenen Niederlagen und Gebietseinbußen von 1859 bzw. 1866 und der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 die einzig verbleibende Möglichkeit zu einem (kompensatorischen? ) Gebietszuwachs für die Habsburger Monarchie im Südosten des Kontinents lag, d. h. in den Rückzugsgebieten des niedergehenden Osmanischen Reichs. 38 Andere Großmächte nahmen eine ähnliche Haltung gegenüber dem „kranken Mann Europas“ ein, was von den meisten Historiker/ inne/ n gemeinhin mit dem Etikett des Kolonialismus versehen wird: so etwa die Usurpation von Tunis durch Frankreich 1881 und von Ägypten durch Großbritannien 1882. 39 Allerdings standen auch mögliche finanzielle Nachteile auf der Kostenseite den geopolitischen Vorteilen einer Okkupation gegenüber. Der austro-amerikanische Historiker Robert A. Kann schreibt dazu: In financial sense the acquisition was considered not only no gain but a definite loss […]. Occupation was considered the lesser of two evils. It would mean bad business economically but it might offer some relief against the threat of Balkan nationalism and Russian-inspired Panslavism. 40 Neben einer Zunahme der Ausgaben des k. u. k. Reiches sowie seiner südslawischen Bevölkerung (aus letzterer sollten kroatische Herrschaftsansprüche im Sinne eines angestrebten „Trialismus“ ebenso erwachsen wie großserbischer Nationalismus 41 ), darf der Faktor nicht unterschätzt werden, dass mit der Okkupation Bosnien und der Herzegowinas zum ersten Mal in der habsburgischen Geschichte eine signifikante muslimische Gemeinschaft Teil der österreichisch-ungarischen Gesellschaft und Kultur wurde. 42 Diese neue Bevölkerungsgruppe bestand keineswegs aus einigen Konvertiten, sondern umfasste die regionalen Eliten: Landbesitzer, osmanische Funktionäre, Kleriker und die Intelligenzija sowie etliche Kaufleute. 43 Durch dieses Setting waren die in Bosnien-Herzegowina zunehmend ethnisierten religiösen Differenzen eng Erwähnung; vgl. Burián, Stephan Graf: Drei Jahre aus der Zeit meiner Amtsführung im Kriege. Berlin: Ullstein 1923, p. 223. 38 Vgl. Pinson 1994, p. 87; Sugar 1963, p. 20; Plaschka 2000, vol I, p. 89. 39 Vgl. Hösch 2002, p. 137. 40 Kann, Robert A.: Trends Towards Colonialism in the Habsburg Empire, 1878-1918. The Case of Bosnia-Herzegovina, 1878-1914. In: Rowney, D.K./ Orchard, G.E. (Hg.): Russian and Slavonic History. Columbus OH: Slavica Publ. 1977, pp. 164-180, hier p. 168. 41 Vgl. Jelavich 1983, p. 60. 42 Vgl. Pinson 1994, p. 9. 43 Vgl. Donia 1981; Pinson 1994; Neweklowsky, Gerhard: Die bosnisch-herzegowinischen Muslime. Geschichte, Bräuche, Alltagskultur. Unter Mitarbeit v. Besim Ibišević and Žarko Bebić. Klagenfurt, Salzburg: Wieser 1996 (= Austrian-Bosnian Relations 1). 26 Clemens Ruthner mit sozialer Hierarchie verflochten, zumal die Mehrheit der freien Bauern und abhängigen Landpächter ( kmetovi ) christlichen Glaubens war, also entweder der orthodoxen oder der katholischen Kirche angehörten. 44 Auf diese Weise waren alle Eingriffe der österreichisch-ungarischen Behörden in dieses problematisch spätfeudale Netzwerk religiöser, kultureller und sozialer Differenzen von vornherein heikel. Auf der anderen Seite war die militärische Invasion Bosnien-Herzegowinas im Sommer und Herbst 1878 keineswegs jener friedliche „Parademarsch“, den Außenminister Andrássy der k. u. k. Armee vorausgesagt hatte; 45 vielmehr handelte es sich um einen blutigen Eroberungsfeldzug, der von osmanischen Truppenresten und eilig aufgestellten lokalen Milizen der Bevölkerung heftig bekämpft wurde und so eine viel größere Truppenmobilisierung als ursprünglich geplant nötig machte. 46 Erst nach drei Monaten kriegerischen Konflikts, mehreren tausend Toten und zigtausenden Flüchtlingen war die Okkupation zu Ende (von ihr wird im Folgenden noch im Detail die Rede sein 47 ). Nach dem Schweigen der Waffen sollte jedenfalls die k. u. k. „Friedens- und Kulturmission“, von der am Berliner Kongress die Rede war, in Angriff genommen werden. Der Kommandant der Invasionstruppen, Feldzeugmeister Philippovich von Philippsberg, wurde Ende Oktober 1878 (wegen seiner großen Feindseligkeit den bosnischen Muslimen gegenüber) abgesetzt und durch einen seiner Unterführer, den Herzog von Württemberg, ersetzt. 48 Nachdem 1881 die Besatzungsmacht noch einmal durch Aufstände in der Herzegowina in Bedrängnis gekommen war, 49 wurde 1882 anstelle der Militärverwaltung eine Ziviladministration via das k. u. k. Gemeinsame Finanzministerium eingesetzt, 50 die sich in 44 Vgl. Pinson 1994, p. 117f. 45 Vgl. Wertheimer 1913, p. 153.- „Nicht unerwähnt mag hierbei bleiben“, schreibt einer der Veteranen im Rückblick, „daß die Besitzergreifung der Herzegowina, bei uns offiziell euphemistisch Okkupation genannt, keineswegs ein bewaffneter Spaziergang war, sondern einen harten Kampf darstellte“; es sei wohl wegen der erlittenen Verluste adäquater, „von einer Eroberung […] zu sprechen“ (Woinovich, Emil v.: In der Herzegowina 1878. Skizzen, zusammengestellt von FML E. v. W. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1908, p. 2). 46 Pavlowitch, Stevan K.: A History of the Balkans, 1904-1945. London, New York: Longman 1999, p. 116.- Militärische Details dazu finden sich u. a. in Militaria Austriaca 12 (1993), dem militärhistorischen Periodikum des österreichischen Bundesheeres. 47 Vgl. meinen Beitrag Besetzungen (1) zum vorl. Sammelband, der eben diesen Okkupationsfeldzug zum Gegenstand hat. 48 Vgl. Wertheimer 1913, p. 101f. 49 Vgl. dazu z. B. Jelavich, Charles: The Revolt in Bosnia-Hercegovina, 1881-82. In: Slavonic and East European Review [London] 31 (1953), pp. 420-436; Kapidžić, Hamdija: Der Aufstand in der Hercegovina im Jahre 1882. Graz: Historisches Inst. der Univ. 1972 (= Zur Kunde Südosteuropas, Bd. 1/ 2). 50 Vgl. Juzbašić, Dževad: Die österreichische Okkupationsverwaltung in Bosnien-Herzegowina. Einige Aspeket der Beziehungen zwischen den Militär- und Zivilbehörden. In: Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 27 weiterer Folge eine grundlegende Modernisierung des Landes auf ihre Fahnen schrieb. Federführend, einschneidend und prägend für Bosnien-Herzegowina war hier vor allem der ungarische Reichsfinanzminister Benjamin von Kállay (eigentlich Béni Kállay de Nagy-Kálló ), der erste Gouverneur der besetzten Gebiete von 1882 bis zu seinem Tod 1903. 51 Rückblickend schreibt sein - ebenso ungarischer - Nachfolger Stephan (István) Graf Burián, 1923: Die ersten Jahre der Okkupation galten der Erschließung des Landes sowie der Herstellung geordneter materieller Verhältnisse und des konfessionellen Friedens. Dann folgte die Schaffung eines verläßlichen Verwaltungsapparates, eines Straßen- und Eisenbahnnetzes, geordneter Finanzen, eines geeigneten Schulwesens, Regelung der komplizierten Grundbesitzverhältnisse auf Grund der bestehenden Rechtsverhältnisse, Ausarbeitung eines Katasters, Beginn der rationellen Ausnützung der reichen Bodenschätze des Landes durch Einrichtung moderner Industriebetriebe. 52 Als eine von vielen Stimmen zum Thema schreibt Burián weiter, die k. u. k. Verwaltung habe „sich durch ihre Leistungen im Lande zu Ansehen gebracht, wenngleich sie in den Augen der Bevölkerung immerfort als Fremdherrschaft galt“. 53 Allerdings sei sie nichts anderes als das „Weiterschleppen eines Übergangsregimes“ gewesen. 54 Das staats- und völkerrechtliche Provisorium der Okkupationszeit ging erst 1908 zuende, als Bosnien und die Herzegowina schließlich von der Habsburger Monarchie annektiert wurden, was aufgrund der dadurch provozierten internationalen Spannungen und Proteste 55 beinahe dazu führte, dass der große Krieg Priloga [Sarajevo] 34 (2005), pp. 81-112. 51 Zu Kállays Regime bzw. zur österr.-ungar. Herrschaft im Allgemeinen vgl. etwa Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule. In: Kakanien revisited , http: / / www.kakanien-revisited.at/ beitr/ fallstudie/ RDonia1.pdf (2007). Reprint in: In: Ruthner, Clemens et al., 2015 pp. 67-82; Babuna, Aydin: The Story of Bošnjaštvo. In: ibid., pp. 123-128; Sethre, Ian: The Emergence and Influence of National Identities in the Era of Modernization. Nation-Building in Bosnia and Herzegovina, 1878-1914. In: Kakanien revisited , www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ ISethre1.pdf (2004). Reprint in Ruthner et al. 2015, pp. 41-66; Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini, 1882-1903. Sarajevo: Veselin Masleša 1987 ‒ Donias Beitrag ist auch im vorl. Sammelband abgedruckt. 52 Burián 1923, p. 219. 53 Ibid., p. 220. 54 Ibid., p. 221. 55 Leo Tolstoi etwa klagt den Imperialismus der Annexion mit folgenden Worten an: „Die österreichische Regierung hat beschlossen, die Völker Bosniens und der Herzegowina, die bis zur letzten Zeit Österreichs Oberherrschaft noch nicht in vollem Maße anerkannten, als ihre Untertanen zu erklären, mit anderen Worten, sie nahm sich das Recht, ohne die Einwilligung dieser Völker, über die Erzeugnisse und über das Leben von einigen hunderttausend Menschen zu verfügen.“ (Tolstoi, Leo [Lev] N.: Die Annexion Bosniens 28 Clemens Ruthner von 1914 vorzeitig ausgebrochen wäre. Zugleich nehmen sich die Resultate jener „Friedens- und Kulturmission“ in Bosnien-Herzegowina, die sich die Doppelmonarchie bei der Okkupation 1878 auf ihre Fahnen geschrieben hatte, auch in dieser Spätphase wenig überzeugend aus. Die politischen Spannungen in den annektierten Gebieten nahmen als Folge (zivil)gesellschaftlicher Modernisierung eher zu als ab, 1906 kam es etwa zu einem Generalstreik, 1910 zu einer Bauernrevolte, und die Zustände wurden generell mehr und mehr „unhaltbar“. 56 So sind denn auch - ironischerweise, trotz und wegen aller k. u. k. ‘Kulturarbeit’ - am 28. Juni 1914 jene beiden Pistolenschüsse auf den österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand und seine Frau Sophie, die später zum Auftakt des Ersten Weltkrieg stilisiert werden sollten, nicht zufällig in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo abgefeuert worden. 57 Nach einem Intermezzo von Ausnahmezustand, Kriegsrecht und Krieg brachte der Zusammenbruch der Monarchie im Herbst 1918 schließlich auch das Ende der habsburgischen Herrschaft über Bosnien-Herzegowina mit sich; dieses wurde in den neu gegründeten südslawischen Staates der Serben, Kroaten und Slowenen („SHS“) eingegliedert, der sich später Jugoslawien nennen sollte, und - nach einem zweiten Anlauf 1945-1991 - selbst zu den untergegangenen Vielvölkerstaaten Europas zählt. 3. ‘K. u. k. colonial’: zeitgenössische und heutige Zuschreibungen Das habsburgische Intermezzo in Bosnien-Herzegowina 1878-1918 hat in der imperial-österreichischen Literatur jener Zeit erstaunlich wenig Niederschlag gefunden - ungeachtet der großen Exotik der neuen Gebiete, die die Reiseberichte immer wieder hervorheben. 58 Dennoch ist auch in den wenigen Texten literarischer Autoren, in denen Bosnien-Herzegowina überhaupt vorkommt, ein gewisser kolonialer Ton nicht überhörbar. So schreibt etwa Franz Kafka in und der Herzegowina. Übers. v. Edmund Rot. Berlin: H. Walther 1909, p. 6) Die Habsburger Monarchie sei damit „eins von diesen Räubernestern, das immer mehr und mehr die Herrschaft über hunderttausende ihm völlig fremder Menschen slavischen Stammes an sich reißt […]“ (ibid., p. 7). 56 Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jh. München: C.H.Beck 2010, p. 48.- Einen gut brauchbaren, detaillierten Gesamtüberblick über die 40 Jahre der österr.-ungar. Herrschaft gibt Okey 2007. 57 Hier gibt es Kommentatoren, die das Entstehen einer radikalen Schüler- und Studentenschaft durch das Bildungssystem des Besatzers auch als kolonialen Zug der Geschichte Bosniens verstehen, vgl. etwa Okey 2007, p. 136.- Zum Sarajevoer Attentat vgl. auch Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg . ): The ‘Long Shots’ of Sarajevo 1914. Ereignis - Narrativ - Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016 (= Kultur Herrschaft Differenz 22). 58 Vgl. dazu Sirbubalo 2012 und Ruthner 2018, insbes. Teil C.3. Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 29 einem Brief an Felice Bauer vom 27. Oktober 1912, in dem er sich angesichts der bevorstehenden Niederlage des Osmanischen Reiches in den Balkankriegen nachdenklich gibt: „[…] die Türken verlieren, was mich dazu bringen könnte, als ein falscher Prophet nicht nur für Soldaten, sondern für alles den Rückzug zu predigen (es ist auch ein schwerer Schlag für unsere Kolonien) […]“. 59 Auch a posteriori ist immer wieder die Frage gestellt worden, inwieweit sich die 40 Jahre österreichisch-ungarischer Präsenz in Bosnien-Herzegowina, die sich im Selbstbild gerne als Erfolgsgeschichte einer selbst auferlegten „Zivilisierungs-“ und „Europäisierungs“ mission präsentiert, innerhalb des Paradigmas - und Erbes - des europäischen Kolonialismus um 1900 zu sehen ist. In den letzten 15 Jahren haben nun verschiedene Forscher/ innen - nicht nur jene des Kakanien-revisited -Netzwerks 60 - die Übertragbarkeit eines ‘post/ kolonialen’ Zugangs auf das habsburgische Zentraleuropa diskutiert, gleichsam als dritten Weg, um den diskursiven Fallen des „Habsburgischen Mythos“ 61 bzw. der mit ihm einhergehenden Multikulti-Nostalgie („Viribus unitis“) und dem nationalistischen Opfer-Narrativ („Völkerkerker“) gleichermaßen auszuweichen. Dabei dürfte auch, wie dies verschiedentlich bereits in früheren Publikationen angedacht wurde, 62 Bosnien-Herzegowina unter allen Territorien des k. u. k. Imperiums ein Gebiet sein, das sich einfach als Kolonie im engeren Sinne ansehen ließe - wobei es bei Behauptungen dieser Art zwischen einer polemischen, einer kritischen und einer affirmativen Variante zu unterscheiden gilt. Der Kolonialismus-Vorwurf in Bezug auf die Habsburger Monarchie wurde bereits im ersten jugoslawischen Staat etwa vom Historiker Vladimir Čorović, einem bosnisch-serbischen Zeitzeugen der k. u. k. Zustände, erhoben. 63 Dieser auch später wiederholten Kritik wurde jedoch immer wieder - meist wegen 59 Kafka, Franz: Briefe 1900-1912. Hg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/ M.: S. Fischer 1999 (= Schriften Tagebücher Briefe. Krit. Ausg. hg. von Gerhard Neumann u. a.), p. 192.- Mit seiner Strafkolonie ist Kafka im Übrigen auch einer der wichtigsten post/ kolonialen der deutschsprachigen Literatur; vgl. Ruthner 2018, Kap. A.0. 60 Vgl. die diversen einschlägigen Beiträge im Webjournal www.kakanien.ac.at. 61 Vgl. Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur [1966]. Übers. von Madeleine v. Pastory. Wien: Zsolnay 3 2000; Cole, Laurence: Der Habsburger-Mythos. In: Brix, Emil et al. (Hg.): Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten. Wien: Böhlau 2004, pp. 473-504. 62 Vgl. etwa Müller-Funk, Wolfgang / Plener, Peter / Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen, Basel: Francke 2002 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 1); Hárs, Endre / Reber, Ursula / Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn, 1867-1918. Tübingen: Francke 2006 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 9); Donia 2015; Ruthner et al. 2015.- Für eine eingehendere Diskussion vgl. Ruthner 2003 bzw. Ruthner 2018, Kap. A.1. 63 Vgl. Čorović, Vladimir: Bosna i Hercegovina. Belgrad: Grafički zavod ‘Makarije’ 1925. 30 Clemens Ruthner ihrer ideologischen Grundierung - widersprochen, so etwa 1976 von Robert A. Kann: The thesis put before us, namely that the administration of Bosnia-Herzegovina represented trends of colonialism, is highly problematical. We must first ask whether the concept of colonialism, commonly understood as the rule of European powers over native colored people on other continents, can be transferred to a master-subject relation within Europe, pointing to a system of colonial administration and exploitation of whites by whites. 64 Der prominente austro-amerikanische Historiker betätigte sich damit in einer zeitgenössischen Debatte um die „innere Kolonisierung“ Europas in Anschluss an Michael Hechters Buch über den „Celtic Fringe“ Großbritanniens (1975) als Apologet habsburgischer Politik. 65 Für Kann konstituiert Kolonialismus „the unholy trinity of imperialism, capitalist exploitation, and oppression on racial grounds, all of them imposed by force“; 66 auf dieser Grundlage weist er die kritische Anwendung dieses Paradigmas auf Bosnien-Herzegowina zurück, auch wenn seine letztlich eurozentrischen - und habsburg-nostalgischen - Argumente kaum geeignet sind, heutige Leser/ innen nach dem postcolonial turn in den Kulturwissenschaften zu überzeugen. Unter Berufung auf Hechter ist etwa Robert Donia den umgekehrten Weg gegangen, 67 ebenso Robin Okey, 68 und in Pieter Judsons jüngst erschienener „New History“ des Habsburger Reichs wird Bosnien-Herzegowina „the empire’s lone colony - or protectorate“ genannt - ohne das dies freilich näher erörtert würde. 69 In einem Interview mit der einschlägigen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak für ein slawistisches Periodikum, das sich 2003 dem innerkontinentalen (russischen) Kolonialismus in Osteuropa vor, während und nach der Sowjet-Herrschaft widmete, wird die Proteus-Natur des Phänomens heraus- 64 Kann 1976, p. 164. 65 Zur Fortführung dieser Debatte vgl. Nolte, Hans Heinrich: Internal Peripheries. A Definition and a Note / Internal Peripheries in Europe. In: ders. (Hg.): Internal Peripheries in European History. Göttingen. Zürich: Muster-Schmidt 1991 (= Zur Kritik der Geschichtsschreibung 6), pp. 1-3 u. 5-27; Ders. / Bähre, Klaas (Hg.): Innere Peripherien in Ost und West. Stuttgart: Steiner 2001.- In Bezug auf die Habsburger Monarchie s. Verdery, Katherine: Internal Colonialism in Austria-Hungary. In: Ethnic and Racial Studies 2 (1979), pp. 378-399; Feichtinger, Johannes: Habsburg (post-)colonial. Anmerkungen zur inneren Kolonisierung in Zentraleuropa. In: Ders. et al. 2003, pp. 13-32; Komlosy, Andrea: Innere Peripherien als Ersatz für Kolonien? In: Hárs et al. 2006, pp. 55-78. 66 Kann 1976, p. 164. 67 Vgl. Donia 2015 bzw. Donias Beitrag zum vorl. Sammelband. 68 Vgl. Okey 2007, p. 220. 69 Vgl. Judson, Pieter M.: The Habsburg Empire. A New History. Cambridge: Harvard University Press 2016, p. 378 et passim. Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 31 gestrichen; auch daraus wäre eine Anregung für die kritische Analyse des bosnisch-herzegowinischen k. u. k. Intermezzos zu gewinnen: ‘Colonizer’ and ‘colonized’ can be fairly elastic if you define scrupulously. When an alien nation-state establishes itself as a ruler, impressing its own laws and system of education, and re-arranging the mode of production for its own economic benefit, one can use these terms, I think. 70 Kurz nach Spivak hat auch der Kolonialismus-Historiker Frederick Cooper, ansonsten ein ausgesprochener Kritiker der postkolonialen ‘Inflation’ in den Humanwissenschaften, formuliert: „A fuller version of the story of European colonial empires in the 19th and 20th centuries can also come from telling it alongside the history of the continental empires“, d. h. der Habsburger Monarchie, dem Osmanischen Reich und Russland. 71 Wohl ist einzuräumen, dass v. a. die propagandistische Verwendung des Kolonialismus-Terms in der hegemonial-staatskommunistischen Historiografie 72 des zweiten Jugoslawien die Begrifflichkeit für nachfolgende Forscher/ innen problematisch gemacht haben mag. 73 Auf der anderen Seite reproduzieren imperiale Textquellen aus Österreich-Ungarn immer wieder im Leitmotiv ihrer Friedens- und Kulturmission, die dem Niedergang des Osmanischen Reichs und dem Kriegschaos zu folgen habe, letztlich koloniale Argumentationsmuster. 74 Dafür ist etwa eine Aussage des k. u. k. Finanzministers und Bosnien-Gouverneurs Benjamin (Béni) von Kállay nachgerade paradigmatisch. In einem Interview mit dem Londoner Daily Chronicle meinte er: „Austria is a great Occidental Empire […] charged with the mission of carrying civilization to Oriental peoples; “ „rational bureaucracy“ sei „the key to Bosnia’s future […] to retain the ancient traditions of the land vilified and purified by modern ideas“. 75 Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas wird dadurch für den Historiker Judson zum Paradebei- 70 Zit. in Ulbandus [New York] 7 (2003): Empire, Union, Center, Satellite. The Place of Post-Colonial Theory in Slavic/ Central and Eastern European/ (Post-)Soviet Studies , p. 15. 71 Cooper, Frederick: Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History. Berkeley, Los Angeles, London: Univ. of California Pr. 2005, p. 22. 72 Etwa bei Dedijer et al. 1974, p. 448. 73 Vgl. dazu Vervaet, Stijn: Some Historians from Former Yugoslavia on the Austro-Hungarian Period in Bosnia and Herzegovina (1878-1918). In: Kakanien revisited, www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ SVervaet1.pdf (2004). 74 Vgl. dazu Okey 2007: 26 ff. et passim.-Dieser Diskurs wurde sogar auch von einigen Historiker/ innen v. a. österreichischer Provenienz unkritisch wiederholt, etwa wenn Suppan (1978, p. 128) lakonisch schreibt: „Im wesentlichen bestand eine Kultur- und Missionsaufgabe“. 75 Zit. n. Donia 1981, p. 14. 32 Clemens Ruthner spiel für „the principles of liberal colonial empire across Europe in the second half of the nineteenth century“. 76 Gerade jener quasi-kolonial legitimatorische Diskurs einer österreichisch-ungarischen mission civilatrice hat nicht nur jugoslawische, sondern auch etliche westliche Historiker/ innen 77 dazu gebracht, das Kolonialismus-Paradigma kritisch auch auf die Habsburger Monarchie zu übertragen. Ein frühes Beispiel dafür ist der Brite A.J.P Taylor, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die k. u. k. Herrschaft über Bosnien-Herzegowina polemisch bewertet: The two provinces were the ‘white man’s burden’ [! ] of Austria-Hungary. While other European Powers sought colonies in Africa for the purpose, the Habsburg Monarchy exported to Bosnia and Hercegovina its surplus intellectual production - administrators, road builders, archeologists, ethnografers, and even remittance-men. The two provinces received all benefits of Imperial rule: ponderous public buildings; model barracks for the army of occupation; banks, hotels, and cafés; a good water supply for the centres of administration and for the country resorts where the administrators and army officers recovered from the burden of Empire. The real achievement of Austria-Hungary was not on show: when the Empire fell in 1918, 88 per cent of the population was still illiterate. 78 2016 schreibt Judson in seiner „New History“ des Habsburger Reichs in einer Passage, die rhetorische Züge wie den Hang zur Aufzählung durchaus mit Taylor teilt, nicht unbedingt aber deren Polemik - und dabei hinter der Kolonie das Imperium als Konzept nicht aus dem Auge verliert: At the end of the 1870s […], Austria-Hungary became a colonial power by occupying a piece of Ottoman territory. The resulting thirty-year occupation of Bosnia-Herzegovina provided bureaucrats, ideologists, map makers, technicians of all kinds, teachers, and priests (among others) an unparalleled opportunity to realize Austria-Hungary’s new civilizing mission in Europe. At the same time, Austria-Hungary's experience of occupying Bosnia-Herzegovina created a consensus around the liberal civilizational 76 Judson 2016, p. 329.- Wie wir heute wissen, diente das k. u. k. Experiment u. a. auch als Vorbild für das amerikanische Engagement auf den Philippinen (vgl. Kolm 2001, p. 238). 77 Vgl. etwa Donia 1981, pp. 12 ff.; Pinson 1994, p. 113; Detrez 2002; Okey 2007; Judson 2015. 78 Taylor 1948/ 90, p. 166.- In Fortführung seines Gedankengang ließen sich noch weitere Daten ins Treffen führen: 1908 gab es landesweit in Bosnien lediglich 350 Volksschulen für 15 % der Kinder, 12 Gymnasien und keine Universität (Sugar 1963, p. 202). Eine Bewertung dieser Zahlen ist freilich Ansichtssache; in der Nachfolge Taylors verteidigt etwa der Oxforder Historiker Sir Noel Malcolm die habsburgische Bildungspolitik mit den Worten: „[…] no government which [in forty years, C.R.] builds nearly 200 primary schools, three high schools, a technical school and a teacher-training college can be described as utterly negligent in its education policy“ (Malcolm 1996/ 2002, p. 144). Nichtsdestotrotz dürfte die hohe Analphabetenrate nach dem Ende der Habsburger Herrschaft durchaus den Fakten entsprechen. Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 33 concepts of empire long after the liberal movement itself had faded into political obscurity. 79 Ähnlich wie Taylor äußert sich freilich schon der lothringische Sozialdemokrat Hermann Wendel, der nach dem Ersten Weltkrieg den neuen jugoslawischen Staat bereist und ihn als ‘europäischeren’ Rechtsnachfolger der Habsburger Monarchie postkolonial preist: „Das österreichisch-ungarische Bosnien war eine Kolonie, ein Stück Orient, künstlich von den Wiener Machthabern gehütet; der südslawische Nationalstaat ist Europa“. 80 Man könnte noch etliche weitere Beispiele geben, 81 wie oft die „Kolonie“ in zeitgenössischen Quellen als Leitbegriff für die besetzten Gebiete verwendet wird: Ein prominentes Beispiel dafür stellt etwa Ferdinand Schmid dar, der ehemalige Leiter des Statistischen Zentralamts in Sarajevo, der später, als Professor in Leipzig, eine akademische Monografie über Bosnien-Herzegowina schreibt unter Nutzung seines alten Datenmaterials. In diesem Zusammenhang diskutiert er auch die Anwendbarkeit kolonialer Konzepte auf die Habsburger Monarchie: Man hat in der deutschen und westländischen Literatur viel über den Begriff der Kolonien gestritten und darunter häufig nur überseeische, vom Mutterlande wirtschaftlich oder auch staatsrechtlich beherrschte Gebiete verstanden. In diesem Sinne besitzt Österreich-Ungarn keine Kolonien und in diesem Sinne hat es - wenigstens in der neueren Zeit - niemals Kolonialpolitik getrieben. Faßt man dagegen den Begriff der Kolonien etwas weiter, so kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß Bosnien und die Herzegovina von Österreich-Ungarn als Kolonialgebiete erworben wurden und solche in der Hauptsache bis heute geblieben sind. 82 Hier wird das Kolonialismus-Paradigma freilich nicht als kritischer Term gehandhabt, sondern affirmativ, ähnlich wie dies schon beim Berliner Journalisten Heinrich Renner 1896 der Fall ist - aus dessen Sicht, „[w]as in diesem Lande geleistet wurde, […] fast beispiellos in der Kolonialgeschichte aller Völker und Zeiten“ war. 83 79 Judson 2016, p. 329. 80 Wendel, Hermann: Von Belgrad bis Bucari. Eine unphilosophische Reise durch Westserbien, Bosnien, Hercegovina, Montenegro und Dalmatien. Frankfurt/ M.: Societäts-Druckerei 1922, p. 58. 81 Vgl. etwa die bei Kolm 2001, p. 237 ff. aufgelisteten Beispiele; vgl. auch Vilari 1902. 82 Schmid 1914, p. 1. 83 Renner, Heinrich: Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer. Wanderungen von H.R. Berlin: Reimer 1896, p. V. 34 Clemens Ruthner 4. Bosnien als (Ersatz-)Kolonie: mögliche Parameter Will man nun aus heuristisch-wissenschaftlichen Gründen - d. h. über eine zeitgenössische und spätere Verwendung polemischer Topoi hinaus - die k. u. k. Ära in Bosnien-Herzegowina als Kolonialherrschaft ansehen, empfiehlt sich in Ergänzung zu den in einem früheren Aufsatz 84 diskutierten Kolonialismus-Definitionen die Einbeziehung spezifischerer Bestimmungen. Dafür gäbe es mehrere Anregungen. Schon 1951, zu einer Zeit also, als der europäische Kolonialismus gerade in Umbruch und Auflösung begriffen war, hat etwa der französische Sozialanthropologe Georges Balandier in einem richtungsweisenden Aufsatz die „situation coloniale“ als eine spezielle Beziehung zwischen Kollektiven, die er als „crude sociological experiment“ sieht, 85 wie folgt beschrieben: 86 1. „the domination imposed by a foreign minority, racially (or ethnically) and culturally different, acting the name of a racial (or ethnic) and cultural superiority dogmatically affirmed“; 2. „this domination linking radically different civilisations into some form of relationship“; 3. „a mechanized, industrialized society with a powerful economy, a fast tempo of life, and a Christian background, imposing itself on a non-industrialized, ‘backward’ society“; 4. the fundamentally antagonistic character of the relationship between the two societies“ [d. h. der Kolonialmacht/ dem Mutterland und der Kolonie, C.R.]; 5. „the need, in maintaining this domination, not only to resort to force, but also a system of pseudo-justification“ [d. h. z. B. die Supponierung rassischer Ungleichheit und die mission civilatrice , C.R.]. 87 D.K. Fieldhouse wiederum hat in seiner Studie zum internationalen Imperialismus als Kolonialismus (1981), die sich als Alternative zu marxistischer Theoriebildung versteht, folgende Schwerpunkte herausgearbeitet, um das Phänomen zu fassen: die juridische Basis, die essentiellen inneren Widersprüche der Kolonialherrschaft, schließlich ihre Institutionen und national verschiedenen 84 Ruthner 2003; reformuliert als Ruthner 2018, Kap. A.1 85 Balandier 1951/ 1966, p. 38. 86 Ibid., p. 54f. 87 Die eminent wichtige Rolle legitimatorischer Diskurse wie z. B. der rassischen Ungleichheit und der mission civilatrice haben neben Balandier auch etliche andere Forscher/ innen herausgestrichen, vgl. etwa Mann 2004 und Osterhammel 2005. Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 35 Herrschaftssysteme. 88 Fieldhouse schließt mit einer Beschreibung der kolonialen Wirtschaft und ihres Erbes, die sie in den beherrschten Gebieten zurückgelassen hat. 89 Diese Schwerpunkte lassen sich durchaus mit etlichen Detailbeobachtungen vernetzen, die sich in Ballandiers Text - der sich auch als zeitgenössischer Forschungsbericht versteht - finden: 90 • „pacification […] with respect to the [own] interests of the western powers“ (p. 36); • „economic exploitation […] based on the seizure of political power“ (p. 37); • „the ideologies used to justify colonialism“ (p. 39); • „the color line, political dependency, virtual non-existing ‘social’ benefits, the lack of contact between natives and the ‘dominant caste’“ (p. 38). • „Colonial policy is the child of industrial policy“ (p. 40): „the quest for raw materials“ - deren Ausbeutung und Einfuhr-Ausfuhr weitgehend in den Händen der Kolonialmacht bleibt (p. 41); • „property dispossession“ (p. 41); • „proletarization“ and „detribalization of the indigenous people“ (p. 42); • „significant patterns of culture-change“ (p. 43); • „the role of the judicial and administrative apparatus charged with maintaining this domination“ (p. 44); • „the arbitrariness of the colonial boundaries and administrative divisions“ (p. 44); • the „juxtaposing of incompatible or antagonistic ethnic groups“ (p. 45) and the creation of "plural socities“ (p. 45) that are not "not perfectly homogenous“ (p. 48); 91 • „the European minority exercises its influence over the native population with a force disproportionate to its numbers“ (p. 45); • a „middle class“ sent to colonies with the „notion of heroic character“ (p. 47); • the „recourse to stereotypes“ (p. 48) and the „racist foundation“ of colonial rule (p. 50); • the spirit of Divide et impera as maxime of colonial rule (p. 50); 88 Vgl. Fieldhouse 1981, p. 16.- Die äußerst problematischen Schlussfolgerungen, die Fieldhouse als liberaler Apologet des Kolonialismus zog (vgl. ibid., pp. 48 ff.) - nämlich, dass dieser unumgänglich gewesen wäre und dass ohne diesen sich die Staaten der Dritten Welt sich noch schlechter entwickelt hätten ‒ bleiben freilich dezidiert aus der folgenden Argumentation ausgeschlossen. 89 Vgl. ibid., pp. 51-108. 90 Quellennachweise aus Balandier 1951/ 66 im Lauftext. 91 Balandier spricht hier - in unseren Zusammenhang nicht uninteressant - von einer „Balkanization“ (ibid.). 36 Clemens Ruthner • colonial societies being „both traditionalist and modernist - that particular state of ambiguity noted by several observers“ (p. 53) and • „the crises marking the stages of the so-called process of ‘evolution’“ (p. 56). Die in Frankreich lebende kroatische Philosophin Rada Iveković sieht in einer Kolonie ein „brutal ausgebeutetes“, „nicht-souveränes Land“, dessen Bevölkerung von unterschiedlicher Herkunft und „hinsichtlich der Ordnung der Körper, der Staatsbürgerschaft, der Freiheit und Rechte untergeordnet“ sei; die Ausbeutung der kolonialen Peripherie trage zur Entwicklung des Kapitalismus im imperialen Zentrum bei. 92 Wolfgang Müller-Funk und Birgit Wagner wiederum zählen in Anschluss an Hannah Arendts Imperialismus-Buch folgende auch für eine binneneuropäische Verwendung relevanten Kategorien des Kolonialismus auf: die „systematische und gewaltsame Landnahme“, die „weitgehende Rechtlosigkeit der verbliebenen“ autochthonen Bevölkerung, der „Import europäischer Menschen“, die „Einführung der eigenen Kultur" („in Technik, Verwaltung, Sprache, Gesetzgebung, Schulsystem, Ökonomie“) sowie die „Ausbeutung des kolonialen Reichtums“. 93 Im Sinne dieser sehr kurzen und kursorischen Forschungssynthese, die auf unserem beschränkten Raum nicht ausführlicher zu leisten ist, könnten und sollten nun folgende Faktoren bei einer Analyse der österreichisch-ungarischen Herrschaft in Bosnien-Herzegowina als Ersatzkolonialismus berücksichtigt werden (wobei freilich auch zu fragen wäre, ob nicht schon die osmanische Herrschaft gewisse koloniale Züge aufwies 94 ): 1. Die militärische Eroberung nach Mandatszuweisung durch eine internationale Konferenz, nämlich den Berliner Kongress 1878, ist zweifellos eine wichtige Kategorie für eine historisch-politikwissenschaftliche Einschätzung des Status von Bosnien-Herzegowina, die aufgrund ihrer Gewalttätigkeit gerne aus dem Narrativ der „Friedens- und Kulturmission“ herausredigiert wird, mit der das Habsburger Reich gleichsam seine staatliche Idee expor- 92 Ivekovic, Rada: Die Spaltung der Vernunft und der postkoloniale Gegenschlag. In: Müller-Funk, Wolfgang / Wagner, Birgit (Hg.): Eigene und andere Fremde. ‘Postkoloniale’ Konflikte im europäischen Kontext. Wien: Turia + Kant 2005 (= Reihe Kultur.Wissenschaften 8.4), pp. 48-64, hier p. 57f. 93 Müller-Funk, Wolfgang / Wagner, Birgit (Hg.): Diskurse des Postkolonialen. In: Müller-Funk & Wagner 2005, pp. 9-27, hier p. 11f. 94 Zum relativ neuen Forschungsfeld des Osmanischen Reichs als Kolonialmacht vgl. Albrecht, Monika: Comparative Postcolonial Studies. East-Central and Southeastern Europe as a Postcolonial Space. [Unveröff. Vertrag, gehalten auf der Tagung Memory and Postcolonial Studies: Synergies and New Directions an der University of Nottingham, 10. 06. 2016]. Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 37 tiert. 95 Ähnliche Okkupationsmodi kennzeichnen auch die koloniale Erwerbung von „Schutzgebieten“ durch die anderen europäischen Mächte etwa im Gefolge der Kongo-Konferenz von Berlin 1884/ 85. 96 2. Der spezielle völker- und staatsrechtliche Status des Gebiets . 97 In seinen vier ‘kakanischen’ Jahrzehnten erhielt Bosnien-Herzegowina nie den Status eines „Kronlands“ (wie die regulären Bestandteile des Reichs), sondern blieb „Reichsland(e)“ 98 (in etwa vergleichbar mit dem Statut des 1871 annektierten Elsaß-Lothringen im deutschen Kaiserreich) - eine Art Appendix der Monarchie, der keiner der beiden Reichshäften zugeteilt wurde, sondern in einer komplizierten Konstruktion via das gemeinsame Finanzministerium zu beiden gehörte, was zur österreichisch-ungarischen Konkurrenzsituation beitrug und die weitere politische und wirtschaftliche Entwicklung behinderte. 99 Eine Folge davon war freilich auch, dass Bosnien-Herzegowina das einzige k. u. k. Territorium war, dass in keinem der beiden Parlamente in Wien und Budapest eine gewählte gesetzliche Vertretung hatte. 100 Ein regionaler Landtag ( Sabor ) wurde ebenso wie eine Verfassung für die besetzten Gebiete erst 1910 nach deren Annexion eingeführt; 101 im Parteienzwist wurde diese Volksvertretung jedoch rasch dysfunktional und im Zuge des Ausnahmezustands von 1914 wie auch die meisten anderen k. u. k. Parlamente wieder geschlossen. 102 Wie Pieter Judson schreibt: „Yet under the 95 Judson 2016, p. 330, schreibt: „The effective transmission of a civilizing mission to Europe’s East, understood in economic, social, legal, and cultural terms, represented the culmination of a transformed Austrian imperial idea whose role now officially included the export of its work beyond its own borders.“ 96 Vgl. Fieldhouse 1981, pp. 16 ff. 97 Vgl. Classen, Lothar: Der völkerrechtliche Status von Bosnien-Herzegowina nach dem Berliner Vertrag vom 13.7.1878. Bern et al.: P. Lang 2004 (= Rechts- und sozialwissenschaftl. Reihe 32). 98 Dieser Terminus wird häufig in Bezug auf Bosnien-Herzegowina verwendet, vgl. etwa Michel, Rudolf: Fahrten in den Reichslanden. Bilder und Skizzen aus Bosnien und der Hercegovina. Mit 25 Zeichnungen v. Max Bucherer. Wien, Leipzig: Deutsch-Österreichischer Verlag 1912; Attems, Moriz Graf: Bosnien einst und jetzt. Wien: L.W. Seidel 1913, p. 32; u. a.- Vgl. dazu auch den Beitrag von Tamara Scheer zum vorl. Sammelband. 99 Vgl. Sugar 1963, p. 26 u. Donia 2015; vgl. auch Burián 1923, p. 226. 100 Ein amerikanischer Historiker hat deshalb in Anlehnung an die Sowjetunion vorgeschlagen, von einer bosnischen „satrapy“ zu sprechen; vgl. McCagg, William O.: The Soviet Union and the Habsburg Empire. Problems of Comparison. In: Rudolph, Richard L./ Good, David F. (Hg.): Nationalism and Empire. The Habsburg Empire and the Soviet Union. New York: St. Martin’s Pr. 1992, pp. 45-63, hier p. 50f. 101 Vgl. Juzbašić, Dževad: Die Annexion von Bosnien-Herzegowina und die Probleme bei der Erlassung des Landesstatutes. In: Südost-Forschungen [München] 68 (2009), pp. 247-297. 102 Vgl. Imamović, Mustafa: Bosnia and Herzegovina. The evolution of its political and legal institutions. Sarajevo: Magistrat 2006. 38 Clemens Ruthner new constitutional situation Bosnia [still] existed in a kind of unacknowledged legal limbo […]“. 103 3. „ Indirect rule. “ 104 Ähnlich wie die britische Herrschaft über Indien stützte sich auch die österreichisch-ungarische Besatzungsmacht auf die Reformierbarkeit und Kollaboration existierender autochtoner Eliten , d. h. vornehmlich die Grundherren und andere muslimische Oberschichten. 105 (Dies verhinderte letztlich auch die Durchführung einer dringend nötigen Landreform, 106 was zur Frustration der mehrheitlich christlichen Landbevölkerung beitrug, die gerade in dieser Frage ihre einschlägige Hoffnung auf die neue k. u. k. Herrschaft gesetzt hatte.) 107 4. Administrative Bevormundung . Österreich-Ungarn setzte eine von außen kommende, 108 ausufernde und paternalistisch 109 agierende Zivilverwaltung ein, die auch in ihren unteren Rängen örtliche Bewerber diskriminierte - insbesondere, wenn es sich um Serben oder Muslime handelte. 110 Die mittlerweile teilweise editierten Akten der k. u. k. Landesregierung lassen einen Einblick auf das gepflogene micro-management zu, das in alle Belange des 103 Judson 2016, p. 379. 104 Zum Unterschied des britischen ‘indirect rule’ und der französischen Direktherrschaft, vgl. Fieldhouse 1981, pp. 29 ff. u. 36 ff.- Es ist freilich davon auszugehen, dass Österreich-Ungarn ohne den Ersten Weltkrieg zu einer stärkeren Eingliederung der beiden Provinzen ins Reich übergegangen und damit eher dem Vorbild der französischen Herrschaft in Algerien gefolgt wäre. 105 Vgl. den rechts- und institutionsgeschichtlichen Vergleich der Fremdadministrationen Anglo-Indiens und Bosnien-Herzegowinas bei Gammerl, Benno: Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867-1918. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010 (= Krit. Studien zur Geschichtswiss. 189), insbes. pp. 73-216. Vgl. auch Okey 2007, p. 26f. 106 Vgl. etwa Calic 2010, p. 47f.- Erst 1911 wurde die Kmetenfrage - schleppend - dahingehend gelöst, dass man den abhängigen Landpächtern ermöglichte, sich durch ein neues Landeskreditsystem von ihren Grundherren freizukaufen (vgl. Burián 1923, p. 227); auf diese Weise hätte eine Neuordnung der Besitzverhältnisse allerdings etliche Jahrzehnte gedauert, wenn nicht diese Entwicklung ohnehin durch den Ersten Weltkrieg obsolet geworden wäre. 107 Vgl. etwa Sugar 1963, pp. 33 ff. 108 Im Vergleich mit der osmanischen Zeit nahm die Anzahl der mit der Verwaltung betrauten Landesbeamten bis 1908 von 120 auf rund 9.500 zu (Pinson 1994, p. 119f.; vgl. Sugar 1963, p. 29). 109 Vgl. Donia 2015, pp. 72 ff.; vgl. auch, was Fieldhouse 1981, p. 43, über die Zivilverwaltungen der europäischen Kolonialmächte, schreibt: „most seem to have fallen back on a benevolently conservative paternalism“. 110 1904 waren nur 26,5% aller in der Verwaltung Bosnien tätigen Beamten auch dort geboren, die Mehrheit davon katholisch, lediglich 3 % serbisch-orthodox bzw. 5 % muslimisch (vgl. Pavlowitch 1999, p. 117; Dedijer et al. 1974, p. 449; Jelavich 1983, p. 60; Donia 2015, p. 73f.). Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 39 gesellschaftlichen Lebens eingriff und sich Fragen widmete, ob beispielsweise der gewählte Name für einen örtlichen Amateurchor zulässig sei oder nicht. 111 Diese zivilisatorischen Errungenschaften werden freilich durch wiederholte Korruptionsvorwürfe konterkariert, die vor allem in der diplomatischen Korrespondenz des Auslands erhoben wurden und ein anderes Bild als jene selbst angenommene „Kulturmission“ zeichnen. 112 Ähnliches gilt für die Beobachtung des Zeitzeugen Hermann Wendel über das finanzielle Missverhältnis zwischen Exekutivgewalt und softpower : er moniert als „k. und k. Beitrag zur Relativitätstheorie“, dass ein Schulleiter in Bosnien-Herzegowina weniger verdiene als ein Gendarmerie-Wachtmeister und generell mehr Mittel für Polizei als für Bildung aufgewendet würden. 113 Für die repressive Natur der österreichisch-ungarischen Präsenz und gegen das Narrativ eines „gelungenen Zusammenleben[s]“ 114 spricht auch der zunehmende politische Widerstand der autochtonen Bevölkerung (v. a. der Serben und Muslime) gegen die k. u. k. Herrschaft. 115 5. Aufbau eines Wissensregime . Typisch für Kolonialmächte auf der ganzen Welt ist im 19. Jahrhundert, dass sie sich auf Datensammlung und Generierung von Herrschaftswissen über ihre neuen Territorien und Untertanen stützen; dies kreiert eine neue, hegemoniale epistemè , die einerseits als antiquarische Sammlerin vorgeht, zugleich aber im Namen der Aufklärung und Modernisierung existierende native Diskurse entwertet, überschreibt bzw. als altmodischen ‘Aberglauben’ abstempelt (narrative Enteignung). 116 So auch in Bosnien-Herzegowina, wo mit dem von Kállays k. u. k. Administration gegründeten Landesmuseum / Zemaljski muzej eine zentrale Institution zur Wissensbeschaffung in den Bereichen Natur- und Volkskunde (inklusive Geschichte und Archäologie) eingerichtet wurde; 117 Kállay versucht zudem mit Hilfe seines Freundes Lajos v. Thallóczy, eine gemeinbosnische Geschichte (die sich von jener der südslawischen Nachbarländer unterscheidet) zur Legitimation der (österreichisch-)ungarischen Präsenz in der Region durchzusetzen. 118 111 Vgl. Donia 2015, p. 72ff. 112 Vgl. Sugar 1963, pp. 26, 30 f. 113 Wendel 1922, p. 60. 114 Vgl. Heuberger, Valeria / Illming, Heinz: Bosnien-Herzegowina 1878-1918. Alte Ansichten vom gelungenen Zusammenleben. Wien: Brandstätter 1994. 115 Vgl. Donia 2015, p. 70f. 116 Vgl. Stoler & Cooper 1997, p. 15ff.; Scott, David: Refashioning Futures. Criticism after Postcoloniality. Princeton: Princeton UP 1999, p. 46; u. a.- Vgl. dazu insbesondere auch den Beitrag von Reinhard Johler zum vorl. Sammelband. 117 Vgl. Donia 2015, p. 77. 118 Vgl. etwa ibid., p. 75ff. 40 Clemens Ruthner 6.a Othering of the Other. Während und nach der Invasion wurde die österreichisch-ungarische „Kulturmission“ als diskursives Werkzeug verwendet, um zu rechtfertigen, dass die Herrschaft weniger demokratisch war als im Mutterland und die Bosnier/ innen dadurch zu Bürger/ innen zweiter Klasse wurden. Um wiederum die österreichisch-ungarische mission civilatrice zu legitimieren, wurden die in Bosnien-Herzegowina lebenden Menschen im Rahmen eines Populär-Orientalismus 119 als das Fremde imaginiert, das der Zivilisierung bedarf - wobei man sie genauso gut auch als eine Erweiterung von bereits auf dem Gebiet der Monarchie lebenden Volksgruppen hätte ansehen können. 120 Dies schafft eine kulturelle Ökonomie von Stereotypen - Ressourcen, die auch in zahlreichen literarischen und nicht literarischen Texten bearbeitet werden: „Just as imperialists ‘administer’ the resources of the conquered country, colonialist discourse ‘commodifies’ the native into a stereotyped object and uses him as a ‘resource’ for colonialist fiction“. 121 6.b Identitätspolitik / invented traditions . In den mehr als zwanzig Jahren, die der k.u.k gemeinsame Finanzminister Kállay den besetzten Gebieten vorstand, versuchte er ihnen eine aus der mittelalterlichen Geschichte bezogene gemeinsame ‘bosnische’ Identität ( Bošnjaštvo ) aufzuerlegen, um dadurch auf einer symbolischen Gemeinschaftsebene die politischen Partikularbewegungen der Muslime, Orthodoxen und Katholiken zu bekämpfen: 122 identity politics , wie sie auch als Herrschaftsinstrument aus kolonialen Kontex- 119 Vgl. dazu die These eines doppelten bzw. ‘schizophrenen’ österreichischen Orientalismus, der Bosnien als den (reformierbaren) ‘nahen Orient’ und das Osmanische Reich als wesensfremden, bedrohlichen ‘fernen Orient’ imaginiert, bei Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes: Uses of Orientalism in the Late 19th-Century Austro-Hungarian Empire. In: Hodkinson, James et al. (Hg.): Deploying Orientalism in Culture and History: From Germany to Central and Eastern Europe. Rochester: Camden House 2013, pp. 148-165. 120 Vgl. etwa Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnografischen Populärliteratur der Habsburger Monarchie. In: Feichtinger et al. 2003, pp. 259-288; Sirbubalo, Lejla: „Wie wir im 78er Jahr unten waren […]! “ Bosnien-Bilder in der deutschsprachigen Literatur. Würzburg: Könighausen & Neumann 2012 (= Epistemata 745); Ruthner, Clemens: Besetzungen. A Post/ Colonial Reading of Austro-Hungarian and German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878-1918. In: Ruthner et al. 2015, pp. 221-242; Ders.: UmgangsFormen. Konstruktionen der bosnischen Fremde(n) in österreichischen Kolonialtexten um 1900. In: Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens(Hg.): Nähe und Distanz in der österreichischen Literatur um 1900. Würzburg: Könighausen & Neumann i.V.; weiters Ruthner 2018. 121 JanMohamed, Abdul R.: The Economy of Manichean Allegory. The Function of Racial Difference in Colonialist Literature. In: Gates, Henry Louis Jr.: ‘Race’, Writing, and Difference. Chicago, London: Chicago Univ. Pr. 1985, pp. 78-106, zit. p. 83. 122 Vgl. Babuna 2015 u.a. Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 41 ten außerhalb Europas bekannt ist. 123 Trotzdem arbeitete diese oppressive Herangehensweise eher in die Hände der Nationalisten und vertiefte die bestehenden kulturellen Differenzen zwischen den drei Bevölkerungsgruppen anstelle sie zum Verschwinden zu bringen; andererseits stiftete sie taktische Gemeinsamkeiten im politischen Widerstand gegen den Kolon (diese Entwicklung teilte sie freilich auch mit anderen Gebieten der Monarchie). 124 7. Spezifische wirtschaftliche Erschließung . 125 Die offiziell durch die Monarchie auferlegte Beschränkung, dass Bosnien-Herzegowina einerseits durch eine allmächtige Bürokratie regiert wurde, sich andererseits aber aus den Provinzeinnahmen selbst finanzieren sollte, kennt etliche Präzedenzfälle auch bei Kolonialgebieten sensu stricto . Paradoxerweise verhinderte gerade dies - was gerne von Habsburg-Nostalgikern ins Feld geführt wird - eine kapitalistische Ausbeutung der besetzten Gebiete, bis in die letzten Jahre hinein, als privates Kapital (vor allem ungarische Banken) eine zunehmende Präsenz als Investor zeigte. Ebenso wird die infrastrukturelle Erschließung Bosniens (der Bau von rund 2.000 km Straße und 1.000 km Bahnlinien) 126 als Entlastungsmaterial angeführt - aber dies sind genau die ‘zivilisatorischen Errungenschaften’, mit denen sich Kolonisatoren auch in anderen Teilen der Welt geschmückt haben. 127 Auch sonst gibt es starke Übereinstimmungen in der Beschreibung der bosnisch-herzegowinischen Okkupationsökonomie mit Kolonialwirtschaften, wie sie etwa von Cooper und Stoler typisiert worden sind: „a mercantilist concept of trade, through which the metropole assures privileged access to markets and raw materials by restricting the colony’s ability to trade freely with all partners, and a conception of the colony as a domain in which a state can act in particular ways“ (z. B. bei der Landvergabe an Siedler). 128 8. Eben dieses Siedlerwesen, 129 das einerseits den Zuzug aus der Monarchie bzw. ihren Nachbarländern z. B. als Vorbild für die bosnisch-herzegowinische Landwirtschaft propagiert und andererseits von autochthonen Aktivisten bekämpft wird, darf nun auch per se als koloniales Phänomen gelten. 9. „ Lab of Modernity “ vs. administrativer Konservatismus. Diente Bosnien-Herzegowina wie auch andere imperiale Peripherien als Experimentierfeld in 123 „Empire messes with identity“ (Gayatri Spivak, zit. nach Suleri 1997, p. 7). 124 Vgl. Sugar 1963, pp. 26, 30 f. 125 Siehe insbes. Sugar 1963 und Lampe & Jackson 1982. 126 Vgl. Calic 2010, p. 17. 127 Vgl. Mann 2004, p. 17. 128 Stoler & Cooper 1997, p. 19. Zu den Besonderheiten einer Kolonialwirtschaft vgl. weiters - neben den zit. Kategorien Balandiers - die Einleitung zu Alatas 1977. 129 Vgl. den Beitrag von Carl Bethke im vorl. Sammelband. 42 Clemens Ruthner technologischer wie sozialer Hinsicht (wie z. B. mit dem frühen elektrischen Tramway-System für Sarajevo), so stand dieses Phänomen, zu dem sich Vergleichsmengen in anderen europäischen Kolonien finden lassen, 130 zugleich in Widerspruch zum inhärenten Traditionalismus der österreichisch-ungarischen Verwaltung, die gesellschaftliche Strukturen bewahren und verbessern, aber nicht fundamental verändern wollte (und es letztlich dennoch tat): dies sollte, wie auch Robert Donia ausführt, eine der zentralen Aporien der k. u. k. Administration der besetzten Gebiete werden. 131 10. Militärische Ausbeutung. Schon lange vor der Annexion, nämlich 1881, begann das k. u. k. Militär bosnisch-herzegowinische Männer für den Kriegsdienst zu einzuziehen; diese neuen human resources wurden in speziellen Infanterieregimentern zusammengefasst, die nie voll in die k. u. k. Armee integriert, aber doch von deren Offizieren angeführt wurden. Auf diese Wiese konnte die vermeintliche Grausamkeit der Fremden, die angeblich durch die mission civilatrice gezähmt werden sollte, nach Belieben im Kriegsfall eingesetzt werden. „Die Bosniaken“ wurden auf diese Weise ganz nach kolonialem Vorbild wie etwa die britischen Gurka -Einheiten zu Elitetruppen, deren Effizienz sich vor allem im Ersten Weltkrieg an der italienischen Front 1915-18 gleichsam als self-fulfilling prophecy bewähren sollte. 132 Bei all diesen kolonialen Beschreibungskategorien darf freilich nicht außer Acht gelassen werden, dass das Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten ebenso wie das zwischen Kolonie und Mutterland ein dynamisches ist, das beide Seiten verändert: nicht nur die Peripherie, sondern auch das Zentrum. Ebenso ist im Rahmen der gesellschaftlichen Transformation in der Kolonie von einem Wechselspiel aus externen (allochtonen) und internen (autochtonen) Faktoren „inherent in social structures and subjugated societies“ auszugehen, die das „crude sociological experiment“ namens Kolonialismus ausmachen. 133 Dies nimmt durchaus krisenhafte Züge an, wie Balandier ausgeführt hat, 134 und 130 Vgl. Mann 2004, p. 8; Stoler & Cooper 1997, p. 5. 131 Donia 2015, p. 68ff.; ähnlich auch Calic 2010, p. 47, und Judson 2016, p. 330. Vgl. auch Donias Beitrag zum vorl. Sammelband. 132 Zu diesem Thema vgl. Schachinger, Werner: Die Bosniaken kommen. Elitetruppen in der k. u. k. Armee. Graz: L. Stocker 1994; Neumayer, Christoph / Schmidl, Erwin A.: Des Kaisers Bosniaken. Die bosnisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. Wien: Verl. Militaria - Ed. Rest 2008; weiters Strigl, Daniela: Schneidige Husaren, brave Bosniaken, feige Tschechen: Nationale Mythen und Stereotypen in der k. u. k. Armee. In: Hárs et al. 2006, pp. 129-144, und den Beitrag von Zijad Šehić in Ruthner et al. 2015, pp. 139-153. 133 Balandier 1951/ 1966, p. 38. 134 Ibid., p. 57: „The history of colonial sociteies reveals periods during which conflicts are merely latent, when a temporary equilibrium or adjustment has been achieved, and peri- Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie 43 ist vor allem im Kontext der sich langsam zuspitzenden politischen Verhältnisse in der Quasi-Kolonie Bosnien-Herzegowina zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die zu den Schüssen von Sarajevo 1914 führen sollten, von Bedeutung. 5. Vorläufige Conclusio Versucht man also eine historische Zusammenschau ansonsten unverbundener politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Daten, ergibt sich wohl einwandfrei die Nähe der österreichisch-ungarischen Landnahme in Bosnien-Herzegowina zu Kolonialprojekten jener Zeit. In diesem Zusammenhang dürfte sich auch eine komparative Perspektive - z. B. der Vergleich mit Britisch-Indien - als vorteilhaft erweisen, wie sie andernorts bereits in guten Ansätzen geleistet wurde. 135 Allerdings gibt es historisch so etwas wie eine Skala kolonialer Gewalt, an deren oberen Ende etwa die belgische Kongo-Kolonie stehen müsste, als sie vor 1908 noch Privateigentum des Königs war und in diesem Rahmen als Mischung aus Konzentrationslager und Konzern ausgebeutet wurde; 136 im direkten Vergleich muss man da dem k. u. k. Kolonialismus in Bosnien-Herzegowina wohl bescheinigen, in seinen Interventionen eher auf soft power zurückgegriffen zu haben. (Aus Fairnessgründen empfiehlt sich zudem, die These von den „reluctant colonizers“ 137 in Bezug auf Österreich-Ungarn einzubeziehen, wonach die Besetzung und Einverleibung jener territorialen Lücke auf dem westlichen Balkan aufgrund der eingangs erwähnten no-win situation eher einer ungeliebten Notwendigkeit bzw. strategischen Notlösung denn einem kakanischen Herzenswunsch entsprochen hätte.) Auch wenn man Coopers Warnung vor einer ubiquitären und damit letztlich beliebigen Anwendung des humanwissenschaftlichen ‘K-Worts’ beherzigt, 138 sollte auf jeden Fall aus dieser kleinen Zusammenstellung hervorgegangen sein, dass das bosnisch-herzegowinische k. u. k. Intermezzo durchaus als eine Art von Quasi-Kolonialismus betrachtet werden kann, 139 als Ersatz für den „Scramble for Africa“, bei dem die traditionelle Landmacht Österreich-Ungarn - im Gegensatz zum deutschen Kaiserreich - zu spät kam. 140 Die einzige Tatsache, die andere ods during which conflicts rise to the surface.“ 135 Vgl. Gammerl 2010. 136 Vgl. Hochschild, Adam: King Leopold’s Ghost. A Story of Greed, Terror, and Heroism in Colonial Africa. New York: Pan Macmillan 1998. 137 Vgl. Fieldhouse 1981, p. 3. 138 Vgl. Cooper 2005, pp. 3-23. 139 Vgl. etwa Detrez 2002; Donia 2015. 140 Vgl. Sauer, Walter: (Hg.): K. u. k. kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2002, 2 2007; ders.: Habsburg Colonial. Aus- 44 Clemens Ruthner Forscher/ innen bisher davon abgehalten hat, Bosnien-Herzegowina als eine Kolonie anzusehen, ist, dass es nicht durch eine große Menge Salzwasser von seinem ‘Mutterland’ getrennt war - und hier ließe sich argumentieren, dass es dann paradoxerweise Eurozentrismus wäre, der uns davon abhielte, Kolonialismus auf europäischem Boden als solchen zur Kenntnis zu nehmen. 141 In diesem Sinne werden nun auch die nachfolgenden Beiträge versuchen, in ihren abgegrenzten historischen, literatur- und kulturwissenschaftlichen Gegenstandsbereichen die Beweislage im Sinne dieses Generalthemas zu erhärten. Sie werden zeigen, wie das quasi-koloniale Unternehmen der Besetzung und Einverleibung Bosnien-Herzegowinas durch die Habsburger Monarchie im Rahmen einer allgemeinen imperialistischen Gemengelage um 1900 funktionierte, die ihre Herrschaft intern wie extern auf kultureller Differenz 142 und den daraus abgeleiteten Ungleichheiten aufbaute - ein groß angelegtes“Erfassungsprojekt des Fremden im Äußern und Innerem der Staaten im 19. Jahrhundert „zu politischen, herrschaftstechnischen und legitimatorischen Zwecken“ 143 . Der vorliegende Sammelband hat sich aber auch zum Ziel gesetzt, sich zu seinem Ende hin der Frage zu öffnen, wie dieser Herrschaftskomplex in Bosnien-Herzegowina bis zum heutigen Tag weiterwirkt - als longue durée von Strukturen, die seinerzeit jener besagte Švabo babo in einem Wechselspiel von Kolonisierung und Kolonisierten, von Traditionalismus und Modernisierung, mit prägte und die damit zum postkolonialen und postimperialen Erbe der Region gehören. tria-Hungary’s Role in European Overseas Expansion Reconsidered. In: Austrian Studies [Oxford] 20 (2012), pp. 5-23. 141 Eine im Rahmen dieses Bandes wohl zu weit gehende Ermessensfrage bleibt freilich, ob wir dann den Kolonialismusbegriff neuerlich so weit ausdehnen müssen, wie dies etwa Maria Mies vorschlägt: „Europa ist das Ergebnis von Kolonisierungen. […] es ist das Resultat eines aktiven wie auch passiven Kolonialismus. Diese Verhältnisse betreffen vor allem die Verhältnisse zwischen Mann und Frau, zwischen Stadt und Land, zwischen Mensch und Natur und zwischen Geist und Körper. Kolonialverhältnisse sind dadurch charakterisiert, dass sie hierarchisch und nicht-wechselseitig sind und dass sie letztendlich durch Gewalt aufrechterhalten werden. […] Kolonialverhältnisse sind die verborgenen Tiefenstrukturen dessen, was wir ‘europäische Zivilisation’ nennen.“ (Mies, Maria: Über die Notwendigkeit, Europa zu entkolonisieren. In: Werlhof, Claudia von / Bennholdt-Thommsen, Veronika / Faraclas, Nicholas (Hg.): Subsistenz und Widerstand. Wien: Promedia 2003, p, 133.) 142 Vgl. Cooper 2005, p. 23, der an dieser Stelle den indischen Kolonialismus-Historiker Partha Chatterjee zitiert. 143 Bayerdörfer, Hans P. et al: Einleitung. In: diess. (Hg.): Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jh. Berlin: LIT 2007 (= Kulturgeschichtliche Perspektiven 5), pp. 7-16, hier p. 7. „Kolonie“ - „Neu-Österreich“ - „Reichsland(e)“ 45 „Kolonie“ - „Neu-Österreich“ - „Reichsland(e)“ Zu begrifflichen Zuschreibungen Bosnien-Herzegowinas im österreichisch-ungarischen Staatsverband, 1878-1918 Tamara Scheer (Wien) Der Großteil unserer Autorinnen und Autoren ist sich scheinbar einig: Bosnien-Herzegowina zwischen 1878 und 1918 war eine Kolonie. Robert Donia stellt daher nicht grundsätzlich die Frage, ob es sich um eine Kolonie handelte, sondern lediglich, welcher Art sie war. Er bezeichnet sie schließlich als „Proximate Colony“. Valeria Heuberger verweist darauf, dass es für Österreich-Ungarn eine Art von „Ersatzkolonie“ gewesen wäre, während nicht nur Anna Babka auf die Kulturwissenschafterin Heidemarie Uhl verweist, wonach Bosnien-Herzegowina ein „quasi-kolonialer Herrschaftskomplex“ gewesen wäre. Grundsätzlich gehört es zur Aufgabe der Wissenschaftler/ innen, komplexe historische Gebilde und Vorgänge in knappen Begriffen zusammenzufassen, sie terminologisch quasi dingfest zu machen. Es ist also nicht außergewöhnlich, dass in einem Sammelband, der die Bezeichnung ‘Kolonie’ bereits im Titel trägt, sich mehrere Beiträge mit dem Sein und Nicht-Sein des k. u. k. Okkupations- und späteren Annexionsgebietes als Kolonie befassen. Wenn Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-ungarischer Herrschaft aber nur quasi eine Kolonie gewesen ist, gilt es der Frage nachzugehen, was es denn sonst war? In meinem einführenden Beitrag möchte ich daher versuchen, Antworten darauf zu geben, ob und wann und für wen Bosnien-Herzegowina zwischen 1878 und 1918 ‘etwas’ war oder nicht - ohne allerdings noch einmal die theoretischen Abhandlungen zu Imperien und Kolonien sowie die wichtigsten Werke zur Geschichte Bosniens und der Herzegowina, wiederzugeben; diese sind ohnehin im vorangegangenen Beitrag hinlänglich berücksichtigt worden. 1 Vielmehr frage ich vor allem nach zeitgenössischen Zuschreibungen und möchte Quellenarten 1 Vgl. de vorangehenden Beitrag im vorl. Sammelband sowie Ruthner, Clemens: Habsburgs ‚Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke 2018 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 23), Kap. A1. 46 Tamara Scheer und Ideen heranziehen, die bei unseren Autoren und Autorinnen weniger Berücksichtigung finden, um sodann Alternativen oder weitere Argumente für oder wider den Kolonie-Status anzubieten. Grundsätzlich gilt es bei der Betrachtung aus der zeitgenössischen Perspektive dreierlei Faktoren nicht aus den Augen zu verlieren: Zeit, Perspektive und Sprache. Es steht zu erwarten, dass es einen Unterschied machte sowohl bei der Bevölkerung wie bei den neuen Machthabern, ob es sich um die Zeit kurz nach dem Okkupationsfeldzug handelt, als Gewalt und Gegengewalt sowie die Neubzw. Fremdherrschaft noch weitaus stärker bei den Handelnden präsent waren. Die Machtstrukturen wandelten sich eklatant über die Jahre von einer reinen Militärverwaltung zu mehr Zivilverwaltung unter Einbindung der Bevölkerung, bis zur Annexion und der darauffolgenden Implementierung einer quasi parlamentarischen Vertretung in Sarajevo. Die jeweilige Perspektive aus der eine Zuschreibung erfolgte, ist (nicht nur! ) im Fall Bosnien-Herzegowina von Belang, wobei dies weit mehr umfasst als die Sicht der lokalen Bevölkerung und jene Sicht der neuen Machthaber. Die neue Herrschaft bedeutete und ließ für die nach Religion und sozialer Zugehörigkeit so heterogene Bevölkerung völlig unterschiedliches erwarten. Das dualistische Herrschaftssystem der Habsburgermonarchie - in dem sich ungarische und österreichische bzw.gemeinsame Institutionen um Macht und Einfluss zankten - hatte gerade auf das gemeinsam verwaltete Gebiet Auswirkungen. Imre Ress in seinem Beitrag zeigt auf, dass selbst innerhalb der beiden Reichsteile unterschiedliche Interessen verfolgt wurden. Die multiethnische Zusammensetzung des neuen Hegemons mit seinen so unterschiedlichen historischen Narrativen zum Balkan wirkte sich ebenfalls auf die Zuschreibungen an das neue Gebiet aus. Zu guter Letzt ist auch die in den Quellen verwendete Sprache von Belang. Unabhängig von der jeweiligen politischen Aufladung der Begriffe Reich und Kolonie in derselben Sprache gilt es mit zu berücksichtigen, welche Begriffe in den anderen Sprachen der Beteiligten Verwendung fanden. Um diesen Kommentar nicht ausufern zu lassen, werde ich Beispiele aus der dominanten Sprache der neuen Herrscher analysieren, d. h. aus dem Deutschen. 1. Kolonie Für Historiker/ innen lohnt sich grundsätzlich bei jedem Thema der Blick in eines der zeitgenössischen Lexika. Obwohl diese in erster Linie in den privaten Bücherregalen der Mittel- und Oberschicht standen (und verstaubten? ), waren sie doch auch Teil von öffentlichen Bibliotheken in Schulen, Universitäten und Amtsstuben. Weitverbreite deutschsprachige Lexika im späten 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, also dem hier relevanten Zeitraum, waren unter anderem „Kolonie“ - „Neu-Österreich“ - „Reichsland(e)“ 47 Meyers Konversationslexikon und der Brockhaus . Was also konnte der Zeitgenosse in Erfahrung bringen, wenn er oder sie das Wort Kolonie nachschlagen wollte? Ließ sich bei einer Diskussion die Wortbedeutung auf das Okkupationsgebiet, wie Bosnien-Herzegowina zumeist von den Behörden genannt wurde 2 , bzw. das spätere weitaus kurzlebigere Annexionsgebiet aus unserer heutigen Perspektive anwenden und taten das die Zeitgenossen? Die Brockhaus-Ausgabe der 1890er Jahre listet folgende Kriterien und Merkmale für eine Kolonie auf, wobei der Eintrag relativ umfangreich ist und den Facettenreichtum des Begriffs offenbart: K. sind im allgemeinen Niederlassungen oder Ansiedelungen in einem fremden Lande oder unter einem fremden Volke. Die Niederlassung muß dauernd sein und von einer größern Anzahl von Angehörigen derselben Nation ausgehen, die sich ihre heimische Sitte und Sprache bewahren und dadurch, meistens in Verbindung mit einer selbständigen Organisation, unter dem fremden Volke eine gesonderte Stellung einnehmen. 3 Es geht hier also zuallererst um einen Personenkreis und nicht um einen Rechtsstatus; die Ansiedler bilden die Kolonie. Der Brockhaus spricht von einer „größeren Anzahl derselben Nation“. Aus dem Schriftgut Lajos Thallóczys, im gemeinsamen Finanzministerium mit den bosnisch-herzegowinischen Agenden betraut, geht der Stand der „Ansiedler“ aus dem Jahr 1900 hervor. Insgesamt handle es sich um 10.706 Personen, die nach Nationalität/ Sprache und Religion aufgeschlüsselt aufgelistet wurden, nicht aber, ob es sich um österreichische oder ungarische Staatsangehörige handelte. Die Kolonisten machten zum weitaus größten Teil „Deutsche“ (4861 „Seelen“) aus. Knapp 4.000 Polen machte die zweitgrößte Gruppe aus, gefolgt von 700 Ruthenen, 530 Italienern und etwa 520 Tschechen. Die Magyaren nehmen sich sehr bescheiden aus mit „85 Seelen“. 4 Interessanterweise sind in dieser Auflistung keine Kroaten, aber auch keine Serben angeführt. Dabei hätten diese beiden Gruppen schon aufgrund ihrer vermehrten Hinzuziehung zu k. u. k. Verwaltungsdiensten, ihrer Sprache und der geografischen Nähe einen beträchtlichen Teil ausmachen müssen. Es lohnt daher, über die Brockhaus-Phrase „unter einem fremde Volke“ nachzudenken. Konnten die Bewohnerinnen und Bewohner dieses bis 1908 formell unter Os- 2 Siehe beispielsweise die Korrespondenzen und Situationsberichte in den Beständen des (Reichs)Kriegsministeriums und aus dem Konsulatsarchiv im Österreichischen Staatsarchiv/ Kriegsarchiv und Haus-, Hof- und Staatsarchiv. 3 N.N.: Kolonien. In: Brockhaus Konversationslexikon: Mannheim: Brockhaus 141894- 1896, pp. 507-508, hier p. 507. 4 Magyar Országos Levéltár, I 67 Bécsi Levéltárokból Kiszolgáltatott Iratok, Thalloczy Lajos közöspénzügy-minisztériumi osztályfönök hagyatéka, Kt. 1, Konv. X, Mappe 8, Stand der Ansiedler in Bosnien-Herzegowina mit Ende 1900, Verhältnis nach Nationalitäten und Konfessionen. 48 Tamara Scheer manischer Herrschaft stehenden Gebietes in Summe als „fremd“ bezeichnet werden? Bereits vereinnahmt durch den Zeitgeist der nationalen Zugehörigkeit durch gemeinsamen Sprachgebrauch, waren die im Okkupationsgebiet ansässigen Kroaten (bzw. zum Teil auch orthodoxe Serben) in der Fremd- und in der Eigenzuschreibung Eigene. Die einzig wirklich Fremden waren die Muslime, aber eher nach der Religion denn nach der ethnischen-sprachlichen Zugehörigkeit. Für sie war die neue Herrschaft tatsächlich ein „fremdes Volk“. Und noch etwas teilten sich die neuen Herrscher und die Bevölkerung: Robert Donia verweist in seinem Beitrag auf das „erwachende Nationalbewusstsein“. Der Brockhaus bot aber noch eine weitere Definition der Kolonie an: Enger ist der völkerrechtliche Begriff der K., worunter nur solche Niederlassungen zu verstehen sind, die in einer staatsrechtlichen oder völkerrechtlichen Abhängigkeit vom Mutterlande stehen. Nach dem Grade der Abhängigkeit sind hier zu trennen: 1) eigentliche K., d. h. überseeische Provinzen eines europ. Staates, welche seiner Souveränität völlig unterworfen sind; 2) Protektoratsländer, d. h. überseeische Gebiete mit staatlicher Organisation, über welche ein europ. Staat die Schutzherrschaft ausübt […]; 3) Interessensphären (s. d.) oder Machtsphären. Nach der völkerrechtlichen Definition ging es nicht um Personengruppen, sondern um einen Rechtsstatus zwischen einem ‘Mutterland’ und einem anderen, geografisch separierten Gebiet. Zwar lässt sich Bosnien-Herzegowina nicht unbedingt den ersten beiden Punkten zuordnen, denn hier ging es ausschließlich um aus europäischer Sicht „überseeische“ Territorien, aber in jedem Fall unter Punkt 3. Es war Macht- und Interessenssphäre; allerdings ist das ‘Mutterland’ nicht ganz eindeutig. Die besondere Staatsform nach dem Ausgleich ergab eigentlich zwei Mutterländer, die mit unterschiedlichen Interessen im Okkupationsgebiet wirksam wurden und konkurrierten. Als drittes Mutterland könnten hier noch die „Reichsinstitutionen“, also die gemeinsamen Behörden angeführt werden, welche die eigentlichen vor Ort einflussreichen waren. Gleichzeitig wurden Bosnien und die Herzegowina aber auch zu einer Macht- und Interessensphäre der heterogenen Kolonisten, die je nach Bedarf und Möglichkeit bei einem dieser drei ‘Mutterländer’ um Unterstützung ansuchten. 5 Einen großen Unterschied zur Kolonie nach der Brockhaus-Definition wies Bosnien-Herzegowina in jedem Fall auf. ‘Überseeische’ Kolonien hatten durch ihre geografisch weit entfernte Lage zum ‘Mutterland’ einen weitaus geringeren Kontakt. Der Durchschnitts-Londoner bekam Inder oder Indigene aus Amerika und Australien so gut wie niemals zu Gesicht, geschweige denn reisten sie selbst in deren Heimat. Kultureller Kontakt und eventueller Austausch beschränkten 5 Vgl. dazu den Beitrag von Carl Bethke. „Kolonie“ - „Neu-Österreich“ - „Reichsland(e)“ 49 sich auf ein Minimum, auf Güter und einzelne Personen. Bosnien-Herzegowina hingegen grenzte direkt sowohl an Österreich (Dalmatien) als auch an Ungarn bzw. Kroatien. Durch die Einführung des Militärdienstes 1881/ 82 in Bosnien-Herzegowina fanden sich schließlich tausende Männer als sog. „Landeskinder“ vom vollendeten 20. Lebensjahre an zu dreijährigem Dienst in den Städten der Habsburgermonarchie wieder. Sie taten diesen dreijährigen Dienst vor allem in den Hauptstädten Budapest und Wien und nicht etwa in irgendeinem Provinznest. Der Schriftsteller und k. u. k. Offizier Robert Michel lernt die Bosniern von den vielen hunderten Soldaten in Wien kennen und schätzen. 6 Er widmete beinahe alle seine Werke dem Okkupationsgebiet - entweder aus der Perspektive der Okkupanten oder vielfach aus der Perspektive der Bewohner/ innen. Im Brief des Rekruten Mustajbegović lässt er diesen sagen: „Weißt du, Rezagić [der Korporal] ist ein Mensch, vor dem ich den allergrößten Respekt habe, einem General könnte ich eher den Gehorsam verweigern als ihm. Bei uns zu Hause soll er nur ein armer Kerl sein, in der Uniform jedoch sieht er aus wie ein Held.“ 7 Es gab auch keine eklatante Sprachbarriere zwischen den Mutterländern und Bosnien-Herzegowina, wie dies in den ‘überseeischen’ Kolonien der Fall war. Mit Ausnahme von geringen dialektalen Unterschieden konnte die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas mit dem kakanischen Nachbarn kommunizieren - anders war dies schon mit den meisten Ansiedlern, wenn diese nur deutsch, ungarisch, polnisch oder italienisch sprachen. Dennoch, eine wechselseitige Integration war in diesem Fall weitaus einfacher. Dass diese auch sprachlich stattfand, also die deutschen Begriffe der Okkupatoren rasch in den lokalen Sprachgebrauch übernommen wurden, zeigt Nedad Memić in seinem Artikel auf. Der Brockhaus aber bot auch Kategorisierungen innerhalb der Kolonien an, die nach ihrer „Entstehungsursache und wirtschaftlichen Eigenart“ unterschieden wurden: „1) Eroberungskolonien. Sie werden begründet durch Eroberung mit Waffengewalt und sind stets auf die Beherrschung und Ausbeutung des unterworfenen Volks gerichtet.“ Nach k. u. k. Militärdiktus hatte es sich bei dem Feldzug im Jahr 1878 um eine kriegsmäßige Operation gehandelt, für den dementsprechend Dekorationen an Offiziere und Soldaten vergeben wurden. Mein Mitherausgeber Clemens Ruthner zitiert Schriftgut der damals Beteiligten, wonach es „keineswegs ein bewaffneter Spaziergang war, sondern einen harten Kampf darstellte; angesichts der erlittenen Verluste sei es adäquater, von einer 6 Österreichische Nationalbibliothek/ Literaturarchiv, Nachlass Robert Michel, Kt. 125/ 99: div. autobiografische Manuskripte. 7 Michel, Robert: Auf der Südbastion unseres Reiches. Leipzig: Inselverlag 1915, p. 57. 50 Tamara Scheer Eroberung […] zu sprechen.“ Dabei ging es, wie Raymond Detrez in seinem Beitrag zu unserem Sammelband anführt, auch um den Drang Österreich-Ungarns, den europäischen Großmachtstatus aufgrund mangelnder Kolonien nicht zu verlieren. Der Brockhaus nennt nun als zweite Art der Kolonie die „Ackerbaukolonie“. Die Definition ist hier weniger interessant als deren Resultat, wonach „in Anpassung an die klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des neuen Landes wachsen hier die Kolonisten früher oder später zu einer selbständigen Nation heran, die sich bald auch politisch vom Mutterlande unabhängig zu machen sucht.“ 8 Tatsächlich wuchsen die Ansiedler in diesem Fall zu keiner Nation heran unter Verdrängung der einheimischen Bevölkerung. Sie blieben die Fremden, die sog. Kuferaši und Schwabas . Zu einer Nation aber sollte gemäß der Vorstellungen von Teilen der neuen Herrscher die Bevölkerung heranwachsen. Nach Robin Okey und Imre Ress sollte der lokale „Balkan nationalism“ dadurch „gezähmt“ werden, indem Kroaten nicht zu Kroaten werden und Serben nicht zu Serben, sondern diese gemeinsam mit den Muslimen eine bosnische Nation bilden sollten. 9 Unabhängig davon, ob nach der Brockhaus-Definition Bosnien-Herzegowina einer Kolonie gleich kam, gilt es zu fragen, ob in den Köpfen der Beteiligten, ihrem mental mapping , das Okkupationsgebiet als Kolonie angesehen wurde. In derselben Ausgabe des Brockhaus findet sich unter dem Stichwort „Bosnien-Herzegowina“ eine Zuschreibung als Kolonie niemals erwähnt. Der Brockhaus beendete seine Kolonie-Definition übrigens mit deren „Bedeutung“: „Allerdings birgt eine energische Kolonialpolitik bei dem Wetteifer aller Mächte die Gefahr von polit. Verwicklungen und Kriegen in sich“. 10 Unabhängig vom Zwist zwischen den beiden Reichsteilen, bei dem Anfang des 20. Jahrhunderts fast ein Krieg greifbar schien, und den nationalen Unabhängigkeitskonzepten, nahm der Erste Weltkrieg schließlich in der Hauptstadt der ‘Kolonie’ seinen Ausgang. Zwar findet sich im Brockhaus unter Bosnien-Herzegowina keine Zuschreibung als Kolonie, aber das Wort findet doch Erwähnung: „Ein 1885 mit Welschtirolern unternommener Kolonisationsversuch hatte keinen Erfolg; dagegen sind spätere gleichartige Unternehmungen mit württemb. und österr. Bauern 8 Genannt sind noch 3) Handelskolonien, 4) Pflanzungs- oder Plantagenkolonien, sowie 5) die Verbrecher- oder Strafkolonien. 9 Ress, Imre: Versuch einer Nationenbildung um die Jahrhundertwende. Benjámin Kállays Konzeption der bosnischen Nation. In: Kiss, Endre / Stagl, Justin (Hg.): Nation und Nationenbildung in Österreich-Ungarn, 1848-1938. Prinzipien und Methoden. Wien: LIT 2006 (= Soziologie Forschung und Wissenschaft 21), pp. 59-72; Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Mission' in Bosnia, 1878-1914. Oxford: OUP 2007. 10 Brockhaus 1894-1896, vol. 10, p. 508. „Kolonie“ - „Neu-Österreich“ - „Reichsland(e)“ 51 im besten Gedeihen.“ 11 Es geht demnach nicht um den Rechtsstatus, sondern um Ansiedlungspolitik. Während in den Verwaltungsquellen Bosnien-Herzegowina fast ausschließlich nicht nach seinem geografischen Namen, sondern als besetztes oder Okkupationsgebiet bezeichnet wird, findet sich im Zusammenhang doch der Begriff in abgewandelter Form wieder. ‘Kolonisieren’ bzw. ‘Kolonisierungstätigkeit’ umfasst aber nicht nur die Motivation von Ansiedlern, sondern wird beinahe synonym verwendet im Zusammenhang mit der Modernisierungstätigkeit oder, wie es oft heißt, der „Kulturmission“. Auch der Begriff Europäisierung findet sich in den zeitgenössischen Quellen. Auch der Brockhaus verweist auf ein Bündel an kulturpolitischen Maßnahmen - allerdings ohne den Begriff selbst anzustrengen: Seit dieser Zeit suchte die Regierung mit Erfolg Ruhe und Ordnung herzustellen, die Verwaltung zu organisieren, den materiellen Zustand des Landes zu heben und besonders die agrarischen Verhältnisse und die Beziehungen zwischen den Grundherren und Bauern zu ordnen, ohne durch einen vollständigen Bruch mit der Vergangenheit die verschiedenen Klassen der Bevölkerung aufzuregen. 12 Diese Kolonisierung oder Modernisierung ist jenes Narrativ, das in den zeitgenössischen Quellen über Gebühr strapaziert wurde. Franz Baron Nopcsa etwa schreibt: „In Sarajevo elektrische Tramway, elektrische Beleuchtung und alles ‘fin de siècle’, Straßenpflaster sehr variabel, Makadam, Asphalt, Steinpflaster, Rollsteine und gar kein Pflaster. […] Moderne Häuser schießen wie Pilze oder Riesen zwischen den Bretterbuden hervor, diese verschwinden, aber modifizieren sich nicht.“ 13 Wolfgang Müller-Funk bespricht Ivo Andrićs Brücke über die Drina , in dem dieser Topos ebenfalls bemüht wird: „eine Karawanserei, die erst in der Zeit der österreichischen Besatzung endgültig verschwindet und durch eine Kaserne ersetzt wird, das Hotel der galizischen Jüdin Lottika, die mit der österreichisch-ungarischen Armee ins Land kommt, Kaffeehäuser und Geschäfte.“ Der k. u. k. Offizier und Schriftsteller Alexander Roda Roda erkannte darin - natürlich überspitzt formuliert, aber dennoch nicht ohne Realitӓtsbezug, wie Quellen und Fotografien aus dieser Zeit deutlich zeigen - eine typische ӧsterreichische Form der Kolonisierung: - Wie aber Österreich sich in seiner Kolonie anstellte? Nun, ihr habt ja östreichische Art im Weltkrieg genügsam gesehen: Wenn die Östreicher eine Stellung genommen hatten, befestigten sie sie nur flüchtig; dann bauten sie 11 Ibid., 3. Band, pp. 339-343, hier p. 343. 12 Brockhaus 1894-1896, vol. 3, p. 343. 13 Elsie, Robert (Hg.): Reisen in den Balkan. Die Lebenserinnerungen des Franz Baron Nopcsa. London: Centre for Albanian Studies 2015 (= Albanian Studies 11), p. 9. 52 Tamara Scheer mit ungeheurem Aufwand von Zeit und Menschenarmeen: ein Erholungsheim für Offiziere; ein Gärtchen davor mit dem Namenszug des Kaisers, zusammengesetzt aus viel Tausenden von Granatsplittern. Und so verwalteten sie Bosnien: die dringlichsten Fragen lösten sie nicht, doch schöne Gasthöfe errichteten sie für den Fremdenverkehr, Rennplätze, Badeorte, Ratspaläste. 14 2. Reichsbestandteil Der Leiter des Landesmuseums in Sarajevo, der aus Böhmen gebürtige Carl Patsch, griff ebenso wie viele vor und nach ihm das oben genannten Motiv der Kolonisierung/ Modernisierung auf: „Aber nicht allein das aneifernde Vorbild des obersten Chefs kam dem Museum zustatten, sondern auch die allgemeine uneigennützige Freude, welche die gesamte, aus allen Völkern der Monarchie bestehende Beamtenschaft aller Grade an dem Aufblühen des bis dahin vernachlässigten, straßenlosen, unsicheren Landes hatte; jeder war bestrebt, sein Bestes für Neuösterreich zu leisten.“ 15 Patsch führt eine bislang hier noch nicht genannte Zuschreibung an - Neu-Österreich - ohne den Begriff näher auszuführen. Ein Blick in die Presse zeigt, dass dies offenbar zu seiner Zeit auch nicht nötig war. Besonders im Jahr der Okkupation aber auch danach umfasste dieser Begriff Österreich-Ungarns „Vaterlandsvergrößerungs-Politik“, womit nicht nur Bosnien-Herzegowina, sondern auch der Sandschak von Novi Pazar gemeint war. 16 Die Pilsner Abendpost betitelte ihre Nachrichten aus Bosnien-Herzegowina gleich mit „Aus Neuösterreich“. 17 War diese Bezeichnung eventuell alles, nur nicht ganz ernst gemeint, bzw. bezog sie sich nur auf eine Anklage der angeblich auf Expansion ausgerichteten Außenpolitik? Oder steckte mehr dahinter? Deutete der Begriff Neu-Österreich eventuell auch darauf hin, dass es sich um einen neuen integralen Bestandteil des Reichs handelte? Oder ist es mehr in Anlehnung an überseeische Kolonien und Ansiedelungen, bei denen ebenfalls gerne das Präfix ‘neu’ Verwendung fand (wohl nirgendwo noch heute so deutlich wie in New York)? Neben dem Begriff „Neu-Österreich“ wurde noch eine weitere Zuschreibung häufig in der Presse verwendet. Am 4. Juni 1908, also einige Monate vor der Annexion Bosniens und der Herzegowina, erschien in der deutschsprachigen sati- 14 Roda Roda: Roda Rodas Roman. Wien: Zsolnay 1950, p. 473. 15 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Südost-Institut, 14.5: Nachlass Carl Patsch, Nr. 261: Autobiografie (Manuskript, 161 pp.) [nach 1935], p. 61. Ich danke Dejan Zadro für die Zurverfügungstellung seiner Abschrift. 16 N.N.: Ein zweites Ministerium des Äußern. In: Teplitz-Schönauer Anzeiger , 8.2.1879, pp. 1-2, hier p. 1. 17 N.N.: Aus Neuösterreich. In: Pilsner Abendpost , 19.2.1879, p. 2. „Kolonie“ - „Neu-Österreich“ - „Reichsland(e)“ 53 rischen Wochenschrift Die Muskete ein Sonderheft betitelt mit „Unsere Reichslande“. Es geht ausschließlich um Bosnien-Herzegowina, welches so namentlich nicht angeführt wurde. 18 Dies lässt darauf schließen, dass den Lesenden sofort klar war, um welches Gebiet es sich handeln musste. Es folgten jede Menge Anekdoten und Schwänke aus Bosnien-Herzegowina, garniert mit Stereotypen der Bevölkerung und der eigenen Verwaltung. Natürlich satirisch ironisch gemeint, in dem Sinne, was ‘noch alles zu uns dazu gehört’, aber durchaus auch kritisch, wie sich die „Reichsverwaltung“ ausnimmt - oft unter Beteiligung der Bevölkerung. (Die darauf folgenden Sondernummern widmeten sich Wien und Tirol.) Bosnien-Herzegowina in der Presse als „Unsere Reichslande“ zu bezeichnen war seit der Okkupation eine gängige Praxis. Während die Sondernummer der Muskete knapp vor der Annexion erschien, wurde der Begriff ab September 1908 in der Presse umso häufiger verwendet. Die Czernowitzer Allgemeine Zeitung führte unter dem Titel „Unser Reichsland“ aus: Als im Jahre 1878 die österreichischen Truppen […] einmarschiert waren, gewöhnte man sich bald daran, dieses Gebiet als österreichisches Reichsland zu betrachten und es erschien immer nur als eine Frage der Zeit und Gelegenheit, dass man dem Kinde seinen Namen geben würde. Diese Gelegenheit hat sich jetzt ergeben und mit dem heutigen Tage sind die beiden ehemaligen türkischen Provinzen wirklich österreichisches Reichsland geworden. 19 Der „Reichsland“-Terminus spiegelte aber auch erneut die zwei „Mutterländer“ Bosnien-Herzegowinas wider (obwohl das Zitat nur von Österreich spricht). Das Badener Bezirks-Blatt fragte einige Jahre nach der Okkupation nach: „Vor allem, wohin soll ‘Neu-Oesterreich’ eigentlich fallen? Soll es ‘Reichsland’ werden, wie Elsass-Lothringen? “ 20 Dazu passend auch der Eintrag in Meyers Konversationslexikon zu „Reichslande“: „Alles zum ehemaligen Deutschen Reiche gehörige Gebiet, wozu außer den eigentlichen deutschen Ländern auch Böhmen, Mähren und Schlesien gehörten. In neuester Zeit erhielten die im Krieg von 1870/ 71 für Deutschland wiedergewonnenen Gebiete von Elsaß und Deutsch-Lothringen den Namen ‘deutsches Reichsland’.“ 21 Dieser Verweis bezeichnet demnach einen Rechtsstatus eines Gebietes in Bezug auf das Reich/ Mutterland, das durch seine nicht integrierte und zeitlich unterbrochene Zugehörigkeit charakterisiert ist, aber auch durch seine kriegsmäßige Gewinnung (bzw. aus ungarischer Sicht durchaus: Wiedergewinnung). 18 Autorenkollektiv: Sondernummer: Unsere Reichslande (= Die Muskete , 4.6.1908). 19 N.N.: Unser Reichsland. In: Czernowitzer Allgemeine Zeitung , 9.10.1908, p. 2. 20 N.N.: Neu-Oesterreich. In: Badener Bezirks-Blatt , 10.9.1885, pp. 1-2, hier p. 1. 21 N.N.: Reichslande. In: Meyers Konversationslexikon. Leipzig, Wien: Verlag des Bibliografischen Inst. 4 1885-1892, vol 13, p. 684. 54 Tamara Scheer Schien also Bosnien-Herzegowina zumindest im mental mapping der ironischen und politisch kritischen deutschsprachigen Öffentlichkeit „Reichsland“ zu sein, gilt es danach zu fragen, ob sich dieser integrale Charakter auch in anderen (Reichs-)Situationen fassen lässt? In seinem Ersten-Weltkriegs-Roman lässt Josef Wittlin seine Hauptfigur, einen Soldaten aus dem österreichischen Galizien, bei seiner Eisenbahnfahrt nach Ungarn den Ausspruch tätigen: „Niemand aus der Masse der Reisenden, die zum ersten Male im Leben unentgeltlich fahren durften, wusste, wohin er fuhr. Alle wussten nur eines: nach Ungarn, wo die Leute Paprika fressen und wo Seine Majestät nur ein König ist.“ 22 Unabhängig vom Rechtstatus war für diese bahnreisenden Zeitgenossen dort Österreich oder ‘das Reich’, wo der Monarch als Kaiser herrschte. In Bosnien-Herzegowina war Franz Joseph (oder besser, in der Landessprache: Franjo Josip) stets der car (Kaiser) und nicht etwa der kralj (König) aus Beč. Unzählige Autoren von Memoiren und Tagebücher, wie auch der k. u. k. Offizier Rudolf Giay, verweisen darauf. Letzter gibt den Ruf der Menge in der Moschee im ersten Kriegsjahr 1914 in Bratunac wieder. Der muslimische Prediger, so Giay, sprach zunächst „kroatisch“ und endete mit: „Pfui Srbi, Abzug Russija und Živio Car Franjo Josip! “. 23 Es war aber nicht nur der Kaiser, der Bosnien-Herzegowina zu einem direkt Wien und dem Monarchen unterstehenden Teil machte, sondern auch die dort tätigen einflussreichsten Verwaltungsbehörden. Im Sprachgebrauch der dualistischen Monarchie waren dies die nach dem Ausgleich einzig verblieben gemeinsamen Reichs-Institutionen: das Reichskriegsministerium, das aber später seinen Namen in Kriegsministerium ändern sollte, sowie das gemeinsame Finanzministerium. Beide Minister waren lediglich dem Monarchen und den „Delegationen“, wie die regelmäßigen Treffen von Österreichs und Ungarns Regierungsspitzen hießen, verantwortlich. Österreichische und ungarische Ministerien waren nicht maßgeblich, und noch eine Besonderheit charakterisierte die Reichsunmittelbarkeit Bosniens und der Herzegowina: der Armeedienst. Neben der gemeinsamen Armee konnten Österreicher und Ungarn auch in die Landwehr bzw. Honvéd eingeteilt werden, nicht so die männliche Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina; sie diente ausschließlich in der k. u. k. Armee oder in der Reichskriegsmarine. Sie konnte also nur als kaiserliche und königliche Soldaten dienen, kämpfen und sterben, nicht aber als österreichische oder ungarische. Die (Reichs-)Hauptstadt Wien war der Bevölkerung der besetzten Gebiete weitaus näher als Budapest. Während Budapest im Verlauf der zweiten Hälfte 22 Wittlin, Joseph: Das Salz der Erde. Frankfurt/ M.: Büchergilde Gutenberg 1969, p. 178. 23 Österreichisches Staatsarchiv/ Kriegsarchiv/ Nachlasssammlung, Rudolf Giay, B/ 412, insgesamt 6 Tagebücher (26.7.1914-14.11.1918), Tagebuch I, 26.7.-31.12.1914, 25.12.1914 Bratunac. „Kolonie“ - „Neu-Österreich“ - „Reichsland(e)“ 55 des 19. Jahrhundert nicht nur für Magyaren zum Dreh- und Angelpunkt wurde, wurde Wien für Bosnien-Herzegowina zum faktischen Zentrum ihrer neuen staatlichen Zugehörigkeit. Scheinbar alles ging von Wien aus, wenn man von einigen kulturpolitischen ungarischen Maßnahmen absieht. Die Muskete schildert den durch seine Heimat paradierenden Urlauber in k. u. k. Uniform, dem auf der Straße ein orthodoxer Priester begegnet. Dieser antwortet ihm wohl auf seine Prahlerei in Wien zu dienen mit: ‘Ja, in Wien! Da hat mir einmal ein Amtsdiener guten Tag gesagt! ’ ‘Mein, mein Sohn - schneide nicht auf! ’ 24 Gemäß dem Historiker Pieter M. Judson bildeten das Empire bzw. das Reich weniger der Monarch und seine Bürokraten als vielmehr die Menschen, die darin lebten, ihre eigenen Interessen verfolgten, es somit formten und letztlich imaginierten. 25 Wenn also Bosnien-Herzegowina doch „unsere Reichslande“ war, wer war in diesem Fall ‘wir’? Für die Österreicher oder besser österreichischen Staatsbürger, dies zeigt die Presse, war es Teil des - zwar fremdartigen - Eigenen. Ein Bericht über einen Wiener Hofball im Jahr 1896 moniert nach namentlicher Auflistung sämtlicher anwesender (Hoch)adeliger inklusive deren Titel und Nationalität, dass es „schade“ sei, dass „kein einziger bosnischer Beg an unsere Reichslande erinnert.“ 26 Die Bukowinaer Post berichtete 1895 über die erste von einer Frau geleitete Zahnarztpraxis in Österreich-Ungarn: Die Ärztin tue dies in „unsere[n] Reichslande[n] und die Culturbestrebungen derselben sind stets des größten allgemeinen Interesses sicher.“ 27 Wenn Bosnien-Herzegowina also im mental mapping der österreichischen Staatsbürger „unser Reichsland“ war, wie sieht es mit der Bevölkerung selbst aus? Partizipierten sie an der Imagination des Reiches? Tatsächlich zeigen unsere Autorinnen und Autoren auf, dass die aktive politische Tätigkeit der Bevölkerung im Steigen begriffen war, sich manche Interessen auch durchsetzen ließen. Sie formten damit nicht nur Bosnien-Herzegowina, sondern auch das Reich aktiv mit. Selbstverständlich war ihre Beteiligung (etwa an gemeinsamen Institutionen) weitaus geringer als jene der anderen Nationalitäten, aber sie stieg von Jahr zu Jahr kontinuierlich an. Im Jahr 1905 machten sie - je nach Interpretation - erst oder bereits 27,5 Prozent der Beamten aus. 28 Häufiger wird allerdings auf de- 24 Schönpflug, Fritz: Der Urlauber. In: Die Muskete . Sonderheft: Unsere Reichslande, 4.6.1908, p. 8. 25 Siehe Judson, Pieter M.: The Habsburg Empire. A New History. Cambridge, MA: Harvard UP 2016. 26 N.N.: Der Hofball. In: Wiener Salonblatt , 19.1.1896, pp. 4-8, hier p. 5. 27 N.N.: Der erste weibliche Zahnarzt in Österreich-Ungarn. In: Bukowinaer Post , 1.10.1895, p. 3. 28 Vgl. Okey, Robin: Mlada Bosna. The Educational and Cultural Context. In: Cornwall, Mark (Hg.): Sarajevo 1914. Spark and Impact. London: Bloomsbury Academic Pr. i.V. 56 Tamara Scheer ren Marginalisierung verwiesen, da es bis zu diesem Zeitpunkt nur wenige in leitende Positionen schafften. Es gilt allerdings mit zu berücksichtigen, dass es mehr als nur ein paar Jahre braucht, um in eine neue Herrschaftspraxis hineinzuwachsen und in dieser Karriere zu machen. Tatsächlich gab es bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs einige bosnisch-herzegowinische Offiziere, in durchaus höherer Stellung und mit delikaten Angelegenheiten befasst. Šerif Kosmić ist ein gutes Beispiel: Er war einer jener bosnischen Muslime, der die osmanische Herrschaft nicht mehr selbst miterlebt hatte. Er wurde nur wenige Jahre nach der Okkupation durch Österreich-Ungarn am 18. August 1881 nahe der Stadt Jajce geboren. Als Sohn eines Grundbesitzers besuchte er die Schule in Sarajevo und lebte dort im k. u. k. Militärknabenpensionat. Danach absolvierte er mit gutem Erfolg die Infanterie-Cadettenschule in Liebenau bei Graz und wurde 1901 in die k. u. k. Armee übernommen. 29 Während des Ersten Weltkriegs diente Kosmić im besetzten Serbien in der Nachrichtenabteilung - eine heikle Aufgabe, die nur jemandem übertragen werden konnte, der als unbedingt loyal galt. 30 Die Bevölkerung wurde auch immer mehr zu einem aktiven politischen Faktor, die ihre eigenen - oft unterschiedlichen - Interessen formulierte, publizierte, gezielt verfolgte und innerhalb des rechtlichen Rahmens erfolgreich durchsetzte. Aydin Babuna (am Beispiel der muslimischen Bevölkerung) und Stijn Vervaet (am Beispiel der serbisch/ orthodoxen Zeitschrift Bosanska vila) zeigen die Neu-Österreicher als aktive politische Akteure . Man könnte also durchaus vermuten, dass lediglich der Faktor Zeit verhinderte, dass sich Bosnien-Herzegowina auch faktisch - nicht nur in der Zuschreibung - von einer Kolonie in ein Reichsland wandelte, wie dies vor ihm schon andere habsburgische Neuzugänge getan hatten. Auch so integrale Bestandteile wie Dalmatien und Salzburg fielen erst spät an die Habsburgermonarchie und kaum jemand hätte diese im späten 19. Jahrhundert mehr als Kolonie oder Neuösterreich bezeichnet. Schlussbemerkung: Liegt das Reich in der Kolonie? Die Beiträge im vorliegenden Sammelband zeigen, dass der Status oder die Rolle Bosniens und der Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Ära schwer 29 Österreichisches Staatsarchiv/ Kriegsarchiv, Qualifikationslisten, Scherif Kosmić, geb. 18.8.1881 Volar, Bezirk Jajce. Vgl. auch Scheer, Tamara: Lebenskonzepte, politische Nationenbildung, Identitäten und Loyalitäten in Österreich-Ungarn und Bosnien-Herzegowina. In: Geyer, Michael / Lethen, Helmuth / Musner, Lutz (Hg.): Zeitalter der Gewalt. Zur Geopolitik und Psychopolitik des Ersten Weltkrieges. Frankfurt/ M.: Campus 2014, pp. 177-198. 30 Hadtörténelmi Levéltár Budapest, Manuskripte, Nr. 309: Carnegie Report von Hugo Kerchnawe, datiert: 1922, Beilage: Organisation der Nachrichtenabteilung des Militärgeneralgouvernements Serbien, 20.9.1917. „Kolonie“ - „Neu-Österreich“ - „Reichsland(e)“ 57 fassbar ist. Dies mag noch einfacher sein, wenn wir bloß aus einer einzigen Perspektive die Quellen betrachten, etwa nur die offiziell publizierten staatlichen heranziehen bzw. die Benennung der zuständigen Institutionen. Wobei auch bereits hier die unterschiedlichen Akteure - gemeinsame Ministerien, Militär und ungarische Politik - unterschiedliche Interessen vertraten und Schlagwörter anstrengten und sich diese über den langen Zeitraum auch durchaus wandelten. Noch komplexer wird es, wenn wir versuchen, die einzelnen Perspektiven der so heterogenen Beteiligten zu erfassen: Die Zugezogenen aus allen Teilen der Habsburgermonarchie verstanden den Status ihrer neuen Heimat und auch ihren eigenen sicher anders als die autochthone heterogene Bevölkerung. Bosnien-Herzegowina war die Summe dieser Zuschreibungen und war es wieder nicht. Es war eine Irgendwie-Kolonie und gleichzeitig neues Reichsland. Es war nach Babuna „Niemandsland“, und hätte die k. u. k. Herrschaft länger gedauert, wären sicherlich noch weitere Zuschreibungen hinzugekommen oder alte weggefallen. Eingedenk der besonderen Staatsform nach dem Ausgleich wäre durchaus die Frage erlaubt, ob es nicht aufgrund der offen deklarierten politischen Absichten nicht gleichzeitig eine königliche-ungarische Kolonie und ein österreichisches Reichsland war. Franziska Zauggs Beitrag in diesem Sammelband zeigt, dass es auch noch Jahrzehnte später, während des nächsten großen Krieges, bei der Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina eine Identifikation (durchaus aus politischem Kalkül, aber immerhin) mit der k. u. k. Zeit gegeben hat. Und dies, obwohl nach Ansicht vieler Historiker/ innen und Zeitgenossen das Reich bzw. empire bereits mit dem Ausgleich 1867 zu Bestehen aufgehört hatte; aber das ist eine andere Geschichte. VORGESCHICHTEN Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone zwischen Habsburg und Hoher Pforte, 1688-1869 Martin Gabriel (Klagenfurt) Bosnien-Herzegowina im Zeitalter der habsburgischen „Türkenkriege“ Das habsburgische Interesse an einer Einverleibung der osmanisch beherrschten Provinzen Bosnien und Herzegowina kann bis in das späte 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Während der „Türkenkriege“ drangen kaiserliche Feldherrn mehrmals dorthin vor. Ludwig von Baden marschierte im Jahre 1688 bis Banja Luka und Zvornik, 1691 wurden nach einem Einfall etwa 3.000 ursprünglich aus dem Gebiet um Dolnja Tuzla stammende Katholiken nach Südungarn umgesiedelt; 1 wesentlich bekannter ist aber der auf die für die habsburgischen Truppen siegreiche Schlacht bei Zenta im Jahre 1697 folgende Vorstoß des Prinzen Eugen nach Sarajevo, von dem er in seinem Journal de la marche en Bosnie 2 Zeugnis ablegte. Die Stadt wurde nach einem Überfall auf Unterhändler des Feldherrn zur Plünderung freigegeben und brannte völlig nieder. 3 Für eine Besetzung Bosniens waren Eugens Kräfte (zu Beginn der Operation ca. 6.500 Infanteristen und Kavalleristen mit Artillerie) 4 klarerweise viel zu schwach und so blieb das Unternehmen Episode, wenn auch eine symbolträchtige: geschätzte 1 Vgl. Südland, L. v. (= Pilar, Ivo): Die südslawische Frage und der Weltkrieg. Übersichtliche Darstellung des Gesamt-Problems. Wien: Manz 1918, p. 210. 2 Eine deutschsprachige Übersetzung findet sich in: Österreichische Militärische Zeitschrift 1 (1808), pp. 325-345. 3 Vgl. Sosnosky, Theodor von: Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns seit 1866. Bd. 1. Stuttgart: DVA 1913, p. 127f. 4 Vgl. Herre, Franz: Prinz Eugen. Europas heimlicher Herrscher. Bergisch-Gladbach: Bastei Lübbe 2000, p. 69. 62 Martin Gabriel 40.000 bosnische Katholiken aus der Umgebung Sarajevos folgten den Truppen des Prinzen auf österreichisches Gebiet. 5 Ob bereits Wallenstein im Jahre 1626 ‒ anlässlich der Verfolgung des protestantischen Heerführers Ernst von Mansfeld nach Bosnien ‒ daran gedacht hatte, das Gebiet südlich der Save für den Kaiser zu gewinnen, kann heute nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden. 6 Unter Kaiser Leopold I. gab es zwar Überlegungen, das Gebiet zwischen der Adriaküste und den Donaumündungen zu gewinnen, zu einer praktischen Umsetzung dieser Pläne kam es jedoch nicht. 7 Seit dem Frieden von Karlowitz (Sremski Karlovci) im Jahre 1699 wurde die Inbesitznahme Bosniens ernsthafter in Betracht gezogen und der Friede von Passarowitz (Požarevac) 1718 brachte der Habsburger Monarchie - neben einigen anderen bisher osmanischen Gebieten - auch den Besitz eines an der Save gelegenen Teils von Bosnien; dieser ging jedoch im Frieden von Belgrad 1739 wieder verloren. 8 Während unter Maria Theresia keine besonderen Anstrengungen zur Einverleibung Bosniens unternommen wurden, widmete Kaiser Joseph II. dieser Thematik deutlich mehr Aufmerksamkeit - besonders in den Jahren 1770 bis 1774 sowie 1789 bis 1791 war der Gedanke an eine Ausdehnung im Südosten deutlich spürbar. Während des so genannten „Fünften Russischen Türkenkrieges“ führte ein Offizier der im Hafen von Livorno vor Anker gegangenen russischen Mittelmeerflotte des Grafen Alexej Orlov 9 1771 Gespräche mit Großherzog Leopold von Toskana, in denen eine mögliche Aufteilung des Osmanischen Reiches und die Inbesitznahme von Serbien und Bosnien durch die Habsburger Monarchie besprochen wurden. 10 1772 kam es zu Absprachen zwischen Österreich, Preußen und Russland, laut denen die Habsburger Monarchie Osmanisch-Dalmatien, 5 Vgl. Bauer, Ernest: Zwischen Halbmond und Doppeladler. 40 Jahre österreichische Verwaltung in Bosnien-Herzegowina. Wien, München: Herold 1971, p. 33. Dass dieser Exodus wohl auch aus Furcht vor Vergeltung erfolgte, kann angenommen werden; vgl. Ančić, Mladen: Society, Ethnicity, and Politics in Bosnia-Herzegovina. In: Časopis za suvremenu povijest 36/ 1 (2004), pp. 331-359, p. 338, Anm. 24. 6 Vgl. Novotny, Alexander: Quellen und Studien zur Geschichte des Berliner Kongresses 1878. Bd. 1: Österreich, die Türkei und das Balkanproblem im Jahre des Berliner Kongresses (= Veröff. der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 44). Graz: Böhlau 1957, p. 15. 7 Ibid. 8 Vgl. Sosnosky 1913, p. 128. 9 Unter Orlovs Kommando hatte die russische Marine der osmanischen Flotte im Juli 1770 in der Seeschlacht von Çeşme eine vernichtende Niederlage zugefügt. Siehe dazu u. a. İsipek, Ali Riza / Oğuz, Aydemir: 1768-1774 Ottoman-Russian Wars. Battle of Cesme 1770. Istanbul: Denizler Kitabevi 2010. 10 Vgl. Roider, Karl A.: Austria’s Eastern Question 1700-1790. Princeton: Princeton Univ. Pr. 1982, p. 131. Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688-1869 63 Serbien und Bosnien erhalten sollte, während die beiden anderen Mächte territoriale Erweiterungen in Deutschland respektive Polen erwarten konnten. 11 Vier Jahre später gab Staatskanzler Kaunitz-Rietberg französischen Vertretern gegenüber an, dass Österreich, falls es Russland bei der Zerschlagung des Osmanischen Reiches unterstütze, auf den Gewinn von Osmanisch-Dalmatien, Kroatien, Bosnien, Serbien, der Walachei und der Moldau sowie vielleicht auch noch anderer Provinzen rechnen könnte, eine derartige Politik für ihn aber nicht akzeptabel sei. 12 Spätestens seit 1774, als das Osmanische Reich im Friedensvertrag von Küçük Kaynarca russischen Schiffen das Durchfahrtsrecht durch die Meerengen und dem Zaren das Protektionsrecht für die orthodoxen Christen hatte zugestehen müssen, 13 erwuchs der Habsburger Monarchie ein neuer Hauptkonkurrent in der Frage einer möglichen Ausdehnung auf Kosten der Hohen Pforte, wobei aber etwa 1783 auch Überlegungen für ein österreichisch-russisches Bündnis angestellt wurden, von dem sich die Habsburger Monarchie Gebietszuwächse im nördlichen Bosnien (bis an die Unna) und an der dalmatinischen Küste erhoffte. 14 1787 drangen kaiserliche Truppen im Zuge des letzten habsburgischen „Türkenkrieges“ auf bosnisches Gebiet vor und die Erfahrungen, die hierbei gemacht wurden, ähnelten durchaus jenen des Okkupationsfeldzuges von 1878: Man fand ein äußerst ungünstiges Gelände vor, das die Führung und Versorgung getrennt marschierender Verbände extrem behinderte, und hatte nur geringe aktive Unterstützung seitens der christlichen Bevölkerung des Landes. 15 Gene- 11 Ibid., p. 137. 12 Ibid., p. 153.- Dahinter stand die Befürchtung, dass das außenpolitisch eher passiv agierende Osmanische Reich durch einen solchen Schachzug von einem aggressiver auftretenden, vergrößerten Russland abgelöst werden würde. 13 Vgl. Quataert, Donald: The Ottoman Empire, 1700-1922. Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 2000 (= New approaches to European history 17), p. 40. 14 Vgl. Kulenkampff, Angela: Österreich und das Alte Reich. Die Reichspolitik des Staatskanzlers Kaunitz unter Maria Theresia und Joseph II. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005, p. 106f. 15 Vgl. Novotny 1957, p. 16.- Zum Okkupationsfeldzug des Jahres 1878 siehe zuletzt u. a. Gabriel, Martin: „Wir führen einen Krieg, wo man auf Gnade nicht hoffen darf…“ Irreguläre Kriegführung bei der Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878. In: Kakanien revisited , http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ MGabriel1.pdf (2010). Der Kampfwert christlicher irregulärer Verbände während der Okkupation war äußerst unterschiedlich: Die Miliz des Franziskanerpaters Ivan Musić bewährte sich bei den Gefechten in der Herzegowina offenbar, während andere Verbände z. B. im Norden Bosniens in erster Linie muslimische Zivilisten terrorisierten und ausplünderten (vgl. Bencze, László: The Occupation of Bosnia and Herzegovina in 1878. Boulder: Social Science Monografs 2005 [= War and Society in East Central Europe 39, Atlantic studies on society in change 126, East European monografs 680], p. 104; Schreiber, Georg: Des Kaisers Reiterei. Österreichische Kavallerie in vier Jahrhunderten. Wien: Speidel 1967, p. 266). Die Okkupationstruppen 64 Martin Gabriel rell galt schon damals, was österreichische Militärs auch 1878 propagierten: es müsse „allen Bevölkerungstheilen mit Mißtrauen begegnet werden“. 16 Der Verzicht auf eine weitere Expansion auf dem Balkan durch den Frieden von Sistova (Svištov) 1791 und die Passivität während des serbischen Aufstandes gegen die Osmanenherrschaft (1804-1813) schwächten Österreichs Stellung als christliche Schutzmacht enorm, und Eduard Rüffers Behauptung, „[d]ie letzten Sympathien der Bosnier für Oesterreich, in dem sie früher ihren Befreier sahen, gingen verloren, als sich der weise Metternich weigerte, während des Feldzuges von 1828 den Russen gegen die Türken Hülfe zu leisten,“ 17 dürfte zumindest im Fall der orthodoxen Serben nicht ganz unzutreffend sein. Ob die Habsburger Monarchie Serbien, Bosnien und die Herzegowina zu Beginn des 19. Jahrhunderts wirklich problemlos (d. h. ohne negative französische oder russische Reaktion) hätte einnehmen können und die Untätigkeit lediglich daran lag, dass die politische Führung nach den unerwarteten Misserfolgen des „Türkenkrieges“ 1788-1791 reflexartig jede weitere Militäraktion vermeiden wollte, muss allerdings offen bleiben. 18 Die „Bosnische Frage“ unter dem Eindruck der Napoleonischen Kriege Tatsächlich gab es innerhalb der militärischen und politischen Führungskreise der Monarchie speziell in der für Österreich schwierigen Lage der Jahre 1809/ 1810 - der Friede von Schönbrunn hatte dem Habsburgerreich große territoriale Einbußen (ca. 83.000 km²) gebracht - durchaus Stimmen, die für eine gemeinsam mit Frankreich durchgeführte Zerschlagung des Osmanischen Reiches eintraten. Joseph Wenzel Graf Radetzky vertrat 1810 die Ansicht, die nach (Süd-)Osten gerichteten Expansionsbestrebungen durch eine Allianz mit dem operierten, wenn es um die Bekämpfung von „Räuberbanden“ ging, 1878 auch gemeinsam mit bewaffneten muslimischen Milizen, so etwa im Raum Pale: KA Wien AFA 1878 HR 2430 X 28, 2 (Etappen-Kdo. Pale an Kdo. 6. Infanterietruppendivision, 14.10.1878). 16 KA Wien AFA 1878 HR 2431 XIII 49, 29 (V. Armeekorps, Präs. Nr. 22/ 9 1878, No. 718, 22. 10. 1878). 17 Rüffer, Eduard: Die Balkanhalbinsel und ihre Völker vor der Lösung der orientalischen Frage. Eine politisch-ethnografisch-militärische Skizze. Bautzen: Schmaler & Pech 1869, p. 60. 18 Vgl. Parvev, Ivan: „Du, glückliches Österreich, verhandle“. Militär versus Diplomatie in der habsburgischen Südosteuropa-Politik, 1739-1878. In: Kurz, Marlene et al. (Hg.): Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des int. Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österr. Geschichtsforschung Wien, 22.-25. Sept. 2004. Wien: ÖAW 2005 (= Mitteilungen des Inst. für Österr. Geschichtsforschung, Erg.bd. 48), pp. 539-550, hier p. 548f. Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688-1869 65 eher nach Westen orientierten Frankreich zu verwirklichen, mittels welcher Österreich die Kontrolle über das untere Donaugebiet inklusive der Donaumündungen erlangen sollte. Neben der Moldau und der Walachei waren Serbien und Bosnien in diesem Plan des wenige Jahre später als Generalstabschef der verbündeten Armeen in den „Befreiungskriegen“ gegen Napoleon zu internationaler Berühmtheit gelangten Radetzky als Kompensation für die Abtretung Ostgaliziens an einen - gegenüber dem Zarenreich als Puffer dienenden - polnischen Staat vorgesehen. 19 Dass Radetzky mit seiner Einschätzung richtig lag, wonach es enorme materielle und finanzielle Anstrengungen erfordern würde, „diese so sehr verwüsteten Länder in Kultur zu setzen“, 20 zeigte sich in den Jahren nach 1878 nur zu deutlich. Interessant zu bemerken ist auch, dass der territoriale Ausgleich für die Abtretung der galizischen Gebiete von größerer Bedeutung gewesen zu sein scheint, als die Tatsache, dass die Donaufürstentümer, Serbien und Bosnien-Herzegowina in puncto Bevölkerung und Ertrag keinen Ausgleich für Galizien hätten bieten können. 21 Die Flüchtlingsbewegung aus Bosnien in das Gebiet der Habsburger Monarchie, die in den Jahren 1875-1878 enorme Dimensionen annehmen sollte und nicht zuletzt auch als einer der Hauptgründe für die Okkupation Bosniens und der Herzegowina genannt wurde, 22 war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts übrigens noch kaum von Wichtigkeit. So wurden beispielsweise in der österreichischen Sremska Župa zwischen 1759 und 1775 lediglich 14 bosnische Flüchtlinge verzeichnet, in einer anderen župa 23 300 Personen in den Jahren 1750 bis 1770. 24 Eine quantitativ relevante Zuwanderung „war nur zu Beginn des österreichisch-osmanischen Krieges von 1788 bis 1791 spürbar, wobei aber auch viele Flüchtlinge nach Beendigung der Auseinandersetzung wieder in ihre bosnische Heimat zurückkehrten. Daher haben sich die militärischen Konflikte des 18. Jahrhunderts nicht sehr stark auf die Migrationsbewegungen ausgewirkt.“ 25 19 Vgl. Tischler, Ulrike: Die habsburgische Politik gegenüber Serben und Montenegrinern 1791-1822. Förderung oder Vereinnahmung? München: Oldenbourg 2000 (= Südosteuropäische Arbeiten 108), p. 98f. 20 Ibid., p. 130. 21 Ibid., p. 99. 22 In seinem zwei Tage vor Beginn des Okkupationsfeldzuges erlassenen Korpsbefehl vom 27. Juli 1878 erwähnte beispielsweise Feldzeugmeister Joseph von Philippovich die zahlreichen bosnischen Flüchtlinge, die vor den Gräueltaten in ihrer Heimat Schutz auf dem Gebiet der Habsburger Monarchie gesucht hätten. Der Korpsbefehl ist u. a. abgedruckt in: Prager Tagblatt, Nr. 208 v. 29. 7. 1878, p. 2. 23 župa (slaw.): Bezirk, Komitat, alternativ: Pfarrei. 24 Vgl. Koller, Markus: Bosnien an der Schwelle zur Neuzeit. Eine Kulturgeschichte der Gewalt (1747-1798). München: Oldenbourg 2004 (= Südosteuropäische Arbeiten 121), p. 108. 25 Ibid. 66 Martin Gabriel Auch wenn die habsburgisch-osmanischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Vergangenheit angehörten, kam doch das Grenzgebiet nicht zur Ruhe. Nahezu permanent lieferten sich die an der Militärgrenze stehenden k. k. Truppen einen Kleinkrieg mit aus Bosnien kommenden „Räuberbanden“, die die Bevölkerung der grenznahen Bezirke durch Plünderung und Mord in Angst und Schrecken versetzten. 1803 forderte Erzherzog Karl die osmanische Führung durch den Internuntius in Konstantinopel auf, die dichten Grenzwälder zu roden, um so den ungesehenen Übertritt der „Räuber“ auf österreichisches Gebiet zu erschweren - die Hohe Pforte gab diese Forderung auch tatsächlich an den Pascha von Bosnien weiter, allerdings ignorierte die Bevölkerung dessen Anordnungen einfach und so wurden weiterhin regelmäßig Dörfer an der Militärgrenze überfallen. 26 Welche Schwierigkeiten sich im Umgang mit den osmanischen Behörden ergaben, wenn es um Wiedergutmachung für Überfälle auf österreichischem Gebiet ging, zeigt eine Episode aus dem Jahr 1817: Am 24. Februar wurde das Dorf Kruškova von der „Bande“ des Hassan Aga aus dem osmanischen kapudanlık 27 Ostrožac überfallen, drei Einwohner wurden getötet, sechs Häuser niedergebrannt, sieben Pferde, 27 Ochsen, 15 Kühe, 99 Schafe und 27 Ziegen geraubt. Aufgrund einer Beschwerde des österreichischen Konsuls Jacob von Paulich wurde der kapudan von Ostrožac von seinen Vorgesetzten gerügt und zu Reparationszahlungen angehalten. Dieser schickte als Provokation jedoch einige aus der Monarchie geflüchtete Kriminelle als Parlamentäre an die Grenze und stimmte erst nach erneuter scharfer Warnung der österreichischen Forderung zu, Wiedergutmachung (in Form von zwei Rindern) zu leisten. 28 Am 2. März des folgenden Jahres kam es beim Rastellamt 29 von Zavalje zu einem Schusswechsel, bei dem zwei österreichische Wachsoldaten und vier Bosnier getötet sowie 36 weitere Bosnier verwundet wurden, was die Wiener Regierung in Verlegenheit brachte, da das österreichische Militär in den - rechtlich gesehen exterritorialen - Rastellämtern zwar als Kontrollinstanz diente, aber über keinerlei Exekutivgewalt verfügte. 30 Zwischen 1815 und 1830 verursachten die Überfälle an der Militärgrenze nach Erhebungen österreichischer Gerichte einen Gesamtschaden von 9 Millionen fl. 26 Vgl. Buchmann, Bertrand Michael: Militär, Diplomatie, Politik. Österreich und Europa von 1815 bis 1835 Frankfurt/ M. et al.: P. Lang 1991 (= Europ. Hochschulschriften 498), p. 362. 27 kapudanlık (türk.): Kapitanat; Untereinheit der osmanischen Provinzialverwaltung, geleitet von einem Kapitän (türk. kapudan ). 28 Vgl. Buchmann 1991, p. 364. 29 Grenzkontrollposten für den Austausch kleinerer Waren. 30 Vgl. Buchmann 1991, p. 366. Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688-1869 67 Conventionsmünze, und auch in den Jahren danach rissen die Auseinandersetzungen nicht ab. Im April 1831 drangen mehr als 700 Bosnier in den Bezirk des Slujner Grenzerregiments ein, wo sie mit österreichischen Truppen zusammenstießen und zurückgetrieben wurden - der Befehlshaber in Kroatien ordnete als Reaktion auf diesen Zwischenfall den Einmarsch von zwei Brigaden nach Bosnien an, sah letztendlich aber davon ab, als die zuständigen osmanischen Beamten ihn darum baten. 31 Bosnien zwischen Unruhe, Umbrüchen und Reformbemühungen Anfang Juni 1834 wurden nach einem neuerlichen Überfall im Slujner Regimentsbezirk rund 4.000 österreichische Soldaten zusammengezogen, um im Falle neuerlicher Provokationen eine Strafexpedition nach Bosnien durchzuführen. Daraufhin verhafteten die eingeschüchterten osmanischen Verantwortlichen selbst zahlreiche bekannte Kriminelle und brachten den österreichischen Kommandeur Feldmarschallleutnant Franz Freiherr von Vlasits dazu, seine Streitmacht zu demobilisieren. Unmittelbar danach kamen die verhafteten Männer gegen Lösegeld wieder frei und die Übergriffe auf das Gebiet der Militärgrenze gingen weiter. 32 Im selben Jahr wurden die bosnischen Ortschaften Tržac und Velika Kladuša im Zuge einer Vergeltungsaktion von österreichischen Truppen niedergebrannt. 33 Auch die Jahre 1835 und 1836 brachten schwere Kämpfe zwischen den k. k. Grenztruppen und bosnischen „Räuberbanden“. Im Januar führten drei Grenzerbataillone als Reaktion auf einen Überfall auf das Dorf Zborište einen militärisch gesehen erfolgreichen Vergeltungsfeldzug nach Bosnien durch - allerdings mussten danach aus Angst vor Vergeltungsaktionen die Grenztruppen verstärkt werden, was schlussendlich mehr Kosten verursachte als ein Überfall. 34 Im Juni kam es im Grenzgebiet zu einer regelrechten Schlacht, in der mehr als 400 Bosnier getötet oder schwer verwundet wurden. Im Juli 1836 fiel die Ortschaft Izačić schweren Kämpfen, in denen rund 140 Österreicher und 500 Bosnier getötet oder verwundet wurden, zum Opfer. 35 Nach mehr als acht Jahren relativer Ruhe flammte der Konflikt 1845 wieder auf, als österreichische Truppen unter Baron Joseph Jelačić in einer Strafaktion für eine Reihe von Morden an k. k. Grenzsoldaten das Dorf Podzvizd nach 31 Vgl. Sosnosky 1913, p. 131. 32 Vgl. Buchmann 1991, p. 372. 33 Vgl. Klaić, Vjekoslav: Geschichte Bosniens von den ältesten Zeiten bis zum Verfalle des Königreiches. Leipzig: Friedrich 1885, p. 451. 34 Vgl. Buchmann 1991, p. 374. 35 Vgl. Sosnosky 1913, p. 133. 68 Martin Gabriel erbittertem Kampf (100 Österreicher und 200 Bosnier waren nach Ende der Gefechte tot, verwundet oder vermisst) zerstörten. 36 Dies stellte gewissermaßen den Schlusspunkt einer jahrzehntelangen Serie von Gefechten, Überfällen und Vergeltungsmaßnahmen an der österreichischen Militärgrenze und im nördlichen Bosnien dar. Seit dem Erwerb Dalmatiens, das durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1814/ 1815 an das Kaisertum Österreich gefallen war, 37 spielte Bosnien aber nicht nur aufgrund der ständigen Beunruhigung durch Überfälle, die von dort ausgingen, eine Rolle, sondern es war zunehmend auch in gesamtstrategischen Überlegungen der politischen und militärischen Führung der Monarchie präsent: „Bosnia and Hercegovina represented an obvious area for Austrian expansion into Southeast Europe. Geografically the province formed a wedge that ran deep into the Habsburg lands, making the hinterland of Dalmatia insecure from a military and economic standpoint.” 38 Schon 1835 verfasste der damals als kommandierender General in Lombardo-Venetien eingesetzte Graf Radetzky ein Memorandum, in dem er die Meinung vertrat, dass der schmale Küstenstreifen Dalmatiens ohne das Hinterland Bosniens und der Herzegowina kaum zu halten sei. 39 Erzherzog Johann spekulierte 1837 mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches und empfahl für diesen Fall dringend den Erwerb von Bosnien, der Herzegowina und Nordalbanien. 40 Laut Johanns Idee sollten mit Bulgarien, Serbien, der Moldau und der Walachei selbständige, dabei jedoch von Österreich abhängige Staatsgebilde geschaffen und Konstantinopel zur Freien Stadt erklärt werden. 41 Tatsächlich entglitten Bosnien und die Herzegowina - Grenzräume, die zwischen Krieg und Frieden schwebten und in denen sich (zum Teil aus Existenzangst) eine besondere Kriegermentalität ausgebildet hatte - im späten 18. und noch offensichtlicher im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend dem Einfluss der osmanischen Zentralverwaltung. 42 Für die Träger des osmanischen Ver- 36 Ibid. 37 Siehe dazu u. a. Antoljak, Stjepan: Kako je nastala austrijska pokrajina Kraljevina Dalmacija. In: Časopis za hrvatsku povijest 1 (1943), pp. 232-239. 38 Donia, Robert J.: Islam under the Double Eagle. The Muslims of Bosnia and Herzegovina, 1878-1914. New York: Columbia Univ. Pr. 1981, p. 8. 39 Vgl. Gabriel, Karl: Bosnien-Herzegowina 1878. Der Aufbau der Verwaltung unter FZM Herzog Wilhelm v. Württemberg und dessen Biografie. Frankfurt/ M. et al.: P. Lang 2004 (= Europ. Hochschulschriften 973), p. 25. 40 Vgl. Novotny 1957, p. 16. 41 Vgl. Bencze 2005, p. 8. 42 Vgl. Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‚Civilizing‘ Mission in Bosnia 1878-1914. London: Oxford Univ. Pr. 2007, p. 5.- An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass Christen, die, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Osmanischen Reich migrierten, bei ihrem Übertritt auf das Gebiet der Habsburger Monarchie in einer Form des Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688-1869 69 waltungsapparates in den beiden Provinzen verloren sowohl die Legitimierung durch die Zentralregierung in Konstantinopel als auch die Identifikation mit dieser beständig an Bedeutung. 43 Die besonders konservativen landbesitzenden Eliten - eine vorwiegend aus den Nachkommen von als Folge der osmanischen Eroberung Bosniens im 15. Jahrhundert zum Islam konvertierten christlichen Familien bestehende Oberschicht, die sich selbst als „Hort der Rechtgläubigkeit, Bewahrer der alten Ordnung und Verfechter einer weitgehenden Sonderstellung im Osmanischen Reich“ 44 betrachtete - wehrte sich erbittert gegen die insbesondere nach der Zerschlagung des Janitscharenkorps im Jahre 1826 45 einsetzenden Modernisierungstendenzen bzw. die seit 1839 von Sultan Abdülmecid I. vorangetriebenen Reformen der sog. Tanzimat 46 -Periode. 47 Husein Kapudan Gradaščević etwa besetzte 1831 aus Protest gegen die Schaffung der neuen osmanischen Armee ( Asakir-i Mansure-i Muhammediye 48 ) durch Sultan Mahmud II. die damalige bosnische Hauptstadt Travnik, marschierte mit 25.000 Kämpfern in das Kosovo und forderte lautstark ein Ende der Reformen im Landrecht und Kulturkontakts ebenfalls bestimmte Denk- und Lebensweisen „importierten“ und so den besonderen Charakter der Grenzregion mit prägten bzw. veränderten (vgl. Kaindl, Franz: Die k. k. Militärgrenze. Zur Einführung in ihre Geschichte. Wien: ÖBV 1971 [= Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien 6], p. 24). 43 Vgl. Koller 2004, p. 70. 44 Vrankić, Petar: Islam in der Donaumonarchie 1878-1918. In: Drobesch, Werner / Stauber, Reinhard / Tropper, Peter G. (Hg.): Mensch, Staat und Kirchen zwischen Alpen und Adria 1848-1938. Einblicke in Religion, Politik, Kultur und Wirtschaft einer Übergangszeit. Klagenfurt, Ljubljana, Wien: Hermagoras 2007, pp. 91-124, hier p. 96.- Auch in ethnografischen Werken, die in der Zeit der österreichisch-ungarischen Herrschaft entstanden, wurde vielfach auf die besonders strenge Auslegung des Islam in Bosnien hingewiesen, dabei aber immer wieder auch erwähnt, dass dies gleichzeitig mit einer „Treue“ dem habsburgischen Herrscherhaus einher ging, siehe dazu u. a. Ornig, Nikola: Diversität und Anerkennung. Die Rezeption der muslimischen Bevölkerung Österreich-Ungarns in ethnografischen Werken In: Kakanien revisited , http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ nornig1.pdf (2004), p. 2f. 45 In der offiziellen osmanischen Historiografie wurde die Vernichtung des Korps als „Heilsamer Vorfall“ ( vakay-ɪ hayriye ) beschrieben. Zum Janitscharenkorps vgl. zuletzt u. a. Hacısalihoğlu, Mehmet: Das Bild vom Janitscharen. Die Streitkräfte des Osmanischen Reiches zwischen Tradition und Modernisierung. In: Chiari, Bernhard / Groß, Gerhard P. (Hg.): Am Rande Europas? Der Balkan - Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder militärischer Gewalt. München: Oldenbourg 2009 (= Beiträge zur Militärgeschichte 68), pp. 233-240. 46 Tanzimat (arab.): Neuordnung. 47 Vgl. Mønnesland, Svein: Land ohne Wiederkehr. Ex-Jugoslawien. Die Wurzeln des Krieges. Klagenfurt: Wieser 1997, p. 151. 48 In der gegen die Militärreform gerichteten Propaganda wurden die neuen Streitkräfte („Die siegreiche Armee Mohammeds“) öffentlichkeitswirksam auch als „getaufte Armee“ bezeichnet, da die Soldaten Säbel und Patronengurt über der Brust gekreuzt trugen und damals „kreuzen“ und „taufen“ mit demselben Wort ( krstiti ) bezeichnet wurden. 70 Martin Gabriel Militärwesen, die selbständige Verwaltung Bosniens sowie die Vergabe der Position des Gouverneurs von Bosnien ausschließlich an einheimische Amtsträger, bevor osmanische Truppen die Revolte niederschlugen. 49 Auch zu Beginn der 1850er Jahre kam es zu schweren Unruhen, die auf österreichischer Seite Besorgnis auslösten und zur Mobilisierung von Truppen und Marineeinheiten führten. Osmanische Truppen unter dem Befehl des an der Militärgrenze geborenen und in türkische Dienste übergetretenen Generals Michael Latas (Omar Latas Pascha) schlugen den bosnischen Aufstand schließlich auf blutige Weise nieder. 1857 folgten Rebellionen christlicher Bauern gegen muslimische Gutsherren, die ihre Güter ( çiftlikler ) auf Kosten der Christen rücksichtslos ständig erweiterten, indem sie die finanzielle Notlage weiter Bevölkerungsschichten ausgenutzt und diese zum Verkauf ihres Besitzes (und damit in die Fronarbeit) gezwungen hatten. 50 Natürlich waren keineswegs allein die konservativen Muslime Bosniens für das Scheitern der osmanischen Reformen Abdülmecids verantwortlich; eine Teilschuld traf zweifellos auch die christlichen Bevölkerungsgruppen sowie Österreich und Russland, von denen sie unterstützt und immer wieder dahingehend beeinflusst wurden, unannehmbare Forderungen an die Pforte zu stellen. 51 Auch war es keineswegs so, dass die Unterschicht in Bosnien und der Herzegowina, die raya (Herde, Schutzbefohlene), ausschließlich aus Nichtmuslimen bestand, die natürlich auch religiöse Beweggründe hatten, sich gegen das osmanische System aufzulehnen. Unter den Bauern fand man auch zahlreiche Muslime, deren Protest und Widerstand gegen die Politik als landesfremd empfundener und die Zentralregierung in Konstantinopel verkörpernder Eliten ganz wesentlich in einer sozialen bzw. wirtschaftlichen Problematik begründet lag. 52 49 Vgl. Sel Turhan, Fatma: The Ottoman Empire and the Bosnian Uprising. London, New York: I. B. Tauris 2014, p. 2; Koller 2004, p. 71. 50 Vgl. Matuz, Josef: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. Darmstadt: WBG 1985, p. 232f. 51 Vgl. Riedel, Sabine: Die Erfindung der Balkanvölker. Identitätspolitik zwischen Konflikt und Integration. Wiesbaden: VS 2005, p. 53. 52 Vgl. Baumann, Robert F. / Gawrych, George W. / Kretchik, Walter E.: Armed Peacekeepers in Bosnia. Fort Leavenworth: US Army Combined Forces Combat Studies Institute Pr. 2004 (= Special Studies), p. 6.- Ebenso wie während der gegen die osmanische Zentralherrschaft gerichteten Aufstände verlief auch der Widerstand im Okkupationsfeldzug 1878 zwar großteils, aber keineswegs ausschließlich entlang religiöser Bruchlinien. Weder die Unruhen z. B. der 1850er Jahre noch die Kämpfe 1878 sind daher vernünftigerweise unter der Perspektive eines „Religionskrieges“ zu verstehen. Zu den Grundlagen der Gewaltausübung im Islam siehe u. a. Rosiny, Stephan: Der Jihad. Historische und zeitgenössische Formen islamisch legitimierter Gewalt. In: Werkner, Ines-Jacqueline / Liedhegener, Antonius (Hg.): Gerechter Krieg, gerechter Frieden. Religionen und frie- Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688-1869 71 Die strategischen Überlegungen der Habsburger Monarchie nach 1850 Einflussreiche österreichische Generäle wie Radetzky, Jelačić oder Windischgrätz propagierten in den Jahren nach 1849 die Ansicht, man solle ein Ausgreifen Russlands - das sowohl in den Revolutionswirren wie auch im österreichisch-preußischen Konflikt von 1850 die Habsburger Monarchie unterstützt hatte - akzeptieren, jedoch dafür sorgen, dass Österreich in diesem Fall ebenfalls nicht leer ausging. 53 Als 1852/ 1853 der Konflikt zwischen dem Osmanischen Reich und Montenegro eskalierte, ergriff Österreich entschieden für letzteres Partei und in der Monarchie wurde ein möglicher Einmarsch nach Bosnien vorbereitet. In Kroatien und Slawonien wurden in den Anfangsmonaten des Jahres 1853 fast 70.000 Soldaten mit mehr als 7.700 Pferden und 136 Geschützen zusammengezogen, den Oberbefehl führte Feldzeugmeister Baron Jelačić. 54 Seine Truppen sollten Anfang März 1853 bei Bihać, Kladuša, Kostajnica und Novi nach Bosnien eindringen und möglichst rasch Sarajevo besetzen. Als die Pforte jedoch einer Reihe von österreichischen Forderungen nachgab, die der Gesandte Christian Graf Leiningen-Westerburg in Form eines Ultimatums in Konstantinopel übergeben hatte (Räumung Montenegros, Entschädigungszahlungen etc.), 55 verzichtete die österreichische Seite auf die Durchführung des Okkupationsfeldzuges. Feldmarschall Radetzky legte 1856 nochmals eine Denkschrift vor, die sich mit dem Problem des nicht vorhandenen dalmatinischen Hinterlandes befasste: Die Südspitze des Kronlandes Dalmatien war aus den Zentralgebieten der Monarchie nur per Schiff zu erreichen, da es von den türkischen Adriaenklaven Klek und Sutorina de facto in drei Teile geteilt wurde; 56 es gab keine Eisenbahnverbindung und keine für größere Truppenbewegungen geeignete Straße. Dazu kamen noch Spannungen um das Gebiet der Bucht von Kotor (Bocche di Cattaro), auf welches das Fürstentum Montenegro Anspruch erhob. Die relativ schwachen österreichischen Marineverbände in der Adria waren somit im Grunde die erste und letzte Verteidigungslinie: im Fall einer Niederlage zur See war ein densethische Legitimationen in aktuellen militärischen Konflikten. Wiesbaden: VS 2009 (= Politik und Religion), pp. 225-244, hier p. 225. 53 Vgl. Bencze 2005, p. 9f. 54 Vgl. Sosnosky 1913, p. 134. 55 Vgl. Deusch, Engelbert: Das k. (u.) k. Kultusprotektorat im albanischen Siedlungsgebiet. In seinem kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Umfeld. Wien et al.: Böhlau 2009 (= Zur Kunde Südosteuropas 2; 38), p. 48f. 56 Vgl. Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie 1804-1914. Wien: ÖAW 1997 (= Österreichische Geschichte 6), p. 446f. 72 Martin Gabriel Angriff auf Dalmatien kaum noch abzuwehren. 57 Aufgrund der schweren Verstimmungen des früher von Radetzky als möglicher Partner bei der Aufteilung des Balkans betrachteten Zarenreiches wies der Feldmarschall nunmehr auf die Notwendigkeit hin, das Verhältnis sowohl mit Piemont-Sardinien als auch mit Preußen zu verbessern, um danach die Aufmerksamkeit der Monarchie auf den Balkan richten zu können: Ohne noch sich über die dann zu ergreifenden Maßregeln einzulassen, glaube ich nur bemerken zu müssen, daß Österreich zu keinem Entschluß kommen kann, ehe es nicht die anstoßenden Zerwürfnisse in Piemont geendet und in Ordnung gebracht hat, wodurch die italienische Frage ganz und vollkommen als gelöst betrachtet werden kann. Die zweite Aufgabe ist dann das Einvernehmen mit Preußen und Deutschland zum Gemeinsinn! Wo dann zur weitern Schlußfassung erst zu übergehen rätlich wird. Nun erlaube ich mir die Aufmerksamkeit zu leiten auf Servien, was nur hingehalten werden kann durch Belgrad als das Thor für selbes. Der Besitz von Istrien und Dalmatien muß es Österreich wünschenswert machen, daß es in Besitz von Bosnien gelange, so wie von Belgrad, um von da sich an den Balkan mit dem rechten Flügel anschließen zu können. In dieser Stellung ist der österreichische rechte Flügel Herr von den Fürstentümern, um wenigstens drohend zu bleiben, so wie vom ganzen Orient […]. 58 Etwa zur selben Zeit vertraten französische Politiker die Idee der Gründung einer „slawischen Union“, die, so der österreichische Generalkonsul in Belgrad, Theodor Radosavljević von Posavina, im April 1857, die Vereinigung Bosniens und der Herzegowina mit Serbien zum Ziel hatte; dieses Staatsgebilde sollte danach ein Protektorat Frankreichs darstellen. 59 Es war anzunehmen, dass diese Pläne innerhalb Serbiens auf Resonanz stoßen würden, einerseits aufgrund einer territorialen Vergrößerung, andererseits, weil die Proponenten panserbischer Ideen dort in den vorangegangenen Jahrzehnten zunehmend an Einfluss gewonnen hatten. So vertrat der Sprachreformer Vuk Stefanović Karadžić die Ansicht, dass der Herzegowina in einer panserbischen Theorie die zentrale Rolle 57 Vgl. Bridge, F. R.: From Sadowa to Sarajevo. The Foreign Policy of Austria-Hungary 1866-1914. Boston: Routledge 2001 (= Foreign Policies of the Great Powers 6), p. 71; Sosnosky 1913, p. 135. 58 Die Gedenkschrift Radetzkys vom 30. August 1856 ist abgedruckt bei Sosnosky 1913, p. 289-291. 59 Vgl. Rumpler, Helmut: „L’union slave“ als Albtraum der österreichischen Politik nach dem Krimkrieg. Eine Episode der österreichischen Balkanpolitik. In: Domenig, Christian et al. (Hg.): „Und wenn schon, dann Bischof oder Abt“. Im Gedenken an Günther Hödl (1941-2005). Klagenfurt: Kärntner Drucku. Verl.Ges. 2006, pp. 117-130, hier p. 125. Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688-1869 73 zuzukommen habe, da dort angeblich die reinste serbische Volkssprache zu finden sei. 60 Die Niederlage Österreichs im Krieg gegen die Verbündeten Piemont und Frankreich 1859 und der daraus resultierende Verlust der zwar oft unruhigen, dabei aber wohlhabenden und produktiven Provinz Lombardei brachte einen Stimmungsumschwung bei den europäischen Mächten, unter denen nunmehr Einigkeit darüber herrschte, dem Habsburger Reich auf dem „grünen Tisch“ eine Entschädigung für territoriale Einbußen zuzugestehen. 61 Frankreichs Kaiser Napoleon III. unterbreitete einen Vorschlag, demzufolge Kaiser Franz Joseph Venetien an Italien und Galizien an ein neues polnisches Königreich abtreten solle, um als Ausgleich dafür Bosnien und die Herzegowina - ein „Land der balkanischen Schaf- und Pferdediebe“, 62 wie Bismarck es verächtlich nannte -, Serbien sowie die Donaufürstentümer Moldau und Walachei zu erhalten. 63 Alle Tauschprojekte der Großmächte scheiterten jedoch am Widerstand der österreichischen Führung, die weiter hartnäckig an ihren verbliebenen oberitalienischen Besitzungen festhielt und zugleich mit Preußen um die Vorherrschaft im Deutschen Bund konkurrierte. Das Jahr 1866 mit der Niederlage der Habsburger Monarchie im Krieg gegen die Verbündeten Preußen und Italien brachte schließlich auf gewaltsame Weise das Ende für die österreichische Herrschaft in Venetien und die Führungsrolle der Monarchie innerhalb des Deutschen Bundes. Ein Ausgleich für diese Verluste war - das musste ein Blick auf die europäische Landkarte zeigen - de facto nur durch Expansion auf dem Balkan möglich. Für Vizeadmiral Wilhelm von Tegetthoff, 64 den als siegreichen Helden der (militärisch ziemlich unbedeutenden) Seeschlacht von Lissa verklärten Marineoffizier, war völlig klar, dass mit dem Wegfall der venezianischen Häfen die Bedeutung der dalmatinischen 60 Vgl. Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878-1918). München: Oldenbourg 1994 (= Südosteuropäische Arbeiten 93), p. 193; Pogačnik, Jože: Bartholomäus Kopitar und Vuk Karadžić. In: Lauer, Reinhard (Hg.): Sprache, Literatur, Folklore bei Vuk Stefanović Karadžić. Beiträge zu einem internationalen Symposium, Göttingen, 8.-13. Februar 1987. Wiesbaden: Harrassowitz 1988 (= Opera Slavica N. F. 13), pp. 71-87, hier p. 85. 61 Vgl. Vrankić, Petar: La chiesa cattolica nella Bosnia ed Erzegovina al tempo del vescovo Fra Raffaele Barisić (1832-1863). Rom: Univ. Gregoriana Ed. 1984 (= Analecta Gregoriana 235), p. 48. 62 Zit. bei Rumpler 1997, p. 445. 63 Vgl. Vrankić, Petar: Religion und Politik in Bosnien und der Herzegowina 1878-1918. Paderborn et al.: Schöningh 1998, p. 21. 64 Tegetthoffs Bruder Carl (1826-1881) nahm als Kommandant der Grazer 6. Infanterietruppendivision 1878 an der Okkupation von Bosnien teil. 74 Martin Gabriel Küste als Basis für die österreichische Marine enorm gestiegen war 65 - der Erwerb des Hinterlandes erschien deshalb umso dringlicher. Man war sich weiters bewusst, dass Bosnien und die Herzegowina nicht nur strategisch und politisch von essentieller Bedeutung für Dalmatien waren, sondern dass ein wirtschaftlicher Aufschwung dieses verhältnismäßig armen Kronlandes ohne den Erwerb von zusätzlichem Raum im Inneren der Balkanhalbinsel auch kaum erwartet werden konnte. Friedrich Graf Revertera-Salandra, der österreichische Gesandte am russischen Zarenhof in Petersburg, sandte seit November 1866 eine Reihe von Mitteilungen nach Wien, in denen er seiner Überzeugung Ausdruck gab, der Zerfall des Osmanischen Reiches stehe bevor und Österreich solle diesbezüglich Absprachen mit dem Zarenreich treffen, seinen Verzicht auf die Donaufürstentümer Moldau und Walachei bekannt geben und so den Grundstein für die Billigung Russlands zum Erwerb von Bosnien und der Herzegowina legen. 66 Fürst Richard Metternich, Österreichs Botschafter in Paris, schlug Anfang 1867 in dieselbe Kerbe: Man müsse mit dem Auseinanderbrechen des Osmanischen Reiches rechnen und die Inbesitznahme der östlichen Adriaküste ins Auge fassen („penser avant tout au littoral de l’Adriatique“ 67 ), was bedeutet hätte, in Albanien, Bosnien und der Herzegowina eine österreichische Herrschaft zu etablieren. Der spätere gemeinsame Finanzminister der österreichisch-ungarischen Monarchie - und somit auch Verwalter des „Reichslandes“ Bosnien-Herzegowina - Benjámin Kállay 68 trat in seiner Funktion als k. u. k. Generalkonsul in Belgrad Ende der 1860er Jahre jedoch dafür ein, lediglich das Gebiet westlich der Flüsse Neretva und Vrbas (das historische „Türkisch-Kroatien“) für Österreich-Ungarn zu gewinnen, 69 um das Hinterland Dalmatiens zu sichern sowie das kroatische Element in der Monarchie durch diesen Erwerb zu besänftigen. 70 Der Großteil 65 Vgl. Hünigen, Gisela: Nikolaj Pavlovic Ignat’ev und die russische Balkanpolitik 1875- 1878. Göttingen, Zürich, Frankfurt/ M.: Musterschmidt 1968 (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 40), p. 19; Bridge 2001, p. 71. 66 Vgl. Elz, Wolfgang: Die europäischen Großmächte und der Kretische Aufstand 1866- 1867. Stuttgart: Steiner 1988 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 28), p. 119. 67 Zit. n. ibid., p. 123. 68 Für einen kurzen biografischen Abriss zu Kállay vgl. Gabriel, Martin: Kállay de Nágy- Kalló, Béni. In: Enzyklopädie des Europäischen Ostens (Online-Lexikon, abrufbar unter: www.uni-klu.ac.at/ eeo). 69 Vgl. Wertheimer, Eduard von: Graf Julius Andrássy, Bd. 1. Stuttgart: DVA 1910, p. 460f. 70 Vgl. Ress, Imre: Versuch einer Nationenbildung um die Jahrhundertwende. Benjámin Kállays Konzeption der bosnischen Nation. In: Kiss, Endre / Stagl, Justin (Hg.): Nation und Nationenbildung in Österreich-Ungarn 1848-1938. Prinzipien und Methoden. Wien, Münster: LIT 2006 (= Soziologie. Forschung und Wissenschaft 21), pp. 59-72, hier p. 62. Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688-1869 75 Bosniens und der Herzegowina sollte dagegen unter Beibehaltung der osmanischen Hoheitsrechte administrativ mit dem serbischen Fürstentum vereinigt werden, was man wiederum dazu benutzen wollte, um ein feindseliges Klima zwischen den Kroaten, die Anspruch auf die beiden Provinzen in ihrer Gesamtheit angemeldet hatten, und dem vergrößerten Serbien zu erzeugen. 71 Graf Gyula Andrássy, als Außenminister der österreichisch-ungarischen Monarchie einer der Hauptarchitekten der Okkupation von 1878, bezeichnete 1869 in einem Gespräch mit Kállay die Überlassung Bosniens und der Herzegowina an Serbien überhaupt als Grundlage für die Politik der Monarchie gegenüber den südslawischen Staaten. 72 Als zusätzlichen positiven Nebeneffekt dieser diplomatischen Winkelzüge erwartete man sich - speziell in Budapest - auch eine Abwendung Serbiens von Russland zugunsten der Habsburger Monarchie, daher auch Robin Okeys Feststellung: „The Bosnian gambit seems to have been largely a Hungarian one and in its ingenuity and dubious sincerity interesting for the vigour with which the fledgeling Hungarian state defended itself from a sea of perceived enemies.” 73 Friedrich Freiherr von Beck-Rzikowsky, der Chef der kaiserlichen Militärkanzlei und spätere Generalstabschef der k. u. k. Armee, trat 1869 in einem Memorandum wiederum genau jenen territorialen Erweiterungen Serbiens (und auch Montenegros) entschieden entgegen, auf welche die Planungen Kállays und anderer Exponenten der österreichisch-ungarischen Außenpolitik abzielten. Beck fürchtete die Entstehung zweier vergrößerter - und dabei an das russische Zarenreich gebundener - slawischer Staaten an der Südostgrenze der Monarchie und verlangte neben der Besetzung von Bosnien und der Herzegowina auch die gleichzeitige Inbesitznahme des strategisch wichtigen, zwischen Serbien und Montenegro gelegenen Sandschaks 74 von Novi Pazar (türk. Yeni Pazar), 75 was erstens die beiden orthodoxen Fürstentümer geografisch voneinander getrennt und der Monarchie zweitens ein Sprungbrett für mögliche zukünftige Expansionsschritte Richtung Südosten gesichert hätte. 71 Vgl. Hünigen 1968, p. 19; Ress 2006, p. 62. 72 Vgl. Diószegi, István: Der Platz Bosnien-Herzegowinas in Andrássys außenpolitischen Vorstellungen. In: Burz, Ulfried / Derndarsky, Michael / Drobesch, Werner (Hg.): Brennpunkt Mitteleuropa. Festschrift für Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag. Klagenfurt: Carinthia 2000, pp. 377-384, hier p. 379f. 73 Okey, Robin: The Habsburg Monarchy, c. 1765-1918. From Enlightenment to Eclipse. Basingstoke, London: Macmillan 2001 (= European Studies Series), p. 222. 74 Sandschak (türk. sancak ): Untereinheit in der osmanischen Provinzialverwaltung, geleitet von einem Mütesarrif (türk. mutasarrıf ). 75 Vgl. Palmer, Alan: The Twilight of the Habsburgs. The Life and Times of Emperor Francis Joseph. New York: Grove Pr. 1994, p. 197. 76 Martin Gabriel Resümee Eine Betrachtung der Beziehungen der Habsburger Monarchie mit Bosnien und der Herzegowina als einer Grenzregion des Osmanischen Reiches seit dem späten 17. Jahrhundert macht deutlich, dass die 1878 bzw. 1908 erfolgte Eingliederung dieser Gebiete nicht allein durch relativ rezente politisch-strategische Veränderungen 76 wie die Gründung des deutschen Kaiserreiches, die zunehmende Bedeutung Russlands als (süd-)osteuropäische Großmacht und die Entstehung von (mehr oder weniger) unabhängigen staatlichen Entitäten auf der Balkanhalbinsel erklärt werden kann. Das Interesse an einer Sicherung der Südflanke der Monarchie ist schon lange vor der Okkupation erkennbar, auch wenn in der Zeit vor 1878 die Mittel, v. a. aber der politische Wille fehlten, dieses Ziel durch eine formelle Inbesitznahme Bosniens und der Herzegowina zu realisieren. 76 Zur unmittelbaren Vorgeschichte der Okkupation vgl. den folgenden Beitrag von Raymond Detrez. Zurückhaltung und Entschlossenheit 77 Zurückhaltung und Entschlossenheit Zur Vorgeschichte der k. u. k. Okkupation Bosnien- Herzegowinas 1878 Raymond Detrez (Gent) Die diplomatischen Aktivitäten der europäischen Großmächte vor der Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878 sind durch Ambiguitäten und Paradoxien gekennzeichnet. Obwohl es den Historikern zumeist gelungen ist, ans Licht zu bringen, was (aller Wahrscheinlichkeit nach) geschah, die geheimen Winkelzüge und Beweggründe dahinter zu erklären und sogar noch eine große Viel- Abb 1. Französische Karikatur vom Okt. 1908: Sultan Abdülhamid II. muss hilflos zusehen, wie Kaiser Franz Joseph Bosnien-Herzegowina und Zar Ferdinand Bulgarien aus dem Osmanischen Reich herausreißen. (Quelle: Wikimedia) 78 Raymond Detrez zahl von - großteils nationalistisch verzerrten - Perspektiven zu synthetisieren, haben diese Widersprüche auch weiter dazu beigetragen, dass die Okkupation der Gegenstand divergierender Interpretationen und Kontroversen im Lichte neuer Zugänge zur Geschichte geblieben ist, z. B. im Rahmen der (Post)colonial Studies . In diesem Sinne wird sich mein Beitrag bemühen, einige dieser Ambiguitäten und Paradoxien der Balkanpolitik Wiens im späten 19. Jahrhundert herauszuarbeiten, die von der dualen Struktur des Reichs und seinen komplexen Beziehungen mit Russland hervorgerufen wurden und die noch immer zeitgenössische Forscher/ innen zu verwundern vermögen, die das ‘wahre Wesen’ der österreichisch-ungarischen Okkuption herausfinden möchten. * Das Engagement der Habsburger Monarchie in Bosnien-Herzegowina und dem Balkan ist ein Aspekt der sog. „Orientfrage“, hervorgerufen durch die Desintegration des Osmanischen Reichs und die damit verbundenen Gebietsforderungen anderer Mächte. 1 Diese Problematik bestand seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und erreichte ihren Höhepunkt zwischen dem Krimkrieg (1853-1856) und dem Ersten Weltkrieg. Eigentlich hatte sie ihre ersten Anfänge bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als die Heilige Liga - bestehend aus dem Habsburger Reich, Polen, Venedig und schließlich auch Russland - die osmanischen Armeen mehrfach besiegte und der Hohen Pforte die Friedensverträge von Karlowitz (1699) and Passarowitz (1718) aufzwang. Der gesamte osmanische Teil Ungarns inklusive des tributpflichtigen Fürstentums Siebenbürgen wurde an die Habsburger abgetreten. Diese Eroberung wurde als die Wiederherstellung angestammter Rechte auf die ungarischen Lande präsentiert - erworben 1526, als König Lajos (Ludwig) II. von Ungarn und Böhmen auf dem Schlachtfeld von Mohács gefallen war. Venedig wiederum konnte seine Besitzungen in Dalmatien wesentlich erweitern. Als Resultat verwandelten sich Bosnien und die Herzegowina gleichsam in eine große osmanische Landzunge, die weitgehend von habsburgischem und venezianischem Gebiet umgeben war. Die Orientfrage trat 1774 in ein neues Stadium, nachdem Russland das Osmanische Reich besiegt und ihm den Friedensvertrag von Küçük Kaynarca abgerungen hatte. Das Zarenreich erwarb durch seine Annexion von Teilen der nordöstlichen Schwarzmeerküste einen freien Seezugang im Süden bis zum Bosporus, was als wahrscheinliche Ausgangsbasis für eine weitere Expansion in Richtung Balkan angesehen wurde. Dadurch wurde Österreich alarmiert, 1 Vgl. den nützlichen Überblick bei Haselsteiner, Horst: Grundzüge der Orientpolitik der Habsburgermonarchie. Zwischen Kontinuität und Wandel. In: Ders. (Hg.): Bosnien-Herzegovina. Orientkrise und Südslavische Frage. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996, pp. 9-14. Zurückhaltung und Entschlossenheit 79 aber aufgrund der friedlichen Atmosphäre während der polnischen Teilungen unterstützte Joseph II. vorsichtig das „griechische Projekt“ der Zarin Katharina der Großen, was in weiterer Folge lange so etwas wie ein Grundmuster für die Haltung beider Reiche gegenüber den Osmanen darstellte. Der westliche Kaukasus, die Krim und die Gebiete östlich des Dnjestr sollten von Russland annektiert werden, Teile der Walachei, Serbien, Bosnien und der Herzegowina, Istrien und Dalmatien von der Habsburger Monarchie. Ebenso sollte das byzantinische Reich wiederhergestellt werden, mit Katharinas Sohn als König. Im Bewusstsein, dass die Teilung der Balkanhalbinsel Spannungen verursachen könnte, sah Katharina auch die Einrichtung eines Königreichs Dakien als Pufferstaat vor. 2 Der Wiener Kongress 1815 überschrieb den Österreichern das ehemals venezianische Dalmatien. Bosnien und die Herzegowina waren dadurch fast vollständig von habsburgischen bzw. serbischen und montenegrinischen Gebieten umgeben, außer im Südosten, wo beide Provinzen im weiteren geschichtlichen Verlauf nur noch durch den Sandschak von Novi Pazar - einen langen, schmalen Korridor zwischen Serbien und Montenegro - mit dem Rest des Osmanischen Reichs direkt verbunden waren. Auf diese Weise wurden sie aus osmanischer Sicht extrem anfällig für einen potenziellen habsburgischen Angriff. Für die Österreicher wiederum war Dalmatien, ein langer und schmaler Landstreifen zwischen Bosnien-Herzegowina und der Adria, noch schwieriger gegen eine mögliche osmanische Aggression zu verteidigen. Nachdem der Wiener Kongress das Chaos der Napoleonischen Kriege beendet hatte, wurde die Kooperation zwischen Wien und St. Petersburg wieder aufgenommen. Beide Reiche waren unter den Mitgliedern der Heiligen Allianz von 1815, welche die nun wieder herrschenden alten Zustände in Europa schützen sollte. Während aber Österreich in Anbetracht zunehmender nationaler Unruhe auf seinem Territorium und auf deutschem Boden die Aufrechterhaltung jenes status quo im und mit dem Osmanischen Reich propagierte, tat Russland alles, um die Lage weiter zu destabilisieren. Die Heilige Allianz wurde in ihren Grundfesten erschüttert, als während der Griechenland-Krise von 1821-30 der österreichische Kanzler Klemens Wenzel Fürst Metternich für Russland intervenierte, aber gegen den drohenden Zerfall des Osmanischen Reiches opponierte, als Serbien in den Konflikt involviert wurde. In Wien indes wurde das russische Protektorat über die Donau-Fürstentümer, das von 1829 bis 1856 dauerte, als zusätzliche Bedrohung von Osten her wahrgenommen. Nichtsdestotrotz stipulierte der Vertrag von Münchengrätz im September 1833, dass im Fall einer weiteren Desintegration des Osmanischen Reiches Österreich und Russland zu- 2 Vgl. Jelavich, Barbara: History of the Balkans. Vol. I. Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 1983. 80 Raymond Detrez sammenarbeiten würden, um ein neues Mächtegleichgewicht in der Region zu kreieren. 3 Die Niederschlagung des ungarischen Aufstands von 1848/ 49 durch die Russen ist eine berühmt-berüchtigte Illustration dieser gegenseitigen Verständigung der beiden Reiche, obwohl sie das latente Misstrauen in Wien nicht zerstreuen konnte. Bei den habsburgischen Staatsmännern provozierte dies - zusammen mit dem plötzlichen Bewusstsein der explosiven Natur der Nationalitätenspannungen im Reich - eher ein unangenehmes Gefühl der Abhängigkeit von St. Petersburg, während es bei den Ungarn Hass auf die Russen schürte und zum Generalverdacht gegen die eigenen (Süd-)Slawen beitrug. 4 Während des Krimkriegs 1853-1856 glaubte der Zar freilich noch immer, die nationalen Interessen Wiens und St. Petersburgs seien quasi ident, und er schlug vor, den Balkan in ein gemeinsames russisch-österreichisches Protektorat zu verwandeln. 5 Die Habsburger Monarchie jedoch befürchtete, bei den Südslawen inner- und außerhalb des Reichs nationalistische Gefühle aufzuwühlen und weigerte sich - in Anbetracht der russischen Dominanz bei den Orthodoxen -, Partei zu ergreifen; schließlich schickte sie aber doch Truppen in die russisch administrierten Donau-Fürstentümer und besiegelte damit das Schicksal Russlands. Nach dem Vertrag von Paris 1856 vermied es St. Petersburg, offen in Balkan-Angelegenheiten hineingezogen zu werden; trotzdem hegten viele russische Diplomaten heimlich panslawische Gefühle. 6 So ermutigte Graf Nikolaj Ignatjev, der russische Botschafter in Konstantinopel von 1864 bis 1877, stillschweigend die Rebellen auf dem Balkan, mit der Aussicht auf eine russische Intervention zu den Waffen zu greifen. Wien seinerseits war durch die unglücklichen kriegerischen Konflikte mit Italien und Preußen von 1859 bzw. 1866 dazu gezwungen, 1867 mit Ungarn den sog. Ausgleich zu realisieren und sich auf dem Balkan zurückzuhalten. Die Politik Metternichs von 1815, die dazu gedient hatte, die territoriale Integrität des als eher harmlos eingestuften Osmanischen Reichs aufrecht zu erhalten, wurde dabei immer noch als bester Schutz gegen Bedrohungen aus dem Südosten angesehen. 1873 trat Österreich-Ungarn unter seinem neu ernannten Außenminister Gyula Graf Andrássy in den eher losen Dreikaiserbund mit dem Deutschen Reich und Russland ein. Als einer der Architekten des Ausgleichs befürwortete Andrássy eine österreichische und ungarische Dominanz innerhalb der Dop- 3 Vgl. Jelavich, Barbara: Russia’s Balkan Entanglements, 1906-1914. Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 1991, p. 96. 4 Vgl. Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini, 1882-1903. Sarajevo: Veselin Masleša 1987, p. 24. 5 Vgl. Jelavich 1993, pp. 114 u. 128. 6 Vgl. Stavrianos, L.S.: The Balkans since 1453. London: Hurst 2000 [1958], p. 398. Zurückhaltung und Entschlossenheit 81 pelmonarchie und deshalb auch die Kooperation mit Deutschland. 7 So machte Andrássy seinem russischen Gegenspieler, dem gemäßigten und pro-westlichen Alexander Gorčakov, klar, dass das Habsburger Reich keinerlei Absichten habe, sich in Balkanfragen einzumischen, aber dennoch Bosnien und die Herzegowina territorial eher ins Reich zu integrieren, als es Serbien (Russlands traditionellem Verbündeten) zu überlassen. 8 Als Ungar misstraute Andrássy den Russen, in der Annahme, „Österreichs Aufgabe bleibe nach wie vor, ein Bollwerk gegen Rußland zu bilden, und nur solange es diese Aufgabe erfülle, sei sein Bestand eine europäische Notwendigkeit.“ 9 * Auf diese Weise hatte bereits am Vorabend der Besetzung Bosnien-Herzegowinas 1878 das habsburgische Engagement am Westbalkan eine lange Vorgeschichte, gekennzeichnet durch eine komplexe Beziehung von Kooperation und Konkurrenz mit Russland. Aus der Perspektive der Kooperation betrachtet, erscheint die bevorstehende Okkupation lediglich als ein Schritt in Richtung Verwirklichung eines ehrgeizigen imperialistischen oder kolonialistischen Projekts. Vom Standpunkt der Rivalität mit Russland aus dürfte die habsburgische Balkan-Politik im 19. Jahrhundert aber sehr wohl auch eine Form der Selbstverteidigung gewesen sein, wie österreichisch-ungarische Staatsmänner wiederholt behauptet haben. 10 Österreich-Ungarn fürchtete, dass Russlands tatsächliche oder vermeintliche Einkreisungspolitik via die Walachei und die Moldau im Osten eines Tages abgeschlossen sein könnte, wenn der Zar zwischen den Balkan-Slawen Fuß fassen würde. Auch hier wiederum bot - angesichts der Tatsache, dass die Doppelmonarchie keine Chance in einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland sah - die Erhaltung der territorialen Integrität des Osmanischen Reichs den besten Schutz gegen diesen Alptraum. 11 Obwohl in Anbetracht der jüngsten militärischen Niederlagen Kaiser Franz Joseph durchaus daran interessiert gewesen sein dürfte, sein beschädigtes An- 7 Vgl. Kann, Robert A.: A History of the Habsburg Empire, 1526-1918. Berkeley: Univ. of California Pr. 1977 [1974], p. 278. 8 Vgl. Stavrianos 2000, p. 399. 9 Rumpler, Helmut (Hg.): Österreichische Geschichte 1804-1914. Bd. 7: Eine Chance für Mitteleuropa. Hg. von Herwig Wolfram. Wien: Ueberreuter 1997, p. 446.- Vgl. auch die Diskussion antislawischer und antirussischer Gefühle in Österreich-Ungarn bei Medlicott, W. N.: The Congress of Berlin and After. London: Methuen 1938, p. 7ff. 10 Haselsteiner, Horst: Zur Haltung der Donaumonarchie in der orientalischen Frage. In: Haselsteiner 1996, pp.15-30, zit. p. 29. 11 Medlicott 1938, p. 27, sieht die Habsburger Monarchie am Vorabend des Berliner Kongresses eher von der Angst vor der Einkreisung getrieben als vom Wunsch, neue Territorien zu erwerben. 82 Raymond Detrez sehen durch neue Eroberungen wieder herzustellen, gab es doch auch interne Gründe, die Österreich-Ungarn vor einem militärischen Abenteuer auf dem Balkan abhielten. Der Hauptfaktor hier war die wachsende Bedrohung durch den südslawischen Nationalismus. Die habsburgischen Südslawen, die bereits durch den kroatischen Ausgleich ( Nagodba) 1868 eine gewisse Autonomie im Königreich Ungarn erlangt hatten, bestanden auf der Schaffung einer politischen Entität, die die südslawischen Gebiete Österreichs und Ungarns umfassen und die gleiche rechtliche Basis wie diese anderen beiden Reichsteile haben sollte (Trialismus) - eine Lösung, die die fragile (dualistische) Konstruktion ernsthaft gefährdet hätte. 12 Zumal nämlich die neuen Balkangebiete die Anzahl der Südslawen innerhalb der Monarchie erhöht hätte, lehnte das habsburgische Establishment, die deutschsprachigen Liberalen ebenso wie die ungarischen Politiker, dies ab. 1869 wiesen etwa Andrássy (damals noch ungarischer Ministerpräsident) und Benjamin von Kállay, der k. u. k. Generalkonsul in Belgrad, die Idee eines Engagements in Bosnien-Herzegowina noch strikt zurück; 13 nur die habsburgischen Kroaten waren dafür. Während einer Konferenz im Februar 1872 bemerkte Andrássy auch, dass, obwohl die Annexion von Bosnien und der Herzegowina „wünschenswert“ sei, das Reich keine andere Wahl habe, als wegen des generellen Mangels an „nationale[r] Begeisterung“ für eine militärische Operation in der Bevölkerung eine defensive Politik zu verfolgen. 14 Andererseits bedeutete auch ein mächtiger und unabhängiger serbischer Staat jenseits der k. u. k. Grenzen - insbesondere mit russischer Unterstützung - eine militärische Bedrohung für die Doppelmonarchie. In Wien wurde jedoch die Politik der Unterstützung osmanischer Vorherrschaft zur Verhinderung serbischer Ambitionen und der Ermutigung albanischer, griechischer und rumänischer Gebietsforderungen als Gegengewicht zu den serbischen Begehrlichkeiten und damit als adäquate Maßnahmen angesehen. Zusätzlich machte Wien mit der Entsendung des als serbenfreundlich geltenden Botschafters Kállay 1868 einen Versuch, friedliche Beziehungen mit Serbien aufzubauen und es für die eigenen Bedürfnisse einzuspannen. 15 Nichtsdestotrotz befeuerte die reine Existenz eines unabhängigen Serbenstaats die politischen Ambitionen der habsburgischen Südslawen: Angesichts deren ausbleibender Erfüllung innerhalb der Monarchie bot ihnen Serbien die Alternative der Sezession bzw. des Beitritts zu seinem Staatsgefüge. Aus diesen Gründen war die habsburgische Balkan-Politik im 19. Jahrhundert aufmerksam und aktiv, aber auch grundlegend konservativ und defensiv. In 12 Vgl. Kann 1977, p. 354. 13 Vgl. Malcolm, Noel: Bosnia. A Short History. London: Macmillan 1994, p. 136. 14 Haselsteiner 1996, p. 18ff. 15 Vgl. Kraljačić 1987, p. 21 u. 23; vgl. auch Haselsteiner 1996, p. 19. Zurückhaltung und Entschlossenheit 83 mancher Hinsicht bevorzugte Russlands alter Alliierter bei der Aufteilung des osmanischen Balkan sogar, die Partei der Westmächte und speziell Großbritanniens zu ergreifen, da er befürchtete, der Zar könnte Hand an den Bosporus legen. Seit den 1850er Jahren hatte es etliche Projekte seitens der militärischen Lobby in Wien gegeben, um angrenzende Balkanregionen wie Mazedonien zu übernehmen, wann immer das Risiko gering war; sie alle erwiesen sich aber als vage und kurzlebig. 16 * Bis zur Mitte der 1870er Jahre begann freilich die habsburgische Balkan-Politik der Aufrechterhaltung des status quo abzubröckeln. Als Folge der neuen Zugangsweise, die Außenpolitik mit dem militärischen Potenzial zu koordinieren, erlangte die Armee-Lobby einen größeren Einfluss. 17 Das Militär war bemüht herauszustreichen, dass die existierende habsburgisch-osmanische Grenze von 900 Kilometern um 525 Kilometer reduziert werden könnte, 18 was die verwundbare dalmatinische Küste besser schützen und einen direkten Zugang zu Serbien und Montenegro sicherstellen würde. 19 Außerdem würde die allgegenwärtige Gefahr lokaler Aufstände, die zu einer potenziellen Gebietserweiterung für Serbien führen könnten - wie sie dies bei der Errichtung des Fürstentums Serbien 1829-30 getan hatten - durch die Oktroyierung einer Friedensordnung in Bosnien und der Herzegowina seitens einer habsburgische Administration teilweise eliminiert werden. 20 Zusätzlich zu diesen strategischen Überlegungen gab es auch wirtschaftliche Gründe für ein geplantes take-over von Bosnien und der Herzegowina. In der Tat hatte nämlich die Integration dieser Gebiete in die Wirtschaft der Doppelmonarchie ein solches Ausmaß erreicht, dass ihre politische Einverleibung nur eine logische Konsequenz war; sie hatten sich de facto in Habsburgs ökonomisches Hinterland verwandelt: Nach dem Handelsabkommen mit dem Osmanischen Reich vom 22. Mai 1862 reduzierte die Doppelmonarchie ihre Zolltarife für Güter aus Bosnien und der Herzegowina, was zur Folge hatte, dass 70-80% der bosnischen Exporte in die Monarchie (Holz, Getreide, Vieh, Pflaumen und Sliwowitz) gingen und auch zahlreiche k. u. k. Exporte in die Region (Textilien, 16 Z.B. beim Ausbruch des Krimkriegs; vgl. Kraljačić 1987, p. 19f., und Lampe, John R.: Yugoslavia as History. Twice there was a Country. Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 1996, p. 65. 17 Vgl. Haselsteiner 1996, p. 16. 18 Kraljačić 1987, p. 34f. 19 Vgl. ibid., p. 34. 20 Vgl. Anderson, M.S.: The Eastern Question, 1774-1923. London: Macmillan 1991 [1966], p. 180. 84 Raymond Detrez Leder und andere Industrieprodukte) ihren Weg über Wien oder Triest nahmen. 21 Es wurde angenommen, dass sich die Bosnien-Exporte verdreifachen könnten, falls sie ordentlich verwaltet würden. Im Gegenzug waren auch die dalmatinischen Häfen stark vom Handel mit Bosnien und der Herzegowina abhängig. Besonders nach dem Börsenkrach von 1873 bestanden Wirtschaftskreise in Wien auf Maßnahmen zur Stimulierung des Handels mit dem ‘Osten’. 22 Als dann jedoch die Aufstände losbrachen, nahm der kommerzielle Output ab. Dies war ein zusätzlicher Anreiz für Österreich-Ungarn, geeignete Schritte - falls nötig, auch militärisch - zu setzen, um Frieden und Ordnung in den beiden Provinzen wieder herzustellen. 23 Nach seiner Ernennung zum österreichisch-ungarischen Außenminister war Andrássy zunehmend geneigt, seine frühere ‘ungarische’ Haltung aufzugeben und k. u. k. Ansichten anzunehmen. 24 Am 29. Januar 1875, während einer Ministerkonferenz in Wien zum Thema Bosnien-Herzegowina, schwor er ziemlich explizit seiner früheren „Abstinenzpolitik“ ab, indem er von nun an einem neuen Prinzip anhängen wollte: „Macht geht über Recht“. 25 Trotzdem blieb er als Politiker vorsichtig; wie schon früher bemerkte er: Turkey is of almost providential utility to Austria. Her existence is essential to our well-understood interests. She keeps the status quo of the small states and hinders their aspirations to our advantage. Were there no Turkey, then all these heavy duties would fall on us. 26 Obwohl Franz Joseph dazu tendierte, die militärische Lobby zu unterstützen, entschied die Ministerkonferenz trotzdem, dass ein Aufstand in Bosnien und der Herzegowina als Vorwand für eine Besetzung der beiden Provinzen herhalten müsse. 27 Als die Entscheidung dazu getroffen wurde, gab Andrássy, der für das Projekt war, aber um dessen Risiken wusste, nach. 28 Im Frühjahr 1875 21 Vgl. Juzbašić, Dževad: O uklučenju Bosne i Hercegovine u zajedničko austrougarsko carinsko područje. In: Institut za istoriju. Prilozi 18/ 19 (1982), pp. 125-160, zit. p. 125. 22 Vgl. Rumpler 1997, p. 447. 23 Vgl. Kraljačić 1987, p. 37. 24 Vgl. Diószegi, István: Die Anfänge der Orientpolitik Andrássys. In: Melville, Ralph / Schröder, Hans-Jürgen (Hg.): Der Berliner Kongress von 1878. Wiesbaden: F. Steiner 1982, pp. 245-256, hier p. 245ff. 25 Haselsteiner 1996, p. 17. 26 Zit. n. Anderson 1991, p. 180. 27 Vgl. ibid. 28 Siehe Wertheimer, Eduard von: Graf Julius Andrássy. Sein Leben und seine Zeit. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1910-1913, vol. 2, pp. 259-60. Vgl. Haselsteiner 1996, p. 24f. (Haselsteiner, der Zugang zu unveröffentlichten Dokumenten hatte, tendiert dazu, Andrássy einen höheren Grad an Enthusiasmus für die Okkupation zuzuschreiben als die traditionelle Geschichtsschreibung. Zurückhaltung und Entschlossenheit 85 unternahm der Kaiser auf Initiative der militärischen Lobby eine Reise durch Dalmatien, die für großes Aufsehen unter der christlichen Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina sorgte. Am Ende seines Aufenthalts erklärte er, dass die Okkupation der beiden Provinzen näher gerückt sei und ordnete die Bereitschaft seiner Truppen in Dalmatien für eine solche Operation an. Es wird angenommen, dass diese Reise des Kaisers zum Ausbruch des Aufstands der herzegowinischen Christen im Juli des selben Jahres beitrug. 29 Der unmittelbare Anlass war indes der Mord an einem Franziskaner-Pater, den Franz Joseph in Dalmatien getroffen hatte. 30 Bald breitete sich die Revolte auf ganz Bosnien aus. Die Aufständischen forderten die Abschaffung all ihrer feudalen Verpflichtungen und die volle Implementierung des osmanischen Reformprogramms, das unter dem Namen Tanzimat bekannt wurde. Während Freiwillige aus Serbien und anderen slawischen Gebieten in Scharen herbeiströmten, erklärten die bosnischen Orthodoxen ihre Loyalität zum Fürstentum Serbien. 31 Die brutale Niederschlagung des Aufstandes durch osmanische Truppen im Herbst und Winter 1875 hatte dann einen Flüchtlingsstrom von 200.000 Menschen auf österreichisch-ungarisches Gebiet zur Folge. Zugleich wuchs die internationale Entrüstung und Bereitschaft zu intervenieren - vor allem in Russland. Selbst wenn die Doppelmonarchie absichtlich den Aufstand angestiftet hätte, so wirkte sie jetzt jedoch peinlich berührt ob der Konsequenzen. Ursprünglich hatten Russland und Österreich-Ungarn sich darauf beschränkt, gemeinsame diplomatische Noten an die Hohe Pforte zu richten, ängstlich bemüht, nicht die guten Beziehungen innerhalb des Dreikaiserbunds zu verderben oder ohne Unterstützung der anderen europäischen Großmächte zu handeln. 32 Im August 1875 nahmen die Botschafter des Dreikaiserbunds in Konstantinopel der Hohen Pforte das Versprechen ab, Reformen durchzuführen und die bosnisch-herzegowinischen Christen an der lokalen Verwaltung zu beteiligen. Die Aufständischen lehnten dies aber ebenso wie weitere Konzessionen des Sultans ab. Das österreichisch-ungarische und russische Außenamt sondierten auch weitere Bedingungen für eine bilaterale Zusammenarbeit. Im Oktober 1875 wies Andrássy einen russischen Vorschlag, Bosnien und der Herzegowina Autonomie zu geben, als undurchführbar und als gefährlichen Präzedenzfall für andere slawische Nationen zurück. 33 Eine russische Intervention befürchtend, fertigte er nach Rücksprache mit den Russen und den Signatarmächten des Pariser Abkommens von 1856 am 30. Dezember 1875 ein Dokument aus, das als die An- 29 Vgl. Stavrianos 2000, p. 399. 30 Vgl. Lampe 1996, p. 65. 31 Vgl. Malcolm 1994, p. 132 u. 137. 32 Vgl. Rumpler 1997, p. 448. 33 Vgl. Anderson 1991, pp. 180-181. 86 Raymond Detrez drássy-Note bzw. die Reformnote bekannt werden sollte. Es forderte von der Hohen Pforte die Durchführung umfangreicher Landreformen, die von einer christlich-muslimischen Kommission überwacht werden sollten, gab jedoch ganz deutlich die Idee einer autonomen Region auf. Konstantinopel stimmte wiederum großenteils zu, aber die örtlichen Aufständischen ließen sich dadurch nicht zufrieden stellen. 34 Mittlerweile hatten sich die Unruhen bis Bulgarien ausgebreitet, wo im April 1876 ein Aufstand ausbrach. Die Gräueltaten, die die Niederschlagung dieser Revolte begleiteten, führten wieder zu großer Entrüstung, nicht nur in Russland, sondern auch in Großbritannien. Am 30. Mai 1876 gaben die Außenminister des Dreikaiserbunds das Berliner Memorandum heraus, das die Forderungen der Andrássy-Note wiederholte und dem Osmanischen Reich mit „geeigneten Maßnahmen“ („mesures efficaces“) drohte, sollte es nichts unternehmen. Es wurde vereinbart, dass im Fall eines Auseinanderbrechens der „Europäischen Türkei“ Österreich-Ungarn Bosnien und die Herzegowina übernehmen sollte und Russland den südlichen Teil Bessarabiens. 35 Dieses Berliner Dokument wurde von Frankreich und Italien unterstützt, vom britischen Premier Benjamin Disraeli jedoch abgelehnt, weil er sich übergangen fühlte und den Plan eines „putting the knife to the throat of Turkey“ nicht schätzte. 36 Auch die Osmanen wiesen es zurück, indigniert wegen der geäußerten Drohungen und ermutigt durch die britische Ablehnung. 37 Andrássy sollte später die Briten dafür verantwortlich machen, durch ihre Ermutigung osmanischer Unnachgiebigkeit den Russen einen Kriegsvorwand geliefert zu haben. 38 Die Angelegenheit wurde noch weiter kompliziert, als Anfang Juli Serbien und Montenegro dem Osmanischen Reich trotz Warnungen aus Wien und St. Petersburg den Krieg erklärten. Aus Angst vor einer möglichen österreichisch-ungarischen Intervention in Bosnien und der Herzegowina und insgeheim von Ignatjev ermutigt, entschlossen sie sich trotzdem zum Angriff, nachdem sie vereinbart hatten, dass Serbien Bosnien und Montenegro die Herzegowina annektieren würde. 39 Die zusammengewürfelten Armeen beider Staaten wurden jedoch bis Ende Oktober 1876 von den Osmanen ohne große Anstrengung besiegt und der Zar - verärgert durch die Entsendung des pensionierten russi- 34 Vgl. Stavrianos 2000, p. 400. 35 Vgl. Anderson 1991, p. 183.- Süd-Bessarabien war 1829 von Russalnd annektiert und im Krimkrieg wieder verloren worden. 36 Anderson 1991, p. 183. 37 Vgl. Stavrianos 2000, p. 401; Weibel, Ernest: Histoire et géopolitique des Balkans de 1800 à nos jours. Paris: Ellipses 2002, p. 126f. 38 Vgl. Wertheimer 1913, vol. 3, p. 1. 39 Vgl. Malcolm 1994, p. 133; Stavrianos 2000, p. 397. Zurückhaltung und Entschlossenheit 87 schen Generals Michail Černjaev seitens Moskauer Panslawisten als Oberkommandant der serbischen Armee - musste nun dem Sultan ein Ultimatum stellen, um Serbien vor osmanischer Besatzung zu schützen. 40 Auf Initiative von Disraeli trafen sich die diplomatischen Vertreter Österreich-Ungarns, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Italiens und Russlands in Konstantinopel, um die Krise zu diskutieren. Nach langen Verhandlungen einigten sich die Delegierten im Januar 1877 auf eine Reihe administrativer Reformen, die u. a. die Aufteilung des osmanischen Balkan in eine Anzahl autonomer Regionen - darunter Bosnien-Herzegowina - beinhalteten, von denen eine jede ein Provinzparlament und eine örtliche Polizeitruppe haben sollte, unter der Führung eines Gouverneurs, der vom Sultan und den Großmächten eingesetzt würde. 41 Russland hatte sich bemüht, den internationalen Druck auf die Hohe Pforte zu erhöhen, in der Hoffnung, so einige seiner politischen Ziele auf dem Balkan (wie z. B. eine autonome Provinz Bulgarien) auf friedlichem Wege zu erreichen. Die Habsburger Monarchie gab sich eher zugeknöpft, da sie sich für diese Form der Autonomie nicht erwärmen konnte. Am 18. Januar lehnte freilich auch die osmanische Regierung den neuen Reformplan ab. Abgesehen von Russland hatten die Großmächte wenig Druck auf den Sultan ausgeübt, die Bedingungen anzunehmen. Großbritannien, Deutschland und Österreich-Ungarn bestanden auf Reformen als Mittel, um das Osmanische Reich eher zu retten als zu schwächen; keiner von ihnen war darauf vorbereitet, mit einer militärischen Intervention zu drohen. Die Anstrengungen der Großmächte, eine Lösung für die Krise zu finden, konnten jedoch nicht mit den politischen Entwicklungen in Konstantinopel Schritt halten. Am Morgen des 23. Dezember 1876, als die erste Plenarsitzung der Istanbuler Botschafterkonferenz stattfand, verkündete Sultan Abdülhamid unter dem Druck einer Gruppe von altgedienten Reformern, die ihn einige Monate vorher an die Macht gebracht hatten, eine Verfassung, die die gleichen Bürgerrechte allen Untertanen des Reichs verlieh, egal, welchem Glauben sie angehörten. Dieser Akt machte die meisten Reformen, auf denen die Großmächte bestanden hatten, irrelevant. Dennoch kamen die Großmächte noch einmal in London zusammen, wie dies Russland, das einen Kriegsgrund brauchte, urgierte. Durch Streichung einer Reihe von weniger wichtigen Klauseln, reduzierte das Protokoll von London, das am 31. März 1877 unterzeichnet wurde, das „irreducible minimum“, auf das man sich in Konstantinopel geeinigt hatte, auf die „quintessence“. 42 Russland, das noch immer fürchtete, dass die Hohe Pforte die gekürzten Forderungen annehmen 40 Vgl. Petrovich, Michael B.: A History of Modern Serbia, 1804-1918. Vol. 2. New York, London: Harcourt Brace/ Jovanovich 1976, pp. 385-389. 41 Vgl. Anderson 1991, p. 191. 42 Stavrianos 2000, p. 405. 88 Raymond Detrez könnte, fügte eine Note hinzu, in der es den Sultan aufforderte, einen Sondergesandten nach St. Petersburg zu schicken, um Entwaffnungsmaßnahmen zu diskutieren. 43 Als am 9. April die Hohe Pforte sich weigerte einzulenken, erklärte Russland am 24. d. M. dem Osmanischen Reich den Krieg. * Während ihrer Teilnahme an den ‘offiziellen’ Verhandlungen der Großmächte mit der Hohen Pforte hatten Österreich-Ungarn und Russland hinter den Kulissen an einer Verständigung gearbeitet, sollten aus dem drohenden Krieg neue Grenzziehungen resultieren. Bereits am 26. Juni 1876, noch vor dem Ausbruch des serbisch-montenegrinischen Krieges gegen das Osmanische Reich, erzielten Andrássy and Gorčakov mit der Konvention von Reichstadt in Böhmen eine umfassende Einigung in Bezug auf eine künftige Teilung der „Europäischen Türkei“, sollte Konstantinopel nicht den Forderungen des Berliner Memorandums zustimmen. Falls die Osmanen siegreich blieben, würden Österreich-Ungarn und Russland zu Gunsten der Balkan-Christen intervenieren, um den status quo ante wieder herzustellen (was schließlich auch geschah). Im Fall eines serbisch-montenegrinischen Sieges sollten die beiden Mächte alle Konsequenzen daraus zusammen regeln. Trotzdem favorisierte keine von beiden Seiten die Gründung eines großen slawischen Staates („elles ne favoriseront par l’établissement d’un grand État Slave […]“). 44 Gemäß der russischen Version der Übereinkunft sollte es Serbien erlaubt sein, Teile Altserbiens 45 und Bosniens zu annektieren; Montenegro würde die Herzegowina und einen Hafen an der Adria erhalten und Russland das südliche Bessarabien zurückbekommen. Im Gegenzug wäre die Habsburger Monarchie berechtigt, das sog. Türkisch-Kroatien (d. h. das Gebiet um Bihać) sowie einige angrenzende Teil Bosniens („la Croatie turque et quelques parties de la Bosnie contigues à ses frontières“) zu annektieren, da sie dies als unverzichtbare Bedingung ansehe, ohne die sie eine Vergrößerung der benachbarten slawischen Fürstentümer nicht akzeptieren könne („une condition vitale sans laquelle elle ne pourrait admettre un agrandissement des Principautés slaves voisines“). In der österreich-ungarischen Fassung der Konvention von Reichstadt ist freilich die Rede davon, das die Doppelmonarchie den Löwenanteil von Bosnien-Herzegowina übernehmen würde, und schließlich waren noch andere Lösungen für den totalen Zusammenbruch 43 Vgl. Weibel 2002, p. 135. 44 Der Text des Abkommens von Reichstadt liegt in publizierter Form vor als Bijlage (Appendix) A zu Siccama, Kornelis H.: De Annexatie van Bosnië-Hercegowina. Utrecht: Diss. [unveröff.] 1950. 45 Dieser Begriff meint das Kerngebiet des mittelalterlichen Serbien und umfasst die Regionen Raška, Kosovo, Metohija und Mazedonien. Zurückhaltung und Entschlossenheit 89 („l’entier écroulement“) des Osmanischen Reichs vorgesehen. 46 (Diese beiden unterschiedlichen Versionen der Konvention sollten später noch Missverständnisse zwischen Wien und St. Petersburg verursachen. 47 ) Am 15. Januar 1877 unterzeichneten Gorčakov and Andrássy die Convention secrète entre la Russie et l’Autriche-Hongrie in Budapest. 48 Es handelte sich im Wesentlichen um eine militärische Vereinbarung, wonach für den Fall, dass die Hohe Pforte die Forderungen der Botschafterkonferenz von Konstantinopel zurückweise - wie sie dies drei Tage später in der Tat machte - und Russland daraufhin den Krieg erkläre, Österreich-Ungarn neutral bleiben und versuchen würde, Vermittlungs- oder Interventionsversuche anderer Mächte diplomatisch zu verhindern („paralyser, autant qu’il dépend de lui, par son action diplomatique, les essays d’intervention ou de médiation collective que pourraient tenter d’autres Puissances“, Art. II). Im Gegenzug behielt sich Österreich-Ungarn das Recht vor, den Zeitpunkt und die Mittel zu wählen, um mit seinen Truppen Bosnien-Herzegowina zu besetzen („se réserve le choix du moment et du mode de l’occupation de la Bosnie et de l’Herzégovine par ses troupes“, Art. VII). Die Doppelmonarchie würde von militärischen Operationen in Rumänien, Serbien, Bulgarien und Montenegro absehen und Russland würde dasselbe in Bosnien, der Herzegowina, Serbien und Montenegro tun (Art. VIII). Territoriale Arrangements im Fall der Auflösung des Osmanischen Reiches sollten durch eine spezielle und gleichzeitige Konvention („par une convention spéciale et simultanée“ Art. IX) geregelt werden. In der Convention additionelle , die nach M.S. Anderson am 18. März hinzugefügt und zurückdatiert worden war, wird wiederum der Terminus „Annexion“ anstelle von „Okkupation“ verwendet. 49 Darüber hinaus wird in Artikel 3 festgehalten, dass im Falle von Gebietsverlusten oder der Auflösung des Osmanischen Reichs die Gründung eines großen kompakten südslawischen Staates ausgeschlossen sei („[e]n cas d’un remaniement territorial ou d’une dissolution de l’empire ottoman l’établissement d’un grand état compact slave où autre est exclu“). 50 Beide Konventionen begünstigten Österreich-Ungarn: Ihm wurden territoriale Zuwächse für bloße Neutralität und diplomatische Unterstützung angeboten, während Russland die Kriegsführung ohne Aussicht auf Gebietsgewinne auf 46 Anderson 1991, p. 186; Stavrianos 2000, p. 405. Laut Haselsteiner, 1996, p. 28f., betrachtete der Kaiser die Konvention von Reichstadt als nicht verbindlich. Er war darauf vorbereitet, sich nur so lange daran zu halten, wie es die Russen täten, und auch dann nur, wenn dies nicht österreichisch-ungarischen Interessen schaden würde. 47 Wertheimer 1913, vol. 2, p. 384. 48 Convention secrète entre la Russie et l’Autriche-Hongrie , (Appendix B). Zit. n. Siccama 1950 (n. p.). 49 Anderson 1991, p. 193. 50 Wertheimer 1913, vol. 2, p. 91. 90 Raymond Detrez sich nehmen sollte, denn in Erinnerung daran, was während des Krimkriegs vorgefallen war, sah Russland Österreich-Ungarns Neutralität als äußerst wichtig an. Dies bedeutete freilich nicht, dass St. Petersburg seine Balkan-Ambitionen aufgegeben hätte. Als Ergebnis und Folge der Convention secrete verabschiedete sich Russland von seinen Interessen auf dem westlichen Balkan nur deshalb, um sich ganz auf Bulgarien zu konzentrieren, was am Ende doch eine viel realistischere Option darstellte. 51 Beide Konventionen, sowohl die von Reichstadt als auch jene von Budapest, zeigen Andrássy als aktiven Teilnehmer in einem diplomatischen Tauziehen, das darauf abzielte, die Kontrolle über Bosnien und die Herzegowina zu erlangen; Eduard von Wertheimer nennt vor allem letzteres Abkommen als „den Kernpunkt seiner [= Andrássys, R.D.] diplomatischen Erfolge.“ 52 Von Mai 1877 an verhandelte Andrássy auch mit Disraeli, erzielte aber keine Übereinstimmung. Österreich-Ungarn würde eine Allianz mit Großbritannien eingehen, sollte Russland die Convention secrète entweder durch die Annexion von Gebieten einen großen slawischen Staat schaffen oder Konstantinopel besetzen. Inzwischen bestand England darauf, österreichisch-ungarische Truppen auf britischen Marineschiffen zum Bosporus zu bringen. 53 Gleichzeitig ermutigte Andrássy Großbritannien, die türkischen Meerengen militärisch zu verteidigen, und schlug vor, Österreich-Ungarn könne ganz einfach Russland durch einen Angriff in dessen Rücken zum Rückzug vom Balkan zwingen. 54 In seiner Obstruktion einer etwaigen westlichen Intervention hielt sich Andrássy eigentlich an das Versprechen gegenüber Russland in der Convention secrète ; zugleich hielt er Großbritannien gleichsam in Reserve für den Fall, dass Russland sein Versprechen nicht halten würde. Zunächst jedoch verhielt sich Russland loyal gemäß der getroffenen Übereinkunft. Während seiner Verhandlungen mit Serbien über dessen Beteiligung am Russisch-Türkischen Krieg lehnte St. Petersburg serbische Forderungen nach Bosnien-Herzegowina als potenzielle Kriegsbeute ab. 55 Wien warnte die Serben davor, in Bosnien und der Herzegowina einzudringen, und ermutigte sie indes dazu, ihre Truppen südwärts in das osmanische Vilajet Mazedonien zu schicken: in ein Gebiet also, das von Russlands Protegés - den Bulgaren - beansprucht wurde, obwohl die serbischen Truppen viel nötiger 51 Vgl. Jelavich 1991, p. 171; Petrovich 1976, p. 391. 52 Wertheimer 1913, vol. 2, p. 394. 53 Vgl. Anderson 1991, p. 197. 54 Vgl. Nastev, Georgi: Disraeli Lord Bikonsfild i osvoboždenieto na Bălgarija ot turskoto robstvo. Sofia: Srebăren lăv 1998, vol. 2, p. 75. 55 Vgl. Petrovich 1976, p. 394. Zurückhaltung und Entschlossenheit 91 gewesen wären, um die Armee des Zaren zu unterstützen, die in Nordbulgarien in die Enge getrieben worden war. 56 Gegen Ende Januar 1878 erreichte die russische Armee die Vororte Konstantinopels. Am 23. Januar 1878, nach mehreren Warnungen an Russland, die Meerengen zwischen Schwarzem Meer und Ägäis nicht zu besetzen, beorderte Großbritannien seine Mittelmeerflotte (die bereits in der Nähe der Dardanellen vor Anker lag) in Richtung Konstantinopel. Mehr galt es nicht zu tun, denn es reichte aus, um Russland dazu zu bringen, den Waffenstillstand von Edirne am 31. Januar zu unterschreiben. Anfang Februar zeigte Österreich-Ungarn eine gesteigerte Bereitschaft, ein Militärbündnis mit Großbritannien zu schließen, aber schließlich wurden doch keine Truppen entsandt, um eine mögliche britische Intervention zu unterstützen. 57 Der Historiker W.N. Medlicott meint, „[i] t is impossible to avoid the conclusion that Andrássy was conscious of the advantage of holding back in the hope the impetuosity of the British government would lead it to bear the risks of war alone.“ 58 * Wegen der britischen Kriegsdrohungen hatte Russland nicht sein Kriegsziel, den Bosporus, erreicht, aber doch einen eindrucksvollen Sieg errungen, der ihm ermöglichte, mit der Hohen Pforte aus einer Position der Überlegenheit zu verhandeln. So schuf schließlich der sog. Vorfrieden von San Stefano am 3. März 1878 ein großes autonomes, aber tributpflichtiges bulgarisches Fürstentum, das Mazedonien, Thrakien, Westserbien und einen kleines Teil des heutigen Albanien mit einschloss. Dieses Territorium sollte vor seiner Unabhängigkeit zwei Jahre lang von einer 50.000 Mann starken russischen Armee besetzt und von Russland verwaltet werden. Serbien, Montenegro und Rumänien sollten, anstatt tributpflichtige Fürstentümer zu sein, den Status unabhängiger Staaten erhalten. Serbien sollte außerdem die Regionen rund um Niš, die Drina und einen Teil des Sandschak von Novi Pazar besetzen, während Montenegro zwei Adriahäfen sowie den restlichen Teil des Sandschak bekommen sollte. Dieser Vertrag war eine Verletzung der Convention secrète in mehrerer Hinsicht: Die Konvention hatte stipuliert, dass die Formierung neuer territorialer Entitäten nur nach gegenseitiger Konsultation und Verhandlung geschehen sollte. Jetzt freilich hatte Russland eigenmächtig einen großen bulgarischen Staat geschaffen und ihm gemeinsame Grenzen mit Serbien und Montenegro gegeben, was ihnen potenziell ermöglichte, einen machtvollen südslawischen Staat 56 Vgl. Stavrianos 2000, p. 409. 57 Vgl. Anderson 1991, p. 202; Siccama 1950, p. 3f.; Weibel 2002, p. 138. 58 Medlicott 1938, pp. 15 f. 92 Raymond Detrez an der habsburgischen Südgrenze zu errichten. Der Vertrag von San Stefano vermied weiters die Erwähnung der Okkupation - ganz zu schweigen von der Annexion - Bosniens und der Herzegowina durch die Doppelmonarchie. Artikel XIV hielt lediglich fest: The European proposals [= the creation of an autonomous province, R.D.] communicated to the Ottoman Plenipotentiaries at the first sitting of the Constantinople Conference shall immediately be introduced into Bosnia-Herzegovina, with any modifications which may be agreed upon in common between the Sublime Porte, the Government of Russia, and that of Austria-Hungary. 59 Wien fürchtete aber, dass eine autonome Provinz Bosnien-Herzegowina eine leichte Beute für Serbien wäre (und diese Ängste waren nicht unberechtigt; die autonome Provinz Ostrumelien, die der Vertrag von Berlin 1878 schuf, wurde von Bulgarien 1885 straflos annektiert.) Bereits im Januar 1878 hatte Kaiser Franz Joseph den russischen Zaren gewarnt, dass Europa nicht der Schaffung eines großbulgarischen Staats zustimmen würde und verlangte, eine große internationale Konferenz in Wien einzuberufen, um die Friedensvereinbarungen mit dem Sultan zu diskutieren. Er gab zu verstehen, dass, wenn Russland Süd-Bessarabien annektieren sollte, Österreich-Ungarn auf der Eingliederung Bosnien-Herzegowinas - wie in der der Convention secrète vereinbart - bestehen würde. 60 Während Österreich-Ungarn einerseits eine Einigung mit Russland suchte, rückte es anderseits näher an Großbritannien. Es unterstützte zunehmend die ablehnende Haltung des britischen Außenministers Lord Salisbury für den Vorfrieden von San Stefano; im Gegenzug unterstützte Großbritannien die österreichisch-ungarischen Gebietsforderungen in Bezug auf Bosnien und die Herzegowina. * Anfang März 1878 schmiedete Disraeli, von Andrássy unterstützt, Pläne für eine Konferenz der Großmächte mit dem Ziel einer territorialen Neuordnung des Balkan. Die Hohe Pforte war informiert und auch der Zar willigte eingedenk der Kriegsmüdigkeit seines Landes und des katastrophalen Ausgangs der Krimkrise ein. Die Umrisse des bevorstehenden Abkommens wurden von den drei wichtigsten der involvierten Parteien - Russland, Österreich-Ungarn und Großbritannien - noch vor dem Treffen akkordiert. Andrássy forderte anfänglich die Annexion von Bosnien und der Herzegowina, des Sandschaks 59 Israel, Fred L. (Hg.): Major Peace Treaties of Modern History, 1648-1967. Vol. 2. New York: Chelsea House 1967, p. 967. 60 Vgl. Siccama 1950, p. 3; Anderson 1991, p. 200. Zurückhaltung und Entschlossenheit 93 von Novi Pazar und Teilen der montenegrinischen Küste, aber stimmte am 17. April (angesichts des russischen Einspruchs) der ausschließlichen Okkupation Bosnien-Herzegowinas zu. 61 Russland und Großbritannien erreichten ein erstes Einvernehmen am 30. Mai; Großbritannien und Österreich-Ungarn schlossen ihre Verhandlungen am 6. Juni ab. 62 So wurde der Vorfrieden von San Stefano vom März 1878 während des Berliner Kongresses (11.-13. Juli 1878) revidiert. Den Vorsitz übernahm der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck, der in keinster Weise am Balkan interessiert war. Seine Hauptsorge galt der Rettung des Dreikaiserbundes durch eine Versöhnung zwischen Russland und Österreich-Ungarn. Österreich-Ungarn war durch Andrássy vertreten, Russland entsandte Gorčakov und Großbritannien Lord Salisbury. Karatheodori Pascha - ein Grieche - verhandelte im Namen des Osmanischen Reichs. Während der ersten sieben Sitzungen wurde vereinbart, Großbulgarien durch einen viel kleineren bulgarischen Vasallenstaat innerhalb des Osmanischen Reichs und eine autonome osmanische Provinz Ostrumelien zu ersetzen. In der achten Sitzung wurde die Zukunft Bosniens und der Herzegowina diskutiert. Andrássy fürchtete mehr die mögliche Ablehnung in der Heimat als den Widerstand der anderen Teilnehmer, die er alle (außer Karatheodori Pascha) im Voraus kontaktiert hatte. 63 Er opponierte der Schaffung einer autonomen osmanischen Provinz Bosnien-Herzegowina, indem er die Wichtigkeit der Angelegenheit nicht nur für das Osmanische Reich, sondern auch für Europa als Ganzes unterstrich. Er betonte, dass das Osmanische Reich unfähig gewesen sei, Frieden und Ordnung in Bosnien und der Herzegowina aufrecht zu erhalten, bot der Hohen Pforte österreichisch-ungarische Truppen an, um in Bosnien zu intervenieren („to save the Ottoman and the Austrian Empires from the Serbian and the Montenegrin menace“) und schlug dann vor, dass der Kongress Österreich-Ungarn das Mandat geben solle, um die beiden osmanischen Provinzen zu besetzen und zu verwalten sowie Garnisonen im Sandschak von Novi Pazar zu unterhalten. Lord Salisbury unterstützte Andrássys Vorschlag, während Großbritannien Zypern forderte. Die Hohe Pforte war entsetzt über die Forderungen ihrer selbst ernannten ‘Freunde’ und versuchte, sie abzuwenden, aber vergeblich: Der österreichisch-ungarische, deutsche und britische Druck erwies sich als unüberwindlich. Die britischen Vertreter und Bismarck rieten Andrássy, Truppen nach Bosnien-Herzegowina zu schicken, ohne auf die Zustimmung der Hohen Pforte zu warten, aber der österreichisch-ungarische Außenminister wollte nicht vorschnell sein. 64 Schließlich wurde der Hohen 61 Vgl. Anderson 1991, p. 205. 62 Vgl. ibid., p. 207. 63 Vgl. Medlicott 1938, p. 42. 64 Vgl. ibid., p. 84. 94 Raymond Detrez Pforte zugestanden, ihr Gesicht zu wahren, indem eine Vereinbarung der Details der Okkupation auf später vertagt wurde. 65 So formulierte der Artikel XXV des Berliner Vertrags, dass [t]he Provinces of Bosnia and Herzegovina shall be occupied and administered by Austria-Hungary. The Government of Austia-Hungary, not desiring to undertake the administration of the Sandjak of Novi-Pazar, which extends between Servia and Montenegro in a south-easterly direction to the other side of Mitrovitza, the Ottoman Administration will continue to exercise its functions there. Nevertheless, in order to assure the maintenance of the new political state of affairs, as well as freedom and security of communications, Austria-Hungary reserves the right of keeping garrisons and having military and commercial roads in the whole of this part of the ancient Vilayet of Bosnia. To this end the Governments of Austria-Hungary and Turkey reserve to themselves to come to an understanding on the details. 66 Auf diese Weise kreierte der Vertrag von Berlin eine Reihe von peinlichen Zweideutigkeiten. Was anderes als eine de-facto -Annexion konnte die „Okkupation“ und „Administration“ eines (Teils eines) Landes durch ein anderes sein? Das internationale Mandat war in der Tat die Anerkennung dieser de-facto -Annexion durch die internationale Gemeinschaft. Bezeichnenderweise gaben die europäischen Mächte 1881 und 1882 freiwillig die rechtlichen und wirtschaftlichen Privilegien auf, die ihnen die Übergabe garantiert hatte, und ließen so erkennen, dass sie Bosnien-Herzegowina nicht mehr länger als Teil des Osmanischen Reichs ansahen. Der internationale Status, den der Berliner Vertrag Bosnien-Herzegowina gegeben hatte, war nicht nur unmöglich durchzusetzen, wie Kornelis Siccama aufgezeigt hat; 67 tatsächlich gab es gar keine internationalen Durchführungsbestimmungen und somit auch keinen klaren Status für das Gebiet. Unter diesen Bedingungen ist es verständlich, dass die österreichisch-ungarische Staatsmacht das juristische Vakuum füllte, das die internationale Rechtsprechung geschaffen hatte. Oder, wie es Tomislav Kraljačić ausdrückt, entwickelten sich die Beziehung Bosnien-Herzegowinas zur Monarchie „von einer Angelegenheit des internationalen Rechts zu einem Fall für das innere Verfassungsgesetz“ Österreich-Ungarns. 68 65 Davison, Roderic H.: The Ottoman Empire and the Congress of Berlin. In: Meville/ Schröder 1982, pp. 205-223, hier p. 213. 66 Israel 1967, p. 985. 67 Siccama 1950, p. 9. 68 Vgl. Kraljačić 1987, p. 39: „Dovoljno je samo da ukažemo na č injenicu da se međunarodno pravni odnos Bosne i Hercegovine prema Monarhije sve više pretvara u unutrašnji, državno pravni odnos.“ Zurückhaltung und Entschlossenheit 95 Diese Entwicklung wurde durch das k. u. k. Gesetz zur Verwaltung Bosnien-Herzegowinas vom 22. Februar 1880 ausgelöst, das in mancherlei Hinsicht die habsburgisch-osmanische Konvention vom 21. April 1879 verletzte, wenn es um die praktische Umsetzung von Artikel XXV des Berliner Vertrags ging. So wurde etwa, nachdem Bosnien-Herzegowina in die k. u. k. Zollunion eingegliedert worden war (was implizierte, dass staatliche Einkünfte, die in der Region erwirtschaftet worden waren, in anderen Teilen des Reichs ausgegeben werden konnten), die osmanische Währung durch die österreichisch-ungarische ersetzt. Osmanische Funktionäre wurden weder weiter beschäftigt noch rekrutiert, so wie man vereinbart hatte, sondern vor allem aus Kroatien und anderen slawischen Regionen importiert. Die Sprache, die von der k. u. k. Administration benutzt wurde, war Deutsch. Von 1882 an wurden die männliche Bevölkerung auch für den Dienst in der k. u. k. Armee eingezogen. Und schließlich wurden - aus ökonomischen und administrativen Gründen - österreichisch-ungarische Staatsbürger ermutigt, sich in Bosnien-Herzegowina anzusiedeln. Während die Behörden erfolgreich vermieden, Bosnien und die Herzegowina in die dualen politischen Strukturen der Monarchie wirklich zu integrieren, wurden also die beiden Provinzen doch von der Monarchie in allen anderen Bereichen total absorbiert. Die Hohe Pforte fand sich in einer zwiespältigen Situation wieder. So gab es etwa rechtlich kaum Möglichkeiten, um die österreichisch-ungarischen Maßnahmen abzuändern. Die landläufigste Methode wäre wohl gewesen, osmanische Konsulate in allen größeren Städten Bosnien-Herzegowinas einzurichten, so wie dies die meisten westlichen Mächte im Osmanischen Reich taten. Trotzdem konnte die Hohe Pforte kaum Konsuln in ein Territorium entsenden, das nominell noch zum Osmanischen Reich gehörte, ohne dabei implizit auf den eigenen Rechtstitel zu verzichten (Der Repräsentant Konstantinopels in Sarajevo hielt sich kaum im Land auf bzw. wurden seine Interventionen von den österreichisch-ungarischen Behörden entweder obstruiert oder einfach ignoriert.). * So war die Okkupation ein großer Erfolg für Österreich-Ungarn - teilweise auch aufgrund dieser Ambiguitäten und Paradoxien. Durch das Doppelspiel mit Russland und Großbritannien sowie durch eine Politik, die zwischen imperialistischem Expansionismus und Selbstverteidigung gegen die ‘slawische Gefahr’ pendelte, hatte die Doppelmonarchie Bosnien-Herzegowina ohne größeren Krieg gewonnen (abgesehen von dem heftigen Widerstand, den bosnische Serben und Muslime gegen den Okkupationsfeldzug 1878 selbst leisteten). Außerdem konnte sie sich aller strategischen und ökonomischen Vorteile der Übernahme der beiden Provinzen erfreuen, ohne mit den Nachteilen fertigwerden zu müssen: In der Zeit unmittelbar vor der Berliner Vertrag hatten einige 96 Raymond Detrez habsburgische Staatsmänner dafür plädiert, die beiden Provinzen innerhalb des Osmanischen Reichs zu belassen und sie lediglich in die Zollunion aufzunehmen, 69 denn eine Okkupation des Gebiets gefährdete die internen dualen Strukturen der Monarchie nicht so sehr wie eine Annexion, die die Frage aufgeworfen hätte, ob es denn jetzt in den österreichischen oder den ungarischen Reichteil aufzunehmen sei. Von 1878 bis 1908 blieb daher Bosnien-Herzegowina ein Protektorat, das von den gemeinsamen österreichisch-ungarischen Institutionen regiert wurde. Medlicott fügt hinzu, das seine Okkupation statt einer Annexion es auch einfacher gemacht habe „to avoid undertaking responsibility for the debts of the two provinces“; die Doppelmonarchie habe darauf vertraut, „that the annexation would come about naturally in course of time.“ 70 Alle Vorschläge von 1882, 1896 und 1907, die Provinzen zu annektieren, wurden jedoch abgelehnt, vor allem wegen der Meinungsverschiedenheiten zwischen dem österreichischen und dem ungarischen Reichsteil über Fragen der Machtverteilung. 71 Unter den externen Gründen, die für eine Okkupation sprachen, war zweifelsohne der heftige Widerstand der Pforte gegen eine Annexion. Karatheodori Pascha stimmte der habsburgischen Besetzung Bosnien-Herzegowinas erst zu, als Andrássy sie provisorisch nannte und dem Sultan auch weiterhin die Souveränitätsrechte über das Gebiet zugestand. 72 Die provisorische Natur der Okkupation war freilich trügerisch, da der Vertrag von Berlin keinerlei Fristen angab; sie war nur dafür gedacht, Karatheodori Pascha noch einmal sein Gesicht wahren zu lassen. Zusätzlich verschleierte sie unter einem internationalen Mandat die expansionistische Absicht Österreich-Ungarns und ließ sie als eine humanitäre Intervention erscheinen. Die Habsburger Monarchie fühlte sich offenkundig zu einer moralischen Rechtfertigung für die Okkupation gemüßigt, wenn sie sich auf das internationale Mandat bezog, auf ihre „Friedens- und Kulturmission“ und die Notwendigkeit, als europäisches Bollwerk gegen den 69 Vgl. Juzbašić 1982, p. 131ff. 70 Medlicott 1938, pp. 72 f. 71 Kapidžić, Hamdija: Diskusije o državno pravnom položaju Bosne i Hercegovine za vrijeme austrougarske vladavine i pokušaj aneksije. In: Glasnik arhiva i Društva arhivskih radnika Bosne i Hercegovine 4-5 (1965), p. 135ff. 72 Vgl. Anderson 1991, p. 212, Fußnote 1.- Im August 1878 erklärt Andrássy arrogant im Ministerrat: „Wenn wir selbst erklären, daß Dalmatien und Kroatien sichergestellt seien, daß die Reformen zur Verbesserung des Loses der Bevölkerung Bosniens und der Hercegovina durchgeführt, alle wirtschaftlichen Konsequenzen aus diesem Verhältnis durch die Handelsverträge usw. für uns gezogen seien - wenn wir dies alles tun und die Pforte Bürgschaften dafür bietet, daß sie diese Provinzen nach ihrer Uebernahme nicht wieder deterioriert, dann , d. h. niemals , könne von dem Ende der Okkupation die Rede sein.“ (Wertheimer 1913, vol. 3, p. 158) Zurückhaltung und Entschlossenheit 97 Panslawismus zu agieren. 73 Sogar die aus dem Mittelalter stammenden ungarischen Herrschaftsansprüche auf Bosnien-Herzegowina wurden bemüht. 74 Die k. u. k. Okkupation Bosnien-Herzegowinas war aber keineswegs provisorisch (obwohl dies die frühere Besatzung der Walachei und Moldau durch Russland durchaus gewesen war), und die Hohe Pforte dürfte sich dessen bewusst gewesen sein. Auch war es durchaus das Wunschdenken der örtlichen Muslime und Serben - beide auf ihre Weise -, dass die Okkupation eines Tages zu einem Ende kommen würde; dies erklärt ihre heftigen Reaktionen, als Bosnien-Herzegowina 1908 schließlich doch von der Habsburger Monarchie annektiert wurde. * Somit war die österreichisch-ungarische Okkupation das Ergebnis einer Vielzahl von divergierenden und manchmal sogar widersprüchlichen Überlegungen, was heute wohl als gut geplant, ja listig erscheinen mag, in Wahrheit aber eher das Resultat von zögerlichen bis riskanten Reaktionen auf wechselhafte Gelegenheiten darstellte. Die Doppelmonarchie verfolgte auf dem Balkan eine Politik, die zwischen kolonialen Ambitionen und innerer Schwäche, ja Zerrissenheit schwankte, zwischen Zusammenarbeit und Konkurrenz mit Russland, zwischen imperialistischer Aggression und den Ängsten eines dahintreibenden Staatsgefüges, zwischen Zurückhaltung und Entschlossenheit, sich in der Region zu engagieren - während man im Inneren bemüht war, das wankende Gleichgewicht zwischen den beiden Reichshälften aufrecht zu erhalten. Das Resultat dieser ambiguen, aber schlussendlich lohnenden Politik war die Erwerbung Bosnien-Herzegowinas, dessen Status - international und innerhalb des Reiches - unbestimmt war: War es immer noch ein Teil des Osmanischen Reichs oder schon ein Teil der Habsburger Monarchie? War es ein internationales Protektorat, eine österreichisch-ungarische Kolonie oder - ab 1910 - eines der habsburgischen Länder? Sogar die Herrschaft der k.u.k . Institutionen erhielt ein nützliches Maß an Ambiguität aufrecht in ihrer Vermeidung der Zuschreibung einer eindeutigen Zugehörigkeit zu einer der beiden Reichshälften - in einem Staat, in dem fast alles andere entweder österreichisch oder ungarisch war. Dieser Wust an Ambiguitäten, der Österreich-Ungarn half, Bosnien-Herzegowina zu erwerben, half ihm auch, diese Errungenschaft im Angesicht sowohl seiner Bürger/ innen als auch der internationalen Gemeinschaft zu rechtfertigen. Das dramatischste Paradox dieses Unternehmens - zugebenermaßen das Resultat von meisterlicher Diplomatie und verfeinertem political engineering - war, dass 73 Vgl. Kraljačić 1987, p. 21. 73 74 Vgl. Haselsteiner 1996, p. 20. die österreichisch-ungarische Okkupation und spätere Annexion die südslawische Gefahr, die es in Schach halten sollte, nur noch vergrößerte. (Aus dem Englischen von Clemens Ruthner) „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“ Die Haltung Ungarns zu Bosnien-Herzegowina bis zur Ära Kállay Imre Ress (Budapest) In der zeitgenössischen ungarischen Öffentlichkeit, die die Inbesitznahme der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina durch die Habsburgermonarchie mehrheitlich ablehnte und deswegen bei allen sich ergebenden Gelegenheiten ihren Unmut äußerte, herrschten lange Zeit die Topoi der ‘orientalischen Rückständigkeit’, der ‘nutzlosen finanziellen Belastung’ und der ‘Heimat des blutigen Hasses’ mit zäher Beständigkeit vor. Diese negativen Bosnien-Vorstellungen verbreiteten sich zunächst aufgrund der journalistischen Sensationsberichterstattung über die Gewalt, Brutalität und Ausschreitungen der christlichen Aufständischen wie der muslimischen Freischärler während der großen Orientkrise in den Jahren 1875-78, wobei auch stets die immanenten Gefahren dieses potenziellen territorialen Zugewinns unterstrichen wurden. Hinzu kamen die Nachrichten über den heimtückischen bewaffneten Wiederstand der bosnisch-herzegowinischen Muslime und über die erlittenen Verluste der glücklos agierenden k. u. k. Okkupationsarmee 1878 (darunter eine ungarische Husarenkompanie und das Budapester Infanterieregiment), welche in der breiten Öffentlichkeit den berüchtigten Fanatismus und die vermeintliche Unzivilisiertheit der dortigen Bevölkerung glaubhaft erscheinen ließen. Auch in den ersten Jahren der wirtschaftlichen und militärischen Eingliederung der Okkupationsgebiete in die Monarchie verstärkten die wiederholten Revolten gegen die österreichisch-ungarische Verwaltung das Befremden in Ungarn über jene kostspieligen und schwer regierbaren Zustände. 1 1 Vgl. Arató, Endre: Madjarsko javno mnjenje i Bosna i Hercegovina (1875-1878). In: Petrović, Rade (Hg.): Međunarodni naučni skup povodom 100-godišnjice ustanaka u Bosni i Hercegovini, drugim balkanskim zemljama i istočnoj krizi 1875-1878. godine. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1977, vol. 2, pp. 49-53; Bencze, László: Bosznia és Hercegovina okkupációja 1878-ban. Budapest: Akadémiai Kiadó 1987, 100 Imre Ress Trotz dieser deprimierenden Momente in der Begegnung mit den neu eroberten Provinzen wurde die sich im Sommer 1875 entfaltende Auflehnung der südslawischen Orthodoxen und Katholiken gegen die willkürliche osmanische Staats- und Sozialordnung von der überwiegend nationalliberal eingestellten ungarischen Führungsschicht zwar mit Angst, doch mit einem gewissen Verständnis beobachtet, weil das Streben der christlichen Untertanen nach rechtlicher und nationaler Gleichstellung dem Zeitgeist entsprechend als gerecht empfunden wurde. In dieser Periode unmittelbar vor der Okkupation wurden vorwiegend die osmanischen Repressalien gegen die Aufständischen von ungarischer Seite angeprangert, und über den Leidensweg der christlichen Flüchtlinge, die in südungarischen Städten wie Temeschwar (Timișoara) und Neusatz (Novi Sad) Aufnahme fanden und von den lokalen Behörden materielle Unterstützung erhielten, teilnahmsvoll berichtet. Eine Zeitlang drückte selbst die Regierung in Budapest ein Auge zu, als die ungarländischen Serben nicht nur Spenden zur Unterstützung der Aufständischen sammelten, sondern viele von ihnen den Kämpfern zu Hilfe eilten. 2 Neben humanitären Überlegungen wurde das ungarische Krisen-Verhalten vorwiegend von theoretisch-ideologischen Freiheitsprinzipien geleitet, die sich nach der ernüchternden Erfahrung der Nationalitätenkonflikte der Revolutionszeit und der Verhinderung der staatlichen Unabhängigkeit durch die russische Militärintervention 1848/ 49 erst im Laufe der Auseinandersetzungen um die Neugestaltung der Habsburger Monarchie in den 1860er Jahren inhaltlich mit konjunkturell geformten Wertinhalten herauskristallisierten und nachhaltig in die nationalliberale Ideenwelt Eingang fanden. In der postrevolutionären politisch-literarischen Elite herrschte die allgemeine Überzeugung und ein völliger Konsens darüber, dass sich die Wiederherstellung und das sichere Fortbestehen eines selbständigen ungarischen Staates innerhalb der dualistisch-konstitutionellen Habsburgermonarchie im benachbarten südosteuropäischen Umfeld entscheiden würde, wo sich das islamisch-theokratische Osmanischen Reich unreformierbar dem unaufhaltsamen Zerfall näherte, was eine nationale Befreiung der christlichen Balkanvölker und ihre staatliche Wiederherstellung erfordere. Sowohl Baron József Eötvös, der liberale Theoretiker der nationalen Frage, als auch einflusspp. 90-102; Schiefner, Károly: A Boszniai-Hercegovinai okkupációs hadjáratban résztvett 32-es bajtársak visszapillantása 1878-tól a mai napig. Budapest: Pallas Rt. 1918, p. 6ff.; vgl. weiters: Bosznia megszállása. In: Vasárnapi Újság , 01. 09. 1878, pp. 549-552. 2 Vgl. Diószegi, István: Bismarck und Andrássy. Ungarn in der deutschen Machtpolitik in der 2. Hälfte des 19. Jhs. Wien: Oldenbourg 1999, p. 307f.; Pal, Tibor: Mađarska politička javnost i srpsko pitanje na Balkanu, 1860-1878. Novi Sad: Univerzitet Novi Sad, Filozofski fakultet 2001, p. 118ff.; Simonyi, Mária: Újvidék els őmagyar nyelvű politikai lapja. In: Hungarológiai Közlemények 14 (1982), nr. 50, p. 80; Fővárosi Lapok, 24. 08. 1875, p. 863. „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“ 101 reiche liberale Meinungsbildner wie die Schriftsteller Baron Zsigmond Kemény und Mór Jókai legten übereinstimmend den langzeitig geltenden Grundsatz in der orientalischen Frage fest, wonach eine natürliche Interessengemeinschaft zwischen der ungarischen konstitutionellen Staatlichkeit und der Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanvölker darin bestehe, die territoriale Einverleibung des osmanischen Erbes durch die beiden angrenzenden Großmächte - das zentralisiert österreichische und das autokratisch russische Reich - zu verhindern. Aus diesem vorgeblichen regionalen Aufeinander-Angewiesensein der südosteuropäischen und ungarischen Nationalbewegungen leitete der auch publizistisch äußerst aktive Romancier Jókai - ausdrücklich auf das ungarisch-serbische Verhältnis zugeschnitten - das Vorhandensein einer freiheitlichen Solidarität im Sinne des beiderseitigen natürlichen Anspruchs auf den eigenen Nationalstaat unter gegenseitiger Beachtung der historischen Landesgrenzen her: Das anständige freisinnige Brudervolk, das die unteren Ausläufer unserer Karpaten bewohnt und an den freien Institutionen seines Vaterlandes eifriger als mancher Skythen-Sprössling festhielt, soll mit der Unterstellung des Meuchelmords am Vaterland nicht beleidigt werden. Dem slawischen eroberungslustigen Element gegenüber ist das freisinnige slawische Element unser natürlichster Verbündeter. […] Bewilligen wir und seien wir dafür, dass jede Nation, die mit unseren Landsleuten sprachlich verwandt ist, ihr Vaterland unter den eigenen historischen Grenzen finden kann, so wird sie unsere [Nation] nicht untergraben. […] wenn der Serbe ein glückliches Vaterland unterhalb der Donau besitzt, wird er es nicht mehr im Banat suchen. 3 In diesem Kontext der möglichen wechselseitigen Abhängigkeit bildete das zukünftige dualistische Ungarn den stärksten Garanten für die Vereitelung der österreichischen Expansionspolitik nach Südosten. Des Weiteren kündigte die ungarische Befürwortung der nationalstaatlichen Verselbständigung der autonomen rumänischen und serbischen Fürstentümer auf freiheitlich-konstitutioneller Grundlage die liberale Revision der auf die Bewahrung des osmanischen Status quo ausgerichteten österreichischen Balkanpolitik an. Dies geschah einerseits, um die Attraktivität der zaristischen Befreiungsmission auf dem Balkan zu entwerten und anderseits, um die Zurückdrängung des russischen Einflusses durch die Vermittlung der Werte der europäischen Bürgergesellschaft im ganzen Raum zu erwirken. 4 3 Jókai, Mór: A birodalom alkotmányos rendezése magyar felfogás szerint. In: Magyar Sajtó, 11-17. 09. 1862. Zit. n. Ders.: Cikkek és beszédek. Vol. 6, 1861. január 7-1865. június 24. Hg. von József Láng et al. Budapest: Akadémiai Kiadó 1975 (= Jókai Mór Összes Művei), p. 196f. (Die Übersetzung dieser und anderer ungarischer Zitate erfolgte, so nicht anders angegeben, durch den Autor.) 4 Vgl. Csukás, István: Irodalmunk nemzetiség szemlélete a szabadságharc után (1848- 1867). In: Acta Historiae Litterarum Hungaricarum 19 (1983), pp. 44-48; Ress, Imre: A 102 Imre Ress Diese Grundideen des nationalliberalen ungarischen Balkankonzeptes fanden vor allem unter den Serben einen bedeutenden positiven Widerhall. Seit der Mitte der 1860-er Jahre knüpfte das Fürstentum Serbien die Vereitelung der österreichischen dynastisch-imperialen Expansion ausdrücklich an den Erfolg der ungarischen liberalen verfassungsrechtlichen Bemühungen, d. h. an die dualistische Umwandlung der Habsburger Monarchie. Aus diesem Grund unterließ die Regierung in Belgrad die Unterstützung der territorialen serbischen Autonomie in der Wojwodina und akzeptierte den bipolaren Dualismus, also den Ausbau des ungarischen Einflusses in der Monarchie, weil diese staatsrechtliche Lösung den durch nationale Bestrebungen der Tschechen und Kroaten getragenen Föderalismusgedanken blockierte. 5 Als Reaktion auf den Ausschluss Österreichs aus dem Deutschen Bund 1866 verlangte die austroslawische föderalistische Presse die alsbaldige Eroberung Bosniens und der Herzegowina, ja sogar die gänzliche Befreiung der Südslawen von der osmanischen Herrschaft und ihre Einverleibung bis zum Bergrücken des Balkangebirges als dringende Notwendigkeit. Dies hatte zum Zweck, dem demografischen und territorialen Übergewicht Ungarns innerhalb der Monarchie durch eine Erhöhung des slawischen Bevölkerungsanteils entgegenzuwirken und dadurch die Entstehung eines österreichisch-ungarischen Dualismus zu verhindern. 6 Nach den gescheiterten früheren französischen Tauschprojekten, die den Anschluss der benachbarten Gebietsteile des Osmanischen Reiches an das Habsburgerreich als Kompensation für das freiwillige Abtreten seiner italienischen Besitzungen vorsahen, gewann die territoriale Neugestaltung am Balkan im Laufe der Pazifizierung des kretischen Aufstands 1866-1867 erneut an Aktualität, als Pläne zur administrativen Vereinigung Bosniens und der Herzegowina mit dem Fürstentum Serbien - neben der Aufrechterhaltung der Souveränitätsrechte des Sultans - als ein Mittel zur Stabilisierung des Osmanischen Reiches in der internationalen Diplomatie erwogen wurden. 7 Der nach dem magyar liberálisok és a Szerb Fejedelemség az 1860-as években. In: Németh, G. Béla (Hg.): Forradalom után - kiegyezés előtt. A magyar polgárosodás az abszolutizmus korában. Budapest: Gondolat 1988, pp. 496-516. 5 Ress, Imre: A szerb külpolitika és a Habsburg-monarchia dualista átalakulása (1865- 1867). In: Dénes, Iván Zoltán / Gergely, András / Pajkossy, Gábor (Szerk.): A magyar polgári átalakulás kérdései. Tanulmányok Szabad György 60. születésnapjára. Budapest: ELTE Bölcsészettudományi Kar 1984. pp. 381-392. 6 Vgl. [Anonym]: Am Wendepunkte der Geschichte Oesterreichs. In: Politik. Politisch-föderalistisches Tagblatt [Prag], 31.08. 1866; Oesterreich und die Völker Oesterreichs nach dem Kriege im Jahre 1866. In: Politik, 08. 09. 1866; weiters Korunić, Petar: Jugoslavenska ideja u hrvatskoj politici 1866-1868. In: Zbornik Zavoda za povijesne znanosti JAZU (Zagreb) 11, 1981. pp. 20-22. 7 Vgl. Hoffmann, Georg: Die venezianische Frage zwischen den Feldzügen von 1859 und 1866. Zürich, Leipzig: Leemann 1941 (= Schweizer Studien zur Geschichtswissenschaft „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“ 103 Ausgleich frisch an die Macht gekommene ungarische Ministerpräsident Graf Gyula Andrássy griff unter den verantwortlichen österreichisch-ungarischen Entscheidungsträgern allein die Idee der friedlichen Vergrößerung Serbiens auf. Er stellte sogar in vertraulichen Verhandlungen den Politikern in Belgrad, ja selbst dem Fürsten Mihail Obrenović seinen politischen Einfluss zur Eingliederung der osmanischen Provinzen in das autonome Fürstentum in Aussicht. Zur diplomatischen Durchführung dieser territorialen Transaktion wurde ein Kandidat der ungarischen Regierung, Benjámin v. Kállay, als österreichisch-ungarischer Generalkonsul nach Belgrad, entsandt, dessen Tätigkeit informell der ungarische Ministerpräsident lenkte. Der unmittelbare Beweggrund für die Entfaltung des proserbischen ungarischen Sonderkurses, der neben der territorialen Vergrößerung auch die Erweiterung der Autonomie und die Einführung der liberalen Verfassung Serbiens förderte, entsprang aus der aktuellen politischen Notwendigkeit, das neue dualistische Staatensystem durch die Aufrechthaltung der unveränderten Nationalstruktur der Habsburgermonarchie zu stabilisieren und vor den unberechenbaren Folgen nationalrevolutionärer Erschütterungen in der osmanischen Nachbarschaft zu bewahren. 8 Trotz aller ungarischen Vorbehalte gegen die Expansion am Balkan befanden Andrássy und Kállay es für notwendig, auch die Wünsche und Bedürfnisse bestimmter innermonarchischer Machtfaktoren zu berücksichtigen. Deshalb plädierten diese beiden prominenten Ungarn auch für die Einverleibung Türkisch-Kroatiens, welches in seiner nordwestlichen grenznahen Lage ein Drittel des bosnischen Territoriums ausmachte. Mit diesem geringen Gebietsgewinn wollte man der nationalkroatischen Forderung nach der Umsetzung des historisch-territorialen Integritätsprinzips zuvorkommen und das Verlangen des dynastisch-militärischen Machtzentrums der Monarchie nach Schaffung eines vergrößerten Hinterlandes für Dalmatien befriedigen. Schwerpunktmäßig richtete sich die ungarische nationalliberale Balkanpolitik aber auf die baldige Vereinigung Rest-Bosniens und der Herzegowina mit Serbien unter diplomatischer Vermittlung Österreich-Ungarns und der Westmächte, um im nördlichen Balkanbereich einen friedlichen nationalstaatlichen Emanzipationsprozess einzuleiten und eine liberal-rechtstaatliche Entwicklung anzuspornen. Damit sollten die Einflussmöglichkeiten der russisch-zaristi- 20/ 2), pp. 37 ff.; Beyrau, Dieter: Russische Orientpolitik und die Entstehung des deutschen Kaiserreiches, 1866-1870/ 71. Wiesbaden: Harrassowitz 1974 (= Veröff. des Osteuropa-Inst. München, Reihe Geschichte 40), pp. 63-72, 92-95. 8 Ress, Imre: Kállay Béni belgrádi diplomáciai működése 1868-1871. [Kandidátusi értekezés kézirata.] Budapest: MTA könyvtára 1993, pp. 84-96; Armour, Ian D.: Apple of Discord. The ‛Hungarian Factor’ in Austro-Serbian Relations, 1867-1881. West Lafayette: Purdue Univ. Press 2014,. pp. 36-48. 104 Imre Ress schen Autokratie perspektivisch geschmälert, aber auch den zukünftigen dynastisch-österreichischen Expansionsabsichten ein Riegel vorgeschoben werden. Sowohl die Entfaltung eines Austro-Jugoslawismus kroatischer Prägung innerhalb der Habsburgermonarchie als auch die gesamtsüdslawische Einheit außerhalb ihrer Grenzen sollten damit verunmöglicht werden. Die bedingte ungarische Befürwortung der nationalen Befreiung der slawischen Balkanchristen forcierte als Doktrin nur die organischen, von inneren Kräften getragenen Transformationen, ohne die Entfesselung revolutionärer Aufstände und ohne die von außen unterstützten militärischen Aktionen gutzuheißen, um die Existenz des Osmanischen Reiches nicht aufs Spiel zu setzen. Im außenpolitischen Kalkül des von einer Russophobie befangenen ungarischen Nationalliberalismus galten die Türken nämlich trotz ihres Machtverlustes in den südosteuropäischen Randgebieten als wichtige potenzielle Verbündete in der vermeintlich unausweichlichen kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland. Unter solchen entgegengesetzten machtpolitischen Überlegungen führte das dreijährige vorsichtige diplomatische Vortasten von Andrássy und Kállay zu keinem Durchbruch. Das ungarische Teilungsprojekt zur Lösung des bosnischen Problems fand weder innerhalb der Monarchie noch bei den zurückhaltenden Westmächten die notwendige Unterstützung; von der direkt betroffenen Hohen Pforte, wie dem begünstigten Serbien, wurde es ebenso abgelehnt. 9 Anfang der 1870er Jahre verwandelten die Folgen des französisch-preußischen Krieges den von Ungarn präferierten serbisch-bosnischen Vereinigungsplan, der als Voraussetzung Serbiens antirussische Bündnisverpflichtung vorsah, in einen Anachronismus und setzten auch dem intimen Sonderverhältnis von Belgrad und Budapest ein abruptes Ende. Vor allem die schwere militärische Niederlage Frankreichs und die Gründung des Deutschen Reiches schufen - ganz nach dem Geschmack vieler Balkanslawen - günstige Bedingungen für die Wiederbelebung einer aktiven russischen Orientpolitik, die ihre Wirkung auf Serbien nicht verfehlte. Die einseitige russische Kündigung der Pontus-Klausel des Pariser Friedens (1856) wurde in Belgrad als ein überzeugender Machtzuwachs Russlands verstanden, der dessen Position dem Osmanischen Reich gegenüber wesentlich verbessern und dessen Einfluss in Südosteuropa entscheidend erneuern werde. In dieser veränderten Konstellation brach die autonome fürstliche Regierung die offensichtlich aussichtslos gewordene balkanpolitische Kooperation mit den ungarischen Liberalen ab, um von deren Russenfeindlichkeit nicht weiter kompromittiert zu werden. Im Zeichen der slawischen Solidarität wünschte 9 Vgl. Kos, Franz-Josef: Die Politik Österreich-Ungarns während der Orientkrise 1874/ 75- 1879. Zum Verhältnis von politischer und militärischer Führung. Köln, Wien: Böhlau 1984 (= Dissertationen zur neueren Geschichte 16), pp. 57-62; Beyrau 1974, p. 150f.; Ress 1993, pp. 184-235; Armour 2014, pp. 121-154. „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“ 105 Belgrad auch nicht mehr die Aufrechthaltung des zentralistischen Dualismus, sondern erhoffte sich vom Erfolg der tschechischen und kroatischen Emanzipationsbestrebungen und von der Verstärkung austroslawischer Positionen eine konziliantere Haltung der Habsburgermonarchie gegenüber Russland. Die demonstrative Annäherung des Fürstentum Serbiens an Russland im Herbst 1871 beendete die beinahe ein Jahrzehnt dauernde ungarische-serbische Fraternisierung, die ursprünglich vor allem von der gemeinsamen Ablehnung des inzwischen nicht mehr existenten zentralisierten Habsburger Reiches genährt wurde. 10 Von den beiden ungarischen Akteuren des serbophilen Kurses hielt der zum gemeinsamen Außenminister gewordene Gyula Andrássy weiterhin das nationalliberale Grundprinzip für gültig, wonach die Monarchie nicht nur als Garant der serbischen Eigenstaatlichkeit auftreten, sondern auch deren konstitutionelle und rechtstaatliche Institutionen fördern sollte. Zur Sicherung der serbischen Loyalität regte er allerdings den Gebietserwerb in Bosnien-Herzegowina mit diplomatischer Vermittlung Österreich-Ungarns nicht mehr an. Auf der Wiener militärpolitischen Konferenz, welche die künftige außenpolitische Strategie behandelte, schloss er sich verbal den Expansionsplänen der dynastisch-militärischen Kreise an und bezeichnete die Annexion Bosniens und der Herzegowina an die Monarchie langfristig als wünschenswert. 11 Während seiner Amtszeit war er allerdings viel eher bemüht, eine Annexion so lange wie möglich aufzuschieben, da er mit schweren internationalen Komplikationen rechnete. Seine Absicht zeichnete sich klar in der Ablehnung der nach der prorussischen Wende Serbiens zur Lösung des südslawischen Problems ausgearbeiteten Konzeption von Kállay ab, welche die Revision des ungarisch-kroatischen Ausgleichs und eine bedeutende Erweiterung der kroatischen Autonomie vorsah: Jener Generalkonsul zu Belgrad rechnete nämlich damit, dass die politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten eines konsolidierten, national befriedigten Kroatiens beträchtlich besser wären als die Zustände in Serbien zu gestalten. Kroatien zufriedenzustellen, würde dann eine solche Anziehungskraft auf katholische, und sogar auf die muslimische Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina ausüben, womit ein natürliches Gegengewicht zur Abwehr der auf die Einverleibung der ganzen Provinz gerichteten serbischen Aspirationen gebildet würde. Außenminister Andrássy hingegen wollte die autonomen kroatischen Organe zur Stärkung der Sympathien zugunsten der Monarchie nicht in Anspruch nehmen. Ohne unter den Kroaten eine Hoffnung auf baldige Annexion zu nähren, 10 Ress 1993, pp. 235-280; Armour 2014, pp. 175-196. 11 Vgl. Lutz, Heinrich: Politik und militärische Planung in Österreich-Ungarn zu Beginn der Ära Andrássy. Das Protokoll der Wiener Geheimkonferenzen vom 17. bis 19. Februar 1872. In: Botz, Gerhard / Hauptmann, Hans / Konrad, Helmut (Hg.): Geschichte und Gesellschaft. Festschrift für Karl R. Stadler. Wien: Europaverlag 1974, hier pp. 32 ff. 106 Imre Ress hielt er zur Zügelung der revolutionär-aufwieglerischen serbischen Elemente die sich allmählich vertiefende Kooperation mit Russland für weniger riskant. 12 Trotz diplomatischer Entspannungsbemühungen zwischen Wien und St. Petersburg hielten die von Zeit zu Zeit ins Extreme gehenden Pressefehden in der partikulären ungarisch-serbischen Beziehung das Misstrauen und die gegenseitige Irritation aufrecht. Die prorussische Wende Belgrads prägte sich tief in die ungarische öffentliche Meinung ein und nährte eine permanente Verdachtsatmosphäre. Es besteht kein Zweifel, dass die ungarische Presse die Gefahr des russisch-serbischen Schulterschlusses oft verhältniswidrig überbetonte und den wachsenden Einfluss der radikal-liberalen Omladina -Bewegung (sowie deren grenzüberschreitende revolutionäre Aktivitäten) damit in Verbindung brachte. 13 Die lange schwelenden Spannungen eskalierten während der großen Orientkrise, als der serbische Befreiungskrieg gegen die osmanische Herrschaft im Sommer 1876 in Bosnien vorbereitet wurde. Der russische Oberbefehlshaber und die zahlreichen russischen Freiwilligen der fürstlichen Armee beschworen in Ungarn die so bedrohlich empfundene Entstehung eines vom Zarenreich abhängigen großen Slawenstaates herauf, der mit seiner Anziehungskraft sowohl die Loyalität der ungarländischen Serben erschüttern als auch die völlige Abtrennung des autonomen Kroatien und den Separatismus weiterer slawischer Nationalitäten fördern würde. Die von den serbischen Kriegsvorbereitungen ausgelöste Beunruhigung in Ungarn schlug sich immer öfters als Kritik der gemeinsamen Außenpolitik nieder. Besonders wurde die Zusammenarbeit mit Russland beanstandet; sowohl die Ermunterung Serbiens zur Einverleibung der aufständischen Provinzen als auch die Möglichkeit der Verwirklichung der Annexionsabsichten der Monarchie auf dem Balkan wurden der österreichisch-russischen dynastischen Kooperation zugeschrieben, die in Ungarn Furcht vor einer Wiederauferstehung der Heiligen Allianz erregte. Jene die ungarische Gesellschaft seit 1849 durchdringende Russophobie und das Misstrauen gegenüber dem Wiener Reichszentrum, das nach dem Ausgleich von 1867 v. a. gegenüber dem gemeinsamen Heer unvermindert 12 Vgl. Diószegi 1999, pp. 260 ff.; Ress, Imre: A magyar Balkán-politika módosulásának indítékai Andrássy külügyminiszteri kinevezése után. In: Erdődy, Gábor / Pók, Attila (Hg.): Nemzeteken innen és túl. Tanulmányok Diószegi István 70. születésnapjára. Budapest: Korona 2000, pp. 232-240. 13 Vgl. Arató, Endre: Omladina srpska i madjarsko javno mnenje. In: Milisavac, Živan (Hg.): Ujedinjena omladina srpska. Zbornik Radova. Novi Sad, Beograd: Matica Srpska, Istorijski Institut 1968, pp. 337-354; Ress 2000, pp. 241 ff.- Die serbische Ujedinjena omladina srpska (Vereinigte Serbische Jugend) war eine 1866 gegründete lockere Organisation der Serben aus verschiedenen Ländern, um ihre kulturelle Annäherung zu fördern und das Volk für die nationale Befreiung und Vereinigung vorzubereiten. „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“ 107 zur Geltung kam, führten schließlich zur machtstrategisch motivierten ideologischen Wende. Das liberale Primat der nationalen Freiheit als Leitmotiv der ungarischen Balkanbetrachtung wurde schrittweise in den Hintergrund gedrängt und die nationalstaatliche Einheit und die dualistische Sonderstellung Ungarns an den unverletzlichen Fortbestand des Osmanischen Reiches gekoppelt. Dieser Gesinnungswechsel hin zur Türkenfreundlichkeit wurde durch die Erinnerung an den Freiheitskampf von 1848-49 emotional verstärkt, wozu hochgeachtete Zeitzeugen der Revolutionszeit mit ihren Äußerungen und Taten wesentlich beitrugen. Zuerst formulierte der Honvéd-General György Klapka eine moralische Verpflichtung zur Solidarität der Ungarn mit dem von den Serben bedrohten Osmanischen Reich, das durch die Aufnahme der politischen und militärischen Emigration sich als einziger Verbündeter während des revolutionären Krieges erwiesen habe. 14 Im Zeichen dieser Gesinnung stattete der Sohn des hingerichteten gesetzestreuen Ministerpräsidenten von 1848, Graf Elemér Batthyány, dem Lager des sich zur Abwehr des serbischen Angriffs versammelnden osmanischen Heeres einen demonstrativen Besuch ab. 15 Nach Beginn der militärischen Operationen wurde in Ungarn eine permanente Spendenaktion für die osmanischen Verwundeten gestartet, die auch von dem studentischen Organisationskomittee mit den jüngsten Erfahrungen der Revolutionszeit, mit der „mörderischen Undankbarkeit der Serben“ und „der großzügigen Solidarität der türkischen Brüdernation“ begründete wurde. 16 Auch das Frauenkomitee der Spendenaktion wurde von einer Schlüsselfigur des nationalen Opferkultes 1848 geleitet, der Witwe des Märtyrer-Generals von Arad, János Damjanich. 17 Der über die Serben errungene überraschende osmanische Sieg und die Vorzeichen der russischen militärischen Intervention ab Herbst 1876 boten viel Anlass zu gegenseitigen ungarisch-türkischen Sympathiebezeugungen. Der von der ungarischen studentischen Jugend dem siegreichen osmanischen Feldherren geschenk- 14 In: A Hon , 05. 09. 1875. 15 Vgl. Fővárosi Lapok, 30. 07. 1876, p. 813; 05. 08. 1876, p. 835. 16 Die symptomatische zeitgebundene historische Begründung der Studentenkomission lautete: „Die grauen Felsen des Balkan werden durch das Blut von Helden rot gefärbt. Zwei Nationen ringen dort in einem Kampfe auf Tod und Leben; die eine, der wir eine Heimat gegeben, als sie verfolgt ward, hat dafür, daß wir ihr die Freundeshand gereicht, mit Mord vergolten; die andere, mit der wir in Folge von Mißverständnissen Jahrhundete hindurch gekämpft haben, hat in uns die Brudernation erkannt, unsere Helden als ihre Freunde empfangen zu einer Zeit, da sie verlassen waren und Jedermann den Magyaren verleugnete. Durch das Elend des Krieges erschöpft, sind die Türken nicht einmal im Stande, ihre Kranken zu pflegen. Im gebildeten Europa findet sich keine einzige Nation, welche bereit wäre, die Schmerzen der Leidenden zu lindern. Dürfen wir undankbar sein? “ (Zit. n. Fővárosi Lapok, 04. 11. 1876, p. 1790). 17 Damjanich Jánosné és a Magyar Gazdaasszonyok Egyesülte. In: Vasárnapi Újság, 28. 01. 1877, p. 49f.; Fővárosi Lapok 13. 04. 1878, p. 419. 108 Imre Ress te Ehrensäbel stellte einen ausdrücklichen Protest gegen den russisch-österreichischen Schulterschluss dar, der auch vom Großteil der politischen Elite geteilt wurde. Die osmanische Reaktion, die Zurückerstattung der Corvina-Codices, die aus der berühmten mittelalterlichen Bibliothek des Königs von Ungarn erbeutet worden waren, hatte einen besonders positiven Einfluss auf die öffentliche Meinung. Denn nach dem Ausgleich waren diesbezügliche ungarische Hoffnungen von Wien nicht erfüllt worden: Die in die kaiserliche Sammlung in Wien gelangten repräsentativen ungarischen Kunstwerke und historische Quellen hätten den ärmlichen Bestand des nationalen Museums und die Archive in Budapest bereichern sollen. Deshalb ging die Turkomanie bei anderen geisteswissenschaftlichen Gebieten, insbesondere in der historischen Forschung und der Untersuchung der Sprachverwandtschaft, mit einer aktualpolitischen Konnotation einher und war immer ein Ausdruck der verschlüsselten Habsburg- und Österreichfeindlichkeit. 18 Die starke Verbreitung der Turkophilie in Ungarn wurde dadurch gefördert, dass durch die Ende 1876 in Istanbul verkündete Verfassung die liberalen Bedenken wegen der autokratischen Ordnung des Osmanischen Reiches im Prinzip zerstreut waren. Die Bedeutung der Veränderung wurde von dem in italienischer Emigration lebenden, kultisch verehrten Kämpfer des Unabhängigkeitsgedankens, Lajos Kossuth, beglaubigt, der im Geist des europäischen russophoben Liberalismus den Krieg des Zarismus gegen das Osmanische Reich als Aggression gegen Konstitutionalismus und Freiheit wertete: Die Türken haben das Zeichen der Zeit verstanden. Sie haben allen Völkern ihres Reiches, ohne Unterschied der Raße, Sprache, Religion, auf der Basis der Rechtsgleichheit eine Constitution gegeben. Der Czar aller Reussen hat seine Waffen in die Waagschale geworfen, damit die Türken die Freiheit nicht sollen verwirklichen können. Denn er fürchtete, daß, wenn auch der türkische Halbmond die Leuchtkugel der Freiheitssonne widerspiegelt, der Glanz derselben in die Finsterniß seines eigenen Sklavenreiches bringen werde, wie der Lichtstrahl der Befreiung des ungarischen Bauern in die Nacht der russischen Sklaverei eingedrungen ist. Fort mit diesen die Freiheit hindernden 18 Vgl. Siklóssy, László: Műkincseink vándorútja Bécsbe. Budapest: Táltos 1919; Bertényi, Iván Jr.: Enthusiasm for a Hereditary Enemy. Some Aspects of The Roots of Hungarian Turkophile Sentiments. In: Hungarian Studies 27 (2013), nr. 2, pp. 215-217; Fodor, Pál: Hungary between East and West. The Ottoman Turkish Legacy. In: More Modoque. Die Wurzeln der europäischen Kultur und deren Rezeption im Orient und Okzident. Festschr. für Miklós Maróth zum 70. Geb. Budapest: Argumentum Kiadó / MTA Bölcsészettudományi Kutatóközpont 2013, p. 413f.; Ress, Imre: Kaiserliches und königlich-ungarisches Archiverbe und die nationalen Geschichtsschreibungen in Wendezeit. In: Kazbunda, Karel: Kulturní dědictví a mezinárodní právo. Referáty z vědecké konference konané ve dnech 19.-20. dubna 2013 v Jičíně. Semily: Státní oblastní archiv v Litoměřicích - Státní okresní archiv Semily pro Pekařovu společnost Českého ráje v Turnov ě 2013, pp. 194-203 u. 413 f. „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“ 109 Waffen, die unter dem Titel der Autonomie nach russischen Muster, in russischer Sprache für die Bulgaren eine Zwangsjacke bereiten. 19 Der Aufmarsch des Zarenheeres an der Donau generierte im Sommer 1877 entlang der östlichen Grenze Ungarns eine gesellschaftliche Massenbewegung zur Verteidigung des konstitutionellen Osmanischen Reichs und zur Bildung eines ungarisch-türkischen Bollwerks der liberalen Freiheit gegen das absolutistische Schreckgespenst Russland. Die zaristisch-russische Kriegserklärung hatte nämlich zum Verdruss der turkophilen ungarischen Elite nicht zu einer antirussischen Solidarität der „Freiheitsliebenden“ in Europa geführt. Vielmehr begeisterten sich die englischen Liberalen für die nationale Befreiung der Slawen auf dem Balkan und starteten eine breite gesellschaftliche Protestbewegung zur Diskreditierung der traditionell türkischfreundlichen Außenpolitik der konservativen Regierung in London. Ihre ungarischen Gesinnungsfreunde übernahmen deshalb nur ihre politischen Methoden, und versuchten, nach dem Vorbild der Atrocity Meetings durch regelmäßig organisierte Volksversammlungen mit außerparlamentarischen Druckmitteln in der Doppelmonarchie die militärische Unterstützung des Osmanischen Reiches, den Verzicht der Einverleibung von Bosnien und der Herzegowina sowie die parlamentarische Kontrolle über die Außenpolitik zu erreichen. Vom Ausmaß der gesellschaftlichen Mobilisierung in Ungarn zeugt, dass die liberale und konservative Opposition binnen anderthalb Monaten vornehmlich in den Städten mit ungarischer Mehrheit sechzig Volksversammlungen mit mehr als 200.000 registrierten Teilnehmern abhielt, um eine türkischfreundliche Wende der österreichisch-ungarischen Außenpolitik zu erzwingen. 20 Der internationale Rückhalt und teilweise die finanziellen Kosten der turkophilen Bewegung wurden von der konservativen englischen Regierung bereitgestellt, die sich von deren Erfolg die Schwächung der Position des politisch in Ungarn verankerten gemeinsamen Außenministers, Graf Gyula Andrássy erhoffte, und sogar mit seinem Fall rechnete. 21 Von der übertriebenen Turkomanie ließen sich zweifelsohne sowohl der Großteil der politischen Elite als auch die unteren Volksklassen hinreißen. Unter dem Einfluss der öffentlichen Stimmung rückten im Sommer 1877 auch die ungari- 19 Lajos Kossuth an den Reichstagabgeordneten Sámuel Molnár, Collegno al Baracone 12. 08 1878. In: Korn, Philipp Anton: Die Sympathien für die Türken und die Antipathien gegen die Russen in Ungarn. Nebst den hierauf bezüglichen denkwürdigen Briefen von Ludwig Kossuth. Ungarisch-Altenburg [Mosonmagyaróvár]: A. Czéh 1878, p. 26f. 20 Vgl. ibid., pp. 10-22. 21 Vgl. Apponyi, Albert: Emlékirataim. Ötven év. Ifjúkorom. Huszonöt év az ellenzéken. Budapest: Pantheon 1922, pp. 84-89; Diószegi 1999, pp. 306-312; Szász, Zoltán: Törökbarát magyarok. Hódítás és közhangulat. In: Rubicon 4 (1992), nr. 8-9, pp. 64-65. 110 Imre Ress sche Regierung und die ihr nahestehenden Zeitungen von der nachsichtigen Leitlinie des gemeinsamen Außenministers gegenüber Russland ab. In der strategischen Gedankenwelt des Grafen Gyula Andrássy, der einst in Konstantinopel der Gesandte der unabhängigen ungarischen Regierung von 1849 war, stellte die russische Gefahr ein dauerhaftes und bestimmendes Element dar. Auch die Turkophilie war ihm nicht fremd. Als Außenminister machte er sich dennoch nicht die zum Extremismus neigenden, unrealistischen ungarischen Vorstellungen zu eigen. Weder die europäischen Machtverhältnisse - fehlende deutsche Unterstützung und Unberechenbarkeit des Verhaltens Englands - noch die inneren gesellschaftlichen und nationalen Gegebenheiten der Monarchie - v. a. die Isoliertheit der Ungarn und Polen mit ihrer radikalen Russenfeindschaft - waren seiner Meinung nach eine ausreichende Basis, um das russische Vordringen am Balkan gewaltsam zurückzuweisen und das Osmanische Reich mit militärischen Mitteln zu stabilisieren. Statt der in Ungarn allgemein verbreiteten Popularität einer protürkischen Aktionspolitik bevorzugte Andrássy eindeutig die Verhandlungsdiplomatie, um im russischen Krieg gegen das Osmanische Reich mit bilateralen Vereinbarungen die zaristische Expansion in festgeschriebenen Grenzen zu halten und mit der Gewährung der wohlwollenden Neutralität die russische Zustimmung für die Besitznahme Bosniens und der Herzegowina zu sichern. In seinem strategischen Konzept fiel dem beabsichtigten Erwerb der beiden südslawischen Provinzen die zweischneidige Rolle zu, die Bildung eines slawischen Großstaates zu verhindern und die zu gewinnenden russischen Machtpositionen im östlichen Balkanraum auszugleichen. 22 Die von der ungarischen Regierung verfolgte Alternative begnügte sich mit der Sicherung der österreichisch-ungarischen Wirtschaftsinteressen in den grenznahen osmanischen Provinzen und wollte die heikle Frage der territorialen Eingliederung offensichtlich auf die lange Bank schieben. 23 Innerhalb der ungarischen politischen Elite gab es nur zwei gewichtige Persönlichkeiten, die die außenpolitische Linie von Andrássy öffentlich rechtfertigten und auch die Okkupation Bosniens und der Herzegowina für vorstellbar hielten. Zu jenem Engagement von Ferenc Salamon, Geschichtsprofessor an der Budapester Universität, und dem Parlamentarier Benjamin Kállay muss erwähnt 22 Vgl. Diószegi, István: Der Platz Bosnien-Herzegowinas in Andrássys außenpolitischen Vorstellungen. In: Burz, Ulfried / Derndarsky, Michael / Drobesch, Werner (Hg.): Brennpunkt Mitteleuropa. Festschr. für Helmut Rumpler zum 65. Geb. Klagenfurt: Carinthia 2000, p. 381f. 23 Diese ungarische Regierungsposition wurde von dem außenpolitischen Ressortleiter des von Mór Jókai redigierten Tagblattes der Freisinnigen Partei, A Hon (Das Vaterland), in einem Aufsatz dargelegt: Szatmáry, György: Bosnyákország [Bosniakland]. In: Budapesti Szemle 13 (1877), nr. 25, pp. 98-99. „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“ 111 werden, dass die beiden bereits zum Ministerpräsident Andrássy ein vertrautes Verhältnis gepflegt hatten und bestimmt auch in den orientalischen Krisenjahren über seine außenpolitischen Zielsetzungen gezielt informiert worden waren. Der früher auch journalistisch tätige Historiker der Türkenzeit in Ungarn Salamon publizierte seine die Erwerbung von Bosnien und der Herzegowina mit historischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Argumenten rechtfertigenden Artikel in der regierungsnahen Zeitung A Hon [Das Vaterland], und kritisierte die das Osmanische Reich idealisierende Auffassung der ungarischen Öffentlichkeit. Die Redakteure und externen Korrespondenten der Zeitung führten eine regelmäßige Polemik gegen den nüchterne historische Fakten aufzählenden Gelehrten, und erklärten im Geiste des klassischen Liberalismus den ungarischen historisch-dynastischen Rechtsanspruch auf die Einverleibung Bosniens und der Herzegowina regelmäßig als „überholten Feudalismus“. Nur auf Grund des nationalen Naturrechts wurde der dortigen Bevölkerung die Bildung eigener politischer Institutionen, letztendlich also die Selbstbestimmung, gestattet. 24 Der informelle Kontakt des von seinem Belgrader diplomatischen Posten zurückgekehrten Jungparlamentariers Benjamin v. Kállay mit dem gemeinsamen Außenminister war nach ihrer fast zehnjähriger Zusammenarbeit in der Gestaltung der Orientpolitik eine Selbstverständlichkeit. Der gleichzeitige Chefredakteur und Leitartikler des konservativen Parteiblattes A Kelet Népe [Volk des Ostens], stellte in seinen Schriften die Lebensfähigkeit und die Reformierbarkeit des Osmanischen Reiches ab Sommer 1875 äußerst skeptisch dar. Seine Auffassung ließ er sich auch von dem berühmten Orientalisten Ármin Vámbéry untermauern, 25 um die turkophile ungarische Öffentlichkeit auf die machtpolitischen Zusammenhänge der bevorstehenden nationalen Umgestaltung auf dem Balkan vorzubereiten. 26 Nach einem Jahr war sein kritischer Journalismus mit dem beharrlich dogmatischen Festhalten der ungarischen Konservativen an der türkenfreundlichen Status-quo-Politik nicht mehr vereinbar. Kállay trat von seinem Zeitungsposten Mitte 1876 zurück und geriet in parteipolitische Isolation. 27 Er nahm die Konfrontation mit der extremen Türkenfreundlichkeit der gesamten ungarischen Öffentlichkeit und der Parteien bewusst in Kauf, da er davon 24 Vgl. Gergely, András/ Veliky, János: A politikai sajtó története 1875-1892. In: Kosáry, Domokos/ Németh, G. Béla (Hg.) A magyar sajtó története 1867-1892. Vol. II/ 2. Budapest: Akadémia Kiadó 1985, p. 274f.; Salamon, Ferenc: A keleti kérdés bonyodalma és könnyű oldala. In: A Hon, 31. 07 1876, p. 1-2; Salamon, Ferenc: Tények és következtetések a keleti kérdésben. In: A Hon, 01. 08. 1876, pp. 1-2; Körösy, Sándor: Nem kell Bosznia! In: A Hon , 08. 08. 1876. 25 In: Kelet Népe , 08. 10. 1875. 26 Vgl. Gergely & Veliky 1985, p. 324f. 27 Vgl. Vasas, Géza: A bosnyák kérdéstől a magyar hivatásgondolatig. Kállay Béni politikusi pályaíve 1875 és 1883 között. In: Valóság 41 (1998), nr. 8, pp. 71-93. 112 Imre Ress überzeugt war, dass die dualistische Grundlage der Monarchie und ihre Großmachtstellung die ungarische Unterstützung der eingeschlagenen gemeinsamen Außenpolitik, die aus „machtpolitischem Zwang“ nötige Okkupation Bosnien-Herzegowinas inbegriffen, erforderte. Seine in der zugespitzten Phase des russisch-türkischen Krieges großes Aufsehen erregende Parlamentsrede warf den ungarischen Parteien ihre fehlende Kenntnis der slawischen und orientalischen Welt vor und prangerte die beiden vorherrschenden politischen Dogmen, die Gleichstellung der slawischen Nationalbewegungen mit dem Panslawismus und die protürkische außenpolitische Orientierung mit dem unbedingten Vertrauen in die osmanischen Bündnisfähigkeit, an. Die in belehrender Manier und akademischer Art vorgetragenen Erörterungen lieferten die begriffsklärende Unterscheidung von Panslawismus und Panrussismus und beleuchteten die Unvereinbarkeit der osmanischen Theokratie mit der liberal konstitutionellen Staatsordnung, die das Reich des Sultans zum Verfall verurteilte. Diese wissenschaftlichen Argumente bewirkten freilich kaum etwas. Im ungarischen Parlament wurde Kállay pauschal als „Moskowiter” abqualifiziert. 28 Symbolisch für den Unverstand der zeitgenössischen Öffentlichkeit und auch für seine gesellschaftliche Marginalisierung stand die spitzzüngige parlamentarische Notiz des angehenden Schriftstellers Kálmán Mikszáth. Mit zynischem Hohn machte er sich über Kállays wissenschaftliche Leistung lustig und zweifelte den Sinn von dessen Forschungen über die serbische Geschichte an . 29 Viel markanter als in seinen Reden im Parlament erörterte Kállay die gesamtmonarchischen Gesichtspunkte des Erwerbs und der Verwaltung von Bosnien und der Herzegowina in einem vertraulichen ungarischsprachigen Memorandum gegenüber dem gemeinsamen Außenminister, in dem er sich nicht nur von der vorherrschenden öffentlichen Stimmung distanzierte, sondern sich auch von seiner bisherigen Auffassung weit entfernte. Der Anhänger und Interpret englischer liberaler Staats- und Wirtschaftstheorien wurde während der Orientkrise aufgrund divergierender Bestrebungen mit dem Mangel, dass die Doppelmonarchie infolge ihrer multinationaler Zusammensetzung über keine einheitliche Nationalidee verfügte, konfrontiert; die erfolgreiche territoriale Expansion wurde mit einem vormodernen Faktor, dem dynastischen Prinzip, gerechtfertigt: Die oft entgegengesetzten Interessen der nach Sprache, geschichtlicher Entwicklung und den gegenwärtig bestehenden Institutionen so verschiedenen Völker der österreichisch-ungarischen Monarchie sind nur allein unter dem Druck der dynastischen 28 Az 1875-dik évi augusztus 28-ára hirdetett országgyűlés képviselőházának naplója XI, p. 262-265 29 Vgl. Mikszáth, Kálmán: Cikkek és karcolatok. Bd. 3: 1877. Hg. von Gyula Bisztray. Budapest: Akadémiai Kiadó 1968 (= Mikszáth Kálmán Összes Művei, Bd. 53), pp. 58 f. „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“ 113 Idee ausgleichbar und miteinander in Harmonie zu bringen, da sich im Reiche ein einheitlicher, alle Verhältnisse des staatlichen Daseins durchdringender gemeinsamer Geist nicht einzubürgern vermochte. Das dynastische Prinzip oder eigentlich die Dynastie selbst ist daher jener unerschütterliche Fels, der die einzig feste Grundlage des österreichisch-ungarischen Staatsorganismus zu dessen weiterer einheitlicher Entwicklung bildet. Das höchste staatliche Interesse erfordert daher, dass der dynastische Gedanke nicht nur unversehrt erhalten bleibe, sondern dass er immer mehr und mehr zur Geltung gelange, auch in seinen äußeren Kennzeichen immer sichtbarer in den Vordergrund trete. 30 Organisatorische Veränderungen an der dualistischen Staatsordnung, die Stärkung der monarchischen Kompetenzen und die Erweiterung der Befugnisse der gemeinsamen Ministerien schwebten Kállay mit der geplanten Besitznahme Bosnien-Herzegowinas vor. Zum Anlass derartiger Umstrukturierungen wurde der Aufbau der dortigen Verwaltung als unmittelbare Reichsprovinz im Wirkungskreis des gemeinsamen Gesamtministeriums gesehen. „Der langwierige Übergang von der Barbarei zur Zivilisation“ sollte ohne Einführung der Prinzipien des Konstitutionalismus und der Volksvertretung unter einer von dem Monarchen eingesetzten zivilen Regierung stattfinden, damit der Verdacht der Schaffung einer neuen Militärgrenze zur Überwindung des Misstrauens der von den regierenden Liberalen aufgebrachten österreichischen und ungarischen Öffentlichkeit gebannt würde. Kállays Vorstellung von Modernisierung war bereits damals die Bevorzugung eines organischen Umwandlungsprozesses, der „den Eintritt der natürlichen Entwicklung abwartet“ und mit einem pragmatisch reduzierten Fortschritt die doktrinäre Befolgung der europäischen Muster, insbesondere die übereilte Übernahme des Rechtssystems und der Institutionen vermeidet. 31 Seine Parlamentserfahrungen während der Orientkrise, die emotionale außenpolitische Einstellung der ungarischen politischen Elite und ihr zwiespältiges Verhältnis zur Großmachtstellung der Monarchie führten zu seiner Überzeugung, die lähmende nationalstaatliche Institution zu verlassen und sich wieder in den Dienst der gemeinsamen Außenpolitik zu begeben, was ihm Handlungsspielraum zur erfolgreichen Behandlung des südslawischen Problems auf dem Balkan eröffnen sollte. Der Ausgang des russisch-türkischen Krieges Ende 1877 schockierte indes die ungarische Öffentlichkeit. Die Verbitterung wegen der osmanischen Niederlage, die Kritik der passiven Außenpolitik und die Entrüstung über die zeitgleiche Be- 30 Vgl. Wertheimer, Eduard: Ein ungedrucktes Memorandum Benjamin von Kállays über die Annexion Bosniens. In: Ungarische Rundschau für historische und soziale Wissenschaften 3 (1914), nr. 2, p. 427. 31 Ibid., pp. 428 f. u. 434. 114 Imre Ress schränkung des Versammlungsrechts kamen in einem neuen Organisationsrahmen, aber mit alten emotionalen Akzenten zur Geltung. Aufgrund behördlicher Hindernisse wurden die politischen Versammlungen und Straßenkundgebungen spärlicher, aber das humanitäre Mitleid für die besiegten Türken bewegte die gesamte ungarische Gesellschaft. Ab Anfang 1878 gab es während der gesamten Faschingssaison keine einzige öffentliche aristokratische oder bürgerliche Veranstaltung, bei der nicht bedeutende Spenden für die verwundeten Soldaten des Sultans und für die Hilfe der aus den russisch besetzten Gebieten geflohene halbe Million hungernder Muslime gesammelt wurden. 32 Die drohende humanitäre Katastrophe im Osmanischen Reich verstärkte in bedeutendem Maße die negative Einstellung der ungarischen Gesellschaft gegenüber den inzwischen auf 150.000 Flüchtlinge angewachsenen bosnischen Christen. Gegen die auf Staatshilfe basierende flüchtlingspolitische Praxis der ungarischen Regierung wandten sie ein, dass die arbeitsscheue, träge bosnische Masse, die sie mit den unvorteilhaften nationalen Stereotypen der Serben brandmarkte, seit Jahren durch den Schweiß und Fleiß des schwer besteuerten armen ungarischen Volkes versorgt werde. Ihren Aufenthalt in der Monarchie hielt man für einen Risikofaktor, der sowohl für die Unterstützung der Expansionsbestrebungen der Serben in Anspruch genommen als auch für die Erfüllung der Eroberungsambitionen der südslawischen Generäle des gemeinsamen Heeres in Bosnien-Herzegowina benutzt werden könne. 33 Die Turkophilie, die Russenangst und der Serbengroll der ungarischen Elite wirkten auch in der Vorbereitungsphase der neuen Friedensordnung Südosteuropas kräftig und übereinstimmend dem sich abzeichnenden bosnischen Okkupationsvorhaben der Monarchie entgegen, doch die parallel gestellten Zusatzforderungen wichen von den bisherigen ab. Vor allem ängstigte die übermächtige russische Militärpräsenz am östlichen Balkan bzw. in Rumänien sowohl die regierenden Liberalen als auch die parlamentarische Opposition, weshalb ihnen das zukünftige Schicksal Bosniens und der Herzegowina infolge der potentiellen russisch-rumänischen Gefährdung Siebenbürgens als ein nicht dringliches, son- 32 Vgl. Fővárosi Lapok, Januar-Februar 1878, nr. 4, p. 49; Révész, T. Mihály: A gyülekezési jog magyarországi fejlődéséhez. In: Mezey, Barna (Hg.): Ünnepi Tanulmányok Kovács Kálmán egyetemi tanár emlékére. Budapest: Gondolat 2005, pp. 105-119, hier p. 114f. 33 Vgl. Pesti Napló, 03. 01. 1878; A bosnyák menekültekről. In: Borsszem Jankó, 28. 04. 1878, p. 4; Fővárosi Lapok, 18. 07. 1878, p. 799; Schwartz, Michael: Ethnische ‘Säuberungen’ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jh. München: Oldenbourg 2013 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 95), pp. 254-264; Tamás, Ágnes: Nemzetiségek görbe tükörben. 19. századi nemzetiségi sztereotípiák Magyarországon. Bratislava: Kalligram 2014, pp. 336-339. „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“ 115 dern zweitrangiges Problem erschien. 34 Die ungarischen Konservativen wollten schon aus prinzipiellen Gründen die Zugehörigkeit der beiden Provinzen zum Osmanischen Reich bewahren. Der liberal-demokratische Flügel der Unabhängigkeitspartei um Lajos Kossuth und Lajos Mocsáry hingegen hielt ihre geteilte Vereinigung mit Serbien und Montenegro für akzeptabel, um einen regionalen nationalstaatlichen Umgestaltungsprozess durch Einbindung Ungarns für die Zukunft offenzuhalten. Die Ablehnung der territorialen Expansion kam aber in keinem politischen Lager vollkommen zur Geltung; mehr noch, mit dem Näherrücken der Okkupation wurden auch über die Grenzen von Bosnien und der Herzegowina hinausgehende Gebietsansprüche formuliert. In den Reihen der Konservativen plädierte das während der Orientkrise pro-annexionistisch eingestellte katholische Zentralblatt, Magyar Állam [Ungarischer Staat] auch für die Besitznahme des katholisch bewohnten Nord-Albaniens. 35 Kálmán Mikszáth, der geistreich-ironische Darsteller der königstreuen Österreich-Feindlichkeit der 1848er-Mentalität in Ungarn, der sehr viel gegen den „sauren Apfelbiss“ der Okkupation wetterte, machte indes unter dem Eindruck der nach Süden marschierenden Armee eine überraschende Kehrtwende: Aber wenn unsere tapfere Monarchie schon erobern möchte, erobere sie doch auch Serbien. Bosnien wird ein ekelerregender Buckel an ihrem Körper sein, aber wenn sie Serbien angliedert, wird sie die Lücken ausgleichen, ihr Körper wird muskulöser und athletisch. Serbien, zusammen mit Bosnien an das österreichisch-ungarische Reich gegliedert und gebändigt, wird in Zukunft einen starken Schutzdeich gegen die slawischen Strömungen bilden. […] Also dahin mit diesen zweihundert Tausend Soldaten! […] Es wird keine einzige Träne fallen, es wird kein Murren und keine bedrückende Beschwerde geben, sondern wo immer die Fahnen des gegen Serbien ziehenden Reichsheeres vorbeimarschieren, werden sich die dreifarbigen Flaggen beugen und ihnen fröhlich zuwinken. 36 Diese schriftstellerische Vision, der jahrelang herbe Kritiken an der Russenfreundlichkeit und den hochtrabenden Ambitionen der verschmähten „Schwei- 34 „Erheben wir keine Waffe gegen den Hasen, wenn der Bär auf uns losstürzt”, lautete die Warnung im von Jókai redigierten regierungsnahen Tagesblatt A Hon v. 06. 03. 1878; vgl. Hegedüs, Lóránt: Lord Beaconsfield politikai ügynökének jelentései gróf Andrássy Gyula és Tisza Kálmán politikájáról a keleti válság idejében. In: Századok, Pótfüzet 71 (1937), pp. 579-599. 35 Vgl. Pal 2001, pp. 124 f. u. 130 f.; Magyar Állam, 08. 07. 1878. 36 Mikszáth, Kálmán: Ki ellen? In: Szegedi Napló, 24. 08. 1878. In: Ders.: Cikkek és karcolatok. Vol 5: 1878. Hg. von József Nacsády. Budapest: Akadémiai Kiadó 1966 (= Mikszáth Kálmán Összes Művei 55), pp. 75 ff.- Vgl. Hajdu, Péter: Hungarian Writers on the Military Mission of Austria-Hungary in the Balkans. Viceroy Kállay and Good Soldier Tömörkény . In: Hungarian Studies 21 (2007), nr. 1-2, pp. 297-300. 116 Imre Ress nehändler-Nation” der Serben vorangingen, offenbarte die begehrte seelische Versöhnung mit der Monarchie und ihrer verhassten Armee, damit der rational sinnvolle, doch nicht geliebte Ausgleich von 1867 als Garant des einheitlichen, nationalstaatlichen Fortbestehens der Länder der Krone des Heiligen Stephan von der ungarischen Gesellschaft auch emotionell akzeptiert werde. 37 Nach langem Zögern fügte sich die liberale Regierung in Budapest aufgrund der machtpolitischen Zwänge dem geringeren Übel. Sie nahm mit dynastischer Loyalität die in der Wiener Reichszentrale gefallene Entscheidung über die Besitznahme Bosniens und der Herzegowina an, doch für die Beschwichtigung der türkenfreundlichen Gemüter wurde als Vorbedingung der kommenden militärischen Intervention die osmanische Einwilligung vorausgesetzt. Obwohl Andrássy am Berliner Kongress diesen ungarischen Anspruch nicht klar zur Geltung bringen konnte, 38 rief die zur Gewinnung der öffentlichen Meinung gestartete Pressekampagne dennoch eine optimistische Zuversichtlichkeit hervor, wonach „die ungarische Waffe nicht mit dem Bajonett des tapferen Nizams aneinanderschlagen wird.“ 39 Die Turkomanie erfasste auch die ungarischen Regimenter des Heeres, und die Strophen des beliebten Klapka-Marsches, die „zum Schutz der Heiligen Freiheit und des süßen Vaterlands“ zur Waffe riefen, wurden angesichts des bevorstehenden Militäreinsatzes mit folgendem Inhalt aktualisiert: Fürs Vaterland wird unser treues Blut vergossen Der Türke ist ein Freund, wir schwören: wird nicht angefochten. 40 Die allgemein zuversichtliche Gemütslage wandelte sich schon zu Beginn der Okkupation mit dem vernichtenden muslimischen Überfall auf ungarische Husaren bei Maglaj 41 in tiefe Enttäuschung und wahre Empörung, die bei den laufenden Reichstagwahlen den regierenden Liberalen schwere Stimmenverluste zufügten. Auch die überraschenden Wahlniederlagen des Ministerpräsidenten Kálmán Tisza und des populären Schriftstellers Mór Jókai in ihren angestammten Wahlbezirken Debrezin und Budapest-Josefstadt waren eindeutig die Rache 37 Vgl. Mikszáth, Kálmán: Cikkek és karcolatok. Bd. 3: 1877. Hg. von Gyula Bisztray. Budapest: Akadémiai Kiadó 1968 (= Mikszáth Kálmán Összes Művei 53), pp. 27-28, 48, 99 f., 110; Csukás, István: Mikszáth gondolatai a nemzetiségi kérdésről. In: Acta Historiae Litterarum Hungaricarum 20 (1984), pp. 9-12. 38 Vgl. Diószegi 1999, p. 411f. 39 Ellenőr , 28. 06. 1878. 40 Zit. n. Tóth, József: Bosznia-Hercegovina okkupálásának belpolitikai vonatkozásai. Budapest: Phil. Diss. der Loránd-Eötvös-Universität 1971, p. 72. 41 Vgl. dazu den Beitrag von Clemens Ruthner ( Besetzungen I ) im vorl. Sammelband. „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“ 117 der Wähler für Maglaj und die Okkupation. 42 Nach den Wahlen wurden die am Ruder gebliebenen Liberalen geschwächt, von prominenten Politikern verlassen und innerlich so tief gespalten, dass die Gesetze über die staatsrechtliche Stellung und Verwaltung der okkupierten Provinzen im ungarischen Parlament nur durch die Stimmen der kroatischen Abgeordneten mit minimaler Mehrheit angenommen wurden. Um die Regierungspartei vor weiteren Zerreißproben zu bewahren, kümmerte sich die ungarische Politik eine Zeitlang fast ausschließlich um die Vermeidung oder Minimalisierung weiterer finanzieller Belastungen. 43 Allein die literarische Autorität Mór Jókai wagte die Okkupation Bosniens und der Herzegowina öffentlich als vorteilhaft hinzustellen und moralisch zu rechtfertigen. Anlässlich der silbernen Hochzeit des Herrscherpaares verkündete Jókai in seinem Vortrag im Wiener Akademischen Leseverein das Erwachen eines bisher fehlenden Monarchie-Patriotismus als den größten Gewinn „des kleinen Feldzugs nach Bosnien“ und bezeichnete die vereinigende Kraft der gemeinsamen Armee für Verhaltensmuster der nationalen Intelligenzschichten. Der Redner wurde in Wien stürmisch gefeiert, in den meisten ungarischen Zeitungen jedoch scharf verurteilt, und musste nach seiner Heimkehr in Budapest vor aufgebrachten studentischen Demonstranten mit Polizeigewalt verteidigt werden. 44 Diese Affäre ist ein eindeutiger Beweis dafür, dass die ungarische Öffentlichkeit, von den massenhaft besuchten oppositionellen Protestkundgebungen beeinflusst, weiterhin gegen die Okkupation eingestellt war. Auch die im Herbst 1878 abgehaltenen Trauergottesdienste für die gefallenen Soldaten hatten einen ausgesprochenen Protestcharakter gegen die schwarz-gelben Militäroperationen in Bosnien-Herzegowina, mit denen sich die ungarische Bevölkerung nicht solidarisierte. 45 42 Vgl. [Sebők, Zsigmond]: K—e. Jókai fővárosi választásai. In: Új Idők 3 (1897), nr. 3, p. 69. 43 Vgl. Mikszáth, Kálmán: Cikkek és karcolatok 7: 1879. Hg. von József Nacsády. Budapest: Akadémiai Kiadó, 1968 (= Mikszáth Kálmán Összes Művei 57), p. 131; Kozári, Mónika: Ghyczy Kálmán naplója az 1878-as boszniai válságról Világtörténet 1996 (tavasz-nyár), pp. 62-71; Fónagy, Zoltán: Bosznia-Hercegovina integrációja az okkupáció után. Hatalompolitika és modernizáció a közös minisztertanácsi jegyzőkönyvek tükrében. In: Történelmi Szemle 56 (2014), nr. 1, pp. 30 f. 44 Vgl. [Anonym]: Moriz Jokai in Wien. In: Neue Freie Fresse, Abendblatt , 21. 04. 1879, p. 2.; Jókai bécsi pohárköszöt ője, Fővárosi Lapok, 30. 04. 1879, p. 483; Gángó, Gábor: Jókai Mór és Rudolf trónörökös barátsága . In: Irodalomtörténet 84 (2003), nr. 3, p. 387. 45 Vgl. Vasárnapi Újság, 29 09. 1878, p. 624; Mikszáth, Kálmán: Cikkek és karcolatok 6: 1879. január-június. Hg. von József Nacsády. Budapest: Akadémiai Kiadó 1967 (= Mikszáth Kálmán Összes Művei 56), p. 235. 118 Imre Ress Im Lichte des aufgeregten Widerstands und der andauernden Abneigung in Ungarn gegen die Besitznahme Bosniens und der Herzegowina ist eine paradoxe Eigenheit unbedingt zu bemerken: nämlich dass die beiden Provinzen während ihrer vierzigjährigen Zugehörigkeit zur Doppelmonarchie mehr als drei Jahrzehnte lang von ungarischen Ministern regiert wurden. Die langfristige Übernahme der Leitung des für Bosnien-Herzegowina zuständigen gemeinsamen Finanzministeriums erfolgte aus der gewohnheitsrechtlichen Praxis der dualistisch-paritätischen Besetzung der beiden gemeinsamen Zivilministerposten, wonach einer zwangsläufig immer ein Ungar sein sollte. Nach dem Rücktritt des Außenministers Andrássy im Oktober 1879 wurde sein Nachfolger ein österreichischer Berufsdiplomat, wodurch ermöglicht wurde, dass an die Spitze des gemeinsamen Finanzministeriums, dessen Befugnis sich schon auf die Verwaltung der frisch erworbenen südslawischen Länder erstreckte, ein Ungar berufen wurde. Der beim Monarchen bestens angeschriebene scheidende Minister legte selbst mit der Bestimmung der fälligen Personalentscheidungen die Schienen für die künftige Bosnienpolitik und ließ die aufgrund des dualistischen Gewohnheitsrechts den Ungarn zustehenden zwei anderen Wiener Schlüsselpositionen, die des Sektionschefs im Außenministerium und des gemeinsamen Finanzministers, mit seinen eigenen Kandidaten besetzen. Den Posten eines Sektionschefs am Ballhausplatz erhielt Benjamin v. Kállay, der damit für die Angelegenheiten des Balkans und Orients verantwortlich wurde. In dieser Position spielte er bei der Entstehung der mit Serbien abgeschlossenen politischen und wirtschaftlichen Verträge sowie beim Zustandekommen der Vereinbarung mit dem Patriarchen von Konstantinopel über die Stellung der bosnisch-herzegowinischen Orthodoxie eine entscheidende Rolle. Zum gemeinsamen Finanzminister wurde 1880 ein prominenter Vertreter der alten Garde (d. h. der Deák-Partei, die den Ausgleich zustande gebracht hatte), nämlich der frühere Ministerpräsident József Szlávy ernannt. Der erfahrene Wirtschaftsfachmann war in den südslawischen Verhältnissen überhaupt nicht bewandert und erwies sich beim Umbau der Militärherrschaft über Bosnien-Herzegowina zu einer funktionierenden Zivilverwaltung als überfordert. Den durch die Einführung des Wehrgesetzes ausgelösten Aufstand in der Herzegowina nahm die von der liberalen Regierungspartei dominierte ungarischen Delegation zum Anlass, mit der Verkürzung der für die Niederwerfung verlangten zusätzlichen Militärausgaben den eigenen angeschlagenen Parteigenossen Szlávy zu stürzen. Mit diesem ungewöhnlichen Vorgehen wollte der Ministerpräsident Kálmán Tisza, seinen gräflichen Kandidaten - dem liberalen Kultuspolitiker Albin Csáky oder dem Agrarier Pál Széchényi - die Übernahme des gemeinsamen Finanzministeriums ermöglichen und dadurch eine effektive „Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“ 119 Mitsprache der ungarischen Regierung in der Bosnien-Politik sichern. Die Wiener Reichszentrale favorisierte indes den im diplomatischen Dienst bewährten Südslawen-Experten Benjamin Kállay, der nach dem Machtwort des Monarchen beim ungarischen Regierungschef zum gemeinsamen Finanzminister berufen und mit der Oberaufsicht der Verwaltung Bosniens und der Herzegowina betraut wurde. 46 46 Vgl. Ress, Imre: A közös minisztériumok szerepe a magyar államéletben 1867-1900. In: Limes 11 (1998), nr. 1, pp. 25-31; Ders.: Ungarn im gemeinsamen Finanzministerium. In: Fazekas, István/ Újváry, Gábor (Hg.): Kaiser und König. Eine historische Reise. Österreich und Ungarn 1526-1918. Wien: Collegium Hungaricum 2001, p. 89-93; Goreczky, Tamás: Kállay Béni és a magyar delegáció az 1880-as években. In: Fons 10 (2007/ 3), pp. 431-434. ÜBERNAHMEN Besetzungen (1) 123 Besetzungen (1) Die Invasoren und Insurgenten des Okkupationsfeldzugs 1878 im kulturellen Gedächtnis Clemens Ruthner (Dublin/ Ljubljana) Tamara Scheer gewidmet So sieht die Wiener satirische Wochenzeitschrift Die Bombe vom 28. Juli 1878 (Abb. 2) den Okkupationsfeldzug in Bosnien-Herzegowina, der in jenen Tagen begann: Den österreichisch-ungarischen Oberkommandierenden flankie- Abb. 2. Karikatur des bekannten Budapester bzw. Wiener Zeichners László von Frecskay (1844-1916) zur Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878. 124 Clemens Ruthner ren drei halbnackte Frauengestalten, von deren Kopfbedeckungen geschlossen werden kann, dass sie die drei großen Volksgruppen des Landes - Katholiken, Orthodoxe und Muslime - repräsentieren sollen. Sie bieten dem Invasor Geschenke wie z. B. Rosenöl dar, während zu ihren Füßen Schweine wegrennen, die die weibliche Grazie des ganzen Aufzugs zu konterkarieren scheinen: ein ironischer Hinweis, dass es sich bei jenem „Okkupationsgebiet“ - mit Georg Britting gesprochen 1 - um einen (balkanischen) „Bauern-Orient“ mit frei laufenden unreinen Tieren handelte? Die Karikatur zeigt aber nicht nur, wie Bosnien-Herzegowina von allem Anfang an populär und wissenschaftlich orientalisiert wurde; 2 auch das gendering bzw. die unterschwellige Erotisierung der militärischen Eroberung kommt nicht von ungefähr. Sara Suleris Bemerkung, wonach sich der europäische Kolonialismus einer der sexualisierten Bildlichkeit von erotischer ‘Erweckung’ bis hin zu „geografic rape“ bediene, 3 kann dafür sicher herangezogen werden. 4 Denn auch der Text des Berliner Journalisten Heinrich Renner, der fast zwanzig Jahre nach der Okkupation erscheint, verwendet eine einschlägige Mann-Frau-Metaphorik: Dem grossen Publikum blieben […] diese Gefilde gänzlich unbekannt; das bosnische Dornröschen schlief noch den jahrhundertelangen Zauberschlaf und fand seine Auferstehung erst, als die kaiserlichen Truppen die Grenzen überschritten und die neue Aera einleiteten. Jetzt wurde das Dickicht, das um Dornröschens Schloss wucherte, gelichtet und nach rastloser und schwerer Arbeit von nicht zwei Jahrzehnten steht Bosnien bekannt und geachtet vor der Welt. 5 Renners Märchen-Rhetorik erzählt nachträglich die success story der k. u. k. mission civilatrice 6 . Bosnien wird zu einer Art orientalischer Sleeping Beauty stilisiert, ein Dornröschen, das verflucht bzw. vergiftet durch das Osmanische Reich, 1 Zit. nach Sirbubalo, Lejla: “Sie vertrugen sich auch, Allahs Moschee und der Baum meiner Kindheit”. Georg Brittings Bosnien-Bilder. In: Kakanien revisited , http: / / www.kakanien. ac.at/ beitrag/ fallstudie/ LSirbubalo1.pdf (2011), p. 4. 2 Vgl. dazu den Beitrag von Johannes Feichtinger im vorl. Sammelband, der sich auch auf die nämliche Karikatur bezieht. Wir danken ihm herzlich dafür, die Illustration beigesteuert zu haben. 3 Suleri, Sara: The Rhetoric of English India, Chicago: Univ. of Chicago Pr. 1992, p. 15ff 4 Vgl. Abb. 1 (p. 77 des vorl. Sammelbands), die den Balkan und die Türkei als homosozial-männlichen Raum imaginiert, der ohne Semantik des Weiblichen auskommt. 5 Renner, Heinrich: Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer. Wanderungen von H.R. Berlin: Reimer 1896, p. V. 6 Vgl. dazu Fónagy, Zoltán: Machtpolitik oder Kulturmission? Überlegungen zur Integration und Modernisierung von Bosnien und Herzegowina nach der Okkupation. Online: http: / / www.tankonyvtar.hu (2010); Feichtinger, Johannes: Modernisierung, Zivilisierung, Kolonisierung als Argument. Konkurrierende Selbstermächtigungsdiskurse in der späten Habsburgermonarchie. In: Dejung, Christof / Lengwiler, Martin (Hg.): Ränder der Moder- Besetzungen (1) 125 von Europa bzw. einem Habsburger Prinzen aus seinem Koma wachgeküsst wird (während die obige Titelillustration der Bombe eher eine Vielvölker-Haremsphantasie artikuliert) - ein happier ending? Das hartnäckige Klischee von Tu Felix Austria Nube (eine wichtige Ingredienz des habsburgischen Mythos) will es ja auch, dass der österreichische Imperialismus nicht unbedingt als sehr gewalttätig und invasiv gilt, sondern eher für Multikulturalismus, geschickte Diplomatie und (Heirats-)Politik steht 7 - Instrumente, die im Laufe des langen 19. Jahrhunderts freilich immer stumpfer werden, wie die Situation in Oberitalien und Deutschland 1848 - 1866 zeigt. Ein weiterer Fall ist die Okkupation Bosnien-Herzegowinas im Sommer und Herbst 1878, wo die Früchte eines jahrelangen außenpolitischen ‘Antichambrierens’ schließlich doch durch einen Großeinsatz der k. u. k. Armee eingebracht werden mussten, der freilich von keinen gastfreien Frauengestalten begrüßt wurde. In diesem Sinn soll nun im Folgenden der im kulturellen Gedächtnis der sog. Nachfolgestaaten weitgehend ausgeblendete, ja verdrängte österreichisch-ungarische „Occupationsfeldzug“ von 1878 thematisiert werden, 8 der auf das Mandat ne. Neue Perspektiven auf die europäische Geschichte (1800-1930). Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2016 (= Peripherien. Neue Beitr. zur Europ. Geschichte 1), pp. 147-181. 7 Vgl. dazu etwa Parvev, Ivan: „Du, glückliches Österreich, verhandle“. Militär versus Diplomatie in der habsburgischen Südosteuropa-Politik, 1739-1878. In: Kurz, Marlene et al. (Hg.): Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Wien: ÖAW 2005 (= Mitteilungen des Inst. für Österr. Geschichtsforschung, Erg.bd. 48), pp. 539-550. 8 Der Okkupationsfeldzug von 1878 wird auch in der Habsburg-Sekundärliteratur selten thematisiert. Unter den wenigen Titeln ist die einzige umfassende Arbeit jene von Bencze, László: The Occupation of Bosnia and Herzegovina in 1878 [ungar. EA 1987] . Hg. v. Frank N. Schubert. Boulder: Social Science Monografs et al. 2005 (= War and Society in East Central Europe XXXIX). Vgl. weiters Ströher, Doris: Die Okkupation Bosniens und der Herzegovina und die öffentliche Meinung Österreich-Ungarns. Wien: Phil. Diss. (unveröff.) 1949; Gavranović, Berislav (Hg.): Bosna i Hercegovina u doba austrougarske okupacije 1878. godine. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1973; Posebna izdanja akademija nauka i umjetnosti BiH [Sarajevo] 43 (1979); Donia, Robert: The Habsburg Imperial Army in the Occupation of Bosnia and Hercegovina. In: Király, Béla / Stokes, Gale (Hg.): Insurrections, Wars and the Eastern Crisis in the 1870s. Boulder, New York: Columbia Univ. Press 1985 (= East European Monografs), pp. 375 -391; Baer, Fritz H.: Pulverfass Balkan Bosnien-Herzegowina. Teil 2: Weder die Türken noch die Russen am Westbalkan. Österreich-Ungarn beruhigt als Ordnungsmacht ( = Militaria austriaca [Wien] 12 [1993]); Stergar, Rok: Slovenci in vojska, 1867-1914. Slovenski odnos do vojaških vprašanj od uvedbe dualizma dozačetka 1. svetovne vojne. Ljubljana: Verlag der Phil. Fak. 2004 (= Historia 9), insbes. pp. 87-141; Schindler, John: Defeating Balkan Insurgency. The Austro-Hungarian Army in Bosnia-Hercegovina, 1878-82. In: Journal of Strategic Studies 27(2004), pp. 528-52; Wohnout, Helmut: Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878. In: Neumayer, Christoph / Schmidl, Erwin A.: Des Kaisers Bosniaken. Die bosnisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. Wien: Verl. Militaria - Ed. Rest 2008, pp. 14-38; Gabriel, Martin: „Wir führen einen Krieg, wo man auf Gnade 126 Clemens Ruthner hin erfolgte, das die Habsburger Monarchie auf dem Berliner Kongress kurz zuvor im Juli verliehen bekam. Die Besetzung Bosnien-Herzegowinas verlief aber keineswegs reibungslos, wie noch das Titelblatt der Bombe insinuieren möchte, sondern sie war die blutige Militärintervention einer Großmacht: „Nicht unerwähnt mag hierbei bleiben“, schreibt einer der Veteranen im Rückblick, „daß die Besitzergreifung der Herzegowina, bei uns offiziell euphemistisch Okkupation genannt, keineswegs ein bewaffneter Spaziergang 9 war, sondern einen harten Kampf darstellte“; angesichts der erlittenen Verluste sei es adäquater, „von einer Eroberung […] zu sprechen“. 10 Diesen blinden Fleck der post/ imperialen memoria wieder einer erneuten Erinnerungsarbeit anheim zu geben, wäre ein Beitrag zu einer gemeinsamen Vergangenheitsbewältigung in Österreich wie auf dem Westbalkan, die auch die Geschichte kollektiver Gewalt in der Region lange vor dem Zweiten Weltkrieg mit einbezieht. Die k. u. k. Invasionsarmee, die unter Führung des kroatischen Feldzeugmeisters (FZM) 11 Joseph Philippovich v. Philippsberg vom Norden her aus Slawonien (XIII. Armeekorps) und vom Süden her aus Dalmatien unter Feldmarschalleutnant Stephan von Jovanović (18. Division) einrückte, musste zwischenzeitlich stark aufgestockt werden; 12 sie war am Schluss ihrer Kampagne zahlenmäßig in etwa so stark wie das im zweiten Irak-Krieg 13 (2003) eingesetzte amerikaninicht hoffen darf…“ Irreguläre Kriegführung bei der Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878. In: Kakanien revisited , www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ MGabriel1. pdf (2010); Ders.: Die Einnahme Sarajevos am 19. August 1878. Eine Militäraktion im Grenzbereich von konventioneller und irregulärer Kriegsführung. In: Kakanien Revisited, http: / / www.kakanien-revisited.at/ beitr/ fallstudie/ mgabriel3.pdf (2011); Ders.: Ambivalent Perceptions. Austria-Hungary, Balkan Muslims, and the“Occupation Campaign“ in Bosnia and Hercegovina (1878). In: Šistek, František (Hg): Central Europe and Balkan Muslims. Relations and Representations. New York: Berghahn i.V. [2018/ 19]. 9 Diese Metapher spielt auf eine Aussage an, die immer wieder Julius (Gyula) Andrássy in den Mund gelegt wurde: „Mit einer Kompagnie, die Regimentsmusik voran“, zitiert etwa ein anderer Veteran die gefügelten Worte des k. u. k. Außenministers, vgl. Spaits, Alexander: Der Weg zum Berliner Kongress. Historische Entwicklung Bosniens und der Herzegowina bis zur Okkupation 1878. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1907 (= Unsere Truppen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Einzeldarstellungen I), p. 83. Vgl. auch Wertheimer, Eduard von: Graf Julius Andrássy. Sein Leben und seine Zeit. Bd. 3. Stuttgart: DVA 1910-1913, p. 153; Fournier, August: Wie wir zu Bosnien kamen. Eine historische Studie. Wien: Reisser 1909, p. 77; sowie Wohnout, 2008, p. 22. 10 Woinovich, Emil v. (FML): In der Herzegowina 1878. Skizzen […]. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1908, p. 2; vgl. etwa auch Fournier 1909, p. 79.- Auch ein späterer Historiker schreibt lakonisch: „the occupation […] turned into a conquest“ (Pavlowitch, Stevan K.: A History of the Balkans, 1904-1945. London, New York: Longman 1999, p. 116). 11 Ein Generalsrang in der k. u. k. Armee. 12 Vgl. Bencze 2005, p. 200ff. 13 Diesen Konnex zwischen Okkupation und Irak-Krieg macht auch ein amerikanischer Historiker; vgl. Sethre, Ian: The Emergence and Influence of National Identities in the Era Besetzungen (1) 127 sche Truppenkontingent. 14 Dennoch benötigte diese stattliche Streitmacht fast drei Monate, nämlich von 29. Juli bis 20. Oktober 1878, um das Territorium zu erobern, denn sie stieß fast allerorts auf den erbitterten Widerstand von sog. „Insurgenten“, wie dies damals schon offiziell hieß; dabei handelte es sich vor allem um eilig zusammengetrommelte Milizen der Einwohner, die sich von der Hohen Pforte im Stich gelassen, ja verkauft fühlten. 15 In Sarajevo hatte sich nach Agitation des berühmt-berüchtigten radikalen Derwisches Hadschi Loja (Hadži Lojo, eigentlich: Salih Vilajetović) 16 , der - wie ein österreichischer Zeitzeuge schreibt - „unter der halbwilden [! ] Bevölkerung Bosniens Ansehen und Vertrauen“ genoß 17 - ein „Aktionskomitee“ der Aufständischen konstituiert, ebenso in Mostar: provisorische Regierungsorgane, die in einer merkwürdigen Mischung aus alter Oligarchie 18 und neuer Basisdemokratie versuchten, im allgemeinen Chaos des Machtwechsels eine Territorialverteidigung zu orof Modernization: Nation-Building in Bosnia and Herzegovina, 1878-1914. In: Kakanien revisited , www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ ISethre1.pdf (2004), p. 1. Reprint in: Ruthner, Clemens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878-1918. New York et al.: P. Lang 2015 (= Austrian Culture Series 41), pp. 41-66, hier p. 41. Vgl. auch Schindler 2004. 14 Malcolm, Noel: Bosnia. A Short History. New York: Pan Macmillan 1996, 2002, p. 135, zählt nur 82.000 Soldaten im k. u. k. Expeditionskorps und 40.000 Widerstandskämpfer auf der bosnisch-herzegowinischen Seite. Offizielle österreichische Quellen indes sprechen Mitte Okt. 1878 von rund 200.000 bzw. 280.000 eingesetzten Soldaten und schätzen den Gegner auf 93.000 Mann; cf. das Themenheft der Militaria Austriaca 12 (1993), p. 34. Bencze 2005, p. 295f., geht von einer Aufstockung von 79.000 auf 270.000 Mann und von 112 auf 276 Kanonen auf Seiten der k.u.k. Armee aus. 15 Helmut Wohnout sieht den Grund für diesen unerwartet starken Widerstand darin, dass die k. u. k. Außenpolitik den bevorstehenden Einmarsch im Voraus via die Generalkonsulate an die opinion leaders Bosnien-Herzegowinas kommuniziert habe, in der Hoffnung auf deren Kooperation; dabei hätte man freilich den „hohen Grad“ einer bereits bestehenden Bewaffnung und Militarisierung der örtlichen Muslime nach den kriegerischen Ereignissen von 1875/ 76 unterschätzt, der den Aufstand gegen die Okkupation leicht machte (vgl. Wohnout 2008, p. 23). 16 Dieser historische Akteur würde sich aufgrund seiner volksmythologischen Überhöhung, die diverse Spuren im kulturellen Gedächtnis Österreich-Ungarns hinterlassen hat (wie z. B. den Namen für ein Kümmelbrötchen), durchaus eine eigene detailreiche Studie verdienen. Vgl. Plaschka, Richard Georg: Avantgarde des Widerstands. Modellfälle militärischer Auflehnung im 19. und 20. Jahrhundert. Wien: Böhlau 2000, vol. 1, pp. 90 ff.; Wölfl, Adelheid: Der bosnische ‘Kaiser’, der die Österreicher das Fürchten lehrte. In: Der Standard v. 29. 05. 2016, http: / / derstandard.at/ 2000037757126/ Der-bosnische-Kaiser-derdie-Oesterreicher-das-Fuerchten-lehrte; F.F. [Friedrich Franceschini? ]: Der ‘Held’ des bosnischen Aufstands. In: Die Gartenlaube 48 (1878), pp. 789-790. 17 Haardt, Vinzenz von: Die Occupation Bosniens und der Herzegovina nach verlässlichen Quellen geschildert. Wien: Hölzel 1878, p. 12f. 18 Vgl. Wohnout 2008, p. 21, der den Widerstand v. a. von der muslimischen Oberschicht des Landes getragen sieht - in Kooperation mit örtlichen Agitatoren und Klerikern. 128 Clemens Ruthner ganisieren. Die örtlichen osmanischen Kommandanten und Funktionäre wurden - mitunter gewaltsam - abgesetzt oder sie schlossen sich mit Teilen ihrer Truppen dem Aufstand gegen die Okkupation an. 19 Mit dieser Konstellation wird der Okkupationsfeldzug auch zu einem frühen Paradefall sog. hybrider Kriegsführung. 20 Jedenfalls kostete der dreimonatige Militäreinsatz Österreich-Ungarns einige tausend Opfer 21 auf beiden Seiten und führte zu einer Massenflucht 22 von zehntausenden Zivilisten, wobei die Zahlen je nach Quelle stark differieren. Die Forschungsmeinung differiert auch darüber, wie erfolgreich die Operation aus militärischer Sicht war: ob die unerwartet lange Dauer und der übergroße Einsatz an Menschen und Mitteln der effizienten Territorialverteidigung durch die „Insurgenten“ oder den „äußerst unvorteilhaft[en]“ „Geländeverhältnissen“, dem Fehlen einer modernen Verkehrsinfrastruktur bzw. einer passenden Gebirgsausrüstung für die Invasionstruppen geschuldet war. 23 Im kulturellen Gedächtnis der Habsburger Monarchie jedenfalls darf der Okkupationsfeldzug als erster und einziger großer militärischer Erfolg der k. u. k. Armee zwischen der Schlacht von Königgrätz 1866 und dem Ersten Weltkrieg gelten. 24 Dementsprechend sind ein nicht unbedeutender Prozentsatz aller erhalten gebliebenen österreichischen Bosnien-Texte patriotische Darstellungen jener ‘Heldentaten’, vor allem im Rahmen einer Veteranen-Erinnerungslitera- 19 Cf. Pinson, Mark: The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Historic Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia. Cambridge MA: Harvard Univ. Pr. 1994, p. 98; Malcolm 1996/ 2002, p. 134f.; Plaschka 2000, vol. 1, p. 90ff.; Bencze 2005, p. 99ff.; Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878-1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg 1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93), p. 37ff. 20 Vgl. dazu Gabriel i.V. 21 Die k. u. k. Verlustzahlen differieren stark: Zählt der eine Historiker 178 tote (Unter-) Offiziere und 5.000 Soldaten (Vrankić, Petar: Religion und Politik in Bosnien und der Herzegowina (1878-1918). Paderborn et al.: Schöningh 1998, p. 24f.), spricht der andere von 4.000 Gefallenen insgesamt (Bérenger, Jean: L’Autriche-Hongrie 1815-1918. Paris: A. Colin1994, p. 116), und Malcolm 1996/ 2002, p. 135, lediglich von 946. Am exaktesten sind wohl die österreichisch-ungarischen Verlustzahlen in Militaria Austriaca 12 (1993), wo von 983 Gefallenen und 3.984 Verwundeten die Rede ist (pp. 27, 36 f.) Über die bosnisch-herzegowinischen Verluste liegen keine verlässlichen Zahlen vor (vgl. ibid., p. 41). Wohnout 2008, p. 34, spricht von insgesamt ca. 6.000 Toten bei ca. 60 Zusammenstößen. 22 Die Zahl der Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina zur Zeit der österr.-ungar. Herrschaft beträgt je nach Quelle zwischen 50.000 und 300.000; cf. Pinson 1994, p. 92ff.; Malcolm 1996/ 2002, p. 139; Sethre 2004, p. 3. 23 Wohnout 2008, p. 24f.- Vgl. Malcolm 1996/ 2002: „given the appalling state of most of the roads, it is barely an exaggeration to say that the Austrian army conquered Bosnia in the time it took to walk through“ (p. 135). 24 Cf. Bérenger 1994, p. 116f. Besetzungen (1) 129 tur, 25 die v. a. zur Zeit der Annexion Bosnien-Herzegowinas 1908 erschien: ein Jahr, das zugleich - und nicht ganz zufällig - das 30-jährige Jubiläum der Okkupation markierte. Was für den Kulturwissenschaftler hier interessant ist, sind nicht unbedingt nur die vergessenen Ereignisse, Fakten und Zahlen, sondern insbesondere auch die Narrative der Okkupation und vor allem deren diskursive Legitimierung. 26 Wir müssen nämlich davon ausgehen, dass Bosnien-Herzegowina quasi zweifach besetzt wurde: nicht nur militärisch, sondern auch in einem semantischen Sinn, als „colonisation de l’imaginaire“, 27 indem schon in dieser Phase dem Land und seinen Leuten spezifische Bedeutungen zugeschrieben wurden, die das politische Programm der Habsburger Monarchie unterstützten. Dies ist insbesondere in Bezug auf die zum Einsatz kommenden Identitätspolitiken von Belang: d. h. die Art und Weise, wie hier österreichisch-ungarische Soldaten mit v. a. muslimischen und serbischen Aufständischen in Kontakt kommen - die freilich wie viele von ihnen selbst Südslawen sind! -, wie sie diese Erfahrung kategorisieren und im Rahmen eines vorherrschenden österreichisch-ungarischen Populärorientalismus 28 bzw. im Rahmen der von ihrem Kriegsherrn formulierten quasi-kolonialen mission civilatrice 29 narrativ verarbeiten. Zu fragen wäre freilich 25 Vgl. auch die Untersuchung slowenischer Veteranenberichte von 1878 bei Smolej, Tone: The Image of Bosnia and Herzegovina (1875—1882) in Slovene Literature. In: Blažević, Zrinka / Brković, Ivana / Dukić, Davor (Hg.): History as a Foreign Country / Geschichte als ein fremdes Land. Historical Imagery in the South-Eastern Europe/ Historische Bilder in Süd-Ost Europa. Bonn: Bouvier 2015 (= Aachener Beiträge zur Komparatistik 11), pp. 147-162. 26 Beispielhafte Analysen gibt es etwa auch im Beitrag von František Šístek im vorliegenden Sammelband. - Zum Verhältnis von Ereignis, Narrativ und Gedächtnis vgl. auch die Beiträge der beiden Herausgeber in Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg.): The Long Shots of Sarajevo 1914. Ereignis - Narrativ - Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016 (= Kultur Herrschaft Differenz 22), pp. 15-56. 27 Vgl. Gruzisnki, Serge: La colonisation de l’imaginaire. Sociétés indigènes et occidentalisation dans la Mexique espagnole, XVIIe-XVIIIe siècle. Paris: Gallimard 1988. 28 Eine ausführlich monografische Darstellung der existenten k. u. k. Orientalismen ist z. Zt. noch ein Desiderat. Erste Ansätze dazu etwa bei Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes: Uses of Orientalism in the Late 19th-Century Austro-Hungarian Empire. In: Hodkinson, James et al. (Hg.): Deploying Orientalism in Culture and History: From Germany to Central and Eastern Europe. Rochester: Camden House 2013, pp. 148-165. Vgl. auch Gingrich, Andre: Österreichische Identitäten und Orientbilder. Eine ethnologische Kritik. In: Dostal, Walter / Niederle, Helmut A. / Wernhart, Karl R. (Hg.): Wir und die Anderen. Islam, Literatur und Migration. Wien: WUV 1999, pp. 29-34. Vgl. außerdem den Beitrag von Johannes Feichtinger im vorl. Sammelband. 29 Zur „civilizing mission“ / „mission civilatrice“ als zentraler Ideologie zur diskursiven Legitimierung des Kolonialismus s. etwa Barth, Boris / Osterhammel, Jürgen (Hg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jh. Konstanz: UVK 2005; Mann, Michael: „Torchbearers Upon the Path of Progress“. Britain’s Ideology of a „Moral 130 Clemens Ruthner auch, wie - sofern rekonstruierbar - die bosnisch-herzegowinische Seite den traumatischen Zusammenstoß mit der k. u. k. Kriegsmaschinerie verarbeitet. 1. Wessen Grausamkeit? „Zivilisierungsmission“ vs. „Fanatismus“ „Die Diplomaten in Berlin trugen den Völkern Österreichs den Vollzug einer Kulturmission (? ) auf “, schreibt etwa das Laibacher Tagblatt am 30. Juli 1878 auf seiner Titelseite und fügt der bedeutungsschwangeren Kolonialvokabel ein Fragezeichen in Klammern hinzu. Diese angebliche Erwartungshaltung, „daß die Donaumacht hier nicht nur Ruhe und Ordnung, sondern auch, daß sie mit den reichen Mitteln, über die ein hoch zivilisierter Staat verfügt, Kultur schaffen werde“, formuliert auch August Fournier, freilich retrospektiv. 30 Emphatisch staatspatriotisch heißt es in den Erinnerungen des Leutnants Edmund von Glaise-Horstenau 1909: „Diese Österreicher kamen, allen Bewohnern gleiche Rechte zu schenken und gleiche Pflichten aufzuerlegen; diese Österreicher kamen, um die seit dem letzten Kriege mehr denn je gehaßten Serben zu befreien und den Moslims gleichzustellen! “ 31 Diesen offenkundig selbst erteilten Auftrag schreibt auch Vinzenz von Haardt in seiner in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu den Ereignissen entstandenen Schilderung fest: Feldzeugmeister Philippovich sei „dazu berufen [gewesen], die Lösung der bevorstehenden schwierigen Mission zu übernehmen und den verwilderten Ländern die Segnungen des Fortschritts und der Cultur zuzuführen“. 32 Philippovich selbst schiebt in seinem Armeebefehl vor dem Einmarsch einem etwaigen Expansionismus-Vorwurf einen klaren Riegel vor; die Okkupation sei nicht reine Eroberung, sondern quasi humanitäre Intervention und Vorwärtsverteidigung des Reiches in einem, aus Eigeninteresse einem Nachbarschaftsand Material Progress“ in India. In: Fischer-Tiné, Harald / Mann, Michael: Colonialism as Civilizing Mission. Cultural Ideology in British India. London, New York, New Delhi: Anthem 2004, pp. 1-26; Conklin, Alice V.L.: A Mission to Civilize. The Republican Idea of Empire in France and West Africa, 1895-1930. Stanford: Standford Univ. Pr. 1997.- In unserem Kontext vgl. auch Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Mission’ in Bosnia, 1878-1914. Oxford: Oxford Univ. Pr. 2007. 30 Fournier 1909, p. 76. Vgl. den Erfolgsdruck, den Wertheimer 1913, p. 143, insinuiert: Das Ansehen der Monarchie wäre „geschädigt“ worden, wenn die Okupation nicht durchgeführt worden bzw. gelungen wäre. 31 Glaise-Horstenau, Edmund v.: Tuzla und Doboj. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1909 (= Unsere Truppen in Bosnien und der Herzegowina. Einzeldarstellungen VI), p. 2. 32 Vgl. Haardt 1878, p. 10. Besetzungen (1) 131 konflikt gegenüber, der mit einer veritablen ‘Flüchtlingskrise’ 33 einhergehe (wie man heute wohl befinden würde): Soldaten! Der Bürgerkrieg in seiner abschreckenden Form, ein an unseren Grenzen fanatisch geführter Religions- und Rassenkampf zwang Hunderttausende Flüchtlinge, vor grausamer Verfolgung Schutz auf österreichisch-ungarischem Boden zu suchen. Se. Majestät der Kaiser, unser oberster Kriegsherr, nicht gewillt, das eigene Gebiet fremden anarchischen Bestrebungen als Tummelplatz preiszugeben und die endlich auch unsere Ruhe und Sicherheit bedrohenden Wirren in den Nachbarländern noch länger zu dulden, haben im Einklang mit sämmtlichen Großmächten Europa’s und mit Zustimmung der Pforte beschlossen, diesem unheilvollen Zustande durch die Besetzung Bosniens und der Herzegowina in entschiedener Weise ein Ende zu machen. Treu den Grundsätzen der Loyalität, die von jeher das Gepräge unserer Politik gebildet, ist es auch diesmal nicht Eroberungslust, sondern die unabweisliche Sorge für die eigene Wohlfahrt, welche uns die Grenzen des Reiches zu überschreiten gebietet. 34 Einen ähnlichen Wortlaut hat auch die Proklamation Philippovichs an die bosnisch-herzegowinische Bevölkerung. 35 Sein Tagesbefehl an das k. u. k. Expeditionskorps endet mit einer Ermahnung, die die Reizworte der mission civilatrice wiederaufnimmt: „Soldaten! Eure Aufgabe, edel und erhaben in ihren Zielen, ist eine schwere! […] nicht zu einem Siegeszuge, zu harter Arbeit führe ich euch, verrichtet im Dienste der Humanität und Civilisation! “ 36 (Es fragt sich freilich, inwieweit die österreichisch-ungarische Invasion jene humanitäre Krise, gegen die sie angetreten ist, nicht auch mit erzeugt.) Aufschlussreich ist auch der im offiziellen Schlussbericht des k. u. k. Kriegsarchivs zum Okkupationsfeldzug wiedergegebene Aufruf der bosnisch-herzegowinischen Aufständischen - eines der wenigen Textzeugnisse der anderen Seite, das, verfasst vom Stellvertreter des Scheriat-Kadija am 5. August 1878, offenkundig auch vervielfältigt und in der ganzen Provinz verbreitet worden sein dürfte: Brüder in Gott, Religion und Vaterland! Hört die Stimme Eurer Großväter und Urgroßväter, die euch von den stolzen Bergen der Bosna, welche Eure Ahnen einstens mit ihrem heiligen Blut erkämpften, zuruft […] Die Schrift Gottes macht es uns zur 33 Haardt schreibt von mehr als 200.000 geflohenen Menschen, für deren Unterhalt die k. u. k. Regierung 19 Mio. Gulden aufwenden müsse (ibid., p. 7). 34 Zit. n. Laibacher Tagblatt v. 30. 07. 1878, p. 1f. 35 Haardt 1878, p. 16. 36 Zit. n. ibid., p. 19f. 132 Clemens Ruthner strengsten Pflicht, mit vereinten Kräften unsere Religion, unser Vaterland zu verteidigen und den Feind zu vernichten […] 37 Hier stellt sich indes die Frage nach der Authentizität jener später von Feindeshand edierten und übersetzten Dokumente und deren Wirkung in einem weitgehend analphabetischen Land - oder ist ihre Funktion in Textsorten wie dem Generalstabswerk vor allem eine legitimatorische in Bezug auf die von habsburgischen Truppen ausgeübte Gewalt, indem sie als Kronzeugen für den „Fanatismus“ vor allem der muslimischen Bevölkerung herhalten müssen? Im Vor- und Nachfeld der Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878 wird auch ein weiteres stehendes Motiv der k. u. k. Autolegitimation und Selbstermächtigung formuliert - der lange Niedergang des Landes in permanenten Kriegswirren und türkischer Antimoderne: Waren es bisher die blutigen Wechselfälle des Krieges, die jeden Versuch von Cultur und Civilisation im Keime erstickten, so trug fortan das finstere Joch der muselmännischen Herrschaft das Weitere bei, das Land und seine Bewohner in trauriger mittelalterlicher Versumpfung schmachten zu lassen. 38 Aus der retrospektiven Sicht über Jahrzehnte weg, aus der die meisten der analysierten Veteranenberichte verfasst wurden, ist allerdings die k. u. k. mission civilatrice schon längst eine Erfolgsgeschichte und wird damit erzählerisch so etwas wie eine self-fulfilling prophecy . Alexander Spaits etwa schreibt: Bosnien und die Herzegowina, die noch vor kaum 30 Jahren zum klassischen Boden der Christenmetzeleien und des Raubunwesens gehörten, in denen der Halbmond die heimischen Herrscher wohl ausgerottet hatte, doch selbst nie zur festen Herrschaft gelangte, die an Naturschätzen so reichen Länder in heilloser Anarchie verwüsten ließ - Bosnien und die Herzegowina sind neu erstanden! 39 Spaits ist begeistert, wie sehr sich „die okkupierten Gebiete zu einem modernen Kulturland entwickelt“ 40 hätten und gerät ins imperialistische Schwärmen: „Zu rechter Zeit die erforderlichen Kräfte unzersplittert hier im Süden eingesetzt, hätte die Monarchie ihre Hoheitszeichen bis zum Ägäischen Meer, ja selbst zur Donaumündung vorschieben können […], und im Besitz von Saloniki, politisch und wirtschaftlich den ganzen Orient beherrscht! “ 41 37 Kriegsarchiv (Hg.): Die Occupation Bosniens und der Hercegovina durch k. k. Truppen im Jahre 1878. Nach authentischen Quellen dargestellt. Wien: Verl. des k. k. Generalstabes / W. Seidel 1879, p. 866f. 38 Haardt 1878, p. 5. 39 Spaits 1907, p. 1. 40 Ibid. 41 Ibid. Besetzungen (1) 133 Am Ausgangspunkt dieser nur halben Erfolgsgeschichte stehen jedenfalls präsumptiv Hass, Fanatismus und Gewalt der bosnisch-herzegowinischen Urbevölkerung; dementsprechend auffällig sind bei der untersuchten militärischen Memoria vor allem narrative Verfahren, mit denen die „Insurgenten“ immer wieder propagandistisch zum alien Other gemacht werden: wenn sie etwa bei Spaits als „Naturvölker“ 42 bezeichnet werden oder wenn ein anderer Erinnerungsarbeiter - bei der Serie Unsere Truppen im Verlag C.W. Stern von 1907 ff. dürfte es sich ja wohl um ein patriotisches Projekt mit offiziösem Anstrich gehandelt haben - unter Bezugnahme auf das Generalstabswerk den „Instinkt[.] der Wilden“ als Charakteristikum der „Insurgentenhaufen“ 43 sieht. In diesem Kontext werden auch zum ersten Mal die kolonialen Untertöne des ganzen Unternehmens laut, wenn etwa ein tschechischer Autor 15 Jahre nach der Okkupation von den Köpfen österreichischer Soldaten schreibt, die von den „Insurgenten“ bei Vranduk aufgespießt worden seien. Hier tauchen alte Türken- und Balkanklischees 44 von barbarischen ‘Banditen’ und ‘Halsabschneidern’ wieder auf - instrumentalisiert, wie es scheint, geradezu für einen Aufschrei für eine neue, ‘zivilisierte’ - und koloniale - Administration des Gebiets: We stood in full battle dress against the ignoble cannibal enemy and it is no exaggeration to say that the Zulus, Bagurus, Niam-Niams, Bechuans, Hottentots and similar South African bands behaved more chivalrously towards European travellers than the Bosnian Turks did to wards us. I always recollect with dismay the peoples of the Balkans, where the foot of the civilised European has not trod for decades, how the Turks, ‘native lords’, probably rule down there! 45 Diese koloniale Grunddichotomie von ‘Zivilisation’ versus ‘Barbarei’ wird unterschwellig auch weiterhin den militärischen - und später den zivilen - Diskurs über Bosnien-Herzegowina und dessen Menschen dominieren. In diesem Sinne sollen nun - anstelle einer dringend nötigen historischen Gesamtdarstellung, die wohl des Buchformats bedürfte 46 - zwei kleine exemplarische Fallstudien 42 Ibid. 43 Holtz, Georg Frh. von (Obst.): Von Brod bis Sarajevo. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1907 (= Unsere Truppen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Einzeldarstellungen II), p. 51. 44 Vgl. Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York, Oxford: Oxford Univ. Pr. 1997; Jezernik, Božidar: Wild Europe. The Balkans in the Gaze of Western Travellers. London: Saqi / Bosnian Institute 2004. 45 Chaura, Edmund: Obrazky z okupace bosenske. Prag: s.p. 1893, p. 38. Zit. n. der Übersetzung in Jezernik 2004, p. 139. 46 Eine Grundlage dafür gibt es freilich mit der militärhistorischen Studie von László Bencze 2005, eines Oberstleutnants der ungarischen Volksarmee, die bereits 1987 verfasst wurde; es wären jedoch abseits der Kriegsgeschichte auch diverse andere (politische, institutionelle, kulturelle, diskursive etc.) Aspekte noch zu berücksichtigen. 134 Clemens Ruthner präsentiert werden; diese erscheinen nicht nur deshalb äußerst interessant, weil sie zwei wichtige Phasen - und auch Rückschläge! 47 - des Okkupationsfeldzugs von 1878 darstellen, sondern auch, weil sie aus heutiger Sicht problematische Übergriffe thematisieren, die eine Nagelprobe für ebenjene vorgebliche k. u. k. „Friedens- und Kulturmission“ bedeuten. Damit werfen sie die bis heute virulente Frage nach Menschenrechten in Kriegszeiten auf, vor allem aber: wer auf einem Schlachtfeld ein regulärer Soldat oder wer ein unlawful combatant ist - worauf nicht nur die Amerikaner in ihrem „War on Terror“ im frühen 21. Jahrhundert großen Wert legten. 2. Die „Maglajer Katastrophe“ 48 (3.-5. August 1878) Der Schauplatz der ersten Fallstudie ist die Umgebung der am Bosna-Fluss gelegenen nordbosnischen Stadt Maglaj, wo am 3. August 1878 die 5. Eskadron des 7. k. k. Husarenregiments, die vor der österreichisch-ungarischen Hauptkolonne Vorausaufklärung betrieb, auf dem Weg nach Žepče in einen Hinterhalt geriet und von Insurgenten ins Kreuzfeuer genommen wurde. Dieser Zwischenfall nimmt sowohl in der zeitgenössischen Presse 49 als auch in Veteranenberichten eine Schlüsselstellung ein, dem diskursiv ein hoher legitimatorischer Wert beigemessen wird, obwohl es sich nicht um die größte Panne des k. u. k. Vormarsches handeln dürfte. 50 Die Bedeutung, die dem Scharmützel medial und erinnerungspolitisch zukommt, lässt sich auch daran ermessen, dass z. B. im Tschechischen oder Slowenischen der Name der Stadt als Lehnwort bis zum heutigen Tag verwendet wird als umgangssprachliches Synonym für Unordnung und Chaos. 51 Hier zunächst das rekonstruktive Narrativ des ungarischen Militärhistorikers László Bencze von 1987, das die verschiedenen zeitgenössischen Darstellungen 52 des Hinterhalts von Maglaj synthetisiert und so wahrscheinlich am vollständigsten und unspekulativsten ist: 47 Weitere militärische Misserfolge ereignen sich Anfang August vor Jajce und noch dramatischer bei Tuzla, wo die 20. k. u. k. Infanteriedivision unter Ladislaus Graf Szápáry auf dem Vormarsch von den Insurgenten in Bedrängnis gebracht wird und sich vorläufig wieder nach Doboj zurückziehen muss; vgl. Bencze 2005, pp. 164 ff., Plaschka 2000, vol. 1, p. 97 u. Wohnout 2008, p. 27. 48 Holtz 1907, p. 57. 49 Vgl. Ströher 1949; siehe auch den Beitrag von Imre Ress zum vorl. Sammelband, p. ##. 50 Vgl. Fußnote 40. 51 Ich danke den lieben Kollegen František Šístek ( Prag) und Rok Stergar (Ljubljana) für diesen Hinweis. Vgl. auch Šísteks Beitrag im vorl. Sammelband, p. ##. 52 Vgl. dazu auch Ljuca, Adin: Maglaj. Na tragovima prošlosti. Prag: Općina grada Maglaja 1999. Besetzungen (1) 135 Dismounting, the hussars returned fire. Some of the insurgents moved from both sides of the road through the trees to reach the rear of the company, so they could fire heavily at the soldiers from both sides. Millinković [= der kommandierende Offizier, C.R.] orderd a retreat but in the confusion, the carts blocked the road. 53 Im Chaos dieses Gefechts braucht es einige Zeit, um die mitgeführte Abteilung Train-Wagen zu wenden. Dann kommt die Aufklärungseinheit an einer unübersichtlichen Kurve bei Maglaj erneut unter feindliches Feuer; Pferde und Reiter stürzen und blockieren zusammen mit den mitgeführten Wagen die Straße, wobei auch die Insurgenten Barrikaden errichtet haben dürften. 54 Im Erinnerungsbericht des späteren Oberst Georg von Holtz wird jene Kurve 200 Schritt nördlich des örtlichen Han, wo ein totes Husarenpferd liegt, im Rückblick nicht nur zum letalen Hindernis für die Husaren, sondern auch zu einer vorläufigen Klimax seiner Erzählung: Schon die Biegung der Straße an und für sich ist für eine scharfe Gangart ein großes Hindernis, dazu noch das verendete Tier! Reiter um Reiter stürzt, und in diesem Knäuel hinein schmettert das Schnellfeuer der Insurgenten. Hier geht alles in die Brüche! 55 Die Kavalleristen versuchen sich zurückzuziehen, doch am Ende des Gefechts sind von 144 Husaren rund ein Drittel tot, verwundet oder vermisst, 56 d. h. ca. jeder 25. österreichisch-ungarische Kriegstote in diesem Krieg ist wahrscheinlich in Maglaj gefallen. So traumatisch dies auch für die Invasoren gewesen sein mag, so ist auch deutlich, dass es 1878 größere militärische Katastrophen als diese gegeben hat 57 und dass hier unter tätiger Beteiligung der Wiener Presse eine Art Dolchstoß-Legende für den Okkupationsfeldzug konstruiert wird, die dazu dienen wird, das eigene ‘harte Durchgreifen’ zu rechtfertigen. Nicht nur Vinzenz von Haardt, dessen Buch über die Okkupation Bosniens noch 1878 erscheint, berichtet von diesem Überfall der „verrätherischen Ortsbewohner“ aus dem Hinterhalt; 58 erst ein selbstloser Reiterangriff „mit Todesverachtung“ habe die Barrikaden der Insurgenten geöffnet. 59 Haardt zählt noch 53 Bencze 2005, p. 115. 54 Ibid., p. 116. 55 Holtz 1907, p. 46f. 56 Auch hier differerien die genauen Verlustzahlen deutlich in den Berichten, vgl. etwa Beranek, Julius: Die Helden unserer Armee im Jahre 1878. Erinnerungen an die Okkupation von Bosnien und der Herzegowina. Wien: „Austria“ F. Doll 1908, p. 10; Holtz 1907, p. 48; Bencze 2005, p. 116; u.a. 57 Etwa die bereits erwähnten (s. o.) Schwierigkeiten, die zum Rückzug der 20. ID unter Szápáry führen, die auch Wertheimer 1913, p. 151f., nennt. 58 Haardt 1878, p. 32. Gleiche Formulierung bei Beranek 1908, p. 7. 59 Haardt 1878, p. 33. 136 Clemens Ruthner mehr Tote als die anderen Autoren und erzählt, man habe „mehrere Huszaren, die sich in die Wälder gerettet hatten, in äusserst erschöpftem Zustande angetroffen, - andere wurden in schrecklichster Weise verstümmelt aufgefunden.“ 60 Wie Holtz berichtet, seien als Vergeltung dann beim zweiten Angriff auf Maglaj am 5. August alle Ortsbewohner, die mit Waffen oder Habseligkeiten der Husaren angetroffen worden wären, auf der Stelle erschossen worden. 61 Auch der Biograf von Graf Andrássy, Julius Wertheimer, erwähnt kurz den Zwischenfall und nennt ihn den „verräterischen Ueberfall“ von Maglaj. 62 Im patriotisch-heroisierenden Erinnerungsbuch von Julius Beranek aus dem Jahre 1908 hingegen steht von Gräueltaten und Vergeltung nichts zu lesen; dafür wird dem Husaren-Rittmeister (mit einer intertextuellen Referenz auf Shakespeares Richard III .? ) gleichsam ein narratives Denkmal der Verehrung seiner leadership errichtet - gewissermaßen ein Gegenmodell zur Hinterlist der Insurgenten: Da wird dem Rittmeister das Pferd unter dem Leibe getötet. Zugsführer Alexander Varga pariert daraufhin sein Roß, springt ab und überläßt es dem Rittmeister mit den Worten: ‘Herr Rittmeister, die Eskadron bedarf ihres Kommandeurs, bitte gehorsamst, hier ist mein Pferd! ’ 63 Beranek erzählt auch von der schnell entstandenen Fama, „die Hauptkolonne sei bei Maglaj von den Insurgenten vernichtet und Feldzeugmeister Freiherr von Philippovich gefangen genommen worden. Dieses Gerücht verbreitete sich mit Blitzesschnelle im ganzen Lande und war Ursache, daß die Insurgenten plötzlich von allen Seiten bedeutenden Zulauf an raublüsternem Gesindel erhielten.“ 64 Die Kriminalisierung der Aufständischen kommt nicht von ungefähr. Die historiografische Darstellung von Bencze, die Wiener Kriegsarchiv-Bestände auswertet, sieht jene entscheidende Frühphase des Feldzugs in the greater picture . Der k. u. k. Oberkommandierende Philippovich habe das Debakel von Maglaj als Vorwand für zweierlei genommen: „Fillipovic used this event to report to the emperor that peaceful occupation was impossible“; 65 in diesem Sinne forderte 60 Ibid., p. 39. Vgl. Spaits 1907, p. 66. Auch Hans Böhm (Hoch die ‘Achter’! Erlebnisse auf dem Kriegsschauplatze in Bosnien im Jahre 1878. Wien: Selbstverlag 1903) schreibt ganz im Sinne von Edmund Chaura von Gräueltaten an versprengten Kameraden (p. 8.) und der Paranoia der Soldaten in der Nacht (p. 11f.). 61 Holtz 1907, p. 70f. 62 Wertheimer 1913, p. 151. 63 Beranek 1908, p. 7. 64 Ibid., p. 7f. 65 Bencze 2005, p. 117 - Holtz 1907, p. 50, zitiert das Generalstabswerk (p. 130): „Durch den verräterischen Überfall bei Maglaj hat das Kommando des XIII. Korps die zweifellose Gewißheit erlangt, daß der anfänglich friedliche Einmarsch in Bosnien einem bewaffneten Besetzungen (1) 137 er von Wien eine erhebliche Verstärkung des Truppenkontingents. 66 Außerdem verhängte der Feldzeugmeister ein ausgeweitetes Standrecht: gefangengenommene osmanische Soldaten wurden entwaffnet und schnell wieder freigelassen, um die Hohe Pforte nicht zu provozieren. Andererseits stellte er es den örtlichen Kommandanten anheim, gefangene Freischärler auf der Stelle zu erschießen. 67 Dies habe, so Bencze, durchaus der Logik des Kaisers entsprochen, der das Gefecht von Maglaj instrumentalisierte „as a rationale to order harsh reprisals“ und „to view the Sarajevo movement as an anarchist rebellion and its participants as insurgents and communards“ 68 (und es erhebt sich auch die Frage, ob hier nicht nur zeitgenössische Erfahrungen mit antikolonialem Widerstand, sondern auch mit der Pariser Commune von 1871 auf den provisorischen Regierungsrat der Aufständischen - das Sarajevoer „Aktionskomitee“ - übertragen wurden). Am 6. August werden dann jedenfalls Kanonen in Stellung gebracht, um Maglaj bis auf die Grundmauern zu zerstören. Zum Beschuss kommt es jedoch freilich nicht mehr, denn scheinbar durch einen Kommunikationsfehler ist der Ort zwischenzeitlich am 5. August (s. o.) von einer anderen k. u. k. Einheit eingenommen worden. Einige Insurgenten entkommen, andere werden getötet oder in den Fluss getrieben, wo sie ertrinken: 69 „Wer der Kugel und dem Bajonett entging, wurde in die hochangeschwollene Bosna gedrängt, welche fast alle verschlang.“ 70 Wieder andere ergeben sich, aber Benczes Bericht schließt lakonisch: „At Filippović’s order, the prisoners were butchered on the spot.“ 71 In den nächsten Tagen treffen dann die k. u. k. Truppen bei Žepče auf einen größeren Sperrriegel des bosnischen Widerstands, als sich ihnen ca. dreibis viertausend Insurgenten und zwei reguläre osmanische Bataillone zu einer veritablen Feldschlacht in den Weg stellen. 72 Dass der „meuchlerische[.] Ueberfall[.]“ 73 von Maglaj zum Inbegriff des bosnisch-herzegowinischen „Banditism“ 74 wird, steht wie bereits angedeutet in einem größeren legitimatorischen Zusammenhang, auf den auch Bencze hin- Widerstande begegnen und die Besitzergreifung des Landes nur auf gewaltsamen Wege durchzuführen sein werde.“ 66 Bencze 2005, p. 117. 67 Ibid.- Holtz 1907, p. 50, schreibt: „Man seufzt unwillkürlich erleichtert auf und sagt: ‘Na endlich! ’ Es erschien auch gleich Tags darauf ein geharnischter Befehl, der besagte: ‘Daß - ggf - Nizams und Redifs [= reguläre osmanische Truppen und Landwehr, C.R.] zu Gefangenen zu machen, Mustahfiz und Insurgenten jedoch ‘zu vertilgen’ seien! '“ 68 Bencze 2005, p. 117. 69 Ibid, p. 120.Vgl. Beranek 1908, p. 10; Haardt 1878, p. 38. 70 Holtz 1907, p. 68. 71 Bencze 2005, p. 120. 72 Vgl. Bencze 2005, p. 121; Spaits 1907, p. 75ff. 73 Haardt 1878, p. 35. 74 Bencze 2005, p. 118. 138 Clemens Ruthner gewiesen hat: Die Grundannahme der k. u. k. Truppen war nämlich, dass sie „an armed policing action under the provisions of an agreement signed with the Porte“ ausführten; dies ermöglichte ihnen speziell nach dem Anlassfall von Maglaj, eine strikte Trennung zwischen regulären und irregulären Kämpfern vorzunehmen. 75 Dem gegenüber sollte aber die damals gültige Kriegskonvention, die Brüsseler Deklaration von 1874 (Artikel 9-10) festlegen, dass auch irreguläre Kämpfer als normale „combattants“ anzusehen seien, wenn sie unter den Befehlen ihrer eigenen Regierung handeln bzw. ihr Gebiet noch nicht besetzt ist; wegen der ihrer Meinung nach fehlenden Legitimation des provisorischen Regierungsrates in Sarajevo wurde dies jedoch von den Invasoren nicht anerkannt. 76 Der Zwischenfall von Maglaj und andere Rückschläge liefern dann perfekte Vorwände zu einem harten Vorgehen in diesem „hybriden“ Konflikt, das die „Insurgenten“ quasi als homines sacri von den Menschenrechten normaler Kriegsgefangener ausschließt und vogelfrei macht. 77 All dies wird noch interessanter durch die Tatsache, dass die Okkupationszeit in Maglaj auch den historischen Hintergrund für den ersten großen modernen bosnischen Roman abgibt, nämlich Zeleno busenje [„Grüner Rasen“] von Edhem Mulabdić, erschienen 1898, also zwanzig Jahre später. Im Zentrum der Fabel steht eine bittersüße, unglückliche Liebesgeschichte, in der sich die verschiedenen Lebensstile in der Stadt abbilden. Der Text beschreibt auch, wie sich vor dem bevorstehenden Einmarsch der österreichisch-ungarischen Truppen in der Stadt zwei Lager bilden, nämlich diejenigen, die sich von den habsburgischen „Schwaben“ Neuerungen und eine bessere Zukunft erwarten und jene, die stur und konservativ an ihrer Heimat so wie bisher festhalten möchten. Es bildet sich eine Kriegspartei, die lautstark für den Widerstand gegen die Okkupation eintritt und sich im Basar sammelt. Soziale Unterschiede spielen sichtbar eine Rolle, denn „es waren lauter Bauern, Dienerschaft und Zigeuner. Irgendwann begann eine Trommel zu dröhnen und Hadschi Seimanga (= der Führer der Kriegspartei, C.R.) pflanzte die Fahne mitten im Basar auf “. 78 Geschildert wird die zunehmende Kriegshysterie, währenddessen die ersten Menschen nach Hause gehen. Als dann endlich die k. u. k. Kavallerie - scheinbar am 5. August - vor der Stadt auftaucht, heißt es: 75 Ibid. 76 Ibid. 77 Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übers. v. Hubert Thüring. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2002. 78 Zit. n. der Übersetzung in Braun, Maximilian: Die Anfänge der Europäisierung in der Literatur der moslimischen Slaven in Bosnien und Herzegowina. Leipzig: Markert & Petters 1934, p. 94. Besetzungen (1) 139 Es begann eine allgemeine Panik, ein Schreien und Weinen; alles begann zu rennen […]; alles läuft, um sich im Gebüsch zu verstecken, um nicht zugrunde zu gehen, denn der Feind wird doch sicher alles in Brand stecken. In dieser Aufregung hatte niemand darauf geachtet, was denn aus dem Heertrupp vor dem Deibeg-Han geworden sei. Kaum war jene schreckliche Stimme von der Stadt her verklungen - da waren sie auch schon alle wie eine aufgescheuchte Vogelschar auseinandergespritzt, mitten durch Mais und Weizen. In einem einzigen Augenblick waren diese Helden verschwunden, ohne Büchsenschuß und Messerstich, ohne einen Tropfen Blut, ohne auch nur zu fragen: wohin, warum? 79 Bei Mulabdić findet also der Widerstand und dessen Hinterhalt nicht wirklich statt, die Militanten stammen allesamt aus niederen Volksklassen und rennen davon, als sie die Stimme des Agitators nicht mehr hören (und so spielt auch hier leadership wie im zitierten Veteranenbericht eine Rolle). Damit ist freilich das traumatische Scharmützel aus dem Roman hinausredigiert und über alles wächst Gras bzw. der titelgebende grüne Rasen - warum, bleibt die Frage: um als Autor nicht bei der k.u.k Zensurbehörde Schaden zu nehmen? Oder ein retrospektiv opportunistischer Akt dem Besatzer gegenüber? Oder, weil es eben zum Wesen des Traumas gehört, verdrängt zu sein? 3. Die Eroberung von Sarajevo (19. August 1878) Die störenden bis verstörenden blinden Flecken im Bild von der Okkupation, die eigentlich ein Spaziergang hätte sein sollen, kehren auch in anderen Schilderungen wieder, am stärksten bei der Eroberung von Sarajevo. Diese hätte eigentlich am 18. August, dem Geburtstag von Franz Joseph, stattfinden sollen, 80 verzögerte sich aber um einen Tag. Nach heftigen Kampfhandlungen seit dem Morgengrauen - als Folge des vom Sarajevoer Aktionskomitees organisierten Widerstands - galt die bosnische Metropole dann am Nachmittag des 19.8. endlich als eingenommen: „Sarajevo lag zu Füßen seiner Majestät unseres allerhöchsten Kriegsherren.“ 81 Zuvor war es jedoch zu blutigen Straßen- und Häuserkämpfen vor allem im sog. türkischen Viertel gekommen. Julius Beranek schreibt dazu in seinem Erinnerungsbuch: „Von allen Seiten dringen die k. k. Truppen in die Stadt ein, wo sich nun ein Straßenkampf entspinnt, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Weiber, ja selbst Kinder nehmen an diesem Kampfe tätigen Anteil.“ 82 Der Bericht des österreichisch-ungarischen Generalstabs gibt weitere Details: 79 Ibid., p. 96. 80 Wertheimer 1913, p. 155. 81 Holtz 1907, p. 185. 82 Beranek 1908, p. 45. 140 Clemens Ruthner Der ganze äußere Umkreis Sarajevos war stark besetzt. Aber auch im Inneren der Stadt gestatteten die engen Gassen mit ihren vielen Häusergruppen und einzelnen in den Erdgeschossen leicht zu verrammelnden Gebäuden, deren kleine Fenster der Stockwerke und zahlreiche Dachlücken die Abgabe des Feuers nach verschiedenen Richtungen zuließen, die nachhaltigste Verteidigung. Von der Umfassung der Stadt vertrieben, warfen sich die Insurgenten meist in die nächsten Häuser, verbarrikadierten alle Eingänge und unterhielten ein vernichtendes Feuer gegen die nachstürmende Infanterie. 83 Auch der k. u. k. Oberkommandierende Philippovich berichtet: „Es entspann sich einer der denkbar gräßlichsten Kämpfe. Aus jedem Hause, aus jedem Fenster, aus jeder Türspalte wurden die Truppen beschossen; ja selbst Weiber beteiligten sich daran. Das fast ganz am westlichen Stadteingange gelegene Militärspital, voll von kranken und verwundeten Insurgenten[…]. 84 Wenn man freilich auch hier die vorgeblich authentischen Berichte mit jenem des Militärhistorikers Bencze vergleicht, so wird klar, dass ein wesentlicher Teil der Geschichte (im Sinne einer Aposiopese) ausgelassen worden sein dürfte - die Ermordung der mitkämpfenden Sarajevoer Frauen und Kinder: A horrible battle took place in the Muslim quarter. The Turkish soldiers, police and refugees, among them Montenegrins […], residents of Sarajevo, for the most part poor artisans and merchants - including old people, children, women, and young girls - defended themselves desparately, firing from the cellars of their burning houses, from fences, and from the tops of minarets. The soldiers moved forward step by step, […] mercilessly killing everyone they found on the street; they threw down women who had fled up into the minarets and dealt with children who had taken arms in the same way as with the insurgents. 85 Die häufige Tilgung dieser unangenehmen Einzelheiten aus den Veteranenberichten (und später aus dem kulturellen Gedächtnis) mag wohl damit zu tun haben, dass sich diese ihrer Sache ethisch möglicherweise doch nicht völlig sicher fühlten; außerdem dürften sie zur Zeit der Annexion Bosnien-Herzegowinas 1908 das offiziöse Bild vom „gelungenen Zusammenleben“ 86 gestört haben. Details finden unter allen konsultierten Texten nur bei Holtz Eingang in die Narration, etwa wenn er 1907 formuliert: 83 Zit. n. Plaschka 2000, p. 44. 84 Zit. n. ibid., p. 45. 85 Bencze 2005, p. 146. 86 Vgl. Heuberger, Valeria / Illming, Heinz : Bosnien-Herzegowina 1878-1918. Alte Ansichten vom gelungenen Zusammenleben. Wien: Brandstätter 1994. Besetzungen (1) 141 Haus um Haus mußte erstürmt werden; selbst Weiber beteiligten sich mit fanatischer Wut am Kampfe und drangen mit Handschar und Pistolen auf die Unsrigen ein, - Pardon wurde keiner verlangt und keiner gegeben, was eine Waffe trug, wurde rücksichtslos niedergemacht. 87 In Holtz’ Heimmarsch -Band, der ein Jahr später erscheint, wird noch eine blutige Episode nachgereicht, in der ein k. k. Leutnant mit dem südslawischen Namen Imelić bei den Straßenkämpfen in ein Sarajevoer Haus eindringt. Wie die eben zitierte Formulierung dient auch hier der wiederholt behauptete „Fanatismus“ der muslimischen (und serbischen) Bevölkerung dazu, die drastischen Maßnahmen gegen sie zu rechtfertigen: Als das Tor aufgesprengt war, stellten sich ihm ein schwangeres Weib und ein etwa zehnjähriger Knabe entgegen und feuerten beide ihre Pistolen auf ihn ab. Ihn fehlten sie, verwundeten aber einen seiner hinter ihm befindlichen Leute. Beide fielen sofort unter den Bajonetten und den Kolbenschlägen der empörten Soldaten, welche, da das Stockwerk noch stark besetzt war und den Insurgenten über die schmale Treppe ohne große Verluste nicht beizukommen waren, das Haus einfach in Brand steckten und die Türken ausräucherten. 88 Genauso, wie diese Grausamkeit aus dem Trauma der Niederlage von Königgrätz zwölf Jahre zuvor - etliche der Okkupationstruppen waren deren Veteranen! - und dem daraus resultierenden Erfolgsdruck auf die k. u. k. Soldaten zu erklären sein mag, hat umgekehrt die unterdrückte Erinnerung an die Grausamkeit der Kämpfe in Bosnien-Herzegowina möglicherweise doch zur Härte des Vorgehens gegen die serbische Zivilbevölkerung im Ersten Weltkrieg mit beigetragen. Ein Beispiel dafür wären etwa die Gräueltaten hinter der serbischen Grenze nahe Šabac um den 15. August 1914 herum; zum Vergleich mit Sarajevo sei ein unveröffentlichter Augenzeugenbericht darüber anzitiert: Als wir Bogosavac passierten, lernte ich zum erstenmale die entsetzlichen Greueln des Krieges kennen. Die zurückgebliebenen Einwohner (nur Greise, Frauen und Kinder) beschießen unsere Kolonne hinterrücks aus den Häusern, von den Dächern und aus den Kellern. Um uns in Sicherheit zu wiegen, steckten sie bei unserem Eintreffen kleine, weiße Fähnchen aus den Fenstern und riefen uns in serbischer Sprache: „Živila austriacka armada“ zu. Das war arge Hinterlist. Schwer mussten es die Bewohner bühsen, alle Häuser aus denen Schüsse fielen gingen in Flammen auf. Alle Bewohner, welche beim Schießen betreten worden sind, wurden einerlei ob Greis, Frau oder Kind, 87 Holtz 1907, p. 182. 88 Holtz, Georg Frh. vom (Obst.): Die letzten Kämpfe und der Heimmarsch. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1908 (= Unsere Truppen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Einzeldarstellungen V), p. 2. 142 Clemens Ruthner erschossen! Ein entsetzlicher Anblick! Noch heute gruselt es mich, wenn ich an jene Scene denke! Damals kannte ich ja nicht den Krieg mit allen seinen tieftraurigen Begleiterscheinungen! Aber wir hätten auf der Hut sein sollen, zumal wir doch wussten [! ], mit welchen hasserfüllten, raschesüchtigen Volke es wir zu tun haben. 89 4. Allgemeine Frageperspektiven bezüglich der „Occupation“ Kritische Stimmen zum Modus der Okkupation gibt es aber nicht nur a posteriori , sondern bereits unter den Zeitgenossen. So werden etwa 1878 die Reden zweier Parlamentarier in der Adressdebatte des österreichischen Abgeordnetenhauses 1878 veröffentlicht. 90 Während der eine, ein gewisser Dr. Ludwik Wolski, rhetorisch fragt, „sahen wir nicht fast die halbe Bevölkerung bis zu Weibern und Kindern gegen uns die Waffen ergreifen? “, 91 moniert der andere, Otto Hausner, ob man die Eroberung einer Provinz von einer Million Einwohnern mit einem Aufgebote von 150.000 Mann binnen zwei Monaten, mit einem Verluste von 7.000 Mann auf dem Schlachtfelde, ohne die zu zählen, welche in den Lazarethen verkamen und noch verkommen, und nach Ausgabe von 100 Millionen, ob man eine Okkupation, die das erworbene Land verwüstet und entvölkert hat, welche die übriggebliebene Bevölkerung erbittert und entfremdet hat, ob man eine solche Occupation eine glorreiche nennen kann? (Rufe von links: sehr richtig! Bravo! ) 92 In Anbetracht solcher Bilanzen wundert es nicht, dass auch die zusammenfassende Beurteilung des Okkupationsfeldzugs durch den ungarischen Militärhistoriker László Bencze mehr als 100 Jahre später ziemlich nüchtern und kritisch ausgefallen ist - wiewohl der Verfasser selbst dem Soldatenstand (und dazu noch in einer Armee des Warschauer Pakts) angehörte: The occupying troops acted and treated […] [Bosnian] forces as if they were everyday criminals, murderers, and arsonists. Physical force was the invader’s most easily understandable method of dealing with the populace. 93 89 Zanantoni, Eduard: Erinnerungen aus meinem Leben [handschriftl unveröff. Ms, 1922]. Österr. Staatsarchiv (ÖStA/ KA/ NL, B/ 6: 1).- Ich danke Tamara Scheer für diesen produktiven Hinweis. 90 Hausner, Otto / Dr. Wolski: Oesterreichisch oder Kosakisch? Reden in der Adressdebatte des österr. Abgeordnetenhauses. Wien: L. Rosner 1878. Für die Interessenslage dieser beiden Parlamentarier ist aufschlussreich, dass der galizische Abg. Hausner sich selbst als Polen bezeichnet (ibd., p. 47). 91 Ibid., p. 10. 92 Ibid., p. 36. 93 Bencze 2005, p. 301. Besetzungen (1) 143 Benczes Befund stimmt nun keineswegs mit dem Bild vom Okkupationsfeldzug 1878 überein, wie es der postimperialen Nachwelt - wenn auch spärlich - übermittelt wird; eher schon hat sich Andrássys Bild vom bewaffneten Spaziergang mit Blasmusik als Beschreibungshülse durchgesetzt, sofern nicht der umfangreichste k. u. k. Militäreinsatz von fast fünfzig Jahren (1866-1914) überhaupt aus der Habsburg-Geschichtsschreibung ausgespart bleibt: selektive Wahrnehmung? Dementsprechend erscheint es erstrebenswert - unter Berücksichtigung des beschränkten Raumes, der uns hier zur Verfügung steht - die Analyse einiger zentraler diskursiver Momente der skizzierten Kriegsnarrative in Angriff zu nehmen und dann einen etwas weiter führenden Ausblick anzudenken. Zunächst einmal die Erzählstrukturen: In den meisten Militär- und Veteranenberichten werden • „rechtmäßige“ Okkupation und illegitime „Insurgenz“ einander gegenübergestellt. Diese juristische Dichotomie wird mit dem • „heimtückischen“ und „fanatischen“ Charakter der Insurgenten psychologisiert, • denen im Kampf der sportliche bis frohgemute k. u. k. Kavaliersoldat überlegen gegenübersteht, der alle Entbehrungen im Namen seiner „Kulturmission“ heroisch (und homosozial) er-duldet. • Dahinter steht die fundamentale wie althergebrachte Dichotomie von Zivilisation und Barbarei, mit der narrativ ein „othering“ 94 der Aufständischen durchgeführt wird. Der fremde, meist muslimische (oder serbische) Kämpfer wird so zum alien Other stigmatisiert, was so weit gehen kann, dass dieses ungeniert rassistisch dem kolonialen bis ‘kannibalischen’ Anderen Afrikas gleichgesetzt wird, wie dies im vorher zitierten tschechischen Okkupationstext der Fall war. Auf der anderen Seite trägt der k. u. k. Soldat Kiplings zum fliegenden Wort gewordene „Bürde des weißen Mannes“ 95 , der mit Gewalt und Ekel seine vermeintliche Zivilisiertheit dem „Barbaren“ kolonial aufzwingt, gleichsam mit. 94 Zu diesem Konzept vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: The Rani of Sirmur. An Essay in Reading the Archives. In: History and Theory 24.3 (Okt. 1985), pp. 247-272; Brons, Lajos: Othering, an Analysis. In: Transcience 6.1 (2015), pp. 69-90. 95 Diese stehende Phrase einer Selbstrechtfertigung des Kolonialismus geht auf Rudyard Kiplings Gedicht The White Man ’ s Burden von 1899 zurück; online auf Englisch mit deutscher Übersetzung unter www.loske.org/ html/ school/ history/ c19/ burden_full.pdf 144 Clemens Ruthner Die solchermaßen aufgestellten „manichäischen“ 96 Oppositionen ermöglichen jedenfalls ein Ausblenden von potentiellen Kriegsverbrechen oder zumindest deren selektive Wahrnehmung; „Fanatismus“ wird hier buchstäblich zum Totschlagsargument (und diese rhetorische Strategie wird auch später in den Darstellungen der Attentäter von Sarajevo 1914 wiederkehren 97 ). Das Sich-Messen am ‘orientalischen’ Anderen hat aber durchaus auch Konsequenzen für die interne österreichisch-ungarische Identitätspolitik. Fragt Edmund v. Glaise-Horstenaus Erzählinstanz zu Beginn seines retrospektiven Berichts von 1878 noch bang „Wird das neue Volksheer [nach Königgrätz, C.R.] die Probe bestehn? “, 98 heißt es im Armeebefehl von Kaiser Franz Joseph vom 19. Oktober 1878 zur bevorstehenden Einstellung der Kampfhandlungen: Den Unbilden außergewöhnlich ungünstiger Witterung, den Schwierigkeiten eines unwegsamen Bodens und unvermeidlichen Entbehrungen aller Art Trotz bietend, haben Meine braven Truppen in ruhmvollen Kämpfen den Widerstand einer irregeleiteten, fanatisierten Bevölkerung gebrochen, durch musterhafte Manneszucht und ihre altbewährte Tapferkeit die Ehre Unserer Fahnen stets hoch zu halten gewußt und die ihnen gewordenen Aufgabe in kurzer Zeit erfolgreich gelöst. 99 Im Kampf wie im Sieg fungiert also die success story der Okkupation als übernationale Klammer in Österreich-Ungarn; hier sei nochmals Julius Beranek zitiert: Ob die Soldaten Deutsche oder Polen, ob sie Ungarn oder Kroaten, ob sie Tschechen oder Krainer, ob Steirer oder Tiroler waren: sie alle, alle haben den Beweis erbracht, daß es in der österreichisch-ungarischen Monarchie kein minderwertiges Volk, keine minderwertigen Soldaten gibt. 100 Im Kampf erfährt sich der k. u. k. Militär in Absetzung von Edmund Chauras „ignoble cannibal enemy“ wenn schon nicht als Nation im Sinne des Nationalismus, so doch als staatstragendes ‘Volk’ jenseits aller ethnischer Differenzen. Der Okkupationsfeldzug dient somit - zumindest retrospektiv - auch der eigenen Identitätsstiftung. Über diesen konkreten ‘kakanischen’ Bezugsrahmen hinaus drängen sich aber noch globalere Fragen auf, die freilich eher rechtsphilosophischer und ethischer Natur sind: 96 Vgl. JanMohamed, Abdul R.: The Economy of Manichean Allegory. The Function of Racial Difference in Colonialist Literature. In: Gates, Henry Louis Jr.: ‘Race’, Writing, and Difference. Chicago, London: Chicago Univ. Pr. 1985, pp. 78-106. 97 Vgl. dazu Preljević & Ruthner 2016. 98 Glaise-Horstenau 1909, p. 4. 99 Zit. n. Beranek 1908, p. 134. 100 Ibid. Besetzungen (1) 145 • Seit jeher dient die kategorielle Trennung von regulären Soldaten und irregulären Kämpfern / unlawful combattants der Umgehung von internationalen Konventionen für die Behandlung von Kriegsgefangenen, die es schon 1878 gab. • Doch wer bestimmt, was völkerrechtlich illegale „Insurgenz“ und was legitime ‘Heimatverteidigung’ ist? Zugunsten der bosnisch-herzegowinischen Insurgenten ließe sich argumentieren, dass diese immerhin quasi-demokratisch den Willen eines signifikanten Prozentsatzes der bosnisch-herzegowinischen Bevölkerung zur Territorialverteidigung exekutiert haben, der zudem noch vom Aktionskomitee der Aufständischen in Sarajevo sanktioniert worden war. • Die Rhetorik der „Insurgenz“ öffnet somit ein militär- und menschenrechtliches Vakuum - denn wie lässt sich mit der vorgeblichen „Kulturmission“ vereinbaren, dass sie letztlich nur mit Gewalt durchgesetzt werden kann? Werden sich hier der fanatische Insurgent und der das Standrecht handhabende Zivilisationssoldat nicht erstaunlich ähnlich? Oder dienen hier die pathetischen „zivilisatorische Werte“ nur als Prätext für Imperialismus? Schon der Abgeordnete Dr. Wolski hat im österreichischen Reichsrat die rhetorische Frage gestellt, „ob der Humanität gedient worden wäre durch die Hekatomben von Opfern, die eben in Folge des Einmarsches der Oesterreicher hingeschlachtet worden sind.“ 101 • Der Abgeordnete Wolski ist es auch, der die Dialektik des Kolonialismus hellsichtig vorausgeahnt hat, die sich gegen die Möchtegern-Kolonisatoren wenden wird und nicht zuletzt bereits durch die gewaltsam widersprüchliche Natur der „Kulturmission“ bedingt ist: Im Orient gilt als Unterdrücker, wer grundsätzlich mit orientalischen Traditionen bricht. Wollten wir es im Ernste versuchen, dort zu reformiren und zu cultiviren, und dieser bosnischen Bevölkerung, welcher unter türkischer Herrschaft, sobald sie einmal ihren Zehent an die Regierung berichtigt hatte, sonst in ungebundener Freiheit und Zügellosigkeit leben konnte, jene Regeln, jene Beschränkungen, jene Lasten aufzuerlegen, die von einem geordneten Staatswesen unzertrennbar sind, wollen wir dort einmal unser Justizsystem, unser Wehrgesetz, unsere Concurrenzgesetze, unsere Steuern und Steuerzuschläge, unser Salz- und Tabakmonopol einführen, so werden Sie sehen, meine Herren, dass alles Dies zu einer furchtbar wuchernden Saat des Hasses gegen uns werden wird. 102 101 Hausner & Wolksi 1878, p. 12. 102 Ibid., p. 16. 146 Clemens Ruthner Ein Gemeinplatz will es, dass in der Beschreibung eines Krieges a posteriori die Perspektive der Mächtigen und vor allem die des Siegers den Ausschlag gibt. Dies gilt damals 1878 in Österreich-Ungarn und Bosnien-Herzegowina wie heute in den USA und im Irak; was indes einen durchaus überraschen kann, ist die Ähnlichkeit der beiden Okkupationsdiskurse und ihres zentralen Leitmotivs, des fanatischen muslimischen Insurgenten, den dieser Diskurs zum alien Other macht, das vernichtet werden muss, damit der verbleibende Rest der Bevölkerung „cultivirt“ werden kann. Als kleine Ironie der Geschichte kann man freilich anmerken, dass bereits wenige Jahre nach der Okkupation 1878 die Nachkommen jener bosnisch-herzegowinischen Aufständischen der k. u. k. Armee als erstrebenswerte human resources galten und konskribiert wurden. 103 Die daraus entstehenden „Bosniaken“-Infanterieregimenter zählten zu den Elitetruppen der Habsburger Monarchie im Ersten Weltkrieg, die für ihre Kampfstärke und Tapferkeit von den Nachfolgern jener k. k. Militärs gelobt wurden, die ihre Väter und Großväter noch als grausame Fanatiker abgetan hatten. 104 Bei ihrer schwärmerischen Beschreibung 105 jedenfalls greifen orientalistische Klischees um sich, welche die kolonial-imperialistische Dimension jener letzten habsburgischen Gebietserwerbung einmal mehr als phantasmatischen Raum offen legen; so schreibt etwa der Autor Rudolf Henz, der ebenso wie der spätere österreichische Bundespräsident Adolf Schärf im Weltkrieg als Offizier bei einem bosnisch-herzegowinischen Infanterie-Regiment diente, in seinem autobiografischen Roman Dennoch Mensch (1935) retrospektiv über seine südslawischen Soldaten: Bosniaken, das waren für mich kräftiges Urvolk, Balkan, Moschee und Muezzin, Kismet und Todesmut, das war Fez und Pumphose, im Mundwinkel hängende Zigarette, das war Sturmangriff mit Juchzen und Bocksprüngen, war Dolch zwischen den Zähnen und Erfüllung unmöglicher Befehle, das war wilder und immer tapferer und treuer als alle anderen, war ein Stück wilder Orientträumerei, Ersatz für viele Reisen und Indianergeschichten. 106 103 Vgl. Šehić, Zijad: Das Militärwesen in Bosnien-Herzegowina 1878-1918. In: Ruthner et al. 2015, pp. 139-153. 104 Zu diesem Thema vgl. Schachinger, Werner: Die Bosniaken kommen. Elitetruppen in der k. u. k. Armee. Graz: L. Stocker 1994; Neumayer, Christian / Schmidl, Erwin A.: Des Kaisers Bosniaken. Die bosnisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. Wien: Ed. Stefan Rest / Militaria 2008. 105 Vgl. Strigl, Daniela: Schneidige Husaren, brave Bosniaken, feige Tschechen. Nationale Mythen und Stereotypen in der k. u. k. Armee. In: Hárs, Endre / Reber, Ursula / Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn, 1867-1918. Tübingen: Francke 2006, pp. 129-144 106 Henz, Rudolf: Dennoch Mensch. Ein Roman von Krieg und Liebe. Salzburg: Pustet 1935, p. 35. „Proximate Colony“ 147 „Proximate Colony“ Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-ungarischer Herrschaft Robert J. Donia (Ann Arbor) Mit der Okkupation 1878 wurde Bosnien-Herzegowina Österreich-Ungarns erste und einzige Kolonie. Mit dieser osmanischen Provinz nahmen die geopolitischen Ambitionen der Habsburger Monarchie 1 - deren Nachbar das dreieckförmige Gebiet ja nach zwei Seiten hin war - Gestalt an, indem sie Ventil für die einschlägigen Ideen, Energien und Ressourcen der aufstrebenden neuen Kolonialherrn wurde. Was für eine Art Kolonie war es aber? In meinem Beitrag werde ich zeigen, dass Bosnien-Herzegowina in der Habsburger Ära am besten als nahe oder ‘annähernde’ Kolonie ( proximate colony ) verstanden werden kann, in der die Nähe von Kolonisatoren und Kolonisierten das bedingt, was Georges Balandier in seinem richtungsweisenden Aufsatz von 1951 die „situation coloniale“ genannt hat. 2 Die beiden Länder in dieser kolonialen Beziehung, Österreich-Ungarn ebenso wie Bosnien-Herzegowina, hatten zwar sozial unterschiedliche Bevölkerungen, die aber auch Sprache, religiöse Zugehörigkeit und das erwachende Nationalbewusstsein teilweise mit der jeweils anderen Seite teilten. Vor vier Jahrzehnten hat Michael Hechter provokant vorgeschlagen, das Konzept des „inneren Kolonialismus“, das ursprünglich zur Erforschung lateinamerikanischer Verhältnisse von Zentrum und Peripherie entwickelt worden war, auch auf Großbritannien anzuwenden. 3 Er argumentierte, dass in Industriegesellschaften die fortschreitende Entwicklung die soziale Ungleichheit und 1 Zu den strategischen Interessen Österreich-Ungarns in Bosnien-Herzegowina vgl. Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini 1882-1903 [Kállays Regime in Bosnien und der Herzegowina 1882-1903]. Sarajevo: Veselin Masleša 1987, pp. 13-38. 2 Balandier, Georges: La situation coloniale. Approche théorique. In: Cahiers Internationaux de Sociologie 11 (1951), pp. 44-79 [engl. Übers. in: Wallerstein, Immanuel (Hg.): Social Change. The Colonial Situation. New York: Wiley 1966, pp. 34-81]. 3 Hechter, Michael: Internal Colonialism. The Celtic Fringe in British National Development, 1536-1966. Berkeley: Univ. of California Pr. 1975. 148 Robert J. Donia die Ethnisierung des Zusammenlebens eher fördere. Unsere Untersuchung zeigt, dass dies durchaus auch auf die vierzig Jahre von Bosnien-Herzegowinas kolonialer Erfahrung zutrifft. Die Industrialisierung und Urbanisierung nahm rapide zu, ebenso die ethnische Differenzierung und Ungleichheit, so wie dies Hechter antizipiert hat. Daraus entsprangen Streitigkeiten und Widersprüche, nicht nur zwischen den Kolonialherrn und ihren neuen Untertanen, sondern auch zwischen Akteuren innerhalb der Kolonie, und dies trug schlussendlich zum Untergang der Monarchie selbst bei. Die österreichisch-ungarischen Verwalter und Journalisten jener Zeit sahen in Bosnien-Herzegowina jedenfalls eine Kolonie, und auch viele Historiker, die diese Epoche studieren, haben diese Charakterisierung verwendet. 4 Trotzdem wurde die genaue Bedeutung des Konzepts ‘Kolonialismus’ in diesem Kontext selten systematisch ausgelotet. Dafür bietet etwa der amerikanische Afrika-Historiker Frederick Cooper mit seiner Synthese verschiedener Ansätze eine umfassende und nuancierte Darstellung des Phänomens an. 5 In einer Ausarbeitung und Aktualisierung von Balandiers Analyse zeigt er, wie der Kolonialismus mehr ist als bloß die repressive Hegemonie einer Gesellschaft über eine andere, sondern auch Folgen zeitigt, die von den Kolonisatoren nicht beabsichtigt sind - einschließlich eines unvorhergesehenen sozialen Wandels der Gesellschaften in der Kolonie wie im Mutterland. Indem ich nun diese Kategorien für koloniale Studien aufgreife, möchte ich herausarbeiten, dass Bosnien-Herzegowinas koloniale Erfahrung akuter war als anderswo und der Antagonismus zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten gerade wegen der Nähe und gegenseitigen Vernetzung der beiden Gemeinwesen an Intensität zunahm. Das Gebiet auf dem Westbalkan wurde somit eine exemplarische Kolonie, dem k. u. k. Mutterland untergeordnet und von ihm zutiefst abhängig, was für die Kolonialherren weitreichende und ungewollte Konsequenzen hatte. Modernisierung Die österreichisch-ungarische Verwaltung verlieh wiederholt ihrer Hoffnung Ausdruck, dass Bosnien-Herzegowina eines Tages eine zeitgemäße europäische Gesellschaft werden würde. 6 Ihre Politik hingegen zielte darauf ab, ein traditionelles Gemeinwesen mit den äußeren Manifestationen einer westlichen Moderne lediglich zu übertünchen. Die k. u. k. Administratoren sahen sich als 4 Vgl. auch die Beispiele in Clemens Ruthners Einführung zu diesem Sammelband. 5 Cooper, Frederick: Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History. Berkeley: Univ. of California Pr. 2005, pp. 33-55. 6 Vgl. Kraljačić 1987, pp. 61-87. „Proximate Colony“ 149 Missionare einer kulturellen Wiedergeburt, welche die Zurückgebliebenheit und den Partikularismus überwinden sollte, die die bosnischen Völker ihrer Meinung nach heimsuchten. Benjamin von Kállay (1839-1903), der kaisertreue Gemeinsame k. u. k. Finanzminister, der von 1882 bis zu seinem Tod als erster der Provinzverwaltung Bosnien-Herzegowinas vorstand, schrieb 1895 an den Kaiser über den „neuen modernen Geist“, der sich dank der „Segnungen der Kultur, die die Landesregierung im ganzen Land zu verbreiten sucht“, entwickeln würde. 7 Da aber er und andere Entscheidungsträger abgeneigt waren, Kräfte des sozialen Wandels freizusetzen, die ihre „Kulturmission“ stören könnten, ließen die k. u. k. Verwalter über weite Strecken die Sozialstrukturen intakt, die sie bei ihrer Ankunft 1878 vorgefunden hatten. Die imperialen Bürokraten waren auf jeden Fall weit davon entfernt, als freie Akteure in einem luftleeren Raum zu handeln. Mit potenziell anfälligen Kronländern der Monarchie nördlich, südlich und westlich von Bosnien-Herzegowina mussten sie immer wieder die Risiken sozialer Unruhe in Erwägung ziehen, die sich leicht auch im Mutterland ausbreiten konnte. Weiters sahen sich die offiziellen k. u. k. Repräsentanten dem heftigen Wiederstand der ungarischen Agrarlobby ausgesetzt, die von Anfang an gegen das koloniale Abenteuer opponiert hatte, da sie um ihre eigene soziale und politische Bedeutung fürchtete. Die politische Rücksichtnahme auf die Lage im Mutterland verstärkte so die konservativen Instinkte der kolonialen Bürokratie. In Erfüllung ihrer erklärten Ziele („to make the people content“ bzw. „retain the ancient traditions of the land vivified and purified by modern ideas“), 8 untermauerte sie die dominante Stellung traditioneller Eliten und fror so gleichsam die Sozialstrukturen, die sich als äußerst resistent gegen wirtschaftliche und politische Transformationen erwiesen, vor Ort ein. Die k. u. k. Administrationen sahen wenig Chancen, die Bosnier zu gelehrigen und dankbaren Untertanen zu bekehren, ohne das größte Problem der neuen Provinz anzusprechen, das immer wieder für Unzufriedenheit sorgte: das quasi-feudale Agrarsystem von abhängigen Landpächtern, den sog. Kmeten. 9 Die 7 Kállay an Kaiser Franz Joseph, Wien, 03.10. 1895. Zit. n. Hauptmann, Ferdo (Hg.): Borba Muslimana Bosne i Hercegovine za vjersku vakufsko-mearifsku autonomiju [Der Kampf der Muslime Bosnien-Herzegowinas um die Autonomie religiöser Stiftungen]. Sarajevo: Arhiv Socijalisticke Republike Bosne i Hercegovina 1967, p. 62. 8 Interview with Benjamin von Kállay. In: The Daily Chronicle [London], 03. 10. 1895. Zeitungsausschnitt in den Papieren von Benjamin Kállay, Faszikel 47, Magyar Országos Levéltár (Budapest), p. 344, zit. n. Donia, Robert J.: Islam under the Double Eagle. The Muslims of Bosnia and Herzegovina, 1878-1914. Boulder, Col.: East European Monografs 1981, p. 14. 9 Vgl. Hauptmann, Ferdo: Privreda i društvo Bosne i Hercegovine u doba austro-ugarske vladavine (1878-1918) [Wirtschaft und Gesellschaft in Bosnien-Herzegowina während 150 Robert J. Donia Aussichten einer solchen Reform erregten jedoch den Widerstand ungarischer Landbesitzer, und weder der Kaiser noch seine Helfer brachten den Mut auf, dieses Problem frontal anzupacken. Stattdessen kodifizierten und regulierten sie die agrarischen Verhältnisse gründlich, eliminierten manchen Missbrauchsfall auf Seiten der Landbesitzer, aber machten den Staat dadurch auch zum Komplizen eines veralteten feudalen Abgabensystems der örtlichen Landpächter an ihre Herren. 10 Erst in den späteren Tagen ihrer Herrschaft boten sie den unfreien Bauern eine ‘freiwillige’ Einigung an - nämlich das Land, das sie bearbeiteten, mit Hilfe von geförderten Hypothekarkrediten zu kaufen. 11 Die Bauern freilich rebellierten noch im frühen 20. Jahrhundert mehrmals gegen das veraltete und ungerechte Agrarsystem, und ihr Anliegen wurde zum Paradefall für jugendliche serbische und kroatische Nationalisten, die sich im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg radikal gegen das Habsburger Reich wandten. 12 Auf der anderen Seite erzielte die k. u. k. Zivilverwaltung etliche Erfolge mit der Urbanisierung ihrer Kolonie. Sie bediente sich einer kleinen Armee von Architekten - meist Südslawen oder Tschechen, die in Wien ausgebildet worden waren -, die die städtischen Zentren Bosniens und der Herzegowina im Stil zeitgenössischer zentraleuropäischer Innenstädte erneuern sollten. 13 Indem sie Vorlagen von Stadtplanern aus anderen Teilen der Monarchie übernahmen, adaptierten sie die Muster des zeitgenössischen Historismus für die Restrukturierung Bosnien-Herzegowinas. Die Architekten profitierten dabei von der Nähe der Kaisermetropole Wien zu ihrer Kolonie, was häufige Reisen hin und her einfach machte und eine Wechselwirkung der Einflüsse und Designs bewirkte. Bald sahen die bosnisch-herzegowinischen Stadtzentren wie andere Provinzstädte in der Monarchie aus. Immigranten strömten in Scharen herbei - nicht nur vom Land, sondern auch aus den kroatisch besiedelten Teilen der Monarchie. Ein wichtiger Teil der regen Bautätigkeit war freilich konservativen Beweggründen geschuldet; so entstanden neue, stattliche Kirchenbauten sogar in den kleinsten Städten. Die Architekten entwarfen auch monumentale Sakralbauder österr.-ungar. Herrschaft]. In: Redžić, Enver (Hg.): Prilozi za istoriju Bosne i Hercegovine. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1987, vol. 2, pp. 99-181. 10 Vgl. Kraljačić 1987, pp. 499-515; Donia 1981 , pp. 25-28. Zur Agrar-Administration vgl. K. u. k. Gemeinsames Finanzministerium: Bericht über die Verwaltung Bosniens und der Herzegovina 1906. Vienna: k. k. Hof- & Staatsdruckerei 1906, pp. 53-39. 11 Vgl. Hauptmann 1987, pp. 181-187. 12 Die Ansichten dieser radikalen Schüler und Studenten sind zusammengefasst bei Dedijer, Vladimir: The Road to Sarajevo. New York: Simon & Schuster 1966, pp. 175-234. 13 Vgl. die Illustrationen bei Krzović, Ibrahim: Arhitektura Bosne i Hercegovine, 1878-1918 [Die Architektur Bosnien-Herzegovinas 1878-1918]. Sarajevo: Umjetnička galerija Bosne i Hercegovine 1987. „Proximate Colony“ 151 ten für die Hauptstadt Sarajevo, um den Status der von der Regierung eingesetzten religiösen Funktionäre zu untermauern, das Interesse der Bevölkerung strategisch von säkularen nationalistischen Bewegungen abzulenken und sie zu Frömmigkeit und Gehorsam zu erziehen. 14 Obwohl sie durch die Hügelketten im Umland behindert waren, die Sarajevos Ost-West-Tallage definieren, schafften es die Architekten und Stadtplaner, die visuelle Bedeutung der Wiener Ringstraße ohne ihre kreisförmige Anlage zu kopieren: Sie schufen quasi einen linearen Boulevard in einem bescheidenerem Ausmaß entlang den Flussufern der Miljacka. Obwohl sie sich bemühten, sich den ( Jugend-)Stil des Wiener Sezessionismus zu eigen zu machen, diktierte ihnen der habsburgische Traditionalismus, dass öffentliche und religiöse Gebäude dieser Mode abzuschwören hätten, und so bestimmten historistische Gebäude auch weiterhin das Stadtbild. Trotz des konservativen Charakters dieses von der Habsburger Monarchie finanzierten Wandels lässt sich sagen, dass Österreich-Ungarns selbstproklamierte „Kulturmission“ bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts großenteils erfolgreich war. Es war aber ein Pyrrhus-Sieg: Die Verbreitung der ‘modernen’ Kultur wirkte sich nachteilig auf das k. u. k. Kolonialprojekt aus. Bessere Kommunikation und Infrastruktur beseitigten die Isolation, in der viele Bosnier und Herzegowiner bis zum Aufkommen eines Straßennetzes, Eisenbahn- und Telegrafensystems gefangen waren; gesteigerte Mobilität und der Zugang zu Information schufen Möglichkeiten, sich politisch zu organisieren. So hatten von 1895 bis zur Implementierung des Ausnahmezustands als Folge der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand 1914 die k. u. k. Administratoren vielerlei Formen von Unzufriedenheit zu gewärtigen, deren Zielscheibe zunehmend die imperiale Fremdherrschaft selbst wurde. Es entwickelten sich vier Formen des Bürgerprotests: 1. Die serbisch-orthodoxen und muslimischen Mitglieder konservativer sozialer Eliten organisierten sich, um eine größere Autonomie in Bildung und Religion zu erreichen. 15 (Der katholische Klerus engagierte sich nicht in einer Protestbewegung, sondern führte Kampagnen für Religionsübertritte durch, die gewisse Züge mit den Initiativen der Muslime und Serben teilten. 16 ) 14 Vgl. Donia, Robert J.: Sarajevo. A Biografy. Ann Arbor: Michigan Univ. Pr. 2006, pp. 67-82. 15 Vgl. Madžar, Božo: Pokret Srba Bosne i Hercegovine za vjersko-prosvjetnu samoupravu [Die serbische Autonomieewegung für Religion und Bildung in Bosnien-Herzegowina]. Sarajevo: Veselin Masleša 1982, pp. 95-426; Šehić, Nusret: Autonomni pokret Muslimana za vrijeme austrougarske uprave u Bosni i Hercegovini [Die Autonomiebewegung der Muslime während der österr.-ungar. Herrschaft in Bosnien-Herzegowina]. Sarajevo: Svjetlost 1980, pp. 43-356; Donia 1981, pp. 37-174. 16 Vgl. Grijak, Zoran: Politička djelatnost vrhbosanskog nadbiskupa Josipa Stadlera [Die politischen Aktivitäten des bosnischen Erzbischof Josip Stadler]. Zagreb, Sarajevo: Hrvatski 152 Robert J. Donia 2. Der serbische und kroatische Mittelstand engagierte sich gemeinsam mit Teilen der Eliten in nationalen Bewegungen, die zunehmend feindselig dem k. u. k. Regime gegenüber auftraten und Verbindungen mit ähnlichen Organisationen in den Nachbarländern aufbauten. 3. Die Landesregierung ignorierte und unterdrückte eine regionale Arbeiterbewegung, die um die Mitte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts entstand. 4. Die größte Gefahr für die Monarchie drohte aber von Seiten einer nationalaktivistischen Jugend, die sich in Geheimgesellschaften organisierte und auf die Zerstörung der Habsburger Herrschaft abzielte. Einige von ihnen zeigten sich willens, Anschläge auszuführen und ihr eigenes Leben zu opfern. Die Führer aller vier Bewegungen lernten schnell, Sympathisanten und Unterschlupf in den benachbarten Gebieten der Monarchie und in Serbien zu finden. Paradoxerweise - obwohl nicht einzigartig in kolonialen Situationen - konnten Dissidenten im k. u. k. Mutterland mit Straffreiheit rechnen und auf diese Weise sowohl den strikten Gesetzen als auch der Überwachung in der Kolonie selbst entgehen. Die räumliche Nähe verschaffte bosnisch-herzegowinischen Agitatoren aber auch Zugang zu den Entscheidungsträgern und Meinungsmachern der Monarchie. Sie profitierten von strategischen Allianzen innerhalb der Monarchie - wie z. B. mit Rechtsanwälten, die ihre Petitionen entwarfen, Journalisten, die ihre Anliegen publik machten, und Parlamentsabgeordneten, die Anfragen zu ihren Gunsten einbrachten. Während die habsburgischen Behörden einerseits traditionelle muslimische Eliten förderten, ermutigten sie andererseits auch eine kleine Fraktion reformwilliger Landbesitzer und Intellektueller. Diese Muslime unterstützten mit Hilfe ihrer Zeitschrift Bošnjak [ Der Bosnier ], die seit 1891 erschien, Kállays Projekt, von oben eine uniforme, multireligiöse bosnische Identität ( Bošnjaštvo ) auf der Basis territorialer Loyalität zu kreieren. 17 Die k. u. k. Repräsentanten zeigten sich auch hocherfreut, dass die Führungspersönlichkeiten dieser Gruppe eine Reform des islamischen Erziehungswesens guthießen, die auch weltliche und wissenschaftliche Unterrichtsgegenstände inkludierte. So waren die k. u. k. Behörden guter Hoffnung, dass das Bošnjak -Konzept die aufkommende Loyalität der Orthodoxen mit einer serbischen Nationalidentität bzw. der Katholiken mit einer kroatischen überwinden könne. Die Idee einer einzigen bosnischen Identität fand jedoch nie wirklich Rückhalt außerhalb dieses regierungsfreundlichen Zirkels muslimischer Intellektueller. Sehr zum Unmut der k. u. k. Landesregierung begannen die Anhänger der Orthodoxie in Bosnien-Herzegowina, institut za povijest & Vrhbosanska nadbiskupija 2001, pp. 244-248. 17 Vgl. Kraljačić 1987, pp. 214-278. „Proximate Colony“ 153 sich immer mehr als Serben zu sehen, während die Katholiken eine kroatische Identität annahmen. Wie sich herausstellte, waren ‘die Bosnier’ nicht für kosmetische kulturelle Neuerungen zu haben; sie orientierten sich lieber an den Nachbarländern. Psychologisierung Im Zentrum des k. u. k. Zugangs zu den neuen kolonialen Untertanen stand ein tiefgreifender Paternalismus. Die Verwaltung sah sich in loco parentis und glaubte deshalb, die Einwohner von Bosnien-Herzegowina seien am besten wie Kinder zu verstehen, zu motivieren und zu diziplinieren. Ihre Haltung korrespondierte gut mit dem absolutistischen Geist, der die ersten zwanzig Jahre der Okkupation unter Kállay dominierte. Ungeachtet seines profunden Einflusses auf die k. u. k. Politik ging der Paternalismus jedoch Kállays Ankunft voraus und setzte sich nach seinem Tod fort. Während des gesamten k. u. k. Intermezzos in Bosnien-Herzegowina schienen die österreichisch-ungarischen Behörden an die ‘Bürde’ zu glauben, die ihnen der Transfer einer inhärent überlegenen ‘Zivilisation’ an eine inhärent inferiore Bevölkerung auferlegte, und weder geografische Nähe noch geteilte ethnische Zugehörigkeit konnte ihre absichtsvolle Herablassung mildern. Wie der Anthropologe Joel Halpern treffend bemerkt: „geografical proximity was accompanied by a sense of remoteness.“ 18 Der gleichsam instinktive Paternalismus der Behörden war bereits in der ersten offiziellen Begegnung zwischen den imperialen Besatzern und deren künftigen bosnisch-herzegowinischen Untertanen im August 1878 spürbar: Feldzeugmeister Joseph Philippovich (1818-1889), der Befehlshaber des k. u. k. Okkupationsfeldzugs, wollte die Oberhäupter der großen religiösen Gemeinschaften in Sarajevo empfangen. 19 Er ersuchte Grga Martić, einen Franziskaner-Pater, für ihn deren Vertreter auszuwählen, und bestand darauf, die Juden, Serbisch-Orthodoxen und Muslime getrennt von den Katholiken zu treffen. Nach einem Eröffnungszeremoniell scholt Philippovich die Oberhäupter der Orthodoxen und Muslime für ihren Widerstand gegen die habsburgische Okkupation und drohte ihnen mit Vergeltung, sollten sie sich den k. u. k. Streitkräften weiterhin widersetzen. Dann empfing er separat Pater Martić und lobte die Katholiken wärmstens für ihre Loyalität dem neuen Regime gegenüber. Inzwischen verlangte - und erhielt - ein Adjutant des Feldzeugmeisters von den Muslimen die Namen der Rädelsführer des militärischen Widerstands in 18 Halpern, Joel: Foreword. In: Jezernik, Božidar: Wild Europe. The Balkans in the Gaze of Western Travellers. London: Saqi 2004, p. 17. 19 Vgl. Kreševljaković, Hamdija: Sarajevo za vrijeme austrougarske uprave [Sarajevo zur Zeit der österr.-ungar. Verwaltung]. Sarajevo: Arhiv grada Sarajeva 1969, pp. 13 f. 154 Robert J. Donia Sarajevo; sie wurden verhaftet und in den darauf folgenden Tagen exekutiert. 20 Während man von einem siegreichen Kommandanten ein hartes Durchgreifen gegen diejenigen, die seine Soldaten angegriffen, verwundet und getötet hatten, durchaus erwarten konnte, bot Philippovich zugleich ein erstes Beispiel für die k. u. k. Bevorzugung der bosnisch-herzegowinischen Katholiken für deren exemplarisches Verhalten. Die k. u. k. Behörden rechneten damit, dass diese Bezeugung von Härte und Zuwendung andere in Bosnien-Herzegowina dazu anhalten würde, den Weg von Loyalität, Gehorsam und Dankbarkeit zu beschreiten. 1880 schrieb Kállays Amtsvorgänger als gemeinsamer Finanzminister, Baron Jozsef von Szlávy, die k. u. k. Administratoren sollten vor Ort „Persönlichkeiten“ einsetzen, „welche vermöge ihrer Rechtlichkeit, ihrer Bildung, ihres unbescholtenen Lebenswandels und ihrer soziale Stellung zunächst berufen schienen, auf ihre Glaubensgenossen einer Einfluss auszuüben“. 21 Als Aussage über die Absicht der neuen Kolonialherren ist dies nicht weiter bemerkenswert: Ähnliche Worte wurden zweifelsohne auch von anderen europäischen Administratoren in anderen Kolonien ausgesprochen oder niedergeschrieben. Auffällig ist indes, welche Kriterien hier nicht genannt werden: Offenkundig waren keine besonderen Eigenschaften wie z. B. Ausbildung oder andere grundlegende Kompetenzen der Kandidaten erforderlich. Mit Ausnahme von Führungspersönlichkeiten der religiösen Hierarchien mussten örtliche Würdenträger wie z. B. Bürgermeister, Vizebürgermeister und Gemeinderäte keine administrativen Fähigkeiten mitbringen und auch wenig echte Arbeit verrichten. Sie wurden sorgsam ausgesucht und in prestigeträchtige Funktionen eingesetzt in der Hoffnung, dass der Respekt, den sie verströmten, sich als Loyalität, und politischer Quietismus innerhalb der Gemeinschaften, denen sie vorstanden, niederschlagen würde. Ihre Tage waren erfüllt mit zeremoniellen Auftritten, Höflichkeitsbesuchen bei Behörden, Mitgliedschaften in Ehrendelegationen und anderen symbolischen Gesten der Loyalität der k. u. k. Landesregierung gegenüber. Ihr Aufwand wurde mit Gehältern entgolten, aber der bedeutendere Teil ihrer Entlohnung für ihre öffentlichen Huldigungsgesten bestand im sozialen Status, der mit diesen Positionen verbunden war. Illoyales Verhalten hatte naturgemäß den gegenteiligen Effekt: Die Strafe dafür wurde - ebenso wie die Belohnungen - im Geiste des Paternalismus gehandhabt, in der Annahme, dass deutliche Zeichen imperialen Missfallens an- 20 Vgl. Kreševljaković, Hamdija: Sarajevo u doba okupacije Bosne 1878 [Sarajevo zur Zeit der Okkupation Bosniens 1878]. In: Ders.: Izabrana Djela. Vol. 4. Sarajevo: Veselin Masleša 1991, p. 133. 21 Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Politische Abteilung, XL. 210, Szlávy an Dahlen, Wien, 24.08.1880. „Proximate Colony“ 155 dere davon abschrecken würden, dem Vorbild des Übeltäters zu folgen. Zuerst sprachen die k. u. k. Behörden oft eine öffentliche Abmahnung aus, manchmal gefolgt von einer nominellen Geldstrafe oder einer Suspendierung für einige Tage. Derartige Gesten waren freilich wenig geeignet, die Betreffenden wirklich abzuschrecken; in etlichen Fällen erweckten sie eher Ressentiments bei den Glaubensgenossen des Missetäters. 22 Gelegentlich gewährte die Verwaltung auch Kredite und Konzessionen für ihre bevorzugten Würdenträger, um sie ihnen im Bedarfsfall - falls sich der Empfänger daneben benahm - wieder entziehen zu können. Die tatsächliche Arbeit der Verwaltung Bosnien-Herzegowinas wurde freilich von professionellen Bürokraten verrichtet, die aus der Monarchie importiert worden waren. Die geografische Nähe der Kolonie zum Mutterland bzw. die ethnischen Überlappungen zwischen beiden hatten für die Doppelmonarchie den großen Vorteil, dass sie damit über ein großes Reservoir an ausgebildeten Beamten verfügte, die ihre Sprache mit den kolonialen Untertanen teilten. Auf diese Weise konnte das k. u. k. Regime zwei parallele Strukturen aufrechterhalten, nämlich jene zeremonielle Hierarchie von lokalen Würdenträgern und die importierte Bürokratie. Erst nach der Annexion von 1908 begannen die habsburgischen Amtsträger die lokale Bevölkerung in Verantwortungspositionen einzubeziehen, und dieser Prozess steckte noch in den Kinderschuhen, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Beamte aus der Monarchie waren indes in jeder Stadt der neuen Kolonie stationiert und mit der Aufgabe betraut, die lokale Bürokratie zu leiten und Informationen über alle wichtigen Einwohner zu sammeln. Fast alle von ihnen beherrschten die Landessprache. Sie schufen eine Kultur von Informanten, nahmen an Treffen von lokalen Vereinigungen teil und durchforschten das Gebiet auf Anzeichen von störenden Aktivitäten oder gar staatsfeindlichem politischem Aktivismus. Ihre Kollegen und Vorgesetzten in Sarajevo sammelten und analysierten diese lokalen Berichte und schickten sie ans Gemeinsame Finanzministerium in Wien weiter. Kállay brillierte in dieser Form der politischen Überwachung: Die Archive sind heute noch voll mit Berichten, die seine Aufmerksamkeit erregten und Kommentare provozierten, und einige von ihnen wurden sogar an den Kaiser zur Einsicht und Stellungnahme weitergeleitet. 23 Auf diese Weise waren die Einwohner Bosnien-Herzegowinas von der Mitte der 1880er Jahre an bis zu Kállays Tod 1903 wohl eine der meist überwachten 22 Die Unzufriedenen sollten später diese Episoden in ihren Kampagnen zitieren, mit denen sie die öffentliche Erbitterung weiter aufstacheln wollten; sie fügten die Akte kleinlicher Repressalien den anwachsenden Litaneien von Beschwerden über das Regime hinzu. 23 Das Ausmaß der Überwachung durch die lokalen Behörden ist in den hunderten Dokumenten evident, die Hauptmann 1967 gesammelt hat. 156 Robert J. Donia Populationen der Welt. Die importierten Beamten fungierten zugleich auch als Kontrollinstanz für die eingesetzten autochthonen Würdenträger, um sicherzustellen, dass diese ihre Pflichten in Treue und Dankbarkeit gegenüber der Monarchie verrichteten. Dieses System der Überwachung, bestehend aus kleinen Anreizen und symbolischen Bestrafungen, wurde nach Kállays Tod schrittweise außer Kraft gesetzt; aber der Paternalismus des k. u. k. Regimes in Bosnien-Herzegowina blieb und inspirierte auch die Reaktionen auf Studentenbewegungen und Geheimorganisationen im frühen 20. Jahrhundert. Das paternalistische Credo war, dass Bildung ein Privileg sei, das von der Verwaltung nach Gutdünken an vielversprechende junge Menschen in der Erwartung verliehen wurde, dass sie diesen Gefallen mit Loyalität und Dankbarkeit erwidern würden. Diese Prämisse wurde freilich durch die geografische Nähe der Bildungsinstitutionen Belgrads, Zagrebs und Wiens konterkariert, wo Bosnier und Herzegowiner Zugang zu einer höheren Bildung fanden. Deshalb sahen die habsburgischen Verwalter jene Städte als Orte eines potenziell feindlichen Einflusses auf das koloniale Unternehmen an. Sie bekamen es aber auch mit einer lokalen Konkurrenz zu tun, wenn es um das Privileg der Bildung ging: In den Jahren nach 1900 boten die ethno-nationalen Vereinigungen Napredak (‘Fortschritt’, für Kroaten), Prosvjeta (‘Aufklärung’, für Serben) und Gajret (‘Siegel’, für Muslime) Stipendien an und wetteiferten so mit der Unterstützung, die das Regime jungen Menschen und ihren Familien bot. Die Empfänger dieser Beihilfen zeigten sich auch nicht so sehr dem Regime verbunden, wie dies die Verwaltung gehofft hatte. Zwar schrieb die Administration das erforderliche Verhalten für bosnisch-herzegowinische Schüler und Studenten aller Lernniveaus im Detail vor; diese jedoch zeigten sich zunehmend widerspenstig gegenüber den ihnen auferlegten Einschränkungen. So produzierte das k. u. k. Bildungssystem in Bosnien-Herzegowina mehr Rebellen als loyale Untertanen, und es waren unzufriedene Studenten, die im frühen 20. Jahrhundert aggressive staatsfeindliche Bewegungen gründeten und Attentate gegen die Amtsträger der Monarchie planten. Historisierung Die neue k. u. k. Landesregierung setzte seit den 1800er Jahren alles daran, die Geschichte der besetzten Gebiete so zu schreiben, dass Land und Leute sich so stark wie möglich von den umliegenden südslawischen Territorien unterschieden. Kállay, selbst Amateurhistoriker und Autor einer Geschichte Serbiens, leitete persönlich diese Bemühungen in die Wege. 1884 beauftragte er seinen ehrgeizigen Kollegen und Freund Lajos Thallóczy, eine zweibändige Geschichte „Proximate Colony“ 157 der besetzten Gebiete zu verfassen. 24 Dieser nahm die Herausforderung an und pflichtete dem Landesherrn bei, dass Bosnien-Herzegowina „als historischer Organismus“ zu verstehen sei, der sich vollständig unabhängig entwickelt habe. 25 Er vertiefte sich bei seiner Suche nach Quellen in zahlreiche ungarische Archive und zeigte sich bald überwältigt von der Materialfülle. Unfähig, seine selbst vorgeschlagene zweibändige Darstellung zu vollenden, schlug Thallóczy 1894 vor, zunächst eine fünfbändige Kompilation unter dem Titel Monumenta Bosniae zu veröffentlichen, der drei Bände seiner eigenen Studie folgen sollten. Angesichts parallel entstehender serbischer und kroatischer Geschichtswerke, die Bosnien-Herzegowina mit einbezogen, war Kállay freilich mehr an handfesten Resultaten als an erschöpfender Dokumentation interessiert und stellte die Finanzierung des Projekts ein. Obwohl Thallóczy etliche Aufsätze mit den Ergebnissen seiner Forschungen publizierte, schloss er weder sein magnum opus noch die versprochene Quellensammlung ab. Nach Thallóczys Versagen beschloss Kállay, sich dem Problem publizistisch zu nähern. So unterstützte er die deutschsprachige Veröffentlichung des populären und reich bebilderten Reiseberichts eines anderen Freundes, des ungarischen Parlamentariers János Asbóth, der mit der k. u. k. Okkupation Bosnien-Herzegowinas sympathisierte. 1889 unterschrieb Kállay auch höchstpersönlich einen Vertrag mit dem Londoner Verleger Swan Sonnenschein für eine Übersetzung dieses Werkes unter dem Titel An Official Tour through Bosnia and Herzegovina. 26 Asbóths Buch unterstützte in seiner empirischen Darstellung Kállays Bemühungen, eine separate, multikonfessionelle bosnische Identität zu kreieren, die serbische und kroatische Aspekte ausklammerte. Mit dieser Entwicklung einer eigenständigen Geschichte Bosnien-Herzegowinas versuchten Kállay und seine Mitstreiter die österreichisch-ungarische Okkupation ebenso zu rechtfertigen wie auch die neue Kolonie vor gefährlichen nationalistischen Tendenzen in den Nachbarländern zu isolieren. Kállay bewunderte in der Geschichte Europas am meisten das römische Imperium und sah seine Anstrengungen, eine neue, rationale Administration in Bosnien-Herzegowina einzuführen in einer Traditionslinie mit der Herrschaft Roms über das dalmatinische Hinterland. Die offizielle Geschichtsschreibung legte dementsprechend ihre Akzente auf die Vorgeschichte, die Römerzeit und das Mittelalter, während sie die vier Jahrhunderte der osmanischen Herrschaft entweder ignorierte oder als folgenlos betrachtete. So kam es, dass viele Besucher aus 24 Kraljačić 1987, pp. 268 ff. 25 Ibid., p. 269. 26 Asbóth, János: An Official Tour through Bosnia and Herzegovina, with an account of the history, antiquities, agrarian conditions, religion, ethnology, folk lore, and social life of the people. London: S. Sonnenschein 1890. 158 Robert J. Donia dem Westen - unfähig zu verstehen, dass das moribunde Osmanische Reich zu seiner Zeit durchaus in der Lage gewesen war, große Bauvorhaben durchzuführen - die türkische Architektur des Okkupationsgebietes intuitiv mit anderen Epochen in Beziehung setzten. Sie bestanden darauf, dass etwa die elegante Neretva-Brücke in Mostar, ein Triumpf osmanischer Architektur und Ingenieurskunst des 16. Jahrhunderts, schon in der Antike errichtet worden sein müsse. 27 Trotz einer überwältigenden und schon damals gut einsehbaren historischen Beweislage schrieben sie also die Konstruktion der Brücke den Römern zu und perpetuierten damit einen populären Fehler, das Bauwerk um mehr als tausend Jahre zurückzudatieren. Diese landläufige Fehlwahrnehmung wurde in Wort und Bild weiter verbreitet. So zeigt ein eindruckerweckendes zeitgenössisches Foto der berühmten Brücke, das den Zeitgeist der Romantik evoziert, Menschen als winzig kleine Wesen, die von der Pracht der Natur ebenso wie von der monumentalen Errungenschaft der Architektur überwältigt scheinen. In Anlehnung an die populären Mythen von der Herkunft des Bauwerks trägt dieses Bild [Abb. 1] auch den falschen Titel Römerbrücke. 28 Kállays meistambitioniertes Projekt in seinem Unterfangen, Bosnien-Herzegowina im Sinne Österreich-Ungarns zu historisieren, war freilich die von ihm finanzierte Einrichtung des Landesmuseum ( Zemaljski muzej ) in Sarajevo 1884, dessen Entwicklung er bis zu seinem Tod überwachte. Obwohl diese Institution den Namen eines Museums trug, kombinierte sie dies mit den Funktionen eines Archivs, einer Bibliothek und Forschungsstätte sowie eines Sponsors archäologischer Expeditionen. Bewusst nach dem Modell der Hofmuseen in Wien sowie des ungarischen Nationalmuseums in Budapest konzipiert, expandierte das 27 Jezernik 2004, pp. 190-203, bietet eine gelehrte Erklärung für die Ursprünge dieser Legende im 19. Jh. 28 Diese Abbildung befindet sich in den Special Collections der Harvard Fine Arts Library. Abb. 3. Mostar, Römerbrücke „Proximate Colony“ 159 Landesmuseum rasch und beschäftigte Dutzende von Forschern, Kuratoren, Bibliothekaren und Archivaren. 29 Es publizierte ein Periodikum in zwei Ausgaben: eine in der Landessprache in Sarajevo, die andere auf Deutsch in Wien. 1894 fungierte Kállay sogar als Gastgeber und Financier eines internationalen archäologischen Kongresses in Sarajevo, der der Fachwelt die Forschungsergebnisse des Museums und den aufgeklärten Geist des Regimes vor Augen führen sollte. 30 Wie auch immer: Obwohl die ungebrochene Begeisterung des Personals für eine eigenständige bosnische Vergangenheit gelegentlich auch zu Übertreibungen, Verschleierungsversuchen, Fehlinterpretation, ja zu veritablen Erfindungen führte, 31 muss nichtsdestotrotz die Einrichtung des Landesmuseums als bedeutender Beitrag zur Entwicklung von Forschung und Lehre in Bosnien-Herzegowina gewertet werden. Hier machte die geografische und mentale Nähe des k. u. k. Mutterlandes einen weitreichenden Austausch zwischen den Mitarbeitern in Sarajevo und den älteren und größeren Institutionen in Wien und Budapest möglich. Ökonomisierung Indem es die einzige Kolonie der Monarchie war, wurde Bosnien-Herzegowina auch die wirtschaftliche Peripherie der beiden rivalisierenden Zentren, von denen das eine von einer agarischen ungarischen Elite und das andere von deutschsprachigen Liberalen dominiert war. Beide befanden sich in einem andauernden Konflikt miteinander; sie hatten konkurrierende ökonomische Interessen und nationale Befindlichkeiten, und viele andere Interessensgruppen in der Monarchie hatten die Wahl, sich mit der einen Seite zu verbünden, um sich als Gegner der anderen wiederzufinden. Die rivalisierenden österreichischen und ungarischen Eliten hofften beide auf ihre Weise, dem Kaiser und dem Gesamtstaat ihre bevorzugte Innen- und Außenpolitik aufzubürden. Das imperiale Zentrum freilich hatte zwar seine eigene Agenda, aber gerade in Bosnien-Herzegowina sah die loyale k. u. k. Verwaltung ihre täglichen Amtsgeschäfte häufig durch jene interne Konkurrenz zwischen den beiden Teilstaaten behindert: In der komplexen k. u. k. Architektur politischer Entscheidungsfindung hatte die agarische Fraktion Ungarns den Vorteil, in einer Position zu sein, aus der heraus 29 Die Frühzeit des Museums wird dokumentiert bei Dautbegović, Almaz: Spomenica stogodišnjice rada Zemaljskog muzeja Bosne i Hercegovine 1888-1988 [Zum 100-jährigen Jubliäum des Landesmuseums von Bosnien-Herzegowina]. Sarajevo: Zemaljski muzej Bosne i Hercegovine 1988. 30 Vgl. Kraljačić 1987, pp. 266 f. 31 Vgl. etwa Wenzel, Marian: Bosanski stil na stećima i metalu [Bosnischer Stil auf Grabsteinen und Metall]. Sarajevo: Sarajevo Publishing 1999, pp. 21-30, pp. 171-180. 160 Robert J. Donia sie die meisten Beschlüsse blockieren konnte. Viele dieser Ungarn hatten von Anfang an erfolglos der Okkupation opponiert; sie waren indes erfolgreich, wenn es darum ging, die Aktivitäten der Monarchie in Bosnien-Herzegowina legal zu hintertreiben. 32 Fatalerweise konnten die magyarischen Verhinderer sicherstellen, dass keinerlei finanziellen Mittel aus der Monarchie für Investitionen in Bosnien-Herzegowina eingesetzt werden durften. Wie der bosnische Historiker Dževad Juzbašić gezeigt hat, brachte diese Einschränkung die k. u. k. Landesregierung dazu, vor allem Grundstoffindustrien zu entwickeln, die dazu dienen sollten, Einnahmen für die Provinz zu generieren. Obwohl sich die Verwaltung vielleicht ohnehin für diesen Wirtschaftszweig entschieden hätte, argumentiert Juzbašić, dass das geltende Abgabenrecht effektiv alle möglichen Alternativen eliminiert und die neuen Herrscher dazu veranlasst habe, darauf zu bestehen, dass die meisten größeren Firmen im Bereich der Tabakindustrie, Holzwirtschaft und Eisenerzgewinnung in Staatsbesitz bleiben müssten. 33 Die k. u. k. Bürokraten behinderten sich dadurch selbst in ihren ehrgeizigen Projekten, die die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Mutterland stark reduzieren hätte können: Die wirtschaftliche Rivalität zwischen dem Königreich Ungarn und dem österreichischen Cisleithanien hatte beispielsweise einen großen Einfluss auf den Eisenbahnbau in der neuen Kolonie. Die Verwaltung sah sich genötigt, auf die preisgünstigere Schmalspur zu setzen und eine Streckenführung zu planen, die offenkundig eher österreichischen oder ungarischen Interessen diente als den wirtschaftlichen Erfordernissen in Bosnien-Herzegowina selbst. 34 Auch die hochtrabenden Hoffnungen der neuen Verwalter, eine umfassende Grundschulbildung einzuführen - verkörpert in ihrem Plan, ein flächendecken- 32 Juzbašić, Dževad: O nastanku paralelnog austrijskog i ugarskog zakona o upravljanju Bosnom i Hercegovinom iz 1880. godine [Über den Ursprung der parallellen österr. und ungar. Gesetze zur Verwaltung Bosnien-Herzegowinas im Jahr 1880]. In: Juzbašić, Dževad: Politika i privreda u Bosni i Hercegovini pod Austrougarskom upravom [Politik und Wirtschaft in Bosnien-Herzegowina unter österr.-ungar. Administration]. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 2002, pp. 11-48. 33 Juzbašić, Dževad: Neke karakteristike privrednog razvitka Bosne i Hercegovine u periodu od 1878. do 1914. godine [Einige Charakteristika der wirtschaftlichen Entwicklung Bosnien-Herzegowinas von 1878 bis 1914] and: O uključenju Bosne i Hercegovine u zajedničko austrougarsko carinsko područje [Über die Einbeziehung Bosnien-Herzegowinas in die österr.-ungar. Zollunion]. In: Juzbašić 2002, pp. 49-86 u. pp. 141-153. 34 Das Standardwerk zum k. u. k. Eisenbahnbau in Bosnien-Herzegowina und die interne Konkurrenz der beiden Reichshälften ist Juzbašić, Dževad: Izgradnja željeznica u Bosni i Hercegovini u svjetlu austrougarske politike od okupacije do kraja Kállayeve ere [Eisenbahnbau in Bosnien-Herzegowina im Lichte der österr.-ungar. Politik von der Okkupation bis zum Ende der Ära Kállay]. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1974. „Proximate Colony“ 161 des Netzwerk von Schulen in der ganzen Provinz zu errichten - blieb unrealisiert. Dieses eklatante Versagen bedeutete im Rahmen des österreichisch-ungarischen Kolonialprojekts, dass die Alphabetisierungsrate in den vierzig Jahren Fremdherrschaft nur wenig zunahm. Da nur wenige Bosnier und Herzegowzen lesen und schreiben konnten, mussten Facharbeitskräfte aus der Monarchie importiert werden, um die wenigen Industriearbeitsplätze zu besetzen, die durch die Entwicklungspläne geschaffen worden waren. Als Kompensation für dieses Manko des staatlichen Schulsystems erweiterten die muslimischen, kroatischen und serbischen Bevölkerungsgruppen ihre eigenen Schulnetzwerke - oft mit Finanzhilfe und Lehrern aus den Nachbarländern. 35 Diese Schulen nährten freilich den Nationalismus und produzierten unzufriedene Jugendliche, von denen einige später gegen die habsburgische Politik im Land protestierten oder gar aktiven Widerstand leisteten. 36 Die wirtschaftliche Abhängigkeit Bosnien-Herzegowinas vertiefte sich im Lauf der österreichisch-ungarischen Herrschaft. Mit Ausnahme der Tabakindustrie lag die Wirtschaftsleistung vor allem in der Rohstoffgewinnung, während die Bevölkerung importierte Endprodukte aus der Monarchie konsumierte. Die meisten dieser Güter kamen im späten 19. Jahrhundert aus Österreich, aber nach 1900 begannen ungarische Unternehmer ihr Land zu industrialisieren und selbst Fertigprodukte anzubieten. 37 Auf diese Weise traten bald österreichische und ungarische Waren auf dem bosnisch-herzegowinischen Markt in einen direkten Wettbewerb. Österreichische und ungarische Geschäftsleute konkurrierten spätestens 1909, als von beiden Seiten Gewerbemuseen in Sarajevo eingerichtet wurden, die dazu dienten, die Konkurrenzwaren denjenigen anzubieten, die sie sich leisten konnten. 38 Hier führte die Nähe des Mutterlands dazu, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit Bosnien-Herzegowinas nur größer wurde und sich außerdem noch durch die Konkurrenz der beiden ökonomischen Eliten Österreich-Ungarns intensivierte. 35 Papić, Mitar: Hrvatsko Školstvo u Bosni i Hercegovini do 1918. godine [Das kroatische Schulwesen in Bosnien-Herzegowina bis 1918]. Sarajevo: Veselin Masleša 1982, pp. 101- 146; Papić, Mitar: Istorija srpskih škola u Bosni i Hercegovini [Geschichte der serbischen Schulen in Bosnia-Herzegowina]. Sarajevo: Veselin Masleša 1978, pp. 115-176. 36 Zu den Protesten in Mostar, cf. Donia, Robert J.: Mostar. Epicenter of Bosnian Student Movements on the Eve of World War I. In: Hercegovina 9 (1997), pp. 264-275. 37 Juzbašić, Dževad: Izvještaj Hermanna von Sautera o odnosima Bosne i Hercegovine i Monarhije u svjetlu austro-ugarskih ekonomskih suprotnosti [Der Bericht von Hermann v. Sauter über die Beziehungen Bosnien-Herzegowinas und der Monarchie im Lichte der österr.-ungar. wirtschaftlichen Gegensätze]. In: Juzbašić 2002, pp. 112-120. 38 Ibid., p. 133. 162 Robert J. Donia Fazit Bosnien-Herzegowina war ein quasi vertrautes Gebiet, als die Habsburger Monachie 1878 ihr internationales Mandat zur Okkupation und Verwaltung des Landes wahrnahm. Mit den Vorteilen, die ihnen aus der geografischen Nähe bzw. den Überlappungen mit eigenen größeren Bevölkerungsgruppen erwuchsen, hatten die kolonialen k. u. k. Administratoren ein besseres Verständnis in Bezug auf Geschichte, Traditionen und Kulturen als jene europäischen Funktionäre, die zur gleichen Zeit Überseekolonien verwalteten. Diese Vertrautheit und Nähe war jedoch nicht nur von Vorteil für die Einwohner Bosnien-Herzegowinas. Sie vertiefte sogar noch die Kluft zwischen Kolonialherren und Kolonisierten, vor allem als die Kolonie ein Faustpfand in jenen Machtkämpfen wurde, die die Monarchie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erschütterten. Umgekehrt hatte jede größere Entscheidung der k. u. k. Verwaltung in Bosnien-Herzegowina auch Auswirkungen auf das politische Leben in der ganzen Monarchie. Sogar ein Verwalter mit großen Visionen und weitgehender Autonomie wie Kállay legte eine größere Vorsicht in der Durchsetzung seiner Ideen an den Tag als in einer Überseekolonie, so dass die Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten der dominanten politischen Gruppen innerhalb der Monarchie letztlich nur seine konservativen Instinkte stärkte. Obwohl sie nach außen hin eine Modernisierung und Liberalisierung der Kolonie befürwortete, begann die Monarchie zunehmend Bosnien-Herzegowina auszubeuten, was dessen koloniale Lage im frühen 20. Jahrhundert verschlimmerte. Die nahe Kolonie wurde eine Hyperkolonie, die immer mehr vom Mutterland abhängig wurde, während immer mehr Einwohner ihr Unbehagen über das bevormundende Verhalten der Kolonisatoren aus Österreich-Ungarn in Form zunehmend gewalttätiger Proteste ausdrückten. 39 ( Aus dem Englischen von Clemens Ruthner ) 39 Für eine weitere Beschreibung des k. u. k. Kolonialismus in Bosnien-Herzegowina vgl. auch den Sammelband von Ruthner, Clemens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegowina, and the Western Balkans, 1878-1918. New York et al.: P. Lang 2015 (= Austrian Culture Series 41). Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 1 Aydın Babuna (Istanbul) Der äußerst komplizierte Prozess der Herausbildung der ‘bosniakischen Nation’ ist in der Fachliteratur häufig thematisiert worden. Auch die vorliegende Studie befasst sich mit der Entwicklung des Nationalismus bei den bosnisch-herzegowinischen Muslimen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese traten in der österreichisch-ungarischen Periode zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit politischen Forderungen im modernen Sinne auf und so kam es nach 1906 zur Gründung verschiedener muslimischer Parteien, Organisationen und Vereinen. Diese Tatsache macht die k. u. k. Zeit zur wichtigsten Phase für die Erforschung der Entstehung des Nationalismus unter den bosnischen Muslimen. Im Unterschied zu anderen Studien über die österreichisch-ungarische Ära, die dazu tendieren, der Entstehung des Nationalismus der bosnisch-herzegowinischen Muslime weniger Raum zu geben, 2 verweist die vorliegende Arbeit auf die Wurzeln dieses Phänomens. Eines der wichtigsten Argumente ist, dass eine derartige Analyse multiperspektivisch sein soll; hierfür werden nicht nur österreichisch-ungarische, sondern auch osmanische Quellen sowie Nationalismus-Theorien herangezogen. 3 1 Der Autor bedankt sich beim Forschungsfonds der Boğaziçi-Universität für die Unterstützung (Projekt Nr. 5087). 2 Vgl.z.B. Donia, Robert: Islam under the Double Eagle. The Muslims of Bosnia and Hercegovina, 1878-1914. New York: East European Monografs 1981; Pinson, Mark: The Muslims of Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule, 1878-1918. In: Ders. (Hg.): The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Historic Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia. Cambridge: Harvard Univ. Press 1993, pp. 84-128; Donia, Robert J./ Fine, John V.A.: Bosnia and Hercegovina. A Tradition Betrayed. New York: Columbia Univ. Press 1994. 3 In der vorliegenden Studie werden Dokumente aus dem Archiv Bosniens und der Herzegowina (Sarajevo), dem Haus-, Hof-und Staatsarchiv (Wien) und aus dem Başbakanlık Osmanlı Arşivi (Istanbul) zitiert. Die Arbeit stützt sich dabei hauptsächlich auf mein Buch: Babuna, Aydın: Die nationale Entwicklung der bosnischen Muslime. Mit bes. Berücksichtigung der österreichisch-ungarischen Periode. Frankfurt/ M.et al.: P. Lang 1996. Vgl. auch Babuna, Aydın: Nationalism and the Bosnian Muslims. In: East European Quarterly 2 (1999), pp.195-218; Ders: The Berlin Treaty, Bosnian Muslims, and Nationalism. 164 Aydın Babuna 1. Was ist Nationalismus? Nach Paul Brass, auf den wir uns im Folgenden stützen werden, ist Nationalismus kein Produkt der ‘relativen Deprivation’ 4 oder der ‘Statusdiskrepanz’ 5 , sondern der relativen Verteilung der ethnischen Gruppen in der Konkurrenz um wichtige Ressourcen und Möglichkeiten sowie Arbeitsplätze in der Gesellschaft, die einem Prozess der sozialen Mobilisation, Industrialisierung und Bürokratisierung unterworfen ist . 6 Brass betont, dass dieser Prozess sich aus zwei Phasen zusammensetzt: erstens die Entwicklung der ethnischen Gruppe zur ethnischen Gemeinschaft und zweitens deren Entwicklung zur Nation(alität). 7 Die Transformation ethnischer Gruppen zur Gemeinschaft findet in Modernisierungsprozessen unterworfenen oder in post-industriellen Gesellschaften statt, die drastischen sozialen Veränderungen ausgesetzt sind. Dieser Prozess kann bei einigen Gruppen zu verschiedenen Zeiten mehrere Male auftreten, während er bei anderen nicht in Erscheinung tritt. 8 Die zweite Phase der Herausbildung einer Nationalität findet wie die erste durch Konflikte innerhalb der „Elite“ 9 statt; die erforderlichen Verhältnisse für beide Transformationen sind gleich. Dabei ist zu bemerken, dass, obwohl Nationalismus normalerweise das Produkt einer Entwicklung von der Gemeinschaft zur Nationalität ist, er in Form von Elitephänomen jederzeit - sogar in der ersten Phase der Mobilisierung der ethnischen Gruppe - auftreten kann. 10 In: Yavuz, Hakan/ Sluglett, Peter (Hg.): War and Diplomacy. The Russo-Turkish War of 1877-1878 and the Treaty of Berlin. Salt Lake City: The Univ. of Utah Press 2011, pp. 198-225. 4 „Relative Deprivation“ bezeichnet Frustrationen der Menschen in Bezug auf fehlende soziale (Aufstiegs-)Möglichkeiten und ihren Wunsch nach einem besseren Lebensstandard. Vgl. Hah, Chong Do/ Martin, Jeffrey: Toward a Synthesis of Conflict and Integration Theories of Nationalism. In: World Politics 3 (1975), pp. 361-386, hier p. 385. 5 Der relativ niedrigere Status der nicht-dominanten Gruppen in den Gesellschaften mit mehreren ethnischen Gruppen kann zum Anlass für den Nationalismus dieser Gruppen werden. Vgl. Glazer, Nathan / Moynihan, Daniel L: Introduction. In: Ders. (Hg.): Ethnicity. Theory and Experience. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press 1975, pp. 1-26, hier p. 14 u.17. 6 Brass, Paul R: Ethnicity and Nationalism. Theory and Comparison. New Delhi: Sage 1991, p. 47. 7 Brass, Paul R: Ethnic Groups and Nationalities. The Formation, Persistence, and Transformation of Ethnic Identities. In: Ders. (Hg.): Ethnic Diversity and Conflict in Eastern Europa. Santa Barbara et al.: ABC-Clio 1980, p. 8f. 8 Brass 1991, p. 25 u. 23. 9 Einflussreiche Subgruppierungen innerhalb der ethnischen Gruppen oder Klassen, vgl. ibid., p. 14. 10 Ibid., p. 64f. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 165 In Gesellschaften, die sich in der Frühphase der Modernisierung befinden, oder in den vorindustriellen Gemeinwesen können folgende Konflikte innerhalb der Elite auftreten: 1) Konflikte zwischen der lokalen Aristokratie und einem fremden Okkupator; 2) Konflikte zwischen den religiösen Eliten verschiedener ethnischer Gruppen; 3) Konflikte zwischen der einheimischen Aristokratie und der religiösen Elite innerhalb der gleichen Gruppe; 4) Konflikte zwischen der fremden Aristokratie und der einheimischen religiösen Elite. 11 Diese Elitenkonflikte, die während der Transformation der Gemeinschaft zur Nationalität stattfinden, führen zu nationalistischen Bewegungen. Sie unterscheiden sich von denen, die während der Entwicklung der ethnischen Gruppen zu ethnischen Gemeinschaften auftreten, hinsichtlich ihres Ausmaßes und Inhalts. Die Elite fordert nun - über einige privilegierte Positionen für sich selbst hinausgehend - auch die Verteilung der Arbeitsplätze und Ressourcen in der Gesellschaft mitbestimmen zu können. Die Forderungen konzentrieren sich meist auf Schlüsselinstitutionen, die politisch oder erzieherisch wichtig sind, und dabei ganz besonders auf die Schulen und den Sprachgebrauch. 12 Während der Nationalitätenformierung nehmen die objektiven Unterschiede einer ethnischen Gruppe zu anderen allmählich eine subjektive und symbolische Bedeutung an. Sie wandeln sich im Laufe der Zeit in ein Solidaritätsgefühl innerhalb der Gruppe und bilden die Grundlage für politische Forderungen. 13 Das politische Verhalten der Regierungen gegenüber nationalistischen Forderungen kann auf die Elitenbildung und die nationalistischen Bewegungen einen großen Einfluss ausüben. 14 Diese Regierungspolitik kann von Vertreibung und Genozid bis zur Anerkennung von Autonomie oder Föderalismus reichen. Hier stellen die Verteilung der Arbeitsplätze und der wirtschaftlichen Ressourcen ebenso wie die Sprachenpolitik wichtige Instrumente dar. 15 Diese Thesen von Brass stützen sich hauptsächlich auf die Bewegung der indischen Muslime, die den Weg zur Gründung Pakistans ebnete. In seiner Untersuchung konzentrierte er sich auf die Konflikte zwischen der britischen Kolonialherrschaft, der muslimischen und der Hindu-Elite sowie auf deren Manipulation religiöser und kultureller Symbole für ihre Ziele. Nach Brass benützten die geistlichen Eliten Religion und Sprache als Symbole für die Mobilisierung ihrer Ethnie in den Kolonien, in denen mehrere ethnische Gruppen 11 Ibid., p. 15. 12 Ibid., p. 45f. 13 Ibid., p. 22. 14 Vgl. Brunn, Gerhard / Hroch, Miroslav/ Kappeler, Andreas: Introduction. In: Kappeler, Andreas (Hg.): The Formation of National Elites. Darmouth: New York Univ. Press 1992, pp. 1-10, hier p. 9. 15 Brass 1991, pp. 9-75. 166 Aydın Babuna miteinander konkurrierten. Ihm zufolge konnte auch die lokale Aristokratie, die mit der Kolonialregierung zusammenarbeitete, die jeweils eigene ethnische Gruppe mobilisieren. 16 Das Modell von Brass liefert jedenfalls wichtige Hinweise für die Analyse des Nationalismus der bosnisch-herzegowinischen Muslime, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts hauptsächlich durch Elitenkonflikte in einer kolonialen Atmosphäre entstanden ist. Ähnlich wie die britische Verwaltung in Indien errichtete Österreich-Ungarn seine Administration in Bosnien-Herzegowina mit Hilfe der bestehenden (muslimischen) Eliten. 17 Es gibt aber auch Unterschiede in der nationalen Entwicklung der bosnischen Muslime: Man darf nicht außer Acht lassen, dass trotz der bestehenden Ähnlichkeiten alle nationale Bewegungen ihre individuelle Ausprägung besitzen. 18 Unsere Forschung zeigt nun, dass die Merkmale der einzelnen Phasen der Nationalitätenbildung - von der ethnischen Gruppe zur Gemeinschaft und dann zur Nationalität - bei den bosnisch-herzegowinischen Muslimen zusammenfallen, „obwohl es theoretisch möglich wäre zu behaupten, dass die zweite Phase sich vom Beginn der landesweit organisierten Oppositionsbewegung 1899 bis zur Anerkennung der muslimischen religiösen Autonomie durch die Landesregierung 1909 erstreckte.“ 19 Elitenkonflikte traten hier in folgender Form auf: 1. Zwischen den muslimischen Geistlichen und der Landesregierung; 2. zwischen den muslimischen und den kroatischen Geistlichen; 3. zwischen den muslimischen Grundbesitzern und der Landesregierung; und 4. zwischen dem radikalen und dem gemäßigten Flügel innerhalb der muslimischen Elite. 20 Es wäre jedoch falsch, die gesamte nationale Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime als ein Produkt ihrer Eliten zu betrachten. Obwohl diese im ethno-nationalen Wandlungsprozess die Rolle eines Katalysators übernahmen, bedurfte die politische Führung der Muslime der Bevollmächtigung durch die religiösen Würdenträger und die Bevölkerung, um ihre Aktivitäten fortzusetzen. Die allgemeine Stimmung im Land und der soziale Druck waren zusätzliche Faktoren, die in der Beziehung der muslimischen Elite mit den Landesbehörden eine bedeutende Rolle spielten. Obwohl nur ein Teil der Eliten davon profitierte, war die Wahl der Symbole vom kulturellen Erbe der musli- 16 Zur Bedeutung der Religion und der Sprache für die Identität der ethnischen Gruppe vgl. Brass, Paul. R: Language, Religion und Politics in North India. New York: Cambridge Univ. Press 1974. 17 Ruthner, Clemens: Habsburg’s Little Orient. A Post/ Colonial Reading of Austrian and German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878-1918. In: Kakanien revisited , http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ Cruthner5.pd (22.06.2008), p. 6. 18 Babuna 1996, p. 23. 19 Ibid., p. 24. 20 Ibid., p. 23f.; vgl. auch Babuna 2011, p. 219. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 167 mischen Gemeinschaft bestimmt. 21 In diesem Sinne war die Entwicklung der muslimischen Ethnizität in der osmanischen Periode nicht unbedeutend für die spätere nationale Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime. 22 2. Die osmanische Zeit Eines der charakteristischen Merkmale der Geschichte Bosnien-Herzegowinas ist die Tatsache, dass hier während der osmanischen Zeit ein intensiver Islamisierungsprozess stattfand, der in anderen Teilen des Reiches nie dieses Ausmaß erreichte. Die Konversion eines Teils der Südslawen markierte auch den Beginn der Ethnogenese der bosnisch-herzegowinischen Muslime. 23 In der osmanischen Gesellschaft wurden die Konfessionsgruppen nach 1453 im sogenannten „Millet“-System sozial organisiert. In diesem Rahmen waren Nationalität und Konfession ineinander aufgegangen, und dies prägte die ethnische bzw. nationale Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime mehr als bei den Kroaten und Serben. 24 Jene Menschen, die zum muslimischen Millet gehörten, hatten sich als staatstragendes Element in Bosnien-Herzegowina mit dem Osmanischen Reich identifiziert; 25 mehrere Großwesire des Osmanischen Reiches stammten aus Bosnien-Herzegowina. Aber auch in der Spätphase dieses Herrschaftsgebildes verknüpften die meisten bosnisch-herzegowinischen Muslime ihr Schicksal mit dem Reich, während die anderen Konfessionsgruppen nach Unabhängigkeit strebten. In den osmanischen Akten wurden jene Muslime „Boşnaklar“, „Bosnalı takımı“, „Boşnak taifesi“ usw. genannt. Sie pflegten leidenschaftlich ihre Traditionen und nannten ihr Idiom „Bosnisch“ oder „naški jezik“ (unsere Sprache), 26 ja sie pflegten sich im Volksmund auch selbst als „Turčin“ (Türke) zu bezeichnen. 27 Dies symbolisierte keine nationale Orientierung, sondern bedeutete nur, 21 Ibid., p. 316. 22 Zur Bedeutung des kulturellen und religiösen Erbes der ethnischen Gruppen für die Elitenkonflikte vgl. Brass, Paul R.: Elite Competition and Nation-Formation. In: Hutchinson, John/ Smith, Anthony (Hg.): Nationalism. Oxford: Oxford Univ. Press 1994, pp. 83-89, hier p. 89. 23 Lockwood, W. G: Living Legacy of the Ottoman Empire. The Serbo-Croatian Speaking Moslems of Bosnia-Hercegovina. In: Ascher, Abraham / Halasi-Kun, Tibor / Kiraly, Béla (Hg.): The Mutual Effects of the Islamic and Judeo-Christian Worlds. The East European Partner. Brooklyn NY: College Press 1979, pp. 209-225, hier p. 209. 24 Babuna 1996, p. 32. 25 Lockwood 1979, p. 213. 26 Hadžić, Osman Nuri: Borba Muslimana za vjersku i vakufsko-mearifsku autonomiju. In: Stanojević, St. (Hg.): Bosna i Hercegovina pod austro-ugarskom upravom. Beograd: Geča Kon A. D. 1938, pp. 56-101, hier p. 94f. 27 Inteligencija i naši pokreti. In: Ogledalo 2 (07.061907), p. 1f.; ABH ZMF PrBH 1068/ 1900. 168 Aydın Babuna dass sich die örtlichen Muslime der Religion der Türken zugehörig fühlten. „Musliman“ (Muslim) und „Turčin“ waren in Bosnien-Herzegowina dementsprechend synonyme Ausdrücke. 28 Einerseits erzielte die Opposition der lokalen bosnischen Notablen („Ajans“) unter Führung von Husein Kapetan Gradaščević gegen die Reformversuche des osmanischen Sultans Mahmud II. einige vorläufige Erfolge. Die Bosnier schlugen die osmanische Armee 1831 im Kosovo und verwalteten die bosnische Provinz ( Eyâlet ) für kurze Zeit selbst. Ohne internationale Unterstützung ging ihre Selbstständigkeit aber schon nach einem Jahr zugrunde und die Ajans wurden 1850/ 51 von den Osmanen endgültig vernichtet. 29 Andererseits hatte Bosnien-Herzegowina schon nach der Niederlage der osmanischen Armee vor Wien 1683 eine Schlüsselrolle in der Verteidigung des Reiches übernommen. So erlitten die bosnisch-herzegowinischen Muslime in den Kriegen gegen Russland, Venedig und Österreich-Ungarn schwere Verluste. 30 Auch für die serbischen und montenegrinischen Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert standen die Muslime als staatstragendes Element auf der Seite der Osmanen. Die Auseinandersetzungen zwischen den bosnisch-herzegowinischen Muslimen und den benachbarten Territorien nahmen allmählich einen ideologischen Charakter an und wurden als Konflikt zwischen Islam und Christentum gesehen. Die ständig wachsende äußere und innere Gefahr für das Reich bestimmte die Beziehungen zwischen der Unter-und Oberschicht der muslimischen Bevölkerung und brachte die Muslime einander immer näher. 31 Unter diesen Verhältnissen diente der Islam als einheitliche politische Ideologie für die bosnisch-herzegowinischen Muslime und schuf die Basis für kulturelle Gemeinsamkeiten. Der Widerstand gegen die osmanische Regierung förderte das Selbstbewusstsein der Muslime, während die Konflikte mit den christlichen Nachbarn ihre Identität stärkten. 32 Die muslimische Ethnizität entwickelte sich in diesem bipolaren Kampf mit einem bestimmten Solidaritätsbzw. Identitätsbewusstsein und ihren eigenen Forderungen und Interessen. 28 Suljević, Kasım: Nacionalnost Muslimana. Izmedu teorije i politike. Rijeka: Otokar Keršovani 1981, p. 15. 29 Šljivo, Galib: Ömer Paša Latas u Bosni i Hercegovini 1850-1852. Sarajevo: Svjetlost 1977, p. 124. 30 Sučeska, Avdo: Ajani. Prilozi za učavanju lokalne vlasti u našim zemljama za vrijeme Turaka. Sarajevo: Naučno društvo SR Bosne i Hercegovine 1965, p. 168. 31 Sučeska, Avdo: Neke spečifisnosti istorije Bosne pod Turcima. In: Redzič, Enver (Hg.): Prilozi istorijske pretpostavke Republike Bosne i Hercegovine 4. Sarajevo: Institut za istoriju radničkog pokreta 1968, pp. 43-57, hier p. 51. 32 Džaja, Srećko: Konfessionalität und Nationalität Bosniens und der Herzegowina. Voremanzipatorische Phase 1463-1804. München: Oldenbourg 1984, p. 100. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 169 Im Unterschied zur nicht-muslimischen Bevölkerung des Landes bestanden die bosnischen Muslime aus mehreren sozialen Gruppen: den „Sipahis“ (Lehensträger, die Soldaten stellen mussten), „Ulema“ (höhere Geistliche), der städtischen Bevölkerung mit ihren verschiedenen Schichten sowie den Bauern („Reaya“). 33 3. Die österreichisch-ungarische Epoche 3.1. Die Okkupation von Bosnien-Herzegowina und die osmanische Regierung Als Konsequenz des Berliner Vertrags wurde Bosnien-Herzegowina im Jahre 1878 durch Österreich-Ungarn besetzt. Die lokale Bevölkerung leistete gegen diese Okkupation heftigen Widerstand, und erst nach schweren Kämpfen, die über zwei Monaten dauerten, gelang der österreichisch-ungarischen Armee unter Einsatz mindestens von 150.000 Soldaten die Okkupation der Provinz. 34 Dieser Widerstand gegen die Okkupation war die Folge einer Volksbewegung. 35 Die Zustimmung des Sultans zum Berliner Vertrag löste in Bosnien-Herzegowina besonders in den unteren und mittleren Schichten der muslimischen Bevölkerung heftige Reaktion gegen die osmanische Regierung aus. So wurde kurz vor dem Beginn des Eroberungsfeldzugs in Sarajevo ein Volkskomitee („Narodni odbor“) gegründet, das sich zu einer unabhängigen Organisation entwickelte und paramilitärische Truppen sammelte. Obwohl es von den Muslimen dominiert wurde, nahmen auch Serben sowie einige Kroaten und Juden an den Aktivitäten teil. Zu einer Zusammenarbeit zwischen den Muslimen und Serben kam es auch in anderen Städten wie Banja Luka und Mostar, 36 denn die Okkupation hatte unter den Widerstandskämpfern verschiedener Religionen bis zu einem gewissen Grad ein Gemeinsamkeitsgefühl entwickelt. Der Sultan und die osmanische Regierung hofften insgeheim auf den Erfolg des Widerstandes, obwohl er auch einen anti-osmanischen Charakter hatte. Die Hohe Pforte plante ursprünglich, durch diplomatische Manöver die Ok- 33 Sučeska 1968, p. 49. 34 Die Einschätzung der österreichisch-ungarischen Truppenstärke schwankt zwischen 150.000 und 270.000 Mann. Vgl. Friedman, Francine: The Bosnian Muslims. Denial of a Nation. Boulder: Westview Press 1996, p. 60. 35 Karpat, Kemal: 1878 Avusturyaİşgalinekarşı Bosna-Hersek Direnişiyleİlgili Osmanlı Politikası. In: Ders. (Hg.): Balkanlar’da Osmanlı Mirası ve Ulusçuluk. Ankara: İmge Yayınları 2004, pp. 151-196, hier p. 156. 36 Klicin, Dimitrije: Otpor Muslimana protiv okupacije. In: Gajret . Kalendar za god 1939 (1938), pp. 227-246, hier p. 229f. 170 Aydın Babuna kupation von Bosnien-Herzegowina zu verzögern und nach einem Erfolg des Widerstandes den Berliner Vertrag zu ändern. 37 Eine offene Unterstützung für den Widerstand hätte aber dem Osmanischen Reich als Unterzeichnungspartner des Abkommens auf dem internationalen Parkett Schwierigkeiten bereitet; trotzdem erhielt die Widerstandsbewegung in Bosnien-Herzegowina heimliche Waffen- und Truppenhilfe. 38 Unabhängig von der osmanischen Regierung waren es die Muslime, die neben einem Teil der serbischen Bevölkerung den Kern des militärischen Widerstandes gegen die Okkupation bildeten. Aus dieser Tatsache geht hervor, dass die Muslime schon in der spätosmanischen Periode ein starkes patriotisches Selbstbewusstsein hatten. Außerdem ist die Tatsache, dass die während des Widerstandes in der Stadt verbliebenen osmanischen Beamten und Offiziere dazu gezwungen wurden, lokale bosnische Kleidung zu tragen, 39 als Zeichen anzusehen, dass dieser Widerstand nicht nur eine reine Selbstverteidigung der lokalen Bevölkerung gegen die Okkupationsmacht war. Die muslimischen Kämpfer setzten sich hauptsächlich aus Bauern, städtischen Handwerkern, einigen Grundbesitzern und Strafgefangenen, die vor der Okkupation aus den Gefängnissen freigelassen worden waren, zusammen. 40 Während die armen Muslime aus den Städten und vom Land den nachhaltigsten und radikalsten Widerstand leisteten, verhielten sich ihre angesehenen und gebildeten Glaubensbrüder eher zurückhaltend. 41 Die Mehrheit der Grundbesitzer - besonders jene in Sarajevo - hielten indes Abstand. 3.2. Die Auswanderung der bosnisch-herzegowinischen Muslime Nach der Okkupation von Bosnien-Herzegowina kam es zu mehreren Auswanderungswellen, von denen die Muslime am meisten betroffen waren. So nahm auch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung während der österreichisch-ungarischen Herrschaft ab: Im Jahr 1885 machten die Muslime 492.710 Personen, d. h. 36,88 % der bosnischen Bevölkerung, aus; 1910 sank ihr Anteil auf 32,25 37 Bencze, László: The Occupation of Bosnia and Herzegovina in 1878. New York: Columbia Univ.Press 2005, p. 90f. 38 Karpat 2004, p. 195. 39 İsmet Pasha wurde mit dem Tod bedroht und gezwungen, bosnische Kleidung zu tragen. Dieser Vorfall wird vom britischen Konsul in Sarajevo berichtet: FO 424/ 74 (Freeman an Salisbury) 53/ 2, 03. 08 1878; zit. n. Karpat 2004, p. 168. 40 Mandić, Mihodil: Povijest okupacije Bosne i Hercegovina 1878. Zagreb: Matica Hrvatska 1910, p. 32; Donia 1981, p. 31.- Die osmanischen Truppen, die die Befehle ihrer Kommandanten verweigerten und sich den muslimischen Kämpfer anschlossen, hatten die Strafgefangenen freigelassen und bewaffnet (vgl. Karpat 2004, p. 165). Dadurch wollten sie den Widerstand gegen die österreichisch-ungarische Armee stärken. 41 Mandić 1910, p. 32. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 171 %. 42 Diese Tendenz wurde innerhalb der Gruppe als existenzielle Bedrohung aufgefasst. 43 Nach einem Bericht der Landesregierung, der 1906 veröffentlicht wurde, beschränkte sich die Auswanderung zu Beginn auf die ehemaligen osmanischen Beamten, Funktionäre und einige angesehene Familien. 44 Die Einführung des Wehrgesetzes im Jahre 1881 sollte jedoch unter den Muslimen eine Massenemigration auslösen, die bis zum Jahr 1883 andauerte. Auch der erfolglose Aufstand des Jahres 1882, an dem die Muslime teilweise beteiligt waren, trug zu dieser Auswanderungswelle bei. 45 In den Jahren 1883-1898 herrschte wieder eine relative Ruhe, aber danach stieg die Zahl der Emigranten wieder im Jahr 1899, erreichte 1900 einen vorläufigen Höhepunkt und wurde erst 1901 durch Maßnahmen der Landesregierung eingedämmt. Die Annexion von Bosnien-Herzegowina durch Österreich-Ungarn 1908 löste dann eine weitere Auswanderungswelle aus. 46 Es gibt aber keine gesicherten Daten für die muslimische Emigration während der österreichisch-ungarischen Periode, weil die vorhandenen Zahlen nicht übereinstimmen. Die Landesregierung begann erst nach 1883, die Auswanderer regelmäßig zu erfassen. Vermutungen, dass ihre Anzahl in der Türkei 300.000 betragen habe, scheinen übertrieben zu sein. Einige Berechnungen deuten eher darauf hin, dass die Zahl der Auswanderer ungefähr 150.000 47 - wenn nicht sogar weniger - ausmachte. 42 Die Ergebnisse der Volkszählung in Bosnien und der Hercegovina vom 10. Oktober 1910. Sarajevo: Landesregierung für Bosnien und Hercegovina 1910, p. XLII. 43 Babuna 1996, p. 169. 44 Bericht über die Verwaltung Bosniens und der Hercegovina. Wien: K. u. k. Gemeinsames Finanzministerium 1906, p. 11. 45 Hadžijahić, Muhamed: Uz prilog Prof. Vojislava Bogičevića. In: Historijski zbornik 3 (1950), pp. 189-192, hier p. 192 46 Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü: Bosna-Hersekileilgili Arşiv Belgeleri. Ankara: Başbakanlık Basımevi 1992, pp. 307-311. 47 Bogičević, Vojislav: Emigracije Muslimana Bosne i Hercegovine u Tursku u doba austro-ugarske vladavine 1878-1918 god. In: Historijski zbornik 3 (1950), pp. 175-188, hier p. 182.- Hadžibegović schätzt die Anzahl der muslimischen Auswanderer auf 140.000 (Hadžibegović, Iljas: Nastanak i razvoj socialističkog radničkog pokreta u Bosni i Hercegovini do 1919 godine. Sarajevo: Oslobođenje 1990, p. 18). Karpat zufolge lag die Anzahl der muslimischen Auswanderer in 45 Jahren nicht über 100.000, von denen 10-15% zurückkehrten (Karpat, Kemal: The Migration of the Bosnian Muslims to the Ottoman State, 1878-1914. An Account Based on Turkish Sources. In: Koller, Markus/ Karpat, Kemal (Hg.): Ottoman Bosnia. A History in Peril. Madison: The Univ. of Wisconsin Press 2004, pp. 121-145, hier p. 140). 172 Aydın Babuna Die osmanische Regierung hatte freilich eine ambivalente Haltung gegenüber dieser Emigration. 48 Kurz nach der Okkupation verlangten einige muslimische Führer, die sich über die österreichisch-ungarische Unterdrückung beklagten, die Hilfe der Regierung für die Auswanderung der gesamten muslimischen Bevölkerung in das Osmanische Reich. Obwohl auch sein Kabinett den Transit der bosnischen Muslime via Saloniki empfahl, machte gleichzeitig der Sultan darauf aufmerksam, dass es wichtige Gründe für das Verbleiben der örtlichen Muslimen in den besetzten Gebieten gebe. Ihre Anwesenheit würde die Rechte des Osmanischen Reiches in Bezug auf Bosnien-Herzegowina garantieren und den österreichischen Drang Richtung Saloniki erschweren. Österreich-Ungarn wäre gezwungen, mindestens 60.000 Truppen in Bosnien-Herzegowina zu stationieren, und bedürfe im Falle eines Krieges mit einem Drittstaat der wohlwollenden Haltung des Osmanischen Reiches, um diese Soldaten abziehen zu können. Ein Verbleib der Muslime in Bosnien-Herzegowina würde schließlich auch die Verteilung ihrer Grundstücke und Immobilien an die christliche Bevölkerung verhindern. 49 Nach einiger Überlegung beschloss die osmanische Regierung dann, diplomatischen Druck auf Österreich-Ungarn auszuüben, um dessen repressive Haltung gegenüber den Muslimen in Bosnien-Herzegowina zu beenden. 50 Obwohl die Hohe Pforte offiziell gegen eine massenweise Emigration war, erlaubte man unter bestimmten Bedingungen einzelnen Personen, in das Osmanische Reich auszuwandern. 51 Nach der Einführung des Wehrgesetzes 1881 schien Konstantinopel (Istanbul) eine noch liberalere Haltung gegenüber der Auswanderung eingenommen zu haben. 52 Die osmanische Regierung und die österreichisch-ungarische Landesregierung beschuldigten jedenfalls einander, die Auswanderung angestiftet zu haben. Die Emigration der Muslime bildete ein Diskussionsthema auch zwischen bosnisch-herzegowinischen und osmanischen Geistlichen (Ulemas) sowie unter den osmanischen Bürokraten an der Pforte. Schließlich sollten aber die Interessen des Osmanischen Reiches die Oberhand gewinnen, wodurch um die Jahrhundertwende die bosnischen-herzegowinischen Muslime zur Auswanderung eher entmutigt wurden. Vor allem der Bericht des osmanischen Konsuls 48 Zur Behandlung der bosnisch-herzegowinischen Flüchtlinge im Sandschak durch die osmanische Verwaltung und die österreichisch-ungarischen Machthaber vgl. Scheer, Tamara: „Minimale Kosten, absolut kein Blut“. Österreich-Ungarns Präsenz im Sandžak von Novipazar (1879-1908). Frankfurt/ M. et al.: P. Lang 2013, p. 72 u. 53. 49 Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü 1992, pp. 82-85; Başvekalet Arşivi (BA), Yıldız Sadaret Resmi Maruzat No. 3/ 7 v. 27. 04. 1879. Zit. n. Karpat 2004, p. 129. 50 BA, Yıldız Sadaret Hususi Maruzat No. 163/ 29 v. 06. 01. 1880. Zit. n. ibid. 51 BA, Yıldız Sadaret Hususi Maruzat No. 32 v. 06. 01. 1880. Zit. n. ibid., p. 129f. 52 Ibid. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 173 in Ragusa (Dubrovnik) von 1901 über die demografischen Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina und seine Empfehlungen 53 scheinen die Auswanderungspolitik des Osmanischen Reiches geprägt zu haben. 54 Obwohl die osmanischen Behörden durch die ganze österreichisch-ungarische Periode hindurch den Auswanderern zu Hilfe kamen, 55 war die Regierung aus strategischen Gründen im Grunde immer gegen die Emigration. 56 3.3. Die osmanische Regierung und die politischen Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina Die komplizierte staatsrechtliche Situation Bosnien-Herzegowinas, die bis zu der Annexion in 1908 andauerte, war von großer Bedeutung für die politischen Entwicklungen in diesem Land. Nach dem Berliner Vertrag war die österreichisch-ungarische Okkupation von Bosnien-Herzegowina vorläufig und das Osmanische Reich aus völkerrechtlicher Perspektive immer noch der Souverän. Die Konvention von Novi Pazar, die 1879 zwischen dem Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn unterzeichnet wurde, regulierte die Rechte der Muslime und bestätigte die Hoheitsrechte des Osmanischen Reiches in Bosnien-Herzegowina. 57 Diese Vereinbarung lieferte eine günstige Basis für spätere Forderungen der einheimischen Muslime gegenüber der Doppelmonarchie. Die Okkupation hatte freilich die jahrhundertelangen engen Beziehungen der Muslime zu Istanbul abgeschnitten. Sie, die in der osmanischen Zeit das staatstragende Element gewesen waren, mussten jetzt damit rechnen, von einer christlichen Verwaltung mit ihren abhängigen Landpächtern („Kmeten“) rechtlich auf eine Stufe gestellt zu werden und ihre Privilegien einzubüßen. 58 An die Stelle der alten offiziellen Kontakte zwischen dem Osmanischen Reich und den Muslimen traten nun inoffizielle und manchmal geheime Beziehungen. 59 Der osmanische Sultan genoss immer noch Ansehen unter den bosnisch-herzegowinischen Muslimen, und diese verblieben der österreichisch-ungarischen 53 Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü 1992, p. 168f. 54 Karpat 2004, p. 134f. 55 Zur osmanischen Hilfe für die Auswanderer vgl. Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü: . Osmanlı Belgelerinde Bosna-Hersek: Bosna i Herzegovina u Osmanskim Dokumentima. İstanbul: Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü 2009, pp. 277- 317. 56 Başbakanlık Arşivi, Dosya No: 1, Sıra No: 31, Tarih: 1322. 4.13, Aded: 1.Bab-ali Eyalet-i Mümtaze Kalemi-Osmanlı Arşivi DepoNo: 2/ 3. 57 Vgl. Başbakanlık Devlet Arşivleri 1992, p. 79ff. 58 Malbaša, Ante: Hrvatski i srpski nacionalni problem u Bosni za vrijeme režima Benjamina Kallaja. Sarajevo: Osijek 1940, p. 61. 59 Babuna 1996, p. 190. 174 Aydın Babuna Landesregierung gegenüber in ihrer Oppositionshaltung, solange sie die Hoffnung hatten, die alte Ordnung wiederherzustellen und ihre alte politische Macht zurückzuerlangen. 60 In diesem Rahmen spielte die panislamische Politik des osmanischen Sultans und die Beziehungen der bosnisch-herzegowinischen Muslime zu Istanbul eine bedeutende Rolle für deren nationale und politische Entwicklung. 61 Kurz nach der Jungtürkischen Revolution im Osmanischen Reich (1908) wurde Bosnien-Herzegowina durch Österreich-Ungarn annektiert. Die neuen Machthaber in Istanbul sahen dies als fait accompli und protestierten. Im Osmanischen Reich wurden Demonstrationen gegen die Annexion organisiert und österreichische Produkte boykottiert. 62 Trotz dieser heftigen Reaktionen zwang die entschlossene deutsche Unterstützung der Doppelmonarchie die Osmanen dazu, die Annexion im Februar 1909 anzuerkennen. 63 Als Gegenleistung sollte die Donaumonarchie dem Osmanischen Reich 2,5 Millionen Pfund bezahlen, auf seine militärischen Rechte im Sandschak von Novi Pazar verzichten und die religiöse Rechte der bosnisch-herzegowinischen Muslime anerkennen. 64 Diese Akzeptanz der Annexion seitens des ehemaligen Souveräns löste unter den Muslimen Verzweiflung aus. 65 Während der österreichisch-ungarischen Periode war das Osmanische Reich nicht nur ein Auswanderungsziel für die bosnisch-herzegowinischen Muslime, 66 sondern es bestimmte auch die politischen Entwicklungen mit. Aus osmanischen Dokumenten geht hervor, dass die panislamische Politik der osmanischen Regierung besonders in der landesweiten Organisation der muslimischen Opposition eine Schlüsselrolle spielte. 67 So sollten die geheimen Direktiven aus Istanbul an den Oppositionsführer Ali Džabić (Mufti von Mostar) den Ablauf der politischen Ereignisse mitbestimmen. 68 Es wäre aber falsch, die muslimische Opposition als ein Nebenprodukt des Panislamismus zu betrachten. Die 60 Kruševac, Todor: Sarajevo pod austro-ugarskom upravom 1878-1918. Sarajevo: Narodna štamparija 1960, p. 308. 61 Vgl. Babuna 1996, pp. 190-199. Mit dieser panislamischen Politik zielte der osmanische Sultan Abdulhamit II. hauptsächlich auf die Konsolidierung des Osmanischen Reiches ab und wollte auch seine Autorität als Kalif in der islamischen Welt stärken. 62 Bojić, Mehmedalija: Historija Bosne i Bošnjaka. Sarajevo: TKD Šahinpašić 2001, p. 147f. 63 Während der Annexionskrise unterstützte Deutschland Österreich-Ungarn hauptsächlich gegen Russland und Serbien, um die internationale Lage zu deeskalieren. 64 Imamović, Mustafa: Historija države i prava. Bosne i Hercegovine. Sarajevo: Magistrat 2003, p. 255. 65 Imamović, Mustafa: Historija Bošnjaka. Sarajevo: Bošnjačka zajednica kulture Preporod 1998, p. 430. 66 Vgl. z. B. Pinson 1993, p. 124. 67 BBA-BEO-Mümtaze Kalemi: Bosna, 1/ 20-(1321.4.22) 68 Babuna 1996, p. 199. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 175 Hauptursachen der muslimischen Opposition in Bosnien-Herzegowina sind im Land selbst zu suchen, obwohl die Politik des Sultans eine beschleunigende Rolle spielte; 69 sie waren auch abhängig von den Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn sowie von den internationalen Entwicklungen. 3.4. Die Industrialisierung und Modernisierung Bosnien-Herzegowinas Obwohl Ömer und Osman Pascha in spätosmanischer Zeit wichtige Reformen durchgeführt hatten, 70 war es die Ernennung von Benjamin von Kállay zum gemeinsamen Finanzminister und damit Gouverneur der besetzten Gebiete am 4. Juni 1882, die den Beginn der Industrialisierung in Bosnien-Herzegowina markierte. 71 Fast die gesamte Industrie, das neue Finanzsystem, Eisenbahnen und Straßen wurden unter Kállays Federführung errichtet. 72 Die Holzausfuhr entwickelte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts zum größten Konkurrenten für die österreichische Forstwirtschaft, 73 während die Eisenindustrie Konflikte mit Ungarn schuf. 74 Die Einführung eines modernen Telefon-, Post-und Telegrafennetzes in den Städten stellte eine andere bedeutende Entwicklung dar. 75 Trotz dieser Modernisierungen war Bosnien-Herzegowina indes bis zum Ende der österreichisch-ungarischen Periode eines der unterentwickeltsten Gebiete der Doppelmonarchie. Im Gegensatz zu den internationalen Erwartungen verfolgte die Landesregierung auch eine konservative Agrarpolitik und verzichtete auf eine Bodenreform. 76 69 Ibid. 70 Ömer Pascha regierte zwischen 1850 und 1852. Durch strenge Maßnahmen konsolidierte er die politische Situation in Bosnien-Herzegowina und veränderte die administrative Struktur des Landes grundlegend. Osman Pascha regierte zwischen 1861 und 1869; in seiner langen Amtszeit führte er mehrere Reformen durch. Vgl. dazu Biščević, Vedad: Bosanskina mjesnici osmanskog doba (1463-1878). Sarajevo: Connectum 2006, pp. 422-430. 71 Sugar, Peter: The Industrialization of Bosnia-Hercegovina 1878-1918. Seattle: Univ. of Washington Press 1963, p. 39. 72 Ibid., p. 62f. 73 Hauptmann, Ferdinand: Die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien und der Hercegovina 1878-1918. Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsentwicklung. Graz: Inst. für Geschichte der Univ. Graz 1983, p. 44. 74 Ibid., p. 48. 75 Hadžibegović, Iljas: Bosanskohercegovački gradovi na razmedu 19. i 20. stoljeća. Sarajevo: Oslobođenje Publ. 1991, p. 93. 76 Imamović 2003, p. 227f.- Während des Berliner Kongresses betonte Österreich-Ungarn, dass hinter den Unruhen in Bosnien-Herzegowina die Agrarfrage stünde und dass nur eine starke und neutrale Macht dieses Problem lösen könne (vgl. ibid.). 176 Aydın Babuna Kállay als Gouverneur Bosniens und der Herzegowina hatte Vorbehalte gegenüber der Lebensfähigkeit des Islams in der modernen Welt. 77 Er sah in einem gut organisierten Staat einen der wichtigsten Unterschiede zwischen westlicher und orientalischer Kultur und wollte deshalb ein Bewusstsein für die neue Staatlichkeit wecken. 78 Auch die österreichisch-ungarische Bürokratie war im Gegensatz zur osmanischen umfangreicher und stärker; strenge Zentralisierung war eines ihrer wichtigsten Merkmale. 79 Die neue Verwaltung bot aber auch Möglichkeiten für den Aufstieg des heimischen Bürgertums. 80 So spielte die Forderung, dass mehr einheimische Beamte in die k. u. k. Bürokratie Bosnien-Herzegowinas aufgenommen werden sollten, eine gewisse Rolle in den muslimischen und serbischen Autonomiebewegungen. 81 Seit 1894 beschwerten sich die Muslime, dass die Entlassung der osmanischen Beamten ein Verstoß gegen die Konvention von Novi Pazar gewesen sei. 82 Nichtsdestotrotz sollte die Zahl der muslimischen Beamten, die 1908 825 betrug, im Laufe der Zeit zunehmen und im Jahre 1914 1.644 erreichen. 83 Eines der wichtigsten Merkmale der österreichisch-ungarischen Verwaltung in Bosnien-Herzegowina war aber die Einführung moderner Wirtschaftsstrukturen. Obwohl die Muslime Schwierigkeiten hatten, sich in den neuen Verhältnissen zurechtzufinden, 84 war die neue Ökonomie aber nicht stark genug, um sie von ihren traditionellen Berufen abzubringen. 85 Dennoch gab es einige muslimische Vertreter eines neuen Unternehmergeistes wie den Händler 77 Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Mission’ in Bosnia, 1878-1914. New York: Oxford Univ. Press 2007, p. 98. 78 Vgl. dazu Kállay, Benjamin von: Ungarn an den Grenzen des Orients und des Occidents. In: Ungarische Revue 3 (1883), pp. 428-489. 79 Hauptmann 1983, p. 33. 80 Ibid., p. 238. 81 Die Agrarfrage, die Vakuf-Verwaltung und das Unterrichtswesen bildeten die wichtigsten Themen in den Forderungen der Muslime. Im Laufe der Zeit wurde die muslimische Bewegung „Vakuf-und Mearif-Autonomiebewegung“ genannt. Die serbische Autonomiebewegung, die schon im Jahre 1895 begonnen hatte, übte einen gewissen Einfluss auf die muslimische Bewegung aus. Vgl. Babuna 1996, p 101 f. 82 In ihrer an die Hohe Pforte gerichteten Beschwerde von 1894 beklagten sich die Muslime, dass fast alle zur Zeit der Okkupation im Amt gewesenen Beamten mit einigen Ausnahmen entfernt worden waren. Vgl. Hauptmann, Ferdinand: Borba Muslimana Bosne i Hercegovine za vjersku i vakufsko-mearifsku autonomiju. Sarajevo: Arhiv Bosne i Hercegovine 1967, p. 50f. 83 Hauptmann, Ferdinand: Privreda i društvo Bosne i Hercegovine u doba austro-ugarske vladavine (1878-1918). In: Redžić, Enver (Hg.): Prilozi za istoriju Bosne i Hercegovine 2. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1987, pp. 99-211, hier p. 200. 84 Babuna 1996, p. 314. 85 Hauptmann 1987, p. 200. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 177 Kučukalić, der bei der Gründung der ersten einheimischen Sparkasse in Brčko eine bedeutende Rolle spielte. Allerdings war die im Entstehen begriffene bürgerliche Klasse noch nicht in der Lage, bei der Entstehung eines muslimischen Nationalismus eine führende Rolle zu spielen. Obwohl es unter den Muslimen einige größere Unternehmer gab, hatten sie keinen großen Einfluss auf die muslimische Opposition, wie das beim serbischen Bevölkerungsteil der Fall war. 86 In der osmanischen Zeit war freilich auch das Bildungsniveau der Bevölkerung sehr niedrig gewesen, insbesondere bei den Muslimen. Trotz der Bemühungen der österreichisch-ungarischen Landesregierung, dem Abhilfe zu schaffen, waren im Jahr 1910 94,65 % der muslimischen Bevölkerung noch immer Analphabeten, bei den Frauen sogar 99,68 %. Am höchsten war der Prozentsatz der muslimischen Schreib-und Lesekundigen in Mostar mit 10,36 %. 87 3.5. Die Nationalitätenpolitik der Landesregierung Die serbischen Nationalbestrebungen in den 1890er Jahren - gemeinsam mit dem Werben serbischer und kroatischer Nationalisten um die Muslime - zwangen die k. u. k. Landesregierung in Bosnien-Herzegowina, eine vorsichtige Nationalitätenpolitik zu verfolgen. Kállay wollte nationalistische Tendenzen rechtzeitig in harmlosere Bahnen lenken. 88 Seine Politik der Schaffung einer bosnischen Nation ( Bošnjaštvo ) nahm aber erst zehn Jahre nach der Okkupation konkrete Formen an, wurde dann aber direkt und offen betrieben. 89 Die neue Identitätspolitik betonte die gemeinsamen bosnischen Wurzeln der Völkerschaften des Landes und zielte auf die Schaffung einer bosnischen Nation ab. Die bosnisch-herzegowinische Geschichte und Tradition innerhalb des Osmanischen Reichs, die für Kállay ein Zeichen der Eigenständigkeit waren, diente als Basis dieser Politik. 90 Dies machte sich besonders bei den Muslimen 86 Hauptmann 1983, p. 245f.- Z. B. die Unternehmer Jeftanović und Vojislav Šola waren zugleich bedeutende Führer der serbischen Oppositionsbewegung. 87 Landesregierung für Bosnien und Hercegovina 1910, p. XLVI.- Die Landesregierung veranstaltete Alphabetisierungskurse, und zahlreichen Landesangehörigen wurde die Kenntnis des Lesens und Schreibens während ihres Militärdiensts vermittelt. Bis zum Jahre 1910 gab es jedoch in Bosnien-Herzegowina keine Schulpflicht. Laut dem Bericht der Landesregierung ist die besonders hohe Anzahl von Analphabeten bei den Muslimen darauf zurückzuführen, dass diese zumeist keinen regulären Elementarunterricht genossen, sondern hauptsächlich die muslimischen Religionsschulen besuchten (vgl ibid., pp. XLII, XLV). 88 ABH, ZMF, BH, Pr. No. 542/ 1891. Zit. n. Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini (1882-1903). Sarajevo: Veselin Masleša 1987, p. 217. 89 Kruševac 1960, p. 279. 90 Imamović, Mustafa: Pravni položaj i unutrašnji politički razvitak Bosne i Hercegovine od 1878 do 1914. Sarajevo: Svjetlost 1976, p. 71. 178 Aydın Babuna bemerkbar. Bei den Kroaten und besonders den Serben war ein entstehendes eigenes Nationalbewusstsein stark genug, um gegen den Kurs des Bošnjaštvo Widerstand zu leisten. 91 Schon in seinem Memorandum, das er nach dem Aufstand von 1882 für die Landesregierung vorbereitete, betonte Kállay, dass sich die Nationalitätenpolitik der Landesregierung hauptsächlich auf die Muslime stützen solle. 92 In diesem Rahmen verschonte die Regierung die muslimischen Grundbesitzer vor der obligatorischen Abschaffung der Kmetenschaft und befürwortete die fakultative Ablösung der Landpächter. Nach einer Statistik aus dem Jahr 1910 machten die Muslime 91,15 % der Grundbesitzer mit Kmeten, 70,62 % der Grundbesitzer ohne Kmeten und 56, 65 % der Freibauern aus. Die Muslime stellten nur 4,58 % der Kmeten, während 73,92 % serbisch-orthodox und 21,49 % römisch-katholisch waren. 93 Die Landesregierung wollte also die muslimischen Grundbesitzer als führendes Element der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft behalten und ihre politische Unterstützung nicht verlieren. 94 Auch eine politische Zusammenarbeit der drei großen ethnischen Gruppen zu verhindern war eine der wichtigsten Grundsätze der Nationalitätenpolitik, denn ein gemeinsames Vorgehen gegen die Landesregierung hätte die Interessen der Monarchie und die Bošnjaštvo- Politik in Gefahr gebracht. 95 Kállay wurde besonders von der serbischen und kroatischen Seite immer wieder beschuldigt, das Bosniakentum erfunden zu haben, um es den imperialistischen Zielen des Wiener Hofes dienstbar zu machen. Als Historiker und Diplomat kannte aber Kállay die Autoritäten, auf die sich die Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina im Laufe ihrer Geschichte gestützt hatte, um ihre Eigenheit zu bewahren: Es waren dies der byzantinische Kaiser, der ungarische König, der osmanische Sultan und nun der österreichische Kaiser. In diesem Sinne folgte Kállay nur der historischen Tradition. 96 Die Idee einer bosnischen Nation war freilich schon in den 1850-er Jahren vom osmanischen Wesir Ömer Pascha 97 eingeführt und später von Topal Şerif Osman Pascha, der von 1861 bis 1869 in Sarajevo amtierte, weiter entwickelt 91 Ibid., p. 77. 92 DAB Kabinettskanzlei, Geheime Akten (DAB, KK, GA). Zit n. Kapidžić, Hamdija: Hercegovaćki ustanak 1882 godine. Sarajevo: Veselin Masleša 1958, pp. 47 u. 323 ff.; Redžić, Enver: Bosnische Politik. Kállays These über die bosnische Nation. In: Österreichische Osthefte 5 (1965), pp. 367-379, hier p. 368. 93 Landesregierung für Bosnien und Hercegovina 1910, p. LXVIII. 94 Babuna 1996, p. 221. 95 Kraljačić 1987, p. 207ff. 96 4. Sitzung der 29. Session am 16. 06. 1893. In: Stenografische Sitzungsprotokolle der Delegation des Reichrathes. Wien: K.und k. Hof- und Staatsdruckerei 1893, p. 200. 97 Ömer Pascha stammte aus der Lika. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 179 worden: 98 Damals wurde eine Grammatik der bosnischen Sprache in Sarajevo veröffentlicht. 1866 wiederum wurden in einem Artikel, der im Bosanski vjesnik erschien, die Hauptelemente der bosnischen Ideologie genannt. 99 Hier wurde unter dem ‘bosnischen Volk’ nicht nur das privilegierte muslimische Element verstanden, sondern die ganze Bevölkerung - und auch jene der Herzegowina. 100 Obwohl die Idee des Bošnjaštvo bei den Muslimen gewissermaßen Wurzel fassen konnte, verpasste sie die Chance, sich als nationale Identität der Muslime durchzusetzen. Doch die Nationalitätenpolitik der Landesregierung bewahrte und verstärkte auch die Besonderheit der Muslime und leistete dadurch einen bedeutenden Beitrag zur kulturellen und politischen Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime. 101 Sie diente als ‘Schutzschirm’ in einer Periode, in der der serbische und kroatische Nationalismus die Existenz einer muslimischen Nationalität zunehmend in Frage stellte. In dieser Atmosphäre kam es Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer Kulturbewegung, die in der Literatur als kulturelle oder nationale Auferstehung („Preporod“) der Muslime bezeichnet wird. 102 So existierten 1908 in Bosnien-Herzegowina 124 registrierte muslimische Vereine; 103 all diese Organisationen, die die Bezeichnung „muslimisch“ trugen, boten einen Ausgangspunkt für die weitere kulturelle und politische Entwicklung als Volk bzw. Nation. 104 3.6. Die politische Struktur Nach der Okkupation wurde Bosnien-Herzegowina provisorisch dem Monarchen direkt unterstellt und keinem der beiden Reichsteile, Österreich oder Ungarn, zugeschlagen; 105 es wurde so dreißig Jahre lang gewissermaßen als Niemandsland verwaltet. Selbst nach der Annexion 1908 gehörte das Land we- 98 Imamović 1998, p. 376. 99 Hadžijahić, Muhamed: Die Anfänge der nationalen Entwicklung in Bosnien und in der Herzegowina. In: Südost-Forschungen 21 (1962), pp. 168-193, hier p. 191. 100 Jokanović, Vlado: Elementi koji su kroz istoriju djelovati pozitivno i negativno na stvaranja bošnjaštva kao nacionalnog pokreta. In: Pregled 2 (1968), pp. 241-263, hier p. 246. 101 Babuna 1996, p. 155. 102 Vgl. dazu Rizvić, Muhsin: Bosansko-muslimanska književnost u doba preporoda 1887- 1918. Sarajevo: El Kalem 1990. 103 Hadžijahić, Muhamed: Od tradicije do identiteta. Geneza nacionalnog pitanja bosanskih Muslimana. Sarajevo: Svjetlost 1974, p. 131.- Die muslimische Druckerei „Islamska dioničarska štamparija“, der Sportklub „El Kamer“ und der Handwerkerverein „Hurijet“ waren einige dieser Organisationen. 104 Imamović, Mustafa: O historiji bošnjačkog pokušaja. In: Purivatra, Atıf/ Imamović, Mustafa/ Mahmutćehayić, Rusmir (Hg.): Muslimani i Bošnjaštvo. Sarajevo: Muslimanska biblioteka 1991, p. 55. 105 Vrankić, Petar: Religion und Politik in Bosnien und der Herzegowina (1878-1918). Paderborn et al.: Schöningh 1995, p. 37. 180 Aydın Babuna der zu Österreich noch zu Ungarn und stellte daher auch keine Abgeordneten in den Parlamenten. Bosnien-Herzegowina hatte bis 1910 auch keinen eigenen Landtag. Aus diesen Tatsachen kann man ebenso wie aus der kolonialistischen Rhetorik in zeitgenössischen deutschen und österreichischen Texten 106 ableiten, dass Bosnien-Herzegowina von Österreich-Ungarn als eine Kolonie behandelt wurde. 107 Zudem wurden während der österreichisch-ungarischen Verwaltung in Bosnien-Herzegowina 54 Agrarkolonien mit ungefähr zehntausend Einwanderern aus der Habsburger Monarchie gegründet. Obwohl die Mehrheit dieser Kolonisten slawischer Herkunft war, erinnerte die Tatsache, dass sie von außen kamen, die Bevölkerung daran, dass die Landesregierung eine koloniale Administration war. 108 Gleichwohl blieb Bosnien-Herzegowina, das nach der Okkupation sukzessive in das Gefüge der Doppelmonarchie eingegliedert wurde, gemäß dem Berliner Vertrag immer noch im Souveränitätsbereich des Osmanischen Reiches. Diese Tatsache übte wie bereits erwähnt auf die Entwicklung der muslimischen Opposition einen großen Einfluss aus. 109 Neben der unklaren staatsrechtlichen Lage beeinflusste aber auch die dualistische politische Struktur der Monarchie den Verlauf der muslimischen Bewegung stark. 110 Im Jahre 1879 wurde die Verwaltung von Bosnien-Herzegowina dem gemeinsamen k. k. Finanzminister übertragen. Das Kontrollrecht der Delegationen, welche sich aus österreichischen und ungarischen sowie den gemeinsamen Ministern zusammensetzten, 111 über die Verwaltung des Landes war umstritten. Die gemeinsamen Finanzminister zielten darauf ab, nur dem Gesamtstaat gegenüber verantwortlich zu sein. 112 Die Konkurrenz zwischen den beiden Teilen der Monarchie um Bosnien-Herzegowina ermutigte indes die muslimische Elite, noch aktiver zu sein. Ihre Beschwerden wurden im ungarischen Parlament diskutiert und auch die ungarischen Oppositionsparteien vertraten ihre Forderungen. 113 Die Landesregierung selbst besaß eine zentralistische Struktur, und der gemeinsame Finanzminister hatte die administrative, legislative, exekutive und 106 Zur Analyse dieser Rhetorik vgl. Ruthner 2008, pp. 1-16. 107 Vgl. ibid., p. 6. 108 Malcolm, Noel: Bosnia. A Short History. New York: Macmillan 1994, p. 143. 109 Babuna 2011, p. 198. 110 Babuna 1999, p. 209. 111 Das österreichische Gesetz sah zwei Delegationen vor, die aus je 60 vom österreichischen und ungarischen Parlament gewählten Mitgliedern bestanden. Da das ungarische Gesetz dies nicht erwähnte, konnten die Delegationen nie als gemeinsamer Gesetzgeber funktionieren. Vgl. Čupić Amrein, Martha M: Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien-Hercegovina (1878-1914). Bern et al.: P. Lang 1986, p. 31. 112 Ibid., p. 39. 113 Imamović 1976, p. 138. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 181 judikatorische Gewalt inne. 114 Die Vielfalt an politischen Organisationen in der Donaumonarchie ermöglichte nun der muslimischen Elite, eine „alternative Politik“ - wie Brass es nennt 115 - zu betreiben. Muslimische Kommissionen wandten sich nicht nur an die Landesregierung in Sarajevo, sondern auch an das Gemeinsame Finanzministerium in Wien, an österreichische und ungarische Parlamentsausschüsse und sogar an Kaiser Franz Joseph höchstpersönlich, um ihre Beschwerden vorzubringen. 116 Diese legalen Möglichkeiten lenkten die muslimische Opposition in zivilgesellschaftliche Bahnen und entschärften sie, obwohl die muslimische Elite zumeist keine konkreten Resultate mit ihren Eingaben erzielte. 117 In diesem Sinne spielte auch die Politik der Landesregierung gegenüber der muslimischen Elite eine große Rolle. Gewalt und Zwang stellten nämlich kein gängiges Element in der Landespolitik dar und beschränkten sich meistens auf bestimmte Zeitabschnitte und Personen. 118 Die Nationalitätenpolitik stützte sich sogar auf die Muslime, obwohl sie während der Okkupation den Kern des Widerstandes gebildet hatten. Nichtsdestotrotz bildete die Unterstützung der gemäßigten Elemente in der muslimischen Bevölkerung einen der wichtigsten Grundsätze dieser Politik. Als Folge dieser gut durchdachten Strategie der Landesregierung kam es zu einer Zersplitterung der Elite. Ihre Beziehungen zum Staat und die Konkurrenz zwischen Radikalen und Gemäßigten sollten so die ethnische und politische Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime in der k. u. k. Ära prägen. 119 Immerhin war die Landesregierung flexibel genug, mit der muslimischen Elite in den Jahren 1901, 1907 und 1908 Verhandlungen zu führen, was zur Pazifizierung dieser Opposition führte. 120 3.7. Die muslimische Elite und der Nationalismus Der Nationalismus der bosnisch-herzegowinischen Muslime trat als Elitephänomen kurz nach der Okkupation auf. In den ersten vier Jahren erhielt die österreichisch-ungarische Verwaltung von einzelnen Personen und verschiedenen Gruppen hunderte Beschwerden. Obwohl sich viele von ihnen auf Misshandlungen durch Regierungsbeamte bezogen, enthielten einige Eingaben auch allgemeine Probleme der muslimischen Bevölkerung und politische Forderungen; sie kamen von lokalen Würdenträgern oder einzelnen Personen aus den lokalen 114 Sugar 1963, p. 28; Čupić Amrein 1986, p. 39. 115 Brass 1991, p. 59f. 116 Babuna 1996, p. 317. 117 Ibid. 118 Z. B. unmittelbar nach der Okkupation, vgl. ibid., p. 47. 119 Ibid. 120 Ibid., p. 317 f. 182 Aydın Babuna Gemeinschaften. 121 Diese einzelnen Initiativen bildeten später den Ausgangspunkt für eine organisierte Bewegung. 122 Um die Jahrhundertwende setzte sich die muslimische Elite hauptsächlich aus drei Gruppen zusammen: den Geistlichen (Hodžas), den Grundbesitzern und den Intellektuellen. Die Konflikte untereinander, mit den Eliten anderer ethnischer Gruppen und mit den Landesbehörden prägten den ethno-nationalen Wandlungsprozess der bosnisch-herzegowinischen Muslime. 123 Diese Eliten zeigten auch sonst keine homogene Struktur, sondern setzten sich aus kleineren Gruppen zusammen, die wiederum miteinander in Konkurrenz standen. 124 Während die im Entstehen begriffene muslimische Intelligenzija bald eine loyale Haltung gegenüber der Landesregierung einnahm, spielten die Geistlichen und die Grundbesitzer eine Schlüsselrolle in den politischen Entwicklungen Bosnien-Herzegowinas. 3.8. Konflikte zwischen muslimischen Geistlichen und der Landesregierung Die Hodžas und andere religiöse Würdenträger bildeten eine bedeutende Komponente innerhalb der muslimischen Opposition. Es war jene gesellschaftliche Schicht, die in den Jahren 1899/ 1900 für die landesweite Ausbreitung der muslimischen Opposition sorgte. 125 Die Hodžas aus Mostar und Sarajevo bildeten den Kern dieser Bewegung, obwohl auch die Grundbesitzer einen bedeutenden Beitrag leisteten. 126 So hatten Fälle von Religionsübertritten vom Islam zum Christentum weit reichende Auswirkungen in der muslimischen Bevölkerung. Insbesondere die Konversion des muslimischen Mädchens Fata Osmanović 1899 löste große Unruhe aus und war der Anlass für eine organisierte Oppositionsbewegung gegen die Landesregierung. 127 Nach diesem Ereignis bildeten die zwei rivalisierenden muslimischen Gruppen aus Mostar unter der Führung von Džabić ein gemeinsa- 121 Donia 1981, p. 30 122 Babuna 1996, p. 316. 123 Ibid., p. 225. 124 Ibid. 125 Ibid., p. 254f. 126 ABH ZMF Pr BH 344/ 1899. 127 Eigentlich hatte Fata Omanović wegen eines Familienproblems freiwillig ihre Wohnung verlassen. Eine Freundin, die in Kontakt zu christlichen Kreisen stand, hatte ihr dabei geholfen. Die muslimische Bevölkerung war jedoch davon überzeugt, dass sie entführt worden war. Vgl. Hadžijahić, Muhamed: Borba bosanskih Muslimana za vjersko-prosvjetnu autonomiju. In: Pregled 3 (1968), pp. 295-299, hier p. 297; vgl. auch Donia 1981, pp. 113 ff. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 183 mes Aktionskomitee, das 1899 der Landesregierung, dem gemeinsamen Finanzminister und dem Kaiser drei Eingaben überreichte. 128 Die Muslime veranstalteten auch mehrere Konferenzen, um die Oppositionsbewegung auf Landesebene zu organisieren. In dieser Hinsicht waren die Zusammenkünfte in Kiseljak, Budapest, Mostar und Sarajevo von großer Bedeutung, um die Anwesenden auf ein gemeinsames politisches Programm einzuschwören. 129 Im Dezember 1900 überreichten die Muslime dann dem gemeinsamen Finanzminister Kállay ein ausführliches Memorandum. Damit begann eine neue Phase des politischen Lebens in Bosnien-Herzegowina. 130 3.9. Konflikte zwischen den muslimischen und kroatischen Geistlichen Die Konflikte zwischen den muslimischen und katholischen Geistlichen bildeten eine der wichtigsten Triebkräfte der muslimischen Bewegung. Die proselytischen Aktivitäten des katholischen Bischofs von Sarajevo, Josip Stadler, hatten große Unruhe unter den Muslimen ausgelöst; jeder Bekehrungsfall wurde als Bedrohung für die Existenz der Gemeinschaft empfunden. Die Beschwerdeführer betonten die intensive anti-muslimische Propaganda von Seiten der Kroaten und warfen der Regierung vor, dass sie dieser Agitation genügend Spielraum gelassen habe. Sie beklagten sich darüber, dass die muslimische Bevölkerung in religiöser Hinsicht minderwertig ausgebildet werde, und behaupteten, dass die gültigen Regeln für Konversionen nicht eingehalten worden seien. 131 In diesem Zusammenhang wiesen die Muslime auf die nachlässige Verwaltung der Stiftungsvermögen ( Vakuf ), Begräbnisse, Moscheen und anderer religiöser Institutionen seitens der Landesregierung in Bosnien-Herzegowina hin. Sie betonten, dass die bestehenden Medressen und Mektebs sowohl quantitativ als auch qualitativ nicht den Bedürfnissen der muslimischen Bevölkerung entsprächen. 132 Ferner beklagten die Beschwerdeführer, dass die Vakuf-Einkünfte für nicht-religiöse Zwecke verwendet würden. Die damit befassten Beamten 133 128 ABH ZMF PrBH 1397/ 1899: Spisi muhamedanske narodne deputacije iz Hercegovine 1899, pp. 5, 6, 14, 15, 21, 22. 129 Donia 1981, p. 129. 130 Babuna 1996, p. 119. 131 ABH ZMF Pr BH 1670/ 1900. Nach der Verordnung der Landesregierung über Bekehrungsfälle musste jemand, der seine Religion ändern wollte, volljährig sowie geistig gesund sein und sich von einem Geistlichen beraten lassen (ibd., p. 8). 132 Ibid., p. 15f.- Die Mektebs und Medressen waren die am häufigsten vorkommenden muslimischen Schulen. 133 Diese waren regierungsfreundliche Muslime, die von der Landesregierung nominiert worden waren. 184 Aydın Babuna seien nicht nur überbezahlt, sondern auch unqualifiziert, und dies habe die Vernachlässigung der religiösen Erziehung der muslimischen Jugend zur Folge. 134 3.10. Konflikte zwischen den Grundbesitzern und der Landesregierung Von Anfang an bildeten die Grundbesitzer neben den Geistlichen eine der wichtigsten Komponenten der muslimischen Oppositionsbewegung. 135 Jeweils eine von diesen Gruppen gewann zu verschiedenen Zeiten die Oberhand und kontrollierte den Verlauf der Bewegung. Die Grundbesitzer begannen hauptsächlich von 1894 bis 1899 in Bosnien-Herzegowina, Istanbul und Wien mit ihren Aktivitäten, aber es gelang dieser sozialen Schicht nicht, die ganze Gemeinschaft zu mobilisieren. 136 Die muslimische Bewegung bekam erst durch die Führung der Geistlichen in den Jahren 1899 und 1900 eine landesweite Dimension. 1902 geriet sie jedoch in eine Stagnation, die bis 1905 andauerte. 137 Dann verursachte die neue Agrarreform (die Zehentpauschalierung 138 ), die die Existenz der Grundbesitzer in Frage stellte, die Wiederbelebung der muslimischen Opposition. 139 Die wichtigste Folge dieser zweiten Phase der muslimischen Bewegung war die Gründung der ersten muslimischen Partei, Muslimanska Narodna Organizacija (Muslimische Nationale Organisation, MNO) in Slavonski Brod im Jahr 1906. 140 Die Tatsache, dass Ali-beg Firdus Vorstand dieser Partei wurde, zeigt ganz klar, dass die Grundbesitzer in der muslimischen Opposition gegenüber den Hodžas wieder die Oberhand gewonnen hatten. 141 134 ABH ZMF Pr BH 1670/ 1900. 135 HHStA. BA. Konst. 444: Kallay an Goluchowski, 12. 02. 1902, zit. n. Hauptmann 1967, p. 39. 136 Babuna 1996, p. 250. 137 Ibid., p. 263. 138 Es gab nun keine Berechnungsgrundlage mehr für die Abgaben (Hak), die die Kmeten den Grundbesitzern abstatten mussten. Vgl. Faifalik, A.: Ein neuer aktueller Weg zur Lösung der bosnischen Agrarfrage. Wien, Leipzig: Deuticke 1916, p. 15.-Die Grundbesitzer mussten jetzt mit den Kmeten von Feld zu Feld gehen, um ihren Hak festzustellen (ABH ZMF Pr BH 244/ 1908, p. 9). 139 Donia 1981, p. 169. 140 Zur Entstehung der MNO vgl. Babuna, Aydın: The Emergence of the First Muslim Party in Bosnia-Hercegovina. In: East European Quarterly 2 (1996), pp. 131-151. Die MNO erhielt 24 Mandate bei den ersten Parlamentswahlen 1910. 141 Šehić, Nusret: Autonomni pokret Muslimana za vrijeme Austrougarske uprave u Bosni i Hercegovini. Sarajevo: Svjetlost 1980, p. 194. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 185 3.11. Konflikte zwischen dem radikalen und gemäßigten Flügel innerhalb der muslimischen Elite Die zwei wichtigsten Komponenten der muslimischen Bewegung, Grundbesitzer wie Geistliche, bestanden sowohl aus regierungsfeindlichen als auch aus loyalen Gruppierungen. 142 Radikale Elemente waren besonders einflussreich unter den muslimischen Geistlichen, die die heftigste Opposition gegen die Landesregierung darstellten. 143 Die muslimischen Intellektuellen 144 spielten - abgesehen von einigen Ausnahmen - in der Opposition keine große Rolle. Ihre Mehrheit verhielt sich gegenüber der Landesregierung loyal. 145 Im Grunde waren auch die Grundbesitzer wirtschaftlich von der Landesregierung abhängig und deshalb im Allgemeinen einer Zusammenarbeit nicht abgeneigt. 146 Sie schwankten zwischen der Regierungsseite und den Radikalen hin und her. 147 Die Mehrheit der Grundbesitzer änderte jedoch ihre Haltung gegenüber der Landesregierung nach der Entwicklung einer breiten muslimischen Opposition. Viele trieben aber ein doppeltes Spiel 148 und hatten geheime oder offene Kontakte zu der Landesregierung. 149 Die Konkurrenz zwischen Gemäßigten und Radikalen um die Führung der muslimischen Opposition spielte eine entscheidende Rolle in der nationalen Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime. 150 Der radikale Flügel beschuldigte die Landesregierung und die Gemäßigten, die Interessen der muslimischen Bevölkerung nicht zu schützen. Die Radikalen befürworteten eine Allianz mit den Serben, während die Großgrundbesitzer 151 und reichen Geschäftsleute 152 gegen eine solche Zusammenarbeit waren. Sie meinten, dass eine derartige Allianz ihre wirtschaftlichen Interessen gefährden würde, da die Mehrheit der Kmeten Serben waren. 153 142 Babuna 1996, p. 251. 143 Ibid., p. 315. 144 Der einflussreichste Intellektuelle war Mehmet-beg Kapetanović. Er diente als Bürgermeister Sarajevos von 1893 bis 1898. Kapetanović pflegte schon vor der Okkupation Beziehungen zu Österreich-Ungarn und verhielt sich seit der ersten Stunde loyal zur Okkupationsmacht. Vgl. Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878-1918). München: Oldenbourg 1994, p. 208. 145 Die Angst, ihre Arbeitsplätze zu verlieren, war ein wichtiger Grund für die loyale Haltung der muslimischen Intellektuellen. 146 Babuna 1996, p. 251. 147 Ibid., p. 315. 148 HHStA. BA. Konst. 444: Kallay an Goluchowski, 12. 02. 1902. 149 Babuna 1996, p. 252. 150 Eine klare Polarisierung zwischen Gemäßigten und Radikalen kam 1901-1902 zustande. 151 Z. B. Ali-beg Firdus und Bekir-beg Tuzlic. 152 Z. B. Mujaga Komadina. 153 ABH ZMF Pr BH 246/ 1901, p. 2 186 Aydın Babuna 3.12. Politik der Symbole Es war die Geschichte Bosnien-Herzegowinas, die zum wichtigsten Symbol der Nationalitätenpolitik der Landesregierung wurde. Diese betonte die historische Wurzeln von Bošnjaštvo und versuchte, vorislamischen Traditionen in den Vordergrund zu rücken und wiederzubeleben. Die Rollen des Bogumilismus und der muslimischen Grundbesitzer in der Geschichte des Landes waren wichtige Argumente dieser Politik, deren Instrumente die Presse, die staatlichen Schulen, offizielle Symbole und die Sprache waren 154 (wenn etwa Kállay das Landesidiom als „bosnische Sprache“ bezeichnete 155 ). Obwohl sein Nachfolger Stefan Graf Burián diese Sprachenpolitik nicht weiter führte, blieb es den Muslimen weiter gestattet, ihre Sprache intern als „Bosnisch“ zu bezeichnen. Aber auch die muslimischen Eliten verwendeten verschiedene Symbole, um die muslimische Bevölkerung zu mobilisieren und unter ihrer Führung zu sammeln. Davon profitierte ein Teil der Elite, während andere Gruppen an Einfluss verloren: So bildeten die Religion im Allgemeinen sowie der Kalif 156 und die Stiftungen die wichtigsten Symbole der Geistlichen. Auch die Sprache der religiösen Texte nahm Symbolwert an, mit deren Hilfe die Geistlichen die Einheit der muslimischen Gemeinschaft stärken wollten. Mit dieser Symbolik, die eine zunehmend besondere (subjektive) Bedeutung gewann, bestimmten die Geistlichen freilich auch die ‘ethnische’ Grenze der Muslime mit. 157 Auch für die Grundbesitzer stellte die Religion ein sehr wichtiges Symbol dar. Sie nützten es für ihre politischen Ziele und verknüpften ihr Eigentumsrecht mit der Scharia. Dadurch stellten sie ihre wirtschaftlichen Sorgen erfolgreich als Problem der ganzen muslimischen Gemeinschaft dar. Die Grundbesitzer brachten aber in ihren Beschwerden nicht nur die Agrarprobleme, sondern auch ihr Kritik in Bezug auf die religiösen und Vakuf-Angelegenheiten zum Ausdruck. Auf diese Weise wollten auch sie die muslimische Bevölkerung hinter sich bringen. 158 4. Die bosnischen Muslime und der Nationalismus Die Begriffe Nationalität und Konfession waren in Bosnien-Herzegowina nicht nur zur Zeit der osmanischen Periode, sondern auch nach der Okkupation 154 Zur Nationalitätenpolitik der Landesregierung vgl. Babuna 1996, pp. 203-224. 155 Juzbašić, Dževad: Jezičko pitanje u austrougarskoj politici u Bosni i Hercegovini pred prvi svjetski rat. Sarajevo: Svjetlost 1973, p. 9. 156 Der osmanische Sultan war gleichzeitig der Kalif der sunnitischen Muslime. Seine Symbolfunktion wurde auch von den Serben ausgenützt. Vgl. Babuna 1996, p. 184. 157 Ibid., p. 315. 158 Ibid., p. 254. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 187 ineinander aufgegangen, und somit war die Trennung zwischen den Serben, Kroaten und Muslimen immer doppelter Natur: national und konfessionell. 159 Obwohl das Nationalbewusstsein bei den Kroaten und besonders bei den Serben um die Jahrhundertwende um einiges stärker entwickelt war als bei den Muslimen, war dieser Unterschied durchaus nicht so drastisch, wie von einigen Autoren behauptet wird. 160 Obwohl die muslimische Opposition unter der österreichisch-ungarischen Verwaltung keine klare nationale Orientierung hatte, wäre es aber falsch anzunehmen, dass sie in nationaler Hinsicht keine Bedeutung hatte. 161 Anfang des Jahrhunderts war die muslimische Intelligenzija als eine soziale Schicht im Entstehen begriffen; ihre erste Generation bildete nur eine kleine Gruppe 162 (Im Schuljahr 1903/ 4 etwa gab es 30 muslimische Studenten an verschiedenen Hochschulen in Zagreb und Wien. Diese Zahl sollte in den folgenden Jahren zunehmen. 163 ). Die muslimischen Intellektuellen standen auch unter dem Druck der serbischen und kroatischen Nationalbewegungen, die die muslimische Bevölkerung für ihre Sache gewinnen wollten. So gab es neben den Intellektuellen, die die Politik des Bošnjaštvo unterstützten, auch diejenigen, die sich den Serben oder Kroaten zugehörig fühlten. Die pro-serbische oder pro-kroatische Orientierung der muslimischen Intellektuellen hatte aber einen marginalen Charakter 164 und wurde von der Bevölkerung nicht mit Sympathie aufgenommen. 165 Die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der bosnischen Muslime gegen solche Affiliationen war, kann als eine leise Bestätigung einer eigenen Identität angesehen werden. Obwohl eine nationale Orientierung (im üblichen Sinn) der Mehrheit der muslimischen Bevölkerung fremd war, nannten sie ihr Idiom weiterhin Bosnisch oder „naški jezik“ (unsere Sprache) 166 und sich selbst „Turčin“ (Türke). 167 Wie schon erwähnt, wies diese Bezeichnung darauf hin, dass sich die bosnisch-herzegowinischen Muslime der Religion der Türken zugehörig fühlten. Außerdem bezeichneten sich die Muslime in den Memoranden und Beschwerden häufig 159 K. u. k. Gem. Finanzministerium 1906, p. 119. 160 Babuna 1996, p. 143. 161 Ibid., p. 154. 162 Kemura, İbrahim: Proglas muslimanske akademske omladine u Beču od 1907 godine. In: Prilozi Institut za istoriju 13 (1977), pp. 334-345, hier p. 334. 163 Behar 5/ 1904, nr. 7, p. 112; Behar 6/ 1905, nr. 8, p. 128. Zit. n. ibid. 164 ABH ZMF Pr BH 667/ 1907. 165 Hasan M. Rebac u. Osman Đikić in: Vardar 13/ 1924, p. 118ff. Zit. n. Rizvić, Muhsin: Bosansko-muslimanska književnost u doba preporoda 1887-1918. Sarajevo: El Kalem 1990, p. 160. 166 Hadžić 1938, p. 94f. 167 ABH ZMF Pr BH 1068/ 1900. 188 Aydın Babuna als „islamski narod“ (muslimisches Volk) 168 und „islamski millet“ (muslimisches Millet). 169 Ein anderer weit verbreiteter Ausdruck war „Musliman“ (Muslim). Die Zeitschrift Bošnjak etwa pendelte zwischen den Ausdrücken „Musliman“ und „Bošnjak“. 170 Die Identität der bosnischen Muslime nahm durch die Geschichte hindurch in verschiedenen politischen Strukturen unterschiedliche Formen an. In dieser Hinsicht ist die Entwicklung ihrer Identität ein interessantes Beispiel für die Tatsache, dass die Selbstdefinitionen der ethnischen Gruppen keinen statischen und monolithischen, sondern einen dynamischen Charakter hatten. Schon während der osmanischen Zeit hatten die bosnisch-herzegowinischen Muslime mehrere Namen und Bezeichnungen für ihre Identität. Diese hatten aber einen ergänzenden Charakter und symbolisierten verschiedene Aspekte der eigenen Identität. Mit den Namen, die eher eine religiöse Bedeutung hatten, betonten die Muslime den Unterschied zu den Serben und Kroaten sowie ihre Besonderheit als ethnische Gruppe. 171 Die religiöse Namen und Bezeichnungen verwiesen aber nicht auf eine Bruderschaft der bosnisch-herzegowinischen Muslime mit anderen muslimischen Völkern, sondern bildeten den Ansatzpunkt für eine spätere politische und kulturelle Entwicklung als Volk bzw. Nation. 172 Mit zu bedenken gilt auch, dass durch die Okkupation 1878 die bosnisch-herzegowinischen Muslime von den slawischen Muslimen in Montenegro, Mazedonien und Novi Pazar getrennt worden waren, ebenso wie von den nicht-slawischen Muslimen wie den Albanern und Türken im Kosovo und in Mazedonien. Eine andere wichtige Folge der Okkupation war die Tatsache, dass die Sufi-Orden 173 ihren Einfluss in Bosnien-Herzegowina verloren. Alle diese Faktoren trugen zu der Entwicklung einer eigenen Identität der bosnisch-herzegowinischen Muslime bei. 174 Es gab aber noch mehr Gründe für die Benützung religiöser Namen und Bezeichnungen während der österreichisch-ungarischen Periode. 175 Erstens waren die bosnisch-herzegowinischen Muslime vom osmanischen Millet-System mehr beeinflusst als die Serben und Kroaten, weil sie sich mit dem Staat identifiziert hatten. 176 Zweitens erwies sich das Konzept des Bosniertums, das in osmani- 168 ABH ZMF Pr BH 825/ 1901; ABH ZMF Pr BH 1670/ 1900, pp. 2 ff. et passim. 169 ABH ZMF Pr BH 825/ 1901, pp. 4 u. 6. 170 Babuna 1996, p. 154. 171 Ibid. 172 Imamović 1991, p. 55. 173 Asketisch-religiöse Gemeinschaften. 174 Babuna, Aydın: The Bosnian Muslims and Albanians. Islam and Nationalism. In: Nationalities Papers 2 (2004), pp. 287-321, hier p. 291. 175 Babuna 2011, p. 218. 176 Babuna 1996, p. 32. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 189 scher Zeit zur Unterscheidung von den Türken diente, nach der Okkupation für die vornehmlich kulturell gemeinte Abgrenzung von den anderen ethnischen Gruppen als wenig nützlich. 177 Religion diente nun als die wichtigste ‘ethnische’ Grenze zwischen den slawischen nicht-muslimischen Gruppen und den Muslimen. Außerdem minderte die Tatsache, dass das Konzept des Bošnjaštvo von der Landesregierung gefördert wurde, seine Popularität, weil die k. u. k. Behörden von der Mehrheit der Bevölkerung als Fremdherrschaft wahrgenommen wurden. Ferner hatten sie, die Jahrhunderte lang in einem islamischen Reich gelebt hatten, Angst vor einer allmählichen Assimilierung im Rahmen der katholischen Donaumonarchie und betonten deshalb ihre religiösen Wurzeln. 178 Und schlussendlich war auch das im Entstehen begriffene muslimische Bürgertum und die Intelligenzija nicht im Stande, in der muslimischen Bewegung eine Schlüsselrolle zu spielen und alternative Konzepte anzubieten. 179 Obwohl nun die erste Phase der politischen Opposition nur von 1899 bis 1902 dauerte, stellte sie doch einen Wendepunkt für den im Entstehen begriffenen muslimischen Nationalismus dar und ebnete den Weg für die erste muslimische Partei, Muslimanska Narodna Organizacija , welche auch die erste politische Partei in Bosnien-Herzegowina war. 180 So war es auch kein Zufall, dass schon im Jahre 1906 die nationale Orientierung in der muslimischen Presse als eine von der Religion getrennte Frage behandelt wurde. 181 In dieser ersten Phase der Opposition spielten die Probleme der Vakuf-Verwaltung und der religiösen Schulen eine zentrale Rolle. Die muslimische Bewegung wurde sogar damit identifiziert und Vakuf- und Mearif-Autonomiebewegung genannt. 182 Die Muslime interessierten sich auch für die Sprachenproblematik, die für die nationalistischen Bewegungen ebenfalls von Bedeutung war. Nach dem Statutenentwurf, den sie 1900 dem gemeinsamen Finanzminister Kállay unterbreiteten, forderten sie die Benützung der osmanisch-arabischen Schrift in allen schriftlichen Dokumenten der Vakuf- und Mearif-Körperschaften. Nur die Korrespondenz mit den Landesbehörden und Sitzungsprotokolle sollten „in 177 Ramet, Pedro: Die Muslime Bosniens als Nation: Kappeler, Andreas/ Simon, Gerhard/ Brunner, Georg (Hg.): Die Muslime in der Sowjetunion und in Jugoslawien. Köln: Markus 1989, pp. 107-117, hier p. 108. 178 Diese Angst wurde von den Muslimen in mehreren Beschwerden auf verschiedene Weisen zum Ausdruck gebracht. 179 Filandra, Šaćir: Bošnjačka politika u XX. stoljeću. Sarajevo: Sejtarija 1998, p. 18f. 180 Babuna 1996, p. 155. 181 „Mi“. In: Musavat 5 (13. 11. 1906), p. 1. 182 Babuna 1996, p. 101 f. 190 Aydın Babuna slawischer Schrift“ verfasst werden. 183 Damit zielten die Geistlichen auf die Stärkung der Einheit der muslimischen Gemeinschaft ab. 184 Massenbewegungen können indes ohne eine intensive Kommunikation nicht entstehen. Im Jahr 1910 waren aber immer noch 94,65 % der muslimischen Bevölkerung Analphabeten. Aus dieser Tatsache geht hervor, dass nur eine kleine Gruppe für eine intensive Kommunikation zur Verfügung stand. 185 Trotzdem zeigen Archivdokumente ganz klar, dass es sich nach 1899 um eine Massenbewegung handelte. Damit stellt sich die Frage, wie sich die Muslime untereinander verständigten? Die Vermutung liegt nahe, dass die Beziehungen zwischen den Muslimen den Charakter eines „personal network“ besaßen, 186 das aus verschiedenen Arten von „non-corporate“-Beziehungen besteht, wie z. B. Verwandtschaft, persönlichen Freundschaften, Verschwägerung, Arbeitsbeziehungen usw. Diese Beziehungen waren aber - parallel zu den Beziehungen der muslimischen Gemeinschaft zur Außenwelt - Veränderungen ausgesetzt. Das Konzept des „personal network“ allein ist jedoch - wie Robert Donia betont 187 -, nicht ausreichend, um die landesweite Verbreitung der muslimischen Bewegung in den Jahren 1899 und 1900 zu erklären, obwohl die Netzwerke die wichtigste Kommunikationsform der bosnisch-herzegowinischen Muslime bildeten. Aus unserer Forschung im osmanischen Archiv geht hervor, dass die damalige panislamische Politik des osmanischen Sultans bei der Verbreitung der muslimischen Bewegung doch eine entscheidende Rolle gespielt hat. Ferner war das „personal network“ nicht nur ein lokales System, sondern reichte bis nach Istanbul und bildete so einen wichtigen Teil der Beziehungen zwischen den Muslimen auf dem Balkan und der osmanischen Regierung. 188 5. Schlussfolgerungen Die österreichisch-ungarische Okkupation Bosnien-Herzegowinas markiert den Beginn der wichtigsten Phase für die nationale Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime. Nach der Okkupation büßten sie zunächst ihre dominante politische Position und später auch viele ihrer sozialen und ökonomischen Privilegien ein. Die Muslime, die für Jahrhunderte lang enge Beziehungen zu 183 ABH ZMF Pr BH 1670/ 1900 (Nacrt Štatuta), p. 35 184 Dabei ist zu bedenken, dass in den meisten Forderungen der bosnisch-herzegowinischen Muslime bezüglich der Anwendung der arabischen und osmanischen Sprache auch von einer eigenen Sprache mit arabischer Schrift und slawischem Inhalt die Rede war. 185 Babuna 1996, p. 25. 186 Donia 1981, p. XII. 187 Donia entlehnt dieses Konzept von Boissevain, Jeremy: Friends of Friends. Networks, Manipulators, and Coalitions. Oxford: Basil Blackwell 1971. 188 Babuna 1996, p. 26. Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus 191 Istanbul hatten, gerieten nun unvermeidlich mit den neuen sozialen Strukturen in Konflikt. Die Tatsache, dass sie das tragende Element der Nationalitätenpolitik des gemeinsamen Finanzminister Kállay (1882-1903) waren, konnte dies nicht verhindern. Während der österreichisch-ungarischen Periode traten die Muslime auch zum ersten Mal mit politischen Forderungen im modernen Sinn auf. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts existierten in Bosnien-Herzegowina nicht nur eine muslimische politische Partei, sondern auch viele Organisationen und Vereine, die muslimische Bezeichnungen trugen. Diese sollten als eine Grundlage für die weitere kulturelle und politische Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime dienen. Die Tatsache, dass Bosnien-Herzegowina gemäß dem Berliner Vertrag noch immer im Souveränitätsbereich des Osmanischen Reiches blieb - bzw. die ungelöste staatsrechtliche Situation dieser Provinz -, ermutigte die muslimische Opposition, gegen die österreichisch-ungarische Landesregierung aufzutreten. Bis zu der Annexion 1908 hoffte sie auf eine eventuelle Rückkehr des Gebiets ins Osmanische Reich. In diesem Prozess spielte die panislamische Politik der osmanischen Regierung eine große Rolle. Trotzdem sind die Hauptursachen der muslimischen Opposition gegen die Landesregierung in Bosnien-Herzegowina anderswo zu suchen. Eines der wichtigsten Merkmale der österreichisch-ungarischen Periode war die Industrialisierung und Bürokratisierung der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft. In diesem Modernisierungsprozess übernahm die muslimische Elite eine führende Rolle in der nationalen Entwicklung der Muslime. Sie bestand hauptsächlich aus Grundbesitzern, Geistlichen und Intellektuellen und zerfiel in kleinere Gruppen, die wiederum in gegenseitigem Konflikt standen. Diese Konflikte innerhalb der muslimischen Elite, zwischen ihr und den Eliten anderer ethnischen Gruppen sowie mit der Landesregierung prägten die nationale Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime. Schlussendlich zeigt die vorliegende Studie also, dass die Thesen von Paul Brass, die sich hauptsächlich auf die Bewegung der indischen Muslime stützen, auch wichtige Hinweise für die Erforschung der Entstehung des Nationalismus der Muslime Bosnien-Herzegowinas liefern können. Trotz bestehender wichtiger Ähnlichkeiten gibt es aber auch bemerkbare Unterschiede, wodurch die Politisierung des bosnisch-muslimischen Ethnos von Brass’ allgemeinem Erklärungsmodell differiert. Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina unter österreichischungarischer Herrschaft (1878-1914) Valeria Heuberger (Wien) Zur Einführung Am 5. Juni 1893 begab sich Dr. Justyn Józef Karliński 1 (1862-1909) in Gesellschaft seiner „ständigen Begleiterin und Assistentin“ (womit er seine Ehefrau meinte) 2 auf den Beginn einer langen Reise, die das Paar von Bosnien-Herzegowina über Ägypten bis auf die Arabische Halbinsel, in die Nähe der Heiligen Stätten des Islam, und anschließend über Istanbul, Bulgarien und Serbien wieder zurück führen sollte. Karliński, ein in Bosnien stationierter Militär-, Bezirks- und Amtsarzt, der in Städten wie in dem südwestlich von Sarajevo gelegenen Konjic[a], in Visoko, nordwestlich von Sarajevo, sowie im nordbosnischen Maglaj wirkte, verließ Bosnien zunächst in Richtung Triest[e]. Dort bestiegen er und seine Frau am 9. Juni ein Schiff nach Alexandria, das sie am 12. Juni erreichten. Am 20. Juni machten sie sich von Alexandria aus auf den Weg nach Suez, von wo aus sie per Schiff nach Dschidda [Ğidda], dem eigentlichen Zielort, reisten, wo sie am 24. Juni ankamen. Karliński befand sich auf einer medizinischen und gleichermaßen politischen Mission. Seine Anweisung lautete, eine Gruppe von rund 120 3 aus Bosnien stammenden Mekkapilgern 4 nach Beendigung der Pilgerfahrt abzuholen und sie zurück nach Bosnien zu begleiten, um ihnen bei medizinischen Problemen, konkret im Fall des Ausbruchs von Infektionskrankheiten wie der gefürchteten 1 Auch geschrieben als Justin oder Justyn Karlinski. 2 Karlinski, Justyn: Unter der gelben Flagge. Erinnerungen und Eindrücke von meiner Reise nach Arabien und Kleinasien. Berlin: Hirschwald 1894. Separatabdruck aus: Hygienische Rundschau (1894), pp. 23 ff. 3 Karlinski 1894, p. 6. 4 Pilgerinnen wurden von ihm nur einmal erwähnt, als es darum ging, auf der Rückreise von Dschidda auf dem von ihnen benutzten Schiff für die bosnischen „Pilgerfrauen“ ein Verdeck und einen „separaten Abort“ zu errichten (ibid., p. 24). 194 Valerie Heuberger Cholera, Hilfe leisten zu können und zu verhindern, dass Infizierte in Bosnien einreisten und im schlimmsten Fall eine Epidemie verursachten. Insbesondere die Cholera galt in Österreich-Ungarn sowie im gesamteuropäischen und globalen Kontext 5 als besonders gefürchtete Infektionskrankheit: 1865 und 1893 war es zu verheerenden Epidemien gekommen, die 30.000 bzw. 40.000 Pilgern das Leben kosteten und die Krankheit auch in deren Herkunftsländer übertrugen. 6 In Österreich-Ungarn war es zu Beginn der 1870er Jahre, so etwa 1873 in Wien, immer wieder zum Ausbruch der Cholera gekommen; ebenso hatte die Epidemie 1892 in Hamburg massiv gewütet. So widmete sich das international renommierte Fachjournal Wiener Medizinische Wochenschrift 1873 und 1874 in beinahe jeder seiner wöchentlich erscheinenden Ausgaben, dem Thema der Cholera, ihrer Bekämpfung und den Heilungsmethoden. Vor allem der letztere Punkt war für die österreichisch-ungarischen Behörden sowie im größeren, gesamteuropäischen Kontext für die damaligen Groß- und Kolonialmächte von besonderer Bedeutung, da die Frage der Pilgerfahrt [Hadsch/ Ḥaǧǧ] nicht nur als eine religiöse Angelegenheit der jeweiligen muslimischen Bevölkerungsgruppen betrachtet wurde, sondern vielmehr als wichtiger Aspekt für das öffentliche Gesundheits- und Hygienewesen Europas galt. Die Pilgerfahrt mit ihren zehntausenden Teilnehmern 7 aus aller Welt, aus Südostasien, Zentralasien, dem indischen Subkontinent und Afrika wurde in der zeitgenössischen Sichtweise von den europäischen Mächten und den für die öffentliche Gesundheit Zuständigen geradezu als Brutstätte für Seuchen gesehen. Der in Paris wirkende Arzt und Choleraexperte Achille Proust (1834- 1903), Vater des Schriftstellers Marcel Proust (1871-1922), erklärte etwa im Jahre 5 Vgl. Harrison, Mark: A Question of Locality. The Identity of Cholera in British India, 1860/ 1890. In: Arnold, Dacid (Hg.): Warm Climates and Western Medicine: the emergence of tropical medicine 1500-1900. Amsterdam: Radopi 1996, pp. 133-159 (= Clio Medica 35); Low, Michael Christopher: Empire of the Hajj. Pilgrims, Plagues, and Pan-Islam under British Surveillance,1865-1926. In: International Journal of Middle East Studies 40, no. 2 (May 2008), pp. 269-290, hier p. 277ff. 6 Vgl. Kaser, Karl: Balkan und Naher Osten. Einführung in eine gemeinsame Geschichte. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2011, p. 221. 7 Die Oesterreichische Monatsschrift für den Orient nannte in ihrer Nummer. 9 vom 15.9.1878, p. 142, für 1877/ 78 eine Pilgerzahl von 44.718 Personen; die Mehrheit davon kam aus den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans, d. h. auf dem Seeweg, nach Mekka. Extra ausgewiesen wurden Pilger, die auf dem Landweg anreisten, deren Anzahl wurde mit ca. 25.000 beziffert. Da es im Osmanischen Reich keine behördliche Erfassung der Pilger gab, verweisen Schätzungen auf Pilgerzahlen von mehreren zehntausend Personen; so etwa wurde für 1814 die Zahl von 70.000 Pilgern genannt (für die folgenden Jahrzehnte wurden aber auch Zahlen von 25.000-50.000 Pilgern angegeben). Siehe dazu auch Faroqhi, Suraiya: Herrscher über Mekka. Die Geschichte der Pilgerfahrt. München, Zürich: Artemis 1990, p. 310. Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 195 1865, auf dem Höhepunkt einer massiven Choleraepidemie, die sowohl tausende Opfer unter den Mekkapilgern forderte als auch in Europa und den USA sich ausbreitete, dass man mehr zur Verhinderung der Ausbreitung von durch die Pilger eingeschleppten Krankheiten tun müsse; Europa könne nicht weiterhin von der „Gnade“ der Mekkapilger abhängen, 8 womit der Gesundheitszustand der Heimkehrenden gemeint war. Für Dr. Karliński war es 1893 nicht das erste Mal gewesen, dass er nach Bosnien heimkehrende Muslime abholte. 1891 als Regimentsarzt in Konjic stationiert, war er ausgeschickt worden, um die bosnischen Pilger nach Beendigung der religiösen Rituale in Dschidda zu treffen, mit ihnen die Quarantänestation El Tor (auch bekannt als Al Tur) im Westen der Sinaihalbinsel zu durchlaufen und sie nach Bosnien zurückzubegleiten. 9 El Tor war nach Ansicht des 1893 als Leiter der internen Abteilung des Landesspitals nach Sarajevo berufenen Arztes Géza Kobler (1864-1935), der sich auch maßgeblich der Bekämpfung von Infektionskrankheiten widmete, ein „mächtiges Bollwerk zum Schutze Europas vor Seuchen“. 10 Eigentlich hätte der in Sarajevo wirkende Polizeiarzt Dr. Julius Makanec (1854-1891) die Pilger abholen sollen, doch dieser, „wirkliches Mitglied“ der 1870 in Wien gegründeten Anthropologischen Gesellschaft mit der Mitgliedsnummer 144 und Vizepräsident des 1885 gegründeten Museumsvereins für Bosnien-Herzegowina, 11 verstarb 1891 bei der Abholung der bosnischen Pilger in Dschidda, 12 weshalb Dr. Karliński als sein Ersatz entsandt wurde. Über seine zwei Jahre später (1893) erfolgende Reise verfasste Dr. Karliński einen ausführlichen Bericht, der 1894 in einem Separatdruck der Berliner Hygienischen Rundschau erschien. 13 Die Frage des Umgangs mit der Pilgerfahrt nach Mekka und den Pilgern bezüglich des Reiseablaufs stand dabei für die Landesverwaltung in Sarajevo im Zusammenhang mit dem Ausbau des Gesundheits- und Hygienewesens in Bosnien insgesamt, welcher unmittelbar nach dem Abschluss des Okkupationsfeldzugs 1878 einsetzte. So wurde im Februar 1879 das Reichssanitätsgesetz 8 Low 2008, p. 270. 9 K.u.k. gemeinsames Finanzministerium (Hg.): Bericht über die Verwaltung von Bosnien und der Hercegovina. Wien: A. Holzhausen 1906, p. 110. 10 Kobler, Géza: Über die Verhütung der Verschleppung von Infektionskrankheiten durch den Pilgerverkehr. In: Wiener Medizinische Wochenschrift 64, Nr. 28 v. 11. 07. 1914, pp. 1581-1588, hier p. 1586. 11 Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 20 (1890), p. 50. 12 Vgl. Karliński, Justyn: Quarantaine-Studien. In: Wiener Medizinische Wochenschrift (41) 1891, Nr. 50, pp. 2035-2038, hier p. 2035. 13 Vgl. Karlinski 1894. 196 Valerie Heuberger aus dem Jahre 1870 in den besetzten Gebieten implementiert, wobei auf die Umsetzung von dessen Bestimmungen in Bosnien besonders geachtet wurde. 14 Zur Verbesserung der „Localhygiene“, so der in den 1880er Jahren im Dienste der Landesregierung wirkende Sanitätsrat Josef Unterlugauer, wurden 1883 „Local-Sanitäts-Commissionen“ eingerichtet. Diese wurden - im Einvernehmen mit dem k. u. k. Corpskommando - durch Militärärzte der betreffenden Garnison verstärkt und sollten darauf achten, dass Straßen, Plätze sowie die Umgebung der Häuser von Staub und Abfällen gereinigt wurden und kein Tierdung vor allem in geschlossenen Ortschaften auf den Straßen herumlag. Abortgruben und Kanäle sollten regelmäßig geleert und Unrat aus Straßengräben geräumt werden. Brunnen, deren Wasser als gesundheitlich bedenklich galt, hatten geschlossen, solche mit gutem Trinkwasser hingegen rein erhalten zu werden, und auch im Bereich der Lebens- und Genussmittel sollten Kontrollen für deren Unbedenklichkeit sorgen und als bedenklich geltende oder gar gesundheitsschädliche Güter vom Verkauf ausgeschlossen bzw. konfisziert und vernichtet werden. Generell sollte auf die „strengste Reinlichkeit“ der Wohnungen hingewirkt werden; Schlachtbetriebe sollten möglichst hygienisch geführt und Vieh nur auf dazu bestimmten Schlachtstätten geschlachtet werden; Fleischerläden hatten täglich geputzt und gescheuert sowie einmal wöchentlich mit Kalk gereinigt zu werden. Einkehrhäuser, Arreste, Schulen, Arbeiterquartiere seien auf deren „ordnungsmäßigen Zustand“ streng zu kontrollieren, und diese Direktiven sollten von den lokalen Gendarmerieposten überwacht werden. 15 Der Fokus für die Darstellung der Pilgerfahrt bosnischer Muslime nach Mekka liegt in diesem Beitrag auf gedruckten Quellen wie Berichten des für die Verwaltung Bosniens zuständigen gemeinsamen Finanzministeriums; 16 dazu kommen zeitgenössische Berichte etwa aus medizinischen Fachblättern wie der Wiener Medizinischen Wochenschrift 17 sowie Ego-Dokumente von den die Pilger abholenden Ärzten wie Dr. Karliński. 18 14 Fuchs, Brigitte: Orientalizing Disease. Austro-Hungarian Policies of 'Race', Gender and Hygiene in Bosnia and Herzegovina, 1878-1914. In: Promitzer, Christian/ Trubeta, Sevasti/ Turda, Marius (Hg.): Health, Hygiene, and Eugenics in Southeastern Europe to 1945. Budapest: Central European Univ. Press 2011 (= CEU Studies in the History of Medicine Series 2), pp. 57-86, hier p. 66f. 15 Unterlugauer, Josef: Die Cholera in Bosnien im Jahre 1886/ 87. Denkschrift verfasst im Auftrage des k. u. k. gemeinsamen Ministeriums für den im Jahre 1887 in Wien stattfindenden VI. internationalen Congress für Hygiene und Demografie. Wien: k.k. Hof- und Staatsdruckerei 1887, p. 13ff. 16 K.u.k. gemeinsames Finanzministerium (Hg.): Bericht über die Verwaltung von Bosnien und der Hercegovina. Wien: Holzhausen 1906-1917. 17 Wiener Medizinische Wochenschrift , Wien 1851-1944. 18 Von der Verfasserin sind zu dieser Thematik umfassendere Forschungen vorgesehen, in deren Rahmen Fragen nach der Beteiligung von Pilgerinnen aus Bosnien an der Reise Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 197 Fragestellungen & theoretische Verortung Der vorliegende Beitrag soll also einen ersten Einblick in einen bislang weniger beachteten Aspekt der österreichisch-ungarischen Verwaltung des bis 1878 osmanisch beherrschten Bosniens bieten: Wie hielt es der Habsburgerstaat mit „managing the hajj“? 19 Hierfür ist aus komparatistischer Sicht auch die diesbezügliche Herangehensweise der zeitgenössischen europäischen Mächte zu betrachten: Die Briten etwa legten zwischen 1886 und 1893 die Abwicklung der Reiseprozeduren für Pilger aus Britisch-Indien nach Mekka in die Hände der bekannten Reiseagentur Thomas Cook, ab 1878 wurde ein indischstämmiger Arzt zur medizinischen Versorgung der Pilger abgestellt, der 1881 zum britischen Vizekonsul in Dschidda ernannt und dem auch gleich nachrichtendienstliche Agenden aufgetragen wurden; er kam bei einem Anschlag auf ausländische Konsulate 1895 ums Leben. 20 Wenngleich andere Großreiche wesentlich mehr muslimische Untertanen aufwiesen als Österreich-Ungarn und daher ungleich größere Pilgerzahlen stellten, so waren die logistischen Probleme wie der Transport der Pilger sowie Quarantänemaßnahmen doch ähnlich geartet. Hinzu kam der vielfach sehr ähnliche ‘offizielle’ Blick auf die muslimischen Untertanen aus kolonialer Perspektive sowie unter den Vorzeichen von Orientalismus und Exotismus. 21 Eine weitere Frage ergibt sich aus der Art und Weise der Handhabung des Gesundheits-, Sanitäts- und Hygienewesens durch die europäischen Mächte insbesondere in Hinblick auf Südosteuropa als ‘Schnittstelle zwischen Orient und Okzident’ sowie das Osmanische Reich in seiner Gesamtheit. Diese Problematik nach Mekka, dem sozialen und bildungsmäßigen Hintergrund der Pilger, Ego-Dokumenten von bosnischen Muslimen betreffend die Pilgerfahrt sowie allfälligen politischen/ sicherheitspolitischen Aspekten aus der Sicht der Landesbehörden nachgegangen werden soll.- Vgl. auch Kane, Eileen: Odessa as a Hajj Hub, 1890s to 1910s. An NCEEER Working Paper. Connecticut College. National Council for Eurasian and East European Studies Research. Seattle: University of Washington 2011, p. 6. 19 Thomas, Martin: Managing the Hajj. Indian Pilgrim Traffic, Public Health and Transportation in Arabia, 1918-1930. In: Otte, T. G./ Neilson, Keith (Hg.): Railways and International Politics. Paths of Empire, 1848-1945. London: Routledge 2006 (= CASS Series: Military History and Policy 24), pp. 173-191. 20 Vgl. Low 2008, p. 283f.; Peters, Francis E.: Mecca. A literary history of the Muslim Holy Land. Princeton: Princeton University Press, 341; Vgl. auch Anonymos: The Powers and the Porte. Result of A Bedouin Outrage. Reparation Demanded. In: The Argus , 24. 09. 1895. 21 Heiss, Johann: Orientalismus. In: Kreff, Ferdinand/ Knoll, Eva Maria/ Gingrich, Andre (Hg.): Lexikon der Globalisierung. Bielefeld: transcript 2011, pp. 319-323; Heiss, Johann: Orientalismus, Eurozentrismus, Exotismus. Historische Perspektiven zu gegenwärtigen Problemen. In: Sauer, Birgit/ Strasser, Sabine (Hg.): Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus. Wien: Promedia & Südwind 2008 (= Historische Sozialkunde/ Internat. Entwicklung 27), pp. 221-236. 198 Valerie Heuberger findet in den letzten Jahren verstärkt interbzw. transdisziplinäre Beachtung; 22 das Thema der Pilgerfahrt nach Mekka wird dabei insbesondere im Hinblick auf außereuropäische Muslime - etwa aus Südostasien und dem Indischen Ozean, 23 aber auch aus dem Russischen Reich - zunehmend in der internationalen Forschung analysiert. 24 Österreich-Ungarn hatte etwa zu Beginn der 1880er Jahre begonnen, die Pilgerfahrt der muslimischen Landesbewohner möglichst umfassend zu organisieren. Diese Maßnahmen standen im größeren Zusammenhang des Auf- und Ausbaus des Gesundheits- und Hygienewesens in Bosnien, 25 wozu auch die Pilgerfahrt gezählt wurde. Hierbei befand sich die Donaumonarchie in Gemeinschaft mit anderen europäischen Großmächten, die die Menschenmassen, die nach Mekka und von dort zurück in ihre Heimatgebiete zogen, häufig argwöhnisch beobachteten. Dies hatte neben der Befürchtung der Einschleppung von Infektionskrankheiten auch politische Gründe: die Verbreitung von pan-islamischem Gedankengut, mit dem die Pilger in Berührung kommen und dieses in ihren Heimatregionen verbreiten könnten. 26 Mit der Okkupation im Jahr 1878 erfolgte durch Österreich-Ungarn die Einführung zahlreicher Gesetzes- und Verwaltungsbestimmungen in Bosnien, die nicht nur in der Landespolitik von Bedeutung waren, sondern durchaus auch auf den Lebensalltag der Landesbewohnerinnen und -bewohner Einfluss gewannen. Der Kontext der Organisation und Unterstützung bei der Durchführung der Pilgerfahrt ist hier in den größeren Rahmen der zeitgenössischen Politik der europäischen (Kolonial-)Mächte zu stellen, die im 19. Jahrhundert gleichfalls mit der Regelung des Pilgerwesens der von ihnen beherrschten muslimischen Bevölkerungsgruppen befasst waren. Wenngleich Umfang und Ausmaß der Pilgerzahlen sich im Vergleich zwischen Bosnien und den Pilgerströmen aus der Region des Indischen Ozeans, aus Südostasien und Britisch Indien drastisch unterschieden - aus Bosnien kamen jeweils einige Dutzend Pilger, aus 22 Vgl. Promitzer, Christian: Grenzen der Bewegungsfreiheit. Die Diskussion um Quarantänen des Osmanischen Reichs und Bulgariens vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu den Balkankriegen (1912/ 13). In: Lamprecht, Gerald/ Mindler, Ursula/ Zettelbauer, Heidrun (Hg): Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne. Bielefeld: transcript 2012, pp. 35-49. 23 Ein“Klassiker” ist hierbei Snouck-Hurgronje, Christiaan: Mekka in the Latter Part of the 19th Century. Daily Life, Customs and Learning. The Moslims of the East-Indian-Archipelago. Übers. von J. H. Monahan. Leiden: E. J. Brill 1931; vgl. auch Tagliacozzo, Eric: The Longest Journey. Southeast Asians and the Pilgrimage to Mecca. Oxford: Oxford Univ. Press 2013. 24 Kane 2011. 25 Fuchs 2011, pp. 57-86. 26 Roff, William: Sanitation and Security. The Imperial Powers and The Nineteenth Century Hajj. In: Arabian Studies 6 (1982), pp. 143-160. Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 199 der Region des Indischen Ozeans und aus Südostasien hingegen zehntausende -, so bestanden doch grundsätzliche Ähnlichkeiten, wobei im Zusammenhang mit der Pilgerfahrt von Muslimen aus Südostasien darauf hingewiesen wird, dass aus den zunächst individuell durchgeführten Pilgerfahrten im Zeitalter des Kolonialismus „a state-sponsored enterprise“ 27 wurde. Für die großen europäischen Kolonialmächte - zu denen Österreich-Ungarn zwar nicht zählte, das aber Bosnien als „Ersatzkolonie“ 28 betrachtete - stand das Thema der Pilgerfahrt nach Mekka und vor allem die Rückkehr der Pilger in ihre Heimatländer, -städte und -dörfer unter dem zentralen Aspekt der öffentlichen Gesundheitspolitik, die man in London oder Paris durch die rückkehrenden Pilger, die Seuchen einschleppen könnten, gefährdet sah. Als weiterer Aspekt ist vor allem für die Pilgerfahrt der Muslime aus dem Britischen Empire und dem Russischen Reich auf die Befürchtungen der jeweiligen Kolonialmacht zu verweisen, dass sich durch die heimkehrenden Pilger wie bereits erwähnt unliebsames Gedankengut wie etwa pan-islamische Vorstellungen verbreiten und festigen könnte. Die Pilgerfahrt wäre dadurch nicht nur eine spirituelle, den religiösen Geboten des Islam entsprechende Handlung gewesen, vielmehr würde sie gleich zweifach Gefahren beinhalten: Für die öffentliche Gesundheit durch die Verbreitung von Seuchen wie Cholera, für die innere Sicherheit aufgrund der Verbreitung irredentistischer politischer Strömungen. Dabei war die Habsburgermonarchie im Falle Bosniens bestrebt, die Lage im Land und die Stimmung in der Bevölkerung, insbesondere unter den Angehörigen der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Eliten, genau zu beobachten. Dies bezog durchaus nicht nur die aus Mekka zurückkehrenden Muslime ein, sondern war vielmehr ein die bosnischen Landes- und österreichisch-ungarischen Staatsgrenzen übergreifendes Phänomen, bei dem auch Informationen über allfällige politische Aktivitäten der temporär oder permanent im Osmanischen Reich lebenden Angehörigen der bosnisch-muslimischen Elite eingeholt wurden. In Österreich-Ungarn trat als ein wichtiges Modell der Perzeption der Muslime als Form der Auseinandersetzung mit dem ‘Orient’, hier im Fall Österreich-Ungarn als Okkupationsmacht in Bosnien seit 1878, 29 hinzu: Andre Ging- 27 Tagliacozzo 2013, p. 7. 28 Vgl. den Beitrag von Robert Donia im vorl. Sammelband. 29 Gingrich, Andre: Österreichische Identitäten und Orientbilder. Eine ethnologische Kritik. In: Dostal, Walter (Hg.): Wir und die Anderen. Islam, Literatur und Migration. Wien: WUV 1999 (= Wiener Beiträge zur Ethnologie und Anthropologie 9), pp. 29-34; Ders.: Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion des „frontier Orientalism“ in der Spätzeit der K. u. K. Monarchie. In: Feichtinger, Johannes et al. (Hg.): Schauplatz Kultur - Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Moritz Csáky zum 70. Geburtstag gewidmet. Innsbruck, Wien: StudienVerlag 2006, pp. 279-288, hier p. 279. 200 Valerie Heuberger richs Konzept eines „Frontier Orientalism“ bewegt sich im regionalen Rahmen von Teilen Süd- und Mitteleuropas sowie Russlands und zeigt auf, welche Gemeinsamkeiten sich bei den in Jahrhunderten ausgeprägten Formen von politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen „Verflechtungen und Auseinandersetzungen mit der islamischen Welt“ ausdifferenziert haben und welche Wirkmächtigkeit sowie Nachhaltigkeit diesen in den europäischen Volkskulturen zukommt, wobei hier vor allem Ostösterreich ein ergiebiges Forschungsfeld darstellt. „Frontier Orientalism“ durchzog, so Gingrich, volkstümliche Traditionen, wirkte sich nachhaltig auf Kunst, Kultur und Mentalitäten aus, beeinflusste die Historiografie und gewann Deutungshoheit für die Entstehung und Festigung von Geschichtsbildern, Selbst- und Fremdbilder. 30 Der Habsburger Staat bediente sich hinsichtlich seiner Vorgehensweise im Balkanraum und vor allem als Akteur gegenüber Bosnien, seiner „Ersatzkolonie“, politisch und kulturell vielfältig ein- und umsetzbarer Deutungsmuster, die von Begriffen wie Orientalismus und Exotismus maßgeblich geprägt wurden und generell im oftmals pejorativen Blick auf den „Orientalen“ ihren Ausdruck fanden - beispielsweise wenn Dr. Karliński auf seiner ersten Reise zur Abholung bosnischer Mekkapilger 1891 anmerkte, dass das „Ungeziefer zum ständigen häuslichen Inventar eines Orientalen gehört.“ 31 Die Pilgerfahrt nach Mekka im 19.-Jahrhundert im internationalen gesundheitspolitisch-öffentlichen Kontext Die Frage der Pilgerfahrt zur Zeit der imperialen und kolonialen Aufteilung der Welt im 19. Jahrhundert sowie bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs ist vielschichtig. Sie stellt hinsichtlich ihrer Organisation und ihres Ablaufs, der vielfach von europäischen (Kolonial-)Mächten wie dem Britischen Empire oder Russland mehr oder weniger akribisch geregelt war, ein gutes Beispiel für die zeitgenössische Auffassung gesundheits- und hygienepolitischer Aspekte und daraus resultierende Handlungsweisen dar. Die Pilgerfahrt wurde nicht bloß als eine für Angehörige einer bestimmten Religion, des Islam, vorgeschriebene Verpflichtung betrachtet, vielmehr besaß sie eine außen- und auch gesundheitspolitische Ausrichtung: Außenpolitisch im Hinblick auf das Machtspiel bzw. 30 Vgl. Ruthner, Clemens: Kakaniens kleiner Orient. Post/ koloniale Lesarten der Peripherie Bosnien-Herzegowina (1878-1918). In: Hárs, Endre/ Müller-Funk, Wolfgang/ Reber, Ursula/ Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen, Basel: A. Francke 2006, pp. 255-284, hier p. 255; weiters den Beitrag von Robert Donia im vorl. Sammelband. 31 Karliński 1891, p. 2105. Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 201 politische Kräftemessen zwischen dem Osmanischen Reich, aus dem viele Mekkapilger kamen, sowie europäischen Mächten, zu deren Bevölkerungen auch Muslime zählten, wie seit 1878 auch Österreich-Ungarn. Die gesundheitspolitische Komponente war eng mit der außenpolitischen verbunden, wozu beispielsweise die Ausrichtung und Abhaltung internationaler Sanitätskonferenzen zählte. 1866 fand solch eine Konferenz in İstanbul statt, wo ein Jahr zuvor, 1865, eine Choleraepidemie an die 30.000 Opfer gefordert hatte. Gerade das Osmanische Reich wurde häufig wegen mangelnder Vorkehrungen zur Seuchenprävention angeprangert. 32 Dabei hatte Sultan Mahmud II. (1808- 1839) bereits 1838 unter Beiziehung der europäischen Mächte den Hohen Rat für das Gesundheitswesen (Conseil Supérieur de Santé) gegründet. In Mekka und Medina wurden auf Veranlassung der osmanischen Sultane und der lokalen Scherifen Lazarette errichtet und die Trinkwasserversorgung verbessert, während die europäischen Mächte in El Tor auf der Sinaihalbinsel und der Insel Kamran im Roten Meer - außerhalb des Gebiets, das direkt unter osmanischer Kontrolle stand - Quarantänestationen betrieben. Bei größeren Epidemien wie dem Ausbruch der Cholera 1893/ 1894 waren diese Stationen aber zu klein dimensioniert und das medizinische Personal überfordert, was zum Tod von zahlreichen heimkehrenden Muslimen führte. 33 Ein weiterer Aspekt im internationalen Kontext war die Verbesserung und vor allem Beschleunigung des Reiseverkehrs, wofür das Bestreben nach einem rascheren Transport der Pilgermassen von und nach Mekka eine Rolle spielte: „a mass hajj as byproduct of late-nineteenth century European colonization of Africa, Asia, which brought modern transportation networks to the Muslim world“. 34 Als Folge der verkehrstechnischen Fortschritte im 19. Jahrhundert und dem Einsatz von Dampfschiffen im Mittelmeer und dem Indischen Ozean, die die Pilger auf die Arabische Halbinsel brachten, hatte sich die Reisegeschwindigkeit stark erhöht und die Reisedauer verkürzt, der Prozess der nach Emmanuel Le Roy Ladurie „bakteriologischen Vereinheitlichung der Welt“ („the unification of the globe by disease“ 35 ) hatte eingesetzt. Zuvor waren Pilger auf dem langen Weg nach und von Mekka im Fall einer Erkrankung an Typhus oder Cholera entweder daran verstorben oder auch genesen, bevor sie wieder ihren Heimatort erreichten. Die Beschleunigung des Reiseverkehrs konnte nun dazu 32 Dinçkal, Noyan: İstanbul und das Wasser. Zur Geschichte der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1966. München: Oldenbourg 2004 (= Südosteurop. Arbeiten 120), p. 163f. 33 Faroqhi 1990, p. 236. 34 Kane 2011, p. 5. 35 Le Roy Ladurie, Emmanuel: A Concept. The Unification of the Globe by Disease. In: Ders.: The Mind and Method of the Historian. Brighton: Harvester 1983, pp. 28-83. 202 Valerie Heuberger beitragen, dass infizierte Personen die Krankheit in ihre Herkunftsstädte und -dörfer mitbrachten und dann dort Seuchen ausbrachen. So verfestigte sich das latent bereits bestehende Bild vom Osten und Südosten als ‘Keimzelle’ von Krankheiten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchten Choleraepidemien Europa heim, die einerseits das öffentliche Bewusstsein für die Gefahr von Epidemien und deren Auswirkungen auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht erhöhten und andererseits eine negative öffentliche Stimmung gegenüber dem ‘Orient’ und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern hervorriefen: Aus Mekka zurückkehrende Muslime wurden als „Bedrohung der europäischen Volksgesundheit“ gesehen, obwohl Epidemien auch unabhängig von deren Pilgerfahrt auftraten - beispielsweise waren sie immer wieder in den von Österreich/ Österreich-Ungarn beherrschten Territorien in Ost- und Südosteuropa verbreitet wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die österreichisch-russische Grenze hinweg. Zur Prävention bzw. Eindämmung ansteckender Krankheiten setzten auch das Russische bzw. Osmanische Reich Quarantänemaßnahmen, so etwa während des Russisch-Osmanischen Krieges 1828-1829 oder während der Gefahr einer Pestepidemie in Istanbul 1830/ 31. 36 Zur Pilgerfahrt bosnisch-herzegowinischer Pilger nach Mekka Im Habsburgerstaat wie auch in den anderen europäischen Großreichen mit muslimischen Untertanen wurde versucht, die Pilgerfahrt möglichst genau zu regeln und umfassende Aufzeichnungen darüber zu verfassen: „One of the great ironies of colonial rule is that Christian powers left such profoundly detailed records on the Southeast Asian Hajj. Base suspicion and an often genuine desire to know the hearts and minds of their subjects at the same time made this possible“. 37 Für Österreich-Ungarn wie auch für weitere Kolonialmächte war die Vereinheitlichung der Rahmenbedingungen der Pilgerfahrt wichtig. Dies beinhaltete im Fall Bosniens: die gemeinsame Abreise der Pilgergruppe unter einem Pilgerführer, Reis-ul-Hadžada; die Erstellung einer Namensliste der Teilnehmer, die sowohl innerhalb Bosniens - von der Landesregierung bis hin zu Bezirksämtern, Polizeistellen und Zollbehörden im Fall der Wiedereinreise der Pilger - als auch in Orten und Häfen, die die Pilger durchliefen, etwa in Triest, aber auch bei den Konsulaten entlang der Reisestrecke wie in İstanbul und Dschidda, vorgelegt wurde; die Verwendung von festgelegten Reiserouten und die ge- 36 Promitzer 2012, p. 38 . 37 Tagliacozzo, Eric: The Longest Journey. Southeast Asians and the Pilgrimage to Mecca. Oxford: Oxford University Press 2013, p. 10f. Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 203 meinsame Rückkehr sowie die Betreuung durch einen von der Landesregierung in Sarajevo zur Verfügung gestellten Distrikts- oder Amtsarzt, der die Pilgergruppe in Dschidda traf und sie zurückbegleitete. Die Pilger erhielten auch ein „Merkblatt“, das Informationen über die Hin- und Rückreise enthielt wie auch zu den Zollbestimmungen hinsichtlich mitgebrachter Waren und Geschenke, wobei vor dem Erwerb gebrauchter Kleidung als möglichem Krankheitsüberträger gewarnt wurde; dazu kamen Hygienehinweise wie die Aufforderung, nur abgekochtes Wasser zu trinken und beim Verzehr von rohem Obst vorsichtig zu sein. 38 Diese Maßnahmen wurden als notwendig erachtet, da Bosnien, so Ferdinand Schmid im Kapitel „Die Sanitätspolizei und die öffentliche Hygiene“ in seinem 1914 in Leipzig erschienenen Werk Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Oesterreich-Ungarns , „seit altersher“ ein Residuum für Infektionskrankheiten sei, weshalb die österreichische Verwaltung auch besonders rigoros bei deren Prävention vorging. Dies bezog sich nicht nur auf Hygienemaßnahmen in Bezug auf Mekkapilger aus Bosnien, sondern zeigte sich beispielsweise generell bei der Umsetzung von gesundheitspolitischen Maßnahmen wie bei dem Gesetz vom 19. März 1912 betreffend den Impfzwang gegen Blattern. 39 Zur „Beamtshandlung“ der Pilgerfahrt Zur besseren Abwicklung der Reise sowie zur gesundheitlichen Kontrolle der Pilger wurde die Reise nach Mekka als Gruppenfahrt unter der Leitung eines Pilgerführers organisiert, um den Pilgern „tunlichst“ Schutz gewähren zu können. 1881 wurden auf Anordnung der Landesregierung Pilger mit Pässen versehen, damit „dieselben in Evidenz gehalten und bei ihrer Rückkehr ärztlich untersucht werden könnten“. Nicht nur bei der Ausreise, sondern insbesondere bei der Rückkehr nach Bosnien erfolgte in den Grenzstationen eine medizinische Untersuchung und die mitgebrachten „Effecten“ wurden desinfiziert. 40 Zur Beförderung der Pilger (und auch als Anreiz, nicht individuell, sondern als Gruppe zu reisen) wurde von der Landesregierung eine Vereinbarung mit der Österreichischen Lloyd getroffen und für die Fahrt Triest-Alexandria eine Preis- 38 Kobler 1914, p. 1586f. 39 Nach Schmid wurde das Gesetz in Bosnien noch strenger als in der übrigen Habsburgermonarchie ausgelegt: Nach Mekka abreisende Pilger sollten geimpft werden, ebenso jedes Kind bis zum Ende des zweiten Lebensjahres; eine Ausnahme gab es nur aus gesundheitlichen Gründen bzw. bei Kindern, die bereits die Blattern durchgemacht hatten. Die Wiederimpfung erfolgte mit dem achten Lebensjahr (Schmid, Ferdinand: Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Oesterreich-Ungarns. Leipzig: Veit. 1914, p. 283ff.). 40 Finanzministerium 1906, p. 110. 204 Valerie Heuberger ermäßigung erwirkt, damit die Pilger sich unter der Leitung des Pilgerführers der gleichen Route bedienten und so ihre sanitäre Überwachung leichter durchgeführt werden konnte; auch andere europäische Mächte kümmerten sich um den organisierten Transport ihrer Pilger. 1908 beispielsweise wurden vom Russischen Reich für seine Mekkapilger an die tausend spezielle Waggons 3. Klasse für die benutzten Bahnstrecken bereitgestellt - so etwa zwischen Taschkent und Odessa, von wo aus sich viele Muslime aus Russland einschifften. 1909 brachten eigene „Hedschas-Dampfschiffe“ die Pilger aus Odessa an ihr Ziel, und auch der jeweilige Scherif von Mekka war an einer Verbesserung der Reisebedingungen interessiert; bereits in den 1880er Jahren wurden dessen Abgesandte von Mekka nach Odessa geschickt, um die Pilgergruppen zu koordinieren. 41 Doch zurück zu den Pilgern aus Bosnien: 1890 kam es auf der Rückfahrt von Dschidda zu Verzögerungen in den verschiedenen Quarantänestationen, die zu durchlaufen waren, beispielsweise auf der Sinaihalbinsel und in Kleinasien, in der Umgebung von Smyrna [heute: İzmir], weshalb 1891 auf die Inanspruchnahme eines von der Lloyd betriebenen Schiffes verzichtet wurde. Im gleichen Jahr kam es im Hedschas zum Ausbruch einer Choleraepidemie; daher wurde ein Arzt von der Landesregierung in Sarajevo zur Abholung der Pilger nach Dschidda geschickt, der mit ihnen alle Quarantänestationen durchlief und den Gesundheitszustand der Pilger überwachen, ihnen ärztlich beistehen sowie Krankheitsfälle sofort der Landesregierung melden sollte. Die Entsendung von Ärzten wurde in den folgenden Jahren fortgesetzt 42 und die eingangs erwähnte Reise von Dr. Karliński 1893 zur Abholung der Mekkapilger wurde auch in einem 1895 in Wien erschienenen Bericht behandelt. In diesem wurde ausführlich die Rückreise der Mekkapilger „unter Überwachung und Begleitung“ eines Arztes dargelegt sowie die Rolle der zu durchlaufenden Quarantänestationen auf der Sinaihalbinsel sowie in Kleinasien angesprochen, wo jeweils mehrere Wochen andauernde Quarantäneaufhalte stattfanden und auch die „Effecten“ der Pilger gründlich desinfiziert wurden. 43 Die angesprochene „Überwachung“ der Pilger war aber nicht so einfach zu gewährleisten. Dr. Karlinski berichtete, dass er sich mit 57 Pilgern am 9. Juli 1893 in Dschidda einschiffte, dass aber trotz seiner Bemühungen um eine gemeinsame Rückfahrt fünf Tage zuvor elf Pilger eigenständig die Heimreise angetreten hatten. Ursprünglich hatte Dr. Karliński 120 bosnische Muslime in Dschidda empfangen sollen, doch waren bereits in Mekka etliche verstorben und auf dem weiteren Heimweg reduzierte sich die Gruppe durch weitere Todesfälle. 44 41 Kane 2011, pp. 7 und 14. 42 Schmid 1914, p. 287. 43 In: Die Cholera in Bosnien im Jahre 1893. Wien: Holzhausen 1895, p. 6. 44 Karlinski 1894, pp. 6 u. 12. Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 205 Am 29. August 1893 wurde in Bosnien die Verfügung erlassen, dass der Gesundheitszustand der Heimkehrer nach dem Eintreffen in ihren Heimatorten durch einen Arzt oder beim Fehlen eines Arztes durch „anderweitige vertrauenswürdige Personen“ untersucht werden sollte; 45 unter den heimgekehrten Pilgern gab es keinen Cholerafall. Eine Komplikation bei diesen Sicherheitsmaßnahmen war dadurch gegeben, dass - wie die Kreisbehörde Banjaluka am 20. September 1893 nach Sarajevo telegrafierte - das Großgepäck einzelner heimgekehrter bzw. auf der Reise verstorbener Pilger von Mekka aus noch zum Bestimmungsort unterwegs war und daher eine „sanitätspolizeiliche Amtshandlung“ noch nicht möglich war. Daher wurden am 22. September 1893 alle Behörden angewiesen, die Verfügung zu treffen, dass solches aus Mekka kommendes Gepäck „nach vorheriger Abschätzung im Feuer vertilgt, etwa darunter befindliche werthvollere Gegenstände aber ausgeschieden und vor Zulassung zur Weiterbeförderung gründlich desinficirt werden.“ Von dieser Verfügung wurden die Bahndirektionen sowie die Militär-, Post und Telegrafendirektion in Bosnien verständigt und zugleich versucht, dass solche Pakete bei ihrem Eintreffen auf dem Post- oder Bahnweg „sistiert“ (d. h. von der Aushändigung an den Besitzer zurückgehalten) wurden und von den „betreffenden Organen über deren Eintreffen behufs sanitätspolizeilicher Beamtshandlung der nächsten politischen Behörde die Anzeige erstattet werde“. Mitte November traf das Großgepäck in Sarajevo am Hauptzollamt ein und wurde „entsprechend“ behandelt, d. h. desinfiziert. Wertvollere Gegenstände wurden zuvor entfernt und extra gründlich desinfiziert; bei Beschädigungen des Gepäcks bzw. der Zerstörung von wertvolleren Gegenständen wurden dessen Besitzer aus Landesmitteln entschädigt. 46 In Bosnisch Brod [Bosanski Brod] wurde inzwischen ein großer, stabiler Dampfdesinfektor (der 1911 neu adaptiert wurde) errichtet, in dem das Gepäck der Pilger rasch und gründlich desinfiziert werden konnte; dazu kam der Bau einer Desinfektions- und Isolierstation. 47 Hierher wurde das Großgepäck der Pilger aus ihren Ankunftsorten, zum Beispiel Semlin [heute: Zemun], Triest oder Fiume [heute: Rijeka] geschickt, dort sanitätspolizeilich und zollamtlich behandelt. Nach der Ankunft in Bosnisch Brod wurden die Rückkehrer in einer Desinfektionsstation unterbracht, die Pilger und ihr Gepäck desinfiziert. Nachgeschicktes Gepäck und „eingeschlichene“ Pilger, d. h. solche, die individuell 45 Promitzer 2012, p. 36. 46 Finanzministerium 1906, p. 111. 47 K.u.k. gemeinsames Finanzministerium (Hg.): Bericht über die Verwaltung von Bosnien und der Hercegovina 1911. Wien: Holzhausen 1911, p. 38; Dass.: Bericht über die Verwaltung von Bosnien und der Hercegovina 1913. Wien: Holzhausen 1914, p. 41. 206 Valerie Heuberger zurückgekommen waren oder solche, die über andere Grenzstationen kamen, wurden ebenfalls in Brod gesammelt. 48 In Jahren, in denen besonders heftige Pest- und Choleraepidemien wüteten, riet die Landesregierung - im Einklang mit diesbezüglichen Beschlüssen internationaler Sanitätskonferenzen - von der Pilgerreise ab; falls Pilgergruppen sich dennoch auf den Weg nach Mekka begaben, sollte ihnen keine Fahrpreisermäßigung gewährt werden. Direkt untersagen wollte die Landesregierung die Pilgerfahrt aber aus Rücksicht auf die religiösen Gefühle der muslimischen Landesbewohnerinnen und -bewohner doch nicht, denn man wollte sie nicht „verstimmen“. Außerdem, so die Überlegung der Landesregierung, könnten sich bosnische Muslime leicht Auslandspässe für das Osmanische Reich holen und von dort aus nach Mekka fahren, was die sanitätsbehördliche Kontrolle erschweren bzw. unmöglich machen würde. Andere Staaten wie Frankreich und Russland verboten bei erhöhter Seuchengefahr immer wieder die Pilgerfahrt; Muslime aus Südrussland und Nordafrika reisten aber trotzdem nach Mekka. Die Pilgerfahrt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs Die Entsendung eines Arztes, der die bosnischen Muslime in Dschidda abholte und nach Bosnien zurückbegleitete, wurde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nicht durchgehend durchgeführt, da dies von der Landesregierung nicht immer als notwendig erachtet wurde. Wenn etwa so wie in den Jahren 1906 und 1907 in Dschidda Pestfälle auftraten, so wurde in diesen nur eine lokale Gefährdung der Bevölkerung gesehen und daher durch heimkehrende Muslime keine Ausbreitung in Bosnien erwartet, da die Rückkehrer während der Heimreise eine Reihe von Quarantänestationen bzw. -maßnahmen zu durchlaufen hatten. Noch 1897 hatte es dagegen eine Verlautbarung gegeben, wonach bosnische Muslime so lange nicht in ihre Heimatorte zurückdurften, als die Seuche nicht erloschen war. Das k. u. k. Vizekonsulat in Dschidda wurde aber 1906 und 1907 aufgefordert, „die Einschiffung der aus Mekka ankommenden Pilger zu beschleunigen sowie die Pilger abzuhalten, dass sie in Djeddah Teppiche oder Kleider einkaufen“ 49 . Solche Mitbringsel wie auch Schals und Tücher waren sehr beliebt; das begehrteste Geschenk aus Mekka war jedoch das Wasser aus dem Brunnen ZemZem, das in oftmals schön verzierten Porzellan- und Glasflaschen auch in größeren Mengen als Geschenk mitgebracht wurde. Europäische Ärzte, darunter auch Dr. Karliński, untersuchten das Wasser auf seine allfällige 48 Finanzministerium 1906, p. 111. 49 K.u.k. gemeinsames Finanzministerium (Hg.): Bericht über die Verwaltung von Bosnien und der Hercegovina 1907. Wien: Holzhausen 1907, p. 35. Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 207 bakteriologische Verunreinigung, befanden es aber für unbedenklich in Bezug auf die Verbreitung von Infektionskrankheiten wie der Cholera. 50 Das von ihm untersuchte Wasser hatte Dr. Karliński heimlich dem Besitz eines auf der Reise verstorbenen bosnischen Muslims entnommen, da seiner Erfahrung nach das ZemZem-Wasser von Muslimen nicht an Nicht-Muslime weitergegeben wurde. Die von Österreich-Ungarn angestrebte einheitliche Hin- und Rückreise der bosnischen Mekkapilger war jedenfalls nicht immer wie geplant durchzuführen. 1910 vollzog sich die Rückkehr der bosnischen Muslime nur „schleppend“, weshalb größere Ausgaben für den „Landesärar“ entstanden, da die Desinfektionsanstalt in Bosnisch Brod monatelang bereitstehen und auch auf kroatischem Gebiet ein Überwachungsdienst zur Verhinderung der „illegalen“ Rückkehr nach Bosnien finanziert werden musste. Es kam nämlich auch immer wieder vor, dass bosnische Pilger ein Jahr lang bei den Heiligen Stätten verweilten und erst mit der nächsten Pilgergruppe nach Bosnien heimkehrten. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts betrug die Größe der Gruppen um die 100 Personen: So nahmen 1910 101 Personen an der Pilgerfahrt teil, wobei 96 Muslime die Pilgerfahrt antraten und fünf Pilger, die seit der Pilgerfahrt des Jahres 1909 oder sogar noch länger im Hedschas gelebt hatten, sich den heimkehrenden Landsleuten anschlossen. 51 Ein Beispiel für die Mühen der Reise trotz verkehrstechnischer Neuerungen wie der Eröffnung der Hedschasbahn 52 im Jahre 1908 war die Pilgerfahrt 1910: Zwölf Pilger wählten die Hinfahrt nach Mekka mit dem Schiff über Triest nach Haifa, danach fuhren sie mit der Hedschasbahn weiter Richtung Medina. Die Rückfahrt führte einen Teil der bosnischen Muslime über Dschidda und die Quarantänestation El Tor auf der Sinaihalbinsel nach Suez und İstanbul, ein Teil der Pilger wählte aber die Rückfahrt mit der Hedschasbahn von Medina Richtung Damaskus, was für sie bedingt durch immer wieder auftretende technische Störungen beträchtliche Unannehmlichkeiten mit sich brachte, etwa gleich zu Beginn einen zehntägigen Aufenthalt in Medina, dem Ausgangsbzw. Endpunkt der Hedschasbahn, dazu noch dreißig Tage Wartezeit in Damaskus, dem zweiten Ausgangsbzw. Endpunkt. Noch während des Aufenthalts in Dschidda war die Cholera ausgebrochen, dazu kamen Pestfälle. Sieben bosnische Pilger verstarben, sechs davon an Cholera oder Dysenterie, einer vermutlich an Tuberkulose. Im Jahr 1913, so die österreichischen Berichte, habe sich die sanitäre Lage im Hedschas, etwa die Versorgung mit gutem Trinkwasser, verbessert. Die 50 Karlinski 1894, p. 10f. 51 Finanzministerium 1907, p. 35f., und 1911, p. 37. 52 Low 2009, p. 280. 208 Valerie Heuberger Pilgerfahrt 1913 wurde von einer 75 Personen umfassenden Gruppe durchgeführt, von denen vier Pilger an „gewöhnlichen“ Krankheiten verstarben. Als problematisch sollte sich allerdings immer wieder die Rückreise erweisen: Für die bosnischen Muslime, die von Istanbul mit der Bahn über Bulgarien und Serbien heimreisten, war die Quarantäne an den jeweiligen Grenzen strikt: Sie dauerte häufig etliche Tage die Reisenden waren während der Wartezeit nur notdürftig untergebracht, und oftmals wurden geradezu rabiate Desinfektionsmaßnahmen verwendet, die das Reisegepäck und dessen Inhalt wie Bekleidung beschädigten oder sogar zerstörten. Diesbezügliche Beschwerden bosnischer Mekkapilger wurden von Österreich-Ungarn aufgegriffen und vorgebracht, allerdings offenbar nicht nur aus Rücksichtnahme auf die bosnischen Muslime, sondern generell im Interesse der Reisenden. Über die unangenehmen Quarantänebedingungen an der bulgarischen Grenze hatte bereits Dr. Karliński 1893 berichtet: „Da wurden neue Kleider aus den Cartons herausgezerrt und ohne Rücksicht auf Seide oder Sammt mittelst der allein seligmachenden Spritze mit 5proc. Carbolsäurelösung besprengt“ 53 . Weitere Beschwerden bosnischer Muslime im Hinblick auf die Reise mit der Hedschasbahn waren, dass sie in offene Waggons mit weit mehr Passagieren als der jeweils vorgesehenen Anzahl hineingepfercht worden wären. Auf halbem Weg von Medina nach Damaskus lag eine Quarantänestation: Trat unterwegs ein Seuchenfall auf, so sollte der Zug zur letzten durchlaufenen Quarantänestation bzw. einem Lazarett wieder in Richtung Medina zurückkehren, was aufgrund technischer Probleme oftmals lange dauerte oder auch gar nicht zustande kam, da die Bahnverwaltung in einer Umkehr eine „Betriebsstörung“ sah und den Zug lieber in Richtung Damaskus weiterschickte. Bevor der Zug dann sein Ziel erreichte, wurde ein Halt eingelegt und die Reisenden medizinisch untersucht, was aber sogar die bosnischen Muslime als „flüchtig“ bezeichneten. 54 Zum Abschluss Die Pilgerfahrt nach Mekka war und ist ein zentrales Element im Glaubensleben der Muslime weltweit und somit auch für die Muslime und Musliminnen aus Bosnien-Herzegowina. Für die Kolonialmächte des 19. und 20. Jahrhunderts bedeutete diese Reise allerdings weit mehr als die Erfüllung einer religiösen Pflicht ihrer muslimischen Untertanen: Vielmehr standen Aspekte einer sich im 19. Jahrhundert formierenden und institutionalisierenden öffentlichen Ge- 53 Promitzer 2012, p. 46; Karlinski 1894, p. 28. 54 Finanzministerium 1911, p. 38; K. u. k. gemeinsames Finanzministerium (Hg.): Bericht über die Verwaltung von Bosnien und der Hercegovina für die Jahre 1914-1916. Wien: Holzhausen 1917, p. 20; Kobler 1914, p. 1583. Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 209 sundheits- und Hygienepolitik mit nationaler und internationaler Ausrichtung 55 sowie der Seuchenprävention im Vordergrund, wozu die Befürchtung einer politischen Indoktrinierung der zurückkehrenden Pilger durch pan-islamisches Gedankengut trat. Diese Befürchtung von Seiten europäischer Kolonialmächte bezog sich insbesondere auf Muslime aus Britisch-Indien, die in Mekka, dessen Umgebung sowie auch in Ägypten diasporische Gemeinschaften etablierten und Strategien des Ungehorsams und Widerstandes gegen die Kolonialmächte ausbildeten, die dann von den zurückkehrenden Pilgergruppen in ihre jeweiligen Herkunftsländer importiert wurden - wobei vor allem unter der Regentschaft von Sultan Abdülhamid II. (reg. 1876-1909) anti-europäische und anti-imperialistische Tendenzen stark zunahmen. 56 Österreich-Ungarn, das stets die politische Lage in Bosnien genau beobachtete und vor allem Kontakte von bosnischen Eliteangehörigen mit dem Ausland, wie etwa dem Osmanische Reich, penibel zu verfolgen versuchte, hatte daher auch ein Auge auf die bosnischen Mekkapilger. Dabei war die Zahl der Mekkapilger aus Bosnien im Vergleich zu den Pilgerströmen aus Asien, Afrika, dem Osmanischen Reich oder auch Russland gering; sie betrug durchwegs um die 100 bis 200 Personen. Dennoch wurde die Pilgerfahrt der muslimischen Landesbewohner und -bewohnerinnen von der bosnischen Landesregierung und den Landesbehörden nicht nur möglichst akribisch zu erfassen, sondern auch zu lenken versucht. Die Pilgerfahrt sollte am besten als Reisegruppe durchgeführt werden, deren Mitglieder beisammen bleiben und auch gemeinsam die Rückfahrt nach Bosnien antreten sollten. Dennoch kam es immer wieder vor, daß Pilger erst im darauffolgenden Jahr nach Bosnien zurückkehrten: Die Kosten der Reise sowie deren Länge und Mühsal ließen es manchen Pilgern ratsam erscheinen, ihren Aufenthalt in den heiligen Stätten auszudehnen und sich ihren Aufenthalt durch Handel etwa mit Bekleidung oder auch das Anbieten von „Reiseleiterdiensten“ für neuankommende, durchaus nicht nur bosnische Pilger zu finanzieren. Zwar lag ein grundlegender Aspekt der Pilgerfahrt darin, dass sich nur Muslime, die wohlhabend genug waren und die ausreichende Versorgung ihrer daheimgebliebenen Familien garantieren konnten, die Reise antreten durften; doch gab es immer wieder Pilger, deren finanzielle Mittel in Mekka zur Neige gegangen waren und die deshalb länger vor Ort blieben, um sich wieder mit etwas Geld für den weiteren Aufenthalt oder die Heimreise zu versorgen. 57 55 Kobler, Géza: Die Quarantäne -Frage in der internationalen Sanitäts-Gesetzgebung. Wien: Hölder 1898; Bashford, Alison: Imperial Hygiene. A Critical History of Colonialism, Nationalism and Public Health. London, New York: Palgrave Macmillan 2004. 56 Roff 1982, pp. 143-160. 57 Eichler, Eduard: Das Justizwesen Bosniens und der Hercegovina. Wien: k. k. Hofu. Staatsdruckerei 1889, p. 9. 210 Valerie Heuberger Die Ein- und Ausreise der bosnischen Pilger wäre jedenfalls, so die behördlichen Vorgaben aus Sarajevo, am besten bei von der Landesregierung vorgegebenen Grenzstationen zu vollziehen; aber auch hinsichtlich der Reiseroute von und nach Mekka gab es Empfehlungen von der Landesregierung. Zur Betreuung der heimkehrenden Muslime wurde häufig ein in Bosnien tätiger Arzt, zumeist ein Amts- oder Militärarzt, nach Dschidda geschickt, wo dieser die aus Mekka eintreffenden bosnischen Muslime empfing, Unterkunft für sie suchte bzw. vorbereitet hatte und auf deren Gesundheit achten sollte. So war jedenfalls das administrative procedere vorgesehen, wenngleich aus Randbemerkungen, beispielsweise aus den Berichten der die Pilger in Dschidda abholenden Ärzte hervorgeht, dass in Sarajevo er Amtsstuben entwickelte und dort durchaus vernünftig klingende Vorgaben sich vor Ort - in einer Quarantänestation in der Wüste Sinai oder während der Bahnfahrt durch den Balkan, von Istanbul über Bulgarien und Serbien, wo an jeder der zu überquerenden Grenzen auf die Heimkehrer nicht nur verständliche Hygienemaßnahmen, sondern auch Schikanen warteten - als nicht ganz so praktikabel erwiesen. Ein Aspekt der Pilgerfahrt soll abschliessend nicht unerwähnt bleiben: Die Beteiligung von Frauen an der Reise nach Mekka, die neben einer spirituellen auch über eine soziale und gesellschaftliche Dimension verfügte und verfügt und deren Narrative auch Aufschluss über die jeweilige muslimische sowie nicht-muslimische Gesellschaft bieten. Frauen als Akteurinnen der Pilgerfahrt fanden im Rahmen von Berichten über die Fahrt nach Mekka zumeist dann Erwähnung, wenn sie Eliteschichten oder gar regierenden Herrscherhäusern angehörten oder auch auto-biografische Berichte verfassten, was wieder durchwegs ein Elitenphänomen darstellte. 58 Im Fall von bosnischen Pilgerinnen erfuhren diese in Berichten von österreichisch-ungarischen Militärärzten, die die Pilger begleiteten, nur eine kurze Erwähnung, etwa als mitreisende Ehefrauen. Dieser Frage näher nachzugehen ist für die Verfasserin ein zukünftig angestrebtes, aufgrund der Quellenlage aber sicher nicht so leicht zu beantwortendes Forschungsdesiderat. 58 Sayeed, Anna: Women and the Hajj. In: Tagliacozzo, Eric/ Toorawa, Shawkat M. (Hg.): The Hajj. Pilgrimage in Islam. New York: Cambridge Univ. Press 2016, pp. 65-84, hier pp. 74 und 79. Der Savindan 211 Der Savindan Zur Konstruktion eines nationalen Gedenktages im imperialen Kontext des habsburgischen Bosnien-Herzegowina 1 Dennis Dierks (Jena) 1. Whose story to believe? Einer der Schwerpunkte der Bosanska vila , einer 1885 in Sarajevo gegründeten Zeitschrift „für Unterhaltung, Belehrung und Literatur“, 2 war in den ersten Jahren ihres Erscheinens die Berichterstattung über die Feierlichkeiten zum Todes- und Gedenktag des Heiligen Sava am 14. Januar des julianischen Kalenders. Wie sich derartige Berichte gestalteten, verdeutlicht folgendes Beispiel aus dem Jahr 1889 über die Sava-Feiern in Sarajevo: Der Heilige Sava, den unsere serbische Schule bereits seit dreißig Jahren, als sie bei uns eröffnet wurde, als ihren Patron feiert, wurde auch dieses Jahr gefeiert, wie es sich für den wohlgefälligen serbischen Diener Gottes geziemt. Nach dem Gottesdienst in der Kirche zog die Geistlichkeit mit dem hochwürdigen Herrn Metropoliten Nikolajević an der Spitze gemeinsam mit zahlreichem Volk und Schulkindern zu den Räumlichkeiten der Schule, wo sich bereits zuvor viele Menschen versammelt hatten. Nachdem Wasser und Koliva 3 geweiht worden waren, hielt der serbische Lehrer Herr Nikola T. Kašiković eine Rede voll von dichterischem Schwung, die, so glaube ich, in dieser Art noch nie bei uns zu hören war. Konzis und in klaren Zügen skizzierte er 1 Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf der Dissertation des Autors: Nationalgeschichte im multikulturellen Raum. Serbische Erinnerungskultur und konkurrierende Geschichtsentwürfe im habsburgischen Bosnien-Herzegowina 1878-1914. Göttingen: V&R unipress 2019 (= Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas 7). 2 Zur Geschichte dieser Zeitschrift (die deutsche Übersetzung ihres Titels lautet „Die bosnische Fee“) sowie als bibliografischer Überblick vgl. Đuričković, Dejan: Bosanska vila, 1885 - 1914. 3 vol. Sarajevo: Svjetlost 1975. 3 Gekochter Weizen, serbokroatisch als koljivo oder panahija bezeichnet. Koliva wird auch zum orthodoxen Totenmahl gereicht. 212 Dennis Dierks unsere gesamte Vergangenheit und zeichnete ein lebhaftes Bild vom Ruhme Dušans, den fünfhundert Jahren unseres Leids und unserer Knechtschaft sowie unserer Zwietracht - deren Keim bis heute nicht erstickt worden ist. Er legte uns die serbische Schule als das heiligste Gut ans Herz; in ihr werde dieses Gut [der historischen Tradition, D.D.] bewahrt. Danach wurden die Namen der Stifter verlesen, deren schöne Zahl auch dieses Jahr gewachsen ist. Diese Schulfeier wurde mit der Kaiserhymne beendet. Im Anschluss folgt dann eine noch ausführlichere Beschreibung einer abendlichen Feier mit Tanz, deren Festrede, die Besjeda , für die gesamte Veranstaltung (und überhaupt Veranstaltungen dieser Art, dazu unten mehr) namensgebend war: Wer auch immer einmal im Theater war, kennt jenes Gefühl der Erregung und der wohligen Ungeduld in der Erwartung, dass sich der Vorhang hebe. Der Vorhang hebt sich, und vor unseren Augen steht ein zauberhaftes Bild - eine Gruppe schöner serbischer Sängerinnen; sie begeistern uns, unser Verstand stockt, und das Herz steht still. Es erklingt das Heilig-Sava-Lied ‚Wir jauchzen auf in Liebe‘, dann die ‚drei serbischen Lieder‘ und die ‚Batschker Melodien‘, Kompositionen des Dr. Pauč, die der gemischte Chor sehr harmonisch und gefällig darbrachte. Der Applaus im Publikum fand kein Ende, insbesondere nach den heiteren Batschker Melodien. Die Gäste begrüßte der Lehrer und Menschenführer Herr Stevo Kaluđerčić mit einer schönen Rede, die meisterhaft die geheuchelte Vaterlandsliebe anprangerte, die bei uns seit einiger Zeit grassiert. Bei der weiteren Beschreibung der Programmpunkte findet insbesondere ein Gusle 4 -Spieler lobende Erwähnung: Als sich auf der Bühne der Gusle-Spieler Vukan Goljanin zeigte, wussten wir nicht, was uns mehr begeisterte: seine hochgewachsene, heldenhafte Erscheinung oder die malerische Volkstracht mit Silberschmuck auf der Brust. Er sang uns zur Gusle das Lied ‚Ljuba Jašić‘. Das Publikum wollte ihn nicht von der Bühne lassen, und er musste sich noch einmal zeigen. Nach einer ausführlichen Würdigung einzelner Mitwirkender und hierbei insbesondere der musikalischen Darbietungen kommt der Autor schließlich zum Ende seines Berichts: 4 Einsaitiges Streichinstrument, das traditionell den Vortrag mündlich tradierter Epik begleitet. Es war der Sprachreformer und Traditionskundler Vuk Stefanović Karadžić (1787-1864), der die „ahornhölzerne Gusle“ und den Guslaren, d. h. den Guslespieler zu Emblemen einer über Jahrhunderte durch das ‚Volk‘ tradierten serbischen Nationalkultur stilisierte. Der Savindan 213 Wie schön es doch wäre, wenn diese Sänger und Sängerinnen diese wunderbare Gemeinschaft weiter aufrechterhielten, damit sich auch andere daran erfreuen können, und sie sich dabei nicht nur auf die Heilig-Sava-Feiern beschränkten. Wir gingen fehl, wenn wir hier vergäßen, die Verdienste des unermüdlichen Lehrers Stevo Kaluđerčić zu würdigen, der sich diesmal wie auch in den Vorjahren größte Mühe bei der Organisation der Feier gab. Wir müssen noch erwähnen, dass auf dieser Feier alle Oberhäupter des Landes anwesend waren: Baron Johann Appel, General der Kavallerie, nebst der Baronin; Herr Feldmarschall David nebst Gattin und Tochter, dem reizenden Fräulein Julka; der stellvertretende Landeschef Baron Kutschera; Herr Verwaltungsdirektor Sauerwald und der russische Konsul Bakunin. Es war uns eine besondere Freude, unter den Gästen den hervorragenden Mohammedaner und serbischen Schriftsteller Mehmed-beg Kapetanović zu erblicken. Soweit wir wissen, wird der Ertrag dieser Feier tausend Gulden übersteigen. 5 5 Bosanska vila , Nr. 2/ 1889, p. 31f. Im Original: „Sveti Sava, kojega naša srpska škola još i od prije trideset godina od kako je u nas otvorena, kao svoga zaštitnika slavi - proslavljen je i ove godine kako priliči velikom srpskom i božijem ugodniku. Poslije službe u crkvi krenu se sveštenstvo sa visokopr. mitropolitom gosp. Nikolajevićem na čelu, sa mnogobrojnim narodom i školskom mladeži u dvoranu školsku, gdje se već i prije bilo skupilo mnoštvo svijeta. Pošto se osvještala vodica i koljivo, držao je srpski učitelj g. Nikola T. Kašiković govor, pjesničkog zanosa, kakav, ne vjerujem, da se ikad kod nas čuo. U kratkim i jasnim crtama preletio svu našu prošlost, petovjekovne patnje i robovanje naše, našu neslogu i razdor - kome još ni danas nije klica uginula. Stavio nam je na srce kao najsvetiji amanet školu srpsku, u kojoj se taj amanet čuva. Iza toga pročitana su imena fundatora, kojih je lijep broj i ove godine prirastao. Ta školska svečanost je završena carevkom. […] Ko god je bio u pozorištu, znaće za onaj osjećaj zebnje i ugodnoga nestrpljenja očekujući da se zastor digne. Zavjesa se diže, a pred nama se stvori čarobna slika - kita lijepih Srpkinja pjevačica; one nas zaniješe, te nam stade i srce i pamet. Zabruja nam sad svetosavska pjesma ‚Uskliknimo s ljubavlju‘, a zatim ‚tri srpske pjesme‘ i ‚bački napjevi‘, kompozicija dra Paču-a, koje mješoviti zbor otpjeva vrlo skladno i umiljato. Pljeskanju u publici ne bijaše kraja, osobito poslije veselih bačkih napjeva. Goste je pozdravio učitelj i likovođa g. Stevo Kaluđerčić, lijepim govorom, u kojem je majstorski žigosao laživo rodoljublje, što se u nas ima neko vrijeme okojasilo. […] Kad se na pozornicu ukaza guslar Vukan Goljanin, ne znadosmo čemu više da se divimo ili njegovoj stasitoj pojavi junačkoj, ili živopisnom odijelu narodnom sa srmali tokama na prsima. Odguslao nam je ‚Ljubu Jašića‘. Publika ga se ne htjede okaniti, nego se morao opet pojaviti. […] Kako bi bilo lijepo kada bi ovi pjevači i pjevačice i na dalje održali ovo krasno društvo, pa se još drugi na njih ugledali, te se ne ograničavali samo na svetosavske besjede. 214 Dennis Dierks Die amtliche Sarajevoer Tageszeitung Sarajevski list 6 beschränkte sich in ihrer Berichterstattung auf die abendliche Feier und erzählte dort eine etwas andere Geschichte: Die Feier des Schulpatrons Heilig Sava schloss mit der Veranstaltung einer ‚Besjeda‘ mit Tanz in den Räumlichkeiten des Theaters ab. Die Besjeda beehrten durch ihren Besuch: Ihre Exzellenzen, der Chef der Landesregierung Baron Appel und die Baronin Appel, Feldmarschall Ritter David nebst Gattin und Tochter, der Civiladlatus Baron Kutschera und der Verwaltungsdirektor Ritter Sauerwald. Alle Logen und Sitze waren ausverkauft, auch die Stehplätze und die Gaststätte selbst waren voller Zuhörer, wenn auch der Zahl nach weniger als im letzten Jahr. Das Programm wurde zur allgemeinen Befriedigung ausgeführt. Der Lehrer der orthodoxen Grundschule Kaluđerčić begrüßte die Gäste mit einer ein wenig langatmigen Rede, in die er eine loyale Ovation für Seine Majestät einflocht, was mit Jubelrufen und dem Spielen der Kaiserhymne begrüßt wurde, der alle Anwesenden stehend lauschten. Der Gesang eines gemischten Chors aus einheimischen Frauen, Fräulein und Angehörigen der männlichen Jugend machte einen angenehmen Eindruck auf die Zuhörer und fand verdienten Applaus. Ebenfalls Lob verdient das gut ausgeführte Lustspiel ‚Am Heiligabend‘. Im zweiten Teil der Soirée wurde heiter bis 3 Uhr morgens getanzt. Wie wir hören, war der materielle Gewinn der Besjeda bedeutend. 7 Ogriješili bi se, ako bi ovdje zaboravili istaknuti zasluge neumornoga učitelja g. Steve Kaluđerčića, koji je svake pa i ove godine najviše truda oko besjede uložio. Valja nam još spomenuti, da su na besjedi bili svi zemaljski glavari: baron Jovan Apel, đeneral kavalerije sa baronicom; podmaršal g. David, sa suprugom i ćerkom draženom gospođicom Julkom; zemaljski poglavnik baron Kučera; admin. direktor g. Sauervald i ruski konzul Bakunin. Bijaše nam vrlo drago kad među gostima spazismo odličnoga Muhamedovca i književnika srpskoga Mehmeda bega Kapetanovića [Hervorhebungen im Original, D.D.].“ 6 Zur Geschichte des Sarajevski list Kruševac, Todor: Bosansko-hercegovački listovi u XIX veku. Sarajevo: Veselin Masleša 1978, pp. 85-93. 7 Sarajevski list , Nr. 12, 30.01./ 18.01.1889, p. 2. Im Original: „Svetkovanje školskog patrona sv. Save zaključilo se priregjenjem ‚besjede‘ s igrankom u dvorani pozorišta. Besjedu su počestvovali svojim posjetama Njih. Preuzvišenosti poglavar zemlje baron i baronica A p p e l , podmaršal vitez D a v i d sa suprugom i šćeri, gragj. doglavnik baron K u t s c h e r a i adm. upravitelj vitez S a u e r w a l d . Sve lože i sjedišta dolje bijahu raspodana, a u mjestu za stojanje i u samoj gostionici bilo je puno slušalaca i ako manje na broju no o [sic! ] lanjskoj besjedi. Program je izveden na opšte zadovoljstvo. Učitelj prav. osn. škole g. Kalugjerčić pozdravio je goste podužom besjedom, u koju je upleo lojalnu ovaciju za Nj. Veličanstvo, što se pozdravilo poklicima i odsviranom carevkom, koju su svi prisutni stojeći saslušali. Pjevanje mješovitog zbora od domaćih gospogja, g o s p o g j i c a i članova muške mladeži učinilo je prijatna utiska na slušaoce i izazvalo zaslušeno pljeskanje. Isto zaslužuje pohvalu i dobro odigrani šaljivi komad ‚Na badnji dan‘. U drugom dijelu zabave veselo se igralo do 3 sah. pred zoru. Kako čujemo biće i materijlan dobitak od besjede znatan.“ [Hervorhebungen im Original] Der Savindan 215 Beide Berichte könnten unterschiedlicher kaum sein: So entwirft die Bosanska vila das Bild einer klar als solche erkennbaren nationalen Feier, die zentrale Institutionen und Akteure des national-serbischen Diskurses miteinander in Beziehung setzt: die serbisch-orthodoxe Kirche und ihren Klerus, hier repräsentiert durch den in Sarajevo residierenden Metropoliten von Dabar-Bosna; 8 die explizit als serbisch markierte Schule , als deren Repräsentanten zwei als begabte Redner und rührige Organisatoren gewürdigte Lehrer auftreten; und schließlich das Volk , dessen enthusiastische Teilnahme der Sava-Feier überhaupt erst ihren wahrhaft nationalen Charakter zu verleihen scheint. Besonders wird dabei die Teilnahme der Jugend hervorgehoben, die hier nicht nur die Zukunftshoffnung, sondern auch die ästhetischen Qualitäten der Nation verkörpert: Die serbischen Sängerinnen sind von zauberhafter Schönheit, der vom Publikum gefeierte Gusle-Spieler hochgewachsen und von heldenhafter Erscheinung, womit in beiden Fällen die ästhetischen Konturen national grundierter Geschlechterbilder gezeichnet werden. Die Sava-Feier transportiert und reproduziert zudem, so scheint es, erfolgreich und nachhaltig Denkfiguren und emotional codierte Bilder der nationalen serbischen Meistererzählung: das Narrativ eines goldenen Zeitalters mittelalterlicher Eigenstaatlichkeit, hier symbolisiert durch den ruhmvollen Zaren Dušan (der sonst meist mit dem Epitheton silni , d. h. „gewaltig, stark“ versehen wird) sowie die Leidensgeschichte einer fünfhundert Jahre währenden osmanischen Knechtschaft , als deren Ursache die durch Zwietracht verursachte ‚Katastrophe‘ der Kosovoschlacht 1389 angedeutet wird. 9 Andere Kontexte, die sich nicht als serbisch deuten und markieren lassen, finden nur am Rande Erwähnung: die Kaiserhymne, die carevka , die am Ende der Schulfeier gespielt wurde, und die Anwesenheit führender Repräsentanten der habsburgischen Landesregierung bei der abendlichen Besjeda. Im Zusammenhang dieses Berichts liest sich deren Teilnahme jedoch eher als Reverenz gegenüber den serbischen Gastgebern und ihrem Nationalheiligen Sava. Ein Lesepublikum, das 8 Es war dies der seit 1886 amtierende Metropolit Đorđe (Nikolajević) (1807-1896). 9 Zur Genese und Struktur dieser nationalen Meistererzählung und des hier zentralen Kosovomythos im 19. Jahrhundert s. u. a. Sundhaussen, Holm: Geschichte Serbiens. 19.-21. Jh. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2007, pp. 97-115; Höpken, Wolfgang: Zwischen nationaler Sinnstiftung, Jugoslawismus und „Erinnerungschaos“: Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur in Serbien im 19. und 20. Jahrhundert. In: Lukan, Walter / Trgovčević, Ljubinka / Vukčević, Dragan (Hg.): Serbien und Montenegro. Raum und Bevölkerung - Geschichte - Sprache und Literatur - Kultur - Politik - Gesellschaft - Wirtschaft - Recht. Wien: LIT 2005 (= Österreichische Osthefte 47 [2005]), pp. 345-391, hier pp. 345-358 sowie Čolović, Ivan: Smrt na Kosovu polju. Istorija kosovskog mita. Belgrad: Biblioteka XX vek 2016. Zum nationalgeschichtlichen Motiv des Leids, hier bezogen auf Bosnien, zudem Hajdarpašic, Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination in the Balkans, 1840-1914. Ithaca, London: Cornell Univ. Press 2015, pp. 52-89. 216 Dennis Dierks angesichts des habsburgischen Zensurregimes in der Dechiffrierung äsopischer Sprache geschult war, könnte die im Text angesprochene Entlarvung „geheuchelter Vaterlandsliebe“ überdies nicht nur als mutiges patriotisches Statement, sondern auch als Aufforderung zur Distanzwahrung gegenüber der Okkupationsmacht verstanden haben. Der nicht zuletzt dem Charakter einer Amtszeitung geschuldete nüchterne Bericht im Sarajevski list hingegen lässt ein gänzlich anderes Bild entstehen: Das der Feier eines religiösen Schulpatrons, deren Ausführung Anerkennung verdient, die im Vorjahr allerdings auch schon einmal besser besucht war und deren Eröffnung durch einen rhetorisch mäßig begabten Grundschullehrer keinen wirklichen Glanzpunkt setzte. Tatsächliche Bedeutung habe ihr, so suggeriert der Text, erst die Teilnahme von Repräsentanten der imperialen Macht verliehen. Die Ehrerweisung und Loyalitätsbekundung gegenüber der Dynastie war diesem Bericht zufolge dann auch die zentrale Botschaft, die von dieser Feier ausging: So werden die „loyale Ovation für Seine Majestät“, die Jubelrufe der Anwesenden, die ebenfalls dem Herrscher gelten, sowie das von allen Anwesenden stehend begleitete Spielen der Kaiserhymne in den Mittelpunkt des Textes gerückt. All dies findet in dem Bericht der Bosanska vila über die abendliche Feier keine Erwähnung. Obwohl hier über ein und dasselbe Ereignis berichtet wird, scheinen die beiden Berichte somit auch aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive zwei durchaus unterschiedliche Lesarten nahezulegen: Im ersten Bericht stellt sich die abendliche Feier als eine Veranstaltung dar, mit der sich eine nationale Elite an eine breitere Bevölkerung wandte, um zur Popularisierung und Internalisierung eines nationalen Geschichtsbildes beizutragen. Ansätzen der klassischen Nationalismusforschung folgend, wäre die hier beschriebene Feier zeitlich irgendwo in Phase B des Hroch’schen Phasenmodells einzuordnen. 10 Im Lichte jüngerer Arbeiten, die die „kulturelle Produktion“ von Nationalismus untersuchen, sticht die emphatische Adressierung und gleichzeitige Inpflichtnahme des ‘Volkes’ ins Auge, die an anderer Stelle als für den Nationalismus typischer perpetuierter „innerer Kolonialimus“ beschrieben wurde. 11 Der zweite Bericht hingegen lässt die Besjeda als eine Spielart der imperialen Feiern erscheinen, deren herrschaftsstabilisierende Funktion die neuere Imperienge- 10 Hroch, Miroslav: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen. Prag: Univ. Karlova 1968. 11 Hajdarpašić 2015, p. 4f.; vgl. dazu auch Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Mission ’ in Bosnia, 1878-1914 . Oxford: Oxford Univ. Press 2007, p. VIII f. Der Savindan 217 schichte überzeugend herausgearbeitet hat. 12 Die hier beschriebene Besjeda fällt dabei in eine Epoche, in der sich, wie unlängst festgestellt wurde, „die Bürger Österreich-Ungarns auf eine innigere und intensivere Weise als jemals zuvor in ihrem Alltagsleben mit dem Reich, in dem sie beheimatet waren, befassten“, wobei eben solche imperiale Feiern eine bedeutende Rolle spielten. 13 War die hier beschriebene Besjeda ihrem Anlass nach zwar anders als die Kaisergeburtstage, Inspektionsreisen und Regierungsjubiläen primär auch nicht auf die Person des Monarchen ausgerichtet, so scheinen die hier praktizierten ritualisierten Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Kaiser doch dazu geeignet gewesen zu sein, die Institution der Monarchie symbolisch im Alltag zu verankern. Dass ein und dasselbe Ereignis zwei derartig unterschiedliche Lesarten zulässt, ist ebenso erklärungsbedürftig wie aufschlussreich. Die ausgesendeten Botschaften - das machen die beiden zitierten Berichte deutlich - blieben nicht unwidersprochen. Dass hier um Deutungshoheiten gerungen wurde, lässt auch die sprachliche Gestaltung der beiden Texte erahnen: So fällt in der Eingangspassage des ersten Berichts die dichte Setzung des Attributs „serbisch“ auf: „serbische Schule“ (zweimal), „serbischer Lehrer“ und in Bezug auf den Heiligen Sava: der „wohlgefällige[e] serbisch[e] Diener Gottes“. Vergleiche mit anderen derartigen Berichten in der Bosanska vila und dem Sarajevski list verdeutlichen zudem, dass es sich beim Vermelden der erfolgreichen Durchführung der Savindanfeier als Nationalfeier ebenso wie bei der Beschreibung von Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Kaiser um sprachlich einheitlich strukturierte Topoi handelt. In Bezug auf Bosanska vila verweist das ganz prinzipiell auf Muster in den Rhetoriken nationaler Bewegungen. Dass dabei die emphatische Beschreibung des nationalen Kampfes und das Herbeischreiben seines Erfolges wenig mit der tatsächlichen Lage vor Ort zu tun hatten, ja dass die Lautstärke nationaler Propaganda oft in einem antiproportionalen Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Erfolg stand, hat bereits Pieter Judson für die ʻSprachgrenzenʼ des habsburgischen Südböhmens und der Steiermark aufzeigen können. 14 Es liegt die Vermutung nahe, dass sich dies bei der Beschreibung von Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Kaiser ähnlich verhalten könnte, wie sie zum Beispiel in Sarajevski list zu finden sind. 12 Hier grundlegend: Unowsky, Daniel L.: The Pomp and Politics of Patriotism. West Lafayette (Ind.): Purdue Univ. Press 2005. Nicht diesem Paradigma folgend, aber auf breiter Quellenbasis zu einem bosnischen Beispiel: Šehić, Zijad: Vjerski velikostojnici u BiH prilikom posjete cara Franje Josipa 1910. godine. In: Godišnjak Bosnjačke zajednice kulture ‚Preporod‘ 1 (2009), pp. 203-216. 13 Judson, Pieter M.: Habsburg. Geschichte eines Imperiums, 1740-1918. München: C.H.Beck 2017, p. 425. 14 Judson, Pieter M.: Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria. Cambridge (Mass.): Harvard Univ. Press 2006. 218 Dennis Dierks Diese ersten Befunde sollen im Folgenden breiter kontextualisiert werden. Am Beispiel der Etablierung des Savindans als nationaler Gedenktag in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhundert soll untersucht werden, wie im habsburgischen Bosnien-Herzegowina Loyalitäten 15 ausgehandelt und situativ modifiziert wurden, wie sie sich überlagerten, welche Reichweiten sie hatten und welche Rolle kommunikative Praktiken, insbesondere die Berichterstattung in den Medien dabei spielten. Um diese Prozesse und Strategien nachvollziehen zu können, soll zunächst eine Annäherung an die Vieldeutigkeit der Erinnerungsfigur des Heiligen Sava versucht werden; hierzu dient eine Skizzierung der svetosavischen Erinnerungsgeschichte vor 1878. Im Anschluss wird dann ausführlicher auf die Geschichtspolitik der k. u. k. Landesregierung eingegangen und diskutiert, wie diese auf die Versuche serbischer Bildungseliten reagierte, ab 1884 den Savindan als nationalen serbischen Gedenktag in Bosnien-Herzegowina zu etablieren. Abschließend sollen dann kommunikative Strategien untersucht werden, die auf eine Normierung der Savindanfeiern abzielten, vor allen Dingen aber auch eine nationale Lesart dieser Feiern absichern sollten. 1. Der Heilige Sava: Eine Archäologie der Erinnerung Die sich in den beiden eingangs zitierten Berichten andeutende Mehrdeutigkeit der Figur des Heiligen Sava ist das Ergebnis einer Überlagerung unterschiedlicher Bedeutungsebenen und Zuschreibungen in der Erinnerung an ihn. Die älteste Schicht bildet dabei die kirchliche Memoria, die ihren Ursprung im 13. Jahrhundert hat. Sie bezieht sich auf die historische Person des Rastko, den jüngsten Sohn des Großžupans Stefan Nemanja. Rastkos Bruder war Stefan Nemanjić, der 1217 zum ersten König von Serbien gekrönt wurde. Unter nicht mehr rekonstruierbaren Umständen zog sich um 1192 Rastko auf den Berg Athos zurück, wo er den Namen Sava annahm und ein monastisches Leben führte und gemeinsam mit seinem Vater, der sich einige Jahre später ebenfalls auf den Mönchsberg begab, das Kloster Hilandar wiedererrichtete, das auch in der Folgezeit ein wichtiger Bezugspunkt serbisch-orthodoxer Spiritualität bleiben sollte. Nach dem Tod seines Vaters war er an der Überführung der Gebeine beteiligt und spielte eine Schlüsselrolle bei dessen Kanonisierung als Hl. Simeon, womit ganz allgemein eine Sakralisierung der Herrschaft der Neman- 15 Zum Forschungskonzept der Loyalität im imperialen Kontext, insbesondere hinsichtlich der Frage des Zusammenwirkens verschiedener Loyalitätsmuster vgl. Grandits, Hannes: Herrschaft und Loyalität in der spätosmanischen Gesellschaft. Das Beispiel der multikonfessionellen Herzegowina. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2008 (= Zur Kunde Südosteuropas II/ 37), p. 15ff. Der Savindan 219 jiden-Dynastie einherging. Später erreichte er durch Verhandlungen am oströmischen Hof von Nikäa die Autokephalie der Kirche im Reich seines Bruders, zu deren Erzbischof er 1219 geweiht wurde. 1235 oder 1236 starb er auf der Rückreise aus Palästina in Tărnovo. 16 Wie auch sein Vater und sein Bruder wurde Sava bald nach seinem Tod heiliggesprochen. Zum Zentrum der Memoria des heiligen Sava entwickelte sich das Kloster Mileševa im heutigen Sandschak, wohin seine Gebeine 1237 überführt wurden. Der lokale Kult um Sava, der teilweise auch mit synkretistischen Praktiken verbunden war - auch Muslime sollen ihn verehrt haben - erlebte um 1595 einen Einschnitt, als der osmanische Statthalter Sinan Pascha die Gebeine Savas nach Belgrad transportieren ließ, um sie dort auf dem Berg Vračar verbrennen zu lassen: ein Ereignis, das in den kirchlichen Memorialdiskurs eingehen sollte. Neben der traditionellen Rolle Savas als wundertätiger Heiliger, dessen Fürbitte für das eigene Seelenheil ersucht wurde, wurde hier seine Bedeutung als „erster serbischer Erzbischof“ betont, doch wurde ihm gegenüber den übrigen Heiligen der Nemanjiden-Dynastie keine hervorgehobene Rolle zugeschrieben. 17 Dies sollte sich erst im späten 18. Jahrhundert ändern. Auslöser dieser Entwicklung waren die theresianisch-josephinischen Kirchenreformen, die sich auch auf die orthodoxe Bevölkerung im historischen Südungarn auswirkte. Die Rationalisierungstendenzen, das Zurückdrängen lokaler Heiligenkulte sowie die Reduzierung der Zahl der Feiertage führten dazu, dass seitens des Habsburgerstaates die Verehrung von Landespatronen forciert wurde. So wurde analog zur Entwicklung in den katholischen Ländern der Habsburgermonarchie auch für die orthodoxen Serben ein Landespatron installiert; der Heilige Sava wurde nach einem entsprechenden Synodalbeschluss schließlich 1775 „durch Erlass Maria Theresias als durch ganztätige Arbeitsruhe zu feiernder Patron der Serben im Habsburgerreich.“ 18 Die Verehrung anderer Angehöriger der Nemanjiden-Dynastie trat demgegenüber in den Hintergrund. 16 Vgl. hierzu wie zu dem Folgenden Rohdewald, Stefan: Art. Sava. In: Bahlcke, Joachim / Ders. / Wünsch, Thomas (Hg.): Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff. Berlin: De Gruyter 2013, pp. 592-598 und Kämpfer, Frank: Art. Sava I. In: Bernath, Mathias / Nehring, Karl (Hg.): Biografisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Band IV. München: Oldenbourg 1981, pp. 84-87. Daneben zum Leben Savas und den Ursprüngen seiner Verehrung ausführlich Rohdewald, Stefan: Götter der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2014, pp. 95-110. 17 Rohdewald 2014, p. 110ff. 18 Kämpfer 1981, p. 87. Vgl. außerdem Rohdewald 2014, p. 160f. 220 Dennis Dierks Diese auf die habsburgische ‘Fremdherrschaft’ zurückgehende Entwicklung war es erst, die den Weg zu einer bürgerlichen Aneignung Savas eröffnete, die wiederum auf kirchliche Memorialpraktiken Rückwirkungen hatte: Im Zuge einer Neukodierung und Neukontextualisierung des Sava-Gedenkens in der Aufklärung und Romantik verschob sich die Rolle Savas nun deutlich hin zu der eines Nationalheiligen. Die von ihm ausgehandelte Autokephalie wurde jetzt retrospektiv als Gründung einer serbischen Nationalkirche interpretiert, die als Bollwerk gegen gewaltsame Vereinnahmungsversuche der römisch-katholischen Kirche und als Hort nationaler Kultur in den Jahren der ʻKnechtschaftʼ unter osmanischer Herrschaft gedient habe, auf die auch der eingangs zitierte erste Bericht über die Sarajevoer Savindan-Feier 1889 anspielt. Gleichzeitig wurde der Heilige Sava zunehmend mit der Idee nationaler Bildung identifiziert, ein Bild, das insbesondere von den Förderern und Mitarbeitern der 1826 in der Habsburgermonarchie gegründeten Kulturinstitution Matica srpska popularisiert wurde. Diese ebenfalls auf anachronistischen Projektionen beruhende Vorstellung von Sava als dem ersten prosv(j)etitelj , dem ersten Aufklärer des serbischen Volkes, wurde insbesondere im schulischen Kontext kultiviert. In den 1820er Jahren wurde der Sava-Tag auch im autonomen Fürstentum Serbien zum Feiertag und zwei Jahrzehnte später Sava dort offiziell zum Schulpatron erklärt. 19 Die Vorstellung, er habe seinen Bruder Stefan gekrönt, ließ Sava schließlich als einen, wenn nicht den Begründer der serbischen nationalen Staatlichkeit erscheinen, womit er um die Mitte des 19. Jahrhundert zu einer nationalen Erinnerungsfigur wurde, in der sich die Idee des Nationalstaates, der Nationalkirche und der nationalen Bildung miteinander verbanden. 20 Gleichzeitig erlaubte die Vielschichtigkeit der Erinnerungsfigur Sava auch potenziell weiterhin andere Lesarten: Eine Fokussierung auf seine heilsabsichernde Funktion als Heiliger oder auf seine Rolle als Schulpatron lag zumindest im Bereich des Möglichen. Es wären dies Interpretationen und Anverwandlungen, die sich auch in den Kontext einer imperialen Geschichts- und Identitätspolitik integrieren ließen. Dies sollte für das Handeln der Landesregierung in den 1880er und 1890er Jahren bedeutsam werden. 19 Vgl. dazu, auch mit Hinweis auf abweichende Datierungen in der Literatur, Grunert, Heiner: Glauben im Hinterland. Die Serbisch-Orthodoxen in der habsburgischen Herzegowina 1878-1918. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2016 (=Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit 8), p. 123. 20 Rohdewald 2014, pp. 162-194. Der Savindan 221 2. Der Transfer des Erinnerungsortes ins habsburgische Bosnien- Herzegowina Dass auch im spätosmanischen Bosnien und der Herzegowina in den neu errichteten serbischen Konfessionsschulen der Heilige Sava als Schulpatron verehrt wurde, geht bereits aus dem eingangs angeführten Bericht der Bosanska vila hervor. Doch erst in österreichisch-ungarischer Zeit sollte der Savindan die Gestalt eines nationalen Gedenktages annehmen, der entsprechend inszeniert wurde. Eine Schlüsselrolle spielte die Bosanska vila . Es handelte sich hierbei um eine Kulturzeitschrift, die mit einer dezidiert nationalpolitischen Zielsetzung gegründet wurde, diese angesichts des habsburgischen Zensurregimes aber nur eingeschränkt offen artikulieren konnte, 21 da die Landesregierung die Erteilung einer Druckkonzession 1885 ausdrücklich an die Bedingung knüpfte, dass „nur Aufsätze unterhaltenden und belehrenden Inhalts“, nicht aber „Aufsätze politischen Inhalts“ abgedruckt werden sollten. 22 Dennoch nahmen die Herausgeber für sich in Anspruch, der von ihnen publizierten Zeitschrift „einen bosnisch-serbischen Typus zu verleihen“ und „daneben nicht zu vergessen, dass es die Gemeinschaft und Einheit mit dem übrigen Serbentum aufrechtzuerhalten gilt.“ 23 Unter den Rahmenbedingungen von „Konzessionszwang und Präventivzensur“ verlagerten sich derartige politische Diskussionen in den vermeintlich unpolitischen Bereich der Kultur. 24 Trotz aller Steuerungsversuche der Landesregierung hatte die Bosanska vila somit eine Agenda, die ein eminentes politisches Potential in sich barg, suchte sie ihre identitären Bezugspunkte doch außerhalb 21 Zur Bosanska vila in dieser Zeit vgl. Đuričković, Dejan: Bosanska vila, 1885-1914. Vol. 1 Sarajevo: Svjetlost 1975, pp. 9-59; Dujmović, Sonja: Između tradicije i modernizacije - „Bosanska vila” u prvoj godini izlaženja (1886) In: Prilozi Instituta za istoriju u Sarajevu 35 (2006), pp. 45-60; Vervaet, Stijn: Centar i periferija u Austro-Ugarskoj. Dinamika izgradnje nacionalnih identiteta u Bosni i Hercegovini od 1878. do 1918. godine na primjeru književnih tekstova. Sarajevo: Synopsis 2013, pp. 130-161. 22 So der entsprechende Bericht der Landesregierung an das gemeinsame Finanzministerium in Wien. Abgedruckt in der Quellenedition von Besarović, Risto: Kultura i umjetnost u Bosni i Hercegovini pod austrogarskom upravom. Sarajevo: Arhiv Bosne i Hercegovine 1968, p. 65. Diese Bestimmung wurde 1887 noch einmal wiederholt und präzisiert, wenn es in einem Schreiben der Landesregierung an den Redakteur Kašiković heißt: „Politische und konfessionelle Fragen darf die Bosanska Vila in keiner Form erörtern.“ („Politička i vjerozakonska pitanja ‚Bos. Vila‘ ne smije raspravljati ni u kakvom obliku.“ibid., p. 68). 23 Poziv na preplatu. In: Bosanska vila , Nr. 24/ 1886, pp. 369-370, hier p. 370. 24 Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878-1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg 1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93), p. 86. Vgl. außerdem Okey 2007, p. 83. 222 Dennis Dierks Bosnien-Herzegowinas und - in Bezug auf das „Serbentum“ in den unabhängigen Staaten Serbien und Montenegro auch außerhalb der Monarchie. Eine Gelegenheit, derartige Einheitsvorstellung des ʻSerbentumsʼ innerhalb der von der Landesregierung vorgegebenen Freiräume zu artikulieren, bot die Berichterstattung über die Savindan-Feiern. Anhand dieser Berichte kann gleichsam in Echtzeit die nationsbildende Erfindung, Normierung und Popularisierung von Tradition nachvollzogen werden. Eine zentrale Rolle spielten hierbei die Redakteure der Bosanska vila , vier junge Lehrer in Sarajevo, Nikola Kašiković (1861-1927), Božidar Nikašinović (geb. 1863), Nikola Šumonja (1865- 1927) und Stevo Kaluđerčić (1864-1948). Sie hatten alle orthodoxe Lehrerseminare in der Vojvodina und Kroatien-Slawonien besucht und stammten bis auf den Bosnier Kašiković auch aus Transleithanien. 25 Sie waren somit mit der seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten svetosavischen Erinnerungskultur mit ihrer bürgerlichen, bildungsorientierten und nationalen Ausrichtung aus eigener Anschauung vertraut und an ihrem Transfer nach Bosnien-Herzegowina maßgeblich beteiligt. Eine Scharnierfunktion kam in diesem Transferprozess den kulturellen Zentren Sarajevo und ab 1887 auch Mostar zu, über deren Savindanfeiern ausführlich berichtet wurde. Die Zelebrierung der Liturgie, die Predigt über den Heiligen Sava, die Prozession zur örtlichen serbisch-orthodoxen Schule, bei der die Ikone Savas und die serbische Trikolore als Kirchenfahne mitgeführt wurden, die dort erfolgenden Weihe- und Segnungshandlungen und Verteilung von Koliva, die sich anschließende Schulrede, das Absingen der Sava-Hymne durch Schulkinder sowie die abendliche Besjeda wurden dabei als tragende Elemente und wünschenswerte Bestandteile vorgestellt. 26 Die Einführung und Nachahmung solcher Feiern in der Provinz wurde entsprechend ausführlich kommentiert. Besonders positiv wurde dabei hervorgehoben, wenn solche Feiern trotz erkennbarer infrastruktureller und materieller Einschränkungen durchgeführt wurden. So heißt es 1887 in einem Text über die Savindan-Feier im westbosnischen Bihać, der für diese Form der belehrenden Berichterstattung typisch ist: Wie man sehen kann, wird diese Feier ohne einen Gesangsverein und Notenblätter für Lieder durchgeführt werden, und das ist ein Zeichen dafür, dass sich alles umsetzen lässt, wenn nur der Wille dazu vorhanden ist. Solche Feiern ließen sich mit ein wenig Mühe in jedem Ort durchführen, in dem Serben leben und in dem es serbische Kinder und eine serbische Schule gibt; damit kann man auch zeigen, dass es uns nicht um Formalitäten geht, sondern um ein aufrichtige Würdigung des serbischen Aufklärers Sava. Wenn überall das svetosavische Lied über den heiligen Sava (sic! ) angestimmt 25 Zu ihren Biografien vgl. Đuričković, Vol. 1, 1975, pp. 29-49. 26 Zur dieser Entwicklung am Beispiel der Herzegowina vgl. Grunert 2016, pp. 125-134. Der Savindan 223 wird, wenn wir uns wenigstens einmal im Jahr versammeln und uns einig und brüderlich erinnern, wer wir sind und wo wir sind, dann wird sich bei uns auch das serbische Bewusstsein entwickeln und stärker werden, ohne Furcht, dass es irgendetwas ersticken könnte. 27 Opferbereitschaft wurde auch den Besucherinnen und Besuchern der abendlichen Besjeda abverlangt, war doch eines ihrer zentralen Ziele, Geld für das serbisch-konfessionelle Schulwesen zu sammeln. Die finanzielle Unterstützung bestehender serbisch-orthodoxer Elementarschulen, mehr noch aber die Sammlung von Geldern für die Errichtung neuer Konfessionsschulen stand dabei in einem latenten Spannungsverhältnis zu den bildungspolitischen Zielen der Landesregierung, die zwar nicht offensiv gegen serbische Schulen vorging, diese aber als mögliche Vermittlungsinstanzen national-emanzipativen Gedankengutes kritisch beäugte und angesichts ihrer prekären finanziellen Lage und vergleichsweise schlechten Ausstattung die Hoffnung hegte, dass sie auf Dauer dem staatlichen Konkurrenzangebot der seit der Okkupation eingerichteten gemischtkonfessionellen Gemeindeschulen nicht standhalten könnten und sukzessive geschlossen würden. 28 Darüber hinaus boten die Besjede auch performativ Raum zur Inszenierung der serbischen Nation und ihrer Geschichte. Zum nicht zuletzt durch die Berichterstattung der Bosanska vila normierten Standard dieser Feiern gehörte die Eröffnung durch die Sava-Hymne, auf die die für dieses Veranstaltungsformat namensgebende Rede folgte, die meist ein örtlicher Honoratior hielt. An die Rede schlossen sich dann für gewöhnlich der Vortrag patriotischer Lieder sowie die Rezitation von Heldenepik und neuerer, ebenfalls vaterlandsverherrlichender Dichtung an. Ausführende waren dabei häufig auch Schülerinnen und Schüler. Bevor man die Veranstaltung mit Tanz und Gesang ausklingen ließ, kam es in größeren Städten wie Sarajevo oder Mostar zur Aufführung von Theaterstücken (oder Szenen daraus), wobei hier mit der Zeit zunehmend Historiendramen ausgewählt wurden, die das serbische Mittelalter thematisierten. Damit wurden 27 Bosanska vila , Nr. 2/ 1887, p. 32. Im Original: „Kao što se vidi, ova će se besjeda izvesti i bez pjevačkoga društva i bez notalnih pjesama, a to je znak, da se sve može izvesti samo kad je volja tu. Takove besjede mogle bi se s malo truda izvesti u svakom mjestu, gdje Srbi žive, a gdje ima srpske djece i škole; time će se pokazati, da nam nije stalo samo do formalne strane, nego do iskrenog proslavljanja srpskoga prosvjetitelja Save. Kad se bude o sv. Savi svuda razlijegala svetosavska pjesma - kad se budemo bar po jednom u godini dana sastajali i složno bratski sjetili ko smo i gdje smo, - razviće se i ojačaće u nama srpska svijest, bez straha, da će je išta moći ugušiti.“ 28 Vgl. dazu Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini (1882-1903), Sarajevo: Veselin Masleša 1987, pp. 174-186 und Okey 2007, p. 76f. 224 Dennis Dierks performativ zentrale Momente der nationalen Meistererzählung visualisiert. Besonderer Beliebtheit erfreute sich dabei das Stück „Kreuz und Krone“ ( Krst i kruna ) des vojvodinischen Schriftstellers Jovan Subotić (1817-1886), das eine dramatische Episode am Vorabend der Krönung Stefan Nemanjas thematisiert, in der die Brüder Stefan und Sava als entschiedene Verfechter der Unabhängigkeit Serbiens und seiner orthodoxen Kirche auftreten. 29 Die Schlussszene bildet dann die Krönungszeremonie. In den Berichten der Bosanska vila wurden solche Visualisierungen ausführlich nacherzählt, was zu einer weiteren Popularisierung und Internalisierung der idealisierenden Vorstellung vom serbischen Mittelalter als nationales goldenes Zeitalter beitrug. Die Zahl der Savindan-Feierlichkeiten nahm seit der zweiten Hälfte der 1880er Jahre kontinuierlich zu. So zählt die Bosanska vila zu Beginn der serbischen Autonomiebewegung im Jahr 1895 31 Feiern. 30 Dies scheint auf eine echte Erfolgsgeschichte hinzuweisen. 3. Steuerungsversuche der Landesregierung Die hier skizzierte Etablierung des Savindans als nationaler Gedenktag erfolgte unter der Aufsicht der österreichisch-ungarischen Behörden und war nur innerhalb der von ihnen gewährten Freiräume möglich. Die Haltung der Landesregierung war dabei durchaus ambivalent. Hatte insbesondere in der Ära Kállay die Bekämpfung jedweder nationaler Agitation, die die staatsrechtliche Stellung Bosnien-Herzegowinas in Frage zu stellen geeignet war, unhinterfragte Priorität, so wurden politisch unverdächtig erscheinende Manifestationen von Religiosität im öffentlichen Raum toleriert, ja es bestand die Hoffnung, durch eine ostentativ gewährte Toleranz in Fragen des Kultus die Loyalität gegenüber der habsburgischen Herrschaft und ihren Repräsentanten zu fördern. Dies entsprach dem Ansatz einer imperialen Integrationspolitik, wie sie insbesondere zu Beginn der Ära Kállay ab 1882 praktiziert wurde. Sie wandte sich ausdrücklich auch an die orthodoxe Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas und ihre Eliten. Hier spielten gleichermaßen seit dem frühen 18. Jahrhundert in der Habsburgermonarchie gesammelte Erfahrungen im Umgang mit der serbisch-orthodoxen Kirche, die allgemein im Rahmen imperialer Herrschaft angewandte Praktik 29 Zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte Jovanović: Pogovor. Dramski scenario devetnaestog veka. In: Subotić, Jovan: Krst i kruna. Belgrad: Muzej Pozorišne Umetnosti Srbije 1997, pp. 51-54 und darüber hinaus Rohdewald 2014, p. 398f. 30 Književne bilješke. In: Bosanska vila , Nr. 2/ 1895, p. 31, wobei in einem Bericht der Landesregierung sogar 59 Feiern gezählt werden, s. Okey 2007, p. 87. Die in Mostar erscheinende Kulturzeitschrift Zora ging 1899 sogar von hundert Savindanfeiern aus, s. Grunert 2016, p. 126. Der Savindan 225 der Elitenkooption sowie spezifische Vorstellungen des ʻRegionalspezialistenʼ Kállays in Bezug auf ʻdieʼ Serben eine Rolle. Dem orthodoxen Klerus wurde dabei durchaus die Rolle einer Vermittlungsinstanz in der sozial konservativen, auf eine behutsame Hebung der Bildung und die Durchsetzung moderner Formen des Wirtschaftens abzielenden Modernisierungspolitik zugedacht. Letzteres sollte nicht zuletzt auf die im Aufbau befindlichen Bildungsanstalten der Landesregierung erreicht werden, die sich in besonderem Maße an die urbanen orthodoxen Mittelschichten wandten. Politische Selbstbestimmung der einheimischen Bevölkerung (ob nun orthodox, muslimisch, katholisch oder jüdisch) sah dieses von der zeittypischen Idee einer imperialen Zivilisierungsmission getragene Konzept nicht vor. 31 Die Vorstellung, dass eine solche imperiale Integrationspolitik in Bosnien-Herzegowina überhaupt erfolgreich sein könnte, beruhte dabei auf zwei Grundannahmen: Zum einen die Überzeugung, dass es sich bei dem serbischen Nationalismus wie beim Nationalismus im Lande überhaupt um ein Elitenphänomen handelte; zum anderen Kállays Deutung der serbischen Geschichte, der zufolge die Serben seit jeher zum Partikularismus geneigt hätten, weswegen ihnen eine dauerhafte Staatsbildung misslungen sei. Dies und ihre angebliche Bereitschaft, politisch eine harte Hand zu akzeptieren, ja insgeheim sogar nach einer solchen Form der Herrschaft zu streben, machten, so die stereotypisierende Vorstellung Kállays, die orthodoxe Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina in einen auf die Person des Monarchen ausgerichteten bosnischen Landespatriotismus prinzipiell integrierbar . 32 Dies gilt letztlich auch für die Bedeutungsinhalte, die sich auf Sava als religiöse Figur und Schulpatron bezogen. Mochte eine solche erinnerungskulturelle Integration unter Ausblendung emanzipativer Bedeutungsinhalte auch ein schwieriges Unterfangen sein, so war sie angesichts der bereits beschriebenen Vielschichtigkeit der Erinnerungsfigur des Hl. Sava doch nicht notwendig aussichtslos und wurde auch andernorts praktiziert. Beispiel für einen derartigen Versuch solch einer imperialen Integration war die Vojvodina, wo eine 1861 von Franz Joseph einberufene serbische Versammlung Sava zum Landespatron aller Orthodoxen proklamiert hatte. 33 Dies kann wiederum als Beleg für die von Judson allgemein argumentierte Verflechtung zwischen imperialer Struktur und regionalen Nationalismen gewertet werden. 34 Die Landesregierung operierte hierbei bis zum Beginn der serbischen Autonomiebewegung mit drei Instrumentarien: (1) Verbot und Zensur, (2) dem Streu- 31 Vgl. Kraljačić 1987, passim; Okey 2007, pp. 55-91. 32 Okey 2007, p. 63. 33 Rohdewald 2014, p. 181. 34 Judson 2017, p. 24. 226 Dennis Dierks en von Gegeninformationen und (3) der Vereinnahmung und Umdeutung von Ereignissen. Verbot und Zensur sollten auf eine Entschärfung bzw. Neutralisierung national-emanzipativer Inhalte der Savindan-Feiern hinwirken. Hier griffen die allgemeinen Regelungen der Präventivzensur, die 1894 in einer „Circularverordnung der Landesregierung für Bosnien und die Hercegovina, betreffend die Regelung der Präventiv-Censur öffentlicher Vortragsstücke sowie die Ausschmückung von Schulräumen, Versammlungs- und Festlokalitäten“ noch einmal präzisiert wurden, wobei der Erlass an mehreren Stellen explizit auf die Savindan-Feierlichkeiten Bezug nimmt. 35 Sämtliche zum Vortrag kommende Stücke mussten ebenso wie die Manuskripte für Reden und Prologe vierzehn Tage vor der Veranstaltung der staatspolizeilichen Sektion der Landesregierung zur Prüfung vorgelegt werden. Ab 1896 übernahmen dann die Bezirksämter die Zensur der Programme. Um auch in Zukunft eine einheitliche Praxis der Präventivzensur zu gewährleisten, wurden die Bezirksbehörden noch einmal hinsichtlich ihrer Anwendung instruiert. So sollten „kleinliche engherzige Streichungen“ unterbleiben, um unnötige Provokationen zu vermeiden und dem zensurierten Text nicht eine Bedeutung zu geben, „welche er entweder nicht verdient oder überhaupt nicht gehabt hätte, wenn dies oder jenes Wort nicht inhibiert worden wäre.“ Gleichzeitig ergingen aber auch detaillierte Angaben darüber, in welchen Situationen der Zensor einzuschreiten hatte. Nicht zulässig waren demnach: Angriffe auf gesetzliche Institutionen der österr. ung. Monarchie und der hiesigen Länder, Besprechungen staatsrechtlicher Natur, des Verhältnisses dieser Länder zur österr. ung. Monarchie, feindselige Tendenzen gegen einzelne Confessionen in Bosnien und der Hercegovina, die Entwicklung und Propagirung extrem politischer Tendenzen, der panslavistischen, grosscroatischen oder grosserbischen Ideen, ferner Provokationen der einen oder anderen Nation […] 36 Nicht angesprochen werden durften also Fragen, die das sensible Problem der staatsrechtlichen Stellung Bosnien-Herzegowinas und seines nationalen Charakters berührten, sowie Themen, die in irgendeiner Form zu einer Belastung des Verhältnisses zwischen den Konfessionen oder nationalen Gruppen führen konnten. Dass die Zensur dann doch durchaus penibel gehandhabt werden konnte, zeigen die Maßnahmen der Landesregierung im Jahr 1895, die vier Grußworte zu Sava-Feiern gänzlich verbot, in 29 Fällen Textstreichungen 35 Verordnungen abgedruckt in Besarović 1968, p. 617ff. 36 Ibid., p. 625. Der Savindan 227 durchführte und den Text der Sava-Hymne, von dem es eine große Reihe von Variationen gab, in 35 Fällen beanstandete. 37 In dem bereits genannten Erlass von 1894 ergingen darüber hinaus genaue Angaben hinsichtlich der Ausschmückung der „Versammlungs- und Festlokalitäten.“ Aus der Verordnung der Landesregierung geht hervor, „dass ausser den Bildnissen Ihrer Kaiserlichen und Königlichen Apostolischen Majestät nur solche bildliche Darstellungen angebracht werden dürfen, welche keinerlei politische Deutung zulassen und auch sonst zu keinen Bedenken Anlass geben.“ 38 Welche Darstellungen als bedenkenlos anzusehen seien, müsse im Einzelfall geprüft werden. Auf keinen Fall zulässig seien: [Die] Bildnisse fremder, lebender oder erst kürzlich verstorbener Fürstlichkeiten, welche noch im Gedächtnisse der Gegenwart fortleben; ferner bildliche Darstellungen aus der neueren politischen Geschichte, die entweder nur einem vorübergehenden politischen Zwecke dienen oder einen unverkennbaren tendenziös gefärbten Zusammenhang mit der politischen Gestaltung der Gegenwart bekunden. 39 Explizit erlaubt wurden aber Darstellungen Savas, da die Landesregierung sie einer Kategorie von Ausschmückungen zuordnete, „denen jedwede politische Tendenz mangelt“. 40 War die Zensur notwendigerweise auf die negative Praxis des Verbietens beschränkt, konnte sie das Aussenden von Botschaften in die Öffentlichkeit also nur verhindern, so verfügte die Landesregierung darüber hinaus auch über mehrere Instrumentarien, um direkt und indirekt Nachrichten in die Gesellschaft zu kommunizieren und so auf die öffentliche Meinung Einfluss zu nehmen. Eine besonders günstige Möglichkeit, erwünschte politische Botschaften zu setzen, boten hierbei Savindan-Feiern, die innerhalb staatlicher Institutionen oder in direkt unter Kontrolle der Landesregierung stehenden Einrichtungen stattfanden. Die Einforderung von Loyalität und Gehorsam gegenüber dem Kaiserhaus und der Landesregierung konnte dabei durch traditionale Argumentationsmuster erfolgen, wenn etwa Respekt vor der von Gott eingesetzten Obrigkeit verlangt wurde. 41 Möglich war hier aber auch der stärker inhaltlich argumentierende Verweis auf die bildungspolitischen Maßnahmen der Landesregierung. Ein Beispiel hierfür ist eine Schulrede, die 1890 in der staatlichen 37 Okey 2007, p. 87. 38 Besarović 1968, p. 618. 39 Ibid., p. 618. 40 Ibid., p. 616. 41 So z. B. in einer 1889 im Priesterseminar von Reljevo bei Sarajevo gehaltenen Rede. Vgl. Svetosavska prosvjeta u srpsko-pravosl. bogoslovskom zavodu u Reljevu 1888. In: Istočnik , Nr. 4/ 1889, pp. 59-62, hier p. 61. 228 Dennis Dierks Lehrerausbildungsanstalt in Sarajevo gehalten wurde. Dort heißt es unter anderem an die Schülerinnen und Schüler gerichtet: Vergesst nicht die Wohltaten, die ihr in den Schulen genossen habt: Ihr habt von der hohen Regierung finanzielle Unterstützung erhalten, ihr habt kostenlose Bücher, Schulgeldbefreiungen, einige auch Kleidung, kostenlose Medikamente und eine kostenlose medizinische Behandlung erhalten […]. So groß war die Sorge und Mühe der hohen Regierung für eure Bildung! Doch diese Sorge und Mühe der hohen Regierung entspringen ihrer reinen Liebe gegen euch und der väterlichen Wohlgeneigtheit Seiner kaiserlichen und königlichen apostolischen Majestät, unseres allergnädigsten Herrschers Franz Joseph I. gegenüber diesem Volk, dem er wünscht, dass er es glücklich und fortschrittlich sehen möge. Deshalb, Kindlein, lasst uns aus dankbarem Herzen Seiner Majestät zujubeln: Er lebe hoch! Er lebe hoch! Er lebe hoch! 42 Auch für die Landesregierung wurden entsprechende Jubelbekundungen eingefordert. Zuvor hatte der Redner schon gewürdigt, dass die Landesregierung nicht nur dem Volk neue Wege zur Bildung eröffne, sondern dass sie auch Bildung „im Geiste des Volkes und im Geiste unserer Orthodoxie“ („u duhu narodnom, i u duhu provoslavlja našeg“) ermögliche, wovon allein schon die Tatsache zeuge, dass am Savindan eine von der Landesregierung finanzierte Panahija-Verteilung stattfinde. 43 Diese Ausführungen des Redners verdeutlichen die Intention der Landesregierung bei der Organisation dieser Feier: Es sollte gezeigt werden, dass dem Wunsch der orthodoxen Bevölkerung nach der Pflege einer religiösen Erinnerungskultur und damit verbundener liturgischer Praktiken auch innerhalb der staatlichen Schulen Rechnung getragen wurde, der orthodoxen Schülerschaft also, anders als die nationalistische serbische Presse insbesondere außerhalb Bosnien-Herzegowinas raunte, ihre kulturelle Sonderidentität keinesfalls genommen werden sollte. Gleichzeitig wurde aber darauf hingewirkt, dass sich diese Sonderidentität mit Loyalität gegenüber der Monarchie und ihren Vertretern in den Okkupationsgebieten verband, deren 42 Svetosavska svečanost u Sarajevu 1890 god. In: Istočnik , Nr. 1/ 1890, pp. 39-43, hier p. 43. Im Original: „Ne zaboravlajte dobročinstva, koja ste uživali u školama: dobijali ste potpore u novcu od visoke vlade, dobijali ste besplatne knjige, oprost od školarine, neki i odjeće, slobodne lijekove i liječenja […]. Tolika je briga i staranje oko vašeg vaspitanja visoke vlade! Al [sic! ] ova briga i staranje visoke vlade potiče iz čiste ljubavi njene prema vami, a iz očinske blagonaklosti Njegovog carskog i apostoljsko-kraljevskog Veličanstva, našeg premilostivog gospodara Franje Josipa I. prema ovom narodu, kome želi da ga sretna i napredna vidi. Za to uskliknimo dječice, i ovom svečanom prilikom iz blagodarne duše naše Njegovom Veličanstvu: Živio! Živio! Živio! “ 43 Ibid. Der Savindan 229 benevolente Haltung betont wurde. Dies entsprach ganz der Rhetorik einer imperialen Zivilisierungsmission, in der die habsburgische Okkupationsmacht die Rolle des Kulturbringers einnahm. Doch auch dort, wo die Landesregierung nicht positiv auf die Gestaltung der Feiern Einfluss nehmen konnte, bemühte sie sich um die Durchsetzung einer ihr genehmen Deutung der Ereignisse. Indirekt konnte dies durch die Subventionierung regierungsnaher Blätter geschehen. Eines solcher in der Ära Kállay ins Leben gerufenen Zeitungsprojekte war die Zeitung Prosvjeta , die von 1885 bis 1888 erschien, und innerhalb der serbisch-orthodoxen Eliten für die Politik der Landesregierung werben sollte. Wenn die Prosvjeta zum Beispiel die Besetzung des Sarajevoer Festkomitees bemängelte oder in bestimmten Fällen die Ausführung dieser Feiern kritisierte, dann setzte dies einen Kontrapunkt zu der meist überschwänglich positiven Berichterstattung in der Bosanska vila. 44 Etwas zurückhaltender deutet sich eine derartige Kritik an den politischen Inhalten auch in der direkt von der Landesregierung herausgegebenen Zeitung Sarajevski list an, so in dem eingangs zitierten Bericht, der die rhetorische Qualität eben gerade des Kernstücks der Feier, der patriotischen Festrede, in Frage stellt. Gleichzeitig deutet sich hier eine weitere erinnerungspolitische Integrationsstrategie an: Die Feier wurde, wie eingangs gezeigt, in dem Amtsblatt der Landesregierung gleichsam imperial vereinnahmt, wenn Loyalitätsbekundungen wie Jubelrufe für den Monarchen und das Spielen der Kaiserhymne in den Mittelpunkt rückten und die teilnehmenden Repräsentanten der Landesregierung im Zentrum standen. Letztes verweist auf die auch andernorts praktizierte Involvierung von Repräsentanten des Militärs in die örtliche Festkultur, womit sich das Imperium mit der lokalen Ebene auch symbolisch verwob. 45 4. Versuche der Normierung und Deutungskontrolle in der serbischen Presse Die Deutungshoheit über die Savindan-Feiern und die dort ausgesendeten Botschaften blieb also prekär. Diese Prekarität ist der Schlüssel zum Verständnis der beiden zu Beginn dieses Artikels vorgestellten Berichte in der Bosanska vila und dem Sarajevski list : Letztlich lesen sich die beiden Texte als Bericht und Gegen- 44 Entsprechend heftig waren die Reaktionen in der Bosanska vila , Nr. 2/ 1887, p. 46f. u. Nr. 3/ 1888, p. 45. Dass Kritik aber nur in einzelnen Fällen geäußert wurde und sich hierbei auf die Eliten der serbischen Gemeinde in Sarajevo konzentrierte, zeigen andere Texte in der Prosvjeta , so ein Bericht über die Feier in Bosanska Gradiška in Prosvjeta Nr. 6, 07.(19.)02.1888, p. 4, der offenbar vom lokalen Festkomitee übernommen wurde. 45 Judson 2017, p. 470. 230 Dennis Dierks bericht , die die jeweils erwünschten politischen Botschaften absichern und zugleich die von der Gegenseite ausgesendeten Botschaften unterminieren sollten. Nun wäre es aber verfehlt, hier vereinfachend eine Dichotomie zwischen der Berichterstattung der Landesregierung und dem Leitmedium eines kulturell artikulierten serbischen Nationalismus zu konstruieren. Dass die Lage durchaus komplexer war, zeigt die Berichterstattung in der orthodoxen Kirchenzeitschrift Istočnik . 46 Dort hieß es über die 1890 in Sarajevo abgehaltenen Feierlichkeiten: Schon 700 Jahre sind vergangen, seit der Heilige Sava Nemanjić zur Welt gekommen ist, und wenn auch die frevlerische Hand Sinan Paschas seine heiligen Gebeine auf dem Vračar in Brand setzte, dann ist die Erinnerung an ihn dennoch nicht vergangen, sondern sein Name blieb wegen seiner Verdienste um die Kirche und die Schule umso strahlender und stärker in der Erinnerung des serbischen Volkes. An diesem Feiertag erklingt aus Tausend und Abertausend Mündern serbischer Kindlein das liebreizende Lied: „Wir jauchzen auf in Liebe zum Heiligen Sava“, unserem ersten Erzbischof und Aufklärer. Wo immer es eine serbische Kirche und Schule gibt, in allen Ländern des Serbentums, wo immer es einen wahren orthodoxen Christen gibt, feiert man den Hl. Sava, feiert man den Tag des großen Schulpatrons. Dies ist wahrscheinlich der einzige Tag, an dem in den Seelen und Herzen aller Serben und Serbinnen, jedes kleinen Serben und jeder kleinen Serbin der eine selbe Wunsch, die eine selbe Hoffnung entsteht… An diesem Tag atmet das gesamte Serbentum als eine Seele; der eine selbe Wunsch und die eine selbe Hoffnung umfassen es, und es richtet sowohl in der Kirche als auch in der Schule das eine selbe Gebet an den großen Patron, den Heiligen Sava, den Sohn des großen Nemanja, unter dem in einem glücklichen Moment und in einer glücklichen Zeit alle serbischen Länder vereint waren… 47 Der Text bestätigt zunächst einmal den bisher gewonnenen Eindruck, dass Berichterstattung der Bedeutungsfestschreibung und damit der Absicherung einer potentiell prekären Semiose dient. Konkret wird hier ein Soll-Zustand als Ist-Zustand beschrieben; das Ziel der ausgesendeten Botschaft wird als bereits erreicht dargestellt: Alle Serbinnen und Serben feiern den Nationalheiligen Sava mit denselben Riten und Bräuchen , in derselben Gefühlslage und mit denselben Gedanken verbunden, so dass an diesem Tage „das gesamte Serbentum als eine Seele“ atme, gleichsam also zu einem Körper verschmelze. Hier wie dort wird das Wunschbild der serbischen Nation als einer von einem gemeinsamen Geschichtsbewusstsein getragenen grenzüberschreitenden Emotionsgemeinschaft 48 entworfen, die sich, wenn es um die Gestaltung der Zukunft 46 Zur Entwicklung der Zeitschrift s. Kruševac 1978, pp. 149-153. 47 Svetosavska svečanost u Sarajevu 1890 god. In: Istočnik , Nr. 1/ 1890, pp. 39-43, hier p. 39. 48 Vgl. dazu grundlegend Rosenwein, Barbara: Emotional Communities in the Early Middle Ages. Ithaca, London: Cornell Univ. Press 2006. Der Savindan 231 geht, an ihrer ʻglorreichenʼ Vergangenheit orientiert, aber auch der nationalen ʻKatastrophenʼ und der Erfahrung von ʻUnrechtʼ und ʻFremdherrschaftʼ erinnert, kurz: die die ʻrichtigenʼ Lehren aus ihrer Geschichte zieht und deshalb in der Gegenwart alle etwaigen Gegensätze zu überwinden vermag und in der Sphäre des Politischen einträchtig agiert. Man muss sich nun aber gleichzeitig vor Augen führen, dass dieselbe Nummer des Istočnik die oben zitierte Rede in der Sarajevoer Lehrerbildungsanstalt abdruckte, in der anlässlich der Sava-Feier tiefe Dankbarkeit gegenüber dem von Liebe zu seinen Untertanen beseelten wohltätigen Herrscher Franz Joseph eingefordert wurde; dabei handelte es sich um einen Sprechakt, der zur Fundierung einer ganz anders, nämlich imperial ausgerichteten Emotionsgemeinschaft geeignet war. Die Nummer des Istočnik verdeutlicht nochmals eindrücklich, dass der Versuch der Etablierung dieser beiden Emotionsgemeinschaften zeitgleich erfolgte. Die - zumindest partielle - Überlagerung der hier ausgesendeten Botschaften zeigt, dass beide Prozesse nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Welche konkreten Folgen dies für Strukturierung politischer Loyalitäten tatsächlich hatte, bleibt offen, doch deuten sich hier Ambivalenzen an, die regimedistanzierte Verfechter des serbischen Nationalismus irritiert haben müssen. Dass die nationale Lesart und Botschaft der Sava-Feiern schließlich nicht nur gegenüber der imperialen Macht, sondern dem eigenen ʻVolkʼ gegenüber abgesichert werden mussten, zeigt eine genauere Betrachtung der Berichterstattung der Bosanska vila . Mögen hier auch Erfolgsmeldungen dominieren, so stechen doch Kritik und Ermahnung ins Auge, wenn Feiern nicht so ausgeführt wurden, wie die Redakteure der Zeitschrift dies wünschten. Ein in diesem Zusammenhang zunehmend artikulierter Kritikpunkt ist Amüsement als Selbstzweck und Geselligkeit ohne nationale Vorzeichen. Dies verweist auf eine eigensinnige Aneignung dieser neuen Form der Geselligkeit durch die Lokalbevölkerung. So hieß es beispielsweise über die Besjeda in Mostar 1888: „Ein jeder ging zufrieden, fröhlich, aber auch nüchtern nach Hause. So gab es auch diesmal keinen einzigen Betrunkenen. […] Die Ordnung war die ganze Nacht lang derart, da sie jeder, insbesondere aber die Fremden lobten.“ 49 Wenn dies, wie in anderen Berichten auch, derart stark betont wurde, so legt dies den Schluss nahe, dass es sich dabei eben durchaus um keine Selbstverständlichkeit handelte. Ambivalent war aber auch die Haltung Fremden gegenüber (bei denen es sich ganz offenkundig um Repräsentanten der österreichisch-ungarischen Verwaltung handelte), deren Anerkennung gesucht wurde, denen gegenüber aber zugleich 49 Im Original: „Kući se svak zadovoljan, veseo, ali trijesan povrnuo. […] Red je cijele noći bio takav, da mu se svak, a osobito strance dive.“ Bosanska vila , Nr. 3/ 1888, p. 46. 232 Dennis Dierks eine emanzipative kulturelle Abgrenzung erfolgen soll, etwa wenn an anderer Stelle eingefordert wurde, einheimische Volkstänze zu spielen, anstatt Wiener Walzermelodien erklingen zu lassen. 50 In diese Richtung weist auch die zunehmende Kritik an der Aufführung von Schwänken. Waren diese zunächst unhinterfragter Bestandteil der abendlichen Besjeda in größeren Ortschaften, so wurde ab 1887 zunehmend für die Aufführung von Historiendramen plädiert. Doch auch die Inszenierung nationalhistorischer Dramen schützte nicht notwendig vor Kritik. Dies zeigt ein Bericht aus dem Jahr 1888 über eine Feier in Mostar, auf der das Historiendrama der „Tod des Stevan Dečanski“ aufgeführt wurde. Dass die Darstellung der Protagonisten, Figuren der mittelalterlichen Geschichte Serbiens, dabei nicht den elitären Glorifizierungsbedürfnissen entsprach, macht die Besprechung in der Bosanska vila deutlich: „Die Maskierung der Figuren“ heißt es dort, „wurde nicht so besorgt, wie es sein sollte, denn der König Dečanski und der Župan Svetković glichen ganz und gar dem Typus des polnischen Juden […]“ 51 , womit ein antisemitisches Stereotyp bemüht wurde, das sich auf die Zuwanderung aschkenazischer Bevölkerung nach der österreichisch-ungarischen Okkupation 1878 bezog. Abweichungen von den Erhabenheitspostulaten bürgerlicher Eliten, die die Evozierung des immer wieder eingeforderten Stolzes auf die eigene Geschichte obstruierten, wurden also nicht toleriert, ob es sich dabei nun um betrunkene und rauflustige Bauern oder schlecht geschminkte Laiendarsteller handelte. Hier wie an anderen Stellen wird deutlich, dass das Volk selbst zum Objekt einer national definierten Zivilisierungsmission wurde. Die Werte, die im Zuge dieser Zivilisierungsmission vermittelt werden sollten, wurden nicht zuletzt in die Figur des Hl. Savas projiziert: Er steht in den Festreden für unbedingte Opferbereitschaft für die Nation, aber auch Bildungsaffinität und Arbeitseifer. Festgeschrieben werden sollte zudem die erinnerungskulturelle Partizipation der bäuerlichen Bevölkerung und von Repräsentanten der muslimischen Bevölkerungsgruppe. Verband sich ersteres mit der allgemeinen Vorstellung des bürgerlichen Nationalismus, die Nation verbinde alle sozialen Gruppen und kenne keine Klassengegensätze, so gründete letzteres in dem Konzept eines konfessionsübergreifenden ʻSerbentumsʼ, die auf Vuk Karadžić zurückgeht. Ausgangspunkt war dabei die Idee, dass es sich bei allen štokavisch sprechenden Südslawen, also auch den Muslim(inn)en und Katholik(inn)en Bosnien-Herzegowinas, um Angehörige der serbischen Nation handele. Vor diesem Hinter- 50 So z. B. Bosanska vila , Nr. 1/ 1887, p. 16. 51 Im Original: „Maskiranje osoba nije obavljeno kao što treba, jer su i kralj Dečanski i župan Svetković sasvim ličili tip od tipa polskijeh (sic! ) Čivuta […]“ Der Savindan 233 grund ist es zu verstehen, warum, wie im Bericht der Bosanska vila zu Beginn dieses Artikels, eine Person wie Mehmed-beg Kapetanović als „serbischer Schriftsteller“ angesprochen wurde, obwohl er selbst eine solche Bezeichnung für sich entschieden abgelehnt hätte. 52 5. Fazit und Ausblick Die Untersuchung der Etablierung des Savindans als nationalem Gedenktag im habsburgischen Bosnien-Herzegowina lässt Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen erkennen, die mit phasenorientierten Modellen der klassischen Nationalismusforschung schwer greifbar sind, ja das Paradigma „nationaler Gedenktag“ selbst in der ihm inhärenten teleologischen Finalität und Eindeutigkeit fragwürdig erscheinen lassen. Sinnvoller erscheint es, wie in der neueren Forschung vorgeschlagen, die Aufmerksamkeit auf eben diese Widersprüchlichkeit zu richten und so die Offenheit von eliteninduzierten top-down-Prozessen aufzuzeigen, die auf die Formierung und Verstetigung ethnonational begründeter Loyalitäten abzielen. 53 Hierfür eignen sich frühe Phasen von Nationsbildungsprozessen in besonderem Maße, wie nicht zuletzt diese Fallstudie verdeutlicht. Der hier untersuchte Savindan musste als Gedenktag erst etabliert werden. Dies erforderte aus der Perspektive der serbischen Nationsbildner im habsburgischen Bosnien-Herzegowina nicht nur, dass diese spezifische Form des rituellen Gedenkens und der Geselligkeit popularisiert wurde, sondern dass sich hiermit auch eindeutig die von ihnen intendierte Botschaft verband: die grenzübergreifende Einigkeit aller Serbinnen und Serben im Gedenken an den Nationalheiligen Sava als Symbol für die serbische Nationalkirche, die ʻserbische Schuleʼ als tief in der Geschichte gründende nationale Bildungsinstitution und die Idee der serbischen nationalen Eigenstaatlichkeit. Eine solche situative, auf Verstetigung abzielende Herstellung von ethnonationaler groupness 54 blieb aber nicht zuletzt aufgrund der Machtverhältnisse im habsburgischen Bosnien-Herzegowina prekär. Wie gezeigt werden konnte, versuchte die Landesregierung insbesondere zu Beginn der Ära Kállay, national-emanzipative Inhalte zu unterdrücken oder zu relativieren und die Savindanfeiern gleichzeitig in eine imperiale, auf die Person 52 Zu Kapetanovićs politischer Orientierung vgl. Džaja 1994, pp. 208-212. 53 Für eine solche Zugangsweise aus der Perspektive der Zeitgeschichte argumentierend: Ulf Brunnbauer / Hannes Grandits: The Ambiguous Nation. Socialist and Post-Socialist Nation-Building in Southeastern Europe in Perspective. In: Ulf Brunnbauer / Hannes Grandits (Hg.): The Ambiguous Nation. Case Studies from Southeastern Europe in the 20th Century. München: Oldenbourg, 2013 (= Südosteuropäische Arbeiten 151), pp. 9-42. 54 Dazu grundlegend Brubaker, Rogers: Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg: Hamburger Edition 2007, pp. 16-45. 234 Dennis Dierks des Kaisers ausgerichtete Erinnerungskultur einzubetten. Hier bestätigt sich die bereits an anderer Stelle angesprochene Notwendigkeit, Prozesse von imperialer Verdichtung und Nationsbildung in ihrer Verwobenheit zu betrachten. Die hier nachgezeichneten Vereinnahmungsversuche seitens der Landesregierung mussten die bürgerlichen Verfechter eines prononciert national-serbischen Sava-Gedenkens auch deshalb irritieren, weil diese Erinnerungsfigur für sie emblematisch für einen selbstbestimmten Weg in die Moderne stand, der sich an den kulturellen Leitbildern der eigenen Geschichte orientierte. Diese Idee wurde von den Angehörigen der national bewegten Intelligenzija (für die hier stellvertretend die Redakteure der Bosanska vila betrachtet wurden) als expliziter Gegenentwurf zu einer imperialen Moderne verfochten, wie sie gerade auch von Benjamin von Kállay selbst vertreten wurde. Dass ein solcher Vereinnahmungsversuch überhaupt möglich war, lag in der Vieldeutigkeit der Erinnerungsfigur Sava selbst begründet. Gleichzeitig deutet die Berichterstattung in der Kirchenzeitung Istočnik Ambivalenzen und sehr viel weniger eindeutige Haltungen in solchen Milieus an, die auf eine Kooperation mit der Landesregierung angewiesen waren. Auch dies unterstreicht nochmals eindrücklich, dass es sich bei Ambivalenz und Widersprüchlichkeit um produktive Kategorien zur Untersuchung und Beschreibung von Nationalismus handelt. 55 Die vorliegende Untersuchung konzentrierte sich bewusst auf eine frühe Phase der serbischen Nationsbildung im habsburgischen Bosnien-Herzegowina. Auf geschichtspolitische Veränderungen in der Zeit der serbischen Autonomiebewegung und nach dem Tode Benjamin von Kállays wurde daher nicht eingegangen. Mochten sich hier auch insbesondere nach dem Tode Kállays und mit dem Aufkommen einer neuen Intellektuellengeneration nach 1900 deutliche Schwerpunktverschiebungen und Differenzierungen vollzogen haben, mochte die Markierung des Savindans als bürgerlich-nationaler Feiertag mit der Zeit nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt werden können, so lässt sich dennoch konstatieren, dass eine komplexe Überlagerung von Loyalitäten bis zum Ersten Weltkrieg die Regel blieb und die Erinnerung an den Hl. Sava nie die nationale Eindeutigkeit erhielt, die sich radikale Verfechter des serbischen Nationalismus wünschten. Je nachdem, in welchem Milieu man sich bewegte und für welche Spielart des serbischen Nationalismus man sich entschied, konnte man an einer Savindan-Feier teilnehmen und seine Loyalität gegenüber der Landesregierung ausdrücken. Dies mag abschließend ein Bericht verdeutlichen, der 1912 in der Mostarer Zeitung Narod abgedruckt wurde: 55 Brunnbauer/ Grandits 2013, pp. 9-42. Der Savindan 235 Wie angekündigt, feierte die serbische Gemeinde am Samstagabend eine Soirée zugunsten der serbischen Schule. Der Saal des Gesellschaftshauses war übervoll von buntscheckigem Publikum von der Generalsuniform bis hin zur Nationaltracht. Die Punkte des Programms wurden sehr schön ausgeführt […]. Doch in diesem bunten Gemenge war am buntesten und exotischsten die Vermischung der Töne des erhabenen Savaliedes mit dem des Kaisers oder, wie manche sagen, der Nationalhymne. Allein die Heiliger-Sava-Hymne litt in dieser Vermischung; beim Spielen der Kaiserhymne stand die Bürgerschaft brav auf, doch bei der Sava-Hymne blieb dieselbe Bürgerschaft sitzen und blickte unbeteiligt in den Saal. Aber ja, die Loyalität! 56 56 Narod , Nr. 160, 18.(30.).01.1912, p. 3. Im Original: „Srpska opština kako smo javili, dala je u subotu na veče zabavu, u korist srpske škole. Sala Društvenog Doma bila je prepuna, šarolike publike, počevši od generalnih uniforma pa do nacionalnog odjela. Tačke programa su izvedene vrlo lijepo […]. Ali u tom šarenilu i razlikosti, najšarenije kao i najegzotičnije bilo je mješanje zvukova svetosavske uzvišene pjesme sa carskom ili kako vele narodnom himnom. Samo je Svetosavska himna u toj mješavini nastradala; pri sviranju carske himne građanstvo je pobožno ustalo, a pri sv. Savskoj himni isto građanstvo je sjedilo i nemarno gledalo po Sali. Ali da, lojalnost! ! “ Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien- Herzegowina Überblick mit ‘bosniakischen’ Perspektiven Carl Bethke (Tübingen) Der Volkszählung von 1910 nach besaßen in Bosnien und Herzegowina 114.591 Personen der ortsanwesenden Zivilbevölkerung keine Landeszugehörigkeit. Die meisten von diesen kamen aus Österreich und Ungarn, 1895 lebten in Bosnien und Herzegowina 70.848 von dort stammende Personen, 1885 waren es erst 27.438 Personen. In der Forschung wird dieser Personenkreis plausibel als Zuwanderer identifiziert. Die deutschen Muttersprachler können mit 1910 landesweit 22.968 Personen darunter nur eine Minderheit gewesen sein; mehrheitlich waren diese Menschen serbokroatischer Muttersprache. 1 Die Zahl der „Kolonisten“, d. h. der ländlichen Siedler in Bosnien, wird für 1913 mit 13.340 Personen angegeben: Die meisten Zuwanderer waren also keine Kolonisten, von den demnach 38 Kolonien hatten zwölf eine polnische und elf eine deutsche 1 Vgl. Die Ergebnisse der Volkszählung in Bosnien und der Hercegovina vom 10. Oktober 1910. Sarajevo: Landesregierung für Bosnien u. d. Hercegovina 1912, pp. XLVIII-LIV; Hauptresultate der Volkszählung in Bosnien und der Hercegovina vom 22. April 1895. Sarajevo: Landesregierung für Bosnien u. d. Hercegovina 1896, p. 808; Ortschafts- und Bevölkerungs-Statistik von Bosnien und der Hercegovina nach dem Volkszählungs-Ergebnisse vom 1. Mai 1885. Sarajevo: Landesdruckerei 1886, p. 4f. - Die Angaben zur Muttersprache wurden bei Volkszählungen erstmals 1910 erhoben, die amtliche Publikation nannte deutsche Muttersprachler Deutsche (ibid., LI), während als Österreicher alle Einwohner Cisleithaniens galten (ibid., XLIX). 1908 z. B. wurden die Beamten auch der Volkszugehörigkeit nach u. a. als Deutsche ausgewiesen Izvještaj o upravi Bosne i Hercegovine 1908. Zagreb: G. i Kr. zajedničko Ministarstvo financija Beč 1909; - 2013 erklärten sich in Bosnien-Hercegovina 365 Personen als Deutsche und 62 als Österreicher http: / / www.popis.gov.ba/ popis2013/ knjige.php? id=2, 1991 waren es 470 Deutsche und 66 Österreicher. http: / / fzs.ba/ index.php/ popis-stanovnistva/ popis-stanovnistva-1991-i-stariji/ 238 Carl Bethke Mehrheit . 2 Der räumliche Schwerpunkt dabei war die Gemeinde Prnjavor (1885, d. h. vor Beginn der Kolonisation, zu 83 % von orthodoxen Christen bewohnt). 3 Die Anfänge der Einwanderung: „Kulturkampf- Dissidenten“ Fikret Karčić hat angeregt, statt der Zäsur von 1878 stärker eine Modernisierungsperiode in den Blick zu nehmen, welche die spätosmanische Ära seit dem tanzimat ebenso umfasst wie die österreichisch-ungarische Epoche. 4 Die Einwanderung aus dem nördlichen Mitteleuropa ließe sich als ‘Indikator’ durchaus in dieses Konzept integrieren: Zu verweisen wäre z. B. auf den Schweizer Josef Koetschet, 5 der 1863 zum ersten Stadt- und Polizeiarzt Sarajevos ernannt wurde und auch Darstellungen zur spätosmanischen Geschichte Bosniens und zum Umbruch 1878 verfasste. Als noch folgenreicher erwies sich die Gründung des Klosters Maria Stern bei Banja Luka durch Trappisten aus Düren (Niederrhein) bereits 1869. Der Name war vom Hauptspender, dem Kloster Marienstern in Sachsen übernommen; der Gründer und erste Prior war der Vorarlberger Franz Pfanner. Dieser war zuvor in Zagreb tätig gewesen und hatte auf einer Pilgerreise nach Palästina und Ägypten erste „Orienterfahrungen“ gesammelt. 6 Tatsächlich ging 1879 die Initiative zur auswärtigen Siedlungsmigration nicht vom Staat aus, sondern von Pfanner. Bereits unmittelbar nach der Okkupation veröffentlichte er in den Weckstimmen für das katholische Volk (Wien) den Beitrag „Bosnien, ein Land für Ansiedlung“; der Artikel erschien auch in anderen katholischen Zeitschriften und wurde vom Borromäus-Verein als Broschüre gedruckt. Pfanner befasste sich darin teils offen werbend, teils in der Rolle des „Ratgebers“, mit der Auswanderung nach Bosnien, angeblich wollte er damit auf Anfragen reagieren, die seit der Einnahme Banja Lukas 1878 bei ihm eingegangen waren. Ein deutsch-nationaler Ton ist dem Text nicht zu entnehmen, eher 2 Hadžibegović, Iljas: Migracije stanovništva u Bosni i Hercegovini 1878-1914. In: Prilozi 11-12 (1975), pp. 310-317, hier p. 312f. - Der u. a. hier verwendete Begriff „naseljavanja“ steht der deutschen „Zuwanderung“ am nächsten. Die Zeitungen Bosnische Post und Sarajevoer Tagblatt sprachen von „Einwanderern“, jedoch erlangte z. B. unter den deutschen Muttersprachlern nur ein Teil die Landeszugehörigkeit. 3 Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini (1882-1903). Sarajevo: Veselin Masleša 1987, p. 515. - Die Kolonisten-Dörfer lagen praktisch durchweg im Mehrheitsgebet der „christlichen“ Serben. 4 Vgl. Karčić, Fikret: The Bosniaks and the Challenges of Modernity. Sarajevo: El Kalem 1999. 5 Koller, Markus: Zeuge einer Zeitenwende. Der schweizer Arzt Josef Koetschet (1830- 1898) über die ersten Jahre der österreichisch-ungarischen Herrschaft in Bosnien und der Herzegowina. In: Südost-Forschungen 65/ 66 (2006/ 2007), pp. 292-312. 6 Balling, Adalbert Ludwig: Der Trommler Gottes. Franz Pfanner. Ordensgründer und Rebell. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1981, pp. 42-45, 64-115, 71, 10. Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina 239 im Gegenteil war sein Adressat und Bezugspunkt das „katholische Volk“, dessen Kirche weder „Grenzpfähle der Sprache, der Nation oder des Regierungssystems“ kenne. Ein missionarisches Motiv oder Bezüge zum Kulturkampf klangen ebenso wenig an, Pfanner ging es zwar um die Einwanderung von Katholiken, er stellte aber nur wirtschaftliche Anreize heraus. Das Bild Bosniens als „Bettelland“ wies er dabei zurück und erinnerte an dessen reiche mittelalterliche Geschichte bzw. die Königstadt Jajce, doch strebte er an, „Mustergemeinden für die bosniakischen Ortschaften“ zu schaffen. 1880 wechselte Pfanner in die Überseemission nach Südafrika. 7 Der Schrift Pfanners folgten 1879 Arbeiterfamilien aus Essen sowie Katholiken aus dem Rheinland, dem Emsland bzw. Hannover, dem Oldenburger Münsterland und Schlesien; auch einige Niederländer schlossen sich an. Das Land kauften die Siedler von einem bosniakischen Grundherren, 1880 folgte die Gründung des benachbarten Rudolfstal. 8 Die Auswanderung nach Bosnien erschien als billige Alternative zur Überseemigration (Westheider: „Balkan statt Boston“). Die Benennung der Kolonie nach dem emsländischen Zentrumspolitiker und prominentesten Gegner des „Nationalstaatsgründers“ Bismarck verweist aber auch auf Protesthaltungen der Kulturkampf-Zeit; nach Westheider vielleicht regional verstärkt durch „welfische“ Motive. Windthorst blieb bis zur Flucht 1944 das größte deutsche Dorf in Bosnien-Herzegowina. 9 In den Städten: Die „Kuferaši“ und die Bosnische Post Von diesen ländlichen Siedlern zu unterscheiden ist die Zuwanderung in die Städte, wo es sich um Unternehmer und Facharbeiter sowie Experten und vor allem um Beamte handelte. Diese kamen aus der gesamten Monarchie, doch da die interne Sprache der Verwaltung Deutsch war, setzte sich dieses auch in der 7 [Pfanner], Dr. Franz, Prior des Trappistenklosters Maria Stern bei Banja Luka: Bosnien ein Land für Ansiedlung. In: Weckstimmen für das katholische Volk 9 (1878). 8 Kasumović, Amila: Austrougarska kolonizaciona politika u Bosni i Hercegovini i prvi njemački doseljenici. In: Bethke, Carl / Kamberović, Husnija / Turkalj, Jasna (Hg.) / Omerović, Enes (Red.) Die „Deutschen“ in Bosnien und Herzegowina und Kroatien. Neue Forschungen und Perspektiven / Zbornik radova. Sarajevo: Inst. za Istoriju u Sarajevu 2015, pp. 75-95; vgl. das „Heimatbuch“ von Schindler, Peter (Hg.): 65 Jahre deutsche Kolonisten in Bosnien. Zwei geschlossene Kolonien Windthorst und Rudolfstal. Politische Gemeinden [Nova Topola und Aleksandrovac] 1879-1944. Hamburg: Selbstverlag 2007. 9 Westheider, Rolf: Aus dem Emsland nach Bosnien. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Auswanderung und ihre Folgen. In: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 55 (2009), pp. 33- 45, hier p. 33f. Die Konstituierungsakte hatten die osmanische Gemeindeordnung zu berücksichtigen: Arhiv Bosne i Hercegovine (ABiH), Zemaljska Vlada (ZVS), Br. 4000 prim 22.02.1881. 240 Carl Bethke gesellschaftlichen Kommunikation dieser Milieus durch. 10 Zugleich wurde von den Beamten auch die Kenntnis einer slawischen Sprache erwartet: 11 Daraus resultierte ein Anforderungsprofil, welches Tschechen und Slowenen 12 , besonders aber Kroaten aus Nord-Kroatien sowie Deutsche mit kroatischem Hintergrund oder Kroaten mit deutscher Abstammung, bzw. Personen aus entsprechend „gemischten“ Familien bevorteilte. Zugehörige der genannten Gruppen nahmen zum Teil Spitzenpositionen ein; prominente Beispiele waren Landeschef Appel, Bischof Josip Stadler, der Museumsdirektor Konstantin Hörmann 13 oder die Journalistin Milena Mrazović-Preindelsberger. 14 Die Einheimischen bezeichneten diese oft mehrsprachigen Zuwanderer ethnisch uneindeutig als kuferaši ; ebenso konnte „schwäbisch“ in den bosniakischen Zeitungen attributiv deutsch, habsburgisch oder ‘westlich’ bedeuten 15 Für die gesellschaftliche und kulturelle Relevanz dieser städtischen Einwanderergruppen sprechen die Größenordnungen: In Sarajevo machten diese 1910 35,3% der Einwohner aus; 10,1% der Einwohner waren deutscher Muttersprache. Eine wichtige Quelle für diese Milieus ist die von 1884-1918 erscheinende Zeitung Bosnische Post . Der Gründer des Blattes war der aus Zagreb stammende Stadtarzt Julije Makenec, verheiratet mit Luise Löschner 16 ; die Ersterscheinung 10 Memić, Nedad: Sprachkontaktphänomene in deutschsprachigen Zeitungen in Bosnien-Herzegowina zur österreichisch-ungarischen Zeit. In: Philipp, Hannes / Ströbel, Andrea (Hg.): Deutsch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Regensburg: F. Pustet 2017, pp. 110-119, hier p. 110f. 11 Juzbašić, Dževad: Jezička politika austrougarske uprave i nacionalni odnosi u Bosni i Hercegovini. In: Ders.: Politika i privreda u Bosni i Hercegovini pod austrougarskom upravom. Sarajevo: Akad. der Wiss. von Bosnien-Herzegowina 2012, pp. 382-421, hier p. 387. 12 Hadžibegović, Iljas: Socijalna struktura Slovenaca u Bosni i Hercegovini od sredine XIX stoljeća do 1991. godine. In: Prilozi 36 (2007), pp. 135-178, hier p. 141; Kryzk, Tomislav: Česi u Sarajevu. Arhivsko dokumentacijska istraživanja. Sarajevo: Matica hrvatska 2015; vgl. die Memoiren von Valoušek, František: Sjećanja na Bosnu. Zapisi austrougarskog žandara na službi u Bosni. Sarajevo: Bosanska riječ 2015. 13 Jergović, Miljenko: Kosta Hörmann, svemogući kuferaš, https: / / www.jergovic.com/ ajfelov-most/ kosta-hormann-svemoguci-kuferas/ (30.11.2015). 14 Nach Džambo, Jozo: Milena Preindlsberger-Mrazović - publicistkinja između tradicionalnog i modernog. In: Bosna Franciscana 46 (2017), pp. 9-54, hier p. 9 war diese in Wien geboren worden. 15 Vgl. Seljak i Švabo. In: Behar , 15.10.1910; Muslimanska ženska ruždij. In: Ogledalo , 15.6. 1907; Protiv kolere. In: Bošnjak , 6.10.1902.- N.B. „ kufer “ wird gerne von Koffer abgeleitet, andererseits bedeutet Qufr arabisch bzw. in der islamischen Terminologie „Ungläubiger“, so dass auch ein Wortspiel vermutet werden darf. In der Zeitung Musavat ist die Konnotation regelmäßig negativ. 16 Bethke, Carl: Die Zeitungen „Bosnische Post“ und „Sarajevoer Tagblatt“, 1903-1913. In: Bethke et al. (2015), pp. 137-174, hier p. 140f.; Kruševac, Todor: Bosansko-hercegova č ki listovi u XIX veku. Sarajevo: Veselin Masleša 1978, pp. 162-180, hier p. 164ff.; Pejanović, Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina 241 des Blattes fiel zusammen mit dem Bemühen der neuen Landesregierung unter Freiherr von Appel, den bosnischen Landespatriotismus zu fördern. Es handelte es sich aber nicht um ein Regierungsblatt, allerdings unterstütze das Außenministerium ab Oktober 1884 die Zeitung durch 100 Abonnements; die Kosten dafür übernahm wenig später zu 50 % das gemeinsame Finanzministerium. 17 Die Berichte zur urbanen Transformation und zur Kommunalpolitik, die Anzeigen, landeskundlichen Beiträge sowie Veranstaltungshinweise wiesen einen ausgeprägten Sarajevo-Bezug auf. Das Blatt war explizit säkular; als Zielgruppe wurde vor allem die lokale Beamten- und Kaufmannschaft definiert. 18 In den ersten Ausgaben warnte die Bosnische Post noch vor dem Misslingen privater Einwanderungen von „Deutschen“, sicher auch angesichts damaliger Probleme mit der unkontrollierten Niederlassung und Aneignung von Land durch Immigranten aus der benachbarten Lika. 19 Auslöser für die Ansiedlung wurde jedoch eine Überschwemmungs-Katastrophe in Tirol und Trient im Herbst 1883, wovon hunderte Familien betroffen waren: Als Alternative zur Amerikamigration wurde Betroffenen aus Notstandmitteln des Landes die Anreise und Inventar zur Niederlassung in Bosnien-Herzegowina angeboten - die ersten staatlichen Ansiedler waren daher, so Ferdo Hauptmann, Italiener. Von diesen wurde bei diesem „Versuch“ die eine Gruppe bei Konjic als Kmeten angesiedelt, was zu deren Rückkehr oder Wegzug führte; mehr Erfolg hatte man hingegen mit 57 Familien (320 Personen), die in Mahovljani nahe bei Windthorst Land als Siedler erhielten. 20 Đorđe: Bibliografija štampe Bosne i Hercegovine 1850-1941. Sarajevo: Veselin Masleša 1961, p. 22f. 17 Der Minister: An Seine Exzellenz Herrn Benjamin von Kallay. Wien, den 21. Mai 1896. In: Präsidium des Bureau für die Angelegenheiten Bosniens und der Herzegowina: Ministerium d. Äußeren in Angelegenheit der Subvention der Bosnischen Post Arhiv Bosne i Hercegovine, Zemjalska Vlada (ABiH ZVS). 497-1896; HHSA PL 107 1884, 143/ 5, s. Bethke 2015, p. 140. 18 Sarajevo, 31. Dezember. In: Bosnische Post, 1.1.1885; vgl. Bethke 2015, u. a. p. 168f. - Die Bosnische Post könnte am ehesten als Repräsentant eines Reichs-Patriotismus gelten, programmatisch z. B. anlässlich des Kaiserbesuchs 1910: Das Reich, in: ibid., 31.5.1910. Bezeichnend ist, dass sowohl die Bosnische Post als auch das 1908 von ihr „abgespaltene“ Sarajevoer Tagblatt die Identifikation mit den Deutschen vermieden (Bethke 2015, passim). Letzteres galt allerdings nicht für Josef Kerausch-Heimfelsen, der um 1909/ 10 verantwortlicher Redakteur beim Sarajevoer Tagblatt war. Offenbar arbeitete er zugleich für den militärischen Nachrichtendienst und betätigte sich auch als Schriftsteller: Bethke 2015, p. 151. 19 Kutschera-Kallay, 19.07.1883. In: Agrarni odnosi u B. i H. 1878-1918. Građa za proučavanje političkih, kulturnih i socijalno-ekonomskih pitanja iz prošlosti BiH. Sarajevo: Arhiv Bosne i Hercegovine 1969, Nr. 33. 20 Hauptmann, Ferdo: Reguliranje zemljišnog posjeda u Bosni i Hercegovini i počeci naseljavanja stranih seljaka u doba austro-ugarske vladavine. In: Godišnjak društva istoričara 242 Carl Bethke Von schwäbischen Siedlern zur staatlichen „ärarischen“ Kolonisation (1893-1905) Ungewöhnlich für Österreich-Ungarn war, dass die meisten der in Bosnien-Herzegowina entstandenen deutschsprachigen Siedlungen evangelischer Konfession waren. Die Initiative dazu ging auch hier zunächst von privater Seite aus - 1886 erwarben Schwaben aus dem Banat, die das Okkupationsgebiet beim Militärdienst kennengelernt hatten, mit Hilfe eines staatlichen Kredits Land von einem bosniakischen Grundherren und gründeten Franz-Josefsfeld. 21 Offenbar unter dem Eindruck des Erfolges kündigte Lajos von Thallóczy, Sektionschef im k. u. k. Finanzministerium, der deutschen Botschaft in Wien Pläne zu weiteren Einwanderung von Deutschen und Ungarn an . 22 Zunächst wurde aber 1890 mit der „internen Kolonisation“ begonnen, 238 bosniakische Familien aus Cazin und Gradiška erhielten dabei Land, und zwar im Kreis Prnjavor; bis 1909 wurde an 6.139 einheimische Familien mit 36.366 Personen staatliches Land verteilt. 23 Die Verpachtung von (zumeist ungenutzten) Grundstücken aus staatlichem „ärarischen“ Besitz an Einwanderer setzte 1891/ 92 ein - Tomislav Kraljačić vermutet einen Zusammenhang mit der damaligen politischen Instabilität in Serbien. 24 Tatsächlich lagen die damals gegründeten Orte Branjevo und Dugopolje an der Drina direkt an der Grenze zu Serbien. Die Siedler waren wiederum Land suchende evangelische Schwaben aus den geburtenstarken Orten Franzfeld im Banat und aus Syrmien -, wie im bereits gennannten Fall von Franz-Josefsfeld dem diese Dörfer dann auch kirchlich unterstanden. Der Vertrag mit diesen Siedlern über die Verpachtung von Staatsland diente dann offenbar als Muster für eine am 8. März 1893 erlassene Verordnung über Kolonisation: Demnach konnte „Kolonisten“ fortan eine gepachtete und von diesen urbar gemachte Parzelle von 10-12 Hektar aus öffentlichem Besitz nach 10 Jahren überlassen werden, sofern jene die bosnische Landeszugehörigkeit erwarben. In den ersten 16 (1965), pp. 151-171, hier p. 160; vgl.: Ansiedlung von Süd-Tirolern im Okkupationsgebiet. In: Bosnische Post , 23.03.1884. - 1939 wurden die italienischen Einwohner von Mahovljani nach Italien „umgesiedelt“. 21 Bethke, Carl: Deutsche „Kolonisten“ in Bosnien. Vorstellungswelten, Ideologie und soziale Praxis in Quellen der evangelischen Kirche. In: Šehić, Zijad (Hg.): Bosna i Hercegovina u okviru Austro-Ugarske 1878-1918. Sarajevo: Filozofski Fakultet u Sarajevu 2011, pp. 235-266. 22 „eventuelle Heranziehung deutscher Ansiedler“: Seiner Durchlaucht dem Fürsten von Bismarck. Wien, den 1. September 1888. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R 12915. 23 Schmid, Ferdinand: Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Österreich-Ungarns. Leipzig: Veit 1914, p. 247; Mi smo preč iodtugljina. In: Bošnjak , 10.09.1891. 24 Kraljačić 1987, p. 126. Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina 243 drei Jahren hatte ein Kolonist gar keine Pachtgebühr zu entrichten, allerdings waren als Voraussetzung Kenntnisse der Landwirtschaft sowie ein Vermögen von 1200 Kronen nachzuweisen. 25 Für Aufsehen sorgte, dass zu den Ersten, die auf diesem Weg 1894 Land erhielten, Russlanddeutsche Rückwanderer in Vranovac und Prosora gehörten; wie es hieß, „alles evangelische Deutsche, gewesene deutsche Reichsländer, die ihres Glaubens wegen und ihrer Sprache von dort verdrängt wurden“. 26 Durch Zuzüge aus Galizien, Kroatien und Ungarn soll sich die Zahl der deutschsprachigen Bauern schließlich bis auf 8.000 erhöht haben. 27 Das erst dann einsetzende „Kolonisations“-Programm auf staatliche Initiative sollte auch der sich damals formierenden „antiloyalen Bewegung“ (mit zunächst vor allem serbischem Hintergrund) entgegentreten; effektiv führte dieser Schritt allerdings ebenso zur ethnischen Diversifizierung der bis dahin vor allem deutsch und privat dominierten Siedlermigration - warb doch die Landesregierung dafür gezielt in Zeitungen des strukturschwachen und „übervölkerten“ Galizien mit starker Überseeauswanderung: Tatsächlich wurden zu diesen begünstigten Konditionen in der Folge bis zum Ende dieses Programmes 1905 830 polnische, 365 ukrainische, 331 deutsche, 107 tschechische, 87 italienische und 86 ungarische Familien angesiedelt. Eigene Grundschulen und Kirchen gehörten dabei zur Ausstattung deutscher wie auch nichtdeutscher Dörfer. 28 Die Rolle der Evangelischen Kirche: Anfänge nationalpolitischer Mobilisierung Das vielleicht eindrucksvollste Denkmal der Einwanderung nach Bosnien zur k. u. k.-Zeit. stellt die am 19. November 1899 eingeweihte ehemalige evangelische Kirche in Sarajevo dar; zumal nach Ergänzung der Seitenflügel 1911 war sie eines der größten Gebäude der Stadt (heute: Kunstakademie). Der Architekt war 25 Kožar, Azem: Austrougarska kolonizacija granice na Drini. In: Bosna i Hercegovina u okviru (wie Anm. 21), pp. 267-285, hier pp. 274 u. 276 ff.; Bayer, Gustav Adolf: Und übrig blieb ein Johannesbrot-Baum. Branjevo an der Drina-Bosnien-Jugoslawien. Pfullingen: Gebr. Tauss 1974; Bethke 2011, p. 244. 26 Bericht Pf. Schäfers an den Zentralvorstand vom 02.08.1894. Evangelisches Zentralarchiv Berlin (EZAB) 200-1-2889 (Gustav-Adolf-Werk); Iz delegacia. In: Bošnjak , 27. 06. 1895. 27 Heimfelsen, J., Sarajevo: In den deutschen Kolonien Nordost- und Nordbosniens EZAB 200 -1-2214; in dieser Fassung beklagt der Autor die „totale Abgeschiedenheit vom grossen Weltmarkt“. 28 Kraljačić 1987, p. 514; Auszug aus Reiserelation des Kreisvorstehers Ladislaus Baron über Kolonien in Bosnien, 19.02.1913, ABIH ZVS Zl. 15514, 1913-Kultus und Unterricht; vgl. Škiljan, Filip: Poljaci u Bosni i Hercegovini. In: Omerovi ć, Enes (Hg.): Historijski pogled na razvoj i položaj nacionalnih manjina u Sarajevu i Bosni i Hercegovini. Sarajevo: Udruženje za modernu historiju 2017, pp. 77-108. 244 Carl Bethke der ansonsten durch staatliche Repräsentationsbauten bekannte Oberingenieur der Landesregierung Karl Paržik. Zur Einweihung gab man z. B. verbilligte Fahrkarten aus, Landeschef Appel, die wichtigsten Landesbeamten und der britische Konsul nahmen teil, allerdings kein Vertreter des Bischofs Stadler: Der imposante Bau stand der Erwartung oder Befürchtung einer von den Habsburgern beförderten katholischen Hegemonie für jedermann sichtbar entgegen, - was der stattdessen pro-bosnischen Politik des für Kultusangelegenheiten zuständigen Ziviladlatus Hugo v. Kutschera genau entsprach. Dazu passte auch, dass diese evangelische Kirche vom Kaiser selbst besucht wurde und das Protokoll seine Vertreter auf Augenhöhe mit jenen der altetablierten Konfessionen berücksichtigte. 29 Während die Gemeinde in Sarajevo sowohl deutsche (lutherische) als auch ungarische (reformierte) Mitglieder hatte, ließen sich in den evangelischen Kolonien Westbosniens Deutsche unterschiedlichster Herkunft nieder - was die Bedeutung und Autorität der von Deutschland aus entsandten und finanzierten Pastoren noch verstärkte. Ihr Wortführer wurde der Vikar bzw. Pastor von Banja Luka, Wilhelm Oehler. Als der 1910 gewählte Landtag ( Sabor ) den deutschen Schulen die Mittel kürzte, gewann er stattdessen die Unterstützung des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA), auch für den von seinem Bruder Albrecht Oehler gegründeten Genossenschaftsverband, der ebenso deutsche Katholiken umfasste und 1914 546 Mitglieder hatte. 30 Dieser Genossenschaftsverband war angeschlossen an den 1908 gegründeten bürgerlich-deutschnationalen Verein der Deutschen und der Herzegowina, dessen Zweigstelle in Banja Luka die Oehlers gegründet hatten. Jener ging auf eine seit 1899 entstandene Tischgesellschaft in Sarajevo zurück, die sich 1902 zunächst als Verein „Deutscher Stammtisch“ konstituiert hatte. Der erste Vorsitzende war Georg Grassl, der spätere Vorsitzender des Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes in Jugoslawien. Die Statuten waren an jene des tschechischen Vereins angelehnt; der Verein führte als Farben Schwarz-Rot-Gold, die Studentenabteilung hieß „Wartburg“. Es gelang ihm auch in den Fabriksiedlungen Fuß zu fassen, bis 1914 wuchs seine Anhängerzahl von 500 auf landesweit 2000. 31 29 Beg Kapetanović, Grado načelnik: Zemjalskoj vladi u Sarajevu. Sarajevo, dne 26. Maj 1898. In: Magistrat Sarajevo über Baugenehmigung Kirchengemeinde, 26.05.1898, ABIH ZVS Z 6626 1898; Presbyterium der hiesigen evangelischen Kirche mit Einladung zur Einweihung der neuen evangelischen Kirche am 19. November d. J. (ibid., 2/ XI 1899 Nr. 162. 942 1899). 30 Bethke 2011, p. 254; Deutsche Kolonien und evangel. Gemeinden in Bosnien: Arbeitsbericht über das Jahr 1914 erstattet von Pfarrer W.J. Oehler, Banja Luka; EZAB 200-1-2014, passim. 31 Verein der Deutschen in Bosnien und der Hercegowina, Bundesarchiv, R 57 5384; Verein Deutscher Stammtisch, Bundesarchiv, R 57 5389; siehe auch ABiH, ZVS, 1914, 18-312; Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina 245 Der „Erfolg“ deutschnationaler Mobilisierung war, wie ein Vergleich mit Slawonien oder Zentralungarn leicht zeigen könnte, erstaunlich, und weder natürlich noch selbstverständlich. Er dürfte mit der Zunahme ethnischer Spannungen zu erklären sein 32 ; und verweist auf den einsetzenden Wandel bei imperialen Einwanderergruppen hin auf ein Selbstverständnis als nationale Minderheit. Bosniakische Perspektiven Das Bild der „Schwaben“ in den bosniakischen bzw. muslimischen Zeitungen variierte. Die erste von ihnen in lateinischer Schrift war der von 1891-1910 erscheinende Bošnjak. Dieser vertrat eine landespatriotische und habsburg-loyale Linie. In einer Kontroverse mit einem Belgrader Blatt verteidigte er die Verpachtung von Land an die Siedler in Franz-Josefsfeld, da, aus der Sicht des Grundherren, die dortigen Kmeten das Land nicht so fleißig bearbeitet hätten wie die Siedler. 33 Kritik an einzelnen Zuwanderern erfolgte unter Umständen namentlich konkret und alltagsbezogen; so z. B. fand man es unpassend, dass ein Italiener in Zenica seinen Hund Sultan nannte. 34 Im Gegensatz zur vom Bošnjak vertretenen Linie formierte sich in den 1890er Jahren eine muslimische Opposition, welche sich zunächst vor allem in Kundgebungen und Eingaben artikulierte, 1910 aber als Partei „Muslimische Volksorganisation“ (MNO) in den Landtag einzog. Ihr Organ war die Zeitung Musavat . Dieses suchte Schuldige bevorzugt bei „Kuferašen, zusammen mit den Frankianern und den mehkiši“ (Weichlingen, d. h. ihre politischen Gegner). 35 Die MNO-Politiker beschränkten ihre Angriffe also nicht auf die „Schwaben“, ebenso kritisierten sie z. B. auch, dass die Kirche der Ukrainer pro Kopf mehr vgl. Geiser, Alfred Deutsche Kulturarbeit in Bosnien und Herzegowina. In: Holdegel, Georg / Jentzsch, Walter (Hg.): Deutsches Schaffen und Ringen im Ausland. Ein Quellenlesebuch für Jugend und Volk, für Schule und Haus. Bd. 1: Österreich-Ungarn, Balkan, Orient. Leipzig: J. Klinkhardt 1916, p. 61. 32 Dies ist ablesbar an entsprechenden Pressekontroversen: Die Fremden. In: Bosnische Post , 19.5.1907; Unter dem Terrorismus der Čaršija. In: ibid., 10.2.1908; Kuferašen hinaus aus Bosnien. In: ibid., 26.11.1910; Das Germanisationsgespenst. In: Sarajevoer Tagblatt , 1.9.1909; Serbische Germanophobie. In: ibid., 21.9.1910, vgl. z. B. Prodaja naših šuma. In: Musavat , 14.6.1911, dagegen suchte sich der Bošnjak von der Fremdenfeindlichkeit der serbischen Blätter zu distanzieren: Vgl. Mi i stranci. In: Bošnjak , 09.02.1908. 33 I ne stide se! In: Bošnjak , 24.12. 1896; vgl. dazu Kruševac 1978, pp. 236-261; Pejanović 1961, p. 32f. 34 Neumjesno ime. In: Bošnjak , 30.1.1896 - Zenica war seit 1892 ein wichtiger Industriestandort. 35 Hier: Općinski izbori u Ljubuško. In: Musavat , 30.01.1908, passim (7x in jener Ausgabe! ). 246 Carl Bethke Subsidien erhielt als die einheimischen Juden. Musavat war zum Teil proserbisch; einige Artikel und die Titelzeile erschienen auch auf kyrillisch. 36 Dagegen lehnten sich, nach Preisgabe der bosniakischen Orientierung durch Finanzminister Burián, die Loyalisten oder „Fortschrittler“ bzw. die Selbständige Muslimische Partei an die Kroaten an; im Artikel „Ungarische Invasion“ kritisierte die Zeitung Muslimanska Sloga die Errichtung ungarischer Schulen, da sich die Öffentlichkeit mit den deutschen Einwanderern ja bereits ohnehin befassen würde. 37 Nicht wegen der Souveränität des Sultans wollte demnach die Opposition die Schwaben über die Save treiben, sondern um Bosnien-Herzegowina an Serbien anzuschließen. 38 Noch vor den Balkankriegen führten die Gegensätze zu den Serben hinsichtlich der Agrarreform zur Fusionierung der muslimischen Strömungen; die Zeitung der „vereinigten Muslime“ Zeman drängte einerseits, wie alle Landtagsparteien, auf die Ablösung des Deutschen als Verwaltungssprache und die verstärkte Rekrutierung von Einheimischen als Beamte 39 ; andererseits hieß es anlässlich eines Konfliktes mit Boykottaufrufen in Bileća, dass Kuferašen und Schwaben den Muslimen näher stünden als die Serben. 40 Während des Ersten Weltkrieges Im Sommer und Herbst 1914 drang das serbische Heer tief in Bosnien-Herzegowina ein. Reichsdeutsche Marineinfantristen, zuvor seit 1913 auf Friedensmission in Albanien, wurden im August 1914 bei ihrem Aufenthalt in Bosnien auch von den lokalen Deutschen gefeiert, so in Zavidovići, einem wichtigen Standort der Holzindustrie (u. a. Eisler und Ortlieb), wo auch einige Reichsdeutsche lebten. Doch dieses „Skutari-Detachment“ wurde bereits nach einem Gefecht bei Višegrad zurück nach Wilhelmshaven und Kiel beordert. 41 Der Vormarsch der serbisch-montenegrinischen Truppen auf habsburgisches Territorium war hingegen begleitet von der Flucht von Bosniaken und Misshandlungen, doch wur- 36 Govornar Poslanika Suljage Vajzovic. In: Musavat, 25.3. 1911; vgl. Bethke 2015, p. 159. 37 Magjarska Invazija. In: Muslimanska Sloga , 01.11.1910; Protumagjarske demonstracije. In: Hrvatski Dnevnik , 20.02.1912; vgl. Balta, Ivan: Julijanska Akcija u Slavoniji. Zagreb: Društvo mađarskih znanstvenika i umjetnika Hrvatske 2006, p. 203f. 38 Dvije riječi Musavat. In: Muslimanska Sloga , 20.01.1911, sowie ibid., 17.01.1911. 39 Z.B. Kuferaši na pomolu. In: Zeman , 10.09.1912; Ponižavanja muslimana, ibid., 16. 09. 1911. 40 Opet muslimane bojkotiraju. In: Zeman , 29.02.1912; Grunddaten zu Zeman bei Pejanović 1961, p. 77. 41 Festlicher Empfang des deutschen Detachment in Zavidovići. In: Sarajevoer Tagblatt , 02.09.1914; zum Bosnien-Einsatz vgl. BA Militärarchiv Freiburg RM 3 4333 und ibid., 5 2283. Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina 247 den auch „zündende Ansprachen gehalten, in denen betont wurde, dass die Zeit gekommen sei, die ‘Švabas’ aus dem Lande zu jagen und dieses serbische Land zu befreien; alles den Švabas gehörende Vermögen sollte unter die Serben verteilt werden“. Solche und ähnliche Drohungen bereits seit den Balkankriegen 42 sind als Hintergrund für die ersten Umsiedlungspläne 1916 zu bedenken; nachdem 1914/ 15 viele Serben aus den Gebieten an der Drina geflohen waren, kam zuvor jedoch die Idee auf, (kriegsgefangene) Russlanddeutsche anzusiedeln. 43 Nach Kriegsende waren die kuferaši Übergriffen ausgesetzt, auch manche Kolonien wurden dabei derart „heimgesucht“, dass es die Bewohner vorzogen, einstweilen „außerhalb zu kampieren“. 44 Zusammenfassung: Habsburg in Bosnien-Herzegowina ‒ ein „nationalizing empire“? Bis 1918 war Deutsch die innere Verwaltungssprache in Bosnien und Herzegowina - davon zu unterscheiden ist, dass der Anteil der Deutschen bei den Beamten bereits 1907 nur mehr 12, 44 % ausmachte. 45 Die meisten habsburgischen Beamten in Bosnien und Herzegowina waren damals „Slawen“, besonders Kroaten, zunehmend auch Bosniaken, die jahrzehntelang ihren beruflichen Alltag auf Deutsch bewältigten: Oft ungesagt, aber sehr wohl implizit, richteten sich die Angriffe der Opposition gegen die (deutsch sprechende) Beamtenschaft, somit stets auch gegen einen Teil der südslawischen Eliten selbst; allein ihre lebensweltliche Praxis entzog sich nicht nur den Normierungen der jugoslawischen Nationalbewegungen, sondern stellte deren zentrale Axiomatik über die essentiell trennende Bedeutung der Muttersprache überhaupt in Frage. Allerdings waren die gegenteiligen Erwartungen ebenso selbst Resultate der Integration in die Strukturen des Habsburgerreiches: Die beschriebene Situ- 42 Bezirksamt Foča: An das Präsidium der Landesegierung in Sarajevo. (Betr.: ) Bezirk Foča, Räumung und sonstige Ereignisse, ABIH ZVS pr. B.H. 1715/ 1914; Bethke 2011, p. 260. 43 Bethke 2011,p. 262; Hofrat Foglár, Präsidium des k. und k. gemeinsamen Finanzministeriums in Angelegenheiten Bosniens und der Hercegowina: Der Landesregierung in Sarajevo zur Kenntnis. (Betr.): Deutschrussische Kriegsgefangene, Ansiedlung in BH. Wien, 29.01.1916, ABiH Zajednički Ministarstvo Financije Presidalpr. Bh. 93/ 1916). 44 Omerović, Enes S.: „Odlazak 'kuferaša'". Iseljavanje stranaca iz Bosne i Hercegovine 1918/ 1919. godine, http: / / konferencija2014.com.ba/ wp-content/ uploads/ Enes-S.-Omerovićpaper.Pdf; Oehler, Albrecht: Der Umsturz in Bosnie. In: Dorotka Ehrenfels, Wilhelm von: Der schwäbisch-deutsche Kulturbund. I. Typoskript: Die Lage der Deutschen vor und unmittelbar nach dem Umbruch. Neusatz im Mai 1935, Arhiv Vojvodine Novi Sad 20560, pp. 20-24. 45 Izvještaj o upravi Bosne i Hercegovine 1907. Zagreb: G. i Kr. zajedničko Ministarstvo financija Beč 1908, p. 7f.; Kraljačić 1987, p. 440. 248 Carl Bethke ation in Bosnien-Herzegowina war nämlich durchaus eine Ausnahme, denn im Gegensatz zum Trend zeitgenössischer Imperien wie Nationalstaaten hatte sich das Habsburger-Reich im Laufe des 19. Jahrhunderts dezentralisiert; normalerweise war deutsch dort, wo Deutsche keinen nennenswerten Anteil an der Bevölkerung stellten, auch nicht Amtssprache. Die deutsche Sprache hatte im asymmetrisch zusammengewachsenen Habsburger- Reich also nicht dieselbe Bedeutung wie Englisch, Französisch oder Russisch in den jeweiligen Imperien ; es konnte daher, trotz Zweibund, auch nicht in vergleichbarer Weise zum „ nationalizing empire “ 46 werden. So lässt sich abschließend sagen, dass sich auch in der Geschichte der Einwanderung nach Bosnien-Herzegowina zur k. u. k.-Zeit erstens der polyzentrische Charakter der Habsburgermonarchie abbildet: Entwicklungen und Muster aus Budapest und Zagreb wirkten auf die Entwicklung vor Ort autonom und ebenso sehr ein wie jene aus Wien. Der Verlauf und die Struktur der Einwanderung ließ stets erkennen, dass jene nicht bzw. von niemandem im Sinne einer womöglich deutschsprachigen ‘Leitkultur’ beherrscht und gesteuert wurde: Die Arithmetik der Machtverhältnisse auf internationaler Ebene wie innerhalb der Habsburgermonarchie stand dem entgegen, noch bevor 1905 einer nennenswerten weiteren Siedlungsmigration überhaupt ein Ende gesetzt wurde. Damit ist angesprochen, dass das Einwanderungsgeschehen zweitens auch ein Spiegel der Periodisierung , d. h. jener tief greifenden Zäsuren ist, ohne deren Beachtung die Geschichte k.u.k-Bosniens nicht zu verstehen und zu deuten ist. Das gilt für den Neuaufbruch nach dem Aufstand 1882, welcher erst zum verstärkten Einsatz deutscher und ungarischer statt kroatischer Beamte führte, ebenso, wie für die staatliche Kolonisation der 1890er: Sollte doch mit dieser auch auf die sich seinerzeit neu formierende - und dann rasch anwachsende- Oppositionsbewegung reagiert werden (wobei sie im Effekt die beschleunigte Zuspitzung der weiteren Entwicklung nur vorantrieb). Auch das Ende der Einwanderung, oder die politische Differenzierung der deutschsprachigen Öffentlichkeit (ablesbar an den Printmedien), sind im Kontext des steten Wandels der politischen Rahmenbedingungen zu sehen. Ab 1903 wurden diese bestimmt durch den Neuen Kurs der Ära Burián, und die damals plötzlich stark veränderte internationale Situation, unter anderem in Folge des Dynastiewechsels in Serbien; die Re-Definition der Landessprache als „Serbokroatisch“ statt Bosnisch ist ein markanter Indikator für den grundlegenden politischer Strategiewechsel jener 46 Leonhard, Jörn / Hirschhausen, Ulrike von: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina 249 Jahre. 47 Drittens stehen diese Wandlungen und Veränderungen einschließlich ihrer Rückwirkungen auf das Einwanderungsgeschehen im Zusammenhang mit den besonderen Begrenzungen und Bedingtheiten des k.u.k-Regimes in Bosnien-Herzegowina - sowohl auf Grund schon der vertraglichen Bindungen und Auflagen des Mandats von 1878/ 79, als auch hinsichtlich der Konditionen des Regierungshandelns vor Ort. Letzteres beruhte in einem solchen Ausmaß und zunehmend auf ‘Koalitionen’ oder jedenfalls Arrangements mit verschiedenen Interessengruppen - auf beiden Seiten - , dass von einer simplen Dichotomie von Kolonisatoren und Kolonisierten m. E. nicht gesprochen werden kann. Insbesondere waren die deutschsprachige Beamtenschaft und ihre Presse, die Einwanderung, die Unternehmen, Banken und Politiker aus dem Deutschen Reich und Österreich, oder auch die evangelische Kirche, zwar Faktoren unterschiedlichen Gewichts - oder bargain chips - in diesem Spiel, doch neben vielem Anderem: etwa den begs und der Agrarfrage, der katholischen Kirche und anderen Einflüssen aus Kroatien, oder den politischen und ökonomischen Interessen unterschiedlicher Teile der Budapester Elite usf. Im Vergleich zur Situation in den Überseekolonien der nationalizing empires wäre für k. u. k. Bosnien-Herzegowina insofern von einer weniger unmittelbaren und eindeutigen, dafür abstrakteren und stärker an die mitteleuropäischen Verhältnisse angepassten Form von Machtverhältnissen und politisch-kultureller Hegemonie auszugehen. Dies konkreter zu analysieren und zu entschlüsseln, ist am Ende viertens auch eine Herausforderung für die Historiografie zu k. u. k.-Bosnien - diese ist stark archiv-orientiert, wenn auch zunehmend ergänzt durch die Analyse deutschsprachiger Literatur und Publizistik. Doch tatsächlich waren die (vermeintlich) „Kolonisierten“ gerade in diesem Fall alles anderes als stumm: Die Forschung hat sich, bei allen Sprach- und Konfessionsgruppen mehr mit einem zunehmend politisch ausdifferenzierten und dabei durchaus in streitbarer Kommunikation miteinander stehenden Printmediensektor auseinanderzusetzen; die inhaltliche Diskussion dieses Materials erscheint jedenfalls nicht abgeschlossen. 48 An die Bedeutung dieses Faktors, d.h, der gegenseitigen Wahrnehmungen und diskursiven Auseinandersetzungen, konnte an dieser Stelle am Beispiel der muslimischen Presse nur kurz erinnert werden. 47 Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg „Civilizing Mission“ in Bosnia, 1878-1914. Oxford: OUP 2007, pp. 58, 145; Bethke 2011, p. 155; Bethke 2015, passim. 48 Lindemann, Kristin: Literatur im Dienste der Modernisierung. Bosnien-Herzegowina im Kontext des islamischen Aufklärungsdiskurses. Konstanz: Diss. (unveröff.) 2015. Amtssprache Maurisch? 251 Amtssprache Maurisch? Zum Problem der Interpretation des orientalisierenden Baustils im habsburgischen Bosnien-Herzegowina 1 Maximilian Hartmuth (Wien) Von seiten der Landesverwaltung ist nun schon seither manches für die Erhaltung des orientalischen Charakterbildes der Stadt geschehen. Vor allem hat die Regierung der Wiederbelebung des arabischen Stiles ihre Aufmerksamkeit zugewendet […] Der echte einheimische Stil ist das freilich nicht und es ist daher nicht zu verwundern, wenn sich in neuester Zeit dagegen eine Opposition regt. Man bezeichnet jetzt diese Bauart als volksfremd und zeitfremd und fordert, daß die Regierung bei ihren Neubauten vor allem den hergebrachten einheimischen (bosnischen) Stil pflege. 2 Zu den wohl beachtenswertesten Belegen der Auseinandersetzung österreichisch-ungarischer Entscheidungsträger mit der als fremd verstandenen Kulturtradition des 1878 okkupierten Bosnien-Herzegowinas zählen die zahlreichen Bauwerke in einem eklektischen Stil, der in der Hauptsache das islamische Mittelalter Spaniens und Ägyptens paraphrasiert. Das einstmalige Rathaus von Sarajevo, das als im Bosnien-Krieg beschossene Nationalbibliothek über abertausende Fernsehschirme flimmerte, ist wahrscheinlich sein bekanntestes Beispiel, gleichsam aber auch nur eines von (überraschend) vielen. Ähnlich exzentrische Rathäuser finden sich in unauffälligen Klein- und Mittelstädten, wo sie auch häufig das beachtenswerteste Bauwerk darstellen. 3 Seinen Ausgangspunkt hatte der Stil allerdings in Projekten der Landesregierung für Bosniens Muslime, 1 Der vorliegende Aufsatz ist ein vorläufiges Produkt des vom Europäischen Forschungsrat geförderten Fünfjahresprojekts Islamic Architecture and Orientalizing Style in Habsburg Bosnia, 1878-1918 (ERC 758099) und profitierte von den Anmerkungen der Projektmitarbeiterinnen Caroline Jäger-Klein, Julia Rüdiger und Franziska Niemand. 2 Schmid, Ferdinand: Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Österreich-Ungarns . Leipzig: Veit 1914, p. 748. 3 So etwa in Brčko, Gradiška, Bugojno. 252 Maximilian Hartmuth die immerhin ein Drittel der Bevölkerung im Okkupationsgebiet stellten und traditionell die Städte dominierten. 4 Der Stil, für den sich im Lande selbst der trügerische Begriff „pseudo-maurisch“ durchgesetzt hat, fand aber auch Niederschlag in einer Reihe anderer Funktionstypen: Schulen, Synagogen, Wohnhäuser, Bäder, usw. Er wurde somit gewissermaßen zum bosnischen „Landesstil“, da man ihn nur dort in dieser Streuung antrifft. Zwar lassen sich in Wien und anderen Zentren der Monarchie, also den Ausbildungsstätten der nach Bosnien und in die Herzegowina gesandten Architekten, Vorgänger und Vorbilder finden; 5 waren sie aber im Reichskern im Grunde genommen Exoten, durften Bauwerke im orientalisierenden Stil in Bosnien zentrale religions- und kommunalpolitische Symbole darstellen. Es ist nun sonderbar, dass sich die deutschsprachige Wissenschaft, insbesondere die Kunstgeschichte, bislang so wenig für dieses Erbe interessiert hat, das ja gewissermaßen auch ein österreichisches, jedenfalls ein österreichisch-ungarisches ist. Den aufschlussreichen, bebilderten Reisebeschreibungen aus der Zeit der vorigen Jahrhundertwende folgte wenig Handfestes. Als Hoffnungsschimmer ist - mit Einschränkungen - der Artikel zu werten, den Alexander Zäh 2013 in den Südost-Forschungen publiziert hat. 6 Er versteht ihn als „Kleines Survey bedeutender Bauwerke und deren Verwendungsgruppen“ in dem Stil, den er kunsthistorisch korrekter als „orientalisierenden“ bezeichnet. 7 Das im Titel des Aufsatzes („Die orientalisierende Architektur als ein stilistischer Aus- 4 Das wichtigste Beispiel eines solchen Baus ist die Scheriatsrichterschule, wiederum in Sarajevo, gefolgt von der Medrese in Travnik, deren habsburgzeitlicher Neubau durch den Abriss des osmanischen Vorgängerbaus zugunsten einer Eisenbahntrasse notwendig geworden war. In Travnik finden sich auch mehrere Moscheen, die nach dem vernichtenden Feuer von 1903 sichtlich mithilfe von in der Monarchie Ausgebildeten wiedererrichtet wurden. Die überkuppelte sog. Vorstadtmoschee ist wohl das monumentalste Beispiel eines in der österreichisch-ungarischen Verwaltungszeit „erneuerten“ islamisches Kultbaus. 5 Man denke etwa an das Heeresgeschichtliche Museum und die Zacherlfabrik sowie viele Synagogenbauten in Wien. 6 Zäh, Alexander: Die orientalisierende Architektur als ein stilistischer Ausdruck des offiziellen Bauprogramms der k. u. k. bosnisch-herzegowinischen Landesregierung 1878- 1918. In: Südost-Forschungen LXXII (2013), pp. 63-97. 7 Es folgt eine Unterteilung nach Funktionstypen (Rathäuser, Medresen, Glaubensschulen, Moscheen, Synagogen, Badeanlagen, Wohn-, Geschäftshäuser und Hotels) bzw. nachahmungsresistenten Einzelfällen (Bahnhof Brod, Scheriatsrichterschule Sarajevo, Gymnasium Mostar). Verwendet wurden vorrangig im Internet verfügbare Primär-, Sekundär- und Bildquellen, darunter die Dissertation von Branka Dimitrijević (für eine wichtige Veröffentlichung daraus s. auch Fußnote 19) und Artikel des Autors (s. Fußnote 24), jedoch unter fast vollständiger Negierung der landessprachlichen Literatur. Trotzdem ist anzuerkennen, dass Zäh deutschlesenden Interessierten erstmals eine umfassende Aufstellung und Aufgliederung der wesentlichsten Bauwerke zur Verfügung stellt. Amtssprache Maurisch? 253 druck des offiziellen Bauprogramms der k. u. k. bosnisch-herzegowinischen Landesregierung 1878-1918“) explizite Erkenntnisversprechen wird allerdings nicht eingelöst - denn der Beleg für den unmittelbaren Zusammenhang zwischen politischer Entscheidung und Stilwahl wird nicht erbracht, nur vorausgesetzt. Hier sucht der vorliegende Essay An- und Aufschluss. Verbeamtung eines kulturellen Kompromisses? Was erhöht eigentlich einen Stil zu einem „offiziellen“ Konsens? Die Absegnung von zuständiger Seite? Etymologisch vorgehend, ließe sich feststellen, dass das officium , von dem Macht ( ops ) ausgeht, letztlich seine Entsprechung im modernen Amt findet. Ein „offizieller Stil“ wäre demnach eine Art Amtsstil. Dieser müsste in weiterer Konsequenz von öffentlichen Ämtern in Gebäuden, die deren Arbeitsprozesse funktionell bewerkstelligen und symbolisch artikulieren, einigermaßen konsequent verwendet werden. 8 Um Zähs These zur Geltung des besagten Stils zu überprüfen, müsste man also genau solche Gebäude in Bosnien-Herzegowina suchen; in Anbetracht der großvolumigen Bautätigkeit des Ärars im Okkupationsgebiet ist das nicht allzu schwer. Ein logischer Ausgangspunkt für einen Verifizierungsversuch wäre wohl jener Teil der habsburgzeitlichen Neustadt Sarajevos, den man bei gutem Willen als „Regierungskarree“ bezeichnen könnte. In ihm finden sich gleich drei Gebäude der einstigen Landesregierung, aus unterschiedlichen Jahrzehnten datierend, jeweils mit späteren Aufstockungen. Das erste wurde 1884/ 5 errichtet und zählt damit zu den frühesten monumentalen Bauprojekten des neuen Regimes in Bosnien überhaupt (Abb. 4+5). In sicherem Abstand zur Altstadt errichtet, darf die Wirkung dieses ursprünglich nur dreigeschossigen Bauwerks an der städtischen Hauptachse nicht unterschätzt werden. Der Überlieferung nach hatte der Landesgouverneur Benjámin von Kállay befunden, dass die zunächst in der Bestandsstadt verstreuten Ämter die Wahrnehmung einer nur vorübergehenden Präsenz des Reichs bestärken würden. 9 Folglich hatte das sogenannte 8 Dazu auch Moravánszky, Ákos: Die Sprache der Fassaden. Das Problem des Ausdrucks in der Architektur der Donaumonarchie 1900-1914. In: Becker, Annette / Steiner, Dietmar / Wang, Wilfried (Hg.): Architektur im 20. Jahrhundert. Österreich. München: Prestel 1995, pp. 12-21, hier p. 14: „In den Städten Mitteleuropas war die infrastrukturelle Sprache der Urbanisierung, eine Art ‘Amtssprache’, die Kommunikation ermöglichte und homogenisierend wirkte. Der Historismus war die Sprache der Kontinuität.“ 9 Vgl. dazu etwa Madžar, Božo: Sto godina Vladine zgrade u Sarajevu (1885-1985). In: Glasnik društva arhivskih radnika Bosne i Hercegovine 25 (1985), pp. 249-255.- Im oft zitierten, da online verfügbaren Eintrag zum Bauwerk im Verzeichnis der bosnisch-herzegowinischen Denkmalkommission (vgl. kons.gov.ba) ist das Medium fälschlich als Glas društva arhitekata Bosne i Hercegovine angegeben. 254 Maximilian Hartmuth Erste Landesregierungsgebäude 10 eine wichtige Funktion in der Verständigung zwischen Regime und Bevölkerung über deren Absichten und Bindung. Auch die Benennung als „Regierungs-Palais“ weist es semantisch als Herrschaftsarchitektur aus. Umso bedeutungsvoller ist wohl, dass bei dieser Bauaufgabe die Wahl nicht auf den orientalisierenden Stil fiel, der in Folge als Triumphstil der Orient-Bezwinger gelesen werden hätte müssen. Aus den drei vom jungen kroatischen, aber in Wien bei Friedrich von Schmidt ausgebildeten Architekten Josip Vancaš vorgelegten Varianten, setzte sich jene in der Manier der florentinischen Frührenaissance gegen andere im Stil der italienischen Gotik und der Spätrenaissance durch, angeblich aus Kostengründen. 11 Dessen ungeachtet, wurde das Heraufbeschwören florentinischer Palazzi des 15. Jahrhunderts mit Rustizierung und Biforien als der neuen Verwaltung würdig befunden. 12 Neben Räumlichkeiten für die Landesverwaltung befanden sich hier u. a. ein Post- und Telegrafenamt, ein Katasterbüro, die Redaktion des Amtsblatts Sarajevski list , die Museumsgesellschaft und das Oberste Gericht. Alles, wofür die Landesregierung stand - Gerechtigkeit, Fortschritt, Kultur - war in einem der unzähligen Zimmer zu finden. Nun könnte man einwenden, dass der andalusisch-levantinische Neo-Stil ja eigentlich auch erst nach dem Projekt für das Landesregierungsgebäude Anwendung fand: nämlich erstmals im Fall der 1888 fertiggestellten, aber seit 1886 geplanten Scheriatsrichterschule, die inhaltlich die Emanzipation einer neuen 10 Zgrada Zemaljske vlade I , heute Präsidentschaftskanzlei. 11 Grundsätzliches bei Krzović, Ibrahim: Arhitektura Bosne i Hercegovine 1878-1918. Sarajevo: Umjetnička Galerija 1987, p. 15. 12 In der Reichshauptstadt wäre eine solche Stilwahl als unrepräsentative Ausnahme wahrgenommen worden, zumal in der öffentlichen Stildebatte die römische Hochrenaissance als monumentale Maxime galt. Ein näherer Verwandte des Regierungspalais ist das Gebäude der k. k. priv. allgemeinen österreichischen Bodenkredit-Anstalt (1884-7, Arch. Emil Förster und Alois Augenfeld) in der Löwelstraße 20 in Wien. Dessen „toskanischen Palaststyle“ sah die Allgemeinde Bauzeitung (LIV [1889], pp. 5-8 und Tafeln 1-9) damals als eine für Wien frappierende Neuheit: „Bei der Wahl dieses Baustyles mag dem Architekten vorgeschwebt haben, dass die in den umpanzerten Tresorräumen bewahrten Werthe und Dokumente ein wesentliches Charakteristikon eines Bank-Instituts bilden und daher ein wahrer, widerstandsfähiger, gedrungener und geschlossener Stylcharakter auch nach aussen hin dem Bank-Palaste entsprechend sein müsste.“ (ibid., p. 6) Das Regierungspalais in Sarajevo orientiert sich zumindest stilistisch am nur wenige Jahre jüngeren Bankgebäude und verzichtet auf für Wiener Repräsentationsbauten charakteristische Elemente (z. B. Bauplastik, Säulenordnung, starke Rhythmisierung). Stattdessen wird die Repräsentationskraft des Gebäudes durch eine gemäßigte Rhythmisierung der Fassade durch Mittel- und Eckrisalite erhöht. Dadurch entfernt es sich gleichzeitig vom toskanischen Vorbild zugunsten einer herrschaftlichen Gebärde. (Ich bedanke mich bei Julia Rüdiger für die Diskussion.) Amtssprache Maurisch? 255 bosnisch-islamischen Elite von osmanischen Anstalten befördern sollte. 13 Umso auffälliger ist, dass anlässlich des Projekts für das sogenannte Zweite Landesregierungsgebäude (1896, Arch. Carlo Panek) 14 abermals auf die florentinische Frührenaissance rekurriert wurde. Die voranschreitende Bürokratisierung des Alltags im Okkupationsgebiet hatte schon nach wenigen Jahren ein weiteres Amtsgebäude unerlässlich gemacht. Doch selbst wenn man (zu Recht) einwenden würde, dass in diesem Fall der benachbarte Vorgängerbau den Ausschlag für die Stilwahl gegeben hätte, ist es abermals aussagekräftig, dass auch für das sogenannte Dritte Landesregierungsgebäude (1905, Arch. Karl Pařík) 15 kein orientalisierender Gestus zur Anwendung kam - sondern ein von barock-secessionistischen Elementen durchsetzter Klassizismus, den man vielleicht als Verbeamtung des unscharf historistischen Wiener Stadtbahnstils Wagners verstehen könnte. Das Dritte Landesregierungsgebäude in Sarajevo wäre im Wien der frühen 1900er-Jahre jedenfalls keineswegs aufgefallen. Zusammengefasst wäre es äußerst schwer zu argumentieren, dass die quasi-kolonial agierende Landesregierung den kakanischen Orientstil als Ausdruck ihrer selbst verstand. Denn für die für ihre öffentliche Wahrnehmung zentralen Bauprojekte bemühte sie stattdessen konsequent eine im Kernraum des Reichs weitverbreitete, am abendländischen Kulturerbe orientierte Ästhetik. Diese supranationale Formensprache hatte keine Kompromisse einzugehen. Sie vertrat keine Partikularitäten. Repräsentation mit Abstrichen? Aber auch bei Regierungsprojekten für andere Nutzungen kam der Orientstil nicht konsequent zur Anwendung. Das exzentrische Gymnasium in Mostar (1898/ 1902, Arch. Franz Blažek) täuscht darüber hinweg, dass für habsburgzeitliche Schulbauten in Bosnien nahezu ausnahmslos in Mitteleuropa etablierte Historismen verwendet wurden. Auch das ebenso repräsentative Aufnahmegebäude des Bahnhofs von Brod (1895-7, Arch. Hans Niemeczek) steht in deutlichem Kontrast zu seinen einfachen Entsprechungen im Rest des Lands. Weitere Verbreitung fand der orientalisierende Stil bei den Funktionstypen Synagoge, öffentliches Bad, und auch bei Wohn- und Geschäftshäusern; neben Gebäuden 13 Pařík, Karl: Die Scheriatsrichterschule in Sarajevo. In: Allgemeine Bauzeitung LXXXII (1917), pp. 51-52 und Tafeln. 14 Zgrada Zemaljske vlade II . Aufstockung 1930, heute Außenministerium und Bahnverwaltung. 15 Heute Kantonsverwaltung und Verwaltung des Stadtbezirks „Centar“. 256 Maximilian Hartmuth für die muslimische Gemeinschaft (Moscheen, Glaubensschulen, Verwaltungsbauten) am konsequentesten aber bei Rathäusern. 16 Wenngleich das Habsburgerregime in Bosnien-Herzegowina keinen Landtag tagen ließ, was angesichts der de iure Zugehörigkeit der Provinz zum Osmanischen Reich bis zur Annexion 1908 wohl auch rechtlich problematisch gewesen wäre, 17 wurden bald nach der Okkupation wieder Gemeinderäte eingesetzt. 18 Die Rathäuser, die häufig in den 1890ern einen Neubau bezogen, symbolisierten gewissermaßen die einzige Ebene, auf der die einheimische Bevölkerung Mitbestimmungsrechte hatte. Umso bedeutsamer ist die stetige Anwendung des orientalisierenden Stils im Zusammenhang mit diesem Funktionstyp. Sollte die letztlich das islamische Erbe akzentuierende Formensprache womöglich die Kräfteverhältnisse innerhalb der Gemeinderäte widerspiegeln? Bosniens Städte waren seit Jahrhunderten vom muslimischen Bevölkerungselement dominiert. Das an Eigentumsverhältnissen orientierte habsburgische Kurienwahlrecht beförderte diese Stellung weiter. Der wohl eindrucksvollste Ausdruck dieser anscheinenden Verknüpfung von Geste und Gehalt ist das ehemalige Rathaus („Vijećnica“) von Sarajevo. In seiner heutigen Form geht es auf einen bereits Volumina und Raumprogramm vorgebenden Entwurf von 1891 zurück (Arch. Karl Pařík), der in Folge in orientalisches Gewand gekleidet (Arch. Alexander Wittek und Ćiril Iveković) und 1896 feierlich eingeweiht wurde. 19 Gegenüber früheren Fantastereien sind der Vijećnica bereits konkrete historische Vorbilder anzusehen. Wittek war zwei Mal nach Kairo gereist, um sich von den dortigen Monumentalbauten Anleihen zu holen, namentlich von der Sultan Hasan-Moschee sowie der Grabmoschee des Sultan Qaitbay, also von Kult- und Memorialbauten. 20 Trotzdem scheint auch Andalusien deutlich durch - sicher auch deshalb, weil die dortigen islamischen Monumentalbauwerke durch ihre risikolose Zugänglichkeit und de- 16 Für Abbildungen der meisten relevanten Bauwerke siehe Zäh 2013. 17 Interessanterweise hatten die Bosnier auch im osmanischen Parlament keine Vertretung, denn es tagte 1878-1908 nicht. Vgl. Dazu Kayalı, Hasan: Elections and the electoral process in the Ottoman Empire, 1876-1919. In: International Journal of Middle East Studies XXVII (1995), nr. 3, pp. 265-286. 18 Siehe dazu Heuberger, Valeria: Politische Institutionen und Verwaltung in Bosnien und der Hercegovina, 1878 bis 1918. In: Rumpler, Helmut / Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848-1918, VII: Verfassung und Parlamentarismus, II: Die regionalen Repräsentativkörperschaften. Wien: Verlag der ÖAW 2000, pp. 2382-2425. 19 Vgl. Dimitrijević, Branka: Der Architekt Karl Pařik. In: Österreichische Zeitschrift für Kunst und. Denkmalpflege XLIV (1990), nr. 3-4, pp. 155-169, hier p. 157f. 20 Kreševljaković, Hamdija: Sarajevo za vrijeme austrougarske uprave (1878-1918). Sarajevo: Arhiv Grada Sarajeva 1969, p. 35; Anonym: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild [= Kronprinzenwerk]. Bosnien und Herzegowina. Wien: K. u. k. Hofu. Staatsdruckerei 1901, p. 434. Amtssprache Maurisch? 257 taillierte Veröffentlichung einen besonderen Stellenwert im abendländischen Orient-Recycling erworben hatten. Wer spricht? Vergessen werden sollte beim Betonen der „maurischen“ Komponente als landesfremder Aufmachung allerdings auch nicht, dass aus Habsburg-Sicht ja herrschaftsideologisch nicht wenig für ein Propagieren dieses islamischen Erbes gegenüber anderen gesprochen hätte. Im 16. und 17. Jahrhundert stand ein kurz zuvor den „Mauren“ entrissenes Spanien unter der Herrschaft von Habsburgern. Auch eine Auseinandersetzung mit dem Geerbten fand statt. Unter Kaiser Karl V., gleichzeitig König Carlos I. von Kastilien, León und Aragón, wurde die Große Moschee von Cordoba massiv umgebaut. 21 Auf der Alhambra begann er, einen Palast zu errichten, der als Regierungssitz gedacht war, allerdings nie fertiggestellt wurde. Die achteckige Kapelle im Inneren hätte nach ihrer Überkuppelung wohl an den Aachener Dom erinnern sollen, in dem er zum römisch-deutschen Kaiser gekrönt worden war. Leider gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die Dynastie oder ihre Anwälte den „maurischen“ Stil aus derartigen Beweggründen proponiert hätten. Verstanden wurde seine Anwendung in Bosnien eher als „Wiederbelebung des arabischen Stils“, 22 also von etwas im Lande vermeintlich bereits Existentem - wenn schon nicht in tatsächlich gebauter Form, 23 dann zumindest in der Kulturgenetik politisch dominanter Einheimischer. Die Fremdheit des „maurischen“ Formrepertoires in einem spät- oder postosmanischen Zusammenhang sollte ebenfalls nicht überbetont werden. Auch in Istanbul tauchten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hufeisenbögen und Alhambra-Motive auf. Auch dort waren sie Teil eines Identitätsfindungsprozesses, der erst gegen die Jahrhundertwende eine Schärfung in Form einer strenghistoristischen neo-osmanischen Stilvariante erfuhr. Das mittelalterliche Spanien war gleichzeitig zu einer Art gesamtislamischen Erinnerungsort geworden, das Recycling seines Kulturerbes folglich ein konsequentes Weiterden- 21 Ein Teil der Säulenhalle wurde demoliert, um Platz für ein Kirchenschiff zu schaffen. Vgl. dazu auch Giese, Francine: Bauen und Erhalten in al-Andalus. Bau- und Restaurierungspraxis in der Moschee-Kathedrale von Córdoba. Bern et al.: P. Lang 2016, p. 188-195 und Literaturverweise. 22 Siehe das Eingangszitat. Von einer „Erhaltung und Wiederbelebung des arabischen Stiles“ wird auch im Bosnien-Band von Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild (p. 434) geschrieben. 23 Bosnien, ungleich Spanien oder Ägypten, war niemals Zentrum eines islamischen Staats und beherbergte folglich niemals einen einer monumentalen Residenz würdigen Souverän. 258 Maximilian Hartmuth ken dieses Flirts. Dass europäische und armenische Architekten federführend in diesem Revival waren, mag erwähnenswert sein, wahrscheinlich aber nicht ausschlaggebend. Akzeptanz eines Identitätsentwurfs oder Anbiederung an die Obrigkeit? Dass sich die Wahrnehmung des Stils durch Vertreter des ‘Zentrums’ recht gut rekonstruieren lässt, habe ich bereits an anderer Stelle belegt. 24 Zu wenig deutlich gestellt wird hingegen traditionell die Frage seiner Wahrnehmung durch Vertreter der ‘Peripherie’. In der Literatur wird etwa keine einzige Äußerung eines zeitgenössischen Einheimischen zitiert, die darüber Aufschluss geben würde, wie der orientalisierende Stil von bosnischen Muslimen rezipiert wurde - obwohl er ja traditionell (und wohl auch zu Recht) als eine Geste in deren Richtung gedeutet wird. Offene Kritik tritt scheinbar eher in deutschsprachigen Texten als in landessprachlichen zu Tage. 25 Dass das in der Regel in den Jahren vor dem Weltkrieg passiert, hat wohl mit der neuerlichen Verfügbarkeit nichthistoristischer Modi einerseits zu tun, mit der besseren Bekanntheit tatsächlich bosnischer Bautraditionen auf der anderen. Zu wenig Beachtung wurde jedenfalls der Tatsache geschenkt, dass sich nicht nur kakanische ‘Expats’ Wohnhäuser im orientalisierenden Stil planen ließen, 26 sondern auch bosnische Muslime. Besonders spannend sind dabei Projekte im Dunstkreis der Familie Fadilpašić; diese gehörte zu den wenigen Muslimen, die während der österreichisch-ungarischen Herrschaft ihren Landbesitz sogar ausbauen konnten. Mustaj-beg (oder Mustafa) Fadilpašić gehörte trotz 24 Vgl. Hartmuth, Maximilian: Insufficiently Oriental? An early episode in the study and preservation of the Ottoman architectural heritage in the Balkans. In: Ders. / Dilsiz, Ayşe (Hg.): Monuments, Patrons, Contexts. Papers on Ottoman Europe presented to Machiel Kiel. Leiden: Netherlands Institute for the Near East 2010, pp. 171-84; Ders.: K.(u.)k. colonial? Contextualizing architecture and urbanism in Bosnia-Herzegovina, 1878-1918. In: Ruthner, Clemens et al. (Hg.: ) WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878-1918. New York: P. Lang, 2015 (= Austrian Culture Series), pp. 155-184; Ders.: Between Vienna and Istanbul. Imperial legacies, visual identities, and "popular" and "high" layers of architectural discourse in/ on Sarajevo, c.1900 and 2000. In: Ders. / Sindbaek, Tea (Hg.): Images of imperial legacy. Modern discourses on the social and cultural impact of Ottoman and Habsburg rule in Southeast Europe. Münster: LIT 2011, pp. 79-104. 25 Siehe wiederum als Beispiel das Eingangszitat. 26 Man denke etwa an die frühe „Villa Hörmann“ (um 1890) des einstigen Landesmuseums-Direktors oder die Villa des Uhrmachers Karl Langer (1893, heute Botschaft der Türkei). Amtssprache Maurisch? 259 seiner firmen Verortung in Strukturen und Institutionen des spätosmanischen ‘Zentrums’ und des Islams zu den bedeutendsten power brokers des späten 19. Jahrhunderts in Bosnien. Er half, einen relativ reibungslosen Übergang von osmanischer zu habsburgischer Landesherrschaft herbeizuführen und sicherte sich damit einen Platz an der Sonne. Zwischen 1878 und seinem Tod im Jahre 1892 durfte der Großgrundbesitzer, der eine Abstammung vom Propheten reklamierte, das Bürgermeisteramt in Sarajevo bekleiden. 1883 wurde er auch zum Präsidenten der „Vakuf-Commission“ ernannt, deren Ziel die effiziente(re) Verwaltung islamischer Stiftungsgüter war. 27 Höher hinaus konnte man im damaligen Bosnien als Muslim wohl nicht. Das Wohnhaus am Miljacka-Ufer (Abb. 6-11), das sowohl ihm (obwohl bereits verblichen) als auch seiner Witwe Nuri(hanuma) zugeschrieben wird, entstand um 1903. Für die Pläne verantwortlich zeigte sich der aus dem Innviertel gebürtige und an der Salzburger Kunstgewerbeschule als Architekt ausgebildete Ludwig Huber. 28 Er gehörte zu jenen jungen Talentierten, die im Hochbaudepartment der Baudirektion in Sarajevo unterkamen. 29 Das Projekt für die Familie Fadilpašić erledigte er augenscheinlich als Privatauftrag. Seine Bauzeichnungen wurden 1908 in der Wiener Bauindustrie Zeitung veröffentlicht, wenngleich mit falscher Ortsangabe (nämlich Travnik statt Sarajevo) und leider auch nahezu kommentarlos. 30 Sie zeigen ein auf die Miljacka orientiertes Wohnhaus mit drei Geschossen (Keller, Hochparterre, Obergeschoss) und einem Haupteingang auf einer Freitreppe an der dem Fluss abgewandten Gebäudeseite (Abb. 8). Das relativ flache, mit Tonziegeln gedeckte Dach erinnert nicht als einziges Element an die Alhambra-Ästhetik. Zwillingsfenster und dekorativ aufgefüllte Rahmungen (Spanisch alfiz ) oberhalb der Fensteröffnungen sind ein noch deutlicherer Hinweis auf Hubers Ausrichtung auf dieses Formvokabular. Das dekorative Füllmaterial gibt allerdings Rätsel auf. Die gerahmte Fläche oberhalb der Rundbögen ist mit Lilien bereichert (Abb. 9), einer bereits in mittelalterlichen Ikonografien nachweisbaren Zwiebelpflanze, die schließlich zum Symbol bosnischer Eigenheit stilisiert wurde. 31 Ist diese Ikonografie mög- 27 Zu den Fadilpašići s. Kamberović, Husnija: Begovski zemljišni posjedi u Bosni i Hercegovini od 1878. do 1918. godine. Zagreb: Hrvatski Inst. za Povijest 2003, pp. 327 ff.; Donia, Robert J.: Sarajevo. A Biografy. Ann Arbor: Univ. of Michigan Press 2006, pp. 42-44 u. 74. Zum bosnisch-islamischen Stiftungswesen und österreichisch-ungarische Zugänge vgl. etwa Schmid 1914, p. 676-685. 28 Das scheint angesichts der häufigen Herkunft der in Sarajevo arbeitenden Architekten aus den böhmischen und kroatischen Kronländern erwähnenswert. 29 Zu Huber und dem erwähnten Objekt siehe grundsätzlich Krzović 1987, pp. 131, 220, 248. 30 In: Wiener Bauindustrie Zeitung XXV (1908), nr. 44., pp. 417-430. 31 Wegen ihrer Assoziation mit den bosnischen Muslimen lehnten bosnische Serben und Kroaten allerdings zuletzt die Verwendung als Statussymbol ab. 260 Maximilian Hartmuth licherweise buchstäblich als Ausdruck der Akzeptanz einer von der Landesregierung propagierten gesamtbosnischen Identität ( bošnjaštvo ) zu verstehen, die die Vereinnahmung der katholischen und orthodoxen Bevölkerung durch kroatische und serbische Nationalismen abwenden sollte? Die dazugehörige Geschichtstheorie wollte die bosnischen Beg-Familien als Nachfahren zum Islam konvertierter Feudalherren der vorosmanischen Epoche verstehen - also quasi als angestammte Adelige eines Bosnien, das sich durch diese Kontinuität seine Eigenständigkeit von benachbarten Nationen bewahren konnte, und folglich nicht auf legitime Weise durch diese vereinnahmt. 32 Die Wiener Bauindustrie Zeitung klärt die Umstände der Verwendung dieses Motivs jedenfalls nicht auf. Sie betont nur, dass es sich hierbei um ein „allen Anforderungen westländischen Komforts entsprechende[s] Einfamilienhaus“ handelt, das „in den Schmuckformen der heimischen [! ] Bauweise gehalten“ ist. 33 Die Unterschiede zu ebendieser sind natürlich enorm, auch abseits der Dekorfolie. Statt einer Einsicht verunmöglichenden Mauer trennt das Privatgrundstück vom öffentlichen Raum ein niedriger schmiedeeiserner Zaun auf einer steinernen Einfriedung, der eine der Tradition entgegenlaufende Transparenz zu schaffen scheint. Der althergebrachte Erker (Türkisch çıkma ), der unentdeckte Blicke vom privaten in den öffentlichen Raum gestattete, wird von vergleichsweise exhibitionistischen Loggias mit Brüstungen (Hochparterre) oder kunstvollen Steinbalustraden (Obergeschoss, Abb. 10) abgelöst. Das Souterrain, das durch einen ebenerdigen Seiteneingang erschlossen wurde, war mit Küche, Bad, Wäsche und Speicher wohl dem Personal vorbehalten. Die fehlende Symmetrie wird vom Architekten geschickt dadurch kaschiert, dass der westliche Gebäudeteil zurückspringt, wobei seine vorgebliche Eigenständigkeit noch durch getrennte Dachkonstruktionen unterstrichen wird. Die Existenz von zwei Treppenanlagen im Gebäudeinneren (vgl. Abb. 11) - eine dreiläufige im östlichen, repräsentativeren Hausteil, eine zweiläufige im östlichen - mag zunächst den Schluss nahelegen, Letztere wäre dem Personal vorbehalten gewesen. Tatsächlich mag es sich hier jedoch um eine Fusion von zwei traditionellen Wohnkomplexhälften handeln: dem männlichen/ öffentlichen (türk. selamlık ) und dem weiblichen/ privaten ( haremlik ). Angesehene Muslime ließen auch unter habsburgischer Herrschaft nicht von dieser Konvention ab und errichteten getrennte Stiegenhäuser. 34 Im Hauptteil des Hauses öff- 32 Zur offiziösen Geschichtsthese vgl. Thallóczy, Ludwig von: Geschichte In: Kronprinzenwerk 1901, pp. 179-276. 33 In: Wiener Bauindustrie Zeitung XVI (1909), nr. 1, pp. 339-342. 34 Aufschlussreich hierzu die Erläuterungen zum Familienwohnhaus des Hamid-aga Husedjinović in Banjaluka von Josip Vancaš. In: Bautechniker , XXXV (1915), nr. 25, p. 193f. Amtssprache Maurisch? 261 nen sich auf beiden Geschossen alle Zimmer auf einen zentralen Verteilerraum, der auch auf den Planzeichnungen eindeutig als „Divanhana“ gekennzeichnet ist. Dabei handelt es sich um einen im Türkischen eher als sofa bekannten großen und in der Regel repräsentativen Binnenraum, wie er für spätosmanische Notablenquartiere typisch ist. 35 Dessen traditionelle Erweiterung in Richtung eines durchfensterten Rezesses (türk. şahnişin ) findet sich auch hier, ist nach außen allerdings nicht als Erker, sondern als Loggia artikuliert. Die europäisch-orientalisierende Ästhetik der Fassaden täuscht also über ein konservatives Raumprogramm hinweg. Mitglieder der Familie gaben bei Huber auch ein Haus in Travnik in Auftrag, das ebenfalls in der Wiener Bauindustrie Zeitung publiziert wurde. 36 Sie besaßen ein weiteres Haus im „maurischen“ Stil im Sarajevoer Kur- und Vorort Ilidža. 37 Mehmed-beg Fadilpašić, ließ sich in Sarajevo um 1910 schließlich ein Haus im aufkommenden bosnischen „Heimatschutzstil“ (landessprachl.: bosanski slog ) planen. Das mag anzeigen, dass Identitätsangebote von außen im Kreis dieser Familie weiterhin bereitwillig aufgenommen wurden. 38 Schluss Die eingangs angeführten Beispiele belegen, dass es im öffentlichen Bauprogramm keine konsequente Verwendung einer orientalisierenden Formensprache gab. Vielmehr beschränkt sich die stetige Anwendung des Stils auf Bauten für die muslimische Gemeinschaft einerseits, und andererseits auf die konkrete Bauaufgabe ‘Rathaus’. Demgegenüber wurde er für ein breites Spektrum an Funktionstypen angewandt, aber eben nicht konsequent. Man möchte sagen, er stand in Bosnien neben mehreren Stilen einfach zu Verfügung. Welche Bedeutung seine Verwendung hatte, wird in - bislang noch sehr spärlichen - Fallstudien zu einzelnen Werken geklärt werden müssen. Pauschalurteile haben sich in diesem Zusammenhang wiederholt als bedingt zielführend erwiesen. Die anscheinend ausschließliche Verwendung des Stils durch den Staat und aus der Restmonarchie Gebürtige sowie durch die Stiftungsverwaltung und bosnische Muslime, nicht aber durch die Katholiken und Orthodoxen des Landes für private Projekte, suggeriert allerdings, dass der Stil sehr wohl bestimmte Konnotationen gehabt haben dürfte; nämlich als Stil der Obrigkeit und ihres 35 Für ein im Balkanraum gut dokumentiertes Beispiel des 19. Jhs. siehe Kojić, Branislav: Konaci i ćiflik Avzi paše u Bardovcu kod Skoplja. In: Zbornik zǎstite spomenika kulture 4-5 (1954), pp. 223-240. 36 In: Wiener Bauindustrie Zeitung XVI (1909), nr. 1, pp. 339-342. 37 Erwähnt, aber leider nicht abgebildet oder im Detail besprochen in Krzović 1987, p. 27. 38 Ibid., pp. 228, 245. 262 Maximilian Hartmuth Netzwerks. Er kam zwar gleichzeitig mit anderen zur Anwendung, aber eben nicht außerhalb dieses Bedeutungszusammenhangs. Die Fallstudie zum Wohnhaus der Fadilpašići am Miljacka-Ufer zeigt uns schließlich, wie trügerisch eine nur oberflächliche Analyse wichtiger Bauten sein könnte. 39 In einem nach europäischem Geschmack durchorganisierten Bauwerk verbirgt sich hinter einer Fassade im Stil des europäischen Orientalismus eine Raumstruktur, die darlegt, wie anpassungsfähig und konsensfreudig diese hybride Architektur sein konnte. Sie übersetzte Überliefertes in neue Bautechniken und Modernitäten. Die maurisch-mamlukische Formensprache als historisches Missverständnis der bodenständigen Tradition zu bezeichnen, 40 verkennt einerseits die Internationalität dieses Stils, ungeachtet seiner dezentralen Bedeutungserlangungen, andererseits die gleichzeitige Popularität desselben Repertoires in der Hauptstadt jenes Reichs, das für die bosnischen Muslime weiterhin ein zentraler kultureller Bezugspunkt blieb. 41 Abbildungsteil: 39 Für ähnliche Erkenntnisse im Rahmen einer Fallstudie zu einem nicht-orientalisierendem Bauwerk vgl. Hartmuth, Maximilian: The Habsburg Landesmuseum in Sarajevo in its ideological and architectural contexts. A reinterpretation. In: Centropa XII (2012), nr. 2, pp. 194-205. Weitere Fallstudien zum Thema werden im Rahmen des in Fußnote 1 erwähnten Projekts zwischen 2018 und 2023 erarbeitet. 40 Exemplarisch dazu Bublin, Mehmed: Gradovi Bosne i Hercegovine. Milenijum razvoja i godine urbicida / The Cities of Bosnia and Herzegovina. A millennium of Development and the years of urbicide. Sarajevo: Sarajevo Publ. 1999, p. 103. 41 Rezent dazu Anna MacSweeney: Versions and Visions of the Alhambra in the Nineteenth-Century Ottoman World. In: West 86th XXII (2015), nr. 1, pp. 44-69. Abb. 4. Sarajevo, Erstes Landesregierungsgebäude („Regierungs-Palais“), Ansicht der Hauptfassade (Quelle: Der Bautechniker XV [1895], p. 416). Amtssprache Maurisch? 263 Abb. 5. Sarajevo, Erstes Landesregierungsgebäude, Grundriss Erdgeschoss (Quelle: Der Bautechniker XV [1895], p. 415). Abb. 6. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Fotografie (Quelle: Wiener Bauindustrie Zeitung XXV [1908], p. 417). 264 Maximilian Hartmuth Abb. 8. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Schnitt (Quelle: Wiener Bauindustrie Zeitung XXV [1908], p. 421). Abb. 7. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Rückansicht (Quelle: Wiener Bauindustrie Zeitung XXV [1908], p. 419). Amtssprache Maurisch? 265 Abb. 9. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Detail (Quelle: Wiener Bauindustrie Zeitung XXV [1908], p. 430). 266 Maximilian Hartmuth Abb. 10. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Detail (Quelle: Wiener Bauindustrie Zeitung XXV [1908], p. 428). Abb. 11. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Grundriss (Quelle: Wiener Bauindustrie Zeitung XXV [1908], p. 421). ABBILDER Besetzungen (2) 269 Besetzungen (2) Anverwandlung der Orte, Neuformatierung der Fremde(n) Clemens Ruthner (Dublin/ Ljubljana) Džemal Sokolović gewidmet Einige Jahre nach der Jahrhundertwende kommt der Reichsdeutsche Bernhard Wieman auf Einladung eines österreichischen Freundes nach Bosnien-Herzegowina. Er schreibt über Konjic, eine Kleinstadt am Neretva-Fluss: Das ist eine fremde, schöne Stadt, eine Stadt so ganz anders, als ich sie bislang gesehen habe, eine schöne Sonnenstadt. Das Wasser der Narenta hat eine wunderbare Bläue; aus weißen Steinhäusern mit grauroten Dächern leuchten die Minarets, und eine hohe, vierbogige Brücke wird gleich unser Weg sein; jenseits des Flusses erheben sich kleine, kahle Berge mit niedrigem Grün, und dahinter sehe ich höhere Gipfel vom schimmerndem Himmel sich abheben. 1 Hier steht pittoreske topografische Schönheit im Zentrum, und der romantisierte k. u. k. Orient 2 wird zu einem deutschen Postkartenidyll in geistiger Verwandtschaft zu Karl May. Wieman schreibt weiter: „Die Hercegovina ist die lichte, ungemein reizvolle Schwester von Montenegro, eines finsteren Bruders.“ 3 Diese Gegenüberstellung mit der Nachbarregion Crna Gora scheint nicht zufällig: Erstere ist ‘unser’, letztere Feindterritorium; die „lichte“ ehemals osmanische Provinz steht nämlich seit 1878 unter österreichisch-ungarischer Verwaltung, die andere nicht und ist gleichsam noch den dark ages zugehörig. 1 Wieman, Bernard: Bosnisches Tagebuch. Kempten, München: Kösel 1908, p. 91.- Narenta ist der italienische Name für die Neretva, den wichtigsten Fluss der Herzegowina. 2 Vgl. dazu Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes: Uses of Orientalism in the Late 19th-Century Austro-Hungarian Empire. In: Hodkinson James et al. (Hg.): Deploying Orientalism in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Rochester: Camden House 2013, pp. 148-165. 3 Wieman 1908, p. 214. 270 Clemens Ruthner In einer anderen, der Okkupation noch zeitnahen Quelle ist indes die Rede davon, wie dieselbe Stadt wohl seit der Römerzeit bekannt, aber arg von einstiger Größe herabgekommen sei: Noch vor einigen Jahrzehnten erfreute sich Konjitza eines bedeutenden Handels, heute führt es nur mehr seine Pferdedecken und sein treffliches Obst in jenen flachen Booten bis Mostar hinunter. Auch seine Einwohnerschaft ist auf ungefähr 1500 Seelen zusammengeschmolzen, meist Türken und kaum 50 Katholiken und auch an den Gebäuden sieht man bereits den Verfall, besonders am linken Ufer, im eigentlichen türkischen Stadttheil. 4 Dieses Zitat entstammt einem umfänglichen Reisebericht, den János von Asbóth ( 1845-1911), Sektionsrat im österreichisch-ungarischen Außenministerium und Abgeordneter zum Budapester Parlament, 1888 veröffentlicht hat. Dabei handelt es sich um eine in mehrere Sprachen übersetzte Auftragsarbeit für seinen persönlichen Freund Benjamin von Kállay, den k. u. k. Finanzminister und langjährigen Gouverneur der besetzten Gebiete auf dem Westbalkan, die wohl als P.R.-Arbeit für die Notwendigkeit dieser Fremdadministration gedacht war. 5 In Fortsetzung früherer bzw. paralleler imagologischer Arbeiten 6 soll nun die Generalthese meines Beitrags - die von ‘außen’ erfolgende hegemoniale 4 Asbóth, Johann [János] von: Bosnien und die Herzegowina. Reisebilder und Skizzen . Wien: A. Hölder 1888, p. 238. 5 Vgl. dazu den Beitrag von Robert Donia zum vorliegenden Sammelband (S. 147). 6 Vgl. Ruthner, Clemens: Besetzungen. A Post/ Colonial Reading of Austro-Hungarian and German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878-1918. In: Ders. et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austro-Hungary, Bosnia-Herzegovina and the Western Balkans, 1878-1918. New York et al.: P. Lang 2015 (= Austrian Culture Series 24), pp. 221-242; Ders.: UmgangsFormen. Konstruktionen der bosnischen Fremde(n) in österr. Kolonialtexten um 1900. In: Preljević, Vahidin et al. (Hg.): Nähe und Distanz in der Wiener Jahrhundertwende. Würzburg: Königshausen & Neumann i.V. Vgl. auch Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnografischen Populärliteratur der Habsburger Monarchie. In: Csáky, Moritz et al. (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck: Studienverlag 2003, pp. 259-288; Smolej, Tone: The Image of Bosnia and Herzegovina (1875—1882) in Slovene Literature. In: Blažević, Zrinka / Brković, Ivana / Dukić, Davor (Hg.): History as a Foreign Country / Geschichte als ein fremdes Land. Historical Imagery in the South-Eastern Europe/ Historische Bilder in Süd-Ost Europa. Bonn: Bouvier 2015, pp. 147-162; Ruthner, Clemens: Habsburgs ‘Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur imperialen österreichischen Literatur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018 (der vorl. Beitrag ist leicht verändert Kap. C.2. dieser Monografie entnommen); Teller, Katalin: „Der heißblütige Dalmatiner“. Reiseschriftsteller/ innen in Dalmatien und Bosnien-Hercegovina vom Ende des 19. bis zum frühen 20. Jh. In: Dies. / Millner, Alexandra (Hg.): Transdifferenz und Transkulturalität. Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns. Bielefeld: transcript 2018, pp. 361-378; Šístek, František: Under the Slavic Crescent. Representations of Bosnian Muslims in Czech literature, travelogues and Besetzungen (2) 271 Formatierung von ‘eingeborenen’ Topografien und ethnisierten Identitäten im Zuge der k. u. k. Landnahme in Bosnien-Herzegowina 1878-1918 - aus Gründen der Korpus-Übersichtlichkeit anhand eben jenes kleinen und verhältnismäßig unbedeutenden Zwischen-Ortes exemplifiziert werden: Konjic(a) 7 auf halbem Weg von Sarajevo nach Mostar, eine „natürliche[.] Grenzstation zwischen Bosnien und der Hercegovina“ 8 . An den Veränderungen in den erhalten gebliebenen Stadtbeschreibungen in österreichischen und reichsdeutschen Texten wird nicht nur ein genereller sozio-kultureller Wandel sichtbar, sondern auch das Wunschdenken der k. u. k. Besatzer, die sich die Stadt zumindest in der Darstellung einverleibten und anverwandelten in Form eines symbolischen Kolonialismus der Fremd-Bilder: 9 ‘Besetzungen’ nicht nur im militärischen, sondern auch in einem semantischen Sinne. Dies wird im nächsten Zitat evident, das aus dem ersten österreichischen Automobilreiseführer für die Region stammt, der ebenso wie Wiemans Buch 1908 erschien, dem Jahr der Annexion Bosnien-Herzegowinas durch die Habsburger-Monarchie: Konjica ist ein malerisches türkisches Nest: Moscheen, Minaretts, Basare, Mangel an Reinlichkeit. Ueber eine aus mächtigen Quadern gefügte alte Türkenbrücke fuhren wir in die Stadt ein. ,Ui jegerl, a Auto aus Wien! ‘ klang es da. Ein Deutschmeister war es aus der dort lagernden Garnison, der offenbar aus der Nummer unseren Heimatsort erkannt hatte. 10 Wohl wird Konjic hier ebenfalls als pittoresk konstruiert; die „fremde schöne Stadt“ des Deutschen Wieman wird aber aus österreichischer Perspektive zum „Nest“. Daneben kommt noch ein wichtiger propagandistischer Topos von memoirs, 1878-1918. In: Ders. (Hg): Central Europe and Balkan Muslims. Relations and Representations. New York: Berghahn i.V. [2018/ 19]; weiters Šísteks folgenden Beitrag im vorl. Sammelband. Vgl. außerdem Justnik, Herbert / Floch, Veronika (Hg.): Gestellt. Fotografie als Werkzeug in der Habsburgermonarchie [Ausstellungskatalog]. Wien: Österr. Museum für Volkskunde 2014. 7 Die untersuchten Texte verwenden meist die alte Schreibweise mit einem -a am Ende. 8 Preindlsberger-Mrazović, Milena : Bosnisches Skizzenbuch. Landschafts- und Kultur-Bilder aus Bosnien und der Hercegovina. Illustr. von Ludwig Hans Fischer. Dresden, Leipzig: E. Pierson 1900, p. 258. 9 Interessanter wäre in der Tat eine diachrone Analyse von imagines der Hauptstadt Sarajevo gewesen, das sich in den österreichischen und reichsdeutschen Texten vom Kriegsschauplatz 1878 zum Musterbeispiel einer mehr oder weniger gelungenen Synthese aus Orient und Okzident um 1900 entwickelt. Da dies aus Platzgründen hier kaum zu leisten wäre, wurde auf die Stadt und Region Konjic zurückgegriffen, zumal dort eine ähnliche diskursive Entwicklung festzustellen ist. 10 Filius [pseud.]: Eine Automobilreise durch Bosnien, die Herzegowina und Dalmatien. Reiseschilderung für Automobilisten mit 63 Abbildungen. Wien: Beck [1908], p. 56. 272 Clemens Ruthner Orient-Reiseberichten zum Einsatz: ,mangelnde Hygiene‘, die kontrastiert wird mit dem Heimischen, dem Vertrauten - der Erleichterung, die Heimat und ihre Sprache wieder zu finden, hier in Gestalt eines k. u. k. Besatzungssoldaten. Nicht umsonst ist der Reiseführer bemüht darauf hinzuweisen, wie vorteilhaft sich die österreichisch-ungarische Verwaltung auf die Sicherheitssituation ausgewirkt habe, die eine nunmehrige touristische Befahrung mit dem Automobil erst ermögliche. Schon in Prijedor bemerkt der automobile Autor: ‘Hotel zum Kaiser von Oesterreich’: Wie wohltuend sich die Aufschrift auf dem modernen Hotel ausnahm. Aber die Enttäuschung folgte rasch: ‘Alles besetzt; vielleicht in der Bahnhofrestauration.’ Wir fuhren mit gemischten Gefühlen dorthin, doch wir fanden Zimmer, die zur Not ganz behaglich waren, das Essen war sogar ausgezeichnet, und man schnitt uns nicht einmal die Gurgeln ab […]. 11 Einmal mehr wird hier klar, dass es den ‘Orient’ in zeitgenössischen westlichen Diskursen nicht nur immer als Plural stark divergierender Vorstellungen gibt, 12 sondern auch als ambivalentes Kippbild im Auge des Betrachtenden, das wie bei jedem othering in der abenteuerlichen Zirkelbewegung zwischen blutdürstigem ,Barbaren‘ und ,edlem Wilden‘, zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen Angst und Begehren gefangen scheint. 13 Die Anverwandlung und Eingemeindung des Fremden ins Heimische wird indes auch im folgenden Textzitat aus dem Jahr 1896 thematisiert, wofür ebenso das Motiv der Gastronomie strategisch eingesetzt wird: Es haben sich in diesem einst durch den Fanatismus seiner Bevölkerung berüchtigten Orte eine Menge Fremde niedergelassen und mehrere Gasthäuser (,Elephant‘, ,König von Ungarn‘, ,Kaiser von Oesterreich‘ und besonders die Bahnhofsrestauration) bieten eine ganz gute Verpflegung. Als ich im Jahre 1885 einmal in Konjica übernachtete, genoss das Gasthaus ,zum Kaiser von Oesterreich‘ durch seine dicke Wirtin, die 11 Vgl. ibid., p. 25. 12 Vgl. Stoll, André: Nachwort. In: Gustave Flaubert: Reise in den Orient. Hg. and übers. Reinhold Werner and André Stoll. Frankfurt/ M.: Insel 1996 (= it 1866), pp. 363-414; Said, Edward: Orientalism. Western Conceptions of the Orient [1979]. Harmondsworth: Penguin Books 2 1995; Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jh . Berlin, New York: de Gruyter 2005 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35/ 269). 13 Vgl. dazu Ruthner, Clemens: “Stereotype as a Suture”. Zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Konzeptualisierung ‘nationaler’ Bilderwelten. In: Fassmann, Heinz et al. (ed.): Kulturen der Differenz - Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven. Göttingen: V&R unipress / Vienna University Press 2009, pp. 301-322; Bhabha, Homi: The Other Question. Stereotype, Discrimination and the Discourse of Colonialism. In: Ders.: The Location of Culture. London, New York: Routledge 1994, pp. 94-120. Besetzungen (2) 273 ,Schmauswaberl‘, in der ganzen Hercegovina einen wohlverdienten Ruf. Nicht etwa durch die Schönheit der Wirtin, denn diese war sehr negativer Natur, sondern durch die vorzügliche Küche. Die Lachsforellen aus der Narenta wurden unter ihrer Hand zu einer Delikatesse, welche das Herz jedes Feinschmeckers befriedigen musste. 14 Hier wird der k. u. k. ‘Zivilisationsprozess’ bereits als nahezu abgeschlossene success story erzählt, als eine gelungene gastronomische Amalgamierung nämlich. Das Fremde wird damit zumindest im Gasthaus dem Heimischen näher gerückt und verschmilzt mit ihm, das „türkische Nest“ ist dadurch zumindest teilweise (schon 12 Jahre vor Wieman und ,Filius‘! ) ein zweites Zuhause geworden - in einer Formulierung, die das Nörgeln des schlechten österreichischen Nachkriegstouristen Travnicek in den Kabarett-Sketches von Helmut Qualtinger und Gerhard Bronner aus den 1960er Jahren vorwegzunehmen scheint. Um den Neretva-Fisch zur Delikatesse zu machen, bedarf es freilich der kundigen Hand der dicken österreichischen Wirtin, der man(n) in der Fremde ihre Unansehnlichkeit nachsieht - in einer Form des gendering , das strukturbildend die meisten Bilder des Eigenen und Anderen in kolonialen Diskursen intersektional durchzieht. 15 Mit dem ehemaligen (männlichen? ) „Fanatismus“ dieser exotischen Peripherie kontrastiert jetzt zentraleuropäische (Frauen-)Häuslichkeit und Küche - eine Sichtweise, die auch der Baedeker-Reiseführer jener Jahre zu teilen scheint: Konjica (279 m; gutes Bahnrest ., mit zwei Z.), Bezirksort (2000 Einw.) in einem malerischen Talkessel an der Narenta (Forellen), über die eine alte türkische Steinbrücke führt. Die Temperatur ist hier bereits im Durchschnitt 8° höher als in Sarajevo. Jablanica […] Militärstation mit Kaserne r. oberhalb der Station. Vom Krstac, östl. in 1 St. auf gutem Wege zu ersteigen, schöner Rundblick. 16 Auch die gebürtige Südslawin Milena Mrazović(-Preindlsberger), Journalistin und Herausgeberin der Bosnischen Post , unterschreibt mit ihrer reiseliterarischen Annäherung gleichsam den Diskurs der k. u. k. „Kulturmission“: „Dem kleinen, überwiegend muhamedanischen Städtchen kommen nur die Vorzüge der eben durchwanderten Strecke zugute. Ernste, grüne Hänge, duftende Thaleinschnitte, in welchen die Rebe und aromatisches Obst gedeiht.“ 17 Die Autorin 14 Renner, Heinrich: Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer. Wanderungen von H.R. Berlin: Reimer 1896, p. 230. 15 Vgl. exemplarisch etwa McClintock, Anne: Imperial Leather . London, New York: Routledge 1995; Stoler, Ann Laura: Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the Intimate in Colonial Rule. Berkeley, Los Angeles, London: Univ. of California Press 2002, 2 2010. 16 [Anonym]: Oesterreich-Ungarn. Leipzig: Baedeker 28 1910, p. 407. 17 Preindlsberger-Mrazović 1900, p. 257. 274 Clemens Ruthner betont „das freundliche Aussehen des Ortes“ und seine „Holzindustrie“. 18 Die neue koloniale Infrastruktur wird in ihrer Darstellung zum zivilen Pazifizierungsprojekt, das die Gewalttätigkeit und den Niedergang früherer (türkischer) Zeiten beseitigt: Und was der Türkei in jahrhundertelangen, blutigen Kämpfen nicht gelang, die frondierende Hercegovina sich völlig zu unterwerfen, das gelang den modernen Kulturmitteln leicht. Es giebt keine Verkehrshindernisse mehr. [ ] Aus den halsstarrigen Hajducken sind harmlose Eisenbahn-Passagiere geworden, aus den scheu gemiedenen hercegovinischen Bergen ein modernes Touristengebiet. 19 Doch die Region war eben nicht immer so friedlich, domestiziert und multikulturell, wie sich auch der Berliner Journalist Heinrich Renner in einem historischen Rückgriff noch einmal hinzuzufügen beeilt: Die erhoffte Ruhe trat nicht ein, und es währte nicht lange, so war die ganze Hercegovina und mit ihr Konjica in der Gewalt der Türken. An die Stelle der christlichen Unduldsamkeit trat der mohammedanische Fanatismus. Aus den Wäldern und Schluchten kamen die gehetzten Bogumilen zum Vorschein, sie wurden Islamiten und erlangten die leitenden Stellungen. […] In Konjica war es auch, wo die zur Zeit der Insurrektion von 1878 aus Sarajevo ausgewiesenen Oesterreicher mit dem Generalkonsul Wassitsch in der Nacht aufgehalten und mit der Niedermetzelung bedroht wurden. 20 Neben dem Verweis auf den Aufstand gegen die Okkupation von 1878 kommt eines der meiststrapazierten regionalen Narrative als spekulatives Erklärungsmodell ins Spiel: die Bogumilen, eine manichäische christliche Sekte, die in vortürkischen Zeiten religiös verfolgt wurde und die hier - nach der erfolgten Zwangskonversion - als historische Folie für den besonderen islamischen Fundamentalismus der Einwohner von Konjic verantwortlich gemacht wird (während sie in anderen Texten als Beweisführung der unterschwellig christlichen Haltung der Bevölkerung und einer dadurch vereinfachten neuerlichen Mission instrumentalisiert wird). 21 18 Ibid. 19 Ibid., p. 261. 20 Renner 1896, p. 231. 21 Zu den Bogumilen vgl. etwa Asbóth 1888, pp. 23-118; Fine, John: The Bosnian Church. A New Interpretation. Boulder: East European Quarterly / New York: Columbia Univ. Press 1975; Džaja, Srećko M.: Bogomilen. In: Hösch, Edgar / Nehring, Karl / Sundhaussen, Holm (Hg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. München: Oldenbourg 2004; Imamović, Mustafa: Bosnia and Herzegovina. Evolution of its Political and Legal Institutions. Sarajevo: Magistrat 2006, p. 76ff. Besetzungen (2) 275 Wie auch immer, die neue Haut der ‘Zivilisation’, die über die grausame Geschichte wächst, scheint mitunter dünn, d. h. man muss ihr zuarbeiten; dennoch ist der Besitzerstolz unüberhörbar. Quasi als Kontrollmenge zum Sicherheits- und Gastronomie-Diskurs der bereits erwähnten Texte sei auch noch Renners Beschreibung des nahe gelegenen Ortes Jablanica zitiert: Eine Kaserne beherbergt den bewaffneten Schutz, doch er ist bei der Bevölkerung nicht mehr nöthig. […] Als ich vor langen Jahren nach Jablanica kam, sah es hier ganz anders aus; in einem Han fand ich türkisches Unterkommen mit sehr viel Ungeziefer. 1885 traf ich ein grosses Truppenlager. Eine Kärntnerin hielt ein Gasthaus […]. 1894 hatte sich aus den provisorischen Fortschritten der dauernde entwickelt. Jablanica ist ein Luftkurort ersten Ranges, und in vieler Hinsicht wird man an schweizerische und Tiroler Sommerfrischen in den Hochalpen erinnert. 22 In Texten wie diesem - aber auch den anderen erwähnten - wird also fast wie in einem reißerischen Verkaufsprospekt ein ,Vorher‘ und ,Nachher‘ erzählt: aus der ungezieferverseuchten türkischen Hochburg ist nach der militärischen Intervention eine k. u. k. Sommerfrische geworden; auch hier hat ein weiblich geführtes Gasthaus seinen Einzug gehalten. So kann denn auch der Reiseführer Dalmatien. Ein modernes Reiseziel (1908) auf einem empfohlenen Abstecher nach Bosnien-Herzegowina schwärmen: Die Sehenswürdigkeiten dieses Landes sind geeignet, jeden, selbst den verwöhntesten Touristen vollends zu befriedigen und was die Unterkunfts-, Verköstigungs- und Reiseverhältnisse betrifft, lassen diese nichts zu wünschen übrig. Die Landesregierung errichtete an allen frequenten Punkten komfortable Hôtels, es existieren im Lande zahlreiche Bahnverbindungen mit bequemen Durchgangs- und Schlafwagen, überall sind gute Fiaker zu finden, und der Tourist kann im ganzen Lande, selbst in den früher verrufensten Gegenden, unbewaffnet und ohne Bedeckung seinen Weg verfolgen. 23 Die Folgen des Kulturkontakts und -transfers sind wie angedeutet Synkretismen aller Art (die andere Autor/ inn/ en 24 bei aller Freude über den Zivilisationsprozess wiederum den Verlust der autochtonen Exotik beklagen lassen - die klassische Ambivalenz kolonialer Reiseliteratur). Als etwa der Militär Alfred Trendl 22 Ibid, p. 238. 23 [Anonym]: Dalmatien. Ein modernes Reiseziel. Wien: G. Gruber 1908, p. 24. 24 Vgl. etwa Preindlsberger-Mrazović 1900, p. 2 (über Sarajevo): „Fast enttäuscht merkt dies der Fremde, der sich von dem ersten Schritte in Bosnien bereits die Sensation des Fremden, Aussergewöhnlichen versprach. In den hohen, eleganten Räumen des maurisch-byzantinischen Bahnhofgebäudes, das den neuen bosnischen Baustyl repräsentiert, der abendländischen Komfort in morgenländischer Art ausdrücken soll, umflutet vom Auerlichte und dem gewohnten Bahnhoftreiben, wird man kaum durch mehr als vereinzelt auftauchende orientalische Gewänder an den Osten gemahnt.“ 276 Clemens Ruthner kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Konjic kommt, koexistieren die kulturellen Medien des Abendwie des Morgenlandes, der Moderne und Vormoderne schon augenscheinlich gut neben- und miteinander: Was soll ich noch erzählen von so manchem lustigen Vorfall in Konjica, wo wir oft in türk. Kaffeehäuser sassen und Wiener Lieder sangen bis der Muezzin von einem benachbarten Minarett die Gläubigen zum Gebet rief, dann schwieg der Gesang und auch das Grammofon wurde abgestellt. 25 Den oft formulierten Topos der ‘Zivilisierung durch Eisenbahnbau’ wird übrigens auch nach dem Ersten Weltkrieg noch der prinzipiell kritische deutsche Sozialdemokrat Hermann Wendel auf seiner Reise durch Jugoslawien wiederholen. Wiewohl er prinzipiell Bosnien-Herzegowina als ehemalige „Kolonie“ sieht, „ein Stück Orient, künstlich von den Wiener Machthabern gehütet“, 26 ist Konjic doch auch so etwas wie eine Zivilisationsschwelle geworden, welche die mythische alte Wildnis, die im Hintergrund „dräut“, gleichsam in Schach hält: Am Bahnhofsgebäude dort steht Konjic in Lateinschrift und Kyrillika; Trauben und Aepfel und Zeitungen bieten sich zum Verkauf. Erbarmungslosere Wildheit dräut; das ist der Hercegoviner Karst. Unten schlüpft blau, grün und violett die Narenta, die Neretva durch Schluchten und Gründe; […] Ein zähneknirschender Gott mit zusammengezogenen Brauen schuf dieses Land. 27 * Diese zugegebenermaßen etwas kursorische Aneinanderreihung von Beispielen, die keinerlei Anspruch auf repräsentative Vollständigkeit erheben darf, zeigt dennoch, wie Städtebilder nicht nur durch spezifische historische Situationen und Prozesse, sondern vor allem durch eine zugrunde liegende politisch-narrative Rhetorik fast beliebig (re)konstruierbar bzw. umkodierbar sind; das Ergebnis“selektive[r] Wahrnehmung” 28 - wishful thinking - sind sie allemal. Dabei kommt ein bestimmtes - und offenkundig transkulturelles - Archiv von narrativen Topoi und Tropen gleichsam als Arsenal zum Einsatz. Bei einer Sichtung der vorhandenen Texte vor allem aus dem Bereich der Reiseliteratur über Konjic ist auffällig, dass die zugewiesenen Charakteristika 25 Trendl, Alfred: Meine Erinnerungen vom September 1911 bis November 1916. Wien: Privatbesitz [maschinschriftl. Abschrift durch den Autor von vier Kriegstagebüchern, unveröff.], s.p.- Ich danke Tamara Scheer für die Zugänglichmachung dieser Quelle. 26 Wendel, Hermann: Von Belgrad bis Bucari. Eine unphilosophische Reise durch Westserbien, Bosnien, Hercegovina Montenegro und Dalmatien. Frankfurt/ M.: Societäts-Druckerei 1922, p. 58. 27 Ibid., p. 61. 28 Bernhard, Veronika: Österreicher im Orient. Eine Bestandsaufnahme österreichischer Reiseliteratur im 19. Jh . Wien: Holzhausen 1996, p. 93. Besetzungen (2) 277 bei Ortsbeschreibungen häufig (intertextuell? ) koinzidieren, aber mitunter auch innerhalb kurzer Zeitabstände so stark von einander abweichen können, dass man den Eindruck erhält, es mit verschiedenen Orten zu tun zu haben. Eine kritische Untersuchung dieser Rekodierungen kann indes deren ideologischen Hintergrund sichtbar machen - in der Tat werden hier literarische Formen und ihre Rhetorik im Sinne des New Historicism als ,gesellschaftliche Poetik‘ eines österreichisch-ungarischen Ersatz-Kolonialismus lesbar. Wie geht man nun mit der Disparatheit, Zirkularität und Intertextualität dieser Bilder um? In vielen Fällen lässt sich die (kolonial)politische Motiviertheit dieser willkürlichen, von Außenbeobachtern projizierten Porträts zeigen, in anderen nicht. Die Topik bzw. Tropologie dieser Beschreibung liegt nicht unbedingt nur in der individuellen Psychologie, in der ,Subjektivität‘ schreibender Subjekte begründet, sondern in einer präexistenten Rhetorik ideologischer Narrative, welche die Autoren gleichsam im Rucksack mitbringen. Diese sind es, die eine kulturwissenschaftlich reorientierte Literaturwissenschaft zum Vorschein bringen kann, auch dort, wo sie im kulturellen Gedächtnis scheinbar verschwunden sind. Die Bilderwelten kultureller Narrative dienen freilich weniger der Darstellung fremder Menschen und Orte, als vielmehr - wie bereits oben, im ersten Teil angedeutet - eher der Selbstverständigung und Selbstversicherung der Hegemonialkultur, die Ausgangspunkt der Darstellung ist. Aus den Bosnien-Darstellungen österreichischer und reichsdeutscher Texte um 1900 erfahren wir also weniger über das k. u. k. Okkupationsgebiet, als über die Befindlichkeiten der Besatzer und Tourist/ inn/ en in ihrem Gefolge: über deren“politisches Unbewusstes” bzw.“soziales Imaginäres”. 29 Gleichzeitig kann gezeigt werden, wie ambivalent - d. h. von unterschwelligen Wünschen und Ängsten gezeichnet - und instabil die angestrebte symbolische Gewalt der narrativen Konstruktionen ist. Mit Bernhard Waldenfels ließe sich hier behaupten: „Jede Ordnung lässt in ihrer unumgänglichen Begrenztheit einen Überschuß an Fremdem entstehen, der in der jeweiligen Ordnung keinen Platz findet und zugleich verhindert, daß diese in sich selbst zur Ruhe kommt“. 30 So „dräut“ die ‘Wildnis’ auch weiterhin - und sei sie nur Projekt bzw. Projektion von ‘Kultur’ und ‘Zivilisation’. 29 Zu diesen Begriffen s. Jameson, Frederick: Das politische Unbewußte. Literatur als Symbol sozialen Handelns . Übers. von Ursula Bauer et al. Reinbek: Rowohlt 1988 (= rowohlt enzyklopädie) bzw. Castoriadis, Constantin: L’institution imaginaire de la société . Paris: Seuil 1975, p. 203. 30 Zit. n. Jamme, Christoph: Gibt es eine Wissenschaft des Fremden? Zur aktuellen Theoriedebatte zwischen Philosophie und Ethnologie. In: Därmann, Iris / Jamme, Christoph (Hg.): Fremderfahrung und Repräsentation. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, pp. 183-208, hier p. 186. Der slawische Halbmond 279 Der slawische Halbmond Tschechische Darstellungen bosnisch-herzegowinischer Muslime in Literatur, Reiseberichten und Memoiren (1878- 1918) František Šístek (Prag) Nach der Okkupation von 1878 waren von den drei großen ethnoreligiösen Gemeinschaften Bosnien-Herzegowinas aus der Sicht tschechischer Beobachter anfangs wohl die Muslime die kulturell fernsten, unbekanntesten, feindlichsten, aber auch die exotischsten. Zugleich stellten die örtlichen Anhänger des Islam aber auch die attraktivste und charakteristischste Besonderheit der besetzten Gebiete dar. In diesem Sinne wird die nun anschließende Erörterung vor allem auf die Diversifikation und Transformation jener Darstellungen bosnisch-herzegowinischer Muslime in tschechischer (Reise-)Literatur und Memoiren abheben. Nach einem kurzen Überblick über einschlägige Bilder und Stereotypen vor der Okkupation wird sich mein Aufsatz auf die ‘dunkle und blutige’ Zeit der Eroberung und Befriedung konzentrieren. In einem weiteren Abschnitt über das ‘goldene Zeitalter’ der habsburgischen civilizing mission zur Jahrhundertwende gilt meine besondere Aufmerksamkeit den existierenden Konzeptualisierungen der religiösen und nationalen Identität der bosnisch-herzegowinischen Muslime. Der letzte Abschnitt schließlich wird sich den Muslim-Bildern in den Texten des Künstlers und Gelehrten Ludvík Kuba sowie des Gendarmen František Valoušek widmen: zwei herausragende, wenn auch deutlich verschiedene Persönlichkeiten, die einen reichhaltigen Einblick in die Darstellung der Balkan-Muslime während der k. u. k. Herrschaft bieten. Abschließend wird die These kritisch reflektiert, wonach sich die gegenseitige Wahrnehmung (und Beziehung) der Tschechen und der Muslime, die sich nach 1878 plötzlich unter dem gemeinsamen Dach der Doppelmonarchie gefunden hatten, in Folge ihrer verstärkten Kontakte positiv von „Türken“ und „Schwaben“ hin zu „slawischen Brüdern“ entwickelt 1 habe. 1 Vgl. Ljuca, Adin: Turci a Švábové, nebo slovanští bratři? Český pohled na bosenské muslimy v letech 1878-1918. In: Moravcová, Mirjam / Svoboda, David / Šístek, František 280 František Šístek Tschechische Darstellungen der Balkan-Muslime vor der Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878 Das tschechische Lesepublikum war sich der Existenz von Muslimen auf dem Balkan schon vor 1878 bewusst; deren Darstellung lässt sich grob in mehrere Gruppen einteilen: Die tiefste Schicht war wohl mit dem kulturellen Gedächtnis der habsburgisch-osmanischen Konflikte in der Frühneuzeit verbunden. So hatte im südöstlichen Mähren, nicht weit von den ungarischen Gebieten, die von den Türken vor der Belagerung Wiens 1683 kontrolliert waren, die Erinnerung an osmanische Einfälle zahlreiche Spuren in der Folklore hinterlassen. Die Figur des „Türken“ (ununterscheidbar von jener des Muslims) war in lokalen Sagen und Volksliedern immer noch die Personifikation eines fremden, barbarischen und mörderischen Eindringlings: Bilder und Narrative, die als klassische Beispiele eines „Frontier Orientalism“ angesehen werden können, wie er vom österreichischen Anthropologen Andre Gingrich definiert worden ist. 2 Das Königreich Böhmen hingegen, das weiter im Nordwesten lag, hatte nie osmanische Angriffe erlebt. In diesem vergleichsweise urbanen, früh industrialisierten und ‘national erwachten’ Kronland waren Türkenbilder eher Gegenstand einer historischen Dekontextualisierung und Neuinterpretation im 19. Jahrhundert. Zwar erschien ‘der Türke’ immer noch in böhmischen Legenden und bildlichen Darstellungen; diese imaginäre Figur 3 wurde aber eher humoristisch und grotesk - oder einfach exotisch - porträtiert im Vergleich zum sprichwörtlichen Schreckbild der mährischen Volkstradition und der klassischen „Türkenliteratur“ ( turcica ) der Frühneuzeit. 4 Die jüngste Schicht einschlägiger Darstellungen der Muslime ist hingegen mit der Vorstellung slawischer Verwandtschaft und Solidarität verbunden, die ein integraler Bestandteil nationalistischer Diskurse im 19. Jahrhundert war. Die kollektive Selbstwahrnehmung der tschechischen Nation als Zweig einer weiter gefassten sprachlichen, kulturellen und ‘rassischen’ Gemeinschaft aller Slawen stimulierte auch ein andauerndes Interesse an den entsprechenden Balkanvölkern, die von tschechischen Autoren oft als „unsere Brüder aus dem Süden“ (Hg.): Pravda, láska a ti na „Východě“. Obrazy středoevropského a východoevropského prostoru z pohledu české společnosti . Prag: FHS UK 2006, pp. 122-134. 2 Gingrich, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World in Public and Popular Cultures of Central Europe. In: Baskar, Bojan / Brumen, B. (Hg.): Mediterranean Ethnological Summer School. Piran: Institut za multikulturne raziskave, pp. 99-127, hier pp. 117 ff. 3 Vgl. Jezernik, Božidar (Hg.): Imaginary Turk. Newcastle: Cambridge Scholars 2010. 4 Vgl. Rataj, Jan: České země ve stínu půlměsíce. Obraz Turka v raně novověké literatuře z českých zemí. Prag: Scriptorium 2002, pp. 289 ff. Der slawische Halbmond 281 bezeichnet wurden. Der anti-osmanische „Befreiungskampf“ der christlichen Südslawen wurde als eng verbunden mit den „nationalen Interessen“ ( národní zájem ) der Tschechen interpretiert. 5 Besonders in unruhigen Zeiten mit Aufständen und anderen Konflikten wurden jedoch die Balkan-Muslime tendenziell in stark negativer Färbung als Nachfahren asiatischer Invasoren und Orientalen dargestellt, die nicht die Werte und Normen der europäischen Moderne teilen würden. 6 Zugleich waren sich viele Autoren durchaus der Tatsache bewusst, dass die meisten Muslime auf dem Balkan die Nachfahren lokaler Konvertiten waren, die üblicherweise die selbe oder zumindest eine ähnliche Sprache benutzten wie ihre christlichen Nachbaren. Einige tschechische Autoren des 19. Jahrhunderts verglichen nun diese ‘Renegaten’ und ‘Verräter’ gerne mit jenen ‘schwachen’ und ‘schlechten’ Tschechen, die dem Druck der Germanisierung nachgegeben hatten; der Religionsübertritt zum Islam wurde so gemeinhin als Wechsel der nationalen Identität interpretiert. Die tschechische Haltung gegenüber den Balkan-Muslimen wies aber ebenso Elemente auf, die für den westlichen Orientalismus der Zeit charakteristisch waren. 7 So beruhte eine ganze Reihe von Texten und bildlichen Darstellungen mit unverkennbar orientalistischen Tendenzen eher auf dem Hörensagen als auf direkten Begegnungen und persönlichen Erfahrungen. 8 Andere Autoren wiederum schafften es, Berichte aus erster Hand mit dem orientalistischen Zeitgeist zu kombinieren. So bietet etwa der Dichter und Journalist Jan Neruda (1834-1891) mit seinem Feuilleton Na Uně [An der Una, 1868], das er später in seine Sammlung Obrazy z ciziny [Bilder aus dem Ausland] aufnahm, nachgerade ein Bilderbuch-Beispiel für eine orientalistische Schwarz-Weiß-Malerei kurz vor der k. u. k. Okkupation: Auf seiner Reise durch das habsburgisch-osmanische Grenzland betont der Autor den Kontrast zwischen beiden Flussufern, die aus seiner Sicht eine Zivilisationsgrenze darstellen. Trotz seiner Überzeugung, dass die Menschen im osmanischen Bosnien wie im habsburgischen Kroatien ebenso Mitglieder ein- und derselben ethnischen Gruppe ( národ ) wie auch die Namen der Grenzorte auf beiden Seiten identisch seien (wie z. B. „Österreichisch-Kostajnica“ gegenüber von „Türkisch-Kostajnica“), bleiben in Nerudas 5 Žáček, Václav et al.: Češi a Jihoslované v minulosti. Od nejstarších dob do roku 1918. Prag: Academia 1975, p. 376. 6 Vgl. Sobotková, Hana: The Image of Balkan Muslims in Czech and French Journals around 1900. In: Ellis, Steven G. / Klusáková, Luďa (Hg.): Imagining Frontiers, Contesting Identities. Pisa: Edizioni Plus / Pisa Univ. Press, pp. 339-351, hier p. 342. 7 Vgl. ibid., p. 349. 8 Vgl. dazu Šístek, František: Naša braća na jugu. Češke predstave o Crnoj Gori i Crnogorcima, 1830-2006. Cetinje, Podgorica: Matica crnogorska 2009, p. 74f.; Ders.: Junáci, horalé a lenoši. Obraz Černé Hory a Černohorců v české společnosti 1830-2006. Prag: Historický ústav 2011[a], p. 77f. 282 František Šístek Augen die Unterschiede immens. Auf der habsburgischen (christlichen) Seite ist alles sauber, ordentlich und gut organisiert; das „mohammedanische“ Flussufer indes ist bereits ein Vorposten des Orients, ein schmutziger Ort der Gewalt, Unordnung und Anarchie. 9 Die bildlichen Balkandarstellungen in der tschechischen Kultur (v. a. Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Dalmatien) waren wiederum stark vom Maler Jaroslav Čermák (1830-1878) beeinflusst. Der Künstler, der großteils in Belgien und Frankreich lebte, hatte auch mehrere Jahre im ‘slawischen Süden’ verbracht und das Dorf Mandaljena bei Ragusa (Dubrovnik) zeitweilig zu seinem Lebensmittelpunkt erkoren. Abgesehen von diversen Reisen in die Nachbarregionen nahm er auch aktiv am bewaffneten Konflikt Montenegros mit dem Osmanischen Reich 1862 teil und wurde von Fürst Nikola für seine Tapferkeit ausgezeichnet. Čermák war vom zeitgenössischen Orientalismus Frankreichs inspiriert, was in seinen Ölbildern offenbar wird, die Muslime und Orientszenen wie Haremssklavinnen oder die Entführung einer Christin durch türkische bashibozuks thematisieren. 10 Andere Maler, wie etwa Čermáks Schüler Josef Huttary (1841-1890), der mit seinem Lehrer einige Zeit am Balkan verbrachte, stellte die Südslawen noch bis zur Jahrhundertwende auf eine ähnliche orientalistische Weise dar. In den letzten Jahren der osmanischen Herrschaft schließlich malte und zeichnete František Bohumír Zvěřina (1835-1908) attraktive Szenen aus Bosnien-Herzegowina und anderen Regionen des Westbalkan für die tschechische und deutschsprachige Presse, die realistische Motive von seinen Reisen mit wilden Fantasien mischen. 11 In der Zeit unmittelbar vor der Okkupation von 1878 verfolgte die tschechische Öffentlichkeit intensiv und enthusiastisch den Aufstand in der Herzegowina von 1875/ 76 und die diversen militärischen Konflikte mit dem Osmanischen Reich von 1876-1878 auf der Balkanhalbinsel, die immer „Türken“ (Muslime) als Kriegspartei inkludierten. Zahlreiche tschechische Freiwillige schlossen sich den christlichen Aufständischen an, während Korrespondenten über die Ereignisse in tschechischen Zeitungen berichteten, allen voran die jungen Schriftsteller Bohumil Havlasa (1852-1877) 12 und Josef Holeček (1854-1929). Holeček war der einzige ausländische Journalist, der vom Feldzug der Montenegriner in der 9 Vgl. Neruda, Jan: Obrazy z ciziny. Prag: Československý spisovatel 1950 [1868], p. 281. 10 Siehe dazu Černý, Vratislav / Mokrý, František V. / Náprstek, Váša: Život a dílo Jaroslava Čermáka. Prag: Výtvarný odbor Umělecké besedy 1930; Soukupová, Věra: Jaroslav Čermák. Prag: Odeon 1981; Borozan, Vjera: Černá Hora a Černohorci optikou obrazů Jaroslava Čermáka. In: Moravcová, Svoboda & Šístek 2006, pp. 162-183. 11 Vgl. Dlábková, Markéta / Chrobák, Ondřej (Hg.): František Bohumír Zvěřina, 1835-1908. Iglau: Oblastní galerie Vysočiny 2008. 12 Vgl. Havlasa, Bohumil: Divokou Hercegovinou. Prag: Ústřední legio-nakladatelství 1928. Der slawische Halbmond 283 Herzegowina im Sommer 1876 berichtete. 13 In den folgenden Jahrzehnten veröffentlichte er eine Reihe von Reiseberichten und fiktionalen Texten, die große Aufmerksamkeit den Balkan-Muslimen, ihrer Koexistenz mit den christlichen Nachbarn sowie dem Problem der Islamisierung widmen. 14 Holečeks Erlebnisse in der Herzegowina trugen aber auch zu seiner konsequenten Opposition gegen die österreichisch-ungarische Okkupation von 1878 bei. 15 In den 1870er Jahren waren also die tschechische Darstellungen von Balkan-Muslimen keineswegs uniform, sondern reichten von undifferenzierten Bildern grausamer, uneuropäischer Türken, die man nach Asien zurücktreiben solle, über Bilder islamisierter Slawen, die als nationale Renegaten und Verräter charakterisiert wurden und damit gemäß einer Redewendung „schlimmer als die Türken selbst sind“ ( poturčenec horší Turka ), bis hin zu neutralen oder sogar positiven Darstellungen einer kuriosen Gruppe ‘slawischer Brüder’, die zufälligerweise einem exotischen Glauben anhängen. Dennoch herrschen - als Folge der Kriege und anderer traumatischer Ereignisse in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre, welche die tschechische Öffentlichkeit genau verfolgte - negative Bilder der Balkan-Muslime unmittelbar vor der Okkupation von 1878 vor. Reflexionen der Okkupation - Etablierung einer neuen Ordnung Die österreichische-ungarische Okkupation Bosniens und der Herzegowina im Sommer 1878 weckte gemischte Gefühle in der tschechischen Gesellschaft. Einerseits nahmen etliche Soldaten aus den Ländern der böhmischen Krone aktiv am Feldzug bzw. der „Befriedung“ der beiden osmanischen Provinzen teil. Andererseits verhehlten die Mitglieder stramm slawophiler Zirkel nationalistischer Intellektueller, die generell dazu tendierten, die imperiale Politik Habsburgs mit Misstrauen und Kritik als essenziell anti-slawisch anzusehen, nicht ihre Ablehnung und Enttäuschung. Im Namen der „höheren Interessen des Slawentums“ glaubten sie, dass die Provinzen zwischen den beiden christlich-slawischen Staaten Serbien und Montenegro aufgeteilt werden hätten müssen. Einige tschechische Politiker und Unternehmer mit austroslawischer Gesinnung hießen indes die Okkupation willkommen und unterstützten sie. Sie glaubten nämlich, dass eine Zunahme des slawischen Anteils an der Gesamtbevölkerung der Habsburger Monarchie infolge der neuen Gebietserwerbung schlussendlich dazu beitragen würde, die politischen Forderungen der Tschechen durchzuset- 13 Vgl. Šístek, František: Češki pisac i novinar Josef Holeček. Kritički pogled na austro-ugarsku okupaciju Bosne i Hercegovine. In: Šehić et al. (Hg.): Bosna i Hercegovina u okviru Austro-Ugarske. Sarajevo: Sarajevski univerzitet 2011[b], pp. 333-348, hier p. 336. 14 Vgl. Šístek 2009, pp. 81-112; Šístek 2011a, pp. 84-110. 15 Holeček, Josef: Bosna a Hercegovina za okupace. Prag: s.p. 1901. 284 František Šístek zen. Ebenso bedeutete die Okkupation in den Augen einiger Industrieller eine Chance auf eine künftige Expansion der tschechischen Wirtschaft in Richtung Südosteuropa. 16 Die Bilder Bosnien-Herzegowinas und seiner muslimischen Bevölkerung in tschechischer Literatur, in Reiseberichten und Memoiren präsentieren sich zur Zeit des Eroberungsfeldzugs 1878 aber viel dunkler, blutiger und verstörender als in späteren Texten aus der „goldenen Ära“ der habsburgischen mission civilisatrice zur Jahrhundertwende. De facto können wir auch eine eigene Gruppe von Quellen unterscheiden, die nicht die Okkupation selbst, sondern die darauf folgende gewaltsame Durchsetzung der neuen Ordnung bis in die erste Hälfte der 1880er Jahre thematisieren. Die Texte dieser Periode wurden meist von direkten Beobachtern verfasst, die als Militärangehörige aktiv an der Okkupation teilgenommen hatten. Der bewaffnete Widerstand gegen den k. u. k. Einmarsch, die Unterdrückung der lokalen Bevölkerung durch die Besatzungstruppen sowie Revolten und ‘Banditentum’ (speziell während des Aufstands in der Herzegowina 1881) sind hier charakteristische Themen, was sie von später verfassten Zeugnissen der ‘friedlichen’ k. u. k. Ära unterscheidet. Die Muslime betrachteten jedenfalls die k. u. k. Armee mit Misstrauen und leisteten auch vielerorts in Bosnien und der Herzegowina Widerstand gegen die Okkupation. Es überrascht wenig, dass sie von vielen Beobachtern als feindselig charakterisiert wurden; ein vielsagendes Beispiel dafür ist ein Sammelband autobiografischer Texte über die Okkupation von 1878 und den Aufstand von 1881, veröffentlicht von Jindřich Lemminger (1857-1906), Unternehmer und später Abgeordneter zum böhmischen Landtag, unter dem Titel Episody z bosenského povstání [Episoden aus dem bosnischen Aufstand]: Sie sind in erster Linie aus der Sicht eines habsburgischen Soldaten geschrieben, der sich mehr für die Alltagssorgen seiner Kriegskameraden interessiert als für die lokale Bevölkerung. Wenn der Text allerdings vom blutigen Gefecht von Maglaj im August 1878 handelt, beschreibt Lemminger den muslimischen Feind nicht so negativ, wie zu erwarten gewesen wäre. Stattdessen erwähnt er bewundernd die kluge Strategie der „Türken“, die die überlegenen habsburgischen Truppen in einen gut vorbereiteten Hinterhalt locken. 17 Größtenteils werden diese „Türken“ freilich mittels Stereotypen und einfachen Formeln charakterisiert, die jedem vertraut sein mussten, der die transnationalen orientalistischen Diskurse der Zeit kannte. So steht im Zentrum von Lemmingers Darstellung bosnisch-herzegowinischer Muslime doch das 16 Nečas, Ctibor: Balkán a česká politika. Pronikání rakousko-uherského imperialismu na Balkán a česká buržoazní politika. Brünn: Univerzita J. E. Purkyně 1972. 17 Vgl. Lemminger, Jindřich: Episody z bosenského povstání. Kuttenberg: K. Šolc 1884, pp. 53 ff. Der slawische Halbmond 285 vertraute Bild vom „grausamen Türken“. 18 Abgesehen von der Folter und Ermordung ihrer Kriegsgefangenen behauptet Lemminger, die Insurgenten hätten außerdem noch deren Leichen verstümmelt, um die Invasoren abzuschrecken. 19 An einem bestimmten Punkt weigert er sich sogar, auf Einzelheiten einzugehen - zu brutal seien die Details der psychologischen Kriegsführung; dennoch seien diese unsäglichen Grausamkeiten von „Menschen verübt worden, die immer noch ihren Platz im zivilisierten Europa hätten“. 20 Hier liegt die Schlussfolgerung nahe, obwohl sie nicht ausgesprochen wird: Menschen, die einer europäischen Armee mit so viel Barbarentum Widerstand leisten, verdienen es nicht, zu Europa zu gehören. In dieser Argumentation hallen radikale antiosmanische und -islamische Diskurse nach, wonach die Muslime als potenziell uneuropäische Fremde vom Kontinent zu vertreiben seien. Aus dieser Perspektive erscheinen also die De-Osmanisierung und De-Islamisierung als notwendige Schritte hin zu einer „höheren“, „zivilisierten“, „europäischen“ Ordnung. Ein anderer Autor wiederum, Ignát Hořica (1859-1902), zeigt in seinen autobiografischen Texten, die 1909 postum in einem Band als „Traurige und lustige Geschichten aus Bosnien und der Herzegowina“ publiziert wurden, 21 mehr Aufmerksamkeit und Empathie für die örtliche Bevölkerung. Er hatte in der Frühphase mehrere Jahre im Okkupationsgebiet zugebracht und war der Landessprache mächtig; 1884 verließ er die Armee und arbeitete als Journalist und Autor. Als Vertreter der Jungtschechischen Partei ( Mladočeši ) wurde er 1897 als Abgeordneter ins österreichische Parlament (den Reichsrat ) und 1901 in den Böhmischen Landtag gewählt. Hořica versuchte, auf der Basis seiner persönlichen Erlebnisse einen ehrlichen Bericht von der „Pazifizierung“ und Einführung der „neuen Ordnung“ zu geben. In den meisten seiner Erzählungen versucht er die Gefühle, Denkweisen und Handlungen der Insurgenten ebenso wie der unzufriedenen Bevölkerung zu verstehen. Das Buch ist freilich aus einer offen zwiespältigen Position heraus geschrieben: Als Angehöriger der k. u. k. Armee fühlt sich der Erzähler zu Solidarität und Freundschaft seinen mitteleuropäischen Kameraden gegenüber verpflichtet. Als überzeugter Slawophiler engagiert sich Hořica aber auch vor Ort, um freundliche Beziehungen mit der örtlichen Bevölkerung aufzubauen. Seine Texte sind dann von der schmerzhaften Erkenntnis gezeichnet, dass er bei aller bemühten slawischen Solidarität von den Autochthonen in erster Linie als frem- 18 Vgl. Muršič, Rajko: On Symbolic Othering. „The Turk“ as a Threatening Other. In: Jezernik 2010, pp. 17-26. 19 Vgl. Lemminger 1884, p. 160f. 20 Ibid., p. 161. [Alle Übersetzungen aus dem Tschechischen stammen vom Verf. bzw. dem Übers. dieses Beitrags.] 21 Hořica, Ignát: Smutné i veselé z Bosny a Hercegoviny. Prag: J. Otto 1909. 286 František Šístek der Soldat wahrgenommen wurde. Sehr zum Missfallen vieler Tschechen tendierten die Muslime und Orthodoxen Bosnien-Herzegowinas außerdem dazu, jeden Angehörigen der Streitkräfte und der Administration einfach als Švabo [„Schwabe“] zu bezeichnen, ein umgangssprachlicher südslawischer Terminus für einen ‘Deutschen’, der sukzessive pejorative Konnotationen angenommen hatte. Hořica musste also wiederholt zur Kenntnis nehmen, dass seine hohen Ideale slawischer ‘Verwandtschaft’ und Solidarität nicht in den Denkweisen und praktischen Alltagserfahrungen der Bosnier und Herzegowiner - mit ihren spezifischen religiösen, lokalen und sozialen Antagonismen - einen positiven Widerhall fanden. Die Bosnier, einschließlich der Muslime, werden von Hořica aber generell als Menschen mit einem hohen Ethos dargestellt. In einer Bosňácká morálka [Bosniakische Moral] betitelten Geschichte, die in der Stadt Zenica im Februar 1879 spielt, erscheinen Bosnier als Menschen, die nicht nur nicht stehlen, sondern auch Skrupel zeigen, einen am Wegrand gefundenen hohen Geldbetrag mitzunehmen. 22 Sie werden als den Besatzern moralisch überlegen gezeigt, als ehrlicher und würdevoller als die Angehörigen der k. u. k. Armee (insbesondere die Juden). Hořica lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass die Okkupation oft brutal und traumatisch für beide Seiten war. Dennoch enthält sich der Autor jeder Essenzialisierung der Muslime als grausamer und weniger zivilisiert als die Eroberer. Stattdessen beschreibt er Gewalt und Grausamkeit auf beiden Seiten und versucht klar zu machen, dass dies die Konsequenz des Krieges und nicht verschiedener Mentalitäten, Kulturen oder Religionen ist. In der Erzählung Něco o fanatismu thematisiert Hořica das Problem des angeblichen Fanatismus als einen der immer wiederkehrenden Züge, der den Muslimen in zahllosen stereotypischen Darstellungen nachgesagt wird. Die Geschichte spielt in Sarajevo im Sommer 1878 und beginnt mit einem naturalistischen Bericht über einen Mordfall. Ein bosnischer Muslim, der ruhig vor seinem Haus steht, greift plötzlich einen jungen Soldaten der k. u. k. Armee an und ersticht ihn mit einem Messer. Der Täter läuft aber nicht weg; deshalb wird er sofort von den Militärbehörden verhaftet und später standrechtlich erschossen. Der Erzähler indes erklärt, dass der Mörder mehrere Familienmitglieder in der k. u. k. Belagerung von Sarajevo verloren habe, so dass er sich nicht zurückhalten hätte können, als ein Besatzungssoldat zufällig seine Straße hinunter kam. Trotzdem erzählt derselbe Text auch von Grausamkeiten auf Seiten der Invasoren, d. h. wie die habsburgischen Truppen, übermüdet und hungrig, wie sie waren, oft überreagierten. Als etwa ein verwundeter alter Muslim unerwartet einen von ihnen erschießt, lynchen ihn die Soldaten und mit ihm seinen 22 Ibid., p. 15. Der slawische Halbmond 287 Enkel. Ohne schnelles Eingreifen ihrer Offiziere hätten sie auch noch in blinder Wut eine Gruppe wehrloser Kriegsgefangener massakriert. 23 Folgt man Hořica, so wurden gefangen genommene Muslime misshandelt und gefoltert, zu langen Märschen gezwungen und es wurde ihnen auch Nahrung und Wasser verweigert: „Der Krieg ungleicher Feinde ist schrecklicher und grausamer als ein Krieg zwischen solchen auf gleichem Kulturniveau. Es gab Fanatismus und Grausamkeit auf der einen Seite und wütende Vergeltung und Grausamkeit auf der anderen . “ 24 Die Unmöglichkeit, das kulturell Trennende und die Feindseligkeit zwischen den Besatzern und der lokalen Bevölkerung zu überwinden, bildet auch das Herzstück einer tragischen Liebesgeschichte, die in Maglaj während der ersten Monate der Okkupation spielt. Guřík, ein tschechischer Offizier der k. u. k. Armee, beauftragt, den Kontakt mit Vertretern der örtlichen Muslime herzustellen, verliebt sich in eine verheiratete Frau, Fatica, und schleicht in ihr Haus, wann immer ihr Mann nicht zugegen ist. Nachdem ihre Verwandten dies herausgefunden haben, machen sie keinerlei Anstalten, Guřík zu bestrafen, der die mächtige Armee eines siegreichen Reichs von Ungläubigen repräsentiert. Fatica indes wird dafür verantwortlich gemacht, das Tabu gebrochen zu haben, und verschwindet. Eine Woche später wird die verstümmelte Leiche einer jungen Frau von einer Militärpatrouille im Bosna-Fluss treibend gefunden, „ihre Zunge, ihre Brüste und ihre Arme an den Ellbogen abgeschnitten“. Fatica ist somit offenkundig das Opfer eines Verbrechens geworden, das man heute als ‘Ehrenmord’ bezeichnen würde. Ihr untröstlicher tschechischer Geliebter stirbt nur wenige Monate später, nachdem er eine kalte Nacht an ihrem Grab am Flussufer verbracht hat. Die wahren Schuldigen werden freilich weder ausgeforscht und bestraft, noch wird wegen mangelnder Kooperation des örtlichen muktar [Bürgermeister] von Maglaj die Identität des Opfers verifiziert. 25 Im tschechischen Kollektivgedächtnis indes haben sich interessanterweise zwei ziemlich bekannte Spuren der Okkupation und „Befriedung“ Bosnien-Herzegowinas erhalten: ein Wort und ein Lied. Wie bereits erwähnt, gerieten die k. u. k. Truppen (genauer gesagt: das 7. Husarenregiment, in dem auch etliche Männer aus den Ländern der böhmischen Krone dienten) auf ihrem Vormarsch am 3. August 1878 bei Maglaj in einen blutigen Hinterhalt, bei dem dutzende Militärangehörige ihr Leben verloren. 26 Mit den Worten der Prager Zeitung Světozor vom 23. August: „In Maglaj wurde zum ersten Mal das Blut österreichischer 23 Ibid., p. 45. 24 Ibid., p. 47. 25 Ibid., p. 113. 26 Vgl. dazu auch den Beitrag von Clemens Ruthner ( Besetzungen 1) im vorl. Sammelband. 288 František Šístek Soldaten vergossen. Es war hier, wo klar wurde, dass aus einer friedlichen Besetzung, die jedermanns fester Wunsch gewesen war, blutige Eroberung werden musste.“ 27 Die Details dieses überraschend heftigen Gefechts mit muslimischen Aufständischen wurden schnell von Zeitungen, aber auch den betroffenen Teilnehmern verbreitet. Dadurch wurde auch der Name der bosnischen Stadt idiomatisch eingemeindet: Das Substantiv maglajz (abgeleitet von Maglaj) ist heute immer noch in der tschechischen (und slowakischen) Umgangssprache geläufig. Es bezeichnet etwas Schlampiges, Unordentliches, Chaotisches, manchmal auch etwas Anrüchiges oder Ekelhaftes. 28 Obwohl der historische Kontext längst verloren gegangen ist, kennt und benützt fast jeder dieses Wort, ohne zu wissen, dass es aus einer blutigen Begegnung zwischen (teilweise tschechischen) k. u. k. Soldaten und bosnischen Muslimen im Sommer 1878 hervorgegangen ist. Das Hercegovina -Lied bezieht sich, wie schon sein Titel nahelegt, auf den Aufstand in jener Region von 1881, der ebenso von habsburgischen Truppen niedergeschlagen wurde. Es existieren zahlreiche Text- und auch zwei Titelvarianten, denn das Lied ist auch bekannt als Za císaře pána [Für den Kaiser] in Bezug auf den ersten Vers: Za císaře pána a jeho rodinu / museli jsme vybojovat Hercegovinu [„Für den Kaiser und seine Familie / mussten wir die Herzegowina erobern.“]. Der Liedtext, verfasst von einem unbekannten Autor, legt ein Spott- und Zerrbild des muslimischen Feindes nahe: Támhle na stráni šnelcuk uhání, tam na stráni jsou schováni mohamedáni. Mohamedáni, to jsou pohani kalhoty maj roztrhaný, smrkaj do dlaní. Tyhle Turkyně, to jsou vám svině, císař pán je narad vidí ve svý rodině. [An jenem Abhang, wo ein Schnellzug vorbeirauscht, An jenem Abhang, dort verstecken sich die Mohammedaner. Die Mohammedaner, sie sind Heiden, Sie tragen zerrissene Hosen und schnäuzen sich in die Hand. Und diese türkischen Frauen, oh was für Schweine sind sie, Der gute Kaiser ist nicht froh, sie in seiner Familie zu sehn.] 29 27 Zit. n. Ljuca 2006, p. 125. 28 Vgl. Ljuca, Adin: Maglaj. Na tragovima prošlosti. Prag: Općina grada Maglaja 1999, p. 347. 29 Zit. n. Mücke, Pavel: Hercegovina . Musela ji vybojovat infantéria? In: Slabáková, Radmila (Hg.): O exilu, šlechtě, Jihoslovanech a jiných otázkách moderní doby. Sborník k narozeninám Arnošta Skoupého. Olmütz: Univerzita Palackého 2004, p. 232.- Eine Alternativversion des Liedes lautet: Tyhle Turkyně / tlustý jak dýně [Diese türkischen Frauen / fett wie Kürbisse]. Der slawische Halbmond 289 Hercegovina war ursprünglich ein Militärlied. Laut dem Historiker Pavel Mücke war es unter tschechischen Soldaten im Ersten Weltkrieg berühmt-berüchtigt und blieb auch nach der Auflösung der Habsburger Monarchie populär. Hercegovina / Für den Kaiser war aber auch ein Lieblingslied tschechoslowakischer Piloten in der britischen Royal Air Force während des Zweiten Weltkriegs und wurde bald auch von britischen Soldaten gesungen, die ihre Freizeit mit ihnen verbracht hatten. 30 In der kommunistischen Tschechoslowakei wiederum konnte das Absingen jenes „reaktionären Pro-Habsburg-Liedes“ während des Militärdienstes strenge Strafen nach sich ziehen. Nichtsdestotrotz hat Hercegovina das turbulente 20. Jahrhundert überlebt und kann auch heute noch ziemlich oft in Kneipen und bei diversen Festivitäten gehört werden. Bis vor kurzem wurde das Lied in erster Linie freilich als witziges und nostalgisches Relikt der ‘guten alten Zeit’ wahrgenommen. Das pejorative Bild der „Mohammedaner“ wurde im kollektiven Gedächtnis mehr oder weniger dekontextualisiert und in einen gleitenden Allzweck-Signifikanten verwandelt, denn in der Praxis waren ja direkte Kontakte von Tschechen mit Bosnien-Herzegowina - ja mit Muslimen im Allgemeinen - im kurzen 20. Jahrhundert stark limitiert. Urteilt man indes nach jüngsten Internet-Debatten und -Kommentaren, so hat das alte Lied gerade wegen seiner anti-muslimischen Töne wieder Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Zur Zeit erscheint es durchaus möglich, dass Hercegovina eine neue Daseinsberechtigung aus einer zeitgenössisch islamophoben Neuinterpretation heraus bekommt. Eine auf YouTube kursierende Version des Liedes wurde bereits als der tschechische Remove Kebap Song 31 bezeichnet, denn ähnlich wie in anderen Ländern ist Döner ein Symbol für die subjektiv erlebte ‘Islamisierung’ eines ethnisch weitgehend homogenen Tschechien geworden, in dem fast keine muslimischen Immigranten leben. Die Tatsache, dass Kebab im Liedtext nicht vorkommt und auch keineswegs die Küche Bosnien-Herzegowinas repräsentiert, scheint dabei von sekundärer Bedeutung zu sein. Von bosnischen Muslimen zu Katholiken und ‘slawischen Brüdern’? In den 1880er und 1890er Jahren ließ sich neben Soldaten auch eine wachsende Zahl tschechischer Verwaltungsbeamter, Polizisten, Ingenieure, Lehrer, Ärzte, Unternehmer, Musiker, Handwerker und Arbeiter in Bosnien-Herzegowina nieder. Der Zensus von 1910 zählte 7.095 Tschechen, die hier lebten (d. h. zirka 30 Vgl. ibid., p. 233f. 31 Vgl. Czech Remove Kebap Song - Za císaře pána, https: / / www.youtube.com/ watch? v=AszJCpNmxOo. 290 František Šístek 13 % aller Neuankömmlinge aus der Habsburger Monarchie). Personal aus den Ländern der böhmischen Krone, das üblicherweise in beiden Verwaltungssprachen Deutsch und Serbo-Kroatisch fließend war, machte sogar rund ein Viertel aller in der habsburgischen Regionaladministration Tätigen aus. 32 Ebenso wie die Menge an Reiseberichten sowie anderer Texte über Land und Leute nahm die Zahl tschechischer Touristen und anderer Besucher stetig zu. Auch wurde die österreichisch-ungarische Politik vor Ort von tschechischen Liberalen und Nationalisten häufig als kolonialistisch, antislawisch und autokratisch kritisiert. Dennoch priesen sogar die Kritiker den technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung, den die Doppelmonarchie innerhalb kürzester Zeit in Bosnien-Herzegowina erreicht hatte. 33 Aber auch die kritischen Texte, Reden und Polemiken, die z. B. das Wesen der „absolutistischen Herrschaft“ von Benjámin von Kállay (1839-1903), dem k. u. k. Finanzminister und Gouverneur Bosnien-Herzegowinas, diskutierten, vermieden üblicherweise, über die Existenz der Muslime zu sprechen - wobei es durchaus interessante Ausnahmen gab: 1899 publizierten drei tschechische Abgeordnete zum Wiener Reichsrat - Emanuel Dyk (1852-1907), Max Hájek (1835-1913) und František König (1853-? ) - einen Bericht über ihre Reise durch die besetzten Gebiete mit dem sprechenden Titel Dvacet let práce kulturní [Zwanzig Jahre Kulturarbeit]. Anders als jene tschechischen Autoren, die überaus kritisch der habsburgischen Herrschaft auf dem Balkan gegenüberstanden, boten die drei Parlamentarier eine positivere Bewertung des allgemeinen Fortschritts, wie er unter der k. u. k. Herrschaft in den letzten zwanzig Jahren erreicht worden sei. Dyk, Hájek and König thematisieren aber auch explizit die Muslime ( mohamedáni ): Die slawische Presse macht einen schweren Fehler, wenn sie die Mohammedaner praktisch ignoriert. Sie werden üblicherweise als quantité négligeable vorgestellt, trotz der Tatsache, dass sie fast so zahlreich sind wie die Orthodoxen, und trotz der Tatsache, dass sie de facto Slawen sind, die ziemlich sicher und vielleicht schon nach relativ kurzer Zeit das Joch des Islam abschütteln und sich ihren christlichen Brüdern anschließen werden. Wir haben uns daran gewöhnt, an das bevorstehende Verschwinden ‘des Türken’ aus Europa zu glauben, und werfen damit die bosnischen Mohammedaner [ bosenské mohamedány ] in denselben Topf wie die Türken, wobei wir vergessen, dass sie eigentlich slawische Muslime [ slovanští moslimové ] und nicht Osmanen sind. 34 32 Hladký, Ladislav et al.: Vztahy Čechů s národy a zeměmi jihovýchodní Evropy. Prag: Historický ústav 2010, p. 79. 33 Ibid., p. 83. 34 Dyk, Emanuel / Hájek, Max / König, František: Dvacet let práce kulturní. Cesta Bosnou a Hercegovinou. Pilsen: J. Císař 1899, p. 17. Der slawische Halbmond 291 In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts stand freilich das nationale Bewusstsein jener „Mohammedaner“ noch an seinem Anfang. Allerdings intensivierten die vielfältigen Modernisierungsbemühungen unter habsburgischer Herrschaft die Kontakte der Muslime mit den anderen bosnisch-herzegowinischen Gemeinschaften. Ihre angeblich konservative Grundeinstellung änderte sich; immer mehr muslimische Kinder besuchten öffentliche Schulen und auch die muslimischen Frauen unternahmen Versuche, aus ihrer sozialen Isolation auszubrechen. Dyk, Hájek und König schreiben: Slawischer Geist und slawisches Blut können nicht geleugnet werden. Trotz der Tatsache, dass sie über mehrere Jahrhunderte gläubige ‘Türken’ gewesen sind, wachen sie daraus auf wie aus einem Zauberschlaf und beginnen sich mit ihrem Stamm zu identifizieren. Das sind erst bescheidene Anfänge. Aber die Versuche der bosnischen Mohammedaner, ihre nationale Farblosigkeit [ národní bezbarvost ] loszuwerden, werden jedes Jahr mehr offenbar. 35 Ähnlich wie andere tschechische Autoren nehmen Dyk, Hájek und König eine Verbindung zwischen religiöser Konversion und dem Wechsel der nationalen Identität an: „Die Kontakte zwischen Christen und Mohammedanern sind heute ohne Beschränkung, ja sogar freundlich geworden. Die Zeit, da die Frage sich stellen wird, ob es nicht besser wäre, wenn die Mohammedaner in den Schoß der christlichen Kirche zurückkehrten, ist vielleicht nicht allzu weit entfernt.“ 36 Obwohl sie nicht in der Lage sind, zwingende Beweise zu erbringen, die ihre Vision einer bevorstehenden (Re-)Christianisierung der bosnisch-herzegowinischen Muslime erhärten würden, konzentrieren sich die Autoren auf die Frage, welcher Kirche und Ethnizität sie in Zukunft wohl angehören sollten. Dyk, Hájek and König gehen so weit, zu argumentieren, dass die Muslime eine größere Affinität zu den katholischen Kroaten als zu den orthodoxen Serben hätten: Jüngst waren die Orthodoxen die größten Feinde der Türken, ob sie nun an der Drina oder in den wilden Gebirgstälern Montenegros kämpften, Mann gegen Mann. Natürlich gab es auch viel Blutvergießen während der Okkupation, aber das wurde von Ausländern getan, von den ‘Švabos’, nicht den Kroaten. Das Familiengedächtnis, das die jüngsten Stammesfeindseligkeiten bewahrt, ist den Orthodoxen gegenüber voreingenommen, nicht aber gegenüber den Kroaten. 37 Als dominante Religion des Habsburger Reichs und seiner politischen Eliten erfreute sich der Katholizismus ebenso eines höheren Prestiges. Deshalb wür- 35 Ibid., p. 15f. 36 Ibid., p. 17. 37 Ibid. 292 František Šístek den auch die Muslime „die früher der herrschenden Schicht angehörten, bevorzugen, der Konfession beizutreten, welche die Mehrheit in unserem Reich repräsentiert.“ 38 Die Tatsache, dass die bosnisch-herzegowinischen Muslime nach der Okkupation zur lateinischen Schrift wechselten, wird als zusätzlicher Beweis ihrer pro-katholischen Haltung zitiert. Dyk, Hájek and König geben aber zu, dass es noch zu früh sei vorherzusagen, ob die bosnisch-herzegowinischen Muslime schlussendlich Serben oder Kroaten werden wollten: Trotzdem, ungeachtet des Ausgangs, können die Slawen hier nur gewinnen. Ob die Mohammedaner nun Serben oder Kroaten werden, in jedem Falle wird dies die Wiederauferstehung eines toten Zweiges des slawischen Baums bedeuten. […] Wir heißen die Tatsache willkommen, dass sich die Mohammedaner an die Kroaten angenähert haben, was auch die Tür zu ihrer Konversion zum Katholizismus öffnet, den Glauben, dem auch wir anhängen. 39 Ideen wie diese, die von den drei tschechischen Abegeordneten formuliert werden, sind in der Frühphase der österreichisch-ungarischen Okkupation kein Einzelfall: „To most Europeans, the Bosnian Muslims appeared doomed, as a lagoon cut off from the receding tide of a shrivelling Ottoman sea“, formuliert dies der britische Historiker Robin Okey. 40 Ihm zufolge war nicht einmal der am längsten von allen dienende Gouverneur Kállay, der immer wieder von seinen Kritikern beschuldigt wurde, die Muslime zu bevorzugen, immun gegen derartige Überlegungen: „Kállay himself had reservations about Islam´s viability in the modern world“; 41 privat schloss er deshalb die Möglichkeit einer Massenkonversion zum Christentum nicht völlig aus. 42 Zehn Jahre später veröffentlichte der Geograf, Naturforscher und spätere tschechoslowakische Diplomat Jiří V. Daneš (1880-1928) eine weitere Zusammenschau von Bosnien-Herzegowinas aktuellen Problemen. Sein Buch ist überwiegend das Werk eines Gelehrten, der sich mit Geografie, demografischem Wandel, Bevölkerungsdichte, Migration, Wirtschaft und anderen Themen auseinandersetzt. Daneš unterstreicht die vielfache und weitreichende Transformation der besetzten Gebiete unter habsburgischer Herrschaft. Er muss zugeben, dass die Landesregierung in ihren Versuchen, Reformen durchzuführen und 38 Ibid. 39 Ibid., p. 18. 40 Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Misison’ in Bosnia, 1878-1918. Oxford, New York: Oxford Univ. Press 2007, p. 92. 41 Ibid., p. 98. 42 Vgl. ibid. Der slawische Halbmond 293 Modernisierung zu stimulieren, gnadenlos effizient gewesen sei. Nichtsdestoweniger würde Bosnien-Herzegowina in allen praktischen Belangen wie eine bloße Kolonie behandelt werden. Bei näherem Hinsehen seien viele positive Entwicklungen und Zeichen des Fortschritts eigentlich nur Nebenerscheinungen anderer Regierungsprojekte, deren primäres Ziel nichts als die Ausbeutung des eroberten Gebietes sei. 43 Daneš zufolge sei das ureigenste tschechische Nationalinteresse in Bosnien-Herzegowina daher die Erhaltung und Stärkung der slawischen Identität des Landes, die durch den Zustrom ausländischen - vor allem deutsch-österreichischen und ungarischen - Kapitals, aber auch durch die Ansiedlung deutschsprachiger Kolonisten und die Vormachtstellung der deutschen Sprache in der Administration gefährdet sei. Die Wichtigkeit religiöser Partikularidentitäten und nationaler Selbstidentifikationen jedoch erschienen Daneš, der sein Buch drei Jahrzehnte nach der Okkupation von 1878 und nur wenige Monate nach der Annexion von 1908 verfasste, sekundär. Die Einwohner Bosnien-Herzegowinas werden bei ihm wissenschaftlich als eine einzige Gruppe aufgefasst - sie seien allesamt Slawen „serbo-kroatischer Nationalität“: Dank ihrer körperlichen Stärke, ihrer unverfälschten Moral, der Reinheit ihrer Sprache und der Hingabe an althergebrachte Bräuche stellen diese Slawen den wahren Kern der serbo-kroatischen Nation dar und werden als solche in Zukunft sicherlich eine wichtige Rolle auf dem Gebiet der nationalen Erneuerung spielen. Ihr Missgeschick liegt zumindest vorläufig in der Tatsache, dass sie in drei Elemente geteilt sind, die sich scharf in historischen und politischen Traditionen sowie in ihren politischen Zielen unterscheiden. 44 Anders als Dyk, Hájek und König zehn Jahre zuvor gibt sich Daneš keinen Fantasien und Spekulationen über eine mögliche Massenkonversion der Muslime hin. Der Geograf interpretiert sogar den alten Topos des muslimischen ‘Fanatismus’ positiv um: „Die Mohammedaner ( muhammedáni ) sind berühmt für die Unverdorbenheit und Aufrichtigkeit ihres Charakters. Ihr religiöser Fanatismus stellt einen Anker gegen die Verderbnis dar, die von der europäischen Kultur ( z kulturní Evropy ) ausgeht.“ 45 Auch ein anderer Dauerbrenner aus dem Repertoire der orientalistischen Klischees - der Topos der türkischen bzw. muslimischen ‘Dekadenz’ und ‘Degeneration’ - fehlt hier nicht; er ist jedoch exklusiv der Darstellung der muslimischen Eliten Bosnien-Herzegowinas vorbehalten, insbesondere der alten Aristokratie, „die es häufig liebt, sich der vom Koran ver- 43 Daneš, Jiří V.: Bosna a Hercegovina. Prag: E. Grégr 1909, p. 3. 44 Ibid., p. 89. 45 Ibid., p. 92. 294 František Šístek botenen Genüsse zu erfreuen, und damit in moralischem und finanziellem Ruin versinkt. 46 Abgesehen von der relativ dünnen Oberschicht, die eng mit dem alten osmanischen Regime assoziiert wird, werden die weitaus zahlreicheren muslimischen Massen auf die gleiche Weise wie ihre orthodoxen oder katholischen Nachbarn konzeptualisiert - als Repräsentanten des gesunden, vitalen und „moralisch unverdorbenen“ Kerns der „serbo-kroatischen Nation“. Was sie von den Serben und Kroaten zumindest vorläufig abhebt, ist ihr geringeres Nationalbewusstsein: „Sie nennen sich noch immer Türken, aber sie sprechen Serbisch und verstehen überhaupt kein Türkisch. Ihre Religion ist also ihre Nationalität.“ 47 Die Identifizierung religiöser Zugehörigkeiten mit Nationalitäten als charakteristische Tendenz im Selbstverständnis der bosnisch-herzegowinischen Muslime wird auch in anderen zentraleuropäischen Quellen der Epoche erwähnt, wie etwa im Bosnien-Band des repräsentativen „Kronprinzenwerks“ Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild . 48 Trotz beachtlicher Bemühungen der habsburgischen Administration, sich der Loyalität und Kollaboration der Eliten zu versichern, behauptet aber Daneš, die Muslime hätten sich im Allgemeinen nicht mit der Realität der neuen k. u. k. Herrschaft abfinden können. Dafür macht er freilich die Landesregierung eher verantwortlich als die angeblich „starrköpfigen“, „konservativen“ und „undankbaren“ Muslime Bosnien-Herzegowinas, wie dies seine tschechischen Zeitgenossen 49 taten. Daneš glaubt vielmehr, dass die unzureichende Integration und Adaption der muslimischen Bevölkerung das Ergebnis der langen Ignoranz der Landesregierung ihnen gegenüber sei. Zur Jahrhundertwende hin variieren die tschechischen Texte über Bosnien-Herzegowina also ziemlich in ihrer Haltung der österreichisch-ungarischen Politik gegenüber. Ebenso werden die „Mohammedaner“ aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt. Ihre slawische Identität ist (ungeachtet der Tatsache, dass diese in der Praxis nicht über vage sprachliche Affinitäten hinausgeht) das wichtigste Element in fast allen tschechischen Darstellungen der späten Habsburger Zeit, zumal sie als eine Art Verwandtschaft verstanden wurde, die die Muslime sowohl mit ihren Mit-Südslawen als auch mit den Tschechen verband. Dies erweckte das tschechische Interesse an diesem bosnisch-herzegowinischen Bevölkerungssegment, das ansonsten ‘fremder’ und ‘ferner’ als die anderen beiden 46 Ibid. 47 Ibid. 48 Vgl. Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild: Bosnien und Hercegovina. Wien: Verlag der k. k.- Hof- und Staatsduckerei 1901, p. 4. 49 Vgl. etwa Zavadil, Antonín: Obrázky z Bosny. Trappisti, Turci, Židé, Cikáni. Prag: J. Pelcl 1911. Der slawische Halbmond 295 ethno-religiösen Gruppen wirkte. Die Fantasie einer möglichen Konversion der Muslime zum christlichen Glauben verflüchtigte sich indes schrittweise nach der Jahrhundertwende. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzten sich tschechische Autoren offen für ein zunehmendes Nationalbewusstsein im modernen Sinn ein. Sie erwarteten, dass diese Entwicklung zur Versöhnung und Annäherung zwischen Muslimen, Orthodoxen und Katholiken in Bosnien-Herzegowina führen würde, dass man sich vereinen könne im Kampf gegen Kolonialherrschaft und kapitalistische Ausbeutung. Die Vorahnung, dass eine Stärkung des Nationalbewusstseins und einer entsprechenden politischen Agenda die partikularen Kollektividentitäten der Bosniaken, Serben und Kroaten eher stärken als schwächen könnte, ist hingegen erstaunlich wenig präsent im tschechischen Denken der späten Habsburger Monarchie. Der Künstler und der Gendarm: bosnisch-herzegowinische Muslime in den Augen von Ludvík Kuba und František Valoušek Gemäß der Inschrift auf seinem Grabstein war Ludvík Kuba (1865-1956) ein „tschechischer Maler und slawischer Musikologe“. Auf der Gedenkplakette an seinem Geburtshaus in der mittelböhmischen Stadt Poděbrady wird der „Nationalkünstler Dr. phil. h. c. Ludvík Kuba“ charakterisiert als „Maler, Musiker, Schriftsteller und Forscher auf dem Gebiet der slawischen Ethnografie“ . Auf jeden Fall war dieser veritable Renaissancemensch mit einem langen und produktiven Leben gesegnet und zweifelsohne einer der interessantesten Persönlichkeiten, die mit ihrem wissenschaftlichen und künstlerischen Werk zur Entwicklung tschechischer Vorstellungen in Bezug auf die Südslawen, den Balkan und die gesamte „slawische Welt“ beitrug. In Erweiterung seines ursprünglichen Interessenschwerpunkts auf dem Gebiet der Musik(wissenschaft) studierte Kuba Malerei in Prag, Paris und München. Zwischen den 1880er Jahren und dem Zweiten Weltkrieg unternahm er eine Reihe von Studienreisen auf dem Balkan, sowie in Mittel- und Osteuropa. Bosnien-Herzegowina besucht er erstmals in den frühen 1890er Jahren mit der primären Absicht, dort Volkslieder zu sammeln. Neben dieser Kompilationsarbeit, für die er von einem tschechischen Übersetzer begleitet wurde, verfasste Kuba auch das Musik-Kapitel für den 1901 erschienenen Bosnien-Band des erwähnten „Kronprinzenwerks“. 50 Kuba bezeichnet die Muslime Bosnien-Herzegowinas zumeist als „Türken“. Dabei war er sich wohl bewusst, dass dies kein korrekter ethnischer Termi- 50 Kuba, Ludwig [sic]: Gesang und Musik. In: Die österr.-ungar. Monarchie in Wort und Bild 1901, pp. 376-390. 296 František Šístek nus war, sondern dass dessen Benutzung allein durch seine Geläufigkeit bei den autochthonen Bevölkerungsgruppen - und nicht zuletzt bei den Muslimen selbst - legitimiert war. 51 Anders als die meisten tschechischen Autoren betont Kuba aber auch die sog. Bogumilen-These bei seiner Darstellung der bosnisch-herzegowinischen Muslime: Die stark bogumilisch beeinflusste Bosnische Kirche, die von den Katholiken jener Zeit als Häretiker angesehen wurde, war im spätmittelalterlichen Königreich Bosnien sehr präsent. Laut Kuba hätten die Bogumilen und ihre Nachfahren, die nach der osmanischen Eroberung meist zum Islam übertraten, einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung einer spezifischen Identität ( vyhraněná osobitost ) bei Land und Leuten gehabt: „Ein Drittel der Einwohner - die reichsten und gebildetsten - konvertierten 1463 zum Islam, was nur ihre Religion, nicht aber ihre Nationalität betraf.“ 52 Damit sah Kuba die muslimische Kultur und Religion in erster Linie nicht als ausländisches Implantat an; für ihn war vielmehr die Existenz einer spezifisch bosnisch-muslimischen Gesellschaft und Kultur das natürliche Produkt einer langen Entwicklung, die bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden konnte. Als Resultat ihrer Konversion habe es die bosnisch-herzegowinische Aristokratie geschafft, einen hohen Grad an Unabhängigkeit zu bewahren. Trotz ihrer vielfach bemerkten Loyalität zum Sultan und Islam hätten die örtlichen Muslime gleichzeitig einen starken Regionalpatriotismus innerhalb des Osmanischen Reichs kultiviert. Kuba offeriert dieses deutlich positive Bild der Muslime insbesondere in seinen Texten, die sich dem Ursprung und der Geschichte der Stadt Sarajevo widmen. Der Islam sei mit Gleichheit und Toleranz assoziiert worden; er habe zivilisatorischen Fortschritt bedeutet, symbolisiert durch neue Brücken, Straßen, Wasserleitungen und öffentliche Bäder, Besistans und Hans. Dementsprechend beschreibt Kuba das osmanische Sarajevo nicht als finsteren und barbarischen Ort, sondern als eine Stadt mit einem hoch entwickelten Sinn für Schönheit und Ästhetik, für ethische und philantropische Werte. Um während seiner Forschungsreisen weniger Aufmerksamkeit zu erregen, war Kuba gewohnt, die örtliche slawische Kopfbedeckung auch selbst zu tragen; für Bosnien-Herzegowina wählte er den Fez: Ich entschied mich für den Fez, der in Bosnien die Köpfe von Katholiken, Orthodoxen und Muslimen gleichermaßen bedeckt. Es gab mir das Aussehen eines ‘Türken’ und manchmal, da ich Brillen trug, wurde ich für einen türkischen Arzt gehalten. […] 51 Kuba, Ludvík: Čtení o Bosně a Hercegovině. Cesty a studie z roků 1893-1896. Prag: Družstevní práce 1937, p. 103. 52 Ibid., p. 60. Der slawische Halbmond 297 Unter den örtlichen Bedingungen sah ich meine Entscheidung für den Fez als goldenen Mittelweg an, zumal nur die Orthodoxen und Katholiken einander hassten, aber beiderseits gute Beziehungen zu den Türken unterhielten. 53 Trotzdem brachte dieses going native auch Probleme und unliebsame Erfahrungen mit sich, „zuallererst seitens des westeuropäischen Elements“ (u našeho západoevropského živlu) ; 54 wie Kuba nämlich bald feststellen musste, ermöglichte ihm das Tragen örtlicher Kopfbedeckungen eine Erfahrung aus erster Hand, was es bedeutete, ein ‘Eingeborener’ in einem besetzten Land zu sein. So behandelten ihn vor allem Mitglieder der Intelligenzija aus anderen Teilen der Habsburger Monarchie - jener Gesellschaftsschicht also, der Kuba selbst angehörte - mit spezieller Ruppigkeit. Von den Türstehern und Dienern in den neuen Hotels ‘europäischen’ Stils bis hin zu den Beamten der Administration: so ziemlich jeder Neuankömmling in nur jeder denkbaren sozialen Position in Bosnien-Herzegowina sah offenkundig in ihm einen Bürger zweiter Klasse, oder sogar weniger, wie sich Kuba erinnert: Solange ich auf einem Pferd ritt, war es relativ erträglich. Ich konnte für einen pensionierten Pascha durchgehen und wurde sogar gelegentlich mit einem gewissen Respekt gegrüßt. Aber wann immer ich zu Fuß ging, war ich total verloren. Allgemein betrachtet wird einem Fußgänger auf dem Balkan ohnehin nicht viel Respekt entgegen gebracht, aber ein Passant mit einem Schwabo-Anzug kombiniert mit einem Fez verwirrte jeden, die Einheimischen wie die Ausländer. 55 Auf seinen Reisen durch Bosnien-Herzegowina mit einem Fez auf dem Kopf bemerkte Kuba nun, wie die meisten Neuankömmlinge, die sich in den besetzten Gebieten niederließen, automatisch fest und firm an die Überlegenheit ihrer eigenen Kultur und Lebensart glaubten. Im Gegensatz dazu war Kuba ein überzeugter Kulturrelativist, der die Idee einer Hierarchie der Kulturen und Zivilisationen zurückwies: Sitten, Gebräuche und Haltungen, die zunächst seltsam, ja lächerlich wirkten, seien üblicherweise funktional und bedeutungsvoll innerhalb der Kultur, aus der sie entsprängen, meint Kuba, der das Beispiel muslimischer Ladenbesitzer aus Travnik verwendet, um dies zu illustrieren: Auf den ersten Blick würden die unbeweglichen und stillen Geschäftsleute nämlich lethargisch und faul erscheinen; auch die Reiseliteratur jener Zeit wiederholte in der Tat immer wieder das Klischee vom „mohammedanischen Ladenbesitzer, der wie ein Buddha inmitten seiner Waren“ säße. Ihre Immobilität und Reserviertheit sei aber, wie Kuba behauptet, kein Produkt „orientalischer Faulheit“. Es 53 Ibid., p. 102. 54 Ibid. 55 Ibid., p. 103. 298 František Šístek sei die türkische Kultur mit ihrer Wertschätzung für Ruhe und Zurückhaltung, die den Gebrauch unnötiger Worte und Gebärden verbieten würde. Anstelle von Faulheit und Degeneration entdeckt Kuba in dieser Stille und Gemütsruhe also eine beeindruckende Würde. 56 Mitte der 1890er Jahre entschied sich Kuba schließlich, für eine längere Zeit ganz nach Mostar zu ziehen. Zuvor hatte er seine meisten Energien auf systematische Reisen durch die ‘slawische Welt’ verwendet, um dort Volkslieder zu sammeln sowie Skizzen und Aufzeichnungen anzufertigen. In Mostar lebte er von 1895-96 mit seiner Frau, diesmal mit dem Ziel, seine Fertigkeiten und Reputation als Maler weiter zu entwickeln; sein Vermieter und die meisten Nachbarn waren Muslime. War schon Bosnien-Herzegowina generell „das malerischste Land auf dem Balkan“, so war Mostar und seine Umgebung jetzt für ihn die malerischste Gegend innerhalb dessen. Wie er sich später erinnerte, empfand er die herzegowinische Landschaft und ihre Bewohner so, also ob sie geradewegs aus einem von Čermáks montenegrinischen Ölgemälden aus den 1860er und 70er Jahren entstiegen seien. 57 In Mostar sah alles und jeder „monumental“ aus, egal ob es sich um um Serben, „Türken“ oder Kroaten handelte. 58 Trotz der Tatsache, dass Kuba Würde bei allen Einwohnern dieser Ecke der Herzegowina vorgefunden haben wollte, verband er doch die noblen Werte und Qualitäten, die er besonders bewunderte, mit den Muslimen. Der hohe Grad an Würde und Moral, die er an ihnen wahrnahm, war, wie er glaubte, ein direktes Resultat der einfachen, aber weisen Lehren des Islam. So schrieb Kuba mit Zuvorkommenheit und Empathie über die Mitglieder der Oberschichten als „die würdevollen Effendis: Begs, Agas, Hodschas und Hadschis“, aber auch über die Mittelschicht und die armen Muslime, wie den selbstbewussten und stillen Bettler von Mostar, „der an einer Straßenecke stand und einer römischen Statue ähnelte“ . 59 Im Kapitel Vznešený pohřeb [Ein sublimes Begräbnis] aus seiner Sammlung von Reiseberichten und anderen Schriften zu Bosnien-Herzegowina erinnert sich der Maler an die Beerdigung des Mufti von Sarajevo, der während seines Besuchs in Mostar verstorben war; Beschreibungen der muslimischen Haltung dem Tod und Schicksal gegenüber ebenso wie die Totenbräuche schienen für ihn die für den Islam charakteristischen Hauptgedanken und Tugenden ergreifend zu demonstrieren. Kuba fand muslimische Begräbnisse und Friedhöfe 56 Vgl. ibid. p. 114. 57 Kuba, Ludvík: Křížem krážem slovanským světem. Prag: Nakladatelství československých výtvarných umělců 1956, p. 176. 58 Kuba 1937, p. 197. 59 Ibid., p. 196f. Der slawische Halbmond 299 schön, tröstlich und würdevoll, indem sie die Gemeinschaft festigten und den Trauernden den Weg zurück in den Alltag ebneten. 60 Kuba stand mit seiner Bewunderung nicht allein da, denn die Mehrheit der tschechischen Autoren, die zu jener Zeit über Bosnien-Herzegowina schrieben, drückte ihre slawophilen Sympathien aus; dies wurde üblicherweise begleitet von kritischen Bemerkungen über die habsburgische Politik in den besetzten Gebieten. Dennoch konnten nur wenige Tschechen seiner Generation mit Kubas Wissen aus erster Hand über die slawischen Völker und deren Länder mithalten. Trotz dieser Qualifikationen und seiner Kritik an den negativen Aspekten der Okkupation sind seine Darstellungen Bosnien-Herzegowinas mitunter eine Echokammer des habsburgischen mainstream -Diskurses über die historische Identität des Territoriums, wie ihn z. B. das repräsentative Kronzprinzenwerk verkörperte, an dem er ja auch mitgearbeitet hatte. Die Bilder der Muslime, wie man sie in seinen Texten und bildlichen Darstellungen finden kann, gehören jedenfalls zu den profundesten, detailliertesten und empathischsten Porträts der Bevölkerung, die man im gesamten Korpus tschechischer Schriften zu Bosnien-Herzegowina finden kann. Unsere zweite Fallstudie ist František Valoušek (1879-1961): Geboren ein Jahr nach der Okkupation im Umland der mährischen Hauptstadt Brünn (Brno), versah er als Gendarm seinen Dienst in Ostbosnien während der letzten sechzehn Jahre der habsburgischen Herrschaft. Es war ein entlegener und relativ unterentwickelter Landesteil, wo Valoušek vor allem als Kommandant verschiedener Polizeistationen an der gebirgigen Grenze zu Serbien, dem Osmanischen Reich (Sandschak von Novi Pazar) und Montenegro diente: unter anderem in Kamenica, Mioče und Metaljka; zur Zeit des Zusammenbruchs der Doppelmonarchie 1918 war er Polizeichef der Stadt Goražde. In diesen entlegenen ländlichen Regionen fand er viel weniger Gelegenheit, den technologischen und kulturellen Fortschritt zu beobachten, den man typischerweise mit der k.u.k. mission civilisatrice verbindet. So bieten aus Valoušeks Perspektive sogar die kleinen Bezirkshauptstädte Ostbosniens wie Višegrad, Foča und Goražde eine bessere Lebensqualität gegenüber den isolierten Orten, in denen er seine meiste Dienstzeit verbrachte: In seinen späteren Lebensjahren verfasste der gründliche Gendarm nämlich detaillierte Memoiren über sein Leben speziell in Bosnien-Herzegowina (3.600 Seiten von insgesamt 9.000, geschrieben 1933 und 1946-1949). Eine Blütenlese aus dem Manuskript erschien zunächst auf Tschechisch (1998) und später in einer bosnischen Übersetzung (2015). 61 Bedauerlicherweise ist das Ori- 60 Vgl. ibid., p. 217. 61 Vgl. Valoušek, František: Vzpomínky na Bosnu. Brünn: Albert 1998; Ders.: Sjećanja na Bosnu. Sarajevo: Bosanska riječ 2015. 300 František Šístek ginalmanuskript, das noch immer im Familienbesitz ist, seit damals nicht mehr für Forscher einsehbar. 62 Anders als die meisten tschechischen Autoren, die über Bosnien-Herzegowina schrieben, war Valoušek kein slawophiler Intellektueller. Seine Narration hält sich an die Fakten und ist frei von nationalistischer ebenso wie von poetischer Exaltation, aber reich an Details und voll von Beobachtungen, Geschichten und Anekdoten. Jahrelang verbrachte Valoušek einen Großteil seiner Dienstzeit bei jedem Wetter im Freien und unterhielt für seine Berufsausübung gute Alltagskontakte sowohl mit den Serben als auch den örtlichen Muslimen. Obwohl er letztere auch „Türken“ nennt, wie es damals üblich war, unterscheidet er sie doch von den „echten“, „asiatischen“ Türken, deren Sprache er vom Imam Nurudin Hajdarbašić in Čelebići lernte, um mit den osmanischen Militärs auf der anderen Seite der Grenze kommunizieren zu können. Während er aber die bosnischen Muslime meist mit Sympathie darstellt - und wiederholt wie die meisten tschechischen Autoren der Zeit ihre „slawische Identität“ herausstreicht -, porträtiert er die „asiatischen“, Türkisch sprechenden Soldaten, die ihren Dienst an der Peripherie des Osmanischen Reichs verrichteten, als grausam, wild und habgierig. Dies beeinflusst freilich nicht seine prinzipiell positive Einstellung dem Islam gegenüber, etwa wenn er den Propheten Mohammed einen „für seine Zeit sehr weisen, vernünftigen, praktisch denkenden und klugen Mann“ nennt. 63 Trotz seines Lobs für die Lehren des Koran blieb Valoušek aber zutiefst kritisch, wenn es um die Ungleichheit muslimischer Frauen im bosnisch-herzegowinischen Alltag geht: Es hat mich immer gestört, dass, wann immer ich im Dienst einen Türken traf und er auf einem Pferd ritt, seine Ehefrau, auch wenn er ganz jung war, zu Fuß hinterher hoppelte. Die Türken nehmen keine Rücksicht auf ihre Frauen, sie behandeln sie wie Sklaven und missbrauchen sie. Auch die Orthodoxen sind nicht sehr galant zu ihren Frauen, die alles, auch die schwerste Arbeit, mit ihnen gemeinsam machen müssen. Trotzdem, wenn ein Orthodoxer irgendwo hinmusste und nur ein Pferd hatte, war es immer die Frau, die ritt, und der Mann ging hintendrein. 64 Wenn er hier ähnlich Erfahrungen wiedergibt, wie man sie auch in den Briefen, Artikeln und Memoiren jener tschechischen Ärztinnen finden kann, die in Bosnien-Herzegowina vornehmlich Muslimas behandelten, 65 so schließt Valoušek, 62 Vgl. Ljuca, Adin: František Valoušek - sudionik i svjedok zbivanja u istočnoj Bosni u vrijeme aneksione krize. In: Šehić et al. 2011, pp. 349-355, hier p. 350f. 63 Valoušek 1998, p. 13. 64 Ibid., p. 85. 65 Vgl. Nečas, Ctibor: Mezi muslimkami: Působení úředních lékařek v Bosně a Hercegovině v letech 1892 - 1918. Brünn: Masarykova univerzita 1992. Der slawische Halbmond 301 dass diese die meisten ihrer Erwachsenenjahre in den Häusern ihrer Familie eingekerkert, d. h. in finsteren Räumen ohne viel Sonnenlicht leben mussten, geknechtet erst von ihren Eltern und dann von ihren Ehemännern: „Bevor sie zwanzig werden, schauen sie gut aus, ja sind sogar schön, aber dann altern sie sehr schnell. Im Alter von 30 bis 40 sehen sie bereits wie alte Damen aus. Sie sterben relativ früh. Viele Eltern verheiraten sie schon, wenn sie zwölf sind.“ 66 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die vergleichsweise konservativere Haltung muslimischer Männer gegenüber den Frauen ihrer Familie, die sie dem Blick fremder Besucher entziehen und zu Hause einsperren, zu einem Standardmotiv in Reiseberichten - was die Muslime von den anderen ethno-religiösen Gemeinschaften Bosnien-Herzegowinas unterschied, mit denen sie sonst viel von ihrem Lebensstil, ihren Bräuchen und Werten teilten. So riet etwa Ferdinand Velc (1864-1920), der Autor des ersten tschechischen Reiseführers für Bosnien-Herzegowina, den Touristen, „die alten lokalen Bräuche zu respektieren und sich des Spotts zu enthalten". 67 Beim Betreten eines „türkischen“ Hauses solle man erst an die Tür klopfen, warten, bis das männliche Familienoberhaupt öffne, ihm den Grund des Besuchs erklären und den Frauen genug Zeit geben, sich zu verstecken. 68 Bei František Valoušek hingegen werden die bosnisch-herzegowinischen Muslimas nicht nur als passive Opfer religiöser Unterdrückung und patriarchalischer Mentalität dargestellt, sondern auch als intelligente Menschen, die sich sehr wohl ihrer Situation bewusst sind, sich nach Veränderung sehnen und manchmal sogar aktiv für mehr Gleichheit kämpfen. Dies wird an Valoušeks Erinnerung am Fall einer Frau ersichtlich, die ihren tyrannischen Ehemann und dessen neue Lieblingsfrau im Schlaf tötet und dann etliche Meilen im Tiefschnee wandert, um sich in der nächsten Polizeistation zu stellen und ein Geständnis abzulegen. 69 Trotz der grausigen Details sympathisiert der tschechische Gendarm in seinen Memorien offen mit dieser Frau, die ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte. Valoušeks Wahrnehmungen aus dem muslimischen Alltag im rauen östlichen Grenzland Bosniens ist relativ frei vom üblichen Exotismus, poetischer Übertreibung und den orientalistischen Assoziationen, denen man oft in den Texte von Autoren begegnet, die sich auf die größeren, modernen Städte mit ihrem attraktiven osmanischen Architekturerbe konzentrieren. Ein eindrucksvolles Beispiel dieser anderen Perspektivik ist die Art und Weise, wie Valoušek über Tod und Begräbnisrituale schreibt: Wird die muslimische Sepulkralkultur in den Reiseberichten von Ludvík Kuba ebenso wie bei anderen Autoren üblicherweise 66 Valoušek 1998, p. 210. 67 Velc, Ferdinand: Průvodce Bosnou a Hercegovinou. Prag: Klub českých turistů 1907, p. 2. 68 Ibid. 69 Valoušek 1998, p. 83f. 302 František Šístek als würdige rites de passage beschrieben, sind vom Standpunkt des Gendarmen indes die in Ostbosnien praktizierten Beerdigungen eher problematisch als romantisch. Gemäß den traditionellen Bräuchen wären nämlich die muslimischen Gräber im Vergleich zu den christlichen einfach nicht tief genug. Deshalb sei es auf dem Land, wie sich Valoušek in seinen Memoiren erinnert, ein Leichtes für Füchse und andere wilde Tiere, die frischen Leichen wieder auszugraben. Es sei ein schrecklicher Anblick und auch ein unangenehmes Erlebnis für die Nase, wenn man auf einem muslimischen Landfriedhof auf halb verweste, halb aufgefressene Leichname stoße, die aus dem Erdreich ragen. Nicht zuletzt bedeutetet aber die Fortführung dieser traditionellen Praktiken auch zusätzliche Arbeit für den überbeanspruchten Polizisten, der jedes Mal dafür sorgen musste, dass sich die Dorfbewohner doch dieses delikaten Hygieneproblems annahmen. 70 Valoušek blieb empfänglich für die kleinen Unterschiede zwischen Muslimen und Christen im täglichen Leben, wenn auch immer von der Warte eines Gendarmen: Morde und andere Kapitalverbrechen würden „in Bosnien täglich vorfallen“, schreibt Valoušek. Und: „Die örtliche Bevölkerung ist leicht erregbar, furchtlos und zumeist analphabetisch. Besonders unter den Türken ist die Blutrache, die auf dem Prinzip ‘Auge um Auge’ beruht, weit verbreitet.“ 71 Muslimische Männer seien, motiviert von ihrem erhöhten Ehrgefühl, eher bereit, Verbrechen zu begehen, besonders wenn es um das heikle Thema der Abschirmung ihrer Frauen gehe. Hier erscheinen die Muslime Ostbosniens extrem konservativ. So führte etwa Eifersucht, erregt durch die Tatsache, dass ein örtlicher k. u. k. Beamter während der Volkszählung 1904 zufällig einen Blick auf eine unverschleierte Frau erhascht hatte, zu dessen sofortiger Ermordung durch den Ehemann. 72 Andere Männer indes zeigten eine liberalere Gesinnung, und während der folgenden Jahre hatte Valoušek wiederholt die Gelegenheit, sich mit muslimischen Frauen zu unterhalten. Im Haus seiner Freunde waren sie nicht einmal während seiner Besuche verschleiert. Trotzdem hielten sich die k. u. k. Gendarmen in Anbetracht der Wesensart der Ortsbevölkerung an die Gepflogenheit, niemals allein, sondern immer zu zweit auf Streife zu gehen: „In Bosnien hat ein einsamer Gendarm immer große Gefahren zu vergewärtigen. Die Einheimischen sind leicht erregbar, rachsüchtig und immer kampfbereit.“ 73 Nichtsdestoweniger bleibt Valoušeks Bosnienbild im Großen und Ganzen verständnisvoll und positiv, und in vielen Passagen zeigt er die Ähnlichkeiten der gesamten Bevölkerung in ihrem Gebaren auf, um dann zu schließen: 70 Ibid., p. 30. 71 Ibid., p. 32. 72 Ibid., p. 33. 73 Ibid. Der slawische Halbmond 303 Ganz Bosnien und seine Menschen stellen ein großes Mysterium dar. Es gibt wahrscheinlich kein anderes Volk in Europa, das so primitiv und mit so wenig Ansprüchen gelebt hat, und trotzdem sind die Menschen in Bosnien glücklich, zufrieden, frohgemut, gesund und schaffen es, ein hohes Alter zu erreichen. 74 Valoušeks Memorien stellen jedenfalls ein einzigartiges Textzeugnis dar, das auffallend wenig von der tschechischen Slawophilie jener Zeit, aber auch von Romantik und Orientalismus beeinflusst ist. Seine farbenfrohe, manchmal schroffe, dann wieder höchst verständnisvolle Darstellung der bosnischen Muslime bzw. der Gesamtbevölkerung entzieht sich grob vereinfachenden Kategorien. Seine Bosnienbilder sind aber auch deshalb etwas Besonderes, weil er in einem Landesteil seinen Dienst versah, der nur selten von seinen Landsleuten besucht wurde. Wir können davon ausgehen, dass auch andere Tschechen, die in Bosnien-Herzegowina unter habsburgischer Herrschaft lebten, auf der Basis ihrer Erfahrungen ähnliche Einstellungen hatten - allein, von ihnen sind nicht wie im Fall des braven Gendarmen Valoušek schriftliche Zeugnisse erhalten. Schluss Die tschechischen Darstellungen der Muslime Bosnien-Herzegowinas sind in den vier Jahrzehnten habsburgischer Herrschaft ziemlich reichhaltig und divers. In der jüngsten Forschungsliteratur wird allgemein angenommen, dass die Formation und Transformation dieser Bilder die generelle Intensivierung der Kontakte, die schrittweise Verbesserung der gegenseitigen und das wachsende Vertrauen zwischen Tschechen und den bosnisch-herzegowinischen Muslimen widerspiegle. Aus der dieser Perspektive betrachtet, hätte es die österreichisch-ungarische Okkupation der Gebiete auf dem Westbalkan den beiden slawischen Völkern, die vorher kaum Kontakte und Wissen voneinander gehabt hatten, ermöglicht, miteinander bekannt zu werden. Nachdem sie sich plötzlich nach 1878 mehr oder weniger im selben Staat wiedergefunden hätten, so geht die Geschichte, hätten beide Seiten ihre gegenseitigen Vorurteile aufgegeben. In Bezug auf die wechselseitige Wahrnehmung seien die „Türken“ und „Schwaben“ der ersten Zeit durch die geteilte Erfahrung, unter ein und demselben imperialen ‘Dach’ zu leben, diskursiv in „slawische Brüder“ verwandelt worden. 75 74 Ibid, p. 41. 75 Vgl. Ljuca 2006 u. Hladký 2010.- Auch Edin Hajdarpašićs Konzept des „(br)other“ - eine ambigue Figur, die weder ein Feind noch ein Verbündeter ist, aber potenziell beides werden kann - das primär in Zusammenhang mit kroatischen und serbischen Diskurse über die bosnisch-herzegowinischen Muslime entwickelt wurde, verdient hier wegen seiner Ähnlichkeit mit den tschechischen Darstellungen erwähnt zu werden; vgl. Hajdarpašić, 304 František Šístek Diese Hypothese kann sicher auf die Tschechen angewandt werden, die mehr oder weniger permanent in Bosnien-Herzegowina lebten. Allerdings hatten auch viele Tschechen, die über jene Muslime schrieben, keinerlei persönlichen Erfahrungen mit ihnen, die aus einem tatsächlichen Zusammenleben stammten. Stattdessen scheint es, als ob die realen Kontakte zwischen Tschechen und den örtlichen Muslimen bis zum Ersten Weltkrieg ziemlich limitiert gewesen wären. Das simple historische Faktum, neben einander im selben Staat zu leben und ähnliche Erfahrungen gemacht zu machen, genügt nicht, um die Transformation des Diskurses von einer vorherrschend negativen hin zu einer weitgehend neutralen oder sogar positiven Position zu erklären. Bei näherem Hinsehen ist es nicht immer möglich, geradewegs von einer ‘Evolution’ des ursprünglichen Bildes eines bedrohlichen, kulturell wie religiös nicht-europäischen Anderen hin zu einem „slawischen Bruder“ und potenziellen Verbündeten im gemeinsamen Kampf aller slawischen Völker gegen die Fremdherrschaft zu sprechen. Die ‘alten’ Stereotypen verschwanden nie völlig und tauchten zur Jahrhundertwende wieder auf. 76 Wenn wir aber aus größerem Abstand das greater picture zu rekonstruieren trachten, ist es nichtsdestotrotz möglich, einen generellen Trend hin zu einer positiven Darstellung und Bildes vom Balkan-Muslim in tschechischen Texten zwischen den 1870er Jahren und 1918 zu beobachten. Abgesehen von direkten Kontakten wurde diese Transformation des Diskurses vor allem von der Dynamik der tschechischen Politik sowie des Kultur- und Soziallebens im Beobachtungszeitraum motiviert; und zu einem Teil war hier sicher auch der Wunsch der Vater des Gedankens. Es ist nämlich offensichtlich, dass die Bedeutung religiöser Identitäten und der Rolle der Religion im Alltagsleben in der tschechischen Gesellschaft seit den späten 1870er Jahren generell im Abnehmen begriffen war. Auf der anderen Seite war die Wichtigkeit nationaler Identifikationen in den Ländern der böhmischen Krone stetig im Steigen begriffen. Die simultanen Prozesse der Säkularisierung, der zunehmenden Nationalisierung und facettenreichen Modernisierung der tschechischen Gesellschaft hatten profunde Auswirkungen auf die Neubestimmung und Neuverhandlung des Stellenwerts der tschechischen Nation innerhalb der Habsburger Monarchie und weltweit. Das ist wahrscheinlich der wichtigste Grund, der die Transformation der Darstellung des Balkans, der Südslawen wie auch speziell der bosnisch-herzegowinischen Muslime ermöglichte. Ihr Bild wurde in jener Ära auch gleichsam säkularisiert und ethnisiert, wobei ihre slawische Identität unterstrichen wurde. Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination in the Balkans, 1840-1914. Ithaca, London: Cornell Univ. Press 2015, p. 16f. 76 Vgl. Ljuca 2006, p. 134. Der slawische Halbmond 305 Die tschechische/ n Haltung(en) den Muslimen Bosnien-Herzegowinas gegenüber stellen eine spezifische Variante in der Diversifikation von Einstellungen dem muslimischen Anderen (den „Türken“ im alten Sinne) gegenüber dar. Auch die Beobachtung von Andre Gingrich, 77 wonach zwischen ‘guten’ und ‘schlechten’ Orientalen unterschieden werde, kann für unseren Fall nützlich sein. Während das Bild des ‘echten’, „asiatischen“ oder „anatolischen“ Türken in den letzten vier Jahrzehnten der Habsburger Monarchie weitgehend negativ blieb, 78 wurden die Muslime Bosnien-Herzegowinas in den Rang ‘guter’ Orientalen erhoben. Aus der Perspektive von tschechischen Autoren, die selbst in einem zunehmend hitzig nationalisierten Milieu des deutsch-tschechischen Antagonismus lebten, wurde die Tatsache, dass ‘unsere’ Muslime doch auch Slawen wären, mehr hervorgehoben als jene, dass die Tschechen und Bosnier/ Herzegowiner aller Konfessionen vom Schemen des selben Kaisers heimgesucht wurden und unter den selben Gesetzen des selben Staates lebten. Das lebendige Interesse an anderen Slawen, inklusive der Muslime Bosnien-Herzegowinas, war also verbunden mit der Suche nach potenziellen politischen, kulturellen und ‘rassisch’ Verbündeten innerhalb und außerhalb der Habsburger Monarchie. (Aus dem Englischen von Clemens Ruthner) 77 Gingrich 1996, p. 117. 78 Vgl. dazu auch Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes: Uses of Orientalism in the Late 19th-Century Austro-Hungarian Empire. In: Hodkinson, James et al. (Hg.): Deploying Orientalism in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Rochester: Camden House 2013, pp. 148-165. Nach Said 307 Nach Said Der k. u. k. Orientalismus, seine Akteure, Praktiken und Diskurse Johannes Feichtinger (Wien) Das Titelbild der Bombe vom 28. Juli 1878 (s. o., p. 123, Abb. 1) visualisiert die Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878, wie sie die satirische Wiener Wochenzeitschrift sich und ihrer Leserschaft vorstellte: Den Weg des habsburgischen Truppenkommandanten, Feldzeugmeister Joseph Philippovich von Philippsberg, und seiner Armee säumen drei halbnackte Frauengestalten, von denen eine noch den Gesichtsschleier trägt. Die Karikatur 1 zeigt, wie die besetzten Gebiete von Anfang an orientalisiert wurden, damit sie nach dem Ende des Feldzugs ‘zivilisiert’ werden konnten; es geht hier also auch um eine geistige bzw. epistemologische Inbesitznahme. Hundert Jahre nach der Okkupation Bosnien-Herzegowinas konzipierte der vergleichende Literaturwissenschaftler Edward Said in seinem bahnbrechenden Buch 2 Orientalism als wirklichkeitskonstituierenden Diskurs der repräsentierten Differenz. Der vorliegende Beitrag versucht, den dort nicht behandelten Orientalismus in der späten Habsburgermonarchie zu charakterisieren; dabei wird gezeigt, wie durch die Analyse sozialer Praktiken , die für Said noch keine Rolle spielen, das Phänomen in neuem Licht erscheint. Der Blick richtet sich auf drei Aspekte: (1) auf den Orientalismus, der im Zusammenhang mit der Okkupation des alten osmanischen Vilâyet Bosna - der Provinzen Bosnien und Herzegowina - durch habsburgische Truppen entwickelt wurde; (2) auf Wandlungsprozesse in den Orientkonstruktionen, die eine spezifische Form sichtbar werden lassen, die als k.u.k. Orientalismus bezeichnet wird; (3) auf einen Orien- 1 Zeichner war der bekannte Budapester bzw. Wiener Karikaturist László von Frecskay (1844-1916). 2 Said, Edward W.: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London, Henley: Routledge & Kegan Pau 1978 (Penguin 1995, 2003). Im vorl. Beitrag wird nach der deutschen Ausgabe zitiert: Orientalismus. Übers. von Hans Günter Holl. Frankfurt/ M.: S. Fischer 2009. 308 Johannes Feichtinger talismusbegriff, der ausgehend von neueren Entwicklungen in der Wissensgeschichte für ein erweitertes Verständnis des Phänomens Orientalismus („Said and the Unsaid“) wirbt. 3 Jürgen Osterhammel zufolge lässt sich der „orientalistische Diskurs“, von dem Edward Said spricht, als ein „interessengestütztes Konstrukt definieren, das in monologisierender Form die essentielle Andersartigkeit, oft sogar die Minderwertigkeit des Fremdkulturellen bekräftigt und daraus häufig politische Herrschaftsansprüche, mindestens aber die kulturelle Hegemonie des Westens ableitet. 4 Die zentrale Regel sei dabei „die Differenzkonstruktion“, die auf der Vorstellung eines „zeitlosen ‚Wesens‘ des Orients“ beruhte, 5 die von Said nicht weiter kritisch reflektiert wird. Vielmehr betonte Said noch die Vorstellung von dem Wesensunterschied und zeigte, „dass die europäische Kultur erstarkte und zu sich fand, indem sie sich vom Orient als einer Art Behelfs- und sogar Schattenidentität abgrenzte.“ 6 Dabei wurde im Zeitalter des Kolonialismus Europa die aktive, Asien die passive Rolle zugeschrieben. Das wesentliche Merkmal, das Said zufolge den Orientalismus kennzeichnet, ist das konstruierte Bild vom Orientalen, der nicht fähig ist, sich zu vertreten; denn der Orient würde, so Said, gewiss selbst für sich sprechen […], wenn er nur könnte; da er dies aber nicht könne, müssten westliche Sachwalter ihm diese Aufgabe wohl oder übel abnehmen. Wie Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte feststellte, ,Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden.‘ 7 Said beschränkte sich in Orientalism weitgehend auf die Dekonstruktion westlicher Orientrepräsentationen. Wer sich aber wozu in der konkreten Praxis ihren/ seinen Orient konstruierte und wie dieser von wem vertreten wurde, war 3 Varisco, Daniel Martin: Reading Orientalism. Said and the Unsaid. Seattle, London: Univ. of Washington Press 2007 (= Publications on the Near East); vgl. Schnepel, Burkhard / Brands, Gunnar / Schönig, Hanne (Hg.): Orient - Orientalistik - Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte. Bielefeld: transcript 2011 (= Postcolonial Studies 6). 4 Osterhammel, Jürgen: Wissen als Macht. Deutungen interkulturellen Nichtverstehens bei Tzvetan Todorov und Edward Said. In: Ders.: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen: V & R 2001 (= Krit. Studien zur Geschichtswissenschaft 147), pp. 240-265, hier p. 255. 5 Osterhammel, Jürgen: Edward W. Said und die „Orientalismus“-Debatte. Ein Rückblick. In: asien afrika lateinamerika 25 (1997), pp. 597-607, hier p. 599f. Saids „orientalistischer Diskurs“, so stellt Osterhammel fest, sei „unhistorisch und statisch“, „innere Veränderungen dieses Diskurses werden wenig beachtet“ (ibid., 602). 6 Said 2009, p. 12; vgl. Heiss, Johann: Orientalismus. In: Lexikon der Globalisierung. Hg. v. Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll und Andre Gingrich. Bielefeld: transcript 2011, pp. 319- 323, hier p. 319. 7 Said 2009, p. 32. Nach Said 309 für Said nicht der Rede wert, so dass ihm Kritiker wie der Sozialanthropologe Michael Richardson schon 1990 „manifesten Idealismus“ vorwarfen. Stein des Anstoßes war zum einen die Ausblendung der Funktionen, die Orientrepräsentationen, „a specific ideological construction“, erfüllten: „Such an ideology has determined nothing, however, it is just a dangerous illusion to believe that it ever has done. […] We need to understand how such representations have functioned in practice“. 8 Zum anderen darf nicht übersehen werden, dass Said durch seinen Orientalismusbegriff, der auf einer „ontologischen und epistemologischen Unterscheidung“ 9 zwischen Okzident und Orient beruht, zwangsläufig den Blick auf Reziprozitäten verstellte. Michael Richardson bezichtigte Said, jene Differenz, die er dekonstruiert, alternativlos zu behaupten: „Said may be accused of engaging in a power relationship similar to the one he accuses the orientalists of constructing. In denying the possibility of reciprocity between subject and object, Said effectively makes it impossible for the object to develop alternative models.“ 10 Die Gefahr dieses Orientbegriffs liegt auf der Hand: Werden kulturelle Differenzen behauptet statt analysiert und dabei die Untersuchungen auf asymmetrische Repräsentationen beschränkt, Praktiken der Differenzkonstruktion aber ausgeblendet, so droht das Konzept des Orientalismus wieder jener Polarisierung Vorschub zu leisten, die Said vor 40 Jahren durch eine Diskursanalyse in kritisch-polemischer Absicht zu dekonstruieren versuchte. Edward Said hat in Orientalism freilich die orientalistischen Diskurse in Deutschland und in Österreich-Ungarn ausgespart. Diese Lücke wurde seither durch Arbeiten zum deutschen Orientalismus, 11 zur Habsburgermonarchie 12 8 Richardson, Michael: Enough Said. In: Macfie, Alexander Lyon (Hg.): Orientalism. A Reader. New York: NYU Press 2000, pp. 208-216, hier p. 216 [Original in: Anthropology Today 6 (1990), pp. 16-19]. 9 Said 2009, p. 11. 10 Richardson 2000, p. 208. 11 Marchand, Suzanne L.: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship (Publications of the German Historical Institute). Cambridge: Cambridge Univ. Press 2009; Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jh. Berlin, New York: De Gruyter 2005 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35); Salaymeh, Lena / Schwartz, Yossef / Shabar, Galili (Hg.): Der Orient. Imaginationen in deutscher Sprache (= Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte [Göttingen] 45 [2017]); Hodkinson, James / Walker, John / Mazumdar, Shaswati / Feichtinger, Johannes (Hg.): Deploying Orientalism in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Rochester (NY): Camden House 2013. 12 Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes: Distant Neighbors. Uses of Orientalism in the Late Nineteenth-Century Austro-Hungarian Empire. In: Hodkinson 2013, pp. 148-165; Dies.: Orient als Metapher. Wie Österreichs Osten vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg vorgestellt wurde. In: Haider-Wilson, Barbara / Graf, Maximilian (Hg.): Orient & 310 Johannes Feichtinger und durch neue länderübergreifende Konzepte wie dem „Grenzorientalismus“ gefüllt. 13 Der vorliegende Beitrag versteht sich als ein Versuch, den Orientalismus in der späten Habsburgermonarchie als k. u. k. Orientalismus neu zu konzeptualisieren, zu beschreiben und zu analysieren. 14 Habsburgs Orientalismus und Bosnien-Herzegowina Im Anschluss an die Okkupation der benachbarten osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina 1878 durch die österreichisch-ungarischen Landstreitkräfte entwickelten Politiker, Wissenschaftler und Publizisten einen orientalistischen Diskurs, der in vielem Saids Orientalismus ähnlich war, sich in manchem aber auch von ihm unterschied. Auch der habsburgische Diskurs beruhte auf Differenzkonstruktionen, die Bosnien als (nahen) Orient erscheinen ließen. Hier wurden zwei Grenzen gezogen: zum einen zwischen drückender osmanischer Fremdherrschaft und slawischer Ursprünglichkeit, zum anderen zwischen bosnischer Rückständigkeit und österreichisch-ungarischer Fortschrittlichkeit. Zu zeigen sein wird, dass diese doppelte Differenzkonstruktion Habsburg zur imperialen Zivilisierungsmission ermächtigte, die ihm den Weg zur Kolonialmacht bereitete. 15 Im Folgenden wird also der konkrete Zusammenhang zwischen Orientalismus, Kolonialismus und imperialer Selbstermächtigung erläutert. Okzident. Begegnungen und Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten. Wien: Neue Welt 2016, pp. 53-77; Telesko, Werner: Colonialism without Colonies. The Civilizing Missions in the Habsburg Empire. In: Falser, Michael (Hg.): Cultural Heritage as Civilizing Mission. From Decay to Recovery. New York, Wien: Springer 2015, pp. 35-48; Lemon, Robert: Imperial Messages. Orientalism as Self-Critique in the Habsburg Fin de Siècle. Rochester (NY): Camden House 2011 (= Studies in German literature, linguistics, and culture). 13 Gingrich, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World of Public and Popular Culture in Central Europe. In: Baskar, Bojan / Brumen, Borut (Hg.): Mediterranean Ethnological Summer School, Piran/ Pirano, Slovenia 1996. Ljubljana: Inštitut za multikulturne raziskave 1998 (= MESp. vol. II), pp. 99-127; Ders.: Grenzmythen des Orientalismus. Die islamische Welt in Öffentlichkeit und Volkskultur Mitteleuropas. In: Mayr-Oehring, Erika / Doppler, Elke (Hg.): Orientalische Reise. Malerei und Exotik im späten 19. Jh. [Ausstellugskatalog]. Wien: WienMuseum 2003, pp. 110-129; Ders.: The Nearby Frontier. Structural Analyses of Myths of Orientalism. In: Diogenes 60 (2015), nr. 2, pp. 60-66; Ders.: Orientalismus. In: Ders. / Uhl, Heidemarie (Hg.): Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2016, pp. 156-162; Fragner, Bert G.: Wir im Orient - der Orient in uns. In: Haider-Wilson & Graf 2016, pp. 37-52. 14 Vgl. auch Feichtinger, Johannes: Komplexer k. u. k. Orientalismus. Akteure, Institutionen, Diskurse im 19. und 20. Jh. in Österreich. In: Born, Robert / Lemmen, Sarah (Hg.): Orientalismen in Mitteleuropa. Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Bielefeld: transcript 2014, pp. 31-63. 15 Schon unter Zeitgenossen war in Bezug auf Bosnien-Herzegowina von einer Kolonie Österreich-Ungarns die Rede. Auch Historiker/ innen bewerten das Verhältnis als ein Nach Said 311 Als der Berliner Kongress 1878 Österreich-Ungarn das Mandat erteilte, die osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina zu besetzen bzw. zu verwalten, und die habsburgische Armee im benachbarten Vilajet Bosna einmarschierte, eröffnete sich für die Habsburgermonarchie, die zuvor aus Italien (1859) und dem Deutschen Bund (1866) verdrängt worden war, ein neuer Schauplatz imperialer Machtpolitik. Die Arbeiten von Robin Okey, Robert Donia und Bojan Aleksov zeigen, 16 dass Bosnien-Herzegowina von der habsburgischen Zivilverwaltung, angeführt vom Finanzminister Benjamin von Kállay, als Missionsland aufgefasst wurde. Sie legen den Schluss nahe, dass mit der Okkupation zumindest drei politisch-strategische Ziele verfolgt wurden, nämlich (1) die Stabilisierung und gleichzeitige Erneuerung der lokalen Gesellschaft durch (2) die Verbreitung westlicher Zivilisation und (3) die Verhinderung eines Aufkommens von Sprachnationalismen. 17 Zweifelsohne erlaubte das „koloniale Experiment“ 18 die Demonstration der Vorzüge des integrativen habsburgischen Staatsnationalismus und gleichzeitig die Neutralisierung proto-nationaler Vorstellungen. 19 Dafür bedurfte es folgender Voraussetzung: „Bosnians were among the most closely watched people on the face of the earth.“ 20 Die zivile Verwaltung des Vilajet Bosna übernahm 1882 der k. u. k. Finanzminister Benjamin von Kállay, der sein Amt bis 1903 im Sinne eines Kolonialherrn auffasste. Politik sollte der Besatzungsmacht vorbehalten bleiben. Zugleich sollte der Bevölkerung durch ihre Klassifizierung nach konfessionellen Zugehörigkoloniales, beurteilen aber die Form des Kolonialismus differenziert. Sie sprechen von einer „proximate colony“ (Donia) oder einer „semi“beziehungsweise „quasi“-colony (Detrez) und bezeichnen das Mandatsgebiet als Objekt einer „colonial governmentality“ (Aleksov); vgl. Reichspost , 29.07.1908, p. 1; Aleksov, Bojan: Habsburg’s ,Colonial Experiment‘. In: Brunnbauer, Ulf et al. (Hg.): Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhausen zum 65. Geb. München: Oldenbourg 2007, pp. 201-216; Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule. In: Kakanien revisited , www.kakanien-revisited.at/ beitr/ fallstudie/ RDonia1.pdf (2007); Detrez, Raymond: Colonialism in the Balkans. Historic Realities and Contemporary Perceptions. Online: Kakanien revisited (2002); Kolm, Evelyn: Die Ambitionen Österreich-Ungarns im Zeitalter des Hochimperialismus. Frankfurt/ M. et al.: P. Lang 2001 (= EHS S III: 900), p. 235-253; Scheer, Tamara: A Micro-Historical Experience in the late Ottoman Balkans. The Case of Austria-Hungary in Sanjak Novi-Pazar (1879-1908). In: Yavuz, M. Hakan / Blumi, Isa (Hg.): War and Nationalism. The Balkan Wars, 1912-1913, and their Sociopolitical Implications. Salt Lake City: The University of Utah Press 2013, pp. 197-229. 16 Donia 2015; Aleksov 2007; Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Mission’ in Bosnia, 1878-1914 . Oxford: Oxford Univ. Press 2007. 17 Vgl. Okey 2007, p. 28. 18 Aleksov 2007, pp. 205-211. 19 Vgl. Okey 2007, pp. 57 u. 253. 20 Donia 2007, p. 4. 312 Johannes Feichtinger keiten in Orthodoxe (rund 43 %), Katholiken (rund 18 %) und Muslime (rund 39 %) eine spezifisch bosniakisch-nationale Identität aufgeprägt werden, die die Religionsgemeinschaften umfasste. 21 Okey interpretiert Kállays Vorhaben wie folgt: „His strategy was a logical extension of the colonializing approach: by deeming Bosnians to be only Orthodox, Catholics and Muslims, and not proto-nations, he assigned them to the sphere of tradition and arrogated the modernizing, legitimizing role to the Habsburg state.“ 22 Tatsächlich hielt sich der Sprachnationalismus in Grenzen, während der staatlich geförderte Nationalismus auf die Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls zum Habsburgerreich abzielte. 23 Ebenso wurde der Islam bosnischer Prägung in den Jahren 1912 und 1915 vom Wiener Reichsrat und Budapester Reichstag in progressiven Islamgesetzen als Konfession staatlich anerkannt. 24 Der kolonialistische Zivilisierungsdiskurs, der über Bosnien geführt wurde, zeigt verblüffende Analogien zu dem, was Edward Said ‘Orientalismus’ nennt. Im Jahr 2003 zog Said etwa in einem Artikel in der London Review of Books dessen beiden Funktionen in Betracht: die Vorstellung einer „imperial divide“, mit der die kolonialistische Strategie der Differenzkonstruktion verbunden war; sowie die Anerkennung von „shared experiences“, 25 durch die Said 25 Jahre nach Veröffentlichung von Orientalism den civilizing subjects eine Stimme gab. „Shared experiences“ sind aber auch ein Merkmal des habsburgischen Orientalismus; hier ermächtigen sie zur Zivilisierungsmission. So argumentierten zeitgenössische politische Kommentatoren, dass aufgrund geteilter Erfahrungen, d. h. sprachlich-kultureller, konfessioneller und ideeller Ähnlichkeiten zwischen Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn die klare Trennlinie („imperial divide“) zwischen osmanischer Unzivilisiertheit und habsburgisch-zentraleuropäischer Zivilisation überwunden werden könne. Bosnien erschien den damali- 21 Dazu ausführlich Okey 2007, pp. VII-XII, 26-29, 251-258; Donia 2007, p. 3; Hajdarpasic, Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination in the Balkans, 1840-1914. Ithaca (NY): Cornell Univ. Press 2015, pp. 161-198; zur konfessionellen Gliederung der Bevölkerung vgl. Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878-1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg 1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93), p. 39. 22 Okey 2007, p. 253. 23 Vgl. Judson, Pieter M.: Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740-1918. München: C.H. Beck 2017, p. 423f. 24 Vgl. Fillafer, Franz L.: Österreichislam. In: Feichtinger & Uhl 2016, pp. 163-170; Feichtinger, Johannes / Heiss, Johann: Konjunkturen einer verflochtenen Geschichte. Islam und Türken in Österreich. In: Shakir, Amena / Galib Stanfel, Gernot / Weinberger, Martin M. (Hg.): Ostarrichislam. Fragmente achthundertjähriger gemeinsamer Geschichte. Wien: Al Hamra 2012, pp. 68-76. 25 Said, Edward: Always on the Top. In: London Review of Books 25.6 (20. 03. 2003), http: / / www.lrb.co.uk/ v25/ n06/ edward-said/ always-on-top. Nach Said 313 gen Publizisten zwar als andersartig und rückständig, zugleich jedoch aufgrund von „shared experiences“ als zivilisierungsfähig. Hier ließ sich von den Ähnlichkeiten der Auftrag zur Zivilisierungsmission ableiten. Geprägt wurde dieser Diskurs von dem einflussreichen katholisch-konservativen und slawophilen Wiener Politiker, Publizisten, Historiker und Präsidenten der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, Joseph Alexander von Helfert (1820-1910). In seinem Buch Bosnisches (1879) heißt es: „Es waren blühende Länder, im Fortschritt begriffen wie irgend ein anderes in jenem Jahrhundert, ehe sie von der Eroberung halbwilder Asiaten überfluthet worden“ und „unter die Herrschaft des Halbmondes kamen“. 26 Allerdings hätten die Osmanen in Bosnien-Herzegowina „durch die ganze Zeit der Türkenherrschaft“ „niemals Wurzel geschlagen“, sodass die Slawen ihre „unverdorbene Ursprünglichkeit“ „selbständig unabhängig und unvermischt von fremdartigen Elementen zu erhalten gewusst“ hätten. 27 Helfert gab darin vor, zwischen zwei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen - „National - Türken“ 28 und autochthonen Slawen, dem „Volksstamm“ der „Serbo - Kroaten“ 29 - unterscheiden zu können; die „nationale Mischung“ war ihm zufolge „eine verschwindend kleine“. 30 Helfert akzentuierte diese Trennung, indem er in den „nicht islamistischen“ Bevölkerungsschichten „Türkenfurcht“ sowie einen „tief gehenden Türkenhaß“ feststellte, 31 die er darauf zurückführte, dass die Osmanen Bosnien-Herzegowina über die Jahrhunderte hinweg mit „Miswirthschaft“, „lüderlichem Schlendrian“ und „muslimischer Tyrannei“ überzogen hätten. 32 Die „Türken - Herrschaft“ sei, so meinte er, sogar „bei dem muhamedanisirten Südslaven trotz der Gemeinschaft des Cultus nie beliebt“ gewesen, und der „Osmanli“ sei dort „von jeher als ein fremdes Element angesehen“ worden. 33 Hinzuzufügen bleibt, dass Helferts Darstellung der Verhältnisse in Bosnien und der Herzegowina umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass er freimütig zugab: „Ich war nicht dort.“ 34 Der springende Punkt war für Helfert, dass auch „der muslimische Bosnier und Hercegove eines Stammes mit dem katholischen und dem orthodoxen“ war; denn er sprach „eine und dieselbe Sprache“ und teilte „einen großen Theil 26 Helfert, Frhr. [Joseph] von: Bosnisches. Wien: Manz 1879, p. 293. 27 Ibid., pp. 201 u. 258. 28 Ibid., pp. 240 u. 265. 29 Ibid., p. 240. 30 Ibid. 31 Ibid., p. 193. 32 Ibid., pp. 194, 273 u. 293. 33 Ibid., p. 258. 34 Ibid., p. 4. 314 Johannes Feichtinger seines Ideenkreises“ mit jenen. 35 Seine Sprache, „obwohl etwas mit türkischen Ausdrücken untermischt“, bewertete Helfert als „eine der wohllautendsten der slavischen Race“. 36 Helfert bezeichnete auch „das Land als ein durchaus Slawisches“, als ein „einem und demselben Slawenstamme, dem serbisch kroatischen angehöriges“. 37 Alles befände sich „da in einer Art Urzustand“, der hinreichend Anlass gebe zu einer vorsichtigen, „in nichts aufdringlichen“ Zivilisierung. 38 Das durch „bisherige Miswirtschaft“ erzeugte Chaos müsse wieder in Ordnung gebracht werden: „Der Oesterreicher hat hier das Werk des Römers wieder aufzunehmen“, schrieb Helfert, und er müsse „wirthschaftlich, verkehrlich und gesellschaftlich“ „einer neuen schöpferischen und gefälligeren Ordnung der Dinge eine Stätte bereiten“. 39 Diese Argumentation erlaubte Helfert nicht nur jene klare Trennlinie zwischen dem zivilisierten Habsburg und dem nicht-zivilisierten Bosnien zu ziehen, die Said zufolge Voraussetzung für den Kolonialismus ist, sondern auch den guten, weil zivilisierungsfähigen, slawischen Muslim zu erfinden. Helferts orientalistischer Diskurs beruhte auf einer doppelten Differenzkonstruktion: zwischen dem grundverschiedenen Orient - der Türkei - und einem slawischen Orient sowie zwischen diesem und Europa, dem Abendland. Diese doppelte Grenzziehung schuf Zwischenräume - halb Orient, halb Okzident. Auf diese Zonen des Übergangs erstreckten sich jene Zivilisierungsmissionen des späten 19. Jahrhunderts, die wie in Bosnien-Herzegowina mit kolonialen Handlungen oder wie in der Bukowina oder in Galizien mit kolonialen Diskursen verknüpft waren. 40 Schriftsteller sprachen von „Halb-Asien“, 41 Politiker und Publizisten von „Übergangsstufen“ 42 oder „Uebergangsgebilden von bunter orienta- 35 Ibid. p. 259. 36 Ibid., pp. 259 u. 16. 37 Ibid., p. 240. 38 Ibid., pp. 17 u. 285. 39 Ibid., pp. 273 u. 21. 40 Vgl. Feichtinger, Johannes: Modernisierung, Zivilisierung, Kolonisierung als Argument. Konkurrierende Selbstermächtigungsdiskurse in der späten Habsburgermonarchie. In: Dejung, Christof / Lengwiler, Martin (Hg.): Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf die europäische Geschichte (1800-1930) . Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2016 (= Peripherien. Neue Beiträge zur Europäischen Geschichte 1), pp. 147-181. 41 Franzos, Karl Emil: Halb-Asien. Land und Leute des östlichen Europa. Stuttgart: Bonz & Comp. 1888; vgl. Corbea-Hoisie, Andrei: Halb-Asien. In: Feichtinger & Uhl 2016, pp. 73-81. 42 Kállay, Benjamin von: Ungarn an den Grenzen des Orients und des Occidents. In: Ungarische Revue [Budapest] Juni 1883, p. 11. Nach Said 315 lisch-occidentalischer Färbung“ 43 ; der habsburgische Zivilverwalter Kállay sprach von einem „europäischen Orient“. 44 Benjamin von Kállay war nicht nur Zivilverwalter von Bosnien-Herzegowina, sondern auch der am längsten dienende k. u. k. Finanzminister und Verfasser der Geschichte der Serben (1878). In seiner Budapester Akademierede 1883 stellte Kállay Ungarn, sein Herkunftsland, als ein Land vor, das berufen war, den Zivilisierungsauftrag im Okkupationsgebiet zu erfüllen und die „Kulturgrenze“ vorzuschieben. Da Ungarn zwischen „zwischen Asien und Europa“, „an den Grenzen des Orients und Okzidents“, „zwischen Orient und Occident getheilt“ lag, aber „in ununterbrochener und unmittelbarer Berührung mit der Zivilisation des Westens“ gestanden habe, 45 schien es ihm besonders befähigt, beide - West und Ost - zu verstehen und von beiden verstanden zu werden. So stellte Kállay sich und Ungarn - im Sinne von Saids Orientalismus - als jenen Stellvertreter vor, der für diejenigen sprach, die nicht sprechen konnten. Von dieser Machtposition leitete er den Auftrag zur Zivilisierung Bosniens und der Herzegowina ab: Nicht ewig kann der Orient in starrer Abgeschlossenheit verharren. […] Voranzuschreiten in diesem großen geistigen Kampfe, den Ausgleich der tausendjährigen Gegensätze zweier Welten zu versuchen, ist eine schwere, aber schöne und dankbare Aufgabe. […] Und unser ist, wenn wir es wollen, die Führerrolle in der Lösung dieser Aufgabe. 46 Benjamin von Kállay war einer der führenden k. u. k. Zivilisierungsmissionare, die das Ziel der Herstellung „wahrer Kulturzustände“ im Orient verfolgten. 47 Diese waren mit verschiedenen Visionen verknüpft, abhängig davon, wer sprach und auf welchen Orient sie gerichtet waren. Was den europäischen Orient, d. h. Bosnien und Herzegowina, betraf, verfolgten konservative slawophile Akteure mit der Zivilisierungsmission das Ziel der „Reoccupation von altersher uns zugehöriger Landschaften“. 48 Dieses Ziel war mit der Annexion der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina 1908 erreicht. Liberale Akteure verbanden mit der Zivilisierungsmission das Ziel der 43 Scala, Rudolf von: Über die wichtigsten Beziehungen des Orients zum Occidente in Mittelalter und Neuzeit, Vortrag gehalten im Orientalischen Museum am 26. Jänner 1887. Wien: Verlag des Orientalischen Museums. Reisser & Werthner 1887, p. 5. 44 Kállay 1883, p. 3. 45 Ibid., p. 3f. 46 Ibid., p. 52f. 47 Habsburg, Rudolf von: Politische Denkschrift 1886. Skizzen aus der Österreichischen Politik der letzten Jahre. In: Ders.: „Majestät, ich warne Sie …“. Geheime und private Schriften. Hg. von Brigitte Hamann. München: Piper 21998, pp. 143-177, hier p. 159. 48 Helfert 1879, p. 172. 316 Johannes Feichtinger Sicherung der geopolitischen „Suprematie“ im europäischen Orient, 49 das mit der Verdrängung Russlands verknüpft war. Kronprinz Rudolf formulierte dies in einem für den Kaiser bestimmten Politischen Bericht über die Orientreise 1884 klar und deutlich: „Wir werden Herren sein des europäischen Orients! “ 50 Und: „Rußland kann nur Asien in den europäischen Orient tragen, denn es ist ja selbst noch nicht kultiviert; wir aber arbeiten unter den Gesetzen einer hohen kulturgeschichtlichen Mission, im Namen des europäischen Fortschritts.“ 51 Der Kronprinz stellte Österreich als europäischen „Kulturstaat“ vor, dessen „wichtige“ und „eigentliche Aufgabe“ er darin sah, am Balkan „eine große zivilisatorische Rolle“ 52 zu übernehmen, nämlich „den Balkanvölkern ein Stück österreichischer Ordnung, europäischer Kultur und vor allem moderner Toleranz zu zeigen“ und „Träger zu sein der abendländischen Kultur nach dem Orient“. 53 Schließlich, so sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt, erzeugte Helferts orientalistischer Diskurs der doppelten Differenz, nämlich zwischen der grundverschiedenen Türkei und dem slawischen Orient sowie zwischen diesem und Europa, noch einen äußeren, abgespaltenen nicht-europäischen Orient, der aus seiner Sicht keinesfalls zivilisierungsfähig war. Damit schuf er sich in Wien viele Feinde. Denn viele entdeckten gerade im Osmanischen Reich, wo sich so vieles noch - wie es damals hieß - in „verwahrlostem Zustand“ befand, 54 ein Hoffnungsgebiet für den Handel, das durch Zivilisierungsmissionen erschlossen werden musste. Als Drehscheibe wurde 1874 in Wien das Orientalische Museum gegründet und die Oesterreichische Monatsschrift für den Orient veröffentlicht (sie erschien bis 1918). 55 Arthur von Scala, der Museumsdirektor, verlieh dem Zivilisierungsauftrag in der ersten Nummer der Zeitschrift beredt Ausdruck: „Oesterreich’s Mission als Träger europäischer Cultur und Sitte nach dem benachbarten Osten schwebt uns vor Augen.“ 56 In Helferts Augen verkannten diese „Turkophilen“ allerdings den wahren Charakter der Türken, nämlich ihr 49 Habsburg 1886, p. 159. 50 Kronprinz Rudolf: Politischer Bericht über die Orientreise 1884. In: Habsburg 1998, p. 119-134, hier p. 134. 51 Kronprinz Rudolf: Polit. Denkschrift 1886. Skizzen aus der Österreichischen Politik der letzten Jahre. In: Habsburg 1998, pp. 143-177, hier p. 160. 52 Kronprinz Rudolf: Politischer Bericht über die Orientreise 1884. In: Habsburg 1998, p. 133. 53 Kronprinz Rudolf: Polit. Denkschrift 1886. In: Habsburg 1998, pp. 153 u. 160. 54 Oesterreichische Monatsschrift für den Orient 1 (15. Jänner 1875), p. 3f. 55 Vgl. Wieninger, Johannes: Das Orientalische Museum in Wien, 1874-1906. In: Austriaca 74 (2013) [Themenheft: Vienne - porta Orientis], pp. 143-158; Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes: Orient als Metapher. Wie Österreichs Osten vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg vorgestellt wurde. In: Haider-Wilson & Graf 2016, p. 56. 56 Ibid., p. 2. Nach Said 317 „von dem europäischen so grundverschiedene[s] asiatische[s] Wesen“, das nur „Wortbruch, Treulosigkeit und Verletzung der Verträge“ kannte. 57 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass im Österreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein orientalistischer Diskurs gepflegt wurde, der im Sinne von Edward Saids Orientalismus funktionierte, aber auch Unterschiede aufwies. Das späte Habsburgerreich war keine Kolonialmacht. Um eine solche zu werden, d. h. Bosnien und Herzegowina zumindest vorübergehend wie eine Kolonie zu führen, war dessen Orientalisierung unabdingbar. Die völlige diskursive Abspaltung dieser osmanischen Provinzen hätte Habsburg zwar in den Status einer Kolonialmacht erhoben, doch wäre sie der von Anfang an erwogenen Annexion nicht dienlich gewesen. Tunlicher schien es Helfert daher, Bosnien und Herzegowina als einen zivilisierungsfähigen Zwischenraum - halb Orient, halb Okzident - zu konstruieren. Durch die Zivilisierungsmission ermächtigte sich das habsburgische Imperium selbst zur vorübergehenden Kolonialmacht: „Taming Balkan Nationalism“, wie es Robin Okey nannte, war für konservative und liberale Akteure die Voraussetzung, sich als imperialer Machtfaktor zu behaupten und einer künftigen Annexion den Weg zu bereiten. Im Rückblick auf die Geschichte Habsburg-Zentraleuropas zeigt sich auch noch eine andere Form des Orientalismus, der noch nicht gebührend Rechnung getragen wurde: Sie wird im Folgenden skizziert. K.u.k. Orientalismus Die „Schlüsselprozedur des orientalistischen Monologs“ Said’scher Spielart sieht Osterhammel in der „Konstruktion von Differenzen“, 58 zwischen Okzident und Orient, uns und den anderen. Osterhammel zufolge sind es „binäre Oppositionen“, „Gegensatzpaare“, die den „orientalistischen Diskurs“, wie ihn Said analysierte, kennzeichnen. 59 Zu fragen bleibt, ob diese methodologische Voraussetzung hilfreich ist, das Phänomen des Orientalismus vollständig zu erfassen. Said hatte einen mächtigen, auf die klassischen Kolonialmächte sich beziehenden Diskurs im Auge, den er auf der Basis literarischer Zeugnisse analysierte. Noch nicht im Auge hatte er als Literaturwissenschaftler orientalische Praktiken. 57 Helfert, Joseph Alexander von: Die weltgeschichtliche Bedeutung des Wiener Sieges von 1683. Vortrag gehalten am 2. September 1883 in der Festversammlung des katholisch-politischen Casinos der inneren Stadt Wien: F. Eipeldauer & Comp. 1883, p. 28-31; vgl. Healy, Maureen: 1883 Vienna in the Turkish Mirror. In: Austrian History Yearbook 40 (2009), pp. 101-113, hier p. 111ff. 58 Osterhammel 2001, p. 253. 59 Ibid., p. 252. 318 Johannes Feichtinger Wenn aber heute die Konstruktion oder Dekonstruktion von kulturellen Differenzen untersucht wird, wird das Hauptaugenmerk verstärkt auf Praktiken gelegt. Wenn ich also von k. u. k. Orientalismus spreche, meine ich die Summe, die sich aus diversen orientalistischen Praktiken in der späten Habsburgermonarchie und jenen Differenzkonstruktionen ergibt, die dem Said’schen Orientalismus analog erscheinen. Anzuführen ist (wie gezeigt) der zum Zweck der Kolonisierung und Annexion geführte zivilisatorische Missionsdiskurs, der auf der Ziehung kultureller Grenzen beruht. Bemerkenswert ist es aber, dass andere habsburgische Akteure zur gleichen Zeit kulturelle Differenzen zu verringern versuchten und die Verflechtungen zwischen Europa und der islamischen Welt neu in den Blick rückten. Sie zeigten, dass die Trennung der Welt in Ost und West Konjunkturen und Rezessionen unterlag. Auch sie verfolgten einen politischen Zweck, sei es die Delegitimation des liberalen Imperialismus oder - wie zu zeigen sein wird - die Europäisierung des Orients. Zum Auftakt des 7. internationalen Orientalisten-Kongress, der 1886 in Wien stattfand, musste der Minister für Kultus und Unterricht Paul Freiherr Gautsch von Frankenthurn (1851-1918) kleinlaut den durch die „Colonisation“ bewirkten Vorsprung anderer Staaten in der „Erforschung des Orients“ und des „Studiums desselben“ zugeben und seine „aufrichtige Bewunderung“ für diese „unerreichten Vorbilder“ anerkennen. 60 Österreich, so der Minister, habe in der Vergangenheit „in erster Linie dem praktisch-politischen Bedürfnisse Genüge zu thun“ gehabt. 61 Diese Anforderung hatte in der Vermittlung der Gegenwartssprachen Arabisch, Persisch und Türkisch, der Anbahnung von Handelsbeziehungen und einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem Islam bestanden. Das osmanische Reich war der unmittelbare Nachbar, oft Feind, oft Freund. So hatte die k. k. Akademie der morgenländischen Sprachen, die Maria Theresia auf Vortrag des Ministers Wenzel Anton Fürst von Kaunitz 1754 in Wien errichtet hatte, das Ziel verfolgt, „fähige Jünglinge in den nötigen Sprachen des Orients wie des Okzidents“ auszubilden „und außerdem noch in allen Wissenschaften, die zur Bewahrung der kommerziellen und politischen Interessen Österreichs im Oriente“ von Bedeutung waren. 62 Der Wiener Orientalist Joseph von Ham- 60 Anonymus: Siebenter internationaler Orientalisten=Congreß. In: Wiener Abendpost , 27. 09.1886, pp. 1-4, hier p. 1. 61 Ibid. 62 Babinger, Franz: Die türkischen Studien in Europa bis zum Auftreten Hammer-Purgstalls. In: Die Welt des Islams 7 (1919), nr. 3-4, pp. 103-129, hier p. 123. Dazu ausführlich Petritsch, Ernst Dieter: Erziehung in guten Sitten, Andacht und Gehorsam. Die 1754 gegründete Orientalische Akademie in Wien. In: Kurz, Marlene et al. (Hg.): Das Osmanische Reich und die Habsburgmonarchie. Akten des int. Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österr. Geschichtsforschung, Wien, 22.-25. Sept. 2004, München: Oldenbourg 2005 (=Mittelungen des Inst. für Österr. Geschichtsforschung, Erg.bd. 48) pp. Nach Said 319 mer-Purgstall (1774-1856) hatte 1851 in seiner Akademierede zur „Vielsprachigkeit“ auch die Errichtung von Universitätslehrstühlen für arabische, persische und türkische Volkssprache gefordert, von denen er sich die Förderung des „Handelsverkehrs im Morgenlande“ erhoffte. 63 Mit dem politisch-praktischen Auftrag der Vermittlung der drei orientalischen Gegenwartssprachen wurde die 1873 errichtete k. k. öffentliche Lehranstalt für orientalische Sprachen betraut. In seiner Begrüßungsrede konnte Gautsch auch auf die wissenschaftliche Erforschung des Islam verweisen, der Hammer-Purgstall ein dreiviertel Jahrhundert davor wesentliche Impulse gegeben hatte und die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert regelrecht aufblühte: „Ja gerade von Österreich aus ist in jüngerer Zeit eine Richtung eingeschlagen worden, die durch das Erfassen der herrschenden Ideen des Islam zu einem klaren Gesammtüberblicke seiner Kulturerscheinungen zu gelangen bestrebt ist.“ 64 Gautsch spielte dabei auf den Tagungspräsidenten, den österreichischen Diplomaten und Orientalisten Alfred Freiherr von Kremer (1828-1889), an, einem der größten Islamwissenschaftler seiner Zeit, der als Diplomat in Kairo und Beirut die erste umfassende Geschichte der herrschenden Ideen des Islams (1868, 1906 Calcutta, in englischer Übersetzung) vorgelegt hatte. Kremer nahm den internationalen Orientalisten-Kongress zum Anlass, um im Festsaal der Universität Wien in Anwesenheit der internationalen Autoritäten der Orientalistik deren Leitbild zu erneuern. Ausgehend von „Thatsachen, […] die ebensowenig bekannt als bezeichnend sind für die Bedeutung von Wien und Oesterreich und Ungarn als Vermittler zwischen dem Morgenlande und Europa“, 65 rekonstruierte er Europas lange Verflechtungsgeschichte mit dem Orient als der Grundlage von „Civilisation“, die, so Kremer, „nicht die That eines einzigen, wenn auch noch so begabten Volkes“ sei. „Sie ist das Ergebniß des friedlichen Austausches der Ideen, der geistigen und auch der materiellen Güter“. 66 Tatsächlich stellte er einen „Austausch geistiger und materieller Güter im größten Maßstabe“ fest, den er auch zu seiner Zeit noch im Gange sah. Was sich in den letzten zwei Jahrhunderten im Verhältnis zum Orient aber gezeigt habe, sei westliche Arroganz: 491-501; Ders.: Die Anfänge der Orientalischen Akademie. In: Rathkolb, Oliver (Hg.): 250 Jahre. Von der Orientalischen zur Diplomatischen Akademie in Wien. Innsbruck et al.: Studienverlag 2004, pp. 47-64. 63 Hammer-Purgstall, Joseph Frhr. von: Vortrag über die Vielsprachigkeit, gehalten an der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien am 29. Mai 1852. In: Die Feierliche Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien: k. k. Hof- und Staatsdruckerei 1852, p. 99. 64 Anonymus, Siebenter internationaler Orientalisten=Congreß. In: Wiener Abendpost , 27.09.1886, pp. 1-4, hier p. 1. 65 Ibid., p. 3. 66 Ibid., p. 2. 320 Johannes Feichtinger Der Orient ward zuerst durch die Ueberheblichkeit der europäischen Waffen unter den Einfluß der westlichen Kultur gebracht, große Länderstrecken geriethen unter unmittelbare europäische Herrschaft. […] Überall dringen die Sprachen und Sitten des Westens vor, bedrohen sogar zum Theile die einheimische althergebrachte Cultur und drängen sich ihr oft mit ganz ungerechtfertigter Ueberhebung auf. 67 Auftrag der Orientalisten sei es daher, dem Imperialismus entgegenzuwirken und den Wechselwirkungen zwischen Orient und Okzident nachzugehen: „Nun aber, gerade in dieser Richtung und mit Absicht auf dieses Ziel haben unsere Studien und Arbeiten eine Bedeutung, deren ganze Tragweite und letzte höchste Frucht sich vorläufig kaum noch ahnen läßt“. 68 Neben Kremer erkannten auch noch zahlreiche andere österreichische Orientforscher die Bedeutung des Austausches mit der islamischen Welt, so u. a. der genannte Joseph von Hammer-Purgstall, Aloys Sprenger und Alois Musil. Hammer nahm 1807 eine poetische Übersetzung des Koran in Angriff, dessen literarische Qualitäten davor nicht erkannt bzw. geschätzt worden waren. 69 Zwischen 1809 und 1818 veröffentlichte er die Zeitschrift Fundgruben des Orients (6 Bände), in der er Wissenschaftler aus Ost und West zu Wort kommen ließ: „Was dieser [Zeitschrift] aber vor allen andern bisher bestandenen Zeitschriften eine unterscheidende Eigentümlichkeit erteilen soll, ist die vielfältige unmittelbare Berührung mit dem Orient, welche uns durch die Korrespondenz unserer dortigen Freunde verschafft wird.“ 70 In den 1921 verfassten Bemerkungen erinnerte Hugo von Hofmannsthal seine Leser, dass von Wien aus, „von Hammer-Purgstall und seinen ‚Fundgruben des Orients‘ […] der Anstoß aus[ging], der Goethes Orientalismus entfachte“, 71 und - so sei hinzugefügt - diesem den Anstoß zum West-östlichen Divan (1819) gab. Hammer-Purgstalls Schüler Aloys Sprenger (1813-1893) erwarb sich im Auftrag der British East India Company außerordentliche Verdienste als Vorstand des Delhi College, als er durch Übersetzung westlicher Lehrbücher und durch die Veröffentlichung von Zeitschriften die Sprache Urdu zur Wissenschafts- 67 Ibid. 68 Ibid. 69 Vgl. Loop, Jan: Divine Poetry? Early Modern European Orientalists on the Beauty of the Koran. In: Church History and Religious Culture 89 (2009), nr. 4, pp. 455-488. 70 Hammer(-Purgstall), Joseph: Mines de l’Orient, exploitées par une Société d’amateurs, Vienne [mit den gleichrangigem arabischen und deutschen Titel Makhzan al-Kunuz al-Mashriqiyya / Fundgruben des Orients]: Vienne: Antoine Schmid 1809, p. III. 71 Hofmannsthal, Hugo von: Bemerkungen. In: Ders.: Reden und Aufsätze II 1914-1924. Frankfurt/ M.: Fischer 1979, pp. 473-477, hier p. 474f.; Goethe, Johann Wolfgang von: West-Östlicher Divan. Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans. In: Ders.: Ges. Werke. Hamburger Ausgabe, Bd 2. München: dtv 2000, pp. 126-268, hier p. 253f. Nach Said 321 sprache Indiens aufwertete. Als Sammler von ca. 2000 indischen Handschriften, die er katalogisierte und nach Europa verfrachtete (Bibliotheca Orientalis Sprengeriana), stellte er sich selbst als Vermittler dar, der durch seine private Bibliothek islamischer Literatur Studierende dabei unterstützte, die „narrow limits of European prejudices“ zu überschreiten und den Blick zu öffnen „to that connection between the East and West, which is inevitable and is proceeding in much more rapid strides than it is usually supposed.“ 72 Der Wiener Orientalist mährischer Herkunft Alois Musil (1868-1944), ein Kusin des Autors Robert Musil, war als Priester und Forschungsreisender dem Ursprung des Monotheismus auf der Spur und verbrachte die Zeit zwischen 1908 und 1915 als Co-Stammesführer der nordarabischen Rwala Beduinen. Sheikh Musa al-Ruweili, wie er liebevoll von der lokalen Bevölkerung genannt wurde, studierte den Gegenwartsislam der Beduinen und stellte dabei zahlreiche Ähnlichkeiten zum Christentum fest, worauf er die Geschichte friedvoller Koexistenz zurückführte. 73 Obwohl reisende Orientalisten wie Musil um die Verbesserung des Verständnisses des Islam in Europa bemüht waren, wurde die Welt des Islam auch in Wien gleichsam zu einem Experimentierfeld für die Konstruktion von kulturellen Unterschieden. Diese Differenzkonstruktionen wurden aber gleichfalls in Wien kritisch dekonstruiert. So stellte 1918 der Wiener Orientalist und Geograf Hans von Mžik (1876-1961) die Frage: „Was ist Orient? “, um festzustellen: „ein sehr schwankender Begriff - muß man zunächst antworten“. 74 Das erstaunliche Ergebnis seiner Untersuchung, die er 60 Jahre vor Said durchgeführt hatte, lautete, dass die Konstatierung eines „,Wesens‘ des Orients“, sei es „ethnisch“, „rassisch“ oder „kulturell“, bloße „Konstruktionen, nicht Analysen“ wären. 75 Im Unterschied zu und 60 Jahre vor Said erkannte Mžik im Konzept Orient einen jener „geschichtlichen Begriffe“, die „ als Willensakte, bewußte oder unbewußte, aufzufassen [wären], die ihrerseits wieder aus Absichten, Wünschen, Befürchtungen usw.“ hervorgingen. 76 Mžik zufolge lag „also in jedem historischen Begriffe ein volitives oder - populär gesagt - ein Zweckmoment“, das er in der Verwendung des Orientbegriffs „geradezu [als] ein programmatisches Mo- 72 Sprenger, Aloys: A Catalogue of the Bibliotheca Orientalis Sprengeriana. Gießen: W. Keller 1857, pp. IV u. VI. 73 Vgl. Kropáček, Luboš: Alois Musil on Islam. In: Archiv orientální 63 ( 1995), nr. 4, pp. 401-409. 74 Mžik, Hans von: Was ist Orient? Eine Untersuchung auf dem Gebiete der politischen Geografie. In: Mitteilungen der k. k. Geografischen Gesellschaft in Wien 61 (1918), pp. 191- 208, hier p. 192; dazu ausführlich Heiss & Feichtinger 2016, pp. 54-56. 75 Mžik 1918, p. 201. 76 Ibid., p. 202f. 322 Johannes Feichtinger ment“ erkannte, geprägt durch den „Machtwillen des Subjekts“. 77 Der Zweck des Orientbegriffs war für Mžik ein „historisch-politischer“, „dessen Inhalt sich seit dem Mittelalter in dem Gegensatze Islam - Christentum, Türkenreich - Europa erschöpfte“. 78 Mžiks Botschaft lautete, dass ein wesensverschiedener Orient dann konstruiert wurde, wenn diese Verschiedenheit eine politische Funktion erfüllte; wenn nicht, war davon keine Rede. Der Orient war eine jener „Konstruktionen“, mit denen seiner Ansicht nach der „feste Grund der Tatsachen verlassen und der Boden des Dogmas oder emotioneller Betrachtungen“ betreten werde; für Mžik brachte der Orientbegriff daher „kein Mehr an Erkenntnis“ ein. 79 Zu dieser bemerkenswerten Erkenntnis kam Mžik, da sich das Forschungs-Institut für Osten und Orient in Wien ab 1916 zur Aufgabe gemacht hatte, Europa zu verschieben, nicht in den feindlichen Osten - Russland -, sondern in den befreundeten Orient - das Osmanische Reich. Der neue Orientbegriff fasste insbesondere die Türkei als essenziellen Bestandteil Europas auf. Die Europäisierung des befreundeten Orients setzte allerdings die Aufweichung zentraler Unterscheidungskriterien wie der Religion voraus. In diesem Sinne betonte der Wiener Orientalist Rudolf Geyer (1861-1929) in seinem Vortrag Die Zukunftsfrage des Islam im Jahr 1916, dass „der gesamte Gedankeninhalt des Islam keineswegs verschieden von jenem des Christentums“ sei. 80 Den Islam charakterisierte er als die Form, „in welcher das Christentum in Gesamt-Arabien Eingang gefunden hat.“ 81 In einer „Gesellschaftskarte des Orients von Erwin Hanslik“, einem Wiener Anthropogeografen, „ausgeführt vom k. u. k. Militärgeografischen Institute“, scheint ein „Europäisch-orientalisches Gesellschaftsgebiet“ auf. 82 Anno 1914 war die Türkei demnach ein Teil Europas - eine für viele heute wieder undenkbare Vorstellung. Im Zuge der geistigen Mobilmachung des Ersten Weltkriegs wurde der Orient also von Wissenschaftlern neu konstruiert und geläufige kulturelle Unterscheidungskriterien eine Zeitlang weggeredet. Mžik mochte diese „Konstruktionen“ und Praktiken vor Augen haben, als er im Orientbegriff „ein Zweckmoment“ er- 77 Ibid., p. 203f. 78 Ibid., p. 199f. 79 Ibid., p. 208. 80 Geyer, Rudolf: Die Zukunftsfrage des Islam. 7. und 8. Vollsitzung am 24. und 31. Mai 1916. In: Berichte des Forschungs-Institutes für Osten und Orient 1 (1917), p. 7-10, hier p. 8. 81 Ibid. 82 Als Heft 1 der von Erwin Hanslik und Edmund Küttler hg. Reihe „Schriften des Instituts“ erschien von Hanslik verfasst „Der nahe Orient, Indien und Ostasien. Kulturstudien mit einer Kulturkarte des Orients“ Wien [1914] als „Sonderabdruck aus der Österreichischen Monatsschrift für den Orient, Jahrgang 1914, Nr. 3-6“. Die „Kulturkarte“ trägt den Titel „Gesellschaftskarte“. Nach Said 323 kannte, dem zufolge sich die Orientrepräsentationen im habsburgischen Raum zwischen 1914 und 1918 gravierend veränderten. Für ein erweitertes Verständnis des Orientalismus Der Orientalismus wurde von Said als diskursive Figur konzipiert. Dies ist, wie Osterhammel schreibt, „den theoretischen Vorlieben und kulturkritischen Stimmungslagen der siebziger Jahre“ verpflichtet, 83 wenn Said das, was er im Anschluss an Anouar Abdel-Malek Orientalismus nannte, 84 in binären Oppositionen beschrieb. Said berief sich auf Foucault, dessen Diskursbegriff er in Orientalism anwandte. 85 In Folie et déraison , seiner Geschichte des Wahns im Vernunftzeitalter, schrieb Michel Foucault im Jahr 1961: „In der Universalität der abendländischen Ratio gibt es den Trennungsstrich, den der Orient darstellt.“ 86 Der Orient bleibe stets die Grenze, worin das Abendland sich gebildet habe, worin es aber auch eine Trennlinie gezogen habe. Der Orient sei für das Abendland all das, was es selbst nicht sei, obwohl das Abendland im Orient das suchen müsse, was seine ursprüngliche Wahrheit darstelle. Die Geschichte dieser großen Trennung oder partage während der Entwicklung des Abendlandes müssten wir schreiben, so Foucault, und in ihrer Kontinuität und in ihrem Wechsel verfolgen. 87 Said beschränkte sich aber in Orientalism auf die Dekonstruktion diskursiver Repräsentationen des Orients, für deren Eingrenzung auch er eine Trennlinie zwischen Ost und West zog. Wer sich wozu ihren/ seinen Orient konstruierte und zu welchem Zweck, war für Said kein Erkenntnisziel. Die Trennlinie wurde vorausgesetzt, um den Gegenstand der Untersuchung abzugrenzen, nämlich die westliche Repräsentation des Orientalen, der sich nicht vertreten konnte und somit vertreten werden musste. Im letzten halben Jahrhundert haben sich mit den kulturwissenschaftlichen turns die Analyseperspektiven verschoben: Das Studium der Repräsentation ist zwar noch hoch im Kurs, zunehmend wird aber Akteurinnen und Akteuren, Praktiken, Artefakten und Austauschbeziehungen neue Aufmerksamkeit geschenkt. In diesem Zusammenhang werden diskursive Repräsentationen rückgebunden an die Erzeugungsverhältnisse und an Zweckgebundenheit und Funktionalität. Machtrelationen werden als unumgängliche Voraussetzung be- 83 Osterhammel 2010, p. 252. 84 Abdel-Malek, Anouar: Orientalism in Crisis [EA 1963]. In: Macfie 2010, p. 47-56. 85 Said 1978, p. 11. 86 Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1969 (= stw 37 ), p. 10 [bzw. Ders.: Folie et déraison. Histoire de la folie à l'âge classique. Paris: Gallimard 1961, p. IV]. 87 Vgl. ibid. 324 Johannes Feichtinger rücksichtigt. In der neuen Wissens- und Wissenschaftsgeschichte lässt sich zugleich eine perspektivische Verschiebung von der Repräsentation zur globalen Interaktion feststellen. In diesem Bereich der Geschichtsschreibung haben sich die dichotomischen Ontologien ‘West’ und ‘Ost’ als Analysekategorie mittlerweile überlebt. Im neuesten Companion to the History of Science formuliert dies Kapil Raj, einer der führenden Wissenschaftshistoriker der Gegenwart, wie folgt: Although most historians of science have yet to openly question this dichotomous ontology […], social, economic, and cultural historians have in recent decades revisited this all-to-often antagonistic vision of the world […]. Scholarly attention has thus increasingly turned to global inter connections, intercultural encounter, and negotiation. […], new forms of relational history have emerged, that offer more organic historiografical perspectives, such as history as ‘cross-roads’ ( carrefour ), connected histories, histoire croisée, and circulation. […] These new approaches have striven to bring out the inextricably enmeshed nature of cultures across the world, the commonalities on which intercultural contact is constructed and ways people or groups of people cross cultural barriers. 88 Auch in den Kulturwissenschaften richtet sich der Blick neuerdings verstärkt auf verschränkte Wissenswelten ( overlappings, entanglements, similarities ), auf go-betweens und Übersetzer, auf Rekonfigurationen (nicht-)wissenschaftlichen Wissens sowie dessen Funktionen und Einsatz für Identitätsregulierung und Normengenerierung. Der neue Akteurs- und Praktiken-basierte Zugang legt zugleich jene Interaktionen zwischen verflochtenen Räumen - Austauschprozesse - frei, die durch die Epistemologien des Kolonialismus, des Nationalismus, des Kalten Krieges und der postkolonialen Welt aus dem Blick verloren wurden. Mit dem Begriff des k. u. k. Orientalismus habe ich hier auf eine Praktik aufmerksam gemacht, die Okzident und Orient in einem reziproken Handlungszusammenhang begreift, Interaktionen neu ins Licht rückt und wechselseitige Repräsentationen auf konkrete politische Zwecksetzungen überprüft. Wenn diese epistemologische Neuperspektivierung ernst genommen wird, müssen ‘die Anderen’, wie sie genannt wurden, nicht mehr repräsentiert werden. Sie können für sich selbst sprechen. 88 Kapil, Raj: Go-Betweens, Travelers and Cultural Translators. In: Lightman, Bernard (Hg.): A Companion to the History of Science. Oxford 2016, pp. 39-57; vgl. Ders.: Beyond Postcolonialism … and Postpositivism. Circulation and the Global History of Science. In: Isis 104 (2013), pp. 337-347. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die Institutionalisierung der österreichischen Volkskunde als Wissenschaft Reinhard Johler (Tübingen) In seinem am 21. März 1917 gegebenen „Jahresbericht für das Jahr [1916]“ musste der langjährige Präsident der Anthropologischen Gesellschaft in Wien , der Mediziner und Anthropologe Carl Toldt, vom Tod des alten Kaisers Franz Joseph, von den Friedensbemühungen des neuen Herrschers Karl, vor allem aber vom Fortgang des Krieges und den damit verbundenen negativen Auswirkungen auf die von ihm geleitete wissenschaftliche Gesellschaft berichten. Toldt kam dabei wortgewaltig und vorwurfsvoll gleichermaßen auf die Kriegsziele der Entente zu sprechen, die einen „ehrenvollen Frieden“ verhindern und mit ihrer Betonung des „Nationalitätenprinzips“ die „dauernde Entkräftung Deutschlands“, die „Zerstückelung der österreichisch-ungarischen Monarchie“ und die „Vertreibung der Osmanen aus Europa“ beabsichtigen würden. Die „Vertreibung der Osmanen aus Europa“ - dies war gerade mit dem von Toldt in seiner Rede angestrengten Blick auf die eigenen Verbündeten ein erstaunliches Argument, das eine komplexe, im konkreten Fall wohl verbindend gedachte, in historischer Perspektive aber doch auch trennende Geschichte in Erinnerung rief. Es war dies die konflikthafte - und schließlich mit zum Krieg führende - Geschichte zuerst der Besetzung, dann der Annexion von Bosnien-Herzegowina im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Mit dem Verweis auf Bosnien-Herzegowina meinte Toldt freilich nicht den österreichisch-ungarischen Beitrag zur „Vertreibung der Osmanen aus Europa“, sondern er zielte auf die dort von der Habsburgermonarchie seit Jahrzehnten vorangetriebene „erfolgreiche Kulturarbeit“ ab und lieferte so in seiner Rede eine wissenschaftlich legitimierte - sozusagen anti-nationale Begründung - für den so herbei gesehnten Sieg und damit für den Fortbestand der multi-nationalen Habsburgermonarchie. 1 Diese „erfolgreiche Kulturarbeit“ wiederum, so argumentierte Carl Toldt in seiner Jahresbilanz weiter, hinge eng mit den 1 Toldt, Karl: Jahresbericht für Jahr [1916]. In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien XXXXVII (1917), pp. [16-22]. 326 Reinhard Johler vielfältigen Aktivitäten der Anthropologischen Gesellschaft in Wien zusammen, die dort seit der Okkupation 1878 durchgeführt und damit wesentlich zur wissenschaftlichen Erforschung und damit zur kulturellen Ausdeutung von Bosnien-Herzegowina in anthropologischer, prähistorischer und ethnografischer Manier beigetragen hätten. Und in der Tat: Die Okkupation und die 1908 folgende Annexion von Bosnien und der Herzegowina hatten, wie wir aus den Untersuchungen von Moritz Csáky 2 wissen, die bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert in Österreich-Ungarn gegebene, enorme soziale, kulturelle, religiöse und ethnische Pluralität noch weiter gesteigert. Und sie hatten zudem nicht nur die Zusammensetzung der slawischen Bevölkerung im Süden der Habsburgermonarchie erheblich verschoben, sondern auch eine größere muslimische Bevölkerungsgruppe zum Teil des gemeinsamen Staatswesens gemacht. Dies hat, folgt man etwa zahlreichen Reiseberichten, die Erfahrung von Fremdheit und Differenz erhöht und nach kontinuierlicher wissenschaftlicher Erhebung, Sammlung, Sortierung und Ordnung, somit nach Vertrautmachung und Orientierung gerufen. Freilich war, wie Pieter M. Judson argumentiert hat, die in der gesamten Monarchie beobachtete und in Bosnien-Herzegowina noch gesteigert wahrgenommene Vielfalt vor allem das Ergebnis von staatlich-bürokratischem Handeln einerseits und gleichzeitig Produkt des intellektuellen Schaffens der „Ideologen des Imperiums“ andererseits. Zu diesen zählt Judson neben Künstlern und Schriftstellern vor allem Ethnografen. 3 Deren bald gehäufte Präsenz in Bosnien-Herzegowina kann so mit einer Beobachtung erklärt werden, die der Wiener Kultur- und Sozialanthropologe Andre Gingrich für die außereuropäische Völkerkunde festgehalten hat: Die Vielfalt der Monarchie habe der „akademischen Welt“ ein „eigenständiges Suchen“ 4 - eine anthropologische Zugangsweise - erlaubt und gefördert. Man kann hinzufügen: Sie hat im ausgehenden 19. Jahrhundert gleichzeitig ganz wesentlich zur Herausbildung und zur inhaltlichen Profilierung einer österreichischen Volkskunde beigetragen, die sich zunehmend als europäische 2 Csáky, Moritz: Die Vielfalt der Habsburgermonarchie und die nationale Frage. In: Altermatt, Urs (Hg.): Nation, Ethnizität und die nationale Frage. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996, pp. 44-64. 3 Judson, Pieter M.: Habsburg. Geschichte eines Imperiums. München: C.H. Beck 2017, p. 349ff. 4 Gingrich, Andre: Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion des „frontier orientalism“ in der Spätzeit der k. u. k. Monarchie. In: Feichtinger, Johannes et al. (Hg.): Schauplatz Kultur - Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2006, pp. 279-288. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 327 „Völkerkunde“ verstanden hat 5 und damit eine eigenständige Subtradition 6 innerhalb der deutschen, noch mehr aber der internationalen Fachentwicklung ausgebildet hat. 7 Diese österreichische Volkskunde ist im Zentrum der Habsburgermonarchie in Wien etabliert worden, aber ihre Entstehung und ihre Ausrichtung hängen eng mit der Okkupation und der Annexion von Bosnien und der Herzegowina - und auch direkt mit den damit verbundenen Kriegen 8 - zusammen: 1884 ist von der Anthropologischen Gesellschaft in Wien die Ethnografische Commission begründet worden, die neben der „allgemeinen Ethnologie“ und der „Ethnografie Oesterreich-Ungarns“ auf die „Ethnografie der Balkanländer“ abzielte. In deren Fortsetzung initiierte 1895/ 6 der Verein für österreichische Volkskunde in Wien eine „Volkskunde des Occupationsgebietes“, die mit Beginn des Ersten Weltkriegs schrittweise in eine „Volkskunde der besetzten Balkangebiete“ überführt worden ist. Österreichische Volkskunde verdankt daher - so die These dieses Aufsatzes - ihre Etablierung als Wissenschaft der österreichisch-ungarischen „Kolonie“ Bosnien-Herzegowina. Bosnien-Herzegowina hat deswegen in vielerlei Hinsicht ihre Fachidentität geprägt: Ihre Gründungspersönlichkeiten (wie etwa Ferdinand Freiherr von Andrian-Werburg, Friedrich S. Krauss, Rudolf Meringer, Arthur Haberlandt) waren in die militärische Eroberung, die Verwaltung bzw. die wissenschaftliche Erforschung von Bosnien und der Herzegowina involviert. Zentrale Studien und gewichtige Bücher des Faches haben daher Bosnien-Herzegowina in dieser Zeit zum Inhalt. Von dort stammen zudem unzählige Objekte, die im heutigen Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien bzw. 5 Vgl. dazu zusammenfassend Johler, Reinhard: Das Ethnische als Forschungskonzept. Die österreichische Volkskunde im europäischen Vergleich. In: Beitl, Klaus / Bockhorn, Olaf (Hg.): Ethnologia Europaea. Plenarvorträge. Wien: Verl. des Inst. für Volkskunde 1996, pp. 69-101. 6 Stagl, Justin: Ethnologie und Vielvölkerstaat. In: Rupp-Eisenreich, Britta / Stagl, Justin (Hg.): Kulturwissenschaften im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich, ca. 1780 bis 1918. Wien: Böhlau 1994, pp. 22-27. 7 Dazu im Überblick Gingrich, Andre: The German Speaking Countries. In: Barth, Fredrik / Gingrich, Andre / Parkin, Robert / Silverman, Sydel: One Discipline, Four Ways. British, German, French, and American Anthropology. Chicago, London: Univ. of Chicago Press 2005, pp. 62-153. 8 Dieser Beitrag geht zurück auf den Projektbereich E „Kriegserfahrungen in Humanwissenschaften“ des Tübinger SFB 473 „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ (2005-2008). Ich habe dort mehrere Projekte zu „Kriegserfahrung und Generierung einer Wissenschaft (Volkskunde)“ geleitet. Das Projekt „Balkan-Expeditionen und österreichische Volkskunde“ ist von Christian Marchetti bearbeitet und mit einer Publikation abgeschlossen worden. Vgl. Marchetti, Christian: Balkanexpedition. Die Kriegserfahrung der österreichischen Volkskunde - eine historisch-ethnografische Erkundung. Tübingen: TVV 2013. 328 Reinhard Johler im MAK Wien (früher: k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie ) deponiert sind. Und es gibt zuletzt auch keinen Hinweis darauf, dass die damaligen österreichischen Volkskundler die Okkupation bzw. Annexion von Bosnien und der Herzegowina kritisch gesehen oder gar abgelehnt hätten. Im Gegenteil: Sie teilten mit großer Überzeugung die staatlich propagierte Okkupationsbzw. Annexionsideologie und gingen in ihren Forschungen von der eigenen „wissenschaftlichen Kulturmission“ aus, die sie mit der „historischen Mission der Monarchie“ im europäischen Südosten verbanden. 9 Der langjährige Präsident des Vereins für österreichische Volkskunde , Joseph Freiherr von Helfert, förderte etwa Forschungen in Bosnien und der Herzegowina mit Nachdruck, sah er doch die Okkupation als „ein Werk der Menschlichkeit, eine Aufgabe der Entwilderung und Gesittung, die Oesterreich im Namen und Auftrage des gebildeten Europa bei Besetzung der einem Systeme tyrannischer Willkür preisgegebenen Landstriche übernommen [habe].“ 10 Diese Wortwahl - wie überhaupt die Etablierung einer am Fremden interessierten österreichischen Volkskunde - macht es auf den ersten Blick einfach, der Leitidee des vorliegenden Sammelbands zu folgen und dabei jenes „Wissensregime“ zu rekonstruieren, das Bosnien-Herzegowina zur „k.u.k. Quasi-Kolonie“ gemacht hat. Mit Mitchell G. Ash und Jan Surman aber lohnt es sich, diesen „colonialist discourse“ in einem von Nationalisierung des wissenschaftlichen Wissens zwar angegriffenen, aber doch noch bestehenden „empire of science“ 11 etwas differenzierter zu sehen. 12 K.u.k. koloniale Wissenschaften Die 1878 erfolgte Okkupation hat in der Haupt- und Residenzstadt Wien zügig zu einer intensiven wissenschaftlichen Beschäftigung mit Bosnien-Herzegowina geführt und ab 1880 herum ein Netzwerk einander sich ergänzender, aber auch um die etwa durch das k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht 9 Ramhardter, Günther: Propaganda und Außenpolitik. In: Wandruschka, Adam / Urbanitsch, Peter (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bd. VI.1: Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen. Wien: Verlag der Österr. Akademie der Wissenschaften 1989, pp. 496-536. 10 Helfert, Joseph Alexander Freiherr von: Bosnisches. Wien: Manz 1879, p. 157. 11 Ash, Mitchell G. / Surman, Jan: The Nationalization of Scientific Knowledge in Nineteenth-Century Central Europe. An Introduction. In: Dies. (Hg.): The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire (1848-1918). Basingstoke et al.: Palgrave Macmillan 2012, pp. 1-29. 12 So würde es sich lohnen, Galizien mit Bosnien zu vergleichen; siehe dazu Kaps, Klemens / Jan Surman: Postcolonial or Post-Colonial? Post(-)colonial Perspectives on Habsburg Galicia. In: Historyka . Studia Metodologiczne XLII (2012), pp. 7-35. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 329 vergebenen Fördermittel miteinander konkurrierender Institutionen entstehen lassen. Die Anthropologische Gesellschaft in Wien ist bereits genannt worden. Von ihr sind ab 1880 zum Teil geförderte ethnografische (Felix von Luschan), archäologische (Moritz Hoernes) und anthropologische Untersuchungen ausgegangen, über die in den Monatssitzungen regelmäßig berichtet worden ist. 13 Von großer Bedeutung waren zudem die ab 1884 vom Völkerkundler Franz Heger geleitete Anthropologisch-ethnografische Abtheilung des k.k. Naturhistorisches Museum sowie - auch in ethnografischer Hinsicht - die k.k. Geografische Gesellschaft in Wien. 14 1894/ 95 ist der von Michael Haberlandt und Wilhelm Hein gegründete Verein für österreichische Volkskunde hinzugekommen. Und 1897 hat der Slawist Vatroslav Jagić mit der von ihm begründeten Balkankommission die Aktivitäten der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften gebündelt und langfristig gesichert. Bedingt durch die gemeinsame, vom österreichisch-ungarischen Finanzministerium durchgeführte Verwaltung von Bosnien-Herzegowina ist in Budapest eine Parallelstruktur zu den Wiener Initiativen und Gründungen entstanden. So sind - was hier nur erwähnt werden kann - in den ab 1887 von der Gesellschaft für die Volkskunde Ungarns herausgegebenen Ethnologischen Mitteilungen aus Ungarn regelmäßig Forschungsberichte zur Volkskunde Bosniens enthalten, die von ungarischen Volkskundlern, aber auch von Friedrich S. Krauss oder Ćiro Truhelka, dem Mitarbeiter des Bosnisch-hercegovinischen Landesmuseums stammen. 15 Mit dem 1888 in Sarajevo eröffneten Landesmuseum ( Zemaljski Musej Bosne i Hercegovine) ist jene vom langjährigen Landesverwalter, dem gemeinsamen Finanzminister Benjámin v. Kállay, initiierte und gegenüber den beiden Hauptstädten nur wenig verzögert realisierte, wissenschaftliche Infrastruktur angesprochen, die in Bosnien-Herzegowina dazu beitragen sollte, eine bosnische Landesidentität ( bošnjaštvo ) auszubilden. 16 Dieser Aufgabe folgte auch das 1904 vom Archäologen Carl Patsch - er war gleichfalls Mitarbeiter am Bosnisch-her- 13 Vgl. dazu Pusman, Karl: Die „Wissenschaften vom Menschen“ auf Wiener Boden (1870- 1959). Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die anthropolog. Disziplinen im Fokus von Wissenschaftsgeschichte, Wissenschafts- und Verdrängungspolitik. Wien, Berlin: LIT Verlag 2008, p. 105ff. 14 Heger, Franz: Die Entwicklung der ethnografischen Forschung in den Jahren 1848-1899. In: Mittheilungen der Kais. Königl. Geografischen Gesellschaft in Wien XLI (1898), pp. 71- 82. 15 Vgl. etwa Truhelka, Ćiro: Die Ethnografie auf der Millenniums-Ausstellung. I. Bosnische Abteilung. In: Ethnologische Mitteilungen aus Ungarn 5 (1896), pp. 49-53. 16 Brunnbauer, Ulf / Buchenau, Klaus: Geschichte Südosteuropas. Ditzingen: Reclam 2018, p. 167. 330 Reinhard Johler cegovinischen Landesmuseum - begründeten Institut für Balkanforschung ( Bosanskohercegovački institut za istraživanje Balkana ). 17 Zwischen den Zentren Wien bzw. Budapest und der Peripherie in Sarajevo stand Bosnien-Herzegowina zudem in Prag, Graz, Ljubljana und Zagreb (aber oft in Konkurrenz natürlich auch in Belgrad und Moskau) im Mittelpunkt von sprachwissenschaftlichen, archäologischen, historischen und ethnografischen Forschungen von Universitätsinstituten und anderen akademischen Einrichtungen. Nimmt man die ausgesprochen wichtigen Naturwissenschaften noch hinzu, dann war das bosnisch-herzegowinische Feld mit sammelnden und forschenden Botanikern, Zoologen und Geologen, mit Geografen, Linguisten und Prähistorikern, mit Anthropologen, Kunsthistorikern und Volkskundlern ausgesprochen dicht bestückt - und von einer „Kolonialisierung der Wahrnehmung“ 18 geprägt. Zum überwiegenden Teil folgten die Forscher jedenfalls mit ihren Untersuchungen den politischen Vorgaben des österreichisch-ungarischen Modernisierungsprojektes in Bosnien-Herzegowina und trugen damit ohne Zögern zur angestrebten ökonomischen und kulturellen Integration des Okkupationsgebietes in die Gesamtmonarchie bei. 19 Im Bemühen um die verordnete Herstellung einer bosnischen Landesidentität waren Historiker und Archäologen deutlich wichtiger und nützlicher als Ethnografen. Trotzdem aber überrascht der hohe Stellenwert, der in Politik und Gesellschaft der Ethnografie zugewiesen wurde, obwohl der Begriff - wie wir noch sehen werden - uneinheitlich verstanden und mit „vaterländischer Ethnologie“, „österreichischer Ethnologie“ oder auch „Volkskunde“ gleichgesetzt worden ist. Seine aktuelle Popularität hing zunächst mit dem Kaiserhaus selbst zusammen. Kronprinz Rudolf hatte nämlich in der 1887 erschienenen „Einleitung“ des ersten Bandes des von ihm initiierten 24-bändigen, in Deutsch und Ungarisch erscheinenden Sammelwerkes Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild die wissenschaftliche und auch staatspolitische Bedeutung der Ethnografie betont, die in „objectiver Vergleichung“ und „ferne von unreifen Theorien und von allen Parteileidenschaften“ ein „umfassendes Gesammtbild 17 Vgl. dazu ausführlich: Marchetti, Christian: „Frontier Ethnografy“. Zur colonial situation der österreichischen Volkskunde auf dem Balkan im Ersten Weltkrieg. In: Ruthner, Clemens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegowina, and the Western Balkans, 1878-1918. New York et al.: P. Lang 2015, pp. 363-381. 18 Calic, Marie-Janine: Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region. München 2016, p. 398. 19 Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: C.H.Beck 2010, p. 398ff.; Suppan, Arnold: Zur Frage eines österreichisch-ungarischen Imperialismus in Südosteuropa. Regierungspolitik und öffentliche Meinung um die Annexion Bosniens und der Herzegowina. In: Wandruschka, Adam et al. (Hg.): Die Donaumonarchie und die südslawische Frage. Wien: Verlag der Österr. Akademie der Wissenschaften 1978, pp. 103-129. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 331 unseres Vaterlandes und seiner Volksstämme“ zeichnen würde - und deswegen als neue Wissenschaft besonders zu fördern sei: 20 Dies umso mehr, als Ethnografie es ermögliche, Völker „besser miteinander bekannt zu machen“ und so - was gerade für Bosnien-Herzegowina besonders zentral war - zur Überwindung nationaler und religiöser Differenzen beizutragen. 21 Als mehr als ein Jahrzehnt nach dem Tod des Kronprinzen im Jahr 1901 der Band Bosnien und Herzegowina 22 als einer der letzten der Reihe veröffentlicht worden ist, war die große, in Ethnografie gesetzte, völkerverbindende Hoffnung schon deutlich abgekühlt. Diese ist aber 1910 vom Prager Völkerkundler Moriz Winternitz - wohl nicht zufällig in seiner Rezension der Slavischen Volksforschungen von Friedrich S. Krauss - noch einmal in Erinnerung gerufen worden: Eines aber haben die volkskundlichen Forschungen in unserer nächsten Nachbarschaft von denen unter fernen Naturvölkern sogar voraus. Sie haben auch eine praktische, politische Bedeutung. Der Westen Europas, der so oft durch den ‚Wetterwinkel‘ im Balkan beunruhigt wird, vor allem Österreich, das berufen ist, die Südslawen kennen und verstehen zu lernen. ‚Man höre den Guslaren und seine Lieder‘, sagt Krauss, dann wird man den Südslawen verstehen. Ich möchte hinzufügen: Und wenn unsere Politiker die Südslawen verstünden, würden sie mit ihnen auch leichter auskommen. 23 Der von Winternitz angesprochene Begriff „Volkskunde“ hat sich in den 1890er Jahren - nicht zuletzt durch die Mitte des Jahrzehnts erfolgte Gründung des Vereins , der Zeitschrift und des Museums für österreichische Volkskunde - durchgesetzt und dabei die im österreichischen Monarchieteil lange gebräuchliche „Ethnografie“ abgelöst. Dort war der Terminus Ethnografie zum einen mit der österreichischen Statistik und der 1857 erschienenen, zweibändigen „Ethnografie der Oesterreichischen Monarchie“ 24 von Karl Freiherr von Czoernig verbunden. Diese bildete die Vorlage für eine historisch orientierte, völkerbeschreibende Zugangsweise, die von den sich ethnografisch gerierenden Fächern Slawistik und Germanistik an den österreichischen Universitäten fortgeschrieben wur- 20 Erzherzog Rudolf: Einleitung. In: Übersichtsband, 1. Abt.: Naturgeschichtlicher Theil. Wien: K.-K. Hofu. Staatsdruckerei 1887, pp. 5-17. 21 Johler, Reinhard: Vom Leben, Nachleben und Weiterleben des ‚Kronprinzenwerks‘ in Österreich. In: Fikfak, Jurij / Johler, Reinhard (Hg.): Ethnografie in Serie. Zu Produktion und Rezeption der „österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild“. Wien: Verlag des Inst. für Volkskunde 2008, pp. 291-325. 22 Bosnien und Herzegowina. Wien: K.-K. Hofu. Staatsdruckerei 1901. 23 Winternitz, Moriz: Rezension von Krauss: Slavische Volksforschungen. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXX (1910), p. 64. 24 Czoernig, Karl Frhr. v.: Ethnografie der Oesterreichischen Monarchie. I. Bd. 1. Abth., Wien: K.-K. Hofu. Staatsdruckerei 1857. 332 Reinhard Johler de. 25 Zum anderen aber meinte Ethnografie auch in Österreich die außereuropäische Völkerkunde, wie sie etwa von dem an der Wiener Universität lehrenden Sprachwissenschaftler Friedrich Müller bekannt gemacht wurde: Er hatte 1868 den ethnografischen Berichtsband zur österreichischen Novara-Weltumseglung verfasst 26 und 1873 sein Standardwerk zur „Allgemeinen Ethnografie“ veröffentlicht. 27 Die damit angedeutete, schrittweise vollzogene Trennung von Volks- und Völkerkunde mag mit einer Beobachtung erklärt werden, die vom amerikanischen Kulturanthropologen George W. Stocking gemacht worden ist. Er hat argumentiert, dass im „Empire-Building-Prozess“ befindliche Staaten wie Frankreich, England, Spanien oder Italien im ausgehenden 19. Jahrhundert eine auf das außereuropäisch ‘Fremde’ zielende Anthropologie entwickelt hätten. Dagegen hätten die nord- und mitteleuropäischen „Nation-Building-Staaten“ (also etwa Deutschland, Schweden, Serbien, etc.) eine auf das jeweilig konkret ‘Eigene’ konzentrierte und somit primär national ausgerichtete Volkskunden favorisiert und außereuropäische Völkerkunde nur peripher gefördert. 28 Die multi-nationale österreichisch-ungarische Monarchie - und damit die im Entstehungsprozess befindliche österreichische bzw. ungarische Volkskunde - nahm dabei eine Zwischenposition ein, die mit der Besetzung und der Annexion von Bosnien-Herzegowina noch verstärkt wurde, befand man sich doch damit in der Rolle eines internal colonizers innerhalb der eigenen staatlichen Peripherie. Die österreichische Volkskunde bildete daher, was bereits als Subtradition der internationalen Fachentwicklung bezeichnet worden ist, eine „Völkerkunde“ - zuerst des cisleithanischen Monarchieteils, dann in Ansätzen Europas - aus. Kein Wunder also, dass sie gerade in Bosnien-Herzegowina immer wieder in eine heftige, persönlich wie auch inhaltlich ausgetragene Konkurrenz mit der gleichzeitig im Rahmen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien bzw. der Anthropologisch-ethnografischen Abtheilung des k.k. Naturhistorischen Museums entstehenden Völkerkunde geriet. Letztere unterlag, als 1884 der Schwerpunkt der neu eingerichteten Ethnografischen Commission auf das Studium der Mon- 25 Bockhorn, Olaf: „Volkskundliche Quellströme“ in Wien. Anthropo- und Philologie, Ethno- und Geografie. In: Jacobeit, Wolfgang / Lixfeld, Hannjost / Bockhorn, Olaf (Hg.): Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österr. Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jhs. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1994, pp. 417-424. 26 Müller, Friedrich: Einleitung in die Ethnografie. In: Mittheilungen der k. k. geografischen Gesellschaft in Wien XII (1869), pp. 482-504. 27 Müller, Friedrich: Allgemeine Ethnografie. Wien: Hölder 1873. 28 Stocking, George W.: After Tylor. British Social Anthropology, 1888-1951. London: Athlone 1996. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 333 archie und der benachbarten Balkenländer gelegt wurde, 29 und sie konnte sich auch im Ersten Weltkrieg nicht durchsetzen, als es galt, die „besetzten Balkanländer“ zu erforschen. Denn es gelang - so Christian Marchetti bilanzierend - „dem Volkskundemuseum im Krieg“ mit inhaltlicher Begründung, die „Repräsentationshoheit über die Balkangebiete vor dem Hofmuseum“ durchzusetzen. 30 Bojan Baskar hat der hier als Subtradition ausgemachten österreichischen Volkskunde eine weitere Variante hinzugefügt und damit Stocking im Ansatz korrigiert: „Small Ethnologies“, wie etwa die slowenische, würden in „supranational Empires“ nicht zwangsläufig einen nationalen Weg wählen, sondern zuweilen selbst imperial agieren. So konnten auch „kleine Ethnologien“ eigene, eben „kleine Kolonialismen“ entwickeln. 31 Habsburg colonial Solche „kleinen Kolonialismen“ - Stefan Simonek hat sie als „Mikrokolonialismen“ 32 in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt - waren in unterschiedlichsten Formen in der Habsburgermonarchie zu beobachten. Sie entstanden meist selbständig, verbanden sich miteinander, gerieten aber oft auch in Konkurrenz zueinander bzw. - noch stärker - zu jenem „internal colonialism“, der das diversity management der Monarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert prägte: die Herstellung von (nationaler) Differenz zum einen und deren gleichzeitigem Schutz als „Einheit in der Vielfalt“ durch Staat und Herrscher zum anderen. 33 An die Stelle eines „dominanten, zentralistischen und reichübergreifenden ‚Kolonisierungsdiskurses‘“ - so ist Peter Stachel recht zu geben - 29 Ranzmeier, Irene: Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die akademische Etablierung anthropologischer Disziplinen an der Universität Wien, 1870-1930. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2013, p. 73f. 30 Marchetti, Christian: Wiener Ethnografen im Ersten Weltkrieg. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien 136/ 137 (2006/ 2007), pp. 241-259. 31 Baskar, Bojan: Small National Ethnologies and Supranational Empires. The Case of the Habsburg Monarchy. In: Nic Craith, Máiréd / Kockel, Ullrich / Johler, Reinhard (Hg.): Everyday Culture in Europe. Approaches and Methodologies. Aldershot: Burlington 2008, pp. 69-80. 32 Zum Begriff vgl. Simonek, Stefan: Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Literaturtheorie aus slawistischer Sicht. In: Feichtinger, Johannes / Prutsch, Ursula / Csáky, Moritz (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2003, pp. 129-140, hier p. 131. 33 Verdery, Katherine: Internal Colonialism in Austria-Hungary. In: Ethnic and Racial Studies 2 (1979), pp. 378-399. 334 Reinhard Johler traten stattdessen mit Blick auf Bosnien-Herzegowina „vielfach miteinander verschränkte regionale ‚Mikrokolonialismen‘.“ 34 So unterschiedlich diese „Mikrokolonialismen“ konstituiert waren, hatte doch der in der österreichisch-ungarischen Öffentlichkeit „gefühlte Kolonialismus“ 35 - in den Worten von Clemens Ruthner: in „Kakaniens kleinem ‚Orientalismus‘“ 36 - erhebliche historische und mental empfundene Gemeinsamkeiten, die auch die wissenschaftliche Wahrnehmung der bosnisch-herzegowinischen Wirklichkeit ab der Okkupation dauerhaft steuerten. Diese diskursive Prägung hing ursächlich mit den großen Themensetzungen des 19. (und auch des 20. Jahrhunderts) - der Konstruktion des Balkans, der Frage nach dem Islam in Europa, der Identität Europas - zusammen. Diese können hier nur knapp und zusammenfassend mit zentralen theoretischen Konzepten näher gefasst und für die folgenden Kapitel in Bezug auf die österreichische ethnografisch-volkskundliche Forschung in Bosnien-Herzegowina auf den Punkt gebracht werden. Der von Edward Said 1978 geprägte Begriff des „Orientalismus“ kann hier vorausgesetzt werden: Er beinhaltet die in den westlichen Zentren im 18. und 19. Jahrhundert von Intellektuellen geschaffene und mit Macht durchgesetzte Vorstellung, dass Orient und Okzident voneinander scharf getrennte und nicht kompatible Welten - mit anderen Worten: höchst konträre, wenngleich imaginäre Anti-Welten - sind. 37 Dieses Orientalismus-Konzept ist 1997 von Maria Todorova auf den „Balkanismus“ übertragen und modifiziert worden. Auch dieser ist zunächst im Westen von Intellektuellen kreiert, dann allerdings am Balkan auch selbst übernommen worden. Wichtiger aber sind andere Unterscheidungen: Todorova versteht den „Balkanismus“ nicht als Sub-Kategorie des „Orientalismus“, sondern als etwas Originäres. Denn Balkan bedeutet für sie nicht Opposition, sondern Ambiguität; er ist nicht imaginierte „Anti-Welt“, sondern innerhalb Europas konkrete „Brücke“ und „Übergang“, bezieht er sich doch gleichzeitig auch auf die imperial-kolonialistische Unterwerfung des Balkans durch das nahe Osmanenreich. Kurz: Balkanismus ist dadurch kulturell als „the Other within“, als der „unvollständig Andere“ konstruiert worden. 38 34 Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnografischen Popularliteratur der Habsburgermonarchie. In: Feichtinger et al. 2003, pp. 259-275. 35 Ruthner, Clemens: ‚K.u.k. Kolonialismus‘ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren Klärung. In: Feichtinger et al. 2003, pp. 111-128, hier p. 115. 36 Ruthner, Clemens: Kakaniens kleiner Orient. Post/ koloniale Lesarten der Peripherie Bosnien-Herzegowina (1878-1918). In: Hárs, Endre/ Müller-Funk, Wolfgang/ Reber, Ursula (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen: A. Francke Verlag 2006, pp. 255-283, hier p. 268. 37 Edward Said: Orientalism. New York: Pantheon Books 1978. 38 Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York: Oxford Univ. Press 1997. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 335 Der von Andre Gingrich geprägte Begriff „frontier orientalism“ schließt inhaltlich genau an diesem Punkt der „Grenz-Nähe“ zum Orient an, stellt dieser doch ein spezifisches Muster der europäischen Auseinandersetzung eben mit diesem Orient dar. In Europa, so Gingrich, bestehen erstens Staaten wie Frankreich und England, die in der islamischen Welt in Übersee einen bedeutenden Einfluss ausübten, zweitens Länder wie etwa die Habsburgermonarchie, die einen gewissen kolonialen Einfluss in den Gebieten der islamischen Peripherie ausübten, und drittens Staaten, die überhaupt keine kolonialen Beziehungen mit der islamischen Welt hatten. Viertens gibt es auch solche Länder vornehmlich am Balkan, die selbst als Kolonien Teil eines islamischen Reiches waren. Zur zweiten Gruppe gehören nach Gingrich Österreich-Ungarn, aber auch Spanien und bis zu einem gewissen Grad zudem Russland. Diese Länder waren zwar nie klassische Kolonialmächte in islamisch besiedelten Übersee-Gebieten, übten aber über längere Zeit an ihren Peripherien eine mehr oder minder dauerhafte Herrschaft über islamische Grenzländer aus: Spanien in Nordwestafrika, Russland in Zentralasien sowie am Kaukasus und Österreich-Ungarn in Bosnien-Herzegowina. Österreich-Ungarns Kolonialgeschichte am (zumindest teilweise islamisch besiedelten) Balkan ist daher ein Beispiel innerhalb einer sehr heterogenen europäischen Geschichte - und stellt eine spezifisch grenznahe Kontaktform einer kolonialen Begegnung mit der islamischen Welt dar. Diese besondere Begegnung war nach Gingrich von mehreren Merkmalen geprägt: Erstens fand sie in den Peripherien der jeweiligen Imperien an einer meist umstrittenen, aber gemeinsamen Grenze statt. Zweitens bezieht sich der „frontier orientalism“ zwar auf konkrete koloniale Erfahrungen, weist aber deutlich in länger dauernde, vorkoloniale Traditionen und populäre Mythen (etwa die Türkenkriege) zurück. Bedingt durch seine lange Entstehungsgeschichte ist der „frontier orientalism“ drittens ein wichtiger Teil von intellektueller und politischer Deutung. Durch Symbole und Legenden vermittelt, ist er darüber hinaus auch zum Teil der Volkskultur geworden. Und viertens unterscheidet der „frontier orientalism“ den ‘guten islamischen’ - sprich: den ‘österreichischen’ - „Bosnier“ vom ‘bösen Türken’, ist aber sonst kulturell nicht binär organisiert, sondern hebt ausgesprochen viele innere Differenzen hervor. 39 Die von Gingrich betonte Grenz-Nähe hat den amerikanischen Historiker Robert J. Donia dazu gebracht, 40 das von Österreich-Ungarn besetzte Bosnien-Herzegowina als „proximate colony“ zu sehen. Die geografische Nähe zwi- 39 Gingrich, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World in Public and Popular Culture in Central Europe. In: Baskar, Bojan (Hg.): Mediterranean Ethnological Summer School. Ljubljana: Institut za Multikulturne Raziskave 1996, pp. 99-127. 40 Vgl. Donias Beitrag zum vorl. Sammelband. 336 Reinhard Johler schen Wien und Sarajevo - eine Distanz, die durch den schnell einsetzenden Eisenbahnbau noch weiter verkürzt worden ist - hätte zwischen „colony“ und „colonizer“ eine höchst ambivalente „colonial situation“ geschaffen. Denn zum einen sei Bosnien-Herzegowina den Habsburgern bereits einigermaßen bekannt gewesen, als diese es 1878 besetzt hatten. Dies und der Umstand, dass Serben und Kroaten beiderseits der Grenze siedelten, hätte zudem zu einem besseren Verstehen der Menschen vor Ort geführt, als dies in den klassisch kolonialen Überseegebieten möglich gewesen wäre. Doch was damit auf den ersten Blick ein Vorteil schien, sollte sich in Folge schnell als unüberbrückbarer Nachteil erweisen, bezog doch die Monarchie sofort die multi-ethnische Bevölkerung ihrer neuen „Kolonie“ in die heftig schwelenden europäischen Konflikte des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit ein. 41 Die Nähe Bosnien-Herzegowinas und die erwähnte Konstruktion des ‘guten Bosniers’ boten aber direkte Anknüpfungspunkte für die österreichisch-ungarische Herrschaft und eröffneten der neu eingerichteten Verwaltung die Möglichkeit, ökonomische Ziele mit kulturellen Maßnahmen zu verbinden und so auch die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen. So sollte etwa die Förderung der Industrie durch eine schnelle Reform der lokalen Hausindustrien erreicht werden. Benjámin von Kállay, der als gemeinsamer Finanzminister das Okkupationsgebiet verwaltete, setzte bereits 1882 die dafür notwendigen Maßnahmen, in dem er drei Institutionen in Sarajevo gründen ließ: das Bosnisch-hercegovinische Landesmuseum , die Fachschulen für Kunstgewerbe in Sarajevo sowie ein Büro zur Wiedererweckung und Entwicklung des bosnisch-hercegewowinischen Kunstgewerbes . Diana Reynolds Cordileone hat deswegen zu Recht von einem kolonialistischen „exhibitionary complex“ gesprochen, da diese eng mit dem Zentrum Wien verbundenen Institutionen eine spezifische Rolle in der Peripherie zugeschrieben bekommen hätten: „In Wien übten die Österreicher ihre Position als Großmacht mit einer Art von künstlerischem Kolonialismus aus. In Sarajevo wurde der neue Bosnier als Zögling der Monarchie (in künstlerischem wie in politischem Sinne) erzogen.“ 42 Die österreichische Ethnografie bzw. Volkskunde war über die Sammlung, Erforschung und Ausstellung von Volkskunst und Tracht in vielfältiger Weise in diesen kunstgewerblichen „exhibitionary complex“ integriert. Kein Wunder daher, dass ihre disziplinäre Institutionalisierung mit der Okkupation von Bosnien und der Herzegowina so eng verbunden war. Ihr anfängliches Profil sollte sie jedenfalls in dieser heftig umkämpften, gleichzeitig ausgesprochen diversen 41 Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegowina under Austro-Hungarian Control. In: Ruthner et al. 2015, pp. 67-82. 42 Reynolds, Diana: Kavaliere, Kostüme, Kunstgewerbe. Die Vorstellung Bosniens in Wien 1878-1900. In: Feichtinger et al. 2003, pp. 243-255. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 337 Region erhalten, in der für sie ‘Fremdes’ mit ‘Eigenem’ in bislang unbekannter Weise vermischt war. Ihr weiteres Geschick hing daher tatsächlich mit dem weiteren Geschehen in Bosnien und der Herzegowina zusammen. Die Ethnografische Commission In dem in den Mittheilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien veröffentlichten „Bericht über die Versammlung österreichischer Anthropologen und Urgeschichtsforscher am 28. und 29. Juli 1879 zu Laibach“ war auch ein Referat des Mediziners, Archäologen und Anthropologen Felix von Luschan über „altbosnische Gräber“ enthalten. Luschan war als Militäroberarzt bei der Besetzung von Bosnien und der Herzegowina beteiligt gewesen und hatte in der Folge - finanziell unterstützt von der Anthropologischen Gesellschaft in Wien - dort archäologische und ethnografische Studien durchgeführt. Seinen Bericht leitete er mit überraschend kritischen Worten ein: Die „Literatur über Bosnien“ sei zwar „gerade in den letzten Jahren in ganz abenteuerlicher Weise angewachsen“, doch wären die „Bücher über dieses interessante Land“ oft nicht durch einen Besuch vor Ort, sondern von Wien aus mit „Scheere und Kleister“ verfasst - also abgeschrieben - worden. 43 Damit beschrieb von Luschan eine gängige Publikationspraxis, benannte dabei aber auch Gründe für die bis dahin eher bescheidene Bilanz ethnografischer Forschungen in Bosnien-Herzegowina - und darüber hinaus in der ganzen Monarchie. Denn auch die Anthropologische Gesellschaft in Wien - sie war am 13. Februar 1870 zur Förderung von Anthropologie, Urgeschichte und eben der Ethnografie gegründet worden - sah diese junge Disziplin in ihren eigenen Reihen inhaltlich nur schwach verankert und auch in den Mittheilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien waren in den ersten zehn Jahren ihres Erscheinens nur vereinzelt einschlägige Aufsätze (etwa des Völkerkundlers Felix Philipp Kanitz) erschienen. Es fehlte an geeigneten Autoren - und nicht am Bedarf des Vielvölkerstaates. 44 Kein Wunder daher, dass in der am 8. Februar abgehaltenen Jahresversammlung dieser Mangel mit drastischen Worten beklagt wurde. Es sei zu bedauern, „dass die Culturzustände der Völker Oesterreichs noch immer keinen Beobachter in unserem Kreise gefunden haben, und dass ihr sowohl an sich, als auch für die Erkenntnis der Vergangenheit so wichtiger Besitz volksthümlicher Kunst und Gewerbe-Erzeugnisse noch immer keine Stätte findet, 43 Much, M.: Bericht über die Versammlung österreichischer Anthropologen und Urgeschichtsforscher am 28. und 29. Juli 1879 zu Laibach. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien X (1880), pp. 104-114. 44 Ranzmeier 2013, p. 73ff. 338 Reinhard Johler wo er dauernd der Zukunft erhalten würde, obwohl ihn jeder Tag unserer in vollständigem Umschwung begriffenen Zeit auf das Empfindlichste schmälert.“ 45 Es war kein Geringerer als der aus einem alten österreichischen Adelsgeschlecht stammende und 1882 zum Präsidenten gewählte Ferdinand Freiherr von Andrian-Werburg, der, begründet durch seine Mitgliedschaft im „Redactions-Comité“ des Kronprinzenwerks , zum entscheidenden Förderer der Ethnografie wurde. Andrian-Werburg hatte in Wien Geologie studiert, war daraufhin an der k.k. geologischen Reichsanstalt beschäftigt und war, wie es in der 1914 von Leopold von Schroeder zu dessen Tod verfassten „Gedenkrede“ heißt, 1879 „über direkte Initiative Sr. Majestät des Kaisers in das Reichsministerium berufen und mit der Organisation des gesamten Berg- und Forstwesens im Okkupationsgebiet betraut“ worden. Das „Zusammenwachsen von Bosnien und der Herzegowina mit Oesterreich“ lag ihm, so schreibt von Schroeder weiter, so am Herzen, dass er zur „naturwissenschaftlichen und ethnografischen Durchforschung des Okkupationsgebietes“ selbst beigetragen und „verschiedene größere wissenschaftliche Unternehmungen dortselbst in Bewegung gesetzt“ hat. 46 Zu diesen Unternehmungen gehörte vor allem die 1884 im Rahmen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien erfolgte Gründung der Ethnografischen Commission . Deren Einsetzung hatte Andrian-Werburg in der Ausschusssitzung am 8. Jänner 1884 mit der Begründung beantragt, dass es Aufgabe der Gesellschaft sei, „neben der allgemeinen Ethnologie das Studium der Ethnografie Oesterreich-Ungarns und die Ethnografie der Balkanländer auf ’s Kräftigste zu fördern.“ 47 In der Ausschusssitzung am 10. Februar erfolgte einstimmig die Konstituierung der Ethnografischen Commission , zu deren Obmann der von 1870 bis 1887 agierende Vizepräsident der Gesellschaft, der bereits genannte Sprachwissenschaftler Friedrich Müller und zu dessen Stellvertreter der ebenfalls schon angeführte Völkerkundler und eben ins Amt gesetzte Leiter der Anthropologisch-ethnografische Abtheilung des k.k. Naturhistorischen Museums Franz Heger gewählt worden waren . 48 Die Zusammensetzung der gleichzeitig eingesetzten Commission war durchaus prominent, wenngleich nur wenige Mitglieder - neben Heger und von Luschan vor allem der bereits recht betagte 45 Protokoll der Jahresversammlung der Anthropologischen Gesellschaft am 8. Februar 1881. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XI (1881), pp. 337-338. 46 Ferdinand von Andrian. Gedenkrede, gehalten von Prof. Dr. Leopold v. Schroeder in der außerordentlichen Versammlung am 13. Mai 1914. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XLV (1915), pp. 1-11. 47 Ausschusssitzung am 8. Jänner 1884. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XIV (1884), p. [6]. 48 Ausschusssitzung am 12. Februar 1884. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XIV (1884), p. [16]f. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 339 Balkanforscher Felix Philipp Kanitz 49 sowie der 1882 in Wien promovierte Philologe und Folklorist Friedrich S. Krauss - tatsächlich einschlägig ausgebildet und tätig waren. 50 Wirklich aktiv wurde in der Ethnografischen Commission aber nur die „Subcommission für österreichische Ethnografie“, die am 13. Mai 1884 „nach eingehender Debatte“ die „Drucklegung und Versendung der von Dr. Friedr. S. KRAUSS verfassten ‚Fragebögen über die Ethnografie der Südslaven‘“ beschlossen hatte. 51 Krauss sollte mit seinen langen Reiseberichten, seinen vielen Vorträgen und seinen zahlreichen Veröffentlichungen über die „Ethnografie der südslavischen Länder“ die, wie sie 1885 bezeichnet wurde, „Sub-Commission für österreichische Ethnografie“ fast vollkommen bestimmen. Die darüberhinausgehenden Pläne von größeren „ethnografischen Arbeiten in Österreich“ dagegen kamen, trotz des 1885 vollzogenen Obmannwechsels, aber nur zaghaft in die Gänge. 52 Derart war, wie in der Jahresversammlung 1888 festgehalten worden war, eine recht eigentümliche Situation entstanden. Die „vaterländische Ethnologie“ hatte dank des in schneller Folge erscheinenden ‚Kronprinzenwerks‘ einen „bemerkenswerthen Aufschwung“ erlebt. Die 1884 zu deren Förderung eigens eingerichtete „Commission für österreichische Ethnografie“ dagegen musste - trotz der intensiven wissenschaftlichen Behandlung „speciell der Südslaven“ - von der Anthropologischen Gesellschaft in Wien aber zu diesem Zeitpunkt schon wieder neu belebt werden. 53 Die „Förderung der Ethnografie in unserem Vaterlande“ wurde mit dem 1892 gegründeten Comité für das Studium des Bauernhauses auf neue - und weniger problematische - Beine gestellt. 54 Dies war 49 Zu Kanitz vgl. Johler, Reinhard: Die ‚kleinen‘ Ethnologien und das ‚neue‘ Europa oder: Perspektiven eines bulgarisch-österreichischen Wissenschaftskontaktes. In: Beitl, Klaus / Johler, Reinhard (Hg.): Europäische Ethnologie an der Wende. Perspektiven - Aufgaben - Kooperationen. Bulgarisch-österreichisches Kolloquium. Kittsee: Ethnografisches Museum 2000, pp. 47-64. 50 Jahresversammlung am 12. Februar 1884. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XIV (1884), pp. [17]-[21]. 51 Ausschusssitzung am 13. Mai 1884. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XIV (1884), p. [68]. 52 Jahresversammlung am 13. Jänner 1885. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XV (1885), p. [7]. 53 Jahresversammlung am 14. Februar 1888. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XVIII (1888), p. [21]-[29]. 54 Jahres-Versammlung am 8. März 1892. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXII (1892), p. [27]. 340 Reinhard Johler auch darum notwendig geworden, weil 1889 Friedrich S. Krauss im Unfrieden aus der Anthropologischen Gesellschaft in Wien ausgetreten war. 55 Zum 25-jährigen Gründungsjubiläum der Anthropologischen Gesellschaft in Wien kam Andrian-Werburg in seiner „Festrede“ trotzdem mit höchst lobenden Worten auf das publizistische Wirken von Krauss zu sprechen. Durch eine „1883 erfolgte Verbindung“ mit ihm habe die österreichische Volkskunde „eine nachdrücklichere Vertretung in unserer Mitte als bisher“ erreicht. 56 Krauss hatte seinerseits 1885 im Vorwort seines Buches Sitte und Brauch der Südslaven dieses Zusammentreffen mit Andrian-Werburg - und damit dem Beginn seiner „südslavischen Volkskunde“ - mit warmen Worten beschrieben: Im Mai des Vorjahres kam ich mit Empfehlungen von meinem hochverehrten Lehrer Prof. Friedrich Müller und dem leider zu früh verstorbenen v. Hochstetter, Ihrer Freunde, zu Euer Hochwohlgeboren, als dem Präsidenten der anthropologischen Gesellschaft in Wien. Ich wollte eine ethnografische Forschungsreise zu den Südslaven unternehmen und suchte um ein Empfehlungsschreiben der Gesellschaft an. Euer Hochwohlgeboren liessen sich auf ein Gespräch mit mir über die Ziele meiner Studien ein und beauftragten mich, ein Werk über das Gewohnheitsrecht der Südslaven auszuarbeiten. 57 Friedrich S. Krauss Im Jahr 1884 sind von Friedrich S. Krauss in zwei Bänden die „zum großen Teil aus ungedruckten Quellen“ stammenden Sagen und Märchen der Südslaven herausgegeben worden. Dem ersten Band war, wie der Autor in dem seinem universitären Lehrer Friedrich Müller gewidmeten Vorwort des zweiten Bandes mit Stolz erläuterte, ein großer Erfolg beschieden gewesen. Er war so gut wie ausverkauft - und Krauss scheute sich daher angesichts des im selben Jahr in den Mittheilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien erschienenen Aufsatzes Die südslavischen Hexensagen auch nicht, in einen überschwänglichen, programmatischen Ton zu verfallen, der recht treffend die folgenden Jahre - Krauss‘ unbändiger Elan ebenso, wie heftige inhaltliche und persönliche Konflikte, in die er verwickelt war - vorwegnahm. Krauss, der sich als „Mann der Wissenschaft“ sah, wandte sich zum einen - und mit besonderem Blick auf 55 Daxelmüller, Christoph: Friedrich Salomo Krauss (Salomon Friedrich Kraus[s]) (1859- 1938). In: Jacobeit et al. 1994, pp. 461-476. 56 Festrede des Präsidenten Ferdinand Freiherr v. Andrian-Werburg. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXV (1895), pp. [17-24]. 57 Krauss, Friedrich S.: Sitte und Brauch der Südslaven. Nach heimischen gedruckten und ungedruckten Quellen. Wien: Hölder 1885, pp V-XXVI. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 341 seine „südslavischen Brüder“ - gegen jede wie auch immer geartete „nationale Tendenz“. Zum anderen aber musste er „vom ethnografisch-anthropologischen Standpunkte aus“ gegen heftige Kritik etwa des äusserst renommierten Wiener Slawisten Vratolsav Jagić sein neues Forschungsfeld und seinen methodischen Zugang begründen. Krauss sah die „Überlieferung der Volksliteratur“ auf der gleichen Stufe wie die „höfische Kunstliteratur“ angesiedelt und versprach, erstere „dem Volke getreu nachempfunden und nacherzählt“ wieder zu geben. Die damit eng miteinander verbundene „Slavische Cultur und Literaturgeschichte“ versuchte er gleichzeitig wortgewaltig als „Gegenstand“ an der Wiener Universität zu etablieren. Seine dafür gegebene Begründung führt direkt nach Bosnien und Herzegowina. Es lohnt sich daher, seiner Argumentation genau zu folgen: Bei der Occupation Bosniens büßten zehntausend 58 österreichische Söhne diesen Irrtum mit ihrem Leben. Hundert Million Gulden wurden dem Staatsschatz entrissen. Land und Leute von Bosnien waren zur Zeit der Occupation den Österreichern weniger bekannt als Tonking. Durch Waffengewalt kann wohl ein Land erobert und zeitweilig in Zaum gehalten werden, in dauernden Besitz kann man es nur dann behalten, wenn man die Interessen der neuen Mitbürger zu den eigenen zu machen versteht. Wo besteht an einer deutschen Universität in Österreich ein Lehrstuhl für slavische Literatur und Culturgeschichte? Nirgends. Wider ihren eigenen Willen sehen sich die Südslaven Rußland in die Arme gedrängt. Und Rußland weiß diesen Vorteil gut auszubeuten. Die besten Kräfte werden unserem Staatswesen entzogen. Wenn man sich bei uns nicht bei Zeiten aufrafft, so wird es mit den südslavischen Provinzen nicht anders ergehen, als es uns mit unseren ehemaligen Errungenschaften in Italien ergangen ist. 59 1884 war es für Krauss aber trotzdem ein wichtiger Schritt, dass in der Wiener Anthropologischen Gesellschaft eine „Heimstätte österreichischer Ethnografie“ geschaffen worden war, die „zugleich das südslavische Volksthum gebührend“ würdigte 60 und ihm selber nach Jahren der Unsicherheit erstmals berufliche Perspektiven als Forscher eröffnete. Friedrich S. Krauss war 1859 im slawonischen Požega als Sohn eines jüdischen Kaufmanns und Bauernwirtes geboren worden. Die Zugehörigkeit zum mosaischen Glauben und die ärmliche Herkunft aus der Provinz haben ihn, wie Bernd-Jürgen Warneken überzeugend argumentiert hat, gleich mehrfach marginalisiert - und sein weiteres Leben in Wien nachhaltig geprägt. 61 Krauss 58 Diese Zahl ist deutlich zu hoch gegriffen, Vgl. den Beitrag von Clemens Ruthner zum vorl. Sammelband ( Besetzungen I) 59 Krauss 1885, p. XLI. 60 Krauss Friedrich S.: Sagen und Märchen der Südslaven. Zum großen Teil aus ungedruckten Quellen. Leipzig: W. Friedrich 1884, pp. VII-LII. 61 Warneken, Bernd-Jürgen: Negative Assimilation. Der Volkskundler und Ethnologe Friedrich Salomo Krauss. In: Raphael, Freddy (Hg.): „…das Flüstern eines leisen Wehens…“ Bei- 342 Reinhard Johler studierte ab 1877 an der Wiener Universität klassische Philologie und wurde dort im Jahre 1882 auch promoviert. In dieser Zeit begann er sich für die mündliche Tradition der „Südslaven“ zu interessieren. Über Vermittlung seines Lehrers Friedrich Müller kam Krauss in direkten Kontakt zu Ferdinand Frhr. von Andrian-Werburg, der ihn seinerseits Kronprinz Rudolf vorstellte. In der am 8. Mai 1883 stattfindenden Ausschusssitzung wurde der als „Schriftsteller in Wien“ geführte Friedrich S. Krauss als ordentliches Mitglied in die Anthropologische Gesellschaft in Wien aufgenommen. 62 Krauss war - das ist bereits dargestellt worden - in diesen Jahren publizistisch ausgesprochen produktiv und auch sein Engagement in der Anthropologischen Gesellschaft in Wien war mit in deren Mittheilungen veröffentlichten Vorträgen, Reiseberichten, Rezensionen und Publikationen so überbordend, dass er mit seiner „südslavischen Volkskunde“ fast alleine die Agenda der 1884 begründeten Ethnografischen Commission bestritt. Die Ethnografische Commission ihrerseits wiederum förderte ihr Mitglied Krauss in unterschiedlicher, aber finanziell erheblicher Weise. So finanzierte sie seine von Mai 1884 bis August 1885 dauernde „Reise nach Bosnien und der Hercegowina“. In seinem ausführlichen Bericht stellte er sein Vorgehen ebenso detailliert vor wie die durch Feldforschung erzielten Ergebnisse. 63 Diese waren für die Anthropologische Gesellschaft in Wien - folgt man dem von dessen Präsidenten Andrian-Werburg für 1885 gegebenen Jahresbericht - in jederlei Hinsicht so ertragreich, dass nicht nur deren „vergleichende Verarbeitung“ eine der „empfindlichsten Lücken der österreichischen und europäischen Völkerkunde“ schließen, sondern dass „unser Beispiel die südslavischen berufenen Kräfte anregen wird, mit streng wissenschaftlicher Methode bei der Erforschung ihres Volksthums sowohl der Gegenwart als der Vergangenheit nach“ mitzuarbeiten. „Welch fruchtbarer Boden in diesen Ländern vorhanden“ sei - und damit wurde ein zweiter Förderschwerpunkt der Ethnografischen Commission aufgeführt -, bewiesen „die zahlreichen, meist brauchbaren Antworten, welche auf unseren südslavischen Fragebogen einlaufen; letzterer wurde in‘s Russische und in’s Italienische übersetzt.“ 64 Die Hervorhebung der Übersetzungen des Fragebogens lässt auf dessen Erfolg schließen - und so wurde er in der Anthropologischen Gesellschaft in Wien auch immer wieder gefeiert. Bei der am 9. Februar 1886 stattgefundenen Jahträge zu Kultur und Lebenswelt europäischer Juden. Konstanz: UVK 2001, pp. 149-170. 62 Ausschusssitzung am 8. Mai 1883. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XIII (1883), p. 148. 63 Krauss, Friedrich S.: Ueber seine Reise in Bosnien und der Hercegowina. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XV (1885), pp. 84-87. 64 Jahresbericht am 9. Februar 1886. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XVI (1886), p. [17]f. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 343 resversammlung etwa berichtete der Philologe Friedrich Müller davon, dass die „anthropologische Gesellschaft in London unseren Fragebogen für die Erforschung des indischen Volksthums“ überarbeiten werde. Und während Prof. Auguste Gittée zu Ath den Fragebogen für die „französische und holländische Volkskunde“ bearbeitete, sorgten der für die Bosanska Vila arbeitende Lazar Tadić für eine serbische und der in Mostar beheimatete Prof. Fran Radić ( Glas Hercegova ) für eine kroatische Übersetzung und ermöglichten so Antworten aus der Region: Neben zahlreichen kleineren Einläufen als Antworten auf den Fragebogen müssen wir besonders mit Dank der höchst werthvollen Einsendungen unseres bosnischen Correspondenten Herrn Toma Dragičević gedenken. Allein an mahomedanisch[sic]-slavischen, bisher unbekannten Guslarenliedern verdanken wir Herrn Dragičević an 25.000 Verse. Sehr schätzbar sind desselben Beiträge über Volksmedicin und anderen Volksglauben. 65 Trotz dieser positiven Meldung aber war dem Fragebogen - er gehörte freilich zu den ersten in der Anthropologie überhaupt - kein großer Erfolg beschieden. Dies lag ein Stück weit in dessen Konzeption begründet. In der Ausschusssitzung der Anthropologischen Gesellschaft in Wien am 13. Mai 1884 wurde der von der Subcommission für österreichische Ethnografie eingereichte Antrag auf Drucklegung und Versendung der von „Dr. FRIEDR. S. KRAUSS verfassten ‚Fragebögen über die Ethnografie der Südslaven‘“ nach eingehender Debatte angenommen. 66 Der Fragebogen umfasste 740 umfangreiche Fragen, die neunzehn Themenbereiche - von der Sprache über den Volksglauben bis hin zur Hausgemeinschaft reichend - abdeckten. Nicht alle Fragen, so gestand Krauss zu, müssten beantwortet werden, aber alle Mitteilungen würden zu regelmäßig veröffentlichten Berichten führen. Bei Bedarf könne der Fragebogen unentgeltlich in kroatisch-serbischer Sprache zugesandt werden. Krauss bat daher - bevor es zu spät sei - „die intelligenten Kreise des slavischen Südens unsere rein wissenschaftlichen Bestrebungen für die Erweiterung der Kenntnis des südslavischen Volksthums ehestens und bereitwilligst“ um Unterstützung. 67 Der Misserfolg mit dem Fragebogen leitete für Krauss eine Phase erheblicher persönlicher wie auch wissenschaftlicher Rückschläge ein. 1887 scheiterte sein Versuch einer kumulativen Habilitation - und damit der angestrebten Erlan- 65 Jahresversammlung am 8. Februar 1887. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XVII (1887), p. [10]f. 66 Ausschusssitzung am 13. Mai 1884. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XIV (1884), p. [68]. 67 Krauss, Friedrich S.: Ethnografische Fragebögen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. 1: Die Südslaven. Wien: Hölder 1884. 344 Reinhard Johler gung einer venia legendi für das „Fach der slavischen Literatur mit bes. Hervorhebung der Volksliteraturen“ - an der Universität Wien. Er machte dafür eine philologisch dominierte und mit „chrowotischen Akademikern“ unter Führung von Vratoslav Jagić besetzte Kommission verantwortlich. Da Krauss mit dem Selbstmord von Kronprinz Rudolf einen bedeutenden Förderer und mit dem krankheitsbedingten, langsamen Ausscheiden von Friedrich Müller aus dem Vorstand der Anthropologischen Gesellschaft seinen wichtigsten Mentor verlor, entschied er sich nach heftig geführten inhaltlichen Debatten 1889 zum Austritt. Seine wissenschaftlichen Interessen veränderten sich zunehmend in Richtung einer ethnologischen Sexualwissenschaft, sein „südslavisches“ Forschungsfeld sollte aber ein Leben lang dasselbe bleiben. 68 1893 sollte Friedrich S. Krauss in seiner eigenen, 1890 gegründeten Zeitschrift Am Ur-Quell eine pessimistische Prognose für die Zukunft seiner Disziplin gegeben: „Geben wir uns keiner Selbsttäuschung hin, sondern gestehen wir es offen und unumwunden ein, dass Volkskunde noch gegenwärtig in Europa eine der unpopulärsten und am wenigsten beachteten Wissenschaften ist.“ 69 Dies aber sollte sich schnell mit einem Wissenschaftler ändern, der gleichfalls Mitglied der Anthropologischen Gesellschaft in Wien - nicht aber in deren Ethnografischen Commission - war: Michael Haberlandt. K.k. österreichische Volkskunde Der 1860 in Ungarisch-Altenburg geborene Michael Haberlandt hatte an der Wiener Universität Indologie studiert und war 1882 dort auch promoviert worden. 1884 wurde er zum Kustos an der Anthropologisch-ethnografischen Abteilung des k.k. Naturhistorischen Museums ernannt. Unterstützt und gefördert von seinem Lehrer Friedrich Müller wurde Haberlandt - wenige Monate nach Friedrich S. Krauss - am 11. November 1884 Mitglied der Anthropologischen Gesellschaft in Wien . Wie Krauss nahm auch Haberlandt ausgesprochen rege am Vereinsleben teil, hielt Vorträge zu seinen indologischen Themen und veröffentlichte diese in den Mittheilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien . 1887 lassen sich dort daher nicht zufällig - Haberlandt hatte sich zunehmend mit ethnografischen Themen beschäftigt - kontroverse Diskussionen mit Krauss verfolgen. Dass Krauss, wie wiederholt vermutet worden ist, deswegen aus der Wiener Anthropologischen Gesellschaft ausgetreten ist, dürfte aber nicht richtig 68 Zur Biografie siehe Burt, Raymond L.: Friedrich Salomon Krauss (1859-1938). Selbstzeugnisse und Materialien zur Bibliografie des Volkskundlers, Literaten und Sexualforschers mit einem Nachlassverzeichnis. Wien: Verlag der ÖAW 1983. 69 Krauss, Friedrich S.: Rezension der Ethnologischen Mitteilungen aus Ungarn 1893. In: Am Urquell 4 (1893), pp. 151-152. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 345 sein, denn in einer 1890 erschienenen Rezension lobte er eine Veröffentlichung von Haberlandt euphorisch und bezeichnete ihn als „geistvollen und scharfsinnigen“ Forscher. 70 Man wird aber mit der Beobachtung nicht fehlgehen, dass Haberlandt tatkräftig und mit viel Geschick jene Lücke ausgefüllt hat, die mit dem Austritt von Krauss aus der Anthropologischen Gesellschaft in Wien entstanden war. Haberlandt, dessen Konkurrenz zum völkerkundlichen Leiter der Anthropologisch-ethnografischen Abteilung des k.k. Naturhistorischen Museums Franz Heger bereits erwähnt wurde, wurde 1890 zum Ausschussrat gewählt und 1892 an der Universität Wien mit einer Schrift über „Die Cultur der Eingeborenen der Malediven“ habilitiert. Er erhielt die venia legendi für „Allgemeine Ethnografie“ verliehen und begann regelmäßig Vorlesungen zu halten. Haberlandt hatte sich damit in kurzer Zeit als der Vertreter der Ethnografie in der Anthropologischen Gesellschaft in Wien durchgesetzt. Gemeinsam mit dem Orientalisten Wilhelm Hein setzte er 1894/ 95 - in weiterer Abgrenzung zur gleichzeitig entstehenden Völkerkunde - den nächsten Schritt und gründete in Wien den Verein , die Zeitschrift und das Museum für österreichische Volkskunde . 71 Haberlandt hatte diesen Institutionen eine patriotisch-monarchietreue Zielsetzung gegeben, die mit Blick auf die „Erforschung und Darstellung des Volksthums der Bewohner Österreichs“ vornehmlich vergleichend - und damit politisch ausgleichend - realisiert werden sollte, wobei er eine „volle Unbefangenheit in nationalen Dingen“ schon dadurch gegeben sah, dass es der österreichischen Volkskunde in evolutionärer Manier um ein „tieferes Entwicklungsprincip als das der Nationalität“ ginge. Österreichische Volkskunde konzentrierte sich somit in deutscher Publikationssprache auf den cisleithanischen Landesteil, verfolgte eine gesamt-„österreichische Idee“ und sah sich daher auch eher als komparative Völker-, denn als nationale Volkskunde. Ihre Institutionalisierung ist jedenfalls auch als Reaktion auf die innerhalb der Monarchie - etwa in Böhmen und Mähren oder in Galizien - sich etablierenden nationalen Volkskunden zu sehen. Tatsächlich waren die Optionen für diese eben gegründete österreichische Volkskunde recht begrenzt: Sie konnte erstens dem Vorbild der anderen nationalen Volkskunden folgen und - was außerhalb der Haupt- und Residenzstadt Wien auch tatsächlich passierte - als deutsche Volkskunde die deutschsprachigen Gebiete innerhalb der Monarchie in ihr Visier nehmen. Zweitens konnte 70 Krauss, Friedrich S.: Rezension von M. Haberlandt: Ueber tulapurusha der Inder. In: Am Ur-Quell 1 (1890), p. 35. 71 Vgl. zu Michael Haberlandt und zu den genannten Gründungen Nikitsch, Herbert: Auf der Bühne früher Wissenschaft. Aus der Geschichte des Vereins für Volkskunde (1894- 1945). Wien: Selbstverl. des Vereins für Volkskunde 2006. 346 Reinhard Johler sie sich - wie pragmatisch nach der Jahrhundertwende verstärkt realisiert - als Wiener „Vermittlungsstelle“ zwischen den „nationalen Betriebsstellen der heimischen Volkskunden“ 72 positionieren, und drittens konnte sie, wie zu Beginn in Angriff genommen, eine über-nationale, den cisleithanischen Landesteil abbildende Disziplin werden, die ihre durchaus hegemonialen Zielsetzungen in den entfernteren Kronländern, noch mehr aber in der okkupierten Peripherie von Bosnien-Herzegowina mit einer eigenen „bosnischen Volkskunde“ durchzusetzen versuchte. In seiner 1895 zum 25-jährigen Bestand der Anthropologischen Gesellschaft in Wien gehaltenen Rede hatte deren Präsident Ferdinand von Andrian-Werburg die Gründung eines eigenständigen Vereins für österreichische Volkskunde zwar mit anerkennenden Worten begrüßt, deren Initiatoren aber mit auf den Weg gegeben, „dass die österreichische Volkskunde den Zusammenhang mit der allgemeinen Ethnografie, welcher die Grundlage ihrer Entwicklung bietet, niemals verlieren möge.“ 73 Gemeint war damit die weitere Anbindung an die Anthropologische Gesellschaft zum einen und die Fortführung der in der Ethnografischen Commission begonnenen Forschungen zum anderen. „Die Volkskunde“, so hat Michael Haberlandt auf diese Mahnung geantwortet, sei zwar eine „junge Wissenschaft“, doch „durch das Zutreten der Ethnografie gefestigt und ausgebildet“. Ihre Methoden gehörten noch „vielfach verfeinert und verbessert“, aber im Moment fehle es in der „volkskundlichen Schulung“ vor allem an „kundigen Beobachtern“ - und zwar auf dem „volkskundlichen Gebiet in Bosnien“ ebenso „wie andernwärts auch“. 74 An einer Weiterführung dieser Forschungen aber ließ Haberlandt keinen Zweifel. Diese sollten gemeinsam mit den Kollegen in Sarajevo als „bosnische Volkskunde“ bzw. von Wien aus als „Volkskunde des Occupationsgebietes“ betrieben und somit die „vergleichende Richtung“ der österreichischen Volkskunde gestärkt werden. 75 Michael Haberlandt hatte dafür in seiner „Vorerinnerung“ im zweiten Jahrgang seiner Zeitschrift für österreichische Volkskunde 1896 die Richtung vorgegeben: Die Volkskunde des Occupationsgebietes, auch in wissenschaftlicher, wie in ökonomischer Beziehung des Hinterlandes von Dalmatien, fügt sich neu in den Rahmen unserer Aufgaben ein. Das südslawische Volksthum, welches sich in verschiedenen Färbungen von dem Friaulanischen Gebirge bis über den Balkan erstreckt, schließt die 72 Haberlandt, Michael: Der Verein für österreichische Volkskunde. 1894-1904. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 10 (1904), pp. 177-181. 73 Festrede des Präsidenten Ferdinand Freiherr v. Andrian-Werburg. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXV (1895), pp. [17-24]. 74 Ibid. 75 Haberlandt, Michael: Rezension Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien und der Herzegowina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 2 (1896), pp. 117-127. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 347 bosnisch-herzegowinische Volksart als eine ganz besonders charakteristische Nuance ein, die sich in der Abgeschlossenheit des Landes ungebrochen und rein bis zum heutigen Tage erhalten hat. Gerade für die bosnische Volkskunde, die im Landesmuseum zu Sarajevo für die ethnografischen Aufgaben eine so berufene Pflegestätte besitzt, wird die vergleichende Richtung unserer Arbeit etwas Ersprießliches leisten können. 76 Im selben Jahrgang der Zeitschrift für österreichische Volkskunde war eine Abbildung der Aladža-Moschee in Foča zu sehen. Trotzdem sollte es aber in der Folge schwer fallen, die gemachten Ankündigungen für eine „Volkskunde des Occupationsgebietes“ in die Tat um zu setzten. Was aber auffällt, ist eine deutliche Verschiebung: Konzentrierten sich die Forschungen von Friedrich S. Krauss noch auf die Sammlung mündlicher Überlieferungen der „Südslaven“, so war die österreichische Volkskunde ab Mitte der 1890er Jahre mehr an Objekten - und damit an einer stärkeren Integration von Bosnien-Herzegowina in die materielle Repräsentation der österreichisch-ungarischen Monarchie - im Wiener Museum für österreichische Volkskunde interessiert. 77 Während derart jährlich oft Hunderte von Trachtenstücken oder Volkskunstgegenständen von Bosnien-Herzegowina nach Wien verschickt wurden, war die in der eigenen Zeitschrift für österreichische Volkskunde bis 1904 erschienenen Publikationen über das „Occupationsgebiet“, wie Michael Haberlandt zum 25-jährigen Bestehen seines Vereins eingestehen musste, äusserst bescheiden: Hatten etwa 49 Beiträge Niederösterreich zum Thema, handelten nur sechs von Bosnien-Herzegowina. 78 Die Gründe dafür waren vielfältig: Trotz des „volkskundlichen Reichthums des Occupationsgebietes“ war, wie Michael Haberlandt immer wieder beklagte, die am Bosnisch-hercegovinischen Landesmuseum eingefahrenen „ethnologischen Ernten“ karg und das dortige Interesse an Volkskunde über Jahre hinweg bescheiden. 79 Man verfügte im Haus - so wie im Übrigen vor allem im Wiener Volkskunde-Museum auch - über keinen ausreichend großen Stamm an sprachkundigen und fachlich qualifizierten Wissenschaftlern. Wirkliche Experten für Bosnien-Herzegowina waren zwar oft fachnah und herausragende Mitglieder des Vereins für österreichische Volkskunde , insgesamt aber doch - mit Schwerpunkt Slawistik - anderen Disziplinen zugehörig. 1901 etwa hatte der an der 76 Haberlandt, Michael: Vorerinnerung. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 2 (1896), pp.1-2. 77 Vgl. dazu mit Blick auf die materielle Kultur Marchetti, Christian: Von hybriden Pflügen und kultureller Neugestaltung. Volkskunde und Kolonialismus im Habsburgerreich. In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 9 (2009), nr. 2, pp. 98-118. 78 Haberlandt, Michael: Der Verein für österreichische Volkskunde. 1894-1904. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 10 (1904), pp. 177-181. 79 Haberlandt, Michael: Rezension von Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien und der Herzegowina, 6. Bd., Wien 1899. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 6 (1900), pp. 38-39. 348 Reinhard Johler Universität Wien lehrende Sprachwissenschaftler Rudolf Meringer ein Buch über „Die Stellung des bosnischen Hauses und Etymologien zum Hausrath“ veröffentlicht, das, unterstützt von der bosnischen Landesregierung, im Auftrage der kaiserl. Akademie der Wissenschaften entstanden war. 80 Mit der Bauernhausforschung hatte sich zudem der seit 1902 als Professor für slawische Philologie lehrende Slowene Matthias (Matja) Murko beschäftigt, der 1905 in den Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien ausführlich „Zur Geschichte des volkstümlichen Hauses bei den Südslawen“ Stellung bezogen hatte. 81 Und 1912 begann darüberhinaus die Karriere des 1886 in Mähren geborenen Edmund Schneeweis - er sollte zu einem der führenden, volkskundlich inspirierten Slawisten der Zwischen- und Nachkriegszeit werden - mit einer vom Verein , 1913 dann vom k. k. Ministerium für Kultus und Wissenschaft subventionierten Studienreise nach Bosnien-Herzegowina, Serbien, Bulgarien, Dalmatien und Kroatien. 82 Trotz dieser prominenten Gelehrten gelang es der österreichischen Volkskunde aber nicht, einheimische Forscher in Bosnien-Herzegowina als Mitarbeiter zu gewinnen. Sie musste sich stattdessen auf Personen stützen, die der aus der ganzen Monarchie zugewanderten Okkupationsgesellschaft angehörten und die als Dilettanten ethnografische Beschreibungen des bosnisch-herzegowinischen „Volkslebens“ für die Zeitschrift für österreichische Volkskunde lieferten. So beschrieb etwa Luise Schinnerer, die als Lehrerin an der k. k. Fachschule für Kunststickerei in Wien unterrichtete, 1897 in einem Aufsatz „Einiges über die bosnisch-herzegowinischen Strick- und Häkelarbeitern“. 83 1900 veröffentlichte der am Obergymnasium Sarajevo unterrichtende Emanuel (Emilian) Lilek seine Beobachtungen zum „Familien- und Volksleben in Bosnien und der Herzegowina“ 84 und 1902 fasste Maryan Udziela in seinem „Beitrag zur Volksthierkunde“ 80 Meringer, Rudolf: Die Stellung des bosnischen Hauses und Etymologien zum Hausrath. Wien: C. Gerold's Söhne 1901. Vgl. dazu auch die 1902 erschienene Rezension von Michael Haberlandt in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde. 81 Murko, Matthias: Zur Geschichte des volkstümlichen Hauses bei den Südslawen. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXXV (1905), pp. 308-330. 82 Zu Schneeweis zusammenfassend vgl. Johler, Reinhard Johler: Einbegleitung. Wissenschaftsbeziehungen. In: Čapo Žmegač, Jasna / Johler, Reinhard / Kalapoš, Sanja / Nikitsch, Herbert (Hg.): Kroatische Volkskunde/ Ethnologie in den Neunzigern. Ein Reader. Wien: Selbstverl. des Inst. für Volkskunde 2001, pp. 9-27. 83 Schinnerer, Luise: Einiges über die bosnisch-herzegowinischen Strick- und Häkelarbeiten. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 4 (1898), pp. 13-18. 84 Lilek, Emanuel (Emilian): Familien- und Volksleben in Bosnien und der Herzegowina. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 6 (1900), pp. 23-30, 164-172, 202-225. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 349 jene Eindrücke zusammen, die er von 1892 bis 1893 als Bezirksarzt in Kotor-Varoš gesammelt hatte. 85 Zu den wenigen Ausnahmen gehörte im Umfeld der österreichischen Volkskunde die 1863 im kroatischen Bjelovar geborene Journalistin und Schriftstellerin Milena Preindlsberger-Mrazović: Sie war eine doppelte Ausnahme - sie war Frau und sie war landes- und sprachkundig. Preindlsberger-Mrazović war nämlich mit ihrer Familie unmittelbar nach der Okkupation nach Sarajevo gekommen. Dort arbeitete sie als Lehrerin und veröffentlichte etwa in der Bosnischen Post . Ihr Interesse aber galt der Ethnografie. Preindlsberger-Mrazović wird zum Gründerkreis des Bosnisch-hercegovinischen Landesmuseums gezählt. 1889 wurde sie als eine der ersten Frauen überhaupt als Mitglied in die Anthropologische Gesellschaft in Wien aufgenommen und hielt im Februar 1896 im Verein für österreichische Volkskunde in Wien einen Vortrag über Bosnien-Herzegowina. 86 Ihr 1900 erschienenes Bosnisches Skizzenbuch 87 wurde daher von Michael Haberlandt auch sofort mit lobenden Worten rezensiert: Auf Grund genauester Kenntnis von Land und Leuten unternimmt hier die rühmlichst bekannte Verfasserin mit gewandter Feder eine Schilderung des Occupationsgebietes nach seiner landschaftlichen und culturellen Seite. Ein Kind des Landes, seine Sprache als ihre Muttersprache gebrauchend, hat sie Zugang zum Volksthum und seinen intimsten Besonderheiten wie nicht leicht ein anderer Schilderer, und ihre umfassende, geradezu wissenschaftliche Bildung vermittelt ihr überall die zutreffende allgemeine Beurtheilung der zahllosen interessanten und altüberlieferten Besonderheiten des Landes und seiner Bewohner. 88 Eben diese Kenntnis konnte Haberlandt aber bei den meisten seiner Autoren nicht voraussetzen. Und zudem verlagerte sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts das Fachinteresse von Bosnien-Herzegowina zunehmend in Richtung oberer Adria-Raum 89 bzw. - politisch bedingt - nach Albanien. Und dies trotz der 1908 erfolgten „Annexion der Occupationsländer“, die die „Aufgabe“ der österreichischen Volkskunde in einer intensiv fortgesetzten „Ethnografie“ und 85 Udziela, Maryan: Ein Beitrag zur Volksthierkunde. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 8 (1902), pp. 105-118. 86 https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Milena_Mrazović. 87 Milena Preindlsberger-Mrazović: Bosnisches Skizzenbuch. Landschafts- und Culturbilder aus Bosnien und der Herzegowina. Illustrirt von Ludwig Hans Fischer. Dresden: E. Pierson 1900. 88 Haberlandt, Michael: Rezension von Preindlsberger-Mrazović: Bosnisches Skizzenbuch. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 6 (1900), p. 255. 89 Johler, Reinhard: A local construction - or: What have the Alps to do with a global reading of the Mediterranean. In: Narodna Umjetnost . Croatian Journal of Ethnology and Folklore 36 (1999), pp. 87-102. 350 Reinhard Johler „musealen Vertretung“ dieser „noch höchst primitiven Gebiete“ sah. 90 Es war daher ein besonderer Erfolg, dass das 1913 vom Kustosadjunkten des Landesmuseums Vejsil Curčić verfasste Buch über „Rezente Pfahlbauten von Donja Dolina in Bosnien“ 91 als XI. Ergänzungsband in der Schriftenreihe des Museums für österreichische Volkskunde erschienen war. Denn damit, so hielt Michael Haberlandt in seinem 1914 publizierten „Jahresbericht aus dem Verein für Volkskunde für das Jahr 1913“ fest, wünscht „unsere Gesellschaft ihr bereits 1896 für die Volkskunde des Annexionsgebietes bestätigtes lebhaftes Interesse aufs neue nachdrücklich zu bekunden. Gerade für die bosnische Volkskunde hat die vergleichende, auf die kulturhistorischen Zusammenhänge dringende Richtung unserer Arbeiten besondere Bedeutung.“ 92 Das Bosnisch-hercegovinische Landesmuseum Am 1. Februar 1888 wurde das Bosnisch-hercegovinische Landesmuseum feierlich in Sarajevo eröffnet. Es verfügte über eine eigene Fachbibliothek sowie zwei Abteilungen: eine naturwissenschaftliche und eine archäologisch-kunsthistorische, die auch eine in den letzten Jahren zusammen getragene ethnografische Sammlung mit zahlreichen Kostümen und Gegenständen des Kunstgewerbes enthielt. Als Museumsleiter wirkte von 1895 bis 1904 der 1850 im kroatischen Bjelovar geborene Constantin (Kosta) Hörmann. Ihm zugeordnet waren für den naturwissenschaftlichen Bestand Othmar Reiser, für die Archäologie und Ethnografie Ćiro Truhelka. Das Museum - und insbesondere die im 2. Stock befindliche „ethnografische Costüm-Sammlung“ - stieß beim Publikum von Anfang an auf große Zustimmung, wobei bei den Öffnungszeiten Rücksicht auf die religiösen Verpflichtungen von Juden und Muslimen genommen wurde. Neben der eigenen Dauerausstellung zeigte das Bosnisch-hercegowinische Landesmuseum Teile seiner Sammlung auch immer wieder auswärts (wie etwa bei der ungarischen Millenniums-Ausstellung in Budapest). 93 Das Museum gab seit 1889 die Glasnik zemaljskog muzeja za Bosnu i Herzegovinu und ab 1893 die Wissenschaftlichen Mittheilungen aus Bosnien und der Hercegowina heraus. Deren erster und zweiter Band wurde vom Sekretär der Anthropologischen Gesellschaft in Wien , dem Prähistoriker Josef Szombathy ein- 90 Tätigkeitsbericht des Museums für österreichische Volkskunde für das Jahr 1909. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 16 (1910), pp. 65-77. 91 Curčić, Vejsil: Rezente Pfahlbauten von Donja Dolina in Bosnien. Wien: Gerold 1913. 92 Jahresbericht aus dem Verein für Volkskunde für das Jahr 1913. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 20 (1914), pp. 63-68. 93 Hörmann, Constantin: Zur Geschichte des Bosnisch-hercegovinischen Landesmuseums. In: Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien und der Hercegowina 1 (1893), pp. 3-23. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 351 gehend besprochen. Dabei ging er von jenen „wissenschaftlichen Pfadfindern aus den gelehrten Kreisen unserer Monarchie aus“, die bereits „während der Occupationskämpfe und unmittelbar nach ihnen“ das Land forschend durchzogen und „manches interessante Stück nach Wien“ geliefert hätten. Die beiden nun „vorliegenden Prachtbände“ würden daher eine erste „stattliche Abschlagzahlung“ für die bisher geleisteten Bemühungen darstellen: So groß die Hartnäckigkeit war, mit welcher sich das bosnisch-hercegowinische Gebiet, als die Spitze des vom islamitischen Osten gegen die westliche Cultur vorgetriebenen Keiles, bis in das letzte Viertel unseres Jahrhundert alle Segnungen der Neuzeit zu verschliessen verstand, so bewunderungswürdig und geradezu beispiellos ist die Schnelligkeit, mit welcher in dem durch unsere Waffen occupirten Lande die geistige Occupation von einer in ihren Zielen und ihren Mitteln klaren und sicheren Verwaltung durchgeführt wird. Durch die schmerzlose Einimpfung aller guten Säfte der modernen Verwaltungskunst wird dem Lande eine Erziehung zu materiellem und geistigem Wohlstande gegeben, wie es sonst noch keinem Volke sonst zutheil ward. Es erscheint als ein Zug vornehmster Dankbarkeit, dass das Land durch seine erleuchtete Regierung bereits dahin geführt wird, dem Westen als Abschlagzahlung für die empfangenen culturellen Werthe ein durch einen Stab überaus eifriger Gelehrter frisch erschürftes wissenschaftliches Material darzubieten. 94 Damit war ein - wenn man will: kolonialer - Deutungsrahmen vorgegeben, der bis zum Beginn des Weltkriegs von Seiten der österreichischen Forscher nicht mehr hinterfragt wurde. Österreichische Volkskundler, wie der Ko-Gründer des Vereins und des Museums für österreichische Volkskunde Wilhelm Hein, fügten dem neben der vielbeschworenen Vielfalt der „ethnografischen Verhältnisse der Bevölkerung“ noch die „seltene Gelegenheit“ hinzu, in Bosnien-Herzegowina „altherbrachte Sitten und Gewohnheiten bis in die frühesten Zeiten verfolgen und in ihrer Reinheit studiren zu können“. 95 Und eben diese spezifische Verknüpfung von eigener, in kurzer Zeit im Bosnisch-hercegowinischen Landesmuseum vollbrachter Zivilisationsleistung mit der exotisch-bunten Rückständigkeit des umgebenden Okkupationsgebietes sollte auch die Wahrnehmungsfolie für die in den 1890er Jahren gehäuft stattfindenden Besuche verschiedener wissenschaftlicher Gesellschaften in Sarajevo bilden. So fand dort vom 15. bis 21. August 1894 eine „Archäologen- und Anthropologen-Versammlung“ statt. Die Teilnehmer besuchten nach ihrer Ankunft gleich das Landesmuseum, lobten die „mächtig anwachsenden Sammlungen“ sowie die hohe Qualität der am Museum 94 Szombathy, Josef: Rezension der Wissenschaftlichen Mittheilungen aus Bosnien und der Hercegowina, 1. Bd., 1893, 2.Bd. 1894. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXIII (1893), pp. 226-230. 95 Ibid., p. 230. 352 Reinhard Johler herausgegebenen Schriften und sahen dies als Ergebnis der großen „Thatkraft der Forscher“ - und als eindeutiger Beweis dafür, was „wir während der 15 Jahre unserer Occupation in dem Lande gethan haben“. 96 Denn die geschaffenen „modernen Einrichtungen“ stünden für alle Teilnehmer im deutlichen Gegensatz zum später besuchten „Fest al la turca“. 97 Recht ähnlich war auch der Verlauf der vom 2. bis zum 7. September 1895 nach Sarajevo führenden „Excursion der Anthropologischen Gesellschaft nach Bosnien und der Hercegowina“, an der neben Michael Haberlandt, Franz Heger und dem Prähistoriker Matthäus Much auch der berühmte deutsche Anthropologe Rudolf Virchow teilnahm. Man besuchte in der Umgebung einen Bogumilen-Friedhof und wohnte der Vorführung eines Kolo-Tanzes bei. In Sarajevo zeigte eine Stadtbesichtigung den Teilnehmern die „Sitten und Gewohnheiten des Orients“. Und wiederum war das Bosnisch-hercegowinische Landesmuseum nicht nur Beleg für die „Fürsorge einer weisen Regierung“, sondern auch der Beweis für das milde „Scepter eines grossen Culturstaates“. Franz Heger, von dem dieser Bericht stammt, fügte hinzu, dass das Museum „das ureigenste Werk des Reichs-Finanzministers v. KALLAY“ sei, „der demselben eine ganz modern-wissenschaftliche Grundlage gab und zu dessen Lieblingsschöpfungen es auch zählt.“ 98 Volkskundler, wie Michael Haberlandt, beklagten zwar im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer wieder, dass ihr Fach im Bosnisch-hercegowinische Landesmuseum und den dort herausgegebenen Schriftenreihen nur ein „bescheidenes, aber wohl ausgefülltes Plätzchen eingeräumt“ bekommen hätte 99 , aber sie lobten gleichzeitig den von Benjámin v. Kállay initiierten und von der Monarchie vorangetriebenen „Wandel der Dinge“ - im Okkupationsgebiet und ab 1908 im annektierten Reichsland. 100 Der Grund dafür war einfach: Der gemeinsame Finanzminister hatte 1882, wie bereits erwähnt, Strategien entworfen, um Bosnien-Herzegowina zu modernisieren. Zu diesen zählten neben mehreren scharfen Verboten auch die angestrebte Schaffung einer gemeinsamen bosnischen Landesidentität, die die Loyalität der serbischen, kroatischen und muslimischen 96 Sombathy, Josef: Die Archäologen- und Anthropologen-Versammlung in Sarajevo, 15. bis 21. August 1894. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXIV (1894), pp. [202-213]. 97 Ibid. 98 Heger, Franz: Bericht über die Excursion der Anthropologischen Gesellschaft nach Bosnien und der Hercegovina nebst Aufenthalt in Spalato und Pola (1. bis 16. September 1895). In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXV (1895), pp. [83-89]. 99 Ob diese Klage berechtigt war, braucht hier nicht weiter geklärt werden. Immerhin aber hatte der Direktor des Museums einschlägig publiziert. Vgl. Hörmann, Constantin: Narodne pjesme Muhamedovaca u Bosni i Hercegovini. Sarajevo: Landesdruckerei 1888/ 89. 100 Haberlandt, Michael: Rezension der Wissenschaftlichen Mittheilungen aus Bosnien und der Hercegowina, Bd. 5. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 4 (1898), pp. 158-159. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 353 Bevölkerung sichern sollte. Eine Maßnahme dafür war, wie Diana Reynolds Cordileone aufgezeigt hat, die kunstgewerbliche Schaffung eines verbindenden „bosnischen Stils“, der zwischen den Fachschulen und Museen in Wien und Sarajevo erfunden werden sollte. 101 Eine andere, aber durchaus ähnliche Maßnahme war die von Wien aus geplante Etablierung einer über-nationalen und über-konfessionellen „bosnischen Volkskunde“. Diese erschien den Wiener Volkskundlern nämlich - so wie sie Bosnien-Herzegowina als Verkleinerung des cisleithnischen Landesteils sahen - wie eine Miniatur der österreichischen Volkskunde. So wie die politischen Bemühungen für die Herstellung eines bosnischen Landesbewusstseins scheiterten und auch die Erfindung eines „bosnischen Stils“ keinen Erfolg hatte, gelang es auch der österreichischen Volkskunde nicht, eine „bosnische Volkskunde“ dauerhaft in Sarajevo zu etablieren. Die Gründe für ihr Scheitern ähnelten dabei jenen, die den zeitgleich in Tirol unternommenen Versuch, eine Italiener und Deutsche gemeinsam behandelnde „welschtirolische Volkskunde“ zu begründen, zum Misserfolg machten - und sie waren auch nicht sehr unterschiedlich zum Bedeutungsverlust jener „südslavischen Volkskunde“, die Anfang der 1880er Jahre Friedrich S. Krauss zu initiieren suchte. Als über-nationale Volkskunden - und so war letztlich auch das Schicksal der k. k. österreichischen Volkskunde - scheiterten sie an den von Tag zu Tag dominanter werdenden nationalen Wirklichkeiten. Volkskunde der besetzten Balkangebiete Im Jahr 1908 hatte Erzherzog Franz Ferdinand das Protektorat über den Verein und das Museum für österreichische Volkskunde übernommen. Mit kaiserlichem Beschluss vom 3. August 1911 durfte das Museum zudem den ehrenden Zusatz „kaiserlich-königlich“ führen. Was sich somit als positive Entwicklung der österreichischen Volkskunde abzeichnete, wurde am 28. Juli 1914 aber abrupt unterbrochen: Das Museum für österreichische Volkskunde bedauerte sofort den Tod „seines unvergeßlichen Protektors, der als Beschirmer des österreichischen Staatsgedankens und der österreichischen Kulturmission der Mordkugel von Sarajevo zum Opfer“ gefallen war. 102 Die österreichische Volkskunde nutzte in der Folge - ein weiteres Mal - eine Chance, die diesmal allerdings der Kriegs- 101 Reynolds, Diana: Die österreichische Synthese. Metropole, Peripherie und die kunstgewerblichen Fachschulen des Museums. In: Noever, Peter (Hg.): Kunst und Industrie. Wien: Hatje Cantz, pp. 203-217.- Vgl. dazu auch den Beitrag von Maximilian Hartmuth im vorl. Sammelband. 102 Haberlandt, Michael: Tätigkeitsbericht des k. k. Museums für österreichische Volkskunde für das Jahr 1914. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 21-22 (1915-16), pp. 26-30. 354 Reinhard Johler verlauf auf dem Balkan eröffnete und ihr Untersuchungsfeld auf die von der k. u. k. Armee besetzten Balkanländer erweitert hatte. 103 Deren „wissenschaftliche Erforschung“ sah man ganz in der Tradition jener „Pflege der Volkskunde und Volkskunst der Okkupationsgebiete“, wie sie „seit Dezennien“ von Verein und Museum betrieben worden war. 104 Dabei kam dem Sohn von Michael Haberlandt, dem 1889 geborenen, 1911 promovierten und 1914 an der Universität Wien habilitierten Arthur Haberlandt eine besonders große Bedeutung zu. Er sollte von diesen Forschungen so nachhaltig geprägt werden, dass er sein ganzes Leben ein „intensives Verhältnis vor allem zur slawischen Volkswelt“ haben sollte. 105 Arthur Haberlandt war als Kriegsfreiwilliger an der Balkanfront zweimal leicht verwundet worden, bekam dann aber - unterstützt von seinem Vater - die Gelegenheit, sich an wissenschaftlichen Unternehmungen am Balkan beteiligen zu können. Die wohl wichtigste war die 1916 vom k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht initiierte und von der kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien entsandte „kunsthistorisch-archäologisch-ethnografisch-linguistische Balkanexpedition nach den von den österreichisch-ungarischen Truppen besetzten Gebieten des südöstlichen Kriegsschauplatzes: Montenegro, Albanien und Serbien.“ An dieser dreimonatigen „Expedition“ nahmen neben Haberlandt auch Linguisten, Archäologen, Slawisten und Kunsthistoriker teil. Der Ertrag dieser interdisziplinären Erhebungen - für die Volkskunde waren dies vor allem fotografische und künstlerische Dokumentationen, Objekte und anthropologische Messungen - war entsprechend der gestellten „Aufgabe der Expedition in ethnografischer Hinsicht“ vorgegeben: eine Orientierung über die wichtigsten Bevölkerungsverschiebungen während des Krieges zu erlangen; Vorarbeiten zur Anfertigung einer einwandfreien, die gegenwärtigen Verhältnisse wiedergebenden ethnografischen Karte, beziehungsweise Kontrollierung des vorhandenen ethnografischen Kartenmaterials, besonders für die serbisch-montenegrinisch-albanischen Grenzgebiete; Feststellung der Stammesbeziehungen und Blutracheverhältnisse; Orientierung über bedrohte volkskünstlerische Denkmäler und entwicklungsfähige Hausindustrien. 106 103 Zur Rolle der Volkskunde bzw. Anthropologie im Ersten Weltkrieg vgl. Johler, Reinhard / Marchetti, Christian / Scheer, Monique (Hg.): Doing Anthropology in Wartime and War Zones. World War I and the Cultural Sciences in Europa. Bielefeld: transcript 2010. 104 Zur wissenschaftlichen Erforschung der besetzten Balkanländergebiete. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 23 (1917), pp. 91-92. 105 Schmidt, Leopold: Arthur Haberlandt zum Gedächtnis. Nachruf und Bibliografie. In: Österr. Zeitschrift für Volkskunde XVII/ 67 (1964), pp. 217-271. 106 Österreichische Balkanexpedition. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 21-22 (1915-16), p. 176. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 355 Diese auf Verwaltung, Wiederaufbau und militärische Kontrolle verweisenden Zielvorgaben wurden von Seiten des Wiener Museum für österreichische Volkskunde noch um einen weiteren, wichtigen Punkt ergänzt: Kriegspropaganda. So organisierte das Museum 1916 im k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie eine aus eigenen Beständen zusammengestellte „Ausstellung von Volksarbeiten aus den Balkanländern“ 107 . Und Anfang 1918 wurde im Festsaal der Wiener Universität mit großem Erfolg und unter Teilnahme von prominenten Gästen die Ausstellung „Zur Volkskunde der besetzten Balkangebiete“ gezeigt. Diese stellte den materiellen Ertrag der „Balkanexpedition“ dar, ließ die Veranstalter aber auch auf jene „Früchte eines Zusammenwirkens von Front und Wissenschaft“ verweisen, „wie es vor dem Weltkriege nie gedacht werden konnte.“ 108 Damit direkt angesprochen war der enge, gerade am Balkan realisierte Zusammenhang von österreichischer Volkskunde und Krieg. 109 Dies betraf die Organisation und die Durchführung der „Balkanexpedition“, waren doch die beteiligten Forscher vom Kriegsdienst freigestellt worden. Gleichzeitig nutzten diese in vielfältiger Weise während ihrer Erhebungen militärische Einrichtungen und versuchten dabei, mit ihren Ergebnissen gleichzeitig auch den Militärs nützlich zu sein. Dies zeigt sich etwa in einer an das Wissenschaftliche Komitee des k. u. k. Kriegsminsteriums gerichteten „Denkschrift“ in der die für das Kriegsgeschehen am dringlichsten scheinenden volkskundlichen Aufgaben aufgezählt wurden: Namentlich wird auch auf die dringende Notwendigkeit hingewiesen, die gewonnenen ethnografischen und geografischen Erfahrungen zur Verbreitung eines grösseren Wissens über die Ländergebiete unter allen Gebildeten auszuwerten, und zwar 1. durch Aufnahme kurzer Aufsätze über Land und Leute auf der Balkanhalbinsel in die Lehrbücher der militärischen Schulen; 2. Herstellung von Kinematogrammen und Lichtbildern für Unterrichtszwecke; 3. Verbreitung kleiner lesbarer Leitfäden über Land und Leute zum Gebrauch für Offiziere und Verwaltungsbeamte. 110 Solche Intentionen einer „praktischen Volkskunde“ sind von Direktor des Museums für österreichische Volkskunde , Michael Haberlandt noch weiter verstärkt 107 Ausstellung von Volksarbeiten aus den Balkanländern. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde XXI-XXII (1915-16), pp. 201-202. 108 Volkskundliche Ausstellung des Kaiser Karl-Museums aus den besetzten Balkangebieten. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 24 (1918), pp. 52-53. 109 Marchetti, Christian: Mobilisierung und Disziplinierung. Volkskunde und Balkanexpedition im 1. Weltkrieg. In: Johler, Reinhard / Matter, Max / Zinn-Thomas, Sabine (Hg.): Mobilitäten. Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung. Münster et al.: Waxmann 2011, pp. 418-424. 110 Zur wissenschaftlichen Erforschung der besetzten Balkanländergebiete. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 23 (1917), pp. 91-92. 356 Reinhard Johler worden. Haberlandt hatte nämlich 1918 für die Österreichische Waffenbrüderliche Vereinigung eine Broschüre über „Die nationale Kultur der österreichischen Völkerstämme“ verfasst. Diese sollte in großer Auflage an der Front zur Verbreitung gelangen. Deren propagandistischer Inhalt erwies sich durch das schnelle Kriegsende zwar als obsolet, beinhaltete aber doch noch einmal die wesentlichen Punkte der k. k. österreichischen Volkskunde: ein staatstragendes Verständnis, das die Habsburgermonarchie durch Natur und Geschichte, aber auch durch ihre multi-nationale Vielfalt begründet sah; eine evolutionistisch konzipierte und weiträumig vergleichende Ausrichtung; eine behauptete wissenschaftliche Unparteilichkeit und Neutralität; eine gewollte „deutsche kulturelle Führung der Stämme Österreichs“ und damit die Betonung ihrer „Kulturmission“ - in der Monarchie im Ganzen und auf dem Balkan im Besonderen. 111 Bosniens volkskundliches Erbe Noch während des Krieges hatte Arthur Haberlandt nicht nur erste „Berichte“ seiner „ethnografischen Arbeiten im Rahmen der historisch-ethnografischen Balkanexpedition“ 112 , sondern 1917 in Buchform auch bereits seine „Kulturwissenschaftlichen Beiträge zur Volkskunde von Montenegro, Albanien und Serbien“ 113 veröffentlicht. 1919 ließ er die „Volkskunst der Balkanländer in ihren Grundlagen erläutert“ 114 folgen. Von gleicher wissenschaftlicher Betriebsamkeit war auch sein Vater Michael Haberlandt geprägt. Er publizierte 1920 sein Buch Die Völker Europas und des Orients . 115 Diese Veröffentlichungen sind noch ganz im Kontext einer, trotz des Krieges im Aufschwung befindlichen österreichischen Volkskunde zu verstehen. Das lange in einem Provisorium existierende Museum für österreichische Volkskunde konnte 1917 in das Palais Schönborn übersiedeln und hatte gleichzeitig die Erlaubnis bekommen, sich Kaiser Karl-Museum für österreichische Volkskunde zu 111 Haberlandt, Michael: Die nationale Kultur der österreichischen Völkerstämme. Herausgegeben von der Österreichischen Waffenbrüderlichen Vereinigung. Wien et al.: Fromme 1918. 112 Haberlandt, Arthur: Bericht über die ethnografischen Arbeiten im Rahmen der historisch-ethnografischen Balkanexpedition. In: Mitteilungen der Geografischen Gesellschaft in Wien LIX (1916), pp. 736-742. 113 Haberlandt, Arthur: Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Volkskunde von Montenegro, Albanien und Serbien. Wien: Verein für öster. Volkskunde 1917. 114 Haberlandt, Arthur: Volkskunst der Balkanländer in ihren Grundlagen erläutert. Wien: Schroll 1919. 115 Haberlandt, Michael: Die Völker Europas und des Orients. Leipzig, Wien: Bibliografisches Institut 1920. Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 357 nennen. 116 Kein Wunder daher, dass man sich angesichts des ersehnten Sieges erhoffte, die eigene „Balkan-Abteilung“ zu einer „kulturwissenschaftlichen Zentrale für alle Balkanländer und deren Bevölkerung sich beziehenden Aktionen und Arbeiten“ machen zu können. 117 Die Kriegsniederlage und der Untergang der Habsburgermonarchie haben diesen Träumen ein schnelles Ende bereitet. „Der große Angriff nach dem Südosten“, so hat der Doyen der österreichischen Volkskunde Leopold Schmidt in seiner 1960 veröffentlichten Geschichte des Österreichischen Museums für Volkskunde festgehalten, „musste Stückwerk bleiben“ und war ebenso „utopisch“ wie das mit der Ethnografischen Commission 118 begonnene Wiener Bemühen um eine „europäische Völkerkunde“. 119 Paradoxerweise hat die österreichische Volkskunde ihre universitäre Etablierung auch erst unter nationalstaatlicher Flagge in den 1920er und 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts als „deutsche Volkskunde“ gefunden. Erst dadurch hat sie sich von der internationalen anthropologischen Wissenschaftsentwicklung abgeschnitten, die ihren Anfang so stark geprägt hat. 120 Was aber geblieben ist, sind die in Wiener Museen aus Bosnien-Herzegowina gesammelten Musemsobjekte. 121 Manche von diesen sind im 1917 eröffneten Kaiser Karl-Museum für österreichische Volkskunde gezeigt worden. 1920 dienten sie und das Museum dann dazu, „als Wahrzeichen Deutsch-Österreichs und seiner kulturellen Mission in seiner bisherigen Völkerumwelt“ 122 herzuhalten und 1930 bildeten sie im Raum X „Jugoslawien“ den „bosnischen Teil“. 123 Heute sind sie nach der 1994/ 95 gezeigten Ausstellung Bosnien. Zwischen Okkupation 116 Haberlandt, Michael: Das Kaiser Karl-Museum für österreichische Volkskunde. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 23 (1917), pp. 1-6. 117 Tätigkeitsbericht des K. k. Kaiser Karl-Museums für österreichische Volkskunde für das Verwaltungsjahr 1917. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde (24) 1918, pp. 57-68. 118 Schmidt, Leopold: Das österreichische Museum für Volkskunde. Werden und Wesen eines Wiener Museums. Wien: Bergland 1960. 119 Vgl. dazu im Kontext europäischer Museumsentwicklung: Johler, Reinhard: The Invention of the Multicultural Museum in the Late Nineteenth Century: Ethnografy and the Presentation of Cultural Diversity in Central Europe. In: Austrian History Yearboo k XLVI (2015), pp. 1-17. 120 Gingrich, Andre: Science, Race, and Empire. Ethnografy in Vienna before 1918. In: East Central Europe 43 (2016), pp. 41-63. 121 Vgl. dazu auch: Marchetti, Christian: Kriegserfahrung und museale Sedimente. Das Museum für österreichische Volkskunde. In: Kott, Christina / Savoy, Bénédicte (Hg.): Mars und Museum. Europäische Museen im Ersten Weltkrieg. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2016, pp. 69-82. 122 Führer durch das Museum für Volkskunde. Wien: Eigenverlag 1921. 123 Haberlandt, Arthur: Führer durch das Museum für Volkskunde. Wien: Eigenverlag 1930. 358 Reinhard Johler und Attentat. Die Bosniensammlung des Österreichischen Museum für Volkskunde fast ausnahmslos im Depot. „Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“ 359 „Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“ Zur Internationalisierung des bosnischen Wortschatzes nach der k. u. k. Okkupation Nedad Memić (Wien) 1. Einführung Die österreichisch-ungarische Epoche in Bosnien-Herzegowina dauerte relativ kurz. In nur 40 Jahren (1878-1918) erlebte aber das ganze Land einen starken Emanzipationsprozess, dessen Folgen auch fast hundert Jahre danach in vielen Lebensbereichen dieses Balkanstaates sichtbar sind. Die österreichisch-ungarische Verwaltung hat das Aussehen vieler bosnisch-herzegowinischer Städte nicht nur nachhaltig verändert, sie hat auch eine für die damalige Zeit fortschrittliche mitteleuropäische Lebensweise in die vormals von den Osmanen regierten Provinzen Bosnien und die Herzegowina gebracht. Es wäre an dieser Stelle schier unmöglich, alle Reformen zu erwähnen, welche die k. u. k. Administration in Bosnien-Herzegowina durchführte, um das Land in den Apparat der Donaumonarchie einzugliedern: Straßen wurden nummeriert, die Verwaltung neu organisiert, das erste staatliche Schulsystem des Landes errichtet und Glaubensgemeinschaften reformiert. All das geschah parallel zur Industrialisierung des Landes. Obwohl der administrative Status Bosnien-Herzegowinas bis zur Annexion 1908 unklar war und die Donaumonarchie relativ wenig tat, um die politische Situation im Lande nachhaltig zu konsolidieren, wurde Bosnien-Herzegowina unmittelbar nach der Okkupation in die k. u. k. Zollverwaltung eingegliedert; in der neuformierten Administration fanden aber fast ausschließlich nur Beamte einen Platz, die aus anderen Teilen der Donaumonarchie nach Bosnien-Herzegowina zuzogen. 1 Beide Provinzen wurden schließlich zu einem „Reichsland“ erklärt und direkt dem österreichisch-ungarischen gemeinsamen Finanzministerium unterstellt. 1 Für einen kompakten Überblick über die Geschichte Bosniens unter k. u. k. Verwaltung vgl. Malcolm, Noel: Geschichte Bosniens. Frankfurt/ M.: Fischer 1996, hier p. 170. 360 Nedad Memić Die zugezogenen Beamten und Offiziere stammten mehrheitlich aus anderen südslawischen Gebieten der Donaumonarchie. Nach manchen Schätzungen kamen während der gesamten Okkupations- und Annexionszeit mehr als 100.000 von ihnen ins Land. 2 Ihr Lebensalltag war bereits mitteleuropäisch geprägt und sie begannen ihn nun auch in Bosnien-Herzegowina zu praktizieren. So waren bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts erste Anzeichen eines mitteleuropäisch ausgerichteten Kulturlebens in den bosnisch-herzegowinischen Städten spürbar. Eine neue autochtone Intelligenzija war im Entstehen begriffen. Dazu trugen insbesondere die Bemühungen der Okkupationsverwaltung bei, ein Schulsystem im Land zu errichten. So wurde im November 1879 - nur ein Jahr nach der Okkupation - das erste Gymnasium österreichischen Typs eröffnet: das erste öffentliche Realgymnasium in Sarajevo, das dann 1883 in ein klassisches Gymnasium umgewandelt wurde. In Mostar entstand wenige Jahre später (1893) ebenfalls ein klassisches Gymnasium. 3 Die k. u. k. Verwaltung bemühte sich zwar nicht um die Errichtung einer Universität in Bosnien-Herzegowina, in den 1880er Jahren wurde aber die erste wissenschaftliche Institution des Landes eröffnet - das Landesmuseum. Dieser Institution und ihren Mitarbeitern ist zu verdanken, dass insbesondere das archäologische, botanische und ethnografische Material aus der Geschichte und Gegenwart Bosnien-Herzegowinas, aber auch des gesamten Balkanraums gut erforscht und dem wissenschaftlichen Publikum in der ganzen Welt zugänglich gemacht worden ist. 4 Doch das ist nicht alles. Die österreichisch-ungarische Präsenz in Bosnien-Herzegowina stärkte auch Nationalbewegungen der bosnisch-herzegowinischen Volksgruppen - es wurden erste Kulturvereine eröffnet: 1892 der jüdische Kulturverein „La Benevolencija“, 1902 der serbische „Prosvjeta“, es folgten die bosnischen Muslime (im weiteren Text Bosniaken) mit dem Verein „Gajret“ (1903) und die Kroaten mit „Napredak“ im Jahre 1904. Es wurden Kulturzeitungen und -zeitschriften ins Leben gerufen; die meisten entstanden in den Kulturvereinen, wie Behar bei den Bosniaken oder Bosanska vila und Zora bei den Serben bzw. Bosanac bei den Kroaten. Besonders populär war aber die interkonfessionelle Zeitschrift Nada , deren Gründung aus einer Initiative des ge- 2 Ibid. 3 Siehe Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878-1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg 1994, p. 76. 4 Die Entstehung dieses Beitrags ist ebenfalls dem Landesmuseum Bosnien-Herzegowinas in Sarajevo zu verdanken, das in seiner bestandsreichen Bibliothek auch jene Ausgabe der Zeitung Bosnische Post aufbewahrt, die als Quelle für die sprachliche Analyse herangezogen wurde. Deshalb ist dieser Aufsatz auch dieser wertvollen Institution gewidmet, die seit der Unterzeichnung des Daytoner Abkommens immer wieder um ihre Existenz bangen muss. „Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“ 361 meinsamen Finanzministers Kállay resultierte. Es kam zur Entfaltung des Theaterlebens; Gesangsvereine und andere Kulturträger wurden ins Leben gerufen. 2. Zur Sprachfrage während der k. u. k. Zeit Während der osmanischen Herrschaft entwickelten sich in Bosnien-Herzegowina unterschiedliche schriftsprachliche Traditionen. Sie waren ausschließlich an die jeweilige Religionsgemeinschaft gebunden. 5 Unmittelbar vor der Okkupation wurde die erste Staatsdruckerei gegründet, die die erste bosnische Zeitung, den Bosanski vjestnik , herausbrachte. Die Druckerei wurde 1866 auf Einladung des liberalen türkischen Statthalters Topal Osman-Pascha vom Semliner Drucker Ignaz Sopron eröffnet. 6 Obwohl der Bosanski Vjestnik im ersten Jahr gerade einmal fünf Monate lang erschien (25 Nummern) und im darauffolgenden Jahr (1867) nicht einmal drei Monate lang (12 Nummern), ist seine Existenz für die Auseinandersetzung mit der Sprachpolitik in Bosnien-Herzegowina vor der k. u. k. Okkupation wichtig. Eine der wichtigsten Charakteristika der Sprache im Bosanski Vjestnik ist die Übernahme der reformierten kyrillischen Orthografie des serbischen Sprachreformators Vuk Karadžić durch Ignaz Sopron, der die ersten 19 Nummern redigierte, bzw. durch seinen Nachfolger, den Journalisten Miloš Mandić. Bosnien-Herzegowina war somit das erste Land des ehemaligen serbokroatischen Sprachraums, das die Vuksche Rechtschreibung inoffiziell eingeführt hat. 7 Offiziell gültig wurde die reformierte Rechtschreibung erst zur Okkupationszeit im Jahre 1883. Kroatien schloss sich der reformierten Rechtschreibung sogar erst 1892 an. Die k. u. k. Okkupationsverwaltung fand somit 1878 in Bosnien-Herzegowina folgende Sprachsituation vor: Die seltenen Periodika, die in der Landessprache gedruckt wurden, folgten der Vukschen Rechtschreibung (jedoch nicht einwandfrei). Die orthodoxe Bevölkerung benutzte im Schriftverkehr die Kyrilliza und die sog. phonologische (reformierte) Rechtschreibung. Die katholische Bevölkerung bediente sich der lateinischen Schrift und schrieb etymologisch, obwohl bei manchen Autoren auch die phonologische Schreibung anzutreffen war. 5 Zur sprachlichen Situation in Bosnien-Herzegowina vor der k. u. k. Okkupation vgl. Okuka, Miloš: Eine Sprache - viele Erben. Sprachpolitik als Nationalisierungselement in Ex-Jugoslawien. Klagenfurt: Wieser 1998 (= Österreichisch-bosnische Beziehungen 4), p. 41ff. 6 Vgl. Neweklowsky, Gerhard: Zur Sprache des Bosanski Vjestnik 1866. In: Ders. (Hg.): Herrschaft, Staat und Gesellschaft in Südosteuropa aus sprach- und kulturhistorischer Sicht. Erneuerung des Zivilisationswortschatzes im 19. Jahrhundert. Akten des Int. Symposiums 2.-3. März 2006. Wien: Verlag der ÖAW 2007 (= Schriften der Balkan-Kommission 48), pp. 197-209. 7 Vgl. Okuka 1998, p. 52. 362 Nedad Memić Die muslimische Bevölkerung benutzte die Arabica (die bosniakische Variation der persisch-arabischen Schrift) und bosnische Kyrilliza (auch Bosančica , Begovica oder bosnische Schrift genannt) und schrieb meist phonologisch. Jedoch schien sich die arabische Schrift nicht durchzusetzen. 8 Noch interessanter war die Benennung der Landessprache: Man stieß schon damals auf Begriffe wie Illyrisch, Slawisch, usw., aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine ethnisch differenzierte Sprachbenennung eindeutig im Vormarsch: So benannten die Serben ihre Sprache vorwiegend Serbisch, die Kroaten Kroatisch und die Bosniaken variierten zwischen Serbisch und Kroatisch, entschieden sich aber meist für die Bezeichnung Bosnisch, die in ihrer schriftsprachlichen Tradition und als offizielle Sprachbezeichnung zur osmanischen Zeit bereits verankert war. Schon damals kursierte aber auch die Bezeichnung Serbo-Kroatisch. 9 Während der österreichisch-ungarischen Zeit konnte man nach Milan Šipka vier Phasen der k. u. k. Sprachpolitik feststellen. 10 Sie widerspiegelten sich in erster Linie in der Benennung der Landessprache. • Unmittelbar nach der Okkupation zeigt sich in der Sprachpolitik eine prokroatische Haltung: die Landessprache wurde als „Kroatisch“ bezeichnet und die Schreibweise im administrativen Gebrauch war etymologisch geprägt. Dies ist General Joseph von Philippovich, dem Oberbefehlshaber der Okkupationstruppen, zu verdanken, der Kroate war. • Nachdem 1882 Benjamin von Kállay zum Gemeinsamen Finanzminister Österreich-Ungarns ernannt worden war, versuchte er in Bosnien-Herzegowina die politische Idee eines integralen Bosniertums ( bošnjaštvo ) zu propagieren. Dementsprechend forcierte er stark die Benennung „bosnische Sprache“ in der lokalen Verwaltung. Während eine solche Idee in einigen bosniakischen Intellektuellenkreisen begrüßt wurde, stieß sie auf heftigen Widerstand unter serbischen und kroatischen Intellektuellen. Einige Serbokroatisten und jugoslawische Historiker behaupten, sogar Frane Vuletić, der Autor der ersten Grammatik der bosnischen Sprache (1890), die für interkonfessionelle 8 Vgl. Okuka, Miloš: Književnojezička situacija u Bosni i Hercegovini za vrijeme austrougarske vladavine [Die literatursprachliche Situation in Bosnien-Herzegowina zur Zeit der österreichisch-ungarischen Verwaltung]. In: Ders. / Stančić, Ljiljana: Književnijezik u Bosni i Hercegovini od Vuka Karadžića do kraja austrougarske vladavine [Die Literatursprache in Bosnien-Herzegowina von Vuk Karadžić bis Ende der österreichisch-ungarischen Zeit]. München: Slavica 1991 (= Geschichte, Kultur und Geisteswelt der Südslawen N.S. 2), p. 53. 9 Ibid., p. 53. 10 Šipka, Milan: Standardni jezik i nacionalni odnosi u Bosni i Hercegovini. Dokumenti [Standardsprache und nationale Beziehungen in Bosnien-Herzegowina]. Sarajevo: Institut za jezik 2011 (= Posebna izdanja Instituta za jezik 11), p. 28ff. „Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“ 363 Schulen vorgesehen war und im Auftrag der bosnischen Landesregierung verfasst wurde, habe gegen die Bezeichnung „Bosnisch“ protestiert und wollte schließlich als Autor derselben nicht genannt werden. 11 Ihnen gegenüber zeigt Muhamed Šator in seiner späteren Analyse des Originalmanuskripts der Gramatika bosanskoga jezika , dass es keine festen Indizien dafür gibt, dass Vuletić seine Autorenschaft verweigerte. Außerdem seien damals Lehrbücher üblicherweise ohne Autorennamen veröffentlicht worden. 12 • Die dritte Phase trat im Jahre 1907 ein, als unter Kállays Nachfolger Stephan Burián die bosnische Idee für gescheitert erklärt wurde und „Serbo-Kroatisch“ als offizielle Amtsbezeichnung in den Schulen und öffentlichen Institutionen eingeführt wurde. Damit wurde Bosnien-Herzegowina zum ersten Balkanland, dessen Sprache offiziell „Serbo-Kroatisch“ genannt wurde. In ganz Jugoslawien wurde diese Bezeichnung erst 47 Jahre danach - im Jahre 1954 - nach dem sog. Novisader Sprachabkommen eingeführt. • Schließlich spricht man von einer vierten Phase nach 1914, die sich durch eine serbenfeindliche Haltung auszeichnete - die kyrillische Schrift wurde verboten, die Sprachbezeichnung blieb aber weiterhin „Serbo-Kroatisch“. Trotz der gespannten sprachpolitischen Lage zur k. u. k. Zeit in Bosnien-Herzegowina hat die damalige Landesregierung einige zukunftsweisende Beschlüsse gefasst. So entschied sie sich im Jahre 1883 offiziell für die Einführung der phonologischen Rechtschreibung nach dem Prinzip Vuk Karadžićs. Es wurde eine Kommission aus Vertretern aller drei Konfessionen ins Leben gerufen, die sich um die Sprache in den Schulbüchern kümmern sollte. Nach den Empfehlungen dieses Gremiums wurde auch die besagte erste bosnische Grammatik von Vuletić verfasst. Somit ist diese Grammatik eines der ersten modernen Sprachhandbücher, die im sog. „Süddialekt“ („Južno narječje“) geschrieben wurde, also im Neustokawischen als Basis der späteren serbokroatischen/ kroatoserbischen Sprache bzw. des heutigen Bosnischen, Kroatischen, Montenegrinischen und Serbischen. 13 Parallel zur Diskussion um den Status der Landessprache, deren Benennung und die Sprachpolitik im Allgemeinen befand sich die Sprache in Bosnien-Herzegowina einer starken Internationalisierung ihres Wortschatzes ausgesetzt. Mit der Etablierung der neuen k. u. k. Verwaltung, zahlreichen Reformen und nicht zuletzt mit der Einführung eines westlich geprägten Lebensstils wurden 11 Vgl. Okuka 1998, p. 55. 12 Vgl. Šator, Muhamed: Bosanski/ hrvatski/ srpski jezik u BiH do 1914 [Bosnische/ kroatische/ serbische Sprache in Bosnien-Herzegowina bis 1914]. Mostar: fhn 2004, p. 103. 13 Vgl. Okuka 1991, p. 55. 364 Nedad Memić auch zahlreiche Ausdrücke und Fachtermini ins einheimische Idiom übernommen. In diesem Prozess spielte Deutsch als Lingua franca der Habsburgermonarchie eine führende Rolle. Deutsch war während der gesamten k. u. k. Zeit die Sprache des inneren Amtsverkehrs der bosnisch-herzegowinischen Verwaltung. Im Konkreten bedeutete dies, dass die Finanz-, Gerichts- und Zivilverwaltung in Bosnien-Herzegowina nach dem sog. österreichischen Modell eingerichtet wurde, und da dieses Land als Reichsland direkt dem Gemeinsamen Finanzministerium in Wien unterstellt war, in dem Deutsch als Amtssprache fungierte, schlug sich das auch auf das Amtswesen in Bosnien-Herzegowina nieder. Die Okkupationsverwaltung schuf allmählich einen komplett neuen Verwaltungsapparat, in dem Beamte aus der Monarchie die Schlüsselpositionen einnahmen. Eine der Bedingungen für die Aufnahme in die Landesverwaltung war die Kenntnis der „Landessprache“, jedoch war dies nicht in allen Fällen obligatorisch, so dass nach Bosnien-Herzegowina auch viele Beamte kamen, die des lokalen Idioms nicht mächtig waren. 14 Was den Parteienverkehr betraf, so wurde die Verwendung der Amtssprache(n) nicht systematisch geregelt, sondern durch entsprechende Erlässe in der Justiz, im Gerichtssowie im Schulwesen separat definiert. Seit Anbeginn wurde mit der lokalen Bevölkerung in der Landessprache kommuniziert; Anträge konnten aber außer in der Landessprache auch auf Deutsch, Ungarisch und Türkisch gestellt werden. 15 Außerdem mussten alle Gerichtsbeamten des Deutschen mächtig sein. Eine gewisse Verfestigung des Deutschen als Amtssprache trat nach dem Rücktritt der Okkupationsverwaltung General Philippovichs bzw. nach der Übernahme des Gemeinsamen Finanzministeriums durch Benjamin Kállay ein. Im provisorischen Regierungsstatut vom 16. Februar 1879 wurde festgelegt, dass die Amtskommunikation der Landesregierung mit den Magistraten in den Städten auf „Serbo-Kroatisch“, mit Bezirken und höheren Verwaltungsebenen aber auf Deutsch zu vollziehen wäre. 16 Dazu war Deutsch seit 1881 die Amtssprache des inneren Gerichtsverkehrs und die Dienstsprache in der k. u. k. Armee. So musste die Korrespondenz sämtlicher Verwaltungsebenen mit dem Militär auf Deutsch geführt werden. Die Kommunikation der bosnischen Landesregierung 14 Vgl. Juzbašić, Dževad: Jezička politika austrougarske uprave i nacionalni odnosi u Bosni i Hercegovini [Die Sprachpolitik der österreichisch-ungarischen Verwaltung und nationale Beziehungen in Bosnien-Herzegowina]. In: Ders.: Politika i privreda u Bosni i Hercegovini pod austrougarskom upravom [Politik und Wirtschaft in Bosnien-Herzegowina unter der österreichisch-ungarischen Verwaltung]. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 2002 (= Odjeljenje društvenih nauka 35), p. 386. 15 Ibid., p. 390. 16 Vgl. ibid., p. 392. „Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“ 365 mit anderen Ministerien aus der Monarchie verlief ebenfalls auf Deutsch (außer mit Dalmatien). 17 3. Auf der Spur eines Artikels in der Bosnischen Post Die Bosnische Post war das einflussreichste deutschsprachige Blatt für Politik und Wirtschaft im k. u. k. Bosnien-Herzegowina. Das Blatt erschien in Sarajevo 34 Jahre lang - von 1884 bis 1918 - und ist somit eines der wichtigsten Medien der Epoche. Das Blatt wurde drei bis vier Mal pro Woche publiziert, seine Auflage belief sich auf 960 Exemplare im Jahre 1907. 18 In ihrer Nummer. 2 vom 9. Jänner 1889 veröffentlichte die Bosnische Post auf der Seite. 2 einen Artikel mit dem Titel „Tagesbericht“ und dem Untertitel „Neue Worte in Bosnien und der Hercegovina“ mit einer Liste von 183 Wörtern, die angeblich seit dem Beginn der österreichisch-ungarischen Okkupation nach Bosnien-Herzegowina eingedrungen waren. Diese Zusammenstellung beruhte allerdings auf einem Artikel in einer kroatischen Zeitung. Im Vorwort dieser Liste steht: „In einer seiner letzten Nummern bringt Obzor eine ganze Reihe von Worten welche die bosnisch-herzegowinische Bevölkerung erst seit der Occupation gelernt hat, und die in der That hier zu Lande bereits gang und gäbe sind.“ Anschließend folgt die Liste, die folgende Wörter beinhaltet; die Schreibung und Zeichensetzung des Originals wurden beibehalten: Situacija. Civilizacija. Diplomacija. Korespondencija. Intervencija. Inteligencija. Konferencija. Konvencija. Proklamacija. Okupacija. Simpatija. Dinastija. Amnestija. Deputacija. Aristokracija. Instrukcija. Audijencija. Interpelacija. Organizacija. Birokracija. Procedura. Reforma. Protekcija. Koncesija. Privilegija. Statut. Dekret. President. Šef. Ekselencija. Adlatus. Direktor. Hofrat. Regirungsrat. Sekretär. Koncept. Kancelist. Koncepist. Diurnist. Dragomanat. Agjutant. Kataster. Presidium. Registratura. Arhiva. Ekspedicija. Administracija. Pensija. Financija. Garancija. Kaucija. Ekonomija. Eksproprijacija. Limitacija. Likvidacija. Kolaudacija. Kvita. Paušal. Culag. Foršus. Profit. Eksekucija. Konfuzija. Skandal. Mobilizacija. Intendanzija. Licitacija. Lieferacija. Špekulacija. Komunikacija. Vadium. Akcija. Kultura. Industrija. Literatura. Akademija. Preparandija. Realka. Gimnazija. Knabenpensionat. Stipendija. Student. Profesor. Justicija. Kombinacija. Apelacija. Debata. Auskultant. Intabulacija. Advokat. Profit. Ekstra. Prokuratura. Provizorium. Specijalitet. Demokracija. Magistrat. Inžinir. Arhitekt. Central. Teritorium. Kanalizacija. Remiza. Tratuar. Vagun. Kondukter. Stacija. Policija. Denuncija. Peršup. Filozofija. Fantazija. Fisikus. Analizacija. Demoliranje. Konzistorium. Instalacija. Ceremonija. Triumpf. Propaganda. Germanizam. Magyarizam. Despotizam. Apsolutizam. Feudalizam. Turkofil. Karakter. Ferdehter. Lojalitet. Material. Original. Definitivum. 17 Ibid., p. 393. 18 Džaja 1994, p. 94. 366 Nedad Memić Transport. Transenal. Urlaub. Konzorcija. Restauracija. Koncert. Tribuna. Tombola. Rezerva. Revizija. Rekurirati. Režija. Deložirati. Fakelzug. Festzug. Arsenal. Artilerija. Infanterija. Kavalerija. Asentirung. Ženija. Fortifikacija. Inspekcija. Adresa. Element. Nihilist. Panslavizam. Socialist. Komunist. Atentat. Dinamit. Bomba. Idea. Konstitucija. Liberacija. Autonomija. Monarhija. Anarhija. Elaborat. Resultat. Memorandum. Aneksija. Opozicija. Demonstracija. Konferencija. Ultimatum. Agitacija. Natirlih. Servus. Fertik. Ecetera. Die aufgelisteten Wörter weisen keine bewusste Selektierung hinsichtlich des Sachgebietes auf. Sie dürften willkürlich aus Zeitungen und Zeitschriften bzw. aus der Sprachkompetenz des Listenverfassers heraus empirisch gesammelt und niedergeschrieben worden sein. Das erklärt bestimmte Aneinanderreihung von Wörtern, die einer Wortgruppe zugeordnet werden können, wie z. B. Konferencija. Konvencija. Proklamacija oder Akademija. Preparandija. Realka. Gimnazija. Knabenpensionat. Stipendija. Student. Profesor, ferner Despotizam. Apsolutizam. Feudalizam. oder Artilerija. Infanterija. Kavalerija. Asentirung. usw. 3.1. Semantische Klassifizierung des Wortschatzes Bei einer oberflächlichen Sichtung dieser Liste stellt man fest, dass es sich bei den meisten Wörtern um den sog. Zivilisationsbzw. Bildungswortschatz handelt. Dieser war eine Folge der Okkupation: statt einer osmanisch geprägten Amts- und Bildungssprache führte man Begriffe ein, die einer europäischen Staats- und Gesellschaftstradition entsprachen. Nach einer genaueren Wortschatzanalyse lassen sich folgende semantisch-pragmatische Gruppen konstruieren: 1. Zivilisationswortschatz im engeren Sinne - Begriffe, die unabhängig vom Charakter der neu geschaffenen österreichisch-ungarischen Verwaltung eine Annäherung an europäische gesellschaftlich-politische Traditionen signalisieren, z. B.: Adresa. Akcija. Arhitekt. Arhiva. Audijencija. Bomba. Ceremonija. Civilizacija. Debata. Dinamit. Direktor. Ekonomija. Element. Garancija. Idea. Instrukcija. Inteligencija. Intervencija. Inžinir. Kanalizacija. Kaucija. Komunikacija. Koncert. Kondukter. Konferencija. Konvencija. Korespondencija. Kultura. Literatura. Material. Okupacija. Original. Profil. Proklamacija. Propaganda. Protekcija. Reforma. Remiza. Resultat. Režija. Simpatija. Stipendija. Student. Šef. Transport. Tratuar. Ultimatum. Vagun. usw. 2. Allgemeiner Staats- und Verwaltungswortschatz - Begriffe, welche zeitgenössische Staats- und Gesellschaftsstrukturen am Ende des 19. Jahrhunderts widerspiegeln: Administracija. Advokat. Amnestija. Anarhija. Apelacija. Apsolutizam. Artilerija. Aristokracija. Autonomija. Birokracija. Dekret. Despotizam. Dinastija. Diplomacija. Ekselencija. Eksproprijacija. Feudalizam. „Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“ 367 Finansija. Infanterija. Interpelacija. Justicija. Kavalerija. Komunist. Koncesija. Konstitucija. Licitacija. Mobilizacija. Monarhija. Opozicija. Panslavizam. Pensija. Policija. Procedura. Propaganda. Revizija. Sekretär. Socialist. Statut usw . 3. Spezifischer k. u. k. Verwaltungswortschatz - Begriffe, die nur für den österreichisch-ungarischen Verwaltungs- und Gesellschaftsapparat charakteristisch sind: Adlatus. Asentirung. Auskultant. Culag. Foršus. Gimnazija. Hofrat. Kancelist. Knabenpensionat. Koncepist. Magistrat. Paušal. Preparandija. Realka. Regirungsrat. 4. Allgemeiner Wortschatz - Begriffe, die einen neuen, mitteleuropäischen Lebensstil repräsentieren, jedoch nicht unbedingt zum Zivilisationsbzw. Staatswortschatz gehören: Ecetera. Fertik. Karakter. Kvita. Natirlih. Servus. Simpatija. Situacija. Ženija usw. 3.2. Orthografie Hinsichtlich der Orthografie weisen die Wörter eine breite Vielfalt auf. Das ist auf mehrere Gründe zurückzuführen: Wie bereits festgestellt wurde, hat man in den ersten Jahren der k. u. k. Herrschaft die reformierte phonologische Rechtschreibung nur bedingt angewendet - in Bosnien-Herzegowina spürte man auch Einflüsse einer etymologischen Schreibung, die damals in Kroatien im Gebrauch war. Andererseits war zur damaligen Zeit die phonologische Schreibung unter kroatischen Sprachwissenschaftlern ebenfalls auf dem Vormarsch, was erklärt, warum jene Schreibweise nur bei einer äußerst geringen Anzahl der Wörter festzustellen ist. Zudem führte die Übernahme fremdsprachlicher und internationaler Lexik (insbesondere aus dem Deutschen bzw. über das Deutsche als Vermittlersprache) zu einer gewissen Verunsicherung bei der Schreibung bzw. zur Übernahme der Fremdschreibung (insbesondere aus dem Deutschen). Interessanterweise werden alle angeführten Wörter großgeschrieben und nicht - wie es bei einer Aufzählung üblich ist - mit Komma, sondern mit Punkt voneinander getrennt. Die Großschreibung könnte unter Umständen darauf hindeuten, dass der Listenverfasser unter einem starken Einfluss des Deutschen stand, zumal auch manche Wörter in der Liste ohne jegliche Adaption aus dem Deutschen übernommen wurden. Dementsprechend lässt sich das Material orthografisch in folgende Gruppen einteilen: 1. Phonologische Orthografie: Die reformierte Rechtschreibung Vuk Karadžićs findet bei den meisten Wörtern ihre Anwendung, z. B.: Aneksija. Apsolutizam. Audijencija . Culag. Eksproprijacija. Fantazija. Ferdehter. Fertik. Filozofija. Foršus. Justicija. Konferencija. Konzorcija. Policija. Specijalitet. Ženija usw. 368 Nedad Memić 2. Etymologische Schreibung. Dieser Orthografie-Usus ist relativ schwach vertreten, was klar darauf hinweist, dass bis 1889 die phonologische Schreibung in der Schriftsprache bereits Fuß gefasst hat. Eines der Zeichen der etymologischen Schreibung ist das Grafem <gj> für das heutige <đ>, das aber von der Sprachkommission der Landesregierung 1883 vorgeschrieben und in einem Bericht an das Gemeinsame Finanzministerium in Wien auch bestätigt wurde: 19 Agjutant , Magjarizam (heute schreibt man überall <đ>). Sonstige Fälle der etymologischen Schreibung beziehen sich auf die Auslassung des Halbvokals <j> im Hiatus - Diurnist (statt dijurnist ), Provizorium ( heute provizorij bzw . provizorijum) , genauso: Idea , Konzistorium , Material , Socialist , Teritorium , Vadium - bzw. auf den Verzicht auf die sog. Assimilation nach Stimmhaftigkeit: Eksekucija (heute egzekucija ). 3. Fremdschreibung: Wie bereits erwähnt, wurden bei einigen Wörtern fremdsprachige Schreibweisen (in erster Linie aus dem Deutschen) beibehalten. Es handelt sich dabei meistens um Neologismen oder sogar Okkasionalismen, deren Orthografie durch keine Sprachpraxis gebildet wurde: Festzug , Knabenpensionat , Resultat, Sekretär, Triumpf . Gleichzeitig schreibt man bereits eingebürgerte deutsche Transferwörter (Lehnwörter) durchaus phonologisch: Culag (dt. Zulage ), Ferdehter ( Verdächtiger ), Foršus ( Vorschuss ), Natirlih ( natürlich ), Paušal (Pauschale) , Peršup ( Verschub ), Servus . 4. Hybridschreibung: Bei einigen Fremdwörtern findet man eine partielle orthografische Adaption. Der Grund könnte in der noch nicht normierten Fremdwortschreibung bzw. in einem zu starken Einfluss des Deutschen auf die Orthografiegewohnheiten des Listenverfassers liegen: Fakelzug (dt. Fackelzug ) statt fakelcug , Intendanzija ( Intendanz ) statt intendancija , Lieferacija (Lieferung) statt liferacija , President (dt. etymologische Schreibung: Präsident ) statt adaptiert prezident , Stacija ( Station ) statt štacija usw. 5. Statistisch gesehen überwiegt die phonologische Schreibung mit 155 Wörtern eindeutig. Etymologische und Fremdschreibung ist bei zwölf Wörtern anzutreffen, während die Hybridschreibung in 15 Wörtern enthalten ist. Das Lexem Profit ist im Verzeichnis doppelt angeführt und wird als ein Eintrag berücksichtigt. 19 Vgl. Papić, Mitar: O srpskohrvatskom jeziku i pravopisu u Bosni i Hercegovini u periodu austrougarske okupacije (1878-1918) [Zur serbokroatischen Rechtschreibung in Bosnien-Herzegowina zur Zeit der österreichisch-ungarischen Okkupation]. In: Okuka & Stančić 1991, p. 60. „Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“ 369 3.3. Etymologie Hinsichtlich der Etymologie entstammen die meisten Wörter dem Lateinischen bzw. Griechischen, eine gewisse Anzahl sind auch französischer oder deutscher Herkunft. Was aber aufgrund der Schreibung bzw. der Morphologie sichtbar ist, ist die Rolle des Deutschen - bzw. des österreichischen Deutsch - als Vermittlersprache, die man auch im administrativen Bereich beobachten kann. Der Wortschatz der k. u. k. Beamtensprache verfügte im Vergleich zum damaligen reichsdeutschen administrativen Wortschatz über mehr Lexeme lateinischer Herkunft, weil der Wiener Hof - im Unterschied zum Berliner Hof - sogar bis zum Ersten Weltkrieg Latein als offizielle Briefsprache beibehielt. 20 Diese Charakteristik der österreichischen Verwaltungssprache ist bis heute erhalten geblieben. Im Folgenden werden die Lexeme samt Herkunftsangaben - gruppiert nach Herkunftssprachen - angeführt. Als Quelle für die Etymologie wird das Fremdwörterbuch von Anić/ Goldstein 21 verwendet. Die meisten dieser Lexeme sind über Vermittlersprachen (meistens Deutsch, aber auch Französisch oder Italienisch) in die damalige bosnisch-herzegowinische Landessprache eingedrungen. Dort, wo man aber sprachlich oder außersprachlich eine direkte Rolle des Deutschen als Vermittlersprache feststellen kann, wird dies entsprechend vermerkt; in diesem Fall wird als Quelle der DUDEN ( Deutsches Universalwörterbuch 2001) herangezogen. 22 Andere Wörterbuchquellen oder sonstige Belege werden beim jeweiligen Lexem extra angeführt: 1. Aus dem Lateinischen: Adlatus (dt. Adlatus < lat. ad + latus ), Administracija , Advokat (dt. Advokat < lat. advocatus ), Agitacija, Agjutant (dt. Adjutant < lat. adiutans ), Akcija , Aneksija , Apelacija , Apsolutizam (dt. Absolutismus < lat. absolutus ), Audijencija , Auskultant ( dt. Auskultant < lat . ausculbans ), Central , Ceremonija , Definitivum , Dekret , Demonstracija , Denuncija , Deputacija (dt. Deputation < lat. deputare ) , Direktor, Ecetera (lat. et cetera ), Eksekucija , Ekselencija , Ekspedicija , Ekstra , Elaborat , Element , Financija ( dt . Finanz < fr . finances < lat . finis) , Fisikus , Fortifikacija , Industria , Inspekcija , Instalacija , Instrukcija , Intabulacija , Interpelacija , Intervencija , Inteligencija , Justicija (dt. Justiz < lat. Iustitium ), Kataster (dt. Kataster < lat. capitastrum ), Kaucija (dt. Kaution < lat. cautio ), Kolaudacija , Kombinacija (dt. Kombination < lat. com- 20 Ammon, Ulrich: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter 1995, p. 179. 21 Vgl. Anić, Vladimir/ Goldstein, Ivo: Rječnik stranih riječi [Fremdwörterbuch]. Zagreb: Novi Liber 1999. 22 Vgl. DUDEN Universalwörterbuch. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim et al.: Bibliografisches Institut & Brockhaus 4 2001. 370 Nedad Memić binatio ), Komunikacija , Koncept (dt. Konzept > lat. conceptus ), Koncesija (dt. Konzession < lat. concessio ), Konferencija (dt. Konferenz < lat. conferentia ), Konfuzija , Konstitucija , Konvencija , Konzistorium , Konzorcija , Korespondencija , Kultura , Liberacija , Licitacija , Likvidacija , Limitacija , Literatura , Magistrat (dt. Magistrat < lat. magistratus ), Material (dt. Material < lat. materiale ), Memorandum (dt. Memorandum < lat. memorandus ), Mobilizacija , Okupacija (dt. Okkupation ), Opozicija , Organizacija (dt. Organisation < lat. organisatio ), Original (dt. Original < lat. originalis ), Pensija (dt. Pension < fr. pension < lat. pensio ), Preparandija (dt. Präparandschule < lat. praeparandus ), President (dt. Präsident < praesidens ), Presidium , (dt. Präsidium < lat. praesidium ), Privilegija , Procedura (dt. Prozedur < fr. procedure < lat. procedere ), Profesor , Profit (dt. Profit < fr. profit < lat. profectus ), Proklamacija, Propaganda (dt. Propaganda < lat. Congregatio de propaganda fide ), Protekcija , Provizorium (dt. Provisorium < lat. provisum ), Reforma, Rekurirati (dt. rekurrieren < lat. recurrere ), Restauracija , Resultat (dt. Resultat < fr. résultat < lat. resultatum ), Revizija , Sekretär ( dt. Sekretär < lat. secretarius), Servus (dt. servus < lat. servus ), Situacija, Statut , Stipendija , Student (dt. Student < lat. studens ), Špekulacija (dt. Spekulation < lat. speculatio ), Teritorium , Transport (dt. Transport < fr. transport < lat. transportare ), Tribuna , Triumpf (dt. Trumpf und Triumph < fr. triumphus ), Ultimatum (dt. Ultimatum < lat. ultimus ). 2. Aus dem Griechischen: Akademija (lat. academia < griech. akadḕmeia ), Amnestija , Analizacija , Anarhija , Arhiva (dt. Archiv < griech. arkheȋon ), Arhitekt (dt. Architekt < lat. architectus < griech. arkhitéktón ), Aristokracija , Autonomija , Bomba (span. bomba < lat. bombus < griech. bómbos ), Demokracija , Despotizam (dt. Despotismus < griech. despótēs ) Dinastija , Ekonomija , Fantazija , Filozofija , Gimnazija , Idea , Karakter , Monarhija , Policija (dt. Polizei < fr. police < lat. politia < griech. politeía ), Simpatija , Skandal (dt. Skandal < lat. scandalum < griech. skándalon ). 3. Aus dem Französischen: Adresa , Arsenal , Artiljerija , Birokracija , Civilizacija (dt. Zivilisation < fr. civilisation ), Debata (dt. Debatte < fr. débat ), Deložirati (dt. delogieren < fr. déloger ), Demoliranje , Diplomacija , Eksproprijacija (dt. Expropriation < fr. expropriation ), Garancija , Inžinir , Komunist (dt. Kommunist < fr. communiste ), Kondukter (dt. Kondukteur < fr. conducteur ), Kvita (dt. quitt < fr. quitte ), Lojalitet (dt. Loyalität < fr. loyal ), Profit , Remiza (dt. Remise < fr. remise), Rezerva (dt. Reserve , fr. réserve ), Režija (dt. Regie < fr. régie ), Šef (dt. Chef < fr. chef ), Tratuar , Ženija (dt. Genie < fr. génie ) 4. Aus dem Deutschen: Asentirung , Atentat , Culag, Diurnist, Fakelzug, Fertik, Festzug, Feudalizam ( dt. Feudalismus < lat . feud < ahd . feod), Foršus, Germanizam, Hofrat, Intendanzija, Kanalizacija, Kancelist, Knabenpensionat, Koncepist, Konzert ( dt . Konzert < ital . concerto), Lieferacija, Natirlih, Nihilist, Paušal, „Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“ 371 Peršup, Realka, Regirungsrat, Registratura, Socialist, Specijalitet, Stacija, Transenal, Urlaub, Verdehter. Einige Wörter aus dieser Gruppe stammen zwar aus den klassischen Sprachen, sind aber eindeutig über die deutsche Vermittlung ins Bosnische gekommen. 5. Aus anderen Sprachen. Arabisch: Dragomanat , Vadium (engl. wady < arab. vadi ), Englisch: vagun , Italienisch: Infanterija , Kavalerija , Prokuratura (dt. Prokuratur < ital. procuratura ), Tombola . 6. Andere bzw. hybride Herkunft: Dinamit, Magjarizam, Panslavizam, Turkofil. 3.4. Die gesichteten Lexeme im gegenwärtigen bosnischen Wortschatz Die meisten auf dieser Liste befindlichen Lexeme sind ein fester Bestandteil des gegenwärtigen bosnischen Wortschatzes und werden in den jeweiligen Wörterbüchern der bosnischen Sprache angeführt. 23 In Abschnitt 3.2. wurden schon die häufigsten Abweichungen von der gegenwärtigen Orthografie festgehalten; wir konzentrieren uns nun auf die Wörter, die im Zuge der späteren Standardisierung des Serbokroatischen bzw. Bosnischen einer morphologischen Änderung unterzogen worden sind. Meistens handelt es sich dabei um die Änderung des grammatischen Morphems bzw. seiner Anpassung an die Wortbildungsregeln der Standardsprache. Bei einem kleineren Teil der Lexeme ist auch eine phonologisch bedingte Änderung des lexikalischen Morphems feststellbar. Als Wörterbelege werden das bereits angesprochene Wörterbuch der bosnischen Sprache von Čedić (2007) sowie das sechsbändige Wörterbuch der serbokroatischen Literatursprache der Matica Srpska / Matica Hrvatska (1967-1976) 24 benutzt. 1. Lexeme mit morphologischen Änderung: Analizacija (heute analiza ), Arhitekt (heute auch arhitekta ), Aristokracija (heute auch aristokratija ), Artilerija (heute artiljerija ), Birokracija (heute auch birokratija ), Diplomacija (heute auch diplomatija ), Fisikus (heute fiskus ), Intendanzija (heute intendantura ), Inžinir (heute inženjer ), Kataster (heute auch katastar ), Konzorcija (heute konzorcij ), Lieferacija (heute üblicher liferovanje ), Lojalitet (heute üblicher lojalnost ), Sekretär (heute sekretar ), Tratuar (heute trotoar ), Tribuna (heute tribina ), Triumpf (heute trijumf ), Vagun (heute vagon ), 23 Für diese Analyse wurde folgendes Wörterbuch der bosnischen Sprache benutzt: Čedić, Ibrahim/ Kršo, Aida/ Kadić, Safet/ Hajdarević, Hadžem/ Valjevac, Naila: Rječnik bosanskog jezika [Wörterbuch der bosnischen Sprache]. Sarajevo: Institut za jezik 2007. 24 Stevanović, Mihajlo (Hg.): Rečnik srpskohrvatskog književnog jezika [Wörterbuch der serbokroatischen Literatursprache]. Novi Sad, Zagreb: Matica Srpska/ Matica Hrvatska 1967-1976 (Nachdr. 1990). 372 Nedad Memić 2. Lexeme mit keinem Wörterbuchbeleg - diese Lexeme können als archaisch bzw. okkasionalistisch bezeichnet werden: Central , Culag , Definitivum , Ecetera , Fakelzug , Festzug , Peršup , Regirungsrat , Transenal. Die Lexeme Diurnist und Koncepist findet man zwar im Wörterbuch der Matica Srpska und Matica Hrvatska, sie gelten aber im Gegenwartsbosnisch als veraltet und außer Gebrauch. 4. Schlussfolgerung Die österreichisch-ungarische Epoche in der Geschichte Bosnien-Herzegowinas brachte neben einer starken Urbanisierung und Industrialisierung des Landes einen starken kulturellen Wandel mit sich, der sich auch in der Landessprache niederschlug. Mit der Annäherung des Landes an die mitteleuropäische Kultur und den Lebensstil kamen zahlreiche neue Wörter ins einheimische Idiom - ein wesentlicher Teil der Neologismen entfiel auf den sog. zivilisatorischen Wortschatz, da insbesondere auf die Administration. Wie unsere Liste von 183 Wörtern aus einem Artikel der Tageszeitung Bosnische Post zeigt, zählen viele dieser Neologismen zu den sog. Internationalismen (Latinismen, Gräzismen), die meistens über die deutsche Sprache ins Bosnische kamen; ein kleinerer Teil davon sind französischer oder deutscher Herkunft. Die meisten dieser Wörter wurden bereits in der reformierten phonologischen Schreibung Vuk Karadžićs ins Bosnische übernommen, bei einem kleineren Teil behielt der Listenverfasser die etymologische oder sogar Fremdschreibung (aus dem Deutschen) bei. Ein Großteil der angeführten Lexeme ist bis heute ein fester Bestandteil des bosnischen Wortschatzes geblieben. Abkürzungsverzeichnis: ahd. - Althochdeutsch arab. - Arabisch dt. - Deutsch fr. - Französisch griech. - Griechisch ital. - Italienisch lat. - Lateinisch „Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“ 373 „Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“ Literatur, Kultur und Widersprüche der imperialen Konstellation im habsburgischen Bosnien-Herzegowina um 1900 Vahidin Preljević (Sarajevo) 1. Zur Einführung: Literatur und politische Kämpfe in Bosnien- Herzegowina um 1900 Als Idee kommt Kultur an vier historischen Krisenpunkten zur Geltung: wenn sie die einzige sichtbare Alternative zu einer degenerierten Gesellschaft wird; wenn es so aussieht, daß Kultur als Kunst und gutes Leben ohne tiefgreifenden sozialen Wandel nicht mehr möglich ist; wenn sie die Begriffe vorgibt, nach denen eine Gruppe oder ein Volk die politische Emanzipation erstrebt; und wenn eine imperalistische Macht gezwungen ist, mit der Lebensweise der von ihr Unterjochten zurechtzukommen. Die zwei letztgenannten Punkte dürften es gewesen sein, die die Idee der Kultur zum vorrangigen Thema des 20. Jahrhunderts gemacht haben. 1 Unser moderner Kulturbegriff, so bringt es Terry Eagleton auf den Punkt, wurde seit der Moderne entscheidend von Nationalismus und Kolonialismus und einer imperialen Anthropologie geprägt. Genau diese Momente findet man in ihrer Zuspitzung, wie auch in ihrer inneren Widersprüchlichkeit, in bosnisch-herzegowinischen Kultur-Diskursen der habsburgischen Zeit (vor allem in der Literatur, wie auch in der Kunst, in der Linguistik, Wissenschaft und natürlich in politischen Redeweisen); dieser Konflikt zwischen Nation und Imperium, der nach Eagleton das 20. Jahrhundert dominieren wird, erfährt seine symbolische Verkörperung und Narrativierung in den Schüssen des Gavrilo Princip vom 28. Juni 1914. 2 1 Eagleton, Terry: Was ist Kultur? München: C.H. Beck 2009, p. 39f. 2 Vgl dazu Preljevi ć , Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg.): The Long Shots of Sarajevo 1914. Ereignis - Narrativ - Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016. 374 Vahidin Preljević Die Entstehung der modernen bosnischen Literatur ist ein Ergebnis der imperialen Konstellation. Um die Jahrhundertwende, also während der österreichisch-ungarischen Besatzungszeit, konstituiert sich zum ersten Mal ein Literaturbetrieb, es erscheinen Zeitschriften mit regelmäßigen literarischen Beiträgen, Anthologien und Bücher werden veröffentlicht. 3 Zum ersten Mal treten auch Schriftsteller als selbständige bürgerliche Individualitäten auf, die sich immer mehr von der Geistlichkeit als bis dato führender intellektueller Schicht ablösen. Die Epoche 1878-1918 erscheint in vielerlei Hinsicht eine der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. 4 Einerseits bedeutet sie einen deutlichen Säkularisierungsschub in Kultursphären, und trotzdem gehört nach wie vor der dominante Anteil der schriftstellerischen Produktion etwa dem Bereich der religiösen Erbauungsliteratur an, was freilich damit zu tun hat, dass zu osmanischer Zeit der Bildungsbereich fast vollständig im Zuständigkeitsbereich der Religionsgemeinschaften lag. 5 Erst mit der österrechisch-ungarischen Verwaltung bilden sich Voraussetzungen für die Entstehung neuer kultureller Eliten, die zwar nicht alle völlig unabhängig vom Klerus agieren, deren Tätigkeitsfeld nun aber im weiteren Sinne durchaus als ein säkulares anzusehen ist. So wird erst in dem neuen staatspolitischen Rahmen ein Interesse an der Volkskultur geweckt und erst hier bilden sich nationalpolitische Diskurse ab, in denen die Kultur von zentraler Bedeutung wird. Diese Tendenzen gibt es vereinzelt auch in der Spätphase des Osmanischen Reichs, z. B. bei dem Franziskaner Ivan Franjo Jukić, oder sie machen sich in den kulturpolitischen Einflüsse aus Serbien oder dem südslawischen Teil der Donaumonarchie bemerkbar; doch erst nach der Okkupation werden diese Bemühungen systematisch und konkret. Neben dem späten volksaufklärerischen literarischen Diskurs (etwa bei Mehmed-beg Kapetanović-Ljubušak) 6 meldet sich auch schon die hochsensible individualis- 3 Siehe dazu Gesamtdarstellungen in den Standardwerken von Tomić-Kovač, Ljubica: Poezija austrougarskog perioda. Sarajevo: Institut za književnost/ Svjetlost 1991, pp. 7-29; Lešić, Zdenko: Pripovjedačka Bosna I. Sarajevo: Institut za književnost/ Svjetlost 1991. 4 Siehe dazu (grundsätzlich am Beispiel der bosniakischen Literatur) Duraković, Enes: Obzori bošnjačke književnosti. Sarajevo: Dobra knjiga 2012. Zur literaturhistorischen Konstellation um 1900 vgl. Kodrić, Sanjin: Književnostsjećanja. Kulturalno pamćenjei reprezentacija prošlosti u novijoj bošnjačkoj književnosti. Sarajevo: Slavističkikomitet 2012, pp. 201-384. 5 Siehe die systematische Untersuchung von Bogićević, Vojislav: Pismenost u Bosni i Hercegovini. Оd pojave slovenske pismenosti u 9.v. do kraja austrougarske vladavine u Bosni i Hercegovini 1918. godine. Sarajevo: Veselin Masleša 1975, p. 243ff., sowie von Papić, Mitar: Školstvo u Bosni i Hercegovini za vrijeme austrougarske okupacije 1878-1918. Sarajevo: Veselin Masleša 1972. 6 So veröffentlicht 1888 Kapetanović, der später auch Bürgermeister von Sarajevo werden sollte, seine Sammlung Narodno blago [„Volksschatz“], die volkstümliche Lieder, Sprichwörter und kurze Geschichten enthält. Der prohabsburgische Intellektuelle führt Patrio- „Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“ 375 tische Avantgarde, die das Phänomen des intellektuellen Bohemiens, etwa in der Gestalt der Autoren wie Musa Ćazim Ćatić oder Aleksa Šantić hervorbringt, neben patriotischen Pamphleten die ästhetizistische Reflexionslyrik; die beiden Diskurse findet man nicht selten bei ein und demselben Autor. Die Modernisierung des literarischen Feldes, das auch auf dem Prinzip der ästhetischen Autonomie aufbaut, wird gleichzeitig von einer gegenteiligen Tendenz begleitet, wonach die Literatur als kulturpolitisches Mittel im Kampf um die nationale Emanzipation eingesetzt wird. Es sieht damit so aus, als würde die bosnische Literatur in vierzig Jahren die vorhergehenden 150 Jahre der westeuropäischen Etntwicklung nachholen wollen. Die neue imperiale Konstellation, oder der Wechsel von einem feudal geprägten und zunehmend schwächelnden theokratischen System der osmanischen Herrschaft zum europäischen Habsburger Reich nach der Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878 bringt es mit sich, dass die Entstehung der modernen Literatur in diesem Land mit dem nation building , also dem Kampf eines Teils der intellektuellen Eliten gegen die österreichisch-ungarische Monarchie und um die Bildung einer politischen Identität, in eins fällt. Darin, wie noch zu zeigen sein wird, spielt die Kultur - und insbesondere Literatur und Sprache - eine zentrale Rolle. Dabei ist die Lage keineswegs überschaubar: es bilden sich einerseits spezifische Diskurse, die den Anspruch erheben, jeweils die Interessen einer ethnoreligiösen Gruppe (serbisch-orthodox, katholisch-kroatisch und bosnisch-muslimisch) oder einer Schicht innerhalb dieser Gruppe repräsentieren wollen; andererseits sind auch gesamtbosnische wie auch transreligiöse jugoslawische oder protojugoslawische Positionen vertreten. Vereinzelt melden sich in dieser Gemengelage auch sozialistische Stimmen. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie 'die Kultur' als entscheidende identitätsstiftende Kategorie einsetzen. Vor allem Literatur wird darin zu einem Medium der nationalen Emanzipation. Das ästhetische Bewusstsein ist in diesem Sinne in den meisten Fällen vom Nationalbewusstsein kaum zu trennen. Literatur, Kultur und ihre Diskurse werden damit zu einer Waffe im Kampf um die nationalpolitischen Ziele, zum privilegierten Medium des politisch Imaginären. tismus und Heimatliebe als seine Beweggründe an; gleichzeitig kritisiert er bosnische Muslime, die ihre Kinder nicht auf neue Schulen (vor allem Gymnasien) schicken wollen und sogar Land auswandern; vgl. Kapetanović -Ljubušak, Mehmed-beg: Narodno Blago. Sarajevo: Sejtarija 1997, p. 9f. Er ist dabei nicht der einzige, der nationalen Patriotismus mit Kaisertreue zu verbinden versucht. 376 Vahidin Preljević 2. Eine Skizze der imperialen Konstellation: von der militanten „Zivilisierung“ bis zum Ideal der Heterogenität Nun bleibt die politische Imagination der intellektuellen Eliten in Bosnien zwischen 1878 und 1918 - wie auf der anderen Seite auch die Kultur- und Identitätspolitik der österreichisch-ungarischen Verwaltung - keineswegs konstant, sondern durchläuft mehrere Phasen. Grob lassen sich insgesamt fünf unterscheiden: die Anfangsphase zwischen 1878 und 1882, dann die zwar strenge, aber zugleich kulturpolitisch fruchtbarste Regierungszeit Benjamin Kállays von 1882 bis 1903, die Periode bis zur Annexion 1908, die durch eine Liberalisierung gekennzeichnet ist, dann die Zeit bis zum Attentat von Sarajevo und schließlich die Kriegszeit. Während die Konstitutionsphase der Okkupationsherrschaft zwar von raschen infrastrukturellen Veränderungen begleitet wurde (Bau der Straßen und Eisenbahnstrecken), war sie kulturpolitisch von einem eher rigiden eurozentrischen Zivilisierungsparadigma geprägt, wobei insbesondere das Islambild als ein äußerst ungünstiges dargestellt wird; so wird diese Religion im Reisebericht des österreichischen Reiseschriftstellers und Korrespondenten Amand Schweiger-Lerchenfeld als „Hindernis der Cultur“ 7 bezeichnet, und da sie „in Europa keine eigentliche Heimstätte hat, so muss er in seiner schädigenden Starrheit gebrochen werden oder überhaupt vom Schauplatze verschwinden.“ 8 Dabei müsste man ihn, so Schweiger-Lerchfeld, „im Geiste der abendländischen Culturarbeit modificiren“, oder er muss „als staatlicher Factor mit all seiner dogmatischen Präpotenz zu existieren aufhören.“ 9 Robuste Töne wie diese des regierungsnahen Publizisten waren charakteristisch für die ersten Jahre der Okkupation. Dabei etabliert sich vor allem ein Narrativ: Die vierhundert Jahre der osmanisch-islamischen Zivilisation werden als verlorene Zeit für das Land angesehen. Ergänzt werden diese sicher auch taktisch gestreuten antitürkischen Ressentiments teilweise auch durch die prokroatische Propaganda. Ein beredtes Zeugnis davon legen die ersten Nummern der Bosnisch-Herzegowinischen Zeitung ( Bosansko-Hercegovačke novine ), des offiziellen Organs der Okkupationsregierung, ab. In der Ausgabe vom 8. September 1878 wird etwa in einem Artikel mit der Überschrift „Ein wenig mehr Geduld! “ die Unsicherheit der ersten Monate gerechtfertigt: „Gott hat die Welt in sieben Tagen geschaffen. Das ist euch, Bosniaken und Herzegowinern, wohl bekannt. Genauso wird den Scharfsinnigen unter Euch klar sein, dass man all das, was in 7 Schweiger-Lerchenfeld, Amand Frhr. von: Bosnien, das Land und seine Bewohner. Geschichtlich, geografisch, ethnografisch un social-politisch. Wien: L.C. Zamarski 1878. p. 145f. 8 Ibid. 9 Ibid. „Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“ 377 Bosnien und der Herzegowina in den 400 Jahren vernachlässigt, verdorben und verwahrlost worden ist, nicht in einem Tag, einer Woche oder in einem Monat berichtigen und nachholen kann.“ 10 Solche Töne werden seit Anfang der achziger Jahre seltener. Zwar bleibt das Zivilisierungsparadigma als Leitlinie der österreichischen Kulturpolitik in Kraft, und auch das Narrativ von den dunklen vier Jahrhunderten taucht gelegentlich auf. Doch die militante kolonialistische Rhetorik wird gemildert, so dass sich die Einschätzung des ungarischen Historikers, Ethnologen und Gesandten der k. u. k. Regierung Adolf Strausz 11 einige Jahre später wie eine Selbstkritik liest: Aber gerade die rasche äussere Veränderung, der stürmische Fortschritt ist es, welcher die ernsteste Erwägung erheischt. Ist dieser Fortschritt nicht blos ein äußerlicher, ist er wirklich in das innere Leben des Volkes eingedrungen? Ist er wahr und natürlich oder nur ein bunter Blüthenstaub, den ein leichter Wind fortwehen kann, als wäre er niemals dagewesen? 12 Denn, um das Innere der „Leute“ zu erreichen, kann man, so Strausz, nicht einfach nur Verordnungen erlassen, will man „das in geistiger Finsternis dahinvegetierende Volk auf den Pfad der Civilisation und des Fortschritts“ 13 bringen. Vielmehr muss sich die Herrschschaftsmethode an die Gegebenheiten anpassen: „Man darf dort nicht nach fremden Mustern regieren, wo man gegen alles Fremde unsagbaren Hass empfindet.“ Strausz empfiehlt sogar eine Schritt-für-Schritt-Methode, sogar eine taktische Orientalisierung der österreichisch-ungarischen Politik, um das langfristige Ziel einer inneren Eroberung zu erreichen: „Nicht der Occident, sondern der Orient muss der Regierung die leitenden Principien bieten, denn es gilt den letzteren mit der Civilisation zu verbinden Wenn die Regierung im orientalischen Geiste geleitet wird, wird man sie nicht als eine fremde, sondern als eine nationale ansehen“ 14 . Strausz setzt sich hier für soft power ein, die sich dann in der kulturpolitischen Praxis 10 Anonym: „Jošt malo strpljenja! “ In: BHN 03 vom 08.09.1918, p. 1.- In derselben Ausgabe im Feuilleton wird in einem Text, der halb Humoreske und halb politisches Pamphlet ist, unter dem Titel „Turci u Zagrebu! “ gegen die bösen Türken gewettert, die die Masse zum Aufstand gegen die Besatzung aufgewiegelt hätten, und nun viele dabei gestorben sind, „statt in einer besseren Zukunft als Mitbürger des kroatischen Volkes zu leben“ (ibid.). 11 Paládi - Kovács, Attila: István Györffy - der ungarische Forscher in der Dobrudscha und in Kleinasien. In: Grenzüberschreitungen. Traditionen und Identitäten in Südosteuropa. Festschrift für Gabriella Schubert. Hg. von Wolfgang Dahmen, Petra Himstedt-Vaid und Gerhard Ressel. Wiesbaden: Harrasowitz, pp. 439-446, hier p. 439. 12 Strausz, Adolf: Bosnien. Land und Leute. Historisch-ethnografisch-geografische Schilderung.Wien: Gerold 1884, p. iv. 13 Ibid., p. v. 14 Ibid., p. vf. 378 Vahidin Preljević der Kállay-Periode niederschlagen sollte: in der Ausbildung auch einer inneren Infrastruktur, des modernen Schulwesens, der ersten wissenschaftlichen Einrichtungen und auch sogar der Förderung der „kulturellen Emanzipation“ aller drei oder vier ethno-religiösen Gruppen - freilich immer bis zu einer Grenze, die der Politik der österreichisch-ungarischen Regierung nicht gefährlich werden konnte. Jedenfalls kann ein anonymer Autor, hinter dem sich wohl Benjamin Kállay selbst oder jemand aus seinem engsten Umkreis verbergen dürfte, nach etwa zwanzig Jahren den Erfolg vermelden und unter anderem auch die Thesen von Schweiger-Lerchfeld dementieren: Eisenbahnzüge brausen darin, Kunststrassen durchschneiden die Höhen der Gebirge, christliche Architekten studieren fern im Osten die dem Geschmack der Rechtgläubigen entsprechenden Vorbilder, katholische und orthodoxe Kirchen lassen ihre Glocken ertönen, ohne aber den abendlichen Gebetsruf des Mohammedaners verstummen zu machen. Es ist da wie eine zauberhafte Mischung von Ost und West. Darum ist uns dieses Land nicht mehr völlig fremd. 15 Hier hat eine folgenreiche Verschiebung stattgefunden: Das aggressive kolonialistische Zivilisierungsparadigma wird abgeschwächt und durch das zweifellos ebenso imperiale Ideologem der Heterogenität ersetzt. Zwar gibt der Autor zu, dass es darum ging, das Land dahingehend zu verändern, damit das Eindringen der „Ideen des Westens“ ermöglicht wird, doch diese galt es „derart zu verpflanzen, dass sie in einer östlichen Umgebung heimisch werden können.“ 16 Um dieses Ziel zu erreichen, so heißt es in diesem Buch weiter, konnte man zwei Methoden wählen: „Entweder wir machen Tabula rasa und rotten alles aus, was der Entwicklung unseres Setzlings schaden könnte, oder wir trachten unsere Ideen mit den bereits lebenden Bäumen des betreffenden Bodens anzufreunden und schonen die schon vorhandenen Elemente, um nicht den ersten Weg einschlagen zu müssen.“ 17 Der Autor geht sogar so weit, die westlich geprägte Wahrnehmung des Orients und auch Bosniens als solche in Frage zu stellen, und damit über die Grundbedingungen des othering zu reflektieren: „Ohnehin haben die Ideen des Westens schon soweit Macht über uns gewonnen, dass wir den Orient ausschließlich durch die Brille der abendländischen Theorien betrachten, oder wenn wir das Augenglas ablegen, mit freiem Auge gar nicht mehr gut sehen und uns darein ergeben, dass der Orient Recht hat.“ 18 15 Anonym: Die Lage der Mohammedaner in Bosnien. Von einem Ungarn. Wien: Adolf Holzhausen 1900, p. 5. 16 Ibid. 17 Ibid. 18 Ibid., p. 6. „Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“ 379 3. Die Zeitschrift Nada: ein paradoxes Beispiel der liberalen Kulturpolitik des Okkupationsregimes Diese Methode mag einen machtpolitischen Hintergrund gehabt haben, doch sie hat ganz konkrete kulturpolitische Fakten geschaffen, die sich von ihrer angenommenen ursprünglichen Intention emanzipiert haben und entscheidend zur Ausdifferenzierung und sogar zur Autonomisierung der Kultursphären beigetragen haben. Diese Ausdifferenzierung hat weit über die österreichisch-ungarische Periode das Kultur- und Wissenschaftsleben des Landes geprägt und stellt bis heute ihre eigentliche Grundlage dar. Die Gründung zahlreicher Einrichtungen, insbesondere des Landesmuseums, die Förderung der ethnologischen Studien, die Tätigkeit von wichtigen Kulturträgern wie Konstantin Hörmann und Lajos Thallóczy 19 etc. stecken den Rahmen ab, in dem selbst die autonomen nationalen Kulturvereine wie die serbische Prosvjeta (1902), der bosnisch-muslimische Gajret (1903), der kroatische Napredak (1902) und die jüdische La Benevolencia (schon 1892) entstehen und eine rege Tätigkeit entfalten konnten. 20 Es entstehen auch Literatur- und Kulturzeitschriften, die durchaus ein breites Spektrum poetischer und politischer Optionen bieten, die gemäßigt serbischen Bosanska vila (Sarajevo) 21 und Zora (Mostar) 22 , die sich vor allem für kulturelle Autonomie einsetzen, ebenso wie der bosnisch-muslimische Behar (Sarajevo) 23 und später eher kulturislamische Biser (Sarajevo) 24 , der nationalbosniakische 19 Zu Letzterem vgl. die komplexe Würdigung in einem von der bosnischen Akademie der Wissenschaften herausgebrachten Sammelband von Juzbašić, Dževad / Ress, Imre (Hg.): Lajos Thallóczy, der Historiker und Politiker. Die Entdeckung der Vergangenheit von Bosnien-Herzegowina und die moderne Geschichtswissenschaft, Sarajevo/ Budapest: ANU BiH 2010. 20 Siehe dazu exemplarisch Kemura, Ibrahim: Uloga „Gajreta“ u društvenom životu Muslimana Bosne i Hercegovine. Sarajevo: Svjetlost 1986. 21 Zur Entstehung und Entwicklung der Vila siehe die ausführliche Monografie von Đuričković, Dejan: Bosanska vila . Književnoistorijska studija. Sarajevo: Svjetlost 1975. 22 Um die kurzlebige Zora versammelten sich die wichtigsten Mostarer Autoren, insbesondere Svetozar Ćorović, der vielleicht wichtigste bosnisch-herzegowinische Prosaist der Jahrhundertwende, der sensible Spätromantiker Aleksa Šantić und der formstrenge Modernist Jovan Dučić. Vgl. dazu Lešić 1991, pp. 381-406. 23 Zur komplexen und grundlegenden Rolle des Behar , einer Zeitschrift, die wie die Vila nach 1990 wiederbelebt wurde, vgl. die Studie von Rizvić, Muhsin: Behar. Književnohistorijska monografija. Sarajevo: Svjetlost 2000. Zur Entwicklung in den anderen Künsten, z. B. in der Malerei, vgl. Mladenović, Ljubica: Građansko slikarstvo u Bosni i Hercegovini u XIX vijeku. Sarajevo: Veselin Masleša 1982. 24 Zu den vielen Paradoxien auf den ersten Blick gehört der Umstand, dass die „panislamische“ Kulturzeitschrift von Musa Ćazim Ćatić, einem der wichtigsten Dichter der Dekadenz, der berüchtigt für seine Alkoholexzesse war, geleitet wurde; zur Rolle der Zeitschrift vgl. Tomić-Kovač 1991, pp. 399-419. 380 Vahidin Preljević und offen proösterrreichische Bošnjak (Sarajevo) 25 , der auch von der Landesregierung massiv unterstützt wurde, und in der späteren Phase die radikal antiösterreichische Otadžbina des bosnisch-serbischen Autors und Volkstribuns Petar Kočićs 26 , von dem im letzten Abschnitt ausführlicher die Rede sein wird, und noch viele mehr. 27 Dabei verdient ein Periodikum einen besonderen Exkurs, da es offenbar als Versuch, den ethnonationalen Projekten von oben eine Alternative entgegenzusetzen, und die Kultursphäre wie auch die Diskurse des Eigenen - also die Politik der Identität - den Händen des Nationalismus zu entreißen: selbstverständlich nicht aus irgendwelchen idealistischen Vorstellungen, sondern aus machtpolitischem Kalkül heraus. Es handelt sich hierbei um Nada [„Hoffnung“], die wahrscheinlich seriöseste und jedenfalls bestredigierte bosnisch-herzegowinische Literatur- und Kulturzeitschrift der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die treibende Kraft hinter der Gründung war Konstantin (Kosta) Hörmann, eine der prägendsten Persönlichkeiten des bosnischen Kulturlebens der k. u. k. Periode; er war Beauftragter der Landesregierung, sehr lange zusammen mit Ćiro Truhelka die treibende Kraft des Landesmuseums und Chefredakteur der ersten modernen bosnischen wissenschaftlichen Zeitschrift Glasnik Zemaljskog muzeja . Der „allmächtige Kuferaš“, wie ihn der bosnisch-kroatische Gegenwartsautor Miljenko Jergović in einer Glosse bezeichnet, 28 ist zum Synonym der kulturellen Modernisierung - wenn das auch Ausdifferenzierung und Autonomisierung bedeutet - geworden. Gleichzeitig ist Hörmann prominent geworden als ein wichtiger Herausgeber und Anthologist. Die 1887 veröffentlichte Sammlung muslimischer Volkslieder wird bis heute von der Bosnistik als Grundlagenwerk geschätzt. 29 Nada erschien jedenfalls von 1895 bis 1903, in insgesamt neun Jahrgängen, halbmonatlich und bezeichnenderweise bis 1902 parallel in lateinischer und kyrillischer Schrift. 30 Als Herausgeber fungiert die Landesregierung selbst und die Publikation wurde auch in der Landesdruckerei gedruckt, was ihren staatlichen Charakter noch mehr unterstreicht. Man kann sie also durchgehend als ein habsburgisches Regierungsprojekt der Landesverwaltung ansehen. Am Ende 25 Zum Bošnjak s. Tomić-Kovač 1991, pp. 217-232; Lešić 1991, pp. 323-341. 26 Vulin, Miodrag M.: Kočićeva Otadžbina I-II. Sarajevo: Svjetlost 1991. 27 Zur Pressevielfalt in der Zeit zwischen 1878 und 1918 siehe Pejanović, Đorđe: Bibliografija š tampe u Bosni i Hercegovini 1850-1941. Sarajevo: Veselin Masle š a 1961, pp. 16-91. 28 Jergović, Miljenko: Kosta Hörmann - svemogući kušeraš, https: / / www.jergovic.com/ ajfelov-most/ kosta-hormann-svemoguci-kuferas/ , 30.11.2015. 29 Hörmann, Kosta: Narodne pjesme Muslimana u Bosni i Hercegovini. Sarajevo: Svjetlost 1976. 30 Diese kulturausgleichende Technik wird später die im Zweiten Weltkrieg gegründete und bis heute tonangebende bosnische Tageszeitung Oslobođenje übernehmen. „Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“ 381 des Jahrgangs 1903 hielt die Redaktion fest, dass in Ermangelung des Interesses unter den Abonnenten die kyrillische Ausgabe eingestellt werde, was schon als erstes Signal für den Entzug der politischen Unterstützung gedeutet werden könnte. Mit dem Tod Benjamin Kállays, der für politische Rückendeckung sorgte, wird auch die Zeitschrift - wie es offiziell hieß - aus finanziellen Gründen eingestellt. 31 Schon ein oberflächlicher Blick auf die Zeitschrift verrät, wie sich Nada bemüht, ihre ambitionierten Forderungen zu erfüllen: Unter den regelmäßigen Mitarbeitern finden sich Vertreter aller vier bosnisch-herzegowinischen Konfessionen: von den muslimisch-bosniakischen Schriftstellern wirken dabei die prominentesten Autoren wie Safvet-Beg Bašagić, Mehmedbeg Kapetanović- Ljubušak und Edhem Mulabdić mit; unter serbisch-orthodoxen finden sich sowohl die schon erwähnte Aleksa Šantić als auch Jovan Dučić oder Svetozar Ćorović, und von den kroatisch-katholischen Autoren Josip Milaković, aber auch zahlreiche modernistische Autoren aus Kroatien, wie Silvije Strahimir Kranjčević, dem man nachsagt, er wäre der wahre Chefredakteur der Zeitschrift gewesen. Der Schwerpunkt liegt auf südslawischen literarischen Originalbeiträgen; bei den Übersetzungen überwiegt die Lyrik, also Nachdichtungen, in denen ein künstlerischer Eigenbeitrag unterstrichen wird; im übrigen erscheinen die Nachdichtungen keineswegs vorwiegend aus dem Deutschen, sondern auch aus anderen Sprachen der Monarchie, aber auch aus orientalischen Sprachen (hier fungiert als Übersetzer vor allem Bašagić). In der Rubrik Kulturchronik überwiegen Berichte aus anderen Ländern der Monarchie, aus Lemberg, Prag, Brünn, Zagreb, Novi Sad: Es geht eindeutig dabei um die Schärfung des Bewusstseins für die Zugehörigkeit zu Österreich-Ungarn und eine intensive Arbeit an der Schaffung eines gemeinsamen Kulturraums. Weltliterarische und andere kunsthistorische Tendenzen werden aufgegriffen und tendenziell positiv bewertet, was auch in der deutschsprachigen Literatur dieser Zeit noch keine Selbstverständlichkeit war. Es erschienen fundierte und fast proto-literaturwissenschaftlich zu nennende Aufsätze zu Victor Hugo, Gabriele D´Annunzio, Emile Zola, Leo Tolstoi, Henrik Ibsen, Friedrich Nietzsche; der Naturalismus, aber auch die Dekadenzliteratur wurden essayistisch reflektiert. Es findet sich auch ein affirmatives Feuilleton des Mitarbeiters Boško Petrović (aus Novi Sad) über Jung-Wien, ein Aufsatz über Hermann Bahr etc. Häufig werden auch anthropologische oder folkloristische Aufsätze abgedruckt, wobei jedoch der Kolonisierungsgestus fast verschwunden ist. Nada ist das Prestigeprojekt, das offenbar implizit eine gesamtbosnische oder sogar südslawische Idee im Rahmen der 31 Zum Hintergrund und zur Entstehung des Nada -Projekts vgl. Ćorić, Boris: Nada. Književnoistorijska monografija 1895-1903. Sarajevo: Svjetlost 1978. 382 Vahidin Preljević Monarchie verfolgt. Doch diese politische Botschaft wird nie explizit; sie steckt allein schon in der Bestrebung, einen Kultur- und Kunstbegriff jenseits von ethnonationalen Separatismen zu schaffen, auch sogar jenseits von Politik. Es geht um einen kospomolitischen, „neutralen Boden“ und damit mittelbar um eine Autonomie der ästhetischen Sphäre. 32 Nada hat ein Bosniertum und ein gegennationalistisches Jugoslawentum im öffentlichen kulturellen Diskurs zu etablieren versucht, das gleichzeitig die österreichisch-ungarische Monarchie als eigenen staatlichen Rahmen anerkannte. Dieses Experiment weist auf die später Franz Ferdinand zugeschriebenen Pläne einer stärkeren Berücksichtigung und Integration der südslawischen Komponente in die staatliche Struktur voraus. Dieser habsburgische kulturelle Jugoslawismus ist ein interessantes Projekt, doch bekanntlich nur eine Fußnote der Geschichte geworden, trotz des hohen Ansehens, das Nada in intellektuellen Kreisen genoss. Die nationalistisch-separatistischen Tendenzen nahmen dann endgültig nach 1908 eindeutig überhand ebenso wie die Radikalisierung in der jungbosnischen Bewegung. So wurde Nada nach 1918 als Regimeprojekt der Schaffung einer „künstlichen“ bosnischen Nation belächelt und als solche vom letztlich siegreichen Nationalismus verworfen. Ein ungewöhnlicher und äußerst wichtiger Nebeneffekt des Projekts besteht jedoch darin, dass Nada einen modernen, d. h. autonomistischen Literatur- und Kulturbegriff durchsetzt. Das ist ein sehr bemerkenswertes Paradoxon, dass ausgerechnet das tendenziell eher konservative Okkupationsregime die offenste und liberalste Kulturzeitschrift des Landes ins Leben gerufen hat, d. h. eine liberale Kulturpolitik betreibt, die vor avantgardistischen Tendenzen keineswegs zurückschreckt, sondern diese auch noch fördert, oder vielmehr erst im kulturellen Bewusstsein etabliert. Die These von der kulturellen Kolonialisierung muss also angesichts dessen wenigstens kritisch ergänzt werden. Das Projekt der Nada jedenfalls setzt auf das Gegenteil der kulturellen Fremdbestimmung: die intensive Pflege des Eigenen wie auch eine Entideologisierung der kulturellen Sphäre. Dass dies vor allem bedeutete, die Trennung von Kultur und Nationalstaatprojekten voranzutreiben, entsprach wiederum der Rahmenidee einer überkonfessionellen Monarchie. Es ist eigentlich bis heute nicht ganz gelungen (bis auf wenige Phasen in der jugoslawischen Literatur der 1970-er Jahre), das südslawische ästhetische Feld von nationalistischer Agitation zu befreien bzw. wieder autonom 32 Siehe dazu den Aufsatz von Aida Gavrić, der zum ersten Mal einen entideologisierten Blick auf die Zeitschrift wagt: Kosmopolitizam kao vid ispoljavanja višestrukog/ slojevitog identiteta pod imperijom u časopisu Nada (1895-1903). In: Sarajevske sveske 51 (2017), http: / / www.sveske.ba/ bs/ content/ kosmopolitizam-kao-vid-ispoljavanja-visestrukogslojevitog-identiteta-pod-imperijom-u-casopis. „Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“ 383 zu machen. Nada , ironischerweise eine Zeitschrift der Okkupatoren, hat diese Modernitätsanomalie zu korrigieren versucht. 4. Gegenbeispiele: die nationale Eroberung der Literatur Schon auf Grund dieser situativen Komplexität, in der die Folgen des (semi) kolonialen Gestus allzu schnell mit deren vermuteter dahinterliegenden Absicht kurzgeschlossen und identifiziert werden, muss die Frage, ob Bosnien-Herzegowina eine Kolonie gewesen sei 33 , und ob demzufolge der am Beispiel von Petar Kočić zu analysierende Kampf gegen Österreich-Ungarn tatsächlich als Antikolonialismus zu verstehen ist, umstritten bleiben. Gerade im Fall von Bosnien-Herzegowina muss die „Kolonisierung“ nicht so sehr als ein realgeschichtlicher objektiver Zustand aufgefasst, sondern auch und vor allem an die Selbstwahrnehmung und -imaginierung des Subjekts (kollektiver oder individueller Art) gebunden werden - auf beiden Seiten der imperialen Konstellation. In offensichtlicher Anlehnung an Hegels Herr-Knecht-Dialektik sieht Frantz Fanon das Verhältnis von kolonisiertem Subjekt und kolonialistischer Macht als eine Dynamik des Imaginären, in der der kolonisierte Intellektuelle davon träumt, an die Stelle des Kolonialherrn zu treten. 34 Sobald er sich selbst als den Kolonisierten erkannt hat, strebt er danach, sich zu befreien, indem er die Machtverhältnisse umkehrt: Das kolonisierte Subjekt wird zu einem solchen, erst indem es sich als solches erkennt. Kolonisierung gibt es demnach nicht an sich, sondern nur insoweit man dieser bewusst ist und sie als solche imaginiert. Daraus folgt, dass eine koloniale Konstellation keineswegs nur auf das äußere Verhältnis beschränkt werden kann, sondern sich, sozusagen, innerlich fortzeugt. Mit anderen Worten: die Befreiung, d. h. die Umkehrung des ursprünglichen Machtverhältnisses, könnte durchaus zu einer neuen Kolonisierung führen. Es ist derselbe imaginäre Raum der (Kultur)Herrschaft, der ständig befreit und erobert wird. Es gilt ebenso hier an die Anfangsüberlegungen anzuknüpfen, dass es bei diesen Motiven der „Besetzung“ und „Befreiung“ auf allen Seiten um ein othering , und damit auch um eigene Identitätszuschreibungen und -codierungen geht. Dabei zeigt sich, dass diese beiden Momente ständig ineinander übergehen und einander konterkarieren. Denn die Rhetorik der Befreiung von der vermeintlichen 33 Vgl. die zahlreichen Arbeiten auf der Forschungsplattform Kakanien revisited und die Sammelbände der Reihe Kultur - Herrschaft - Differenz im Francke-Verlag, insbes. die Beiträge von Clemens Ruthner. Siehe dazu v. a. seine neueste Monografie: Habsburgs Dark Contintent. Postkoloniale Lektüren zur imperialen österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018. 34 Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre. Frankfurt/ M: Suhrkamp 1981, S. 51. 384 Vahidin Preljević Fremdherrschaft, wie sie in der patriotischen bosnisch-herzegowinischen Literatur der Postokkupationszeit dominiert, zieht nach sich, dass der befreite Raum nun neu besetzt und neu geordnet, dass also eine Hierarchie, ein Zentrum und eine Grenze etabliert werden muss. So inszenieren viele kroatisch-patriotisch gesinnte Intellektuelle Bosnien als ein „kroatisches Land“, und die muslimischen Bosnier sogar als das reinste kroatische Geschlecht. Unter vielen sei hier auf das Beispiel des schon erwähnten einflussreichen Kulturträgers Ćiro Truhelka verwiesen, der 1907 ein antiserbisches Pamphlet unter dem Titel Das kroatische Bosnien. Wir und 'die da drüben' 35 veröffentlicht, das den kroatischen Anspruch auf Bosnien-Herzegowina historisch, geografisch und sogar rassisch begründen, und eine harte zivilisatorische Grenze zu Serbien markieren will. Dabei verbindet er geschickt großkroatische und promonarchistische Positionen, ähnlich wie Safvet Beg-Bašagić, der in einem im Bošnjak veröffentlichten Gedicht den bosnischen Serben und Kroaten jede ethnonationale Individualität abspricht und sie als Eindringlinge sieht: Erkenne, mein Bosniake, es ist nicht lange her, Bei meiner Seel´, nicht mal fünfzehn Jahr', Da war in unsrem stolzen Bosnien Und heldenhaften Herzogsland Von Trebinje bis Brod und seinen Toren Kein einziger Serbe oder Kroate, Und heute breiten sich mutwillig die beiden Fremden aus Als wären sie im eigenen Land. 36 Wir wollen nun diese Tendenzen an einem prominenten und exemplarischen Fall detaillierter rekonstruieren: an der literarischen und publizistischen Tätigkeit des bosnisch-serbischen Dichters und Politikers Petar Kočić. 5. Petar Kočić: Satire als Modernekritik Petar Kočić (1877-1916) ist in diesem Zusammenhang eine besonders interessante Gestalt, weil sich an ihm jene Doppelung von literarischer und politischer Öffentlichkeit deutlich zeigen lässt. Er war Schriftsteller, Publizist, der prominenteste politische Gefangene seiner Zeit und Abgeordneter im bosnisch-her- 35 Truhelka, Ćiro: Hrvatska Bosna. Mi i „oni tamo“. Preštampano iz Hrvatskog Dnevnika. Sarajevo: Vogler 1907. 36 Beg-Bašagić, Safvet: Bošnjaku. In: Bošnjak , Nr. 2 v. 16.07.1891, p. 2.- Im bosnischen Original lauten die Zeilen: „[…]Znaš Bošnjače, nije davno bilo/ Sveg mi sv'jeta! Nema petnest ljetam,/ Kad u našoj Bosni ponositoj/ I juna č koj zemlji Hercegovoj,/ Od Trebinja do brodskijeh vrata/ Nije bilo Srba ni Hrvata./ A danas se kroza svoje hire/ Oba stranca ko u svome šire. […]“ „Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“ 385 zegowinischen Landtag ( Sabor ), der dort mitunter für Tumulte sorgte. 37 Er ist der repräsentativste Fall eines Autors, der die Literatur konsequent als eine nationale Praxis versteht, die in erster Linie dazu dient, eigene Volksgenossen zur Freiheit zu führen. Jovan Dučić wird sein Werk als die „patriotischste Literatur in unserer Schriftlichkeit“ bezeichnen, die, so setzt der Dichter noch eine nietzscheanische Wendung dazu, mit „Blut und Gift“ geschrieben würde. 38 Kočićs bekanntestes und bedeutendes Werk ist das satirische Drama Der Dachs vor dem Gerichtshof [ Jazavac pred sudom , 1902] 39 , in dem das Rechtssystem der Landesregierung einer kritisch-ironischen Betrachtung unterzogen wird. Die Hauptfigur David Štrbac, ein scheinbar naiver und ungebildeter serbischer Bauer, bringt einen absurden Rechtsfall vor das Gericht: Er kommt zum Gericht und bringt einen Dachs mit, den er verklagt, sein Korn aufgefressen zu haben. Auf die Nachfrage des Richters, warum er den Dachs nicht sofort an Ort und Stelle getötet hätte, erklärt Štrbac, er wisse nicht, was er nun tun dürfe und was nicht, er kenne sich in Gesetzen nicht mehr aus, was eine Anspielung darauf ist, dass die Rechtslage durch österreichisch-ungarische Bürokratisierung und Paragrafisierung unübersichtlich geworden war. Was dann folgt, verwandelt sich immer mehr in einen Prozess gegen das k. u. k. Rechtssystem selbst. Die eigentliche außertextuelle Referenz ist die prekäre Lage des serbischen Bauern, 37 Es sei aus dem folgenden Zeitungsbericht zitiert „Die Serben warfen den Moslims Illoyalität vor, und als diese dagegen protestierten, warf der serbische Abgeordnete Professor Petar Kocic den Pultdeckel gegen den moslemischen Abgeordneten Mustaj-Beg Mutevelic, der ihn glücklicherweise nicht traf, sondern an ihm vorbeit in das Fenster schlug.“ ( Neues Wiener Tageblatt v. 02.02.1911, p. 5) 38 Dučić, Jovan: Petar Kočić. In: Bosanska vila 7/ 8 (1911), pp. 97-101, hier p. 98.- Auch die jungbosnischen Autoren erkl ärten Kočić zu ihrem Vordenker und großen Vorbild. Der einflussreiche Ideologe der jungbosnischen Bewegung, Vladimir Gaćinović, schreibt schon 1907, dass Kočić zu den wenigen gehöre, die die „zitternde und bangende Volkssele entdeckt haben, alle Schmerzen und Regungen des Volks in der Masse“ (Gaćinović, Vladimir: Pripovijetke Petra Kočića. In: Palavestra, Predrag (Hg.): Književnost Mlade Bosne II. Sarajevo: Svjetlost 1965, pp. 253-256, hier p. 256. Vom selben Autor hei ßt es ein Jahr später: „Das Werk Petar Kočićs ist für mich die kräftigste Satire unserer Generation. Es hat Farbe, Sarkasmus, Schmerz und Herz. Es ist volle Seele unserer Rasse, die aus jeder Ader dieses Werks hervorsprießt.“ (Gaćinović, Vladimir: Petar Kočić kao satiričar. In: Palavestra 1965, pp. 257-258, hier p. 258). Auch von Jovo Varagić gibt es auch einen hymnischen Artikel von 1914 (wiederabgedr. in Palavestra 1965, pp. 225-228). Dennoch gibt es auch differenziertere Beitr äge. So wird in einer Notiz in der Bosanska vila neben allem Lob auch kritisch angemerkt, dass das Werk noch unausgewogen sei und dass manchmal die „Tendenz zu sehr hervorlugt“ (M., D. (Mostar): Naš književni rad. In: Bosanska vila 9/ 1907, p. 138. 39 Kočić, Petar: Jazavac pred sudom. In: Ders.: Sabrana djela. Knjiga 1. Sarajevo: Svjetlost 1967, pp. 171-199. 386 Vahidin Preljević das Ergebnis eines ungerechten Systems, das darüber hinaus ein wesentlich volksfremdes ist. Einen Hintergrund bildet die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Landesregierung, die anachronistische Agrar- und Kmetenfrage zu lösen. Ein sekundäres, wenn auch ganz wichtiges Thema ist in diesem Stück wie auch im thematisch verwandten Werk Sudanije die künstliche und unverständliche Sprache der neuen Bürokratie, deren Vertreter zum großen Teil nach Bosnien aus anderen slawischen Ländern der Donaumonarchie gekommen sind. Der Text oder vielmehr seine Hauptfigur ist in manchen intellektuellen proserbischen Kreisen paradigmatisch geworden: ein einfacher Bauer, der über eine natürliche Intelligenz verfügt, 40 bezwingt mit seiner primordialen Logik eine moderne fremde Rechtsordnung und legt ihre Absurditäten bloß. Es handelt sich eindeutig um einen antikolonialen Gestus, zugleich aber auch um eine Modernitäts- und Zivilisationskritik und einen Ausdruck der Sehnsucht nach vormodernen einfachen Verhältnissen. 41 6. Dichter als Märtyrer und Heiler der Volksseele All dies entspricht einigen neoromantischen Figuren, die in den Essays von Petar Kočić noch deutlicher zum Ausdruck kommen. Besonders bemerkenswert ist dabei sein Dichterbild: In einem Aufsatz über den serbischen Poeten Đuro Jakšić 42 wird Kočić den romantischen Dichter des 19. Jahrhunderts als eine Märtyrerfigur inszenieren, die sich trotz des romantischen Subjektivitätsmodells, dem er verhaftet ist, zur Inkarnation des Völkischen erheben kann. Dieser Widerspruch wird in Kočićs Argumentation durch eine bemerkenswerte Strategie aufgelöst. Kočić zitiert dabei einen serbischen Kritiker, der Jakšić von der „engen, kranken heineschen Subjektivität“ distanzieren will, jener Subjektivität, „deren Quelle die Eitelkeit ist, wo der Dichtername in jedem Vers erwähnt wird, und wo seine Qualen oder Freuden der ganzen Welt zur Klage oder zum Genuss aufgezwungen werden, wo man, so zu sagen, die subjektive Tendenz spürt.“ (p. 172) Dagegen wird die Stimme des Dichters, auch wenn sie einsam 40 Siehe dazu Moravčevich, Nicholas: The Village Story in Serbian Literature. The Peasant in the Prose of Petar Kočić. In: The Slavic and East European Journal 21.4 (Winter 1977), pp. 506-516. 41 Zur Modernekritik als antikolonialer Figur in der bosnisch-herzegowinischen Literatur und auch bei Kočić siehe die sehr aufschlussreiche Studie von Vervaet, Stijn: " Naš car ima za svašta zakon ". Kolonijalna modernost i nacionalni identitet u bosanskohercegova č koj književnosti austrougarskog razdoblja. In: Slavistična revija 57.3 (2009), pp. 467-481. 42 Kočić, Petar: O lirici Đure Jakšića. In: Ders. Sabrana djela. Knjiga 2. Sarajevo: Svjetlost 1967, pp. 167-174.- Alle weiteren Quellennachweise zu diesem Werk erfolgen nach dieser Ausgabe im Lauftext. „Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“ 387 erklingt, als visionär aus der Tiefe des Kollektivs kommend dargestellt. Er ist „schon immer seinem Volk treu gewesen“ (ibid.), und steigert sich damit zum mythischen epischen Sänger, indem der komplexe Individualismus der Romantik aufgehoben wird. Er wird damit zum Medium der heiligen Wahrheit des Volkes. Am Ende des Essays skizziert er eine utopische Vision der Befreiung: Es kommt vielleicht eine Zeit, mein Dichter und Märtyrer, in der für meinen und deinen Märtyrer, den bosnischen Bauern […], die schöneren Tage kommen werden, wenn jeder Flecken seiner Erde auch tatsächlich sein eigen sein wird. Und nun schlaf, du lichtvollle und edle Inkarnation der höchsten Empfindungen der menschlichen und serbischen Seele. (p. 174) In einem anderen Aufsatz, den er 1907 in der von ihm selbst gegründeten Zeitschrift Otadžbina ["Vaterland"] veröffentlicht, räsoniert Kočić über die Rolle der Dichter unter kolonialen Bedingungen. Zunächst stellt er fest, dass“wir schon seit dreißig Jahren unter einem strengen und gnadenlosen absolutistischen Regime leben.” 43 “In diesem langen und finsteren Zeitabschnitt”, sagt er weiter, habe das Volk große Übel erdulden müssen. Die Volksseele und der Volkskörper erlitten viele Verfolgungen und Ungerechtigkeiten, lechzend und stöhnend in seiner unerhörten Betrübnis und Ohnmacht wie kaum ein anderes Volk. Die Schreie […] der zertretenen und verletzten Volksseele und des männlichen Stolzes erfüllten mit ihren zitternden und unschönen Lauten […] unser Land und unsere Luft. (p. 211) Das Bild eines zerschundenen Volkskörpers und einer zertretenen Volksseele 44 , das hier gezeichnet wird, soll die eigene Tätigkeit legitimieren. Der Dichter ist der Arzt, der Körper und Seele heilen bzw. die Zerstückelung wieder aufheben soll. Kočić kritisiert jene Dichter, die nicht fühlen und nicht sehen, dass der Körper unseres Volkes voll von schweren und blutigen Wunden ist, welche Schmerzen unser Land leidet, wie wir von Leid und Harm gelähmt, langsam den letzten Atem aushauchen, in Schande und Sklaverei. O wie das schmerzt, in Schande und Sklaverei! (p. 214) Der Dichter ist der Heiler, der Heilende, der die Befreiung als Erlösung bringen soll. Das Bild noch einmal gesteigert, und der Dichter wird zum Messias: “Trotz allem, erwarten wir sehnlichst und voller Wünsche den großen Dichter, wir erwarten seine vollen und lauten Worte, auf dass das Horn von Jericho durch 43 Kočić, Petar: Naša poezija pod apsolutizmom. In: Kočić 1967, vol. 2, pp. 211-215. 44 Zu den typischen Figuren des balkanischen Nationalismus, insbesondere zum Motiv der verletzten Volksseele, siehe Hajdarpašić, Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination in the Balkans, 1840-1914. Ithaca, New York: Cornell University Press 2015. 388 Vahidin Preljević dieses geschundene Land ertöne, und erstorbene und vereiste Gefühle in unserer Brust entflamme. Er wird kommen, er muss kommen! ” (ibid.) In diesen Worten lassen sich unschwer vertraute Figuren und Wendungen der europäischen Romantik, aber auch des Dichterkultes im europäischen Ästhetizismus wiederfinden - also gerade jener Bewegung, gegen welche sich das literaturkritische Engagement Kočićs richtet. Die Dichterberufung, die ästhetisierte Messias-Erwartung, das Anbrechen eines Goldenen Zeitalters sind Topoi, derer sich auch beispielsweise Hölderlin oder Novalis bedient haben. 45 Doch es gibt einen bemerkenswerten Unterschied: Während in der europäischen Romantik das Schicksal der Menschheit als Bezugsrahmen diente, haben wir es hier mit der Eingrenzung des Pathos auf das jeweils eigene Volk zu tun. Wo dieser Kontext gegeben ist, kann die Freiheit nicht die Freiheit der ganzen Welt meinen, sondern nur eine nationale. Das Phantasma der“fremdländischen Macht”, die ständig “wertvolle Eigenschaften der eigenen Seele” zu bedrohen oder letztlich zu ersticken im Begriff ist, wird zum Motor der Befreiung, die - wie schon gesagt - zugleich auch Rückeroberung des Herrschaftsraums ist. Die Austreibung des Fremden aus dem Raum des Eigenen wird zum wichtigsten Inzentiv des anstehenden Freiheitskampfes. 7. Phantasma der Authentizität: Sprache als heiliges Zentrum der Nation In Ermangelung der fehlenden politischen Macht entwickelt sich die Kultur (und dabei vor allem die Sprache und die Literaturkanonisierung) zu wichtigsten Schauplätzen des anti-'kolonialen' Freiheitskampfes. Kočić, wie viele andere meist serbische Intellektuelle dieser Zeit, sah die einheimische Kultur durch die Okkupation bedroht. Dabei trat vor allem die gefährdete Reinheit der Volksprache in den Vordergrund. In mehreren Aufsätzen analysiert Kočić den vermeintlichen Sprachverfall durch Neologismen und fremartige Wendungen, die die rechtliche und sonstige Praxis der Landesverwaltung mit sich gebracht habe. In dem Pamphlet mit dem Titel Für die serbische Sprache (1911) 46 bringt Kočić den fortschreitenden Sprachverfall ausdrücklich mit der imaginierten kolonialen Konstellation in den Zusammenhang: „Es erfasst uns“, sagt er dort, „ein Zorn, dass wir in dieser Verunstaltung und Zermürbung unserer glänzenden und freien Sprache unsere koloniale Gefangenschaft und Unterlegenheit 45 Vgl. Mähl, Hans Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg: C. Winter 1965. 46 Kočić, Petar: Za srpski jezik. In: Kočić 1967, vol. 2, S. 242-251. „Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“ 389 spüren.“ ( p. 248) Eine tiefe Trauer empfindet der Autor, der auch hier wie sonst im Plural, im Namen eines Kollektivs spricht, angesichts der „Profanierung und Entheiligung unserer großen und gewaltigen Sprache“, die vor allem in der Volksdichtung, in den Epen, mit ihrer „kristallenen Reinheit“ und „natürlicher Frische“ glänzt, und die die Gemeinschaft „ermutigt, auf dem Lebensweg nicht aufzugeben“ (ibid.). Dieses „Sprachmonster“ schufen dem Autor zufolge einerseits die Fremden, vor allem Vertreter anderer slawischen Gruppen, darunter vor allem Polen und Tschechen, die nach Bosnien-Herzegowina als Beamte gekommen sind, andererseits aber auch „unsere Leute“, die dieses „Monstrum“ als Standardsprache angenommen hätten. Darin kritisiert Kočić vor allem die kroatische Variante, die seiner Meinung nach „unter dem Einfluss der deutschen Kanzleisprache“ (p. 243) entstanden sei. 47 Auch hier kommen die gewohnten Vorstellungen von Reinheit, Natur- und Lebensnähe zum Zuge, durch welche sich im Gegensatz zur Künstlichkeit dieses Idioms die (serbische) Volkssprache auszeichne. Das vorgestellte Eigene wird dadurch mit dem Prädikat der Authentizität ausgezeichnet, welche es vor fremder Kolonisierung zu retten oder wenigstens zu restaurieren gilt. Doch auch hier zeigt sich die Tücke der Befreiungsrhetorik in der kolonialen Konstellation: Die eigene Freiheit wird erkauft durch die Knechtschaft der Anderen. Der Sturz eines Imperiums ruft nationale Miniimperialismen auf den Plan. Denn dass Kočić seine eigene Sprache als serbisch bezeichnet, ist natürlich noch keine imperiale Rhetorik, doch sein Vorschlag die serbische Sprache und die kyrillische Schrift als die einzige offizielle Sprache einzuführen, kann nur als die Negation der konkurrierenden Bezeichnungen „Kroatisch“, und „Bosnisch“ verstanden werden. Doch er bleibt dabei nicht stehen, sondern spricht bestimmten Mundarten, wie dem Kajkavischen und Čakavischen sowie der kroatischen Variante des Schtokavischen überhaupt das Recht ab, eine Volkssprache zu sein. So heißt es wörtlich in einem späteren Artikel: Wir wollten […] in erster Linie darauf aufmerksam machen, dass unsere wohklingende und gottgegebene Sprache bedroht wird vom deutschen Geist - Gott weiß, ob es überhaupt der deutsche ist -, der sich in das arme und trockene Kajkavische und Čakavische eingeschlichen hatte, aus denen sich wiederum das falsche und nicht originelle Schtokavische, das Kroatisch genannt wird, ergeben hat. Dieses […] ist auch die Amts- und Unterrichtssprache in unserem Land geworden. […] Man muss dem ein Ende setzen, auf welche Art und Weise auch immer! 48 47 Zu den Sprachtransfers in der k. u. k. Ära vgl. den Beitrag von Nedad Memić zum vorl. Sammelband. 48 Kočić, Petar: Jedna korisna ustanova. In: Kočić 1967, vol. 2, pp. 216-220. 390 Vahidin Preljević Wir sehen, dass trotz der Berufung auf das Volkstümliche, auf die Einheit der einheimischen Bevölkerung, die im Widerstand gegen die Fremdherrschaft ins Feld geführt wird, die als konkurrierend empfundenen volkstümlichen Elemente als unecht und dem authentischen Zentrum nicht zugehörig diffamiert werden. Dieselbe Strategie wendet Kočić auch in Bezug auf die Kanonisierung der einheimischen Literatur an: Projekte von Kapetanović-Ljubušak und Josip Milaković, in denen das Serbische nicht als das Zentrum des Eigenen positioniert wird, werden ebenfalls abgelehnt. 49 Mit Homi Bhabha könnten wir in diesem Zusammenhang von einem internen Imperialismus sprechen. 50 Das kolonisierte Subjekt trägt die koloniale Konstellation nach innen, wo gerade eine neue Hierarchie gebildet wird. Dieselbe Struktur bedeutet aber keineswegs dieselbe Semantik. Während der ‘fremdländische’ österreichisch-ungarische Imperialismus den Ort der Macht mit den Codes der ‘Zivilisierung’ und ‘Pazifisierung’ belegt, und zunehmend, wie wir in ausgewählten Texten gesehen haben, in diesem Rahmen gerade auf die Heterogenität als identitätsstiftendes Motiv zurückgreift, wird in den einheimischen Phantasmen der Befreiung der imaginierte Ort dieser Freiheit um die Achse der jeweiligen reinen „Volkseele“ hierarchisch eingerichtet. Je näher man dem Zentrum dieser Achse ist, desto größer das Recht, frei zu sein. 49 Siehe den Text Bošnjakluk und die Polemik mit Milaković in Kočić 1967, vol. 2, pp. 175- 202 u. 226-231. 50 Vgl. Bhabha, Homi: The Location of Culture. London, New York: Routledge 2004, pp. ixxxxi. Serbischer Okzidentalismus? 391 Serbischer Okzidentalismus? Anti-westliche Rhetorik in Bosnien-Herzegowina während der österreichisch-ungarischen Besatzung Stijn Vervaet (Oslo) 1. Einleitung Im Zentrum der folgenden Untersuchung stehen die Ursachen sowie die spezifischen Merkmale des Anti-Habsburg-Diskurses, der zur Zeit der österreichisch-ungarischen Okkupation und Annexion von Bosnien-Herzegowina entstand (1878-1918). In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, die mit der Besetzung einhergehenden kolonialen Verhältnisse zu berücksichtigen. Zeithistoriker haben Österreich-Ungarn auf der Grundlage der Postcolonial Studies als Pseudo-Kolonialreich beschrieben, das zwar nicht über Überseegebiete verfügte, dafür aber bestimmte Teile seines Gebietes in Zentral- und Südosteuropa als interne Kolonien behandelte. 1 So bezeichnete etwa der amerikanische Historiker Robert Donia Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-ungarischer Herrschaft als proximate colony . 2 Kulturwissenschaftler wie unter anderen Clemens Ruthner zeigten wiederum einen klar ausgeprägten Kolonialdiskurs als wichtiges Charakteristikum der österreichisch-ungarischen Herrschaft in Bosnien-Herzegowina auf, der das Land als abgelegenen und exotischen Ort 1 Für einen detaillierten Überblick der Debatte, die auf Plattformen wie Kakanien revisited sowie in verschiedenen Buchpublikationen geführt wurde, siehe Ruthner, Clemens: K. u. K. ‚Kolonialismus‘ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren Klärung. In: Kakanien Revisited , http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ CRuthner3.pdf [29.01.2003] sowie Ruthner, Clemens: Habsburgs 'Dark Continent'. Postkoloniale Lektüren zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018. 2 Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule. In: Kakanien revisited, http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ rdonia1.pdf [11.09.2007]. 392 Stijn Vervaet imaginiert, der durch das Habsburger Reich noch zivilisiert werden muss. 3 Diese Darstellung stimmt großteils mit dem Orientalismus-Diskurs überein, wie ihn Edward Said in seiner grundlegenden Studie analysierte. 4 Während dem österreichisch-ungarischen Kolonialdiskurs in Bosnien-Herzegowina bereits ausführliche und grundlegende Studien gewidmet wurden, 5 fanden die (diskursiven) Reaktionen auf die k. u. k. Herrschaft in Bosnien-Herzegowina selbst bislang kaum Beachtung. Wie ich zeigen werde, erweist sich der Anti-Habsburg-Diskurs in den meisten Fällen als durchdrungen mit Okzidentalismen, d. h. es handelt sich über weite Strecken um einen anti-westlichen Diskurs. 6 Ich werde im Folgenden daher untersuchen, auf welch unterschiedliche Art und Weise sich okzidental(istisch)e Vorstellungen in Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-ungarischer Herrschaft manifestierten und dabei sowohl auf die ersten serbisch-bosnischen Literatur- und Kulturzeitschriften 3 Vgl. Ruthner, Clemens: ‚K.u.k. (post-)colonial‘? Prolegomena zu einer neuen Sichtweise Österreich-Ungarns in den Kulturwissenschaften. In: Müller-Funk, Wolfgang / Plener, Peter / Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen: A. Francke 2002, pp. 93-103 sowie in: http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ CRuthner1.pdf [01.10.2001]; Ders.: Kulturelle Imagines und innere Kolonisierung. Ethnisch kodierte Selbst- und Fremdbilder in der k. u. k. Monarchie- eine Projektskizze. In: Zeyringer, Klaus/ Csáky, Moritz (Hg.): Inszenierungen des kollektiven Gedächtnisses. Eigenbilder, Fremdbilder I. Innsbruck, München: StudienVerlag. 2002, pp. 30-53; Ders.: Kakaniens kleiner Orient. Post/ koloniale Lesarten der Peripherie Bosnien-Herzegowina 1878-1918. In: Hárs, Endre / Müller-Funk, Wolfgang / Reber, Ursula / Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen, Basel: Francke 2006, pp. 255-283 sowie (erweiterte Fassung auf Englisch) in http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ CRuthner5. pdf [22.05.2008]. 4 Said, Edward: Orientalism. London: Routledge & Kegan Paul 1978. 5 Vgl. Ruthner 2001/ 2002, 2002, 2006/ 2008; Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnografischen Populärliteratur der Habsburgermonarchie. In: Feichtinger, Johannes / Prutsch, Ursula / Csáky, Moritz (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtsstrukturen und kollektives Gedächtnis. Gedächtnis - Erinnerung - Identität, 2. Innsbruck: StudienVerlag 2003, pp. 259-275. Concetti, Riccardo: Der gerettete Orient. Zu Robert Michels Novellensammlung Die Verhüllte . In: Müller-Funk, Wolfgang / Wagner, Birgit (Hg.): Eigene und andere Fremde. ‚Postkoloniale‘ Konflikte im europäischen Kontext. Wien: Turia + Kant 2006, pp. 195-206.; Ruthner, Clemens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878-1918. Ney York: P. Lang 2015. 6 Angeregt von Saids Orientalismus haben Ian Buruma und Avishai Margalit Okzidentalismus als Diskurs von Vorurteilen und negativen Stereotypen über die westliche Zivilisation und ihre vermeintlichen kulturellen und moralischen Werte beschrieben (The West in the Eyes of its Enemies. New York: Penguin 2004). Für einschlägige Fallstudien im südosteuropäischen Bereich siehe den aufschlussreichen Sammelband von Schubert, Gabriella / Sundhaussen, Holm (Hg.): Prowestliche und antiwestliche Diskurse in den Balkanländern/ Südosteuropa. München: O. Sagner 2008. Serbischer Okzidentalismus? 393 eingehen als auch Schriften der Mitglieder des Jungen Bosnien ( Mlada Bosna ) berücksichtigen. In meinen Ausführungen wird deutlich werden, dass im Fall Bosnien-Herzegowinas der anti-westliche Diskurs in hohem Maße von der Art und Weise der k. u. k. Herrschaft und deren kolonialen Charakteristika bestimmt bzw. vielmehr provoziert wurde. 2. Antimodernistische Rhetorik in der Frühphase der Literaturzeitschrift Bosanska vila Wie Ian Buruma und Avishai Margalit ausführen, lässt sich Okzidentalismus in der Regel als Reaktion einer traditionsgebundenen, monotheistischen Gesellschaft auf westliche Modernität verstehen. 7 Dieser Befund trifft zweifellos auf die ersten kulturellen und literarischen Zeitschriften in Bosnien-Herzegowina zu, in denen sich zugleich eine erste Welle anti-westlicher Rhetorik findet. Während der Zeit der österreichisch-ungarischen Okkupation kommt es nämlich zu einem signifikanten Anstieg von Zeitschriften und literarischen Periodika. Um eine neue Zeitung oder Literaturzeitschrift zu gründen, musste der angehende Verleger ebenso wie in den anderen Gebieten der Monarchie eine Konzession bei den k. u. k. Behörden beantragen, die nur durch eine aufwändige Prozedur zu erlangen war. Die Behörden behielten sich freilich das Recht vor, die Genehmigung zu widerrufen. Zusätzlich strebten sie eine Medienkontrolle durch Präventivzensur an. Wie in allen wichtigen Fragen wurden auch hier die Entscheidungen vom Gemeinsamen Finanzministerium getroffen und von der Landesregierung in Sarajevo exekutiert. 8 Vor allem die politisch engagierten Zeitungen wie Srpska riječ oder Hrvatski dnevnik wurden so streng zensuriert, dass Ausgaben oft leere Seiten enthielten, da die Redaktion nicht mehr in der Lage gewesen war, die vom Zensor inkriminierten Passagen zu ersetzen; Literaturzeitschriften wie Bosanska vila scheinen aber meistens der Schere entgangen zu sein, obwohl in den ersten Jahren der Okkupation auch fiktive Texte zensuriert wurden. 9 Dies bedeutet freilich nicht, dass in Folge Schriftsteller immer die Zensur zu unterlaufen vermochten; eher das Gegenteil ist der Fall. Außerdem wurden Autoren, die wie Petar Kočić in der Tagespolitik eine wichtige Rolle spielten, von Spitzeln überwacht, und dies zusätzlich zu ihrer strengen Zensur. So vermerkt 7 Vgl. Buruma & Margalit 2004. 8 Vgl. Kruševac, Todor: Bosanskohercegova č ki listovi u XIX veku. Sarajevo: Veselin Masleša 1978, p. 71f. 9 Vgl. Vervaet, Stijn: Cultural Politics, Nation Building and Literary Imagery. In: Kakanien revisited , http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ SVervaet2.pdf, pp. 6 f. 394 Stijn Vervaet etwa der Zensor über Kočićs Drama Jazavac pred sudom (von dem noch die Rede sein wird 10 ), dass etliche Passagen durchaus als „antiösterreichisch“ interpretiert werden könnten. Trotzdem kommt er zum Schluss, dass die Grundlage für rechtliche Schritte zu gering und der Autor nicht für die Aussagen seiner fiktiven Figuren zu belangen sei. Anstelle dessen verbieten die Behörden einfach eine Aufführung des Stücks in Bosnien-Herzegowina. 11 Die meisten dieser Literaturzeitschriften dienten allerdings unterschiedlichen nationalen Ideologien, d. h. die Kurzgeschichten, Gedichte und anderen publizierten Texte hatten vor allem eine moralisch-didaktische Funktion. 12 In der ersten Literaturzeitschrift, die unter dem Titel Bosanska vila [‚Bosnische Fee‘] erschien, versuchten bosnisch-serbische Intellektuelle die Massen für die von ihnen vertretene nationale Sache zu gewinnen. 13 Dies traf insbesondere auf die Frühphase ihrer Publikation von 1886 bis 1904/ 05 zu. In der Folge wandte sich der Fokus der Zeitschrift eher ästhetischen Fragen der Literatur zu. An den folgenden Beispielen sollen nun zentrale Charakteristika dieses anti-westlichen Diskurses dargestellt werden. Dass die patriotischen Intellektuellen dieser Zeit ihre Abneigung gegenüber dem Modernisierungsprozess (und dessen moralische Konsequenzen), der mit der k. u. k. Besetzung des Landes begann, kaum verbargen, verdeutlicht bereits ein kurzer Blick auf die ersten Kurzgeschichten in der frühen Bosanska vila . Diese Haltung wird etwa durch die Bemerkung des Erzählers in der Kurzgeschichte „Sie haben sich versöhnt“ ( Izmirili se ) von Manojlo Đ. Prizrenac illustriert, mit der er die Leser folgenderweise anspricht: Ihr seid also auf dem Weg euch zu ‚zivilisieren‘ , um Menschen von ‚Welt‘ zu werden. Niemand hat etwas dagegen - alle sollten sich von Herzen darüber freuen. Wir hoffen nur, dass eure ‚Zivilisation‘ nicht kopfüber daherkommt. Das wäre wirklich fürchter- 10 Vgl. auch den Beitrag von Vahidin Preljević im vorl. Sammelband. 11 Vgl. Kruševac, Todor (Hg.): Petar Kočić. Dokumentarna građa. Sarajevo: Muzej književnosti Bosne i Hercegovine 1967, pp. 109-115. 12 Lešić, Zdenko: Književni časopisi kao novi medij umjetničke komunikacije. In: Juzbašić, Dževad (Hg.): Prilozi historiji Sarajeva. Radovi sa znanstvenog simpozija Pola milenija Sarajeva , održanog u Sarajevu od 19. do 21. marta 1993. godine. Sarajevo: Institut za istoriju 1997, pp. 319-324; Vervaet, Stijn: Centar i periferija u Austro-Ugarskoj. Dinamika izgradnje nacionalnih identiteta u Bosni i Hercegovini od 1878. do 1918. godine na primjeru književnih tekstova. Sarajevo, Zagreb: Synopsis 2013, pp. 127-220. 13 Eine detailliertere Untersuchung der Gründer und ersten Herausgeber der Bosnischen Fee findet sich in: Đuričković, Dejan: Bosanska vila. Književnoistorijska studija. Sarajevo: Svjetlost 1975, vol. I, pp. 19-49. Diese zweibändige Monografie umfasst auch eine vollständige Bibliografie der in der Zeitschrift erschienenen Beiträge. Für eine Analyse des Programms der Zeitschrift siehe Vervaet 2013, pp. 130-143. Serbischer Okzidentalismus? 395 lich. Was dieser Parasit ‚ Zivilisation ‘ [ civilizaciona nalepa ] angerichtet hat, ist weit schlimmer als die Gewalt und Brutalität eines ausländischen Feindes. 14 Es wird sehr schnell deutlich, dass Österreich-Ungarn als der Westen wahrgenommen wird oder zumindest als Importeur (oder Träger ) von Modernität. In einer weiteren Kurzgeschichte, die neue Formen von Zeitvertreib wie „Picknicks, Bälle, Tanzschulen und andere Unterhaltungen“ kommentiert, seufzt der Erzähler schließlich: „Wo sind die guten Zeiten geblieben, als wir nichts von diesem schwäbischen Müßiggang wussten! “ 15 Die Zeitung Bosnische Post veröffentlichte 1889 eine Liste von Neologismen, die in Bosnien erst während der Herrschaft der Habsburger, die zu dem Zeitpunkt zehn Jahre gedauert hatte, Teil der Alltagssprache geworden waren - interessanterweise befindet sich auch Zivilisation unter den neu geprägten Wörtern. 16 De facto übernahm die Bosnische Post diesen Text von der kroatischen Zeitung Obzor , die ihn einige Tage zuvor publiziert hatte. 17 Die mit 186 Einträgen beeindruckende Liste umfasst eine Reihe von Germanismen, Lehnwörtern aus dem Ungarischen sowie typisch bürokratische Ausdrucksweisen. Neben inteligencija, diplomacija, intervencija, monarhija finden sich aber auch Begriffe wie anarhija, atentat, bomba, autonomija, demonstracija und civilizacija . Wie der Kommentar der Zeitung feststellt, handelt es sich um „eine ganze Reihe von Worten, welche die bosnisch-hercegovinische Bevölkerung erst seit der Occupation gelernt hat, und die in der That hier zu Lande bereits gang und gäbe sind“. 18 Der Kommentar macht zunächst einen ‚zivilisatorischen‘ Diskurs sichtbar, der das ‚Lernen‘ dieser Wörter an sich schon als kulturelles Ereignis begreift; doch erweist sich als nicht weniger von Interesse, dass der diesem Diskurs inhärente Widerstand mit ‚importierten‘ Begriffen wie „Anarchie, Attentat, Bombe, 14 Eröffnungstext in der ersten Bosanska vila 1/ 1885, Nr. 1, p. 2: „Vi ste dakle na putu da se ‚civilizirate‘, da postanete ljudi od ‚svijeta‘. Nitko nema ništa protivu toga, već se mora radovati tome iz sveg srca. Samo neka ta ‚civilizacija‘ [sic] ne dođe kod vas s repom naprijed. To bi bilo grdno zlo. Što učini takova ‚civilizacijona‘ [sic] nalepa, mnogo je crnje i gore od tuđinske sile i obijesti.“ [alle Hervorh. St.V.] 15 Bosanska Vila 2 (1887), Nr. 24, p. 371: „Dođe vrijeme piknika, balova, tancšula i drugijeh zabava […] Kamo ono sretno doba, kada za ove bresposlice švapske ne znadosmo! “ Zoran Konstantinović hat darauf hingewiesen, dass das Wort Schwabe/ schwäbisch ( Švaba / švapski ) als abwertende Bezeichnung nicht nur für Deutsche und Österreicher verwendet wurde, sondern auch für Serben oder Kroaten der Habsburger Monarchie: Konstantinović, Zoran: ‚Nemac‘ und ‚Švaba‘ in der serbischen Literatur. In: Schubert, Gabriella / Dahmen, Wolfgang (Hg.): Bilder vom Eigenen und Fremden aus dem Donau-Balkan-Raum. München: Südosteuropa-Gesellschaft 2003, pp. 169-178, insbes. p. 170f. 16 Bosnische Post , 09.01.1889, Nr. 2, p. 2. 17 Obzor , 01.01.1889, Nr. 1, p. 1. 18 Ibid. [Hervorh. St.V.]- Nedad Memić beschäftigt sich in seinem Beitrag zum vorl. Sammelband ausführlich mit diesem Themenbereich. 396 Stijn Vervaet Autonomie, Demonstration“ in vielen Publikationen der noch jungen Provinz offensichtlich ebenfalls gegenwärtig war. Die Tatsache indes, dass besagte Liste zuerst in einer Zagreber Zeitung erschienen war, spricht ebenso Bände, nämlich dass kurz nach der Okkupation von Bosnien und der Herzegowina viele kroatische Journalisten, Schriftsteller, Intellektuelle und Politiker diese Gebiete offenkundig immer noch als rückständig und ‚türkisch‘ ansahen. 19 Doch welche Aspekte des westlichen bzw. österreichisch-ungarischen Modernismus (oder: Zivilisation ) erregten die größte Sorge? Wie dies häufig auf Autoren zutrifft, die okzidentale Diskurse und Stereotypierungen bemühen, lehnten sie alles Neue sowie jede Entwicklung ab, die mit einer modernen urbanen Kultur in Verbindung gebracht werden konnte - von Kleidung über neue Moden bis hin zur Emanzipation der Frau. Ein Zitat aus der ersten Ausgabe der Kulturzeitschrift Bosanska Vila illustriert die immense Bedeutung, die Frauen im Kampf gegen Neuerungen bzw. für den Erhalt der Tradition zukam: Was die heutige Mode betrifft, so fehlen mir die Worte, mein Bruder. Wenn ich unsere Frauen in diesen Lumpen und Fetzen und Putzlappen sehe - ich habe keine Ahnung wie man all diese teuflischen Dinge nennt - statt in unserer schönen traditionellen Kleidung, und wenn sie auf ihren Köpfen diese Hüte und komplette Heuhaufen tragen statt die serbischen Flechten, die in unseren Liedern besungen werden, dann gerät meine Seele in Unruhe und ich habe keine anderen Worte als: Schäme Dich im Angesicht Gottes und ehrenvoller Leute! Es ist eine Schande für Deine serbische Religion und die Milch Deiner serbischen Mutter, dass Du das reine serbische Blut besudelt hast! 20 In den Beiträgen der frühen Bosanska vila stand der serbische Nationalismus zumeist in enger Verbindung mit traditionellen patriarchalen Werten, die deren Autoren in der ‚authentischen‘, ‚reinen‘ Dorfkultur verkörpert sahen. Solcherweise erhielt alles Bekannte, Traditionelle und Serbische ‚von uns‘ eine positive Bewertung, während alles Neue, Unbekannte und Fremde/ ‚Schwäbische‘ negativ beschrieben bzw. sogar als ‚Schande‘ bezeichnet wurde. Konsequenterweise 19 Zum Stellenwert Bosnien-Herzegowinas im kroatischen Nationalismus des 19. Jhs. vgl. Stehlík, Petr: Između hrvatstva i jugoslovenstva. Bosna u hrvatskim nacionalno-integracijskim ideologijama 1832-1878. Zagreb: Srednja Europa 2015. Über die kroatischen Reiseberichte von Matija Mažuranić (1842) und Ivan Kukuljević-Sakcinski (1858), vgl. ibid., pp. 26 ff. u. 57 ff. 20 Bosanska Vila 1 (1886), Nr. 13, p. 193: „O današnjoj modi ne mogu brate ni prosloviti. Kad vidim na našim ženama onolike krpe i zakrpe i nekake penjge i pripenjge - ne znam kako vi one đ avole zovete - umjesto lijepoga našeg starinskoga odijela, i one na glavama konđei čitave plastove nose na mjesto srpskih pletenica, što ‘no se u pjesmama pjevaju, smuti mi se u duši, pa vam ne mogu ništa reći, nego: crn vam obraz i pred Bogom i pred poštenim ljudima! Jazuk vam bila srpska vjera i srpsko mlijeko, što opoganiste čistu krv srbinjsku! “ Serbischer Okzidentalismus? 397 wurden daher in erster Linie die Fremden beschuldigt, die Mode und die guten Sitten der bis dahin ehrenvollen serbischen Frauen zu verderben. Allerdings konnten sich offensichtlich auch Männer nicht den negativen Seiten moderner Zivilisation entziehen: Ich bitte Dich also, zeige mir einen einzigen unserer serbischen Brüder, der, nach der Arbeit, wenn er sein Geschäft abgeschlossen hat, sofort nach Hause geht. Ich gebe Dir einen Pfennig, wenn Du einen einzigen für mich findest. Alles ist abartig - ich meine, alles ist zivilisiert. Jeder, der ein wenig Rückgrat zu haben glaubt, geht direkt in ein Gasthaus, danach zum Billard, danach zu seiner Kartenrunde oder spielt Domino, und ein wenig später besucht er sogar noch andere Etablissements. Du weißt sehr gut, welche Orte ich meine. 21 Die Autoren der frühen Bosanska vila warnten ihre Leser nicht nur vor den negativen Seiten der Moderne, sondern betonten zudem, dass die Leser traditionelle, sogenannte orthodox serbische Werte bewahren sollten. Dies ist ein Anliegen, das in erster Linie die familiäre und gesellschaftliche Position von Frauen betrifft, obwohl im folgenden Ausschnitt aus der Bosanska Vila vor allem der pater familias direkt angesprochen wird: Vor allem erziehe Deine Töchter zu guten Frauen und Müttern. Auch wenn es lächerlich anmutet, so sage ich Dir: Gnade dem Volk, das keine richtigen Frauen hat. […] Achtet auf Eure Frauen, damit sie nicht sündigen - es ist grauenhaft, wenn eine Frau keine Frau ist. Es gibt genügend Beispiele in der zivilisierten Welt - in der Gesellschaft, in der Familie, überall wo zwei Frauen zusammenkommen. Es ist ein Unheil, das das Leben und den Frieden einer Familie zerstört, Bekannte und Freunde zum Streiten anstiftet, die Gemeinde und den Staat vernichtet. 22 Es ist bemerkenswert, dass die Frau hier nicht nur als Hüterin traditioneller Werte und als Stütze der Familie vorgestellt wird, sondern dass ihre Stellung letztlich über Sein oder Nicht-Sein des Staates entscheidet. Darüber hinaus wird deutlich, dass vor allem Frauen die Neigung zugeschrieben wird, besonders anfällig für bestimmte moralisch verwerfliche Seiten der neuen Zivilisation zu 21 Bosanska vila 1 (1886), Nr. 13, p. 194: „A deder ti sad upri prstom u brata Srbina, koji ćeti, kad dućan zatvori i posao ostavi pravo kući. Evo ti groš ako mi ga nađeš. Sve se to izopačilo, hoću reći, civiliziralo. Ko je malo pojačih leđa taj ide pravo u kafanu, pa u bilijar, karte i domine, a malo poslije i po drugim mjestima. Ti već znaš gdje.“ 22 Bosanska vila 1 (1886), Nr. 1, p. 2 [Hervorh. St.V.]: „I to učite u prvom redu vaše šć eri, da budu dobre žene i prave matere. Jer, ma koliko da će izgledati smiješno, ja ću vam reći: teško narodu koji nema pravih žena. […] Čuvajte dakle vaše žene, da negrješe dušu, - strašno je kad žena - nije žena! A toga ima dosta međ civilizovanim svijetom - u društvu, u porodici gdje god stanu dvije žene zajedno. To je zlo, koje ruši porodični život i mir; koje zavađa rođake i prijatelje; koje ruši opštinu i - državu.“ 398 Stijn Vervaet sein. Dazu zählt die Mode ebenso wie neue Umgangsformen mit dem anderen Geschlecht bzw. ganz allgemein Sitten, die nicht nur in Mädchenpensionaten, sondern auch von populären Romanen vermittelt worden seien. Diese Auffassung wird auch von einem der prominentesten Autoren der Bosanska vila vertreten, nämlich von Hadži Savo Kosanović, der unter dem Pseudonym ”Neter de” publizierte. 23 Kosanović wurde der erste bosnische Metropolit, nachdem er 1882 seinem phanariotischen Vorgänger, dem Griechen Mtimos, nachgefolgt war. Er war eine bekannte öffentliche Persönlichkeit und insbesondere unter der orthodoxen Bevölkerung populär. 24 Er verfasste unter anderem eine Geschichte über ein bosnisches Mädchen, das ein Verhältnis mit einem österreichischen Offizier hat. Obwohl die Moral der Geschichte keinerlei Zweifel offen lässt - flirte nicht mit Ausländern -, fühlte sich der Autor dennoch bemüßigt, den folgenden Kommentar über den schlechten Einfluss moderner Erziehung auf die Sitten junger Mädchen hinzuzufügen: Es ist kein Vergnügen, ein Dutzend alter, mittelalterlicher Romane zu lesen, in denen der unglückliche Liebhaber durch Feuer und Wasser gehen muss, bis er endlich in die Arme irgendeiner Rosinante oder Dulcinea fällt. Alles Heimatliche ist natürlich nicht gut genug - weder die Art, einer den Hof zu machen, noch die anderen Bräuche; die einheimischen Burschen sind zu grob, aber ein Offizier - oh, das ist etwas anderes, weil er mit den Frauen zu reden und sie zu unterhalten versteht. 25 An den angeführten Beispielen fällt also auf, dass der anti-westliche Diskurs in hohem Maß via den Körper und die Sitten der Frauen argumentiert. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Okzidentalismus in den frühen bosnisch-serbische Literaturzeitschriften als Reaktion gegen die Urbanisierung und Modernisierung entstand, die als Bedrohung traditioneller Werte und Sitten erfahren wurden. 23 Vgl. Đuričković 1975, vol. II, p. 13. 24 Vgl. Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Mission’ in Bosnia, 1878-1918. Oxford: Oxford University Press 2007, pp. 34-41. Zum Leben von Kosanović siehe auch Ljubibratić, S.: Arhiepiskop i mitropolit Sava Kosanović. In: Dušanić, Svetozar (Hg.): Spomenica povodom osamdesetogodišnjice okupacije Bosne i Hercegovine 1878-1958, pedesetogodišnjice aneksije 1908-1958 i četrdesetogodišnjice oslobođenja i ujedinjenja. Belgrad: Srboštampa 1959, pp. 76-82. 25 Bosanska Vila 6 (1891), Nr. 15, p. 228: „Nije ni šala pročitati nekoliko tuceta starih srednje vjekovnih [sic] romana, u kojima nesretni ljubavnik mora proći kroz vatru i vodu, dok najposlije ne padne u zagrljaj kakvoj Rozinandi ili Dulcineji. Sve što je domaće naravno da ne valja, ni razgovor ni običaji, momci su suviše prosti, a kakav oficir - o to je što drugo, taj se zna razgovarati, pa zabavljati žensku.“ Serbischer Okzidentalismus? 399 3. Antikoloniale Satire: Savo Skarić und Petar Kočić Eine humorvollere, aber durchaus ähnliche Form des okzidentalistischen Diskurses findet sich in den satirischen Kolumnen von Savo Skarić, die von 1906 bis 1909 in der Zeitschrift Srpska riječ [‚Das Serbische Wort‘] unter dem Titel Zembilj [‚Die Tasche‘] veröffentlicht wurden. Skarić machte den Begriff kuferaš populär: ein Spottname, der metonymisch auf die zahlreichen Beamten und ökonomischen Immigranten und Einwanderer im Allgemeinen verweist, die seit der Besetzung von allen Teilen der Monarchie nach Bosnien-Herzegowina gekommen waren (etymologisch kann der Begriff kuferaš auf das deutsche Wort Koffer zurückgeführt werden). Skarić beschreibt diese Koffer-Träger folgenderweise: Ein kuferaš ist jeder, der mit seinem Koffer nach Bosnien kam, auf Kosten dieses Volkes lebt und ihm etwas anderes wünscht als es sich selber wünscht. Ein Mann jedoch, der die Ideale von diesem Volk als seine Ideale anerkennt, ist kein Koffer-Träger, auch wenn er von weither kommt. 26 Eine seiner Kolumnen verfasste Skarić in Form einer ironischen Glückwunschadresse nicht zum dreißigsten, sondern zum 29. Jubiläum der Besetzung, mit der er eine Interpretation der sogenannten österreichisch-ungarischen ‚Kulturmission‘ vorträgt, die einigermaßen von der Sichtweise der habsburgischen Verwaltungsbeamten abwich. Mit einigem Zynismus erinnert er daran, wie im Zuge der militärischen Besetzung die ersten kuferaši in Bosnien auftauchten und mit ihnen negative Stereotype wie ‚dumme Bosnier‘ und die Emanzipation bosnischer Mädchen. Seither, so Skarić, seien die bosnischen Wälder von Arbeitern und Polizisten statt von Wölfen und Haiduken 27 bevölkert: Vor genau 29 Jahren betrat der erste Koffer Bosnien und damals tauchte auch die Interjektion Dummer Bosniak auf. […] Vor der Besetzung weinten unsere Frauen und Mädchen unter der Knechtschaft von Halstüchern oder anderen Bändern mit goldenen venezianischen Dukaten, Thalern und Zwanzigern, und nun werden sie zum Stolz 26 Skarić, Savo: Izabrana djela. Zembilj, šala i maskara. (Hg. von Dejan Đuričković) Sarajevo: Svjetlost 1982, p. 163 [erstmals veröffentlicht in Srpska riječ 1908, Nr. 9]: „Kuferaš je svaki onaj, koji je došao sa koferom u Bosnu, živi od ovoga naroda, a želi mu nešto drugo, nego što narod sam sebi želi. Onaj čovjek, opet, koji u idealima ovoga naroda nalazi i svoje ideale, nije kuferaš niti može biti, pa ma on bio čak iz Čina i Mačina.“ 27 Als Haiduken (auch Hajduken, Haiducken, Heiducken) wurden im südosteuropäischen Raum Straßenräuber und Briganten bezeichnet, die seit dem späten 16. Jahrhundert (als eine Art Sozialbanditentums [ social bandits ], um Hobsbawms zutreffenden Ausdruck zu leihen) gegen die osmanische Herrschaft kämpften. In der Balkanepik und in der romantischen Literatur erscheinen sie als Rebellen und Freiheitskämpfer, de facto raubten sie aber nicht nur Vertreter der osmanischen Herrschaft, sondern auch lokale Händler und Reisende aus. Vgl. Hösch, Edgar et al. (Hg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Wien: Böhlau 2004, p. 269f. 400 Stijn Vervaet des zwanzigsten Jahrhunderts ‚frei‘. Die Arbeiterklasse, die zuvor wie Aschenputtel zu Hause saß, geht jetzt - Gott sei gedankt - in Amerika an die frische Luft. Unsere Wälder, in denen bis dahin wilde Wölfe und Haiduken lebten, werden jetzt von zahmen ausländischen Arbeitern [ škutori ] [der Firmen, S.V.] Steinbeis 28 und Ortlieb 29 bewohnt. Es lebe die Landesregierung! 30 Skarić teilte offensichtlich die politischen Ansichten der Zeitschrift Srpska riječ . In seinen Beiträgen lassen sich grundsätzlich drei Stereotype unterscheiden, die auch für den Grundton der Zeitschrift charakteristisch sind. Lešić zufolge können diese wie folgt zusammengefasst werden: 1) Der Katholizismus wird als Brücke zur permanenten Annexion Bosnien-Herzegowinas durch die österreichisch-ungarische Monarchie gesehen; aus diesem Grund sind Erzbischof Josip Stadler und andere kuferaši bzw. ‚Kulturträger‘ aus Kroatien die bevorzugten Angriffsziele von Skarićs erbitterten Satiren. 2) Bosnische Muslime stellen eine einzigartige ethnische Gruppe dar, mit denen die Serben eine Gemeinschaft bilden sollten; diese Haltung findet sich in Skarićs Angriffen auf die Zeitung Bošnjak sowie auf den erfolgreichen Unternehmer Ademaga Mešić, der mehrere muslimische Zeitungen besaß. 3) Das Hauptziel der oppositionellen Kräfte in Bosnien-Herzegowina sollte darin bestehen, sich im Rahmen der Autonomiebewegung in Bezug auf Religion und Bildung für gleiche Bürgerrechte einzusetzen. Auf diesen Beweggrund lässt sich schließlich Skarićs Kritik an Bildungsinstanzen und Zensur zurückführen. 31 Bemerkenswerterweise erörtert Skarić jedoch nicht Fragen der Landreform oder der Bauernrechte, aber auch an der Arbeiterklasse zeigt er kein besonderes Interesse; dennoch wäre es verfehlt, ihn als glühenden Befürworter der serbischen nationalen Sache zu betrachten. Ähnlich wie die Autoren der frühen Bosanska vila lehnt Skarić alle Neuerungen ab, die seine Sarajevoer Mitbürger/ innen von den österreichischen Beset- 28 Bosnische Forstindustrie A/ G Otto Steinbeis , Eigentümer der Eisenbahn von Ribnik nach Knin, von der das Holz zum dalmatinischen Hafen von Šibenik transportiert wurde. 29 Eissler und Ortlieb waren große Holzunternehmen mit Sitz in Zavidović . 30 Skarić 1982, p. 163: „Evo se navršilo ravno igrmi dokuz sene [29. godine], kako je u Bosnu unišo prvi kufer i kako je postala uzrječica Dume[r] Bošnjak .[…] Naše su stare žene i djevojke prije okupacije pištale u groznim okovima od ogrlica počelica sa rušpama, talirima i cvancikama, a sada su na ponos dvadesetog vijeka, postale ‚slobodne‘. Radna snaga narodna, koja je prije ko ćućumisla čuvala kućne pragove, sad fala Bogu ide na promjenu vazduha u Ameriku. Gore naše, koje su do sada skrivale bijesnog vuka i hajduka, sad skrivaju pitome Štajnbajsove i Ortlibove škutore. […] Šifio zemaljska vlada! “ (Hier sei noch darauf hingewiesen, dass Skarić - wie auch Kočić - häufig die von Deutschsprachigen in der Regel eher stimmlos ausgesprochenen, aber im Serbo-Kroatischen stimmhaften Konsonanten ž und v karikiert darstellt: z. B. ‚šifio‘ statt dem korrekten ‚živio‘.) 31 Lešić, Zdenko: Pripovjedačka Bosna. Bd. II: Pripovjedači do 1918. Sarajevo: Institut za književnost / Svjetlost 1991, p. 188f. Serbischer Okzidentalismus? 401 zern übernahmen. In seiner Beschreibung des Korsos von Sarajevo kontrastiert er etwa durchaus amüsant neue, urbane Gepflogenheiten der Verführung mit dem traditionellen Brauch des ašikovanje (Hofmachen, Flirten). Den Korso bezeichnet er als „einen Turtel-Jahrmarkt“ ( jedan ašikluk-bezistan ) bzw. als „einen Liebesmarkt“ ( jedna ljubavna markala ) - als einen Platz also, wo „verheiratete Frauen auf den Mann anderer Frauen ein Auge werfen, und verheiratete Männer auf die Frauen von anderen“ und wo „ganz allgemein der Grund für eine Scheidung auftaucht“. 32 Ähnlich wie die Autoren der Bosanska vila tendiert Skarić dazu, patriarchale Idylle gegen neue Gewohnheiten zu verteidigen. So warnt er die Mädchen von Sarajevo, nicht vor der attraktiven ‚schwäbischen‘ Mode zu kapitulieren, wobei er die traditionellen ‚serbischen‘ Sitten gegen die Sittenlosigkeit der modernen Städte und der aufkommenden bürgerlichen Kultur verteidigt: „Frauen, bewahrt den guten alten Ruf, den Sarajevo dank seiner Mädchen und ihres Fleißes, ihrer Sparsamkeit und Sauberkeit immer hatte.“ 33 Allerdings hatte der Einzug der Modernität in Bosnien-Herzegowina nicht nur neue Gewohnheiten, neue Moden oder neue moralische Standards zur Folge, sondern auch die Herausbildung eines modernen Rechtssystems, die Einführung des verpflichtenden Militärdienstes sowie die Schaffung eines bis dahin unbekannten bürokratischen Systems. Die Konfrontation des bosnischen Bauern mit den Disziplinierungsmechanismen des Habsburger Reiches war ein bevorzugtes Thema von Petar Kočić, einem glühenden serbischen Nationalisten und erbitterten Gegner der k. u. k. Herrschaft in Bosnien-Herzegowina. Bereits in seiner ersten Kurzgeschichte mit dem Titel Tuba schildert Kočić die Einberufung zum Militärdienst in einer Weise, als würden die Rekruten direkt in den Krieg geschickt werden - mit einer dieser Darstellung entsprechenden Atmosphäre im betreffenden Dorf. Als einer der Protagonisten im Lauf der Geschichte in den Baracken von Graz stirbt, verflucht seine Verlobte die Stadt mit den Worten „Graz ist ihr Name - sie soll brennen! “ 34 In seinem satirischen Theaterstück Jazavac pred sudom ('Der Dachs vor Gericht', 1902) präsentiert er den Habsburger Modernismus als hohle Bürokratie, wobei er insbesondere die herablassende Behandlung bosnischer Bauern durch österreichische Beamte hervorhebt. 35 32 Skarić 1982, p. 68f.: „udate žene namiguju na tuđe muževe, a oženjeni ljudi na tuđežene“; „gdje uopće teku razlozi za razvod braka.“ 33 Skarić 1982, p. 70: „Ženskadijo [sic], čuvaj onaj stari dobri glas, kojega je Sarajevo uvijek imalo radi svojih djevojaka i njihove vrednoće, tedaruća i čistine.“ 34 Kočić, Petar: Sabrana djela. 3 Bände. Sarajevo, Belgrad: Svjetlost, Prosveta 1967, vol. I, p. 40: „E, jes’, Grac mu se rekne, vatra ga sagorela! “ 35 Zu Kočić siehe auch den Beitrag von Vahidin PreljeviĆ im vorl. Sammelband. 402 Stijn Vervaet Interessanterweise zeigen Kočićs Geschichten eine weitere Perspektive des Okzidentalismus, auf den Buruma und Margalit hinwiesen: die Überzeugung, dass der moderne, aber materialistische Westen die moralischen Werte und das ethische Bewusstsein des Ostens niemals verstehen würde. 36 Diese Ansicht findet sich in Geschichten wieder, in denen die starke emotionale Verbindung bosnischer Bauern mit der Natur als zentrales Motiv eingesetzt wird. Kočić verweist immer wieder auf die Unvereinbarkeit traditioneller Werte mit den ‚unmenschlichen’ österreichisch-ungarischen Gesetzen, wobei er betont, dass die Urheber der k. u. k. Verwaltung die Weltanschauung der bosnischen Bauern nicht begreifen würden. Aus diesem Grund kann auch David Štrbac, der Protagonist des Stücks Der Dachs vor Gericht , das Feld, auf dem der Dachs gefangen wurde, nicht benennen oder genau bezeichnen. Deshalb sagt er, dass das Feld „weder dem Zar noch dem Spahi noch David“ gehöre. 37 Auf diese Weise verdeutlicht er, dass die Verbindung, die er mit seinem Land hat, nicht in der Sprache der kolonialen Verwaltung zum Ausdruck gebracht werden kann, die zwar rational, aber unmenschlich ist. 38 In einer anderen Geschichte, Vukov gaj (‚Vuks Hain‘ , 1910), beschreibt Kočić den Konflikt zwischen Gesetz und menschlichen Gefühlen als Konfrontation zwischen (bosnischen) geistigen Werten und Naturverbundenheit einerseits und (österreichisch-ungarischer) materialistischer Habsucht andererseits. Eine Schlüsselrolle in dieser Geschichte spielt ein Hain, den der titelgebende Protagonist Vuk seit seiner Kindheit gepflegt hat. Es handelt sich wiederum um einen Ort, „der allen und niemandem“ 39 gehört. Der Erzähler betont Vuks innige Naturverbundenheit: „er liebte diese Buchen und Ahornbäume, als wären sie seine Verwandten, er sprach mit ihnen wie mit seinem Bruder oder seiner Schwester“ und ihr Flüstern „wiegte ihn in Träume und machte ihn trunken vor Freude“. 40 Die Dorfbewohner achten Vuks Liebe für den Hain und behandeln diesen wie ein Allerheiligstes. 41 Doch dann verkauft der Spahi den kleinen Wald an ein aus- 36 Buruma & Margalit 2004, pp. 75-99. 37 Kočić 1967, vol. I, p. 178: „[ona nije] ‘ni carska, ni spa’ijska, ni Davidova.“ 38 Young hat darauf hingewiesen, dass Kolonialismus ein neues Verständnis von Land im Sinne von Privateigentum mit sich brachte: „In colonialism, therefore, we often have a conflict between societies that do and do not conceive of land as a form of private property: at one level indeed, colonialism involves the introduction of a new notion of land as property, and with it inevitably the appropriation and enclosure of land. This develops into a larger system of the imposition of economic roles and identities.“ (Young, James: Colonialism and the Desiring Machine. In: Castle, Gregory [Hg.]: Postcolonial Discourses. Oxford: Oxford Univ. Press 2001, p. 84f.) 39 Kočić 1967, vol. II, p. 56: „bila je svačija i ničija“. 40 Ibid., p. 56f.: „[t]e bukve i javorovi su mu mili i dragi kao nešto svoje rođeno što mu je priraslo za dušu i srce.“ „[njihovo šuštanje] mu je uvijek dušu zanosilo i opijalo“. 41 Ibid., p. 58: „k’o svetinja jedna“. Serbischer Okzidentalismus? 403 ländisches Holzunternehmen, das die Bäume abholzen und verkaufen will. Der Protest der Dorfbewohner gipfelt in einem Aufruhr und endet in einer Schlacht mit der Polizei, die die Holzfäller - Tagelöhner, die für die Arbeit, die keiner der Einheimischen machen wollte, angestellt wurden - zu beschützen versucht. Der Erzähler fasst die Situation kurz wie folgt zusammen: „Die eine Seite führte das Gesetz ins Feld, die andere Gott und seine Wahrheit.“ 42 Allerdings wird schnell deutlich, welche Seite den Streit gewinnt: Vuk und einige andere Dorfbewohner sterben in der Auseinandersetzung, und der Wald wird schlussendlich abgeholzt. Das Welt- und Lebensverständnis von Kolonisatoren und Kolonisierten stehen einander diametral gegenüber, der Erzähler sympathisiert jedoch deutlich mit Letzteren. 4. Heroischer Okzidentalismus: ‘Junges Bosnien’ (Mlada Bosna) Die Mitglieder der revolutionären Studentenorganisation ‚Junges Bosnien‘ ( Mlada Bosna ) können in gewisser Weise ebenfalls zu den Okzidentalisten gezählt werden. Allerdings erinnern die Schriften dieser aufständischen Schüler und Studenten weniger an die moralisch-didaktischen Werke der anti-modernistischen Autoren der frühen Bosanska vila als vielmehr an die Texte russischer Revolutionäre oder anderer radikaler Kämpfer gegen den Westen. 43 Die ‚Jungen Bosnier‘ kritisierten die österreichisch-ungarische Herrschaft ebenso sehr wie die ‚Passivität‘ der meisten serbischen Händler, die sie beschuldigten, feige und opportunistisch zu sein - mit anderen Worten: es mangle ihnen an Heroismus. Die Bereitschaft der ‚Jungen Bosnier‘, sich selbst ‚für die Sache der Nation‘ zu opfern, lässt sich daher eher als ‚heroischer Okzidentalismus‘ bezeichnen. Oder, um die Haltung in den Worten von Vladimir Gaćinović, dem führenden Ideologen des ‚Jungen Bosnien‘ zu illustrieren: „entweder wir sterben im Leben oder wir leben im Tod“. 44 Derartige Ideen gewannen unter jungen Universitätsstudenten insbesondere nach einigen Attentatsversuchen an hochrangigen habsburgischen Verwaltungsbeamten in Bosnien-Herzegowina und im benachbarten Kroatien an Popularität. Überzeugt, dass die heiligen Ziele, für die sie kämpften, alle Mittel rechtfertigen, bewunderten sie Bogdan Žerajić für sein 1910 versuchtes (und gescheitertes) Attentat auf den bosnischen Statthalter General Marijan Varešanin sowie Luka Jukić für seinen 1912 unternommenen Versuch, den Gouverneur ( ban ) von Kroatien, Slavko Cuvaj, zu ermorden. Angespornt durch diese und andere Attentatsversuche (in Italien, 42 Ibid., p. 61: „Prva se strana poziva na zakon, a druga na ime boga i božju pravdu.“ 43 Vgl. Buruma & Margalit 2004, insbes. pp. 49-73. 44 Zit. n. Čerović, Božidar: Bosanski omladinci i Sarajevski atentat. Sarajevo: Trgovačka štamparija 1930, p. 16: „ili u životu mreti, ili u smrti živeti“. 404 Stijn Vervaet Russland), begannen einige von ihnen ein Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, zu planen und am 28. Juni 1914 auszuführen. Vor allem Gaćinović stellte Žerajić als Helden und als Vorbild für die ‚Jungen Bosnier‘ dar. In einem Žerajić gewidmeten Text mit dem Titel „An die zukünftige Generation“ ( Onima koji dolaze ) präsentiert Gaćinović die letzten Worte Žerajićs in pathetischem Stil als dessen Testament bzw. als heiliges Testament, das er für seine revolutionären Brüder hinterlassen habe: Die Jugend jener Völker, die noch nicht aufgewacht sind, so sprach er begeistert, müssen ein großes Herz haben, […] und ihre ganze Arbeit muss zutiefst dem Leben [unserer] Rasse zugetan sein […]. Aufgerichtet durch ihre Ideen, heiter und bebend wie die erste Frühlingssonne, sollte die Jugend ihre Seele und ihr Blut den Gefallenen und Hungrigen geben. Wie Christus sollten sie ihnen mit Liebe begegnen - selbst wenn die härtesten und grimmigsten Kräfte gegen sie wüten. […] Wir, die Jüngsten, müssen anfangen, eine neue Geschichte zu schaffen. 45 Gaćinović zufolge betrachtete Žerajić „die Lage des Serbentums als große Schande. Einer gewalttätigen Kraft ausgesetzt, hatte er den Zusammenbruch der serbischen Rasse gefühlt. Er träumte von einem großen Ereignis, das unser ganzes Blut versammeln und die Grundlagen für ein neues Leben legen würde. […] Er war überzeugt, dass die Jugend zu großen Opfern bereit sein sollte.“ 46 Auch der spätere jugoslawische Diplomat und Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić, der damals Mitglied des ‚Jungen Bosnien‘ war, verhehlte seine Begeisterung für den Attentatsversuch an Slavko Cuvaj zumindest in seinem Tagebucheintrag vom 8. Juni 1912 nicht: Heute verübte Jukić einen Mordanschlag auf Cuvaj. Wie großartig ist es doch, wenn sich die geheimen Fäden der Verschwörung und Revolution zusammenziehen! Wie glücklich erahne ich die Tage der großen Arbeit! Lang mögen sie leben, die auf den Bürgersteigen sterben, im Schießpulver und ohnmächtig vor Wut, krank von der gemeinsamen Schande. Lang mögen sie leben, die im Geheimen, schweigsam in dunklen 45 Gaćinović, Vladimir: Ogledi i pisma. (H. von Todor Kruševac) Sarajevo: Svjetlost 1956, p. 66f.: „Omladina neprobuđenih naroda, govorio je oduševljeno, mora imati široko srce […]. Ceo njen rad mora biti u dubokom slaganju sa životom [naše] rase. Uzdignuti svojom idejom, vedri i treperavi kao proletnje sunce, mladi moraju davati duše i krvi izgladnelim i palim. Kao Hristos moraju imati velike ljubavi prema njima, -pa makar se na nju odgovaralo najgrubljim i najsvirepijim životnim silama. […] Mi, najmlađi, moramo početi stvarati novu istoriju.“ 46 Ibid., p. 68f.: „U stanju srpstva video [je] mnogo sramote. Osećao je da se lomi srce srpske rase, i da to propadanje biva pred brutalnom silom. Sanjao je o jednom velikom događaju koji će prikupiti svu našu krv i postaviti temelje novom životu. […] [Verovao je] da se omladina mora spremiti na velike žrtve.“ Serbischer Okzidentalismus? 405 Kammern, eine Rebellion planen und sich immer neue Listen ausdenken. Ich bin nicht einer von ihnen. Aber mögen auch sie leben. 47 Der Erfolg Serbiens in den Balkan-Kriegen ermutigte die Mitglieder des ‚Jungen Bosnien‘, ihren Kampf um die ‚Befreiung des Volkes‘ aus der Herrschaft der Habsburger weiterzuführen, wie der folgende Ausschnitt eines Briefes von Borivoje Jevtić verdeutlicht: Wir hatten den Balkan-Krieg nötig, um wieder nüchtern zu werden, um an die tatsächliche Stärke unserer Streitkräfte zu glauben. Denn es war eine Zeit gemeinsamer Erschöpfung, als sogar unser größter nationaler Optimist ohne Hoffnung in die Zukunft blickte. […] Sie schlugen uns und wir hielten uns ruhig. Für uns hatten sie die beleidigendsten und beschämendsten Worte, die ein Herr zu seinem Sklaven sagen kann. Und jene, die gekommen waren, um sich von unserem Brot zu ernähren und sich an den Früchten unserer Arbeit zu erfreuen, die wir unter Blut und Schweiß vollbrachten, sie ließen sich nicht einmal dazu herab, Mitleid mit uns zu haben oder uns anzulächeln mit dem verächtlichen Lächeln der Überlegenen. Nicht einmal ein verächtliches Lächeln schenkten sie uns! 48 Das Zitat verdeutlicht nicht nur die zentrale Rolle, die die Balkankriege bei der Herausbildung des heroischen Okzidentalismus bei den ‚Jungen Bosniern‘ spielten; aus dem Zitat spricht zudem ein tiefsitzendes Ressentiment, das Jevtić (nicht zufällig im Geist Nietzsches, dessen Schriften die Jungbosnier lasen und übersetzten) 49 als das Verhältnis von Herr und Knecht (Österreicher-Bosnier/ bosnische Serben) darstellt und damit den Gegensatz zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten dezidiert hervorhebt. In den Texten der ‚Jungen Bosnier‘ bekommt dieses auf Oppositionen beruhende Herrschaftsverhältnis eine nationale Färbung: Sie rufen die (bosnisch-)serbische Jugend zur ‚geistigen Revolution‘ gegen ein ‚antinationales Regime‘ auf, und fordern von ihr zugleich die Bereit- 47 Tagebuch, 08.06.1912, zit. n. Čerović 1930, p. 253f.: „Danas je Jukić počinio atentat na Cuvaja. Kako je lepo, da se zatežu konci dela i bune. Kako radosno slutim dane velikih dela. Neka žive oni, koji umiru po trotoarima onesvešteni od srd ž be i baruta, bolni od sramote zajedničke. Neka žive oni, koji povučeni, ćutljivi u mračnim sobama spremaju bunu i smišljaju uvek nove varke. A ja to nisam. A neka žive i oni.“ 48 Palavestra, Predrag: Književnost Mlade Bosne. Sarajevo: Svjetlost 1965. Vol. II: Hrestomatija, p. 16f.: „Potreban je bio balkanski rat da nas rastrezni, da nas uveri u stvarnu moć naše snage. Jer je bilo u nas jedno vreme kad je duhovima zavladala sveopšta klonulost, kad su naše najjače nacionalne optimiste gledale mračno u budućnost. […] Tukli su nas i mi smo ćutali. Imali su za nas najpogrdnije, najsramotnije što možereć i gospodar robovima. I oni, koji su došli da se hrane našim hlebom i uživaju plodove koje smo mi stekli krvlju svojom i znojem svojim, nisu se udostojili da se na nas sažale i osmehnu prezirnim osmehom nadmoćnoga! Ni jednim prezirnim osmehom! “ (EA 1913 unter dem Titel Ideje i dela in der Zeitschrift Srpska omladina .) 49 Palavestra 1965, vol. I, pp. 200, 202, 209, 216. 406 Stijn Vervaet schaft, für diesen nationalen Kampf Opfer zu bringen. Der nationale Heroismus des ‚Jungen Bosnien‘ impliziert demzufolge deutlich eine märtyrerhafte Grundhaltung. 5. Schlussbemerkung Die anti-westliche Rhetorik in serbisch-bosnischen Literaturzeitschriften während der österreichisch-ungarischen Zeit der Besetzung tauchte ursprünglich als konservative Reaktion gegen die Folgen der beschleunigten Urbanisierung und Industrialisierung des Landes auf. Zunächst stellte diese Rhetorik einen fruchtbaren Boden für die Stereotypisierung des (habsburgischen) Anderen dar und generierte solcherweise ein diskursives Bollwerk für den serbischen Nationalismus in Bosnien-Herzegowina. Schlussendlich - und das ist die Ironie der Geschichte - fungierte der Okzidentalismus aber als einflussreicher Gegenpol und in gewisser Weise als Spiegelbild des österreichisch-ungarischen Kolonial-Diskurses. (Aus dem Englischen von Veronika Zangl) „Das war ein Stück Orient“ 407 „Das war ein Stück Orient“ (Post-)koloniale Ambivalenzen und Fantasien in Robert Michels Die Verhüllte 1 Anna Babka (Wien) So komplex, wie die Definition und Theoretisierung des Kolonialismus selbst, ist die Frage zu beantworten, wie „das Paradigma ‚Kolonialismus‘ in Hinblick auf „Kakanien operationalisiert“ 2 werden kann. Ist es möglich, „die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie […] als ein[en] quasi-koloniale[s] Herrschaftskomplex [zu] begreifen, in dem die hegemoniale Kultur sich beständig durch Grenzziehungen zu ihrem kulturell-zivilisatorischen ‘Anderen’ legitimiert, […]“? 3 Clemens Ruthners Parcours durch Begriffsbestimmungen und Zuschreibungen entwirft mehrere Szenarien: So wird etwa - historisch-sozialwissenschaftlich - „Österreich-Ungarn als (Pseudo-)Kolonialmacht“ betrachtet, „die sich anderssprachiger Territorien imperialistisch bemächtigt hat, um sie zu beherrschen und ökonomisch auszubeuten“, oder aber spricht er von „symbolischen Formen ethnisch differenzierender Herrschaft“ in Bezug auf „kulturellen Formatierungen und Bilderwelten“, 4 womit Ähnlichkeiten zu überseeischen Ko- 1 Dieser Text ist eine stark überarbeitete Fassung von Babka, Anna: „Das war ein Stück Orient“. Raum & Geschlecht in Robert Michels Die Verhüllte . In: Müller-Funk, Wolfgang/ Bobinac, Marijan (Hg.): Gedächtnis - Identität - Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raums und ihr deutschsprachiger Kontext. Tübingen: Francke 2008, pp. 121-132. 2 Ruthner, Clemens: Habsburgs ‚Dark Continent‘. Postkoloniale Lektüren zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke 2018, p. 37. 3 Uhl, Heidemarie: Zwischen ‘Habsburgischem Mythos’ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne. In: Kakanien Revisited , http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ HUhl1.pdf (2002), p. 2, eingesehen am 04.04.2018. Vgl. dazu auch Ruthner, Clemens: ‘K.(U.)K. Postcolonial’? Für eine Lesart der österreichischen (und benachbarter) Literatur/ en. In: Kakanien revisited , http: / / www. kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ CRuthner1.pdf (2001), sowie Müller-Funk, Wolfgang/ Plener, Peter/ Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen: Francke 2002 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 1). 4 Ruthner 2018, p. 37. 408 Anna Babka lonialreichen sichtbar werden. Genau diesen kulturellen Formatierungen widmet sich die hier vorliegende Analyse eines Textes, der dieser Monarchie als ‘quasi-kolonialem Herrschaftskomplex’ entsprang, in dem das kulturell-zivilisatorisch ‘Andere’ - mit Said gesprochen, das ‘Orientalische’ - eine bedeutende Rolle spielt. Die zentrale theoretische Fragestellung ist, ob neben dem expliziten kolonialen Gehalt des Textes auch seine impliziten kolonialen oder postkolonialen Strukturen lesbar und exponierbar werden oder immer schon exponiert sind. Die Möglichkeit einer postkolonialen Lesart würde bedeuten, dass es sich um einen Text handelt, in dem vielfältige, prozesshafte Identitätskonzepte lesbar sind, binäre Oppositionsstrukturen unterlaufen werden und sich Räume der Hybridität eröffnen, wie sie u. a. mit Homi K. Bhabhas Konzept des ‘Dritten Raumes’ theoretisierbar sind. * Robert Michel (1876-1957), Autor der Novelle Die Verhüllte 5 (1907) und Soldat dieses gleichsam kolonialen Herrschaftskomplexes - eine Kombination, die ihm die Markierung ‘Soldatenschriftsteller’ eingetragen hat - zählt zu den lang fast vergessenen, jüngst mit etwas mehr Aufmerksamkeit bedachten Schriftsteller_innen des 20. Jahrhunderts. 6 Seine Themen wie auch seinen Stil fand er, so Riccardo Concetti in einer autobiografisch orientierten Deutung des Textes, „weit weg von Wien, infolge der Erlebnisse in der rückständigen österreichischen ‘Kolonie’ Bosnien-Herzegowina“ 7 . Die hier vorliegende Lektüre widmet sich Fragen (post-)kolonialer Ambivalenzen und Fantasien im Zusammenhang mit rassistischen und sexuellen Stereotypisierungen der kolonisierten Subjekte im Text sowie der Semantisierung von Räumen als ‚Orientalisierung‘. Letztere Zuschreibung erfolgt entlang Edward Saids Studie Orientalism ; deren diskursanalytischer Ansatz geht davon aus, dass die beiden geografischen und kulturellen Pole ‘Orient’ - ‘Okzident’ und das binäre Verhältnis zwischen ihnen sozial konstruiert sind (eine Ein- 5 Michel, Robert: Die Verhüllte. Novellen. Berlin: Fischer 1907, pp. 9-40.- Die hier analysierte Novelle Die Verhüllte ist Teil der Novellensamnlung gleichen Namens und wird nachfolgend mit Seitenzahl im Lauftext zitiert. 6 Vgl. Concetti, Riccardo: Robert Michel. Ein österreichischer Dichter-Offizier zwischen Halbmond und Doppeladler. Wien: Praesens 2018, sowie das Symposium Robert Michel, Offizier & Autor (1876-1957), 17.-18. November 2017, Musej Hercegovine, Mostar, Bosnien-Herzogewina, organisiert von Ibrahim Dizdar, Vahidin Preljević und Clemens Ruthner. 7 Concetti, Riccardo: Muslimische Landschaften. Hugo von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit der Prosa Robert Michels. In: Kakanien revisited , http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ RConcetti1.pdf (2002), p. 5. Concetti unternimmt eine historische Kontextualisierung sowohl des Autors als auch der Novellensammlung selbst und erarbeitet zugleich biografische Bezüge zwischen dem Autor und der literarischen Szene seiner Zeit. „Das war ein Stück Orient“ 409 sicht, die, wie es Andrea Polaschegg herausarbeitet, die Forschung seit dem Erscheinen von Orientalism prägt und die sich in „der Rede vom Orient als westlicher Erfindung und Imagination, als Fiktion oder Konstruktion durch Titel und Einleitungen der einschlägigen Studien“ 8 niederschlägt). Der Orient wurde ja, wie Said argumentiert, nicht orientalisch vorgefunden, sondern orientalisch gemacht , d. h. orientalisiert. 9 Jener Diskurs über den Orient ist nun besonders durch den Ort seiner Produktion gekennzeichnet. Dieser Ort ist in erster Linie ein Text des Westens im Westen, er ist, mit Said gesprochen, eine Idee, die eine Geschichte hat, eine Denktradition; er umschließt Vorstellungen und Bilder sowie ein Vokabular, das ihm Realität und Präsenz im und aus dem Westen hervorgehend verliehen hat. 10 Said spricht hier eine wirklichkeitserzeugende Bilder- und Gedankenwelt an sowie ein spezifisches Vokabular, aufgehoben im (literarischen) Text. Dieser kann als Ort der Herstellung sowohl des Orients als auch des Okzidents gelten. 11 Das Diktum des vom Westen im Westen gemachten Orients deutet koloniale Machtverhältnisse als einseitige und führt zu einem der wesentlichen Kritikpunkte Homi Bhabhas an Said. Bhabha geht mit Foucault davon aus, dass Macht als ‘unsichtbare’ Disziplinarmacht nicht in eine einzige Richtung wirkt. Sie geht von multiplen, miteinander verknüpften Machtzentren aus, die alle gesellschaftlichen Beziehungen - den Gesellschaftskörper und den Körper des Individuums - durchdringen, diskursiv konstituieren und zugleich kontrollieren. Nach Bhabha befinden sich „Subjekte […] durch die symbolische Dezentrierung multipler Machtrelationen, die sowohl als Stützpunkte als auch als Zielscheibe oder als Widerpart fungieren, immer in disproportionaler Nähe zu einer Position von 8 Ibid., p. 16. 9 Said, Edward W.: Orientalism. New York: Pantheon Books 1978, p. 6.- Was nicht bedeutet, dass der Orient ausschließlich eine Idee ist und dass es keinerlei Referenzpunkte zu einer ‘Realität’ des Orients geben könne. Doch, wie es Said formuliert, „the phenomenon of Orientalism as I study it here deals principally, not with a correspondence between Orientalism and Orient, but with the internal consistency of Orientalism and its ideas about the Orient (the East as career) despite or beyond any correspondence, or lack thereof, with a ‘real’ Orient.“ (ibid., p. 5) Das heißt, dass Said den Diskurs über den Orient am Konstruierten festmacht, an den Ideen über den Orient und nicht an seiner schieren Existenz. 10 Vgl. ibid., p. 5. 11 Bereits Frantz Fanon hat in seinem Buch Die Verdammten dieser Erde Europa als Produkt des modernen Kolonialismus bezeichnet (vgl. Kossek, Brigitte: Post/ koloniale Diskurse und die De/ Kolonialisierung von Identitäten. In: Zips, Werner (Hg.): Afrikanische Diaspora. Out of Africa - into new worlds. Münster: LIT 2003, pp. 91-112., hier p. 95; vgl. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1981, p. 83: „Europa ist buchstäblich das Werk der Dritten Welt.“). 410 Anna Babka Opposition und Herrschaft“ 12 . Diese dezentrierten Strukturen von Macht deuten zudem auf die „unbewusste Szenerie des latenten Orientalismus“ 13 hin. Hier spielt Bhabha auf Saids Differenzierung und zugleich Dichotomisierung in Kategorien, wie dem latenten und dem manifesten Orientalismus an und formuliert damit einen weiteren Kritikpunkt an Said. Für Said erweist sich diese Oppositionsbildung als wesentlich für sein Verständnis der kulturellen Konstruktion des Orients und dessen semantischer Sexualisierung durch Schriftsteller_innen. Unter manifestem Orientalismus versteht Said die frei abgehandelten Ausführungen über den Orient, den latenten Orientalismus hingegen korreliert er mit unbewussten Aussagen und der androzentrischen Konzeption des Orients. Der literarische Text erweist sich für Said als der Ort, an dem seine Lesart besonders deutlich wird: „This is especially evident in the writing of travellers and novelists: women are usually the creatures of a male power-fantasy“. 14 Homi Bhabhas Kritik an Saids Trennung zwischen dem von Said als manifesten Orientalismus bezeichneten „offen dargelegten Erkenntnissen und Ansichten über den Orient“ und dem latentem Orientalismus als einer „unbewußten Positivität“ liegt darin begründet, dass Said, obwohl er mit dem Begriff des latenten Orientalismus die Bedeutung des Unbewussten, der Träume und der Fantasie anerkennt, eine unzulässige Scheidelinie zieht und damit zugleich „eine Binarität in die Argumentation einführt“. 15 Neben dem Historischen lässt er der Fantasie als der Szene des Verlangens zu wenig Beachtung zukommen. Bewusstes, also der historisch und diskursiv determinierte, diachronische Aspekt, der die Form und damit den manifesten Orientalismus bezeichnet, und Unbewusstes, das den Inhalt des Orientalismus, „also das unbewußte Arsenal von Phantasie, imaginativen Schriften und essentiellen Ideen“, ausmacht, sind zwar unterscheidbar, jedoch, wie die Psychoanalyse zeigt, nicht voneinander zu trennen. 16 Der manifeste und latente Orientalismus stehen demnach in einer sich gegenseitig konstituierenden Beziehung. Saids Orientalismus ist, wie Bhahba in seiner Kritik weiter akzentuiert, zudem geprägt durch den Begriff der Intentionalität, d. h., dass dem „Subjekt der kolonialen Äußerung“ Einheitlichkeit und Einheit mit sich selbst unterstellt wird. Brigitte Kossek formuliert Bhabhas Kritik an Said folgendermaßen: Zu erforschen sind nicht einheitliche Bestrebungen der Unterwerfung von anderen Menschen […], sondern vielmehr Fantasien und die Funktionen der Ambivalenz, die 12 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Übers. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000, p. 106. 13 Ibid. 14 Said 1978, p. 207. 15 Bhabha 2000, p. 106. 16 Ibid., p. 106. „Das war ein Stück Orient“ 411 durch die im kolonialen Diskurs produzierten Stereotypen zum Ausdruck gelangen. Die Ambivalenz - das Schwanken zwischen Begehren und Verachten - erlangt im kolonialen Diskurs deshalb eine besondere Wirkung, weil dadurch Identifikationsebenen für das konstruierende (und das konstruierte) Subjekt ermöglicht werden. 17 Die Möglichkeit der Identifizierung und der Hervorbringung von Subjektivität erfolgt in einem Prozess der Ambivalenz, also in einem Verlauf, der durch Mehrdeutigkeit und Vielfältigkeit des Erkennens gekennzeichnet ist. Das Stereotyp als Fetisch spielt dabei bei Bhabha ein bedeutende Rolle: Der Fetisch - oder das Stereotyp - gewährt Zugang zu einer ‘Identität, die ebenso sehr auf Herrschaft und Lust wie auf Angst und Abwehr basiert: in seiner gleichzeitigen Anerkennung und Ableugnung der Differenz stellt er eine Form von multiplem und widersprüchlichem Glauben dar. Dieser Konflikt zwischen Lust/ Unlust, Herrschaft/ Abwehr, Wissen/ Verleugnung, Absenz/ Präsenz hat für den kolonialen Diskurs eine fundamentale Bedeutung. 18 Der Ort der Identifizierung, der Äußerungsraum des Subjekts also, ist, wie Bhabha sich auf Lacan beziehend schreibt, „ein Raum der Spaltung“, ein hybrider Raum, ein Raum, der zur Vorbedingung wird für die Artikulation kultureller Differenz. 19 Und Bhabha argumentiert: Erst wenn wir verstehen, dass sämtliche kulturelle Aussagen und Systeme in diesem widersprüchlichen und ambivalenten Äußerungsraum konstruiert werden, begreifen wir allmählich, weshalb hierarchische Ansprüche auf die inhärente Ursprünglichkeit oder ‘Reinheit' von Kulturen unhaltbar sind, und zwar schon bevor wir auf empirisch-historische Beispiele zurückgegriffen haben, die ihre Hybridität demonstrieren. 20 Sämtliche kulturellen Äußerungen und Darstellungen, sämtliche Sprechakte, die performativ an der Hervorbringung von Subjektivität beteiligt sind, finden in einem Raum statt, der selbst durch Widersprüchlichkeit und Ambivalenz gekennzeichnet ist. Dieser produktive Zwischenraum wird zudem häufig - auch in der Lesart von Karl-Heinz Magister und Ute Riese (mit Marie Louise Pratt) - als Raum gedacht, in dem die zueinander in einer machtpolitisch konträren Bewegung befindlichen kolonialen und postkolonialen Strukturen eine „con- 17 Kossek 2003, p. 105. 18 Bhabha 2000, p. 110. 19 Vgl. ibid., p. 58. 20 Ibid., p. 57. 412 Anna Babka tact zone“ 21 erzeugen, in der verschiedene Kulturbestände in Austausch treten können - dies im Hinblick auf ein „Miteinander, Ineinander und Gegeneinander unterschiedlicher Kulturen und kultureller Schichtungen“ 22 . * In Bezug auf Michels Novelle kann also gefragt werden: Wo und wie ereignen sich diese verschiedenen Prozesse der Hybridisierung im Text, wie werden Räume, Zwischenräume erzeugt? Welche Fantasien wirken im Text und wie artikuliert sich die Ambivalenz sexueller und ethnischer Differenz? Was macht die Fremdheit des Anderen aus und wie fremd ist das Eigene? Welche ambivalenten Identifikationsprozesse werden im Text für das stereotypisierende bzw. das stereotypisierte Subjekt lesbar? Dazu der Einstieg in Michels Novelle Die Verhüllte : Inhaltlich geht es im ersten Teil um die Beziehung des Ich-Erzählers, eines Soldaten in Wien, zum Franzosen Rêvignies, einem blonden Schönling und Freund des Ich-Erzählers. Die beiden jungen Männer, der eine Student, dem die Welt des Militärs nicht geläufig ist, der andere ein erfahrener Soldat, lehren einander die jeweilige Muttersprache und stellen Überlegungen über den Orient an - dies besonders motiviert durch die Präsenz der muslimischen Soldaten aus Bosnien-Herzegowina, die in Wien stationiert sind. 23 „Den jungen Rêvignies interessierten meine bosnischen Soldaten. Er sagte, dass er sie früher nie so lange und von so nahe hätte betrachten können, und er versuchte bei jedem Einzelnen Zug um Zug das Orientalische seines Ausdrucks zu erklären“ (p. 11). Das Orientalische wird vom Ich-Erzähler nicht wirklich beschrieben, die „großen roten Hände“ werden es wohl nicht sein und auch nicht die „Verlegenheit“ der Soldaten angesichts dieser unverblümten Musterung (ibid.). Aber die „großen roten Hände“ stehen im Gegensatz zur hellhäutigen Schönheit von Rêvignies, der als hegemonialer Beobachter fungiert, vorerst, wohlgemerkt. Der Dunkelhäutige, der ‘Andere’, kann hier zu Beginn zugleich als Objekt der Neugier wie auch des Verlangens oder auch der Träumereien Rêvignies gedeutet werden - wie sein Name, dieser Anklang an das französische Verb rêver , auch deutlich suggeriert. Die „staunende Neugier“ liegt, folgt man dem Ich-Erzähler, dann aber auch auf Seiten der sogenannten Orientalen, der in der Fremde stationierten bos- 21 Pratt, Marie Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London, New York: Routledge 1992, p. 4. 22 Magister, Karl-Heinz / Riese, Ute: Eine kleine Genealogie des Begriffs ‘postkolonial’. In: Drexler, Peter / Schnoor, Rainer (Hg.): Against the Grain/ Gegen den Strich gelesen. Studies in English and American Literature and Literary Theory. Festschrift für Wolfgang Wicht. Berlin: trafo 2004, pp. 261-281, hier p. 277. 23 Wenn der Ich-Erzähler von ‚seinen‘ bosnischen Soldaten spricht, hat er wohl einen höheren militärischen Rang, der jedoch nicht spezifiziert wird. Nach seiner Versetzung nach Mostar wird er als Kommandant bezeichnet. „Das war ein Stück Orient“ 413 nisch-herzegowinischen Soldaten in Anbetracht des Äußeren Rêvignies. Der Ich-Erzähler beschreibt Rêvignies Aussehen als ungewöhnlich, hatte er doch „auffallendes, sehr lichtes Blondhaar und von solchem Reichtum, dass es wie eine Perücke aussah. Auch alles Übrige im Gesicht war so licht, dass die hellen blauen Augen ganz dunkel zu sein schienen“ (p. 12). Der Ich-Erzähler erzeugt hier eine weitere Differenz, die Differenz in der Differenz, und er feminisiert Révignies über das auffallende und reiche Blondhaar. Rêvignies scheint noch lichter, heller, außergewöhnlicher im Abstand und Unterschied zu den Orientalen, aber auch zum Ich-Erzähler selbst, er erscheint so hell, dass selbst die hellen Augen dunkel wirken. Im Anschluss an diese Szene gesteht Rêvignies dem Ich-Erzähler seine Schwärmerei für den Orient. Genau dann findet ein Ereignis statt, das als Prolepse dieser Konstruktion des Orients im Text als Text verstanden werden kann, als Fantasie, in der das ‚Eigene‘, der Okzident, orientalisiert wird und somit die multiplen und dezentrierten Strukturen der Oppositionen ins Spiel kommen, die eine postkoloniale Leseweise zulassen. Eingeleitet wird dieses Ereignis dadurch, dass Rêvignies in Anbetracht der sich vor den beiden Männern ausbreitenden, überwältigenden Wiener Szenerie, die Hand des Ich-Erzählers ergreift - eine Geste, die zugleich die homoerotischen Fantasien der Erzählerfigur konnotiert: Da erfasste Rêvignies plötzlich meine Hand; und ich verstand gleich: Die Sonne zeigte eben noch die obere Hälfte, die einer kostbaren Kuppel ähnlich am Horizonte stand. Zu beiden Seiten dieser Kuppel ragten, schlanken Minaretten gleich, hohe Fabrikschlote. Diese Moschee beherrschte mit ihrer Pracht das ganze Bild. Der übrige Horizont zeichnete sich nur in undeutlichen Umrissen, die der Einbildungskraft weiten Spielraum ließen, und die Stadt selbst lag im violetten Dunst, der einem abendlichen Meer zu entsteigen schien. In der Nähe das Neugebäude mit den runden Türmen störte durchaus nicht und noch weniger störten die Soldaten im Fez. Das war ein Stück Orient. (p. 12) Diese Sequenz gerät zu einem fast plakativen postkolonialen Moment des Textes. Hier ereignet sich die Orientalisierung des Okzidentalen, der Text entwirft einen neuen Raum, in dem ein Zusammenspiel zwischen Identität und Alterität, Zentrum und Peripherie evoziert wird. Dieser neue Raum kann nun thesenhaft über den ‘dritten Raum der Äußerung’ 24 , die zentrale Denkfigur Homi Bhabhas, beschrieben werden. Nach Endre Hars entwirft dieser Bhabasche Zwischenraum die Vorstellung eines Ortes, eines Raums, der sich zwischen den Extremen, den Festgestelltheiten, zwischen den zwei Seiten einer Grenze befindet - mit der Örtlichkeit 24 Vgl. Bhabha 2000, p. 56. 414 Anna Babka eines Zwischenraums und Übergangs, dessen Erkenntnisgewinn darin besteht, dass man Unverträgliches, Verschwiegenes, Unbewußtes ansichtig wird. 25 Der beschriebene Ort befindet sich tatsächlich, wenn man so will, zwischen zwei Seiten einer Grenze. Der innere Kolonialismus ist damit angesprochen, die Grenzziehungen, Überschneidungen und Zwischenräume innerhalb einer vermeintlichen Entität, wie sie die Habsburgermonarchie darstellt. Die Fabrik wird zur Moschee; sie befindet sich nicht im umschwärmten Orient, der doch eigentlich Teil des Habsburgerreichs ist, nicht an der Peripherie, sondern mitten im Zentrum, in Wien! Vielleicht wird die Schaffung des Orts in der Phantasie der beiden Protagonisten auch erst durch die Präsenz der sogenannten orientalischen Soldaten möglich, denn noch weniger als das Neugebäude mit den runden Türmen ‚störten‘, so sagt es der Text, die Soldaten im Fez. Im Gegenteil - der Fez als orientalische Markierung wird erst im Zusammenhang mit der phantastischen Hervorbringung der Moschee erwähnt. Diese Hervorbringung, dieser phantasmatische Raum ermöglicht, wie es scheint, auch die einzige physische Geste der Zuneigung zwischen den beiden Männern, ist es doch ein Raum „in dem kulturelle [und sexuelle, A.B.] Differenzen aus der Perspektive von minoritären Gruppen artikuliert werden können“ 26 . Der Dritte Raum schafft, wie oben beschrieben, die Bedingungen dafür, dass kulturelle Symbole nie einheitlich und fixiert festgelegt sind, sondern mit neuen Bedeutungen ausgestattet, neu interpretiert, übersetzt oder verhandelt werden (können). Der Ich-Erzähler wird nach Mostar versetzt und kann nicht umhin, seinen Freund Rêvignies dorthin einzuladen, verspricht er sich doch einen „großen Genuß davon, wie diese sehr orientalische Stadt auf Rêvignies wirken würde, der für alles Orientalische zu empfänglich war“ (p. 14). Mostar war einer der am weitesten südlich gelegenen großen Außenposten des Habsburger Reiches zu dieser Zeit. Es lag damit im Grenzraum zwischen habsburgischem und osmanischem Herrschaftsgebiet und demzufolge im Spannungsfeld von mindestens zwei Hegemonieansprüchen, einem westlichen, und dem sogenannten östlichen, orientalischen, beide mit ihren kulturellen und religiösen Besonderheiten. Gerade aber diese Lokalisierung an der Grenze erzeugte ein Konglomerat von Kulturen und Religionen: Die Brücke von Mostar galt als Symbol dieser kulturellen Diversität und der Völkerverständigung, einer Verbindung zwischen Orient und Okzident, zwischen verschiedenen Ethnien, Religionen und Welt- 25 Hárs, Endre: Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Homi K. Bhabhas theoretisches Engagement. In: Kakanien revisited , http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ EHars1.pdf (2002), p. 2, eingesehen am 04.04.2018 . 26 Birk, Hanne / Neumann, Birgit: Postkoloniale Erzähltheorie. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT 2002, pp. 115-152, hier p. 127. „Das war ein Stück Orient“ 415 anschauungen, dabei nicht nur zwischen der Welt des Christentums und der islamischen Welt, sondern auch zwischen den katholischen Kroaten und orthodoxen Serben. 27 Mostar selbst möchte ich entlang einer Denkfigur Bhabhas und in Anlehnung an Heidegger als „Brücke“ lesen, „die sammelt als der überschwingende Übergang“ 28 , oder als „Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen“, als kulturelles „Treppenhaus“ 29 , als Ort, so suggeriert es der Text Michels eindringlich, in dem auch der Tür oder der Schwelle ein gewichtiges Moment, eine bedeutsame Markierung in der Hervorbringung und im gleichzeitigen Entzug des Orientalischen beikommt. Gleich auf dem ersten Weg, wenn der Ich-Erzähler und sein Gast gemeinsam durch die Stadt gehen und der Ich-Erzähler seine Freude daran hat, „wie Rêvignies alle Besonderheiten dieser merkwürdigen Stadt und ihrer Menschen sah“ (p. 14), spielt das Tor beziehungsweise die Tür eine wichtige Rolle. Was Rêvignies sieht (und der Schein wird ihn mehrfach getrogen haben), ist eine „Türkin“ 30 , die neben einem Haustor steht, darauf wartend, dass die Gasse, in der eben noch Schafe und Pferde ihr den Weg verstellt hatten, 31 wieder frei werden würde. In einem schreckhaften Moment tat sie mit beiden Armen eine rasche Bewegung gegen das scheuende Pferd, durch welche sich ihr Mantel für einige Augenblicke weit öffnete. Aber Rêvignies war die kurze Enthüllung nicht entgangen; und wäre die Türkin nicht gleich in dem Tore verschwunden, so hätte er wohl getrachtet, noch einmal unter diesen hässlichen Mantel zu sehn. Jung war sie und schön; ihre Haut war so weiß und durchsichtig, wie sie wohl nur in der Verschlossenheit des Harems gedeihen kann. Aber auch ihr Gewand war schön; das Bruststück war mit leuchtenden Seiden bestickt und von Gold durchwirkt. (p. 17) Der Körper der „Türkin“ selbst wird nur kurz sichtbar, der Mantel, das Tor zu ihrer Schönheit, öffnet sich für einen Augenblick. Die Enthüllung währt 27 Vgl. den Wikipedia-Eintrag zu Stari most (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Stari_most). 28 Bhabha 2000, p. 7. 29 Ibid., p. 5. 30 Der Begriff "Türkin" steht hier umgangssprachlich für eine örtliche bosnische Muslima, was eine weitere interessante Wendung im Hinblick auf Identitätskonstruktionen im Text darstellt. 31 Auch die herumstreunenden Tiere in der Gasse haben Teil an der Konstruktion einer Art Orientalismus/ Balkanismus. Vgl. zu dieser Allusion und deren signifikanter Ausprägung Babka, Anna: Den Balkan konstruieren. Postkolonialität lesen. Ein Versuch mit Karl Mays Kara Ben Nemsi Effendi aus In den Schluchten des Balkan. In: Schmidt, Matthias/ Finzi, Daniela/ Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Narrative im (post-)imperialen Kontext. Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Mittel- und Südosteuropa. Tübingen: Francke 2015, pp. 103-116. 416 Anna Babka nicht lange, die orientalische, die „verwahrte Frau“, wie es Rêvignies gleich anschließend ausdrückt, also der geheimnisvolle Teil des Orients, dem in dieser Beschreibung qua Körperlichkeit Merkmale zukommen, wie sie Rêvignies selbst charakterisieren, nämlich die weiße, gleichsam durchsichtige Haut, ist nicht feststellbar und verschwindet gleich wieder in dem Tor. Stereotype Merkmale der ‚Orientalin‘, wie sie oft über die Zuschreibung der dünkleren oder dunklen Hautfarbe erzeugt werden, erscheinen im Text konterkariert, um sich auf andere Weise wieder zu manifestieren. Nach diesem Ereignis etwa sprechen die beiden Freunde „nur mehr über die mohammedanischen Frauen“. Rêvignies reflektiert dabei die Art und Weise, „wie die Frau bei den Mohammedanern gehalten wird“ (p. 17). Er, der diese Art selbst immer als rückständig betrachtet habe, habe jedoch auch einsehen müssen, „dass durch eine Änderung dieser Sitte der Orient stark einbüßen müsse an Poesie“ (ibid.): Nicht weil der Mohammedaner die Frau als tiefer stehend, als eine Art Sklavin ansieht oder als nicht tüchtig genug, es mit dem Leben aufzunehmen, sperrt er sie ein, und auch nicht aus niedriger Eifersucht; sondern er verwahrt sie in seinem Harem mit der Sorgfalt und unter dem Schutze, wie man das Kostbarste seines irdischen Besitzes bewahren muß. (p. 18) Rêvignies vergleicht nun das Werden der mohammedanischen Frau mit dem Heranreifen einer Perle in einer Muschel, die dann „die eigenste und wertvollste Offenbarung des Orients sein [mag]“ (p. 18). Er kommt zu dem Schluss, dass „durch den vollständigen Besitz einer solchen Frau [einem] alle tiefsten Geheimnisse des Orients wie mit Zauberschlüsseln mit einem Mal erschlossen werden [müssten]“ (ibid.). Die Ausführungen Rêvignies erscheinen auf den ersten Blick als kolonial-hegemonial im klassischen Sinne und könnten mit Spivak als worlding beschrieben werden, also als ein Prozess, in dem der koloniale Raum erzeugt und in die Welt gesetzt wird als Text, der aus der Perspektive der Kolonialmacht geschrieben ist. 32 Worlding kann demnach als eine Art von Schrift oder auch ‘Inschrift’ des imperialen Diskurses in den kolonialen Raum betrachtet werden, hinter dem keine originären Tatbestände, authentische oder außerdiskursive Wahrheiten stehen - wie eben die ‘wahre orientalische Frau’, der ‘richtige’ Orient etc. Doch in Michels Text werden die Schlüssel nicht sperren, die Türen fallen immer wieder zu, weder der Orient noch die Frau(en) werden sich Rêvignies erschließen. Das Auslöschen und Überschreiben der Geschichte und Stimmen von kolonialisierten beziehungsweise subalternen (weib- 32 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: The Rani of Sirmur. In: Barker, Francis (Hg.): Europe and its Others. Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature. Colchester: Univ. of Essex 1985, hier p. 128. „Das war ein Stück Orient“ 417 lichen) Subjekten gelingt nicht, oder gelingt nicht zur Gänze oder wird immer wieder konterkariert durch den Entzug, der, im Sinne einer kontrapunktischen Lektüre nach Said, als widerständige Geschichte, als Gegenstimme gelesen werden kann. Said schreibt: Beginnen wir damit, das kulturelle Archiv nicht als univokes Phänomen zu lesen, sondern kontrapunktisch, mit dem Bewußtsein der Gleichzeitigkeit der metropolitanen Geschichte, die erzählt wird, und jener anderen Geschichten, gegen die (und im Vergleich mit denen) der Herrschaftsdiskurs agiert. 33 Kurz nach der Szene also, die den Besitz der Frau mit Zauberschlüsseln in Zusammenhang bringt, die den Orient buchstäblich entschlüsseln könnten, bricht die Erzählung gleichsam entzwei. Die beiden Männer trennen sich, weil der Ich-Erzähler den Wachdienst antreten muss, während der andere, Rêvignies, auf Entdeckungsreise geht. Während dieses Wachdienstes denkt der Ich-Erzähler viel an Rêvignies und erwägt, „welch tiefen Zauber Mostar in dieser märchenhaften Beleuchtung auf Rêvignies ausüben müsse“ (p. 19). Die Beschreibung dessen, was dieser in demselben Moment erfährt und sieht, ähnelt sehr der Szene in Wien, in der die Fabrik zur Moschee wird: „Es war wie ein Stück Märchenland, jenseits dessen Horizonten vorläufig nur bläulicher Dunst ist, bis die satte Phantasie sich von hier abwendet und dort ein neues Land schafft“ (ibid). Auch die Szene in Wien war phantasmatisch und semantisch ähnlich angelegt: „Die Sonne zeigt eben noch die obere Hälfte, die einer kostbaren Kuppel ähnlich am Horizonte stand […] die Stadt selbst lag im violetten Dunst, der einem abendländischen Meer zu entsteigen schien. Das war ein Stück Orient“ (p. 12). Hier treten die Räume in wechselseitigen Bezug. Die Grenzen von Orient und Okzident erscheinen permeabel. Durch die Beschreibung wird eine Art Übergang geschaffen, der die räumlichen und kulturellen Festgestelltheiten vorübergehend verwischt, „die mondbeglänzten Minarette“ in Mostar, die aus dem Dunkel, aus der dunklen Hälfte der Talsohle ragen, stehen in engem Bezug zu den Fabrikschloten in Wien, die, „schlanken Minaretten gleich“ unter der „kostbaren Kuppel“, der oberen Hälfte der Sonne, zu sehen sind. Die Landschaftsbeschreibung schließt mit der bereits erwähnten Brücke von Mostar: „Und dort, wo die Rodobolje mit zierlichen Wasserfällen einmündet, lag über den Abgründen der Narenta die alte kunstvolle Brücke wie ein versteinerter Halbmond.“ (p. 20) Auch der Ich-Erzähler versteinert förmlich, als er von der Wache zurückkommt und ihm ein Brief übergeben wird. Rêvignies schreibt ihm, dass er eine 33 Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt/ M.: Fischer 1994, p. 92. 418 Anna Babka „Türkin“ entführt habe, dass schreckliche Dinge passiert seien und er abreisen habe müssen, sich jedoch bald wieder melden würde, um die Verwirrungen aufzuklären. Der Ich-Erzähler erhält über einen längeren Zeitraum hinweg jedoch keinen weiteren Brief von Rêvignies und beginnt sich die Geschichte, die ihm durch Rêvignies vorenthalten wurde, selbst zusammenzureimen, sie gänzlich und bis in die kleinsten Einzelheiten zu erfinden. Die erzählte Figur, Rêvignies, wird durchgängig im semantischen Feld der (Tür-)Schwelle lokalisiert und verbleibt damit in einer Schwellensituation, einem Schwellenraum. Der Orient, das Orientalische ist immer schon dabei, sich zu ver- und enthüllen, sich zu offenbaren und gleichzeitig zu entziehen: Weiterhin fand Rêvignies einen jungen Menschen, der vor einer Haustür stand und sich gegen die schmalgeöffnete Türspalte presste. Rêvignies schlich langsam näher, um besser sehen zu können. Er kam gerade nahe genug, dass er beobachten konnte, wie eine Hand in der Türspalte zurückgezogen wurde, während sich die Tür vollkommen schloß. Erst glaubte er, dass seine Nähe bemerkt worden sei; aber der junge Bursch drehte sich gar nicht um, sondern sprach mit flüsternden Worten, aus denen es wie Flehen und Beschwören klang, gegen die verschlossene Tür. […] Endlich tat sich die Tür wieder ein wenig auf und das Mädchen streckte einen Finger hervor, den der junge Türke inbrünstig zwischen die Hände nahm, und nach einigem Flehen bekam er die ganze Hand. (p. 27) Was hier ‘gegeben’ wird, d. h. was der junge Mann bekommt, ist dürftig und volatil. Rêvignies beobachtet bei dieser Szene, was er selbst begehrt und was ihm auch selbst bereits widerfahren ist. Beide, er selbst und der junge Orientale, bleiben ausgeschlossen, beide Männer stehen vor der Tür, das Geheimnis des Orients ist weiblich und hält sich im Verborgenen. Später, auf der Suche nach einem Arzt, tritt Rêvignies in ein Haus ein, öffnet eine Türe und erblickt, auf einem Teppich sitzend, drei Frauen, „liegend und hockend, die ihr Gesicht gleich in den Händen verbargen“ (p. 35). Seinen Rückzug begleiten die Männer des Hauses mit vielen Flüchen, das Tor wird hinter ihm zugestoßen (p. 36). Türen öffnen und schließen sich, die Vertreibung und der Ausschluss zeigen sich als konstitutiv für die Geschichte, das ‘Weibliche’, das von Rêvignies als Schlüssel zum Orient bezeichnet wird, gerät zum Schwellenraum beziehungsweise zum Wechselspiel zwischen Verhüllung und Enthüllung, auch in Bezug auf die Eindeutigkeit des Geschlechts. Selbst dieses erschließt sich Rêvignies nicht immer, sieht er doch „einige Schritte vor sich eine dunkle Gestalt über die Gasse huschen. Es war so finster in der Gasse, dass er nicht zu unterscheiden vermochte, ob es ein Mann oder eine Frau sei.“ (p. 30) In seinem Verlangen nach Erleben (ibid.) erkennt er im Schein einer Laterne eine Gestalt, von der er glaubt, dass sie eine „Türkin“ sei. Beim Näherhinsehen glaubt er zu erkennen, „dass sie den „Das war ein Stück Orient“ 419 Schlitz des Mantels ein wenig öffne“ (p. 31). Er versucht, sein Verlangen zu bekämpfen, doch [a]ls sich aber der lange Mantel noch weiter geöffnet hatte, ließ der Widerstand […] gleich nach und mit einem Sprunge war er dicht an ihr. Ohne an die Gefahr zu denken, der er sich wohl durch eine solche Handlung aussetzte, riß er den Mantel auseinander und presste sie an sich. (p. 32) Rêvignies nimmt sich, was er begehrt. Obwohl er kurz zuvor Erleichterung darüber verspürt hatte, endlich aus „einem Märchenland in die Wirklichkeit zurück[zu]kehren“ (p. 30), überwältigt ihn der Anblick der „Türkin“ dann doch, zieht ihn das vermeintlich Orientalische wieder in den Bann. Doch der Zwang verschafft ihm keinen Sieg, der Orient ist schwer zu fassen, Rêvignies verheddert sich im Feld der binär aufgespannten Oppositionen, weder das orientalische Märchenland noch die ‘Wirklichkeit’, gleichgesetzt mit der Straße, in der wieder „europäisch gekleidete Menschen“ zu sehen waren, vermag er zu ergründen, die Orientalin selbst entwischt ihm wieder: „Obwohl sie sich erst willig zeigte, wehrte sie ihn gleich darauf wieder ab. Und plötzlich hatte sie sich geschickt entwunden und lief gegen die Hauptstraße.“ (p. 32) Nur mit einem gewaltsamen Akt verschafft er sich ihre Nähe. Er drängt sie in eine Kutsche, küsst sie immer wieder und nimmt ihr damit fast den Atem, doch gibt ihm, wie der Text sagt, ihr helles Lachen die Zuversicht, „dass er gesiegt hatte und dass sie nun sein war“ (ibid.). Doch eigentlich versteht er nicht, was sie spricht, nimmt sich auch selbst nicht die Mühe, sich verständlich zu machen. Was er von sich gibt, sind Huldigungen, die auch sie nicht versteht. Im Lager angekommen, trägt er sie in sein Zimmer: „Hier nahm er ihr den Mantel ab und konnte sie eigentlich erst jetzt ordentlich sehen.“ (p. 33) Erst in seinem eigenen Bezugsrahmen, im Lager des Freundes, der ihm dort ein Zimmer beschafft hatte, verliert sie das Schemenhafte. Rêvignies nimmt sich erstmals Zeit, während er bis dahin hektisch bemüht war, die Entführte unter Kontrolle zu bringen. Zugleich ist er voll von Angst, sie könne wieder fliehen. Um dies zu verhindern, versucht er sie gleichsam durch Küsse zu ‘betäuben’. Er zieht sie aus, hebt sie aufs Bett und schreckt aus den Liebkosungen empor in dem Moment, als er bemerkt, „dass ihre Lippen seinen Küssen nicht mehr antworteten und dass nach einer krampfhaften Umschlingung ihr ganzer Körper in starrer Unbeweglichkeit blieb“ (p. 34). Sie entzieht sich ihm, indem sie unbeweglich, starr wird, sich gleichsam, ungeachtet ihrer Nacktheit, wieder verhüllt - „und nun lag ihr Körper wie entseelt da und ihn dünkte, als hätte sein Verlangen ihr die Seele, die er in ihr gesucht hatte, geraubt. (p. 34) Rêvignies, der ‘zivilisierte’ Europäer, hat die orientalische Seele gesucht. Seine sexuellen Fantasien entzünden sich am ‘Anderen’, an der ‘Anderen’, der orientalischen oder besser der 420 Anna Babka orientalisierten bosnischen Frau, die, wie der Text dann ironischer Weise endet, gar keine Mohammedanerin war. Die vermeintlich Anderen werden zu seiner Projektionsfläche, werden „zum Träger [von] Gedanken und Wünsche[n]“ 34 , werden allererst als das Andere erzeugt. Die rassistische Stereotypisierung beruht ganz grundsätzlich, so Brigitte Kossek mit Frantz Fanon und Homi Bhabha, auf der Verleugnung und Verschiebung von (verbotenen, verachteten) sexuellen Fantasien auf den ‘Anderen’. […] Der/ die ‘Andere’ ist nicht bloß als Kehrseite des Selbst aufzufassen, sondern als ein abgespaltener Teil eines gespaltenen Subjekts, das eigenes Begehren und Verachtung verleugnet, in den Anderen verschiebt und an diesem beherrscht. 35 Die rassistische Stereotypisierung, die sowohl auf Ähnlichkeiten, als auch auf Differenzen beruht, bezieht weitere subjektkonstitutive Faktoren, wie Sexualität, Gender etc. mit ein. Das so konstruierte Subjekt wird zum ambivalenten und widersprüchlichen Objekt, das von den Konstruierenden zugleich begehrt wie auch verachtet wird. „Zur bloßen Projektionsfläche gemacht, wird das andere Subjekt in seiner Eigenständigkeit ausradiert und gezwungen, Begehren und Ängste des Konstrukteurs oder der Konstrukteurin zu spiegeln - ein doppeltes Negativ des ‘Originals’ zu sein.“ 36 Was bedeutet das, was heißt das für unseren Text? Die Projektionsfläche, die gemachte ‘Türkin’, die eigentlich keine ist, spiegelt den machtvollen Blick von Rêvignies, spiegelt seine Ängste, sein Verlangen und seinen Misserfolg. Die als orientalisch Konstruierte interveniert mit ihrem Blick und ihrem Verhalten in Identitätsbildungsprozesse seitens des Konstruierenden, seitens Rêvignies. Seine originäre Identität, seine Okzidentalität werden jedoch durch die Spiegelung der Differenz, die nur annähernd absolut ist, aber nicht ganz absolut ist, angegriffen. Die Frau spiegelt damit Reviginies’ verzerrtes Image und stellt seine Überlegenheit und seine Macht in Frage. Bhabha: „[I]n der Identifikation der imaginären Beziehung gibt es immer auch den entfremdeten Anderen (oder Spiegel), der unvermeidlich sein Bild auf das Subjekt zurückwirft.“ Es kommt zu einer „bedrohliche[n] Umkehrung ( return ) des Blicks“ 37 . Rêvignies zieht die Konsequenzen aus dieser Bedrohung und reist überstürzt ab. Die koloniale Macht wird also auf der Ebene der Repräsentation im Text nicht nur hergestellt, sondern auch unterbrochen und unterlaufen. Das Subjekt der kolonialen Äußerung, dessen Position im Text sowohl vom Ich-Erzähler als auch von Rêvignies eingenommen wird, ist nicht als einheitlich erfahrbar. Es 34 Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1985, p. 120. 35 Kossek 2003, p. 107. 36 Ibid. 37 Bhabha 2000, p. 120. „Das war ein Stück Orient“ 421 ist selbst gespalten und entfremdet. Das vom Erzähler aufgeschriebene Erlebte gerät gleichsam zu einer Szenerie der Fantasie und des Verlangens. Das Erlebte erscheint - Traumsequenzen gleich - in einer sich gegenseitig konstituierenden Beziehung an der Schnittstelle zwischen latentem und manifestem Orientalismus angesiedelt und zwischen Begehren und Verachten oszillierend. Die vermeintlich kolonisierte Orientalin, die im Text an der Schnittstelle von sexueller und ethnischer Differenz inszeniert und aufgeführt wird, also im Sinne des Orientalismus nach Said im Text gemacht wird, spiegelt das Andere im Eigenen und vice versa. Sie führt so die Reziprozität und gegenseitige Durchdringung dieser Kategorien vor Augen, gleich wie die multiplen und ambivalenten Beziehungen und Richtungen von Macht. ‘Das Stück Orient’ befindet sich immer schon zwischen zwei Seiten einer Grenze, ver- und enthüllt, als Schwellenraum denkbar. Robert Michel, oder: 423 Robert Michel, oder: Wie die literarische Entdeckung Bosniens-Herzegowinas weder zu Ruhm noch zu politischer Hellsicht führen kann Riccardo Concetti (Perugia) I. K. u. k. „künstlerische Kolonialpolitik“ Am 11. August 1918 würdigte das Neue Wiener Journal Robert Michel (1876- 1957) - den aus Böhmen stammenden k. u. k. „Dichter-Offizier“ 1 - mit einem ihm gewidmeten Porträt: 2 Nie zuvor war ihm das Glück beschert worden, dermaßen die Aufmerksamkeit der Wiener Presse auf sich zu ziehen, obwohl er seit der Jahrhundertwende literarisch tätig war und sich in Fachkreisen einigermaßen einen Namen gemacht hatte. Der Anlass, der ihn aus den kleineren Zirkeln der Literaturfreunde plötzlich an die Öffentlichkeit brachte, war seine Ernennung - neben Hermann Bahr - zum Vertreter des Hoftheater-Generalintendanten Leopold von Andrian. 3 Dass diese prominente Anstellung von besonders kurzer Dauer war, versteht sich von selbst, wenn man die Situation bedenkt, d. h. den unmittelbar bevorstehenden Novemberumsturz. Auch war diese Karrierephase von sonst keiner großen Bedeutung; sie ist hier nur im Zusammenhang mit diesem Zeitungsartikel erwähnt, dem ein besonders bezeichnender Passus entnommen wird: [Robert Michel] war viele Jahre in Bosnien und aus dem karstig-steinigen Erdreich ist für Michel ein reiches, unendlich dankbares künstlerisches Schaffen erblüht. Die karge Landschaft wurde für ihn zu einem fruchtreichen Ackerboden dichterischer 1 Zu diesem Begriff vgl. Danzer, Carl M.: Ein neuer Dichter-Offizier. Die Verhüllte. Novellen von Robert Michel. […]. In: Danzer’s Armee-Zeitung , 20. 06. 1907, p. 10; Zoff, Otto: Drei Dichter in Kaisers Rock. In: Der Merker 2 (1910/ 11), p. 418. 2 Dietrichstein, Egon: Robert Michel. Ein Porträt. In: Neues Wiener Journal , 11. 08. 1918, p. 6. 3 Vgl. Concetti, Riccardo: Robert Michel. Ein österreichischer Dichter-Offizier zwischen Halbmond und Doppeladler. Wien: Praesens 2018, p. 96f. 424 Riccardo Concetti Aussaat. Man kann wohl sagen, daß er dieses Land eigentlich entdeckte und durch seine Schilderungen mit Romantik füllte. 4 Dieser knappen Beschreibung kommt eine doppelte Bedeutung zu: Zum Einen wird hier Michel zum wegweisenden Schriftsteller gekürt, der quasi als Erster das Sujet Bosnien-Herzegowina zum Thema der modernen deutschsprachigen Literatur tauglich gemacht habe: 5 Diesem Aspekt wird der erste Teil dieses Beitrages gewidmet sein, wobei die psychologischen, kulturellen und medialen Koordinaten Erwähnung finden, an denen sich Michel bei seinen persönlichen Bosnien-Erlebnissen orientiert hat. Zum Anderen verweist die Boden-Metaphorik, die in der zitierten Passage heraufbeschworen wird, auf jene literaturgeschichtliche Rezeptionsschablone, die letztendlich Michel ermöglichte, seine zuerst durchaus k. u. k.-treue Poetik im Laufe der 1930-er und 40-er Jahre völkisch-nationalistisch zu übertünchen, wobei sich Michel geschickt zuerst der austrofaschistischen Österreich-Ideologie, dann dem nationalsozialistischen Expansionismus anzupassen wusste. Nach dem Sommer 1918 ist es nämlich um den Bekanntheitsgrad Michels womöglich noch schlechter bestellt: Sein Name ist nur mehr wenigen Spezialisten ein Begriff und dieser Autor nimmt unverrückbar seinen wenig ruhmreichen Platz unter den „Verschollenen“ 6 der österreichischen Literatur ein. Es schadet also nicht, einige biografische Eckdaten zu fixieren: 7 Michel wurde 1876 in Chabeřice im Mittelböhmen geboren. Er entstammte einer Familie, die väterlicherseits deutsch, mütterlicherseits tschechisch war, besuchte die Prager Kadettenschule, diente von 1896 bis 1918 in der k. u. k. Armee und lebte nach dem Umsturz der Donaumonarchie als freier Schriftsteller in Wien, wo er 1957 starb. Die Karriere Michels nahm unter den besten Voraussetzungen ihren Anfang. 4 Ibid. 5 Dieser Originalitätsanspruch ist nicht ganz begründet. Zumindest sind zwei Autorinnen zu nennen, die sich vor ihm ebenfalls südslawischen bzw. bosnischen Stoffen gewidmet hatten: Mara (Marie) Čop-Marlet und Milena (Preindlsberger-)Mrazović. Vgl. Matl, Josef: Südslawische Studien. München: Oldenbourg 1965, p. 394f., und Frindt, Andrea: Übernationale Haltung und Vermittlung slawischer Landschaft und Kultur im Werk Robert Michels (1876-1957). Berlin: Magisterarbeit [unpubl.] 1996, p. 39; Stančić, Mirjana: Verschüttete Literatur: Die deutschsprachige Dichtung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien von 1800 bis 1945. Wien: Böhlau 2013, pp. 121-133. 6 Vgl. Hahnl, Hans Heinz: Hofräte, Revoluzzer, Hungerleider. Vierzig verschollene österreichische Literaten. Wien: Atelier 1990, pp. 152-157. 7 Werk- und Lebenschroniken existieren bereits, vgl. Delle Cave, Ferruccio: Robert Michel. Eine monografische Studie. Innsbruck: Phil. Diss. 1978, pp. 142-176; Džambo, Jozo: Ein Dichter in des Kaisers Rock. Robert Michel (1876-1957). München: Adalbert Stifter Verein 1993; Concetti, Riccardo: Einleitung. In: Hofmannsthal, Hugo v./ Michel, Robert: Briefe. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 13 (2005), pp. 11-167, hier pp. 11-29. Robert Michel 425 Im Alter von noch nicht ganz 20 Jahren lernte er in der Habsburger Hauptstadt den bereits erwähnten Leopold von Andrian kennen, dessen impressionistische Novelle Der Garten der Erkenntnis (1895) zu den repräsentativsten Werken der Wiener Moderne zählt. Durch ihn kam Michel mit den profiliertesten Vertretern der neuen Literatur in Verbindung, allen voran mit Hugo von Hofmannsthal, der ihn in das Berliner Verlagshaus S. Fischer einführte, aber auch mit Hermann Bahr, Arthur Schnitzler und Felix Salten. Diese Begegnungen wirkten auf den jungen Michel höchst stimulierend und regten ihn zum Schreiben an. Seine allererste Kurzgeschichte, Osmanbegović, erschien 1898 in Bahrs Zeitschrift Die Zeit : Wie schon der Titel andeutet, spiegelt sie die Erfahrungen des Autors als Leutnant eines bosnisch-herzegowinischen Infanterieregiments wider und bringt seine ganze Faszination für die ihm fremde Kultur der Balkan-Muslime zum Ausdruck. 8 Als Michel im gleichen Jahr nach Mostar versetzt wurde, wo er zuerst bis 1901 blieb, ließ er sich erst recht auf eine Welt ein, die ihm wie ein „Bilderbuch von Tausendundeiner Nacht“ 9 erschien. Michels Arbeiten tragen das Zeichen dieser für ihn schicksalhaften Begegnung, die jedoch in einem machtpolitischen Rahmen stattfand, der ihn nicht zum neutralen Betrachter reifen ließ, sondern seiner Produktion eine grundlegende Ambivalenz verlieh. Einerseits sind seine Texte durch den geschichtlichen Erzählrahmen der Okkupation (1878) bzw. Annexion (1908) Bosnien-Herzegowinas gekennzeichnet, ohne sie aber jemals in Frage zu stellen oder politische Streitfragen auch nur ansatzweise anzudeuten. Als k. u. k. Offizier war seine Haltung gegenüber der Staatsobrigkeit dezidiert affirmativ. Kennzeichnende Beispiele sind in den überlieferten Amtsschriften zu finden, in denen Michel - um sich von seiner besten Seite zu zeigen - seine schriftstellerische Nebentätigkeit quasi als patriotischen Beitrag beschreibt und beteuert, durch sein Werk „künstlerische Kolonial politik“ betreiben zu wollen - ja, er versteigt sich bis dahin, sich als Akteur einer „geistigen Eroberung der jüngsten Länder [seiner] Majestät“ zu sehen. 10 Andererseits schrieb er in der Zeit von 1898 bis 1905 Novellen, deren Protagonist meist ein junger, psychologisch noch unreifer Offizier ist, der nach Bosnien-Herzegowina abkommandiert wird und an den dortigen für ihn befremdenden Lebensbedingungen erkrankt. Im Spiegel der 8 Vgl. Concetti, Riccardo: Der gerettete Orient. Zu Robert Michels Novellensammlung ‘Die Verhüllte’. In: Müller-Funk, Wolfgang/ Birgit Wagner (Hg.): Eigene und andere Fremde. „Postkoloniale“ Konflikte im europäischen Kontext. Wien: Turia+Kant 2005, pp. 195-206. 9 Michel, Robert: Geleitwort zu einem neuen Buch [08. 03. 1948], S. 3 [unveröffentl.]. In: Österreichisches Literaturarchiv (im Folgenden: ÖLA), Konvolut 125/ W407 Lit. 10 Michel, Robert: Bittschrift an den Kaiser vom 02. 06. 1903. In: Concetti 2018, p. 43f. Es handelt sich dabei um den Antrag auf Bewilligung zur Heirat, den Offiziere von der militärischen Behörde einzuholen verpflichtet waren. 426 Riccardo Concetti fortschrittlichsten Tendenzen der zeitgenössischen österreichischen Literatur behandelt Michel das Thema der Anwesenheit im fremden Land als psychische Grenzerfahrung (im doppelten Sinne des Wortes), bei der die oft nur phantasierte Begegnung mit dem Fremden bedrohliche Prozesse des Ich-Verfalls oder sexuelle Verwirrungen auslöst. Diese Erzählungen wurden 1907 unter dem Titel Die Verhüllte bei S. Fischer in Berlin als Buch veröffentlicht. In ihnen zeigen sich die Aporien des Fremdlands als Konstrukt, das sich der Vorstellungskraft des schreibenden Kolonisators umso mehr entzieht, je heftiger es begehrt wird, wobei es die tiefenpsychologischen Triebe an die Oberfläche auftauchen lässt. 11 Dagegen ist die Produktion der folgenden Jahre durch den Versuch charakterisiert, den Blick von den verhängnisvollen Wechselwirkungen zwischen dem Orient und dem modernen „unrettbaren Ich“ 12 abzuwenden, um eine konventionellere, nüchternere und sachlich wirkende Kenntnis Bosnien-Herzegowinas zu vermitteln. In diesem Bemühen fand der Autor, der inzwischen nach Österreich zurücktransferiert worden war und nun in Innsbruck und dann in Wien diente, wirksame Unterstützung in der Ethnografie und in deren Studien über die bosnische Volksdichtung. Bei der neuen Poetik, an der Michel arbeitet, kommt dem visuellen Moment größere Bedeutung zu: An die Stelle der stets frustrierten persönlichen Kontaktaufnahme mit dem fremden Menschen tritt nunmehr das Bild, das für eine richtige (und schmerzfreie) Wahrnehmung jener Essenz des Landes sorgt. In einer Welt, die zusehends von den neuen Technologien der visuellen Reproduzierbarkeit (Fotografie und später Film) bestimmt wird, sucht das moderne Subjekt einen neuen Zufluchtsort in der Phänomenologie der Bilder. Denn gerade jene von modernen Abstraktionstechniken erzeugten visuellen Produkte täuschen eine Objektivität vor, die - anders als die moderne Literatur oder die Philosophie - ein einheitliches, unmittelbares Verständnis der Wirklichkeit verspricht. Aber wohlgemerkt: Michels neue Poetik der Bilder, obwohl sie eine radikale Kehrt- und Abwendung von der „Nervenkunst“ 13 der früheren Werke darstellt, ist nicht als Rückzugsmaßnahme zu deuten; sie muss vielmehr als Reaktion auf neue mediale und kulturelle Bedingungen gelesen werden. Dieser neuen Einstellung entstammen nämlich zwei Bücher, Mostar aus dem Jahr 1909 und das spätere Fahrten in den Reichslanden (1912), die geo-eth- 11 Für eine ausführliche Lektüre dieser Texte, in denen Michel übrigens viele Topoi der exotischen Konsumliteratur seiner Zeit kritisch verwertet, vgl. Concetti 2005.- Siehe auch den vorangegangenen Beitrag von Anna Babka im vorl. Sammelband. 12 Vgl. Mach, Ernst: Antimetaphysische Vorbemerkungen. In: Wunberg, Gotthart (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart: Reclam 1981, pp. 137-145, hier p. 142. 13 Vgl. Worbs, Michael: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt/ M.: Europ. Verl.-Anst. 1983. Robert Michel 427 nografische Beschreibungen und Reiseberichte enthalten, die sich durch die Besonderheit auszeichnen, dass sie neben dem Text auch Fotografien (im ersten Buch) oder Lithografien enthalten. 14 Die Abbildungen in Mostar zeigen beispielsweise bukolische Landschaften, Szenen aus dem Alltagsleben oder auch berühmte Kunstdenkmäler, die eine Ursprünglichkeit vortäuschen, die in Wirklichkeit das Ergebnis einer fotografischen Inszenierung ist. Sie dienen dazu, den ethnobzw. geografischen oder kulturgeschichtlichen Befund in einprägsame Ikonen zu verwandeln, die ein Bosnien-Herzegowina medial produzieren, das seine (vermeintliche) Eigenart umso effektvoller zur Schau stellen kann, je enger diese mit dem Korrelat der Fremdartigkeit verbunden wird. Mit seinem preisgekrönten 15 Roman Die Häuser an der Džamija von 1915 setzt Michel seiner durch und durch konstruierten Vision Bosnien-Herzegowinas das vielleicht beeindruckendste und künstlerisch gelungenste Denkmal. In diesem Buch schlägt er dezidiert den Weg der Mythologisierung ein, den die verträumte Atmosphäre der Lithografien Max Bucherers aus Fahrten in den Reichslanden bereits vorweggenommen hatte. Besonders beeindruckt, dass der Text inhaltlich aus der Zusammenstellung und erzählerischen Kontextualisierung all jener Informationen über Folklore, Bräuche und Sitten der bosnisch-herzegowinischen Muslime besteht, die Michel seinen gelehrten Quellen entnahm. Darunter sind zu erwähnen: Anton Hangis’ Studien 16 und die Wissenschaftlichen Mitteilungen aus Bosnien und der Herzegowina , das Organ des Sarajevoer Landesmuseums. Von großer Bedeutung ist ferner Kosta Hörmanns Volksliedsammlung, 17 der Michel wesentliche Anregungen für den Hergang und die Charakteristik der Hauptfigur entnimmt. Diese Texte stellen aus philologischer Sicht natürlich sehr wichtige Quellen dar, ihre zentrale Bedeutung ist hiermit jedoch nicht ausgeschöpft. Denn sie signalisieren darüber hinaus, dass Michels Produktion „orientalistisch“ nicht nur der Thematik oder der Atmosphäre wegen ist, son- 14 Michel, Robert: Mostar. Mit fotografischen Aufnahmen von Wilhelm Wiener. Prag: C. Bellmann 1909; Ders.: Fahrten in den Reichslanden. Bilder und Skizzen aus Bosnien und der Hercegovina. Mit 25 Zeichnungen von Max Bucherer. Wien, Leipzig: Deutsch-Österreichischer Verl. 1912.- Vgl. dazu: Concetti, Riccardo: Halbmond über der Narenta im medialen Wandel. Robert Michels Produktion zwischen Roman und Film. In: Ruthner, Clemens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878-1918. New York et al.: P. Lang 2015, pp. 263-282. 15 Im Juni 1915 erhielt Michel den mit 1.000 Mark dotierten Kleist-Preis. 16 Hangi, Anton: Die Moslim’s in Bosnien-Hercegovina. Ihre Lebensweise, Sitten und Gebräuche. Sarajevo: Kajon 1907. 17 Hörmann, Kosta (Hg.): Narodne pjesne Muhamedovaca u Bosni i Hercegovini. 2 Bde. Sarajevo: Zemaljska štamparija 1888/ 89. 428 Riccardo Concetti dern gerade in dem von Edward W. Said 18 ersonnenen spezifischen Sinn: weil sie direktes und indirektes Produkt jener politischen und kulturellen Institutionen des modernen Staates sind, dem Bosnien-Herzegowina zwangsweise (aber nicht nur zu seinem Nachteil) einverleibt wurde. Noch ein weiterer Aspekt soll herausgestellt werden: Als Monumente der Folklore und des Lokalkolorits kommt allen Werken Michels aus dieser Zeit die Funktion eines virtuellen Museums zu. Dies zeigt sich auch am Beispiel der Spielfilme, Die Wila der Narenta und Der Schatzgräber von Blagaj , die Michel im Auftrag des Armeeoberkommandos noch im Juni 1918 in der Herzegowina drehte. 19 Sie kombinieren Folkloristisches mit Erzählerischem und gleichen dem Genre des documentaire romancé , das Georges Méliès mit seinen auf Tahiti und Neuseeland gedrehten Streifen eingeführt hatte. 20 Mit seinem Musealisierungs- (und mitunter auch Verkitschungs-)programm behauptete Michel, jenem Verfall der alten Bräuche entgegenzuwirken, dem der Einbruch der Modernität Vorschub geleistet hatte. Bereits 1909 hatte Michel in seinem Mostar -Buch die modernen Bauten (das Bahngebäude, die Magazine, Kasernen, Schulen, das Hotel Narenta usw.), die zur Zeit der Okkupation errichtet worden waren, wegen der roten Ziegeldächer als „völlig stillos, so ganz europäisch“ 21 kritisiert, weil sie wie ein Dorn im Auge zu den traditionellen grauen Steindächern der übrigen Häuser, Moscheen und Friedhöfe kontrastierten. In der Nachkriegszeit mehrten sich seine Sorgen um den Erhalt der traditionellen Sitten, und er schrieb: Ähnlich zerstörend wirkt sich die Wirtschaftsnot, oder besser gesagt die Härte und Nüchternheit der Nachkriegszeit, auch auf anderen Gebieten aus. Man könnte ein Buch ausfüllen mit Beispielen von diesem langsamen Abbröckeln, das sich aus dem ständigen Kampf des Alten mit dem Neuen ergibt, der ja hier noch dazu ein Kampf des Orients mit dem Okzident ist. 22 18 Said, Edward W.: Orientalismus. Übers. von Hans Günter Holl. Frankfurt/ M.: Fischer 2009. 19 Vgl. Concetti, Riccardo: Von Feen und Schatzgräbern. Über die Filmversuche Robert Michels. In: Stifter - Jahrbuch 22 (2008), pp. 153-172; kroatische Übersetzung in: Hrvatski Filmski Ljetopis 52 (2007), pp. 55-64. 20 Vgl. de Brigard, Emilie: The History of Ethnografic Film. In: Hockings, Paul (Hrsg.): Principles of Visual Anthropology. Berlin, New York: Mouton de Gruyter 3 2003, pp. 13-43, hier p. 18f. 21 Michel 1909, p. 7.- Wohl handelt sich bei dieser Kritik um Gemeinplätze, die auch bei anderen Autoren, die sich mit Bosnien-Herzegowina befasst haben, aufzufinden sind, vgl. Džambo, Joso: Bosna i Hercegovina u njemačkim tekstovima. Imagološka skica. In: Forum Bosnae 18 (2002), pp. 149-198. 22 Michel, Robert: Die bosnische Königsstadt. In: Neue Freie Presse , 03. 08. 1934, p. 1. Robert Michel 429 Literatur, Fotografie und Film hatten mithin die Aufgabe, pittoreske Bilder zu erzeugen, die, an ein Publikum von großstädtischen Touristen gerichtet, einerseits deren Reiselust in das Randgebiet Bosnien hervorrufen sollten. 23 Andererseits, so Michels Hoffnung, hätten sie für die Bosnier/ innen als Zeitzeugen dienen sollen, die ihr Bewusstsein (sprich: eine Politik) für die Erhaltung des kulturellen Erbes entgegen des notgedrungen Modernisierungsdrangs initiieren konnte. In einer (wohl) unveröffentlichten Schrift aus dem Jahr 1946, die allem Anschein nach als Einleitung zur Neuauflage des Sammelbandes Halbmond über der Narenta 24 geschrieben wurde - bringt dies Michel auf den Punkt: Es steht mir nicht zu, mich zum Richter über all diese Wandlungen und ihre Ursachen aufzuwerfen und eine Entwicklung zu bedauern, die vielleicht unausbleiblich war. Meines Amtes ist nur, die große Harmonie von Landschaft, den menschlichen Siedlungen und den eigenartigen Einwohnern und ihrer Schicksale von einst aufzuzeigen. […] Auch dieses Buch möge zur Erhaltung alles schönen Alten und der Eigenart des Landes auf seine Weise beitragen. Wenn es deutschen Lesern und Reisenden das Verständnis für diese merkwürdige südslawisch-orientalische Welt erleichtert und ihre Freude daran den Einheimischen erkennbar wird, dürfte dies ihr Selbstbewußtsein und die eigene Schätzung ihres wunderbaren Erbes steigern. 25 II. Faschistische Umformulierungen Wie man sieht, spielen in diesem Diskurs hegemoniale Verhältnisse von Zentrum (die „deutschen Leser“) und Peripherie (die „Einheimischen“ der „südslawisch-orientalische[n] Welt“) eine maßgebliche Rolle. Wie problematisch Michels Beweisführung ist - die im Grunde ganz darauf aus ist, die Relevanz der eigenen Produktion hervorzuheben, indem die Bosnier quasi als der Bevormundung bedürftig erklärt werden, als seien alleine sie nicht fähig, ihr eigenes Kulturgut zu bewahren - zeigt erst eine Analyse der Produktion aus den 1930er und 40er Jahren, als die Radikalisierung der politischen Szene jene verfänglichen und überaus peinlichen ideologischen Verstrickungen offenlegte, die Michels Schaffen - wie im Allgemeinen der westlichen Idee des Fremden - inhärent sind. 23 Noch in einem späten Zeitungsartikel aus dem Jahr 1941 schreibt Michel: „Jugoslawien ist für jeden Entdeckungsfreudigen ein Paradies“ (Michel, Robert: Grenzscheide zwischen Westen und Orient. Streifzug durch Jugoslawien - Im Land der bäuerlichen Helden. In: Hannoverscher Anzeiger, 22./ 23. 03. 1941, s. p. Als Zeitungsausschnitt überliefert in: ÖLA, Konvolut 125/ S598). 24 Michel, Robert: Halbmond über der Narenta. Erzählungen aus Bosnien und der Herzegowina. Wien: Wiener Verl. 1947. 25 Michel 1948, p. 11. 430 Riccardo Concetti Dies soll der Übersichtlichkeit halber soweit wie möglich in chronologischer Reihenfolge belegt und an einem Schlüsseltext erprobt werden, der in zweifacher Hinsicht mit der vorhergehenden Produktion verbunden ist: Einerseits thematisch, da er ein südslawisches Motiv bearbeitet; andererseits medial, da es sich dabei um ein Radio-Hörspiel handelt, das von Michels ungebrochenem Interesse für die neuen Medien zeugt. 26 Gemeint ist Eugen vor Belgrad , ein 1933 „im Auftrag“ 27 des nationalen Radiosenders RAVAG geschriebenes und am 14. Oktober 1933 mit Ewald Balser in der Hauptrolle und unter der Spielleitung Aurel Nowotnys 28 übertragenes Hörspiel, das die Belagerung und Einnahme Belgrads im Sommer 1717 durch Prinz Eugen zum Inhalt hat. 29 Der Anlass dieses Werkes ist das 250. Jubiläum des Sieges Österreichs über die Türken 1683, das in der RAVAG zum Anlass für mehrere Vorträge ausgenützt wurde. 30 In diesem Sinne berichtet die RAVAG-Wochenschrift Radio Wien über das Hörspiel als über ein Dokument des kulturellen Gedächtnisses: Der Querschnitt, den der heimische Dichter und bekannte Schriftsteller Robert Michel geschaffen hat, läßt die Taten des Prinzen und seiner Tage wieder lebendig werden. Vor dem inneren Auge des Hörers ziehen in abwechslungsreicher Fülle die Bilder aus der ruhmreichen Vergangenheit des Vaterlandes vorüber, für die der Name Eugen von Savoyen von tiefer, gleichnishafter Bedeutung wurde. 31 Die Prägnanz des Textes liegt allerdings nicht darin, sondern vielmehr in dem kontemporären Zeitbezug: Denn das Hörspiel, das im Jahr der Machtübernahme Hitlers in Deutschland verfasst wurde, fällt in eine Zeit, als sich Österreich gegen verstärkte Annexionspläne zur Wehr setzen musste und der nunmehr ausgerufene Ständestaat, der um seine Existenzberechtigung rang, einer nationalen Mythologie bedurfte. In dieser Konstellation spielte Michel quasi den Hofdichter, der auf den Wunsch der Machthaber einen patriotischen Text lieferte, mit dem sich der Ständestaat gegen äußere und innere Feinde zur Wehr 26 Michels erste Bekanntschaft mit dem Medium Radio datiert einige Jahre zuvor, als er im Oktober 1928 eine Radio-Tournée machte, bei der er aus seinen Geschichten von Insekten (Berlin: S. Fischer 1911) las. Vgl. Michel, R.: Mein erster Rundfunk. In: Tages-Post (Linz), 08. 05. 1929, p. 1. 27 Vgl. Michel, R.: Mein Weg als Dramatiker . [Unveröffentlichtes Typoskript zu einem am 17. 5. 1946 abgehaltenen Vortrag am Zentralinstitut für Theaterwissenschaft im Kainzsaal der Wiener Hofburg]. In: ÖLA, 125, W403 Lit, p. 26. 28 Vgl. Zeitungsnotizen in: Radio Wien , 06. 10. 1933, p. 8, und 13. 10. 1933, p. 20. 29 Vgl. ÖLA, Konvolut 125/ W427/ 1 bis W427-Beil. Lit. 30 Vgl. Höck, Michaela: Medienpolitik im „Ständestaat“ oder die politische Einflußnahme auf die Österreichische Radioverkehrs A.G. (RAVAG). Wien: Dipl. Arb. der Univ. Wien 2003 (unveröff.), p. 140. 31 Anonym: Eugen von Savoyen. Aufführung am Samstag, 14. Oktober. In: Radio Wien , 06.10.1933, p. 6. Robert Michel 431 setzen wollte. Vor allem die Figur Prinz Eugens lässt sich unschwer als Gegenentwurf zu Hitler lesen: Der Protagonist ist zwar selbstbewusst und souverän, aber gleichzeitig humorvoll und volksnah. Er ist keineswegs blutrünstig, vielmehr bestraft er jeglichen martialischen Übereifer. Er ist zwar Feldmarschall, aber kein Führer, sondern einfach „der erste Soldat des Kaisers“ und „auch sein mutigster Soldat“. 32 Das Ideal, das sein Tun bei der Kriegsführung beflügelt, drückt Michels Prinz Eugen wie folgt aus: Ich stehe jetzt schon eine Stunde vor dieser Wandkarte Europas und der Stern an der Mündung der Save, der Belgrad bedeutet, brennt mir in die Augen. Tiefer denn je prägt sich mir die Überzeugung ein, daß die Eroberung dieser Stadt ein wichtiger Schlußstein zu dem Bau sein wird, an dem ich seit Jahrzehnten arbeite. Hier unten gegen den Balkan müssen wir eine sichere Basis haben; dann steht der Bau der Monarchie endlich fest. […] ein Österreich, groß und mächtig, gut in sich geschlossen, das sehe ich dahier an der Donau von Passau bis Belgrad. Schau dir nur an, wie ein merkwürdiges sitzendes Lebewesen, durchaus organisch, sieht es auf der Landkarte aus. Wien ist sein Herz und die Donau die Lebensader. Böhmen ist der Kopf, Prag das Auge. Die Karpathen sind die Wirbelsäule; die darf nicht bloßliegen, ein Polster von Fettansatz ins polnische Land muß ihr guttun. Der Rücken rundet sich um Siebenbürgen hinab. Die vorderen Gliedmaßen reichen bis an den Bodensee. So sitzt es, gestützt von der Adria über den Balkan, und bequemer wäre seine Lage, wenn es sich an das Schwarze Meer lehnen könnte. Das ist das endgültige Österreich als Teil des römisch-deutschen Reiches, wie es mir vorschwebt. Eine wunderbare Legierung vieler Völkerschaften. Ein Staat soll aus einem Volk bestehen; zwei Völker vertragen sich im gleichen Staat nie untereinander; aber die Mischung mehrerer Völker kann auch ein glückliches Ganzes ergeben, besonders wenn es von der Natur so begünstigt und durch eine kraftvolle Führung geeint ist. 33 Hier, durch die Metapher des Körpers („ein merkwürdiges sitzendes Lebewesen“) wird Österreich als neuer body politic statuiert, wobei die moderne Vorstellung nicht auf biblisch-typologischem Denken, sondern auf biologistischem Gedankengut fußt, das den unentwirrbaren Konnex zwischen Staat, Kultur und Land geltend macht. Obwohl man es hier mit der „katholisch-nationale[n] Variante der ‘Reichsidee’“ 34 zu tun hat, zeigt sich anhand dieser Metaphorik, in- 32 Michel, Robert: Eugen vor Belgrad [Unveröffentl. Hörspiel]. In: ÖLA, Konvolut 125/ W427/ 1 bis W427-Beil. Lit, p. 34. 33 Michel, R.: Aus der Novelle ‘Eugen von Belgrad’ (nach den Studien zu einem bereits aufgeführten Hörspiel, als Novelle noch nicht veröffentlicht). In: Bekenntnisbuch österreichischer Dichter. Hg. v. Bund deutscher Schriftsteller Österreichs. Wien: Krystall-Verlag 1938, pp. 71-72. 34 Müller, Karl: Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literarischen Antimoderne Österreichs seit den 30er Jahren. Salzburg: O. Müller 1990, p. 300. 432 Riccardo Concetti wiefern sie der völkischen Ideologie nah war. Auch wird etwas verständlicher werden, warum ihre Vertreter im Zuge der politischen Zuspitzung in das magnetische Anziehungsfeld des Nationalsozialismus gerieten. Ähnlich erging es nämlich einem der prominentesten Schriftsteller im Ständestaat, dem sich Michel, wie der Briefwechsel attestiert, 35 in den 1930er und 40er Jahren besonders verbunden fühlte: Gemeint ist Max Mell, der „vor als auch nach 1938 und nach 1945 zum deutschsprachigen Dichter-Establishment“ 36 gehörte. Es bleibe dahingestellt, inwieweit Mells Positionen angesichts der politischen damaligen Entwicklung einen Einfluss auf das opportunistische, liebäugelnde Verhältnis Michels zum Nationalsozialismus hatten. Fest steht jedoch, dass, obwohl Michel nie NS-Parteimitglied war, 37 er seinen Namen oft unter denjenigen der Sympathisanten drucken ließ, sich an manch verfänglicher kultureller Aktion beteiligte, während des Kriegs bei völkischen Wiener Verlagen wie dem A. Luser-Verlag oder dem Zsolnay-Verlag publizierte und stets versuchte, sich gegenüber den braunen Machthabern, wie wir zum Schluss sehen werden, als sozusagen integrierter Intellektueller auszuweisen. 38 Diese Entwicklung soll an einem Beispiel nachgezeichnet werden, das nur scheinbar von Bosnien-Herzegowina wegbringt, und in Wirklichkeit die Ambivalenz und politische Verworrenheit dieses geschichtlichen Augenblicks in vollem Umfang verdeutlicht. Am 23. Juli 1938 ergeht ein Brief der Düsseldorfer Nachrichten an Michel, in dem nach Max Mells „künstlerische[r] Zuverlässigkeit unter den neuen Verhältnissen“ gefragt wird. 39 Warum man Michels Beratung in solcher Angelegenheit wünscht, erklärt sich daraus, dass er schon seit 1933 eine Firma betrieb, die RO-MI, die zwischen Autoren und Zeitschriften vermittelte und darauf spezialisiert war, Feuilletons in der reichsdeutschen Presse unterzubringen. Mit dieser Agentur übernahm Michel das Geschäft Cäcilie Tandlers, die schon seit den 20er Jahren in diesem Bereich tätig war, als Jüdin aber nicht länger mit Deutschland hätte arbeiten können. 40 Nach Mi- 35 Vgl. ÖLA, Konvolute 125/ B407/ 1 bis B407/ 29 Lit, sowie 125/ B88/ 1 bis B88/ 43 Lit. 36 Müller 1990, p. 287. 37 Vgl. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, ehem. Berlin Document Center, Reichsschrifttumskammer (im Folgenden RSK), Michel, Robert, 24. 02. 1876. 38 Bei seiner Aufnahme in die RSK wurde von Max Stebich, dem damaligen österreichischen Landesleiter der RSK, am 15. 11. 1938 folgende Bescheinigung ausgestellt: „Er hat sich immer im nationalsozialistischen Sinne, wenn auch nur illegal und im kleineren Kreise, betätigt“ (ibid.). 39 Vgl. ÖLA, Konvolute 125/ B407/ 1 bis B407/ 29 Lit. 40 Cäcilie Tandler, geb. Pinker, *17.09.1893, Wien - †25.04.1946, Wien (ich danke Peter Michael Braunwarth für die vollständigen Geburt- und Sterbedaten).- Vgl. Concetti, Riccardo: Der Briefwechsel zwischen Hugo von Hofmannsthal und Robert Michel 1898-1929. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 2. Wien: Phil. Diss. der Univ. Wien 2003, p. 364. Robert Michel 433 chels eigenen Angaben und aus verschiedenen konvergierenden Gegebenheiten zu schließen, war Cäcilie Tandler immer noch am Steuer der Firma, während Michel nur formell, der Nazis wegen, als Chef auftrat. Verblüffend ist jedoch, welche Umstände Michel in seinem Rückschreiben vom 25. Juli an die Düsseldorfer Nachrichten beleuchtet, um für Mells und seine eigene kulturpolitische Gesinnung zu verbürgen: Wir nationalbetonten Schriftsteller versuchten bald nach der Machtergreifung in Deutschland uns zu einem „Ring deutscher Schriftsteller in Österreich“ zu vereinigen, woran wir aber verhindert wurden. Beim zweiten Versuch zu einem solchen Zusammenschluß wählten wir Max Mell zu unserem Führer […] und unter seiner Leitung entstand der „Bund der deutschen Schriftsteller in Österreich“, der nach dem Umbruch den ersten Unterbau für die Errichtung des österreichischen Zweigs der Reichsschrifttumkammer bildet. 41 Die zentralen kulturpolitischen Ereignisse, auf die Michel hier hinweist und die zu einer kulturellen Gleichschaltung Österreichs noch vor dem sogenannten Anschluss führten, sind hinlänglich von Gerhard Renner, Klaus Amann und anderen 42 rekonstruiert worden, weshalb hier nicht auf sie eingegangen werden soll. Zu hinterfragen wäre aber, was denn Michel mit seinem „wir“ wirklich meinte: Ob er tatsächlich eine aktive Rolle bei den nachgezeichneten Entwicklungen spielte, oder ob er sich eine solche Rolle nur aus taktischen Überlegungen heraus zuschreibt, soll hier dahingestellt bleiben. Tatsache ist, dass sowohl Michel als auch Mell sich 1938 an einer berühmt-berüchtigten Publikation beteiligten, mit welcher der oben erwähnte Bund der deutschen Schriftsteller Österreichs den (fatalen) Augenblick feierte, da „Österreich durch die Tat des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler heimgekehrt in das Deutsche Reich“ 43 ist: Es handelt sich um das berüchtigte Bekenntnisbuch österreichischer Dichter . Was Michels eigenen Beitrag angeht, so besteht die Pointe darin, dass der von ihm eingereichte Probetext ein Auszug aus der novellistischen Fassung von Eugen vor Belgrad ist, und zwar der Auszug, der den oben zitierten Traum Prinz Eugens beinhaltet. Die durch den Feldmarschall proklamierte, zuerst austrofaschistisch gefärbte, also quasi ‘aktualisierte’ altösterreichische Staatsidee wird nun braun übermalt und nationalsozialistisch dekliniert, da im Grunde ge- 41 Vgl. ÖLA, Konvolute 125/ B407/ 1 bis B407/ 29 Lit. 42 Renner, Gerhard: Österreichische Schriftsteller und der Nationalsozialismus (1933-1940): Der „Bund der deutschen Schriftsteller Österreichs“ und der Aufbau der Reichsschrifttumskammer in der „Ostmark“. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 27 (1986), pp. 195-303. Amann, Klaus: Der Anschluß österreichischer Schriftsteller an das Dritte Reich. Institutionelle und bewußtseinsgeschichtliche Aspekte. Frankfurt/ M.: Athenäum 1988. 43 Stebich, Max: [Widmung]. In: Bekenntnisbuch 1938, p. 7. 434 Riccardo Concetti nommen beide Ideologien um die Errichtung eines Großreiches unter der Führung des Deutschtums wetteiferten und sich auf dieselben historischen Figuren berufen konnten. Was in unserem Kontext aber als das Wichtigste erscheint, ist, dass Michel diese Doppelbödigkeit der politischen Repräsentation in Kauf nimmt: Die politische Aussagekraft seines Textes war so beschaffen, dass sie in Deutschland auf eine Weise, in Österreich aber als ihr Gegenteil gelesen werden konnte. Er nutzt diese Zweideutigkeit aus, um nach beiden Seiten hin gut dazustehen. Er sprach bewusst mit der Doppelzüngigkeit der Höflinge. Diese Haltung findet sich in dem letzten brisanten Dokument wieder, das hier vorgestellt werden soll. Am 26. April 1939 schreibt Michel an den S. Fischer Verlag - den Verlag seiner literarischen Anfänge, der nunmehr von Peter Suhrkamp geleitet wurde - und trägt diesem seinen Plan vor, seine belletristischen Arbeiten mit bosnisch-herzegowinischem Sujet in einen Sammelband zu vereinen: Die immer stärker ausgreifenden Interessen nach dem Südosten reifen in einer Art aus, dass sich von selbst der Gedanke aufdrängt, ob es nicht geboten wäre, mein Werk, das sich auf Bosnien und die Herzegowina bezieht, gesammelt herauszustellen. Ihrem literarischen Werte nach und ebenso ihrer Wahrhaftigkeit wegen und ihrer Echtheit und Vollständigkeit in der Widerspiegelung alles Landschaftlichen und Volkhaften jener Länder würden es meine epischen Arbeiten an sich verdienen, gesammelt für die Zukunft erhalten zu werden. Hierzu kommt noch der Vorzug, dass sie so ziemlich einzig dastehen in der deutschen Literatur auf diesem Gebiet. Und nun wäre durch die politische Entwicklung wohl für Jahrzehnte lang das allgemeine Interesse des deutschen Publikums für eine solche Lektüre gesichert. Da könnte sich also wohl der Verlag, der die Entwicklung dieser meiner dichterischen Durchdringung jenes merkwürdigen slawisch-orientalischen Milieus glücklich gefördert hat, dazu entschliessen, diese schöne Verlagstat zu vollführen. Geschäftlich wäre es kaum ein Risiko, da sich so ein Sammelwerk als ein dichterischer Baedeker für alle Reisenden in jenen Ländern einbürgern könnte, und wenn das Werk auch nicht ganz in die gegenwärtige Linie des Verlages passen sollte, so wäre die Herausgabe doch aus den angeführten Gründen berechtigt. Bei genauerer Prüfung des Materials würde sich aber auch herausstellen, dass meine Art der Darstellung den Forderungen der deutschen Gegenwart durchaus gerecht wird. 44 Wie man sieht, schlägt hier Michel larmoyant alle möglichen Töne an, um seine Bitte vorzutragen und dabei eine positive Resonanz zu erzeugen: Er verweist stolz auf die literarische Bedeutung seiner Werke und unterstreicht deren Einmaligkeit. Er attestiert ihnen Wirtschaftlichkeit, indem er sie als touristische Ratgeber ausgibt. Im Anschluss an die Zeitungstitel, die anlässlich des Staatsbesuchs des jugoslawischen Außenministers Aleksander Cincar-Marković die 44 Vgl. ÖLA, Konvolut 125/ B207 Lit. Robert Michel 435 „deutsch-jugoslawische Freundschaft“ proklamierten, 45 stellt er sein Buch quasi als Feierbuch zur politischen Annäherung Jugoslawiens an das Dritte Reich hin. An diesen Tagen war die braune Balkanpolitik freilich in aller Munde und selbst ein bulgarischer (nationalsozialistischer) Autor wie Janko Janeff begrüßte im Völkischen Beobachter die „wirtschaftliche, politische und geistesgeschichtliche Eingliederung des gesamten südöstlichen Lebensbereiches in die neuentstandene mitteleuropäische Front des Friedens.“ 46 In diesem politischen Klima und auf die negative Resonanz hin, auf die er bei S. Fischer und anderen Verlagen, an die er sich gewandt hatte, gestoßen war, entschloss sich Michel, ausgerechnet an den Reichsminister Goebbels zu schreiben. Damit entstand eine verhängnisvolle programmatische Schrift, mit welcher er alle unterschwelligen Hegemonialdiskurse, die sein Schreiben stets charakterisiert haben, unverhüllt ans Licht treten lässt. Ja, Michel bietet hier eine braune „Umdeutung der österreichischen Kulturideologie“, 47 die sich verbal noch zu den k. u. k. Werten der Verständigung und Versöhnung bekennt, tatsächlich aber nur noch schieren Imperialismus vor allem angesichts des sich abzeichnenden Krieges, verbreitet: Wien […] am 20. Juni 1939. Herr Reichsminister! In der Voraussetzung, dass sich ein deutscher Schriftsteller an den Schirmherrn des Schrifttums mit einer Anregung wenden darf, möchte ich nicht allein für mich, sondern für eine ganze Gruppe von Schaffenden […] das Wort an Sie richten. Ich spreche da von jenen Schriftstellern, die ihrem Erleben gemäß, das manchmal über die deutschen Sprachgrenzen hinüberlangte in benachbartes Land, die Vorwürfe zum Schaffen nicht immer aus dem deutschen Volksleben allein schöpfen, sondern oft auch aus dem Leben und den Ländern der Nachbarvölker, in deren Wesen sie sich einzufühlen vermögen. In den Zeiten des innerpolitischen Sturmes und Dranges in Deutschland mag solche Stoffwahl nicht zweckdienlich gewesen sein, aber angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Lage dürfte die Einschränkung in der dichterischen Durchdringung nur auf das deutsche Leben allein nicht mehr im gleichen Ausmaß geboten sein. Jetzt sollten jene geistigen Kolonisatoren - wenn dieser Ausdruck gestattet ist - an den Grenzen Deutschlands wieder freieren Spielraum bekommen, damit im Gefolge der politischen Siege des Reiches auch jene geistigen Brücken von Volk zu Volk geschlagen werden, die für dauerhafte ersprießliche Beziehungen unerlässlich sind. Selbst dort, wo sich vorerst die Anwendung von harten Machtmitteln als notwendig erweist, kann ein entgegenkommendes Verständnis für die fremde Volksseele die Nachgiebig- 45 Vgl. Wiener Neueste Nachrichten , 26.04.1939, p. 1. 46 Vgl. Völkischer Beobachter , 05.05.1939, p. 6. 47 Amann, Klaus: Die Brückenbauer. Zur „Österreich“-Ideologie der völkisch-nationalen Autoren in der dreißiger Jahren. In: Ders./ Berger, Albert (Hg.): Österreichische Literatur der dreißiger Jahre. Ideologische Verhältnisse. Institutionelle Voraussetzungen. Fallstudien. Wien, Köln: Böhlau 2 1990, pp. 60-78, hier p. 74. 436 Riccardo Concetti keit und Anpassungsfähigkeit anlehnungsbedürftiger Nachbarvölker wunderwirkend beeinflußen. [… Im Osten und Südosten] leben jungen Völker, die sich dem mächtig emporstrebenden Deutschland hingedrängt fühlen werden, um von ihm zu lernen. Dort gibt es noch viel geistiges Brachland, das aus den eigenen Gehirnen nicht urbar gemacht wurde. Wenn deutscher Geist aus der Überfülle seiner Schöpferkraft dort kolonisatorisch eingreift, wird er für diese noch unreifen Völker ein großer Schenkender werden und gleichzeitig seinen Volksgenossen das Wesen dieser anlehnungsbedürftigen Völker erschließen und dadurch auf weite Sicht hinaus fruchtverheißende Vorarbeit leisten. Die Schaffenden, die sich auch solchen Aufgaben zuwenden, würden es gewiß verdienen, daß sich ihren Werken, sofern sie weltanschaulich und künstlerisch entsprechen, die Volksbibliotheken öffnen und daß den Verlegern, Bühnenleitern und Sendern die eingefleischte Ängstlichkeit gegenüber diesen verkannten Mitarbeitern am Ruhme Großdeutschlands genommen wird. […] Heil Hitler! 48 Dieses unheilvolle Zeitzeugnis wirft ein schiefes Licht auf Michels gesamtes Schaffen: Denn dass er gerade seine besten Arbeiten über Bosnien-Herzegowina dem Minister für Volksaufklärung und Propaganda anbietet und dabei den unmöglichen Spagat versucht, die Ideale der Völkerverständigung mit jenen der militärischen Eroberungen zu verbinden, bringt auf besonders schroffe Weise die ideologischen Verstrickungen zu Tage, die seiner ganzen Poetik zu Grunde liegen. Denn de facto legt hier Michel den Konnex bloß, der die literarische Aufwertung der Kultur fremder Völker mit der Gewalt des Krieges verbindet, auf die letztendlich - zumal im Falle eines Offiziers - der Kontakt der österreichischen mit der bosnischen Kultur zurückzuführen ist. Dabei erscheint Michels eigene auktoriale Rolle als Instanz, die mit dem Rekurs auf verschiedene Medien für die „Echtheit und Vollständigkeit in der Widerspiegelung alles Landschaftlichen und Volkhaften jener Länder“ 49 bürgen soll, wesentlich verfänglicher, als man sonst gemeint hätte. 48 Als Beilage zum Brief Michels an Suhrkamp vom 21.06.1939 erhalten, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: S. Fischer [Hervorh. vom Verf.]. Der Antwortbrief vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, datiert vom 02. 08. 1939: „Zu Ihrem Schreiben betreffend das Schrifttum über fremdvölkische Themen, wird Ihnen mitgeteilt, daß gerade der deutsche Verleger bekannt dafür ist, daß er für die Verbreitung der Kenntnis fremder Völker und Staaten sich zu allen Zeiten eingesetzt hat. Die Bereitschaft des deutschen Verlegers ist auch heute auf diesem Gebiete nicht geringer geworden. Wenn Sie mit Ihrem Werk bei einzelnen Verlegern auf eine geringe Aufnahmefähigkeit, ja sogar auf Widerstände gestossen sind, so gilt dies nicht für die Mehrzahl der deutschen Verlage. / Sie werden gebeten, zu Ihrem Schreiben einzelne konkrete Angaben zu machen. / / Im Auftrag gez. Schlecht.“ In: ÖLA, Konvolut 125/ B264 Lit. 49 Vgl. Brief vom 26. 04. 1939 an den S. Fischer Verlag. In: ÖLA, Konvolut 125/ B207 Lit. Robert Michel 437 Als Nachklang zu diesem Zeitzeugnis kann man schließlich hinzufügen, dass der so heiß ersehnte Sammelband Halbmond über der Narenta schließlich 1940 bei dem völkisch-national (und nationalsozialistisch) ausgerichteten Traditionshaus Adolf Luser (später in „Wiener Verlag“ umbenannt) erschien. 50 Ironischerweise ist es immer noch das einzige - antiquarisch noch beziehbare - Buch des Autors, das eine Übersicht über seine Bosnien-Texte ermöglicht. 50 Vgl. Hall, Murray G.: Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938. Bd. 2: Belletristische Verlage der Ersten Republik. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1985.- Michels Brief an die Wiener Verlagsgesellschaft vom 26. April 1939 war mit dem an Goebbels teilweise gleichlautend, vgl. ÖLA, Konvolut 125/ B450/ 1 bis B450/ 4 Lit. Laut Vertrag vom 12. 12. 1939 erschien das Buch in einer Auflage von 3.000 Stück. Im Jahre 1943 wurde eine Neuauflage (Pappband) besorgt, von der im März 1943 bereits 5.159 Exemplare verkauft wurden. Vgl. ÖLA Konvolut 125/ B450/ 1 bis B450/ 4 Lit. NACHWIRKUNGEN „Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“ 441 „Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“ Erinnerungen bosnischer Waffen-SS-Soldaten an die österreichisch-ungarische Herrschaft im Ersten Weltkrieg Franziska Zaugg (Bern/ Dublin) Bosnisch-herzegowinische Truppen waren im Ersten Weltkrieg Teil der österreichisch-ungarischen Vielvölkerarmee und wurden bis 1918 als ‘Bosniaken’ bezeichnet. 1 Im ersten Kriegsjahr 1914 wurden zahlreiche Soldaten aus diesen ehemaligen osmanischen Provinzen an der Ostfront eingesetzt. Für 36 Divisionen werden Bataillone genannt, die sich aus Bosniern und Herzegowinern rekrutierten. Zwar sind diese Einheiten auf Fotografien an ihrem Fez gut erkennbar, allerdings ist es heute schwierig, mit letzter Sicherheit festzustellen, wo sie überall gekämpft haben, da sie oft in anderen Garnisonen Österreich-Ungarns untergebracht waren und die Regimenter nur teilweise geschlossen zum Einsatz kamen. Außerdem legt der Fez die falsche Vermutung nahe, die meisten von ihnen wären Muslime gewesen. Insgesamt war aber nur rund ein Drittel dem islamischen Glauben verpflichtet. 2 Schon während des habsburgischen Einmarsches 1878 waren auf beiden Seiten Bosnier und Herzegowiner zu finden: Während Joseph Freiherr Philippović von Phillipsberg, Sprössling einer christlich-altbosnischen Familie, den Oberbefehl über die vorrückenden österreichisch-ungarischen Truppen hatte, leisteten in Ostbosnien führende Geistliche wie etwa der Mufti von Taslidža (heute Pljevlja in Montenegro), Mehmed Nurudin Vehbi-efendi Šemsekadić, Widerstand. 3 Gut zwanzig Jahre später, im langen Vorfeld des Ersten Welt- 1 Bereits zwanzig Jahre später hatte sich eine Begriffsverschiebung vollzogen: Bis heute versteht man unter ‘Bosniaken’ die muslimische Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas. Um Verwechslungen vorzubeugen, wird in diesem Aufsatz der Begriff nur für die bosnisch-herzegownischen Soldaten bis 1918 verwendet. 2 Vgl. Neumayer, Christoph / Schmidl, Erwin A. (Hg.): Des Kaisers Bosniaken. Die bosnisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. Wien: Militaria 2008, pp. 95 u. 128. 3 Vgl. Wohnout, Helmut: Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878. In: Neumayer & Schmidl 2008, pp. 14-39, hier pp. 23 u. 26 f. 442 Franziska Zaugg kriegs, wurde aber auch in muslimischen Kreisen rekrutiert. Die Beziehung zwischen der bosnisch-herzegowinischen Bevölkerung und den Vertretern Österreich-Ungarns hatte sich in dieser Zeitspanne verändert. Es stellt sich daher die Frage, wie es der Besatzungsmacht gelungen war, die ihnen oft feindlich gesinnten Landesbewohner zu beschwichtigen und für sich zu gewinnen? Mehr noch, in meinen Archivrecherchen der vergangenen Jahre, die sich insbesondere der Rekrutierung albanischer und bosnisch-herzegowinischer Muslime in die Waffen-SS widmeten, kam in den Quellen immer wieder die Sympathie zur Sprache, welche Bosnier, Herzegowiner und Albaner den „Reichsdeutschen“, also Deutschen und Österreichern, im Zweiten Weltkrieg entgegenbrachten. 4 Die Frage drängte sich auf: Weshalb hatten sie - d. h. vor allem auch die bosnisch-herzegowinischen Muslime - die ehemalige Besatzungsmacht in so guter Erinnerung? Auf den nächsten Seiten soll versucht werden, auf diese Frage eine Antwort zu geben. 5 Sympathien für die Besatzer Aus dem Ersten Weltkrieg sind heute für die Kriegsschauplätze Ost- und Südosteuropa zahlreiche Gräueltaten der habsburgischen und der deutschen Armee an Zivilisten wie auch an Soldaten aus den eigenen Reihen belegt. 6 Auf der anderen Seite scheint es Bevölkerungsschichten gegeben zu haben, die von der österreichisch-ungarischen Besatzung profitierten oder sie zumindest in den eigenen Erinnerungen positiv konnotierten. 7 Diese lässt sich auch bei den 4 Vgl. Zaugg, Franziska / Młynarczyk, Jacek Andrzej (Hg.): Ost- und Südosteuropäer in der Waffen-SS. Kulturelle Aspekte und historischer Kontext. Sonderausg. der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7/ 8 (2017); Dies.: Albanische Muslime in der Waffen-SS. Von „Großalbanien“ zur Division „Skanderbeg“. Paderborn: Schöningh 2016. 5 Ausführlich zu den wichtigsten Figuren in der Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern und in Zusammenhang mit den Rekrutierungen bosnischer Muslime in die Waffen-SS vgl. Motadel, David: Islam and the Nazi Germany’s War. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press 2014, pp. 200-207; Hoare, Marko Attila: The Bosnian Muslims in the Second World War. A History. New York: Oxford Univ. Press 2014; Bougarel, Xavier: Islam, a ,Convenient Religion‘? The Case of the 13th SS Division Handschar. In: Bougarel, Xavier / Branche, Raphaëlle / Drieu, Cloé (Hg.): Combatants of Muslim Origin in European Armies in the Twentieth Century. Far from Jihad. London et al.: Bloomsbury Academic 2017, pp. 137-159. 6 Vgl. beispielsweise Mitrovi ć, Andrej: Serbia’s Great War 1914-1918. London: Hurst & Co. 2007; Gumz, Jonathan E.: The Ressurection and Collapse of Empire in Habsburg Serbia, 1914-1918. New York: Cambridge Univ. Press 2009. 7 Vgl. Scheer, Tamara: A Reason to Break the Hague Convention? The Habsburg Occupation Policy toward Balkan Muslims in World War I. In: Yavuz, Hakan M./ Ahmad, Feroz (Hg.): War and Collapse. World War I in the Ottoman State. Salt Lake City: Univ. of Utah Press 2016, pp. 1008-1022. Vgl. auch Neumayer & Schmidl 2008, pp. 95 f. u. 99. „Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“ 443 Muslimen feststellen, die im Zweiten Weltkrieg für die deutsche Waffen-SS angeworben wurden. 1943 schreibt der bosnische SS-Brigadeführer Nedim Salihbegović in seinem „Bericht zur Lage“ im NDH 8 -Staat, dass die Deutschen bei der slawischen Bevölkerung vor dem Balkanfeldzug 1941 eine besonders hohe Sympathie genossen hätten: Die [slawische] Bevölkerung nach dem Anschluss Österreichs war der Meinung, dass Deutschland auch das geschichtliche Erbe Österreichs angetreten und somit die Verpflichtungen gegen loyale österreichische Untertanen aus dem [Ersten] Weltkrieg übernommen hätte. Aus dieser Überzeugung sehnte die Bevölkerung den Einzug der deutschen Truppen herbei. 9 Die Herrschaft Österreich-Ungarns verband Salihbegović mit „Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit der damaligen Verwaltung“ sowie mit „gesicherten wirtschaftlichen Verhältnisse[n], wo jeder, der arbeitswillig war, sein Brot verdienen konnte.“ 10 Diese positive Ausgangslage für zukünftige Rekrutierungen wurde jedoch von den Ereignissen des Balkanfeldzugs 1941 überschattet. Vom neu errichteten kroatischen Ustaša-Staat (NDH) sahen sich viele Bewohner Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas nicht repräsentiert. So wurde beispielsweise die von Vladimir Maček angeführte kroatische Bauernpartei aus der Regierung ausgeschlossen und ihr wurde jegliche politische Aktivität untersagt, da sie nicht zur Kollaboration mit den Deutschen bereit war. 11 Noch schlimmer traf es serbische, jüdische und teilweise auch muslimische Bevölkerungsteile, die fortan zu den Verfolgten des NDH-Staates gehörten. 12 Trotz der Zusammenarbeit der Deutschen mit Ante Pavelić, dem faschistischen kroatischen Führer ( Poglavnik ), wurde der Beitritt zur Waffen-SS vor allem für Teile der muslimischen Bevölkerung Bosniens zur letzten Option, da man sich dort Schutz, Bewaffnung und militärische Ausbildung versprach und die nationalsozialistische Besatzung in einer Tradition mit der Herrschaft Österreich-Ungarns sah. Zu dieser prekären Situation meldete SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS Ernst Fick im März 1944 Heinrich Himmler, dem Chef der deutschen SS und Polizei: „Die 8 Bezeichnung für “Nezavisna Država Hrvatska“; dieser „Unabhängige Staat Kroatien“ existierte von Hitlers Gnaden 1941-1945. 9 Nedim Salihbegovic: Bericht zur Lage, 25.9.1943. BArchB, NS 19/ 2601, Bl. 29. 10 Ibid. 11 Vgl. ibid. 12 Vgl. hierzu ausführlich Korb, Alexander: Im Schatten des Weltkriegs. Massengewalt der Ustaša gegen Serben, Juden und Roma in Kroatien 1941-1945. Hamburg: Hamburger Edition 2013. 444 Franziska Zaugg Mohamedaner, die im Allgemeinen von Cetniks [sic] und Ustaschas [sic] bekämpft wurden, gehen z.T. zwangsläufig zu den Freiw[illigen] Verbänden der SS oder den Partisanen, um nicht weiterhin von Ustaschas, Cetniks und Partisanen gemordet zu werden.“ 13 Diesen Umstand versuchten die Nationalsozialisten nun, indem sie sich als Erben der Donaumonarchie ausgaben, für ihre Zwecke auszunutzen: Hermann Neubacher, „Sonderbeauftragter Südost“ des Dritten Reiches schrieb nachträglich, dass sich Adolf Hitler auf dem Balkan für eine „positive Muselmanenpolitik“ aussprach und „damit in die Fußstapfen des Wiener Ballhausplatzes 14 [trat], dessen Politik im okkupierten Bosnien-Herzegowina von peinlicher Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeit der islamischen Welt diktiert war“. 15 In der Tat war die habsburgische Politik vom Grundsatz geprägt, die muslimischen Eliten nicht zu verärgern. 16 Bereits bei der Okkupation 1878 proklamierte Franz Joseph I.: „Eure Gesetze und Einrichtungen sollen nicht willkürlich umgestoßen, Eure Sitten und Gebräuche sollen geschont werden.“ 17 Bereits vor der Einführung der Wehrpflicht 1881/ 82 hatte sich das Reichskriegsministerium bei anderen europäischen Armeen über den Umgang mit Muslimen informiert. Zu den bestehenden Regelungen und Vorschriften für die Behandlung von Soldaten traten spezifische für die „eingereihten Mohammedaner“; diese betrafen vor allem Gebetszeiten, Feiertage und Ernährungsgewohnheiten. Obwohl die Einführung der Wehrpflicht zuerst einen militärischen Aufstand zur Folge hatte, änderte sich das Verhältnis zwischen Muslimen und ihren österreichisch-ungarischen militärischen Vorgesetzten rasch: Bereits in den letzten Jahren des ausgehenden 19. Jahrhunderts galt letzteren die Verlässlichkeit muslimischer Bosniaken als besonders hoch. 18 Dass das oben genannte kaiserliche Versprechen wie auch die spezifischen Vorschriften für Muslime zumindest teilweise umgesetzt und auf religiöse Sitten der Soldaten Rücksicht genommen wurde, davon zeugen nicht nur die positiven Erinnerungen ehemaliger k. u. k. Bosniaken, sondern auch die Nachahmungsversuche der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Artur Phleps wollte unbedingt an diese Traditio- 13 Schreiben von SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS Ernst Fick an Himmler, 16.3.1944. BArchB, NS 19/ 2601, Bl. 82. 14 Dies war der Sitz des k. u. k. Außenministeriums gewesen. 15 Neubacher, Hermann: Sonderauftrag Südost 1940-1945. Bericht eines fliegenden Diplomaten. Göttingen: Musterschmidt 1956, p. 33. 16 Vgl. Neumayer & Schmidl 2008, p. 96. 17 Die Proclamation. In: Sammlung I (1880), p. 3f, entnommen der Wiener Zeitung Nr. 172 vom 28.07.1878, zit. n. Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878-1918). München: Oldenbourg 1994, p. 58. 18 Vgl. Neumayer & Schmidl 2008, pp. 99 u.103. „Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“ 445 nen anknüpfen, denn: „Der Muselmane erinnert sich mit größter Achtung und Dankbarkeit der Verwaltung im alten Okkupationsgebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie. Was in Bosnien und der Herzegowina geschaffen wurde, das mit Kultur und Zivilisation in Zusammenhang steht, ist das Verdienst dieser Verwaltung.“ 19 Selbst Himmler wusste, dass diese Verbindung aufrecht erhalten werden musste, wollte man das bestehende positive Image für eigene Zwecke nutzen. Am 13. Februar 1943 befahl er, dass die neu aufzustellende 13. Waffen-Gebirgs-Division der SS (später Division „Handschar“ 20 genannt) „tunlichst aus Bosniaken mohamedanischer Religion zu bestehen“ habe. Weiter beauftragte er Phleps damit, „den Bosniaken im Rahmen unserer Division die alten Rechte, die diese in der österreichisch-ungarischen Armee hatten, verbindlich [zu] zusagen, freie Religionsausübung, Tragen des Fez“. 21 Bereits 1942 umschrieb H. Hollmatz das später von Himmler angestrebte Vorgehen mit folgenden Worten: „Es ist eine bekannte Tatsache, dass sich bereits das alte Österreich durch weitgehendes Verständnis für die religiösen Bedürfnisse der in seinen Grenzen lebenden mohammedanischen Bevölkerung auszeichnete. Die Nachfolgestaaten haben die Tradition übernommen.“ 22 In der muslimischen Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas, im Sandschak und in den nordöstlichen Teilen „Großalbaniens“ 23 herrschte also weitgehend die Annahme vor, die deutschen Besatzer würden Rücksicht auf ihre traditionelle Lebensweise nehmen 24 - genau dasselbe Versprechen, das bereits die österreichisch-ungarischen Besatzer bei der Invasion 1878 abgegeben hatten. Anderer- 19 Schreiben Phleps an Himmler, 5.11.1943. BArchB, NS19/ 3893, p. 1. 20 „Handžar“ ist die Bezeichnung für einen (ursprünglich arabischen) Krummdolch. 21 Funkspruch Himmler an Divisionskommandeur der 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division „Prinz Eugen“, SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Artur Phleps, 13.2.1943. BArchB, NS 19/ 2601, Bl. 2. 22 In: Danziger Vorposten, Nr. 265, 14.10.1942. BArchB, NS5-VI/ 16961. 23 Als „Großalbanien“ wurde der zwischen 1941 und 1944 existierende albanische Staat bezeichnet, der de iure bis zur Kapitulation Italiens am 3. September 1943 italienisches Protektorat war und danach als „neutraler Staat“ bezeichnet wurde. De facto duldete aber die albanische Regierung eine mannigfaltige militärische, wirtschaftliche und politische deutsche Einflussnahme. Geografisch bestand „Großalbanien“ aus „Neualbanien“, d. h. Mittel- und Südkosovo sowie mazedonischen und montenegrinischen Grenzgebieten, und „Altalbanien“. Nach dem Jugoslawienfeldzug im April 1941 verblieben Nordkosovo und der Sandžak bei Serbien und kamen unter deutsche Militärverwaltung. Die Idee, ein „Großalbanien“ unter italienischer Herrschaft einzurichten, taucht aber bereits im August 1939 in den Quellen auf. Vgl. Curt Heinburg, Vortragender Legationsrat Südosteuropa, an Konsulate in Tirana, Athen, Sophia zu Telefonat Gesandtschaft Tirana bez. Versprechen des italienischen Außenministers Galeazzo Ciano für ein „Großalbanien“ an den Präfekten von Tirana, 22.8.1939. PAAA, R103286, Bl. 264. 24 Im Falle Kosovos und Nordalbaniens beispielsweise handelte es sich um in „Kanuns“ je nach Region unterschiedlich ausgestaltete Formen des Gewohnheitsrechts. Vgl. hierzu 446 Franziska Zaugg seits rührte die positive Grundhaltung gegenüber den Invasoren auch von den Erinnerungen an die österreichisch-ungarische Armee vor und während dem Ersten Weltkrieg: Zahlreiche ehemalige Bosniaken waren von der österreichischen Militärdisziplin noch zwanzig Jahre später überzeugt. So beschreibt etwa der „Kriegsberichter“ Willibald Kollegger, ein gebürtiger Österreicher, solche Sympathien gegenüber den ‘Deutschen’ anhand einer Begegnung in Boga in den Bergen Nordalbaniens an der Grenze zu Montenegro Anfang der 1940er Jahre: „Hier oben treffen wir den Bruder eines albanischen Ministers, der hocherfreut ist, einen Deutschen zu treffen. Als er erfährt, dass sein Deutscher dem ehemaligen Österreich entstammt, kennt seine Begeisterung keine Grenzen mehr. ,Ja, die Österreicher, die haben wir in guter Erinnerung‘, sagt er in gebrochenem Deutsch, das er noch aus der Weltkriegszeit her beherrscht, als die k. u. k. Armeen die Hälfte Albaniens besetzt hielten.“ 25 Persönliche Erinnerungen an die eigene Zeit in der österreichisch-ungarischen Armee oder an deren Präsenz waren also mit ausschlaggebend für den Umgang mit den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg. Zvonimir Bernwald etwa, der in der 13. Waffen-Gebirgs-Division der SS diente, war durch die Erinnerungen seines Vaters geprägt worden, denn dieser habe „im Ersten Weltkrieg, zusammen mit vielen Kroaten, Serben und Muslimen, in der k. u. k. Armee gedient. Wir Kinder haben uns oft seine und seiner Kameraden Erlebnisse von der russischen Front an der Dobrudscha und vom italienischen Kriegsschauplatz an der Piave 1918 angehört, die er zusammen mit einem Serben und einem Kroaten in der feuchtfröhlichen Weinrunde erzählte.“ 26 Nationalsozialistische Instrumentalisierung des positiven Images Doch nicht nur viele Bosnier waren den deutschen Besatzern freundlich gesinnt. Auch die Deutschen hegten aufgrund des geleisteten Kriegsdiensts der Bosniaken in der österreichisch-ungarischen Armee Sympathie. Laut Bernwald soll Himmler auch nach einer gescheiterten Meuterei innerhalb der Division „Handžar“ an seinem Glauben an die Loyalität der bosnischen Soldaten festgehalten haben: „Ich wusste, dass die Möglichkeit bestand, einige Verräter in die Division einzuschleusen, aber ich habe nicht den geringsten Zweifel über die Loyalität der Bosnier. Diese Truppen waren gegenüber ihrem Obersten Beausführlich Elsie, Robert: Der Kanun. Das albanische Gewohnheitsrecht nach dem sogenannten Kanun des Lekë Dukagjini. Berlin: OEZ 2014. 25 Kollegger, Willibald: Albaniens Wiedergeburt. Wien: Wiener Verlagsgesellschaft 1942, p. 38. 26 Bernwald, Zvonimir: Muslime in der Waffen-SS. Erinnerungen an die bosnische Division Handžar (1943-1945). Graz: Ares 2012, p. 15. „Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“ 447 fehlshaber vor 20 Jahren [gemeint sind die Bosniaken in der k. u. k. Armee, F.Z.] stets loyal; weshalb sollten sie das heute nicht auch sein? “ 27 Und Muslime, die in faschistischer Uniform patrouillierten, erinnerten den Österreicher Kollegger an „deutsche Werte“ wie „tadellose Ordnung“ und „soldatische[n] Geist“. 28 In seinen Memoiren hält Hermann Neubacher,“Sonderbeauftragter Südost” im Dritten Reich, die Tatsache fest, dass sowohl die deutsche Wehrmacht als auch die Verbände der Waffen-SS von vielen Südosteuropäern mit der österreichisch-ungarischen Armee aus dem Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht wurden. 29 Die personellen Verflechtungen zwischen Bosniern und Österreichern bzw. Ungarn, die in beiden Waffenverbänden, zuerst in der österreichischen Armee und später in der Waffen-SS dienten, waren zahlreich. Ein anschauliches Beispiel ist der Kommandeur des Pionier-Bataillons der bosnischen Waffen-SS-Division, SS-Hauptsturmführer Oskar Kirchbaum, der sowohl in der k. u. k.-Armee als auch in der jugoslawischen Armee der Zwischenkriegszeit und später in der 13. Waffen-Gebirgs-Division diente. Gerade in den vier südosteuropäischen Divisionen „Handžar“, „Kama“, „Skanderbeg“ und „Prinz Eugen“ 30 wurden von den Nationalsozialisten auch Kommandeure eingesetzt, die in der habsburgischen Armee bereits Erfahrungen im südosteuropäischen Raum gesammelt hatten; so etwa Artur Phleps, der als Berufsoffizier in der Donaumonarchie Karriere gemacht und sich auf Gebirgskriegführung spezialisiert hatte. Im Zweiten Weltkrieg war er zuerst als Divisionskommandeur der 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division „Prinz Eugen“ eingesetzt und ab Mitte 1943, mit dem Aufbau des V. SS-Gebirgskorps, war ihm auch die bosnische Division „Handžar“ unterstellt. Auch in Wirtschafts- und diplomatischen Belangen waren ehemalige k. u. k. Militärs gern gesehen: So der bereits erwähnte Neubacher, der vor seinem Einsatz als „Sonderbeauftragter Südost“ von März 1938 (dem ‘Anschluss’) bis Dezember 1940 Bürgermeister Wiens gewesen war und im Ersten Weltkrieg als Offizier eine aus Kroaten bestehende Kompanie befehligt hatte, oder Franz von Scheiger, der als Generalstabsoffizier in der österreichisch-ungarischen Armee gedient hatte, später Handelsattaché der deutschen Gesandtschaft in Tirana wurde und schließlich politischer Berater für albanische Angelegenheiten beim deutschen Auswär- 27 Ibid., p. 132. 28 Kollegger 2012, p. 57f. 29 Vgl. Neubacher 1956, p. 108. 30 Auch bei den Namen dieser Divisionen versuchten die Nationalsozialisten, Verbindungen zu Geschichte und Tradition herzustellen: “Kama” bezeichnet, wie „Handžar“, einen traditionellen Dolch, “Skanderbeg” ist der Namen des albanischen Nationalhelden Iskander Beg, und mit “Prinz Eugen” versuchten die Vertreter des Dritten Reiches einen Bezug zu Prinz Eugen Franz von Savoyen-Carignan herzustellen, der mit kaiserlich österreichischen Truppen die Festung Belgrad 1717 von den Osmanen erobert hatte. 448 Franziska Zaugg tigen Amt. 31 Dieses Vorgehen zeigt, dass die Nationalsozialisten Wert darauf legten, eine Kontinuität zu Österreich-Ungarn aufrechtzuerhalten und so das Vertrauen der Bosnier (und Albaner) zu gewinnen. Schlussbetrachtungen Letztlich war die Gewalterfahrung, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte, noch um vieles brutaler als jene des Ersten Weltkriegs - wenn sich kriegerische Gewalt überhaupt in solchen Skalen messen lässt. Bernwald beschreibt die daraus resultierende Erfahrung und Erinnerung der in die Kriegshandlungen Österreich-Ungarns im Ersten und des Dritten Reichs im Zweiten Weltkrieg involvierten Bosnier und Kroaten folgendermaßen: „Was war der Unterschiede zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg? Der Erste Weltkrieg bestand, bezogen auf die russische Front, gemäß den Erzählungen und aus der Sicht meines Vaters, aus einer Reihe verbissen geführter Kampfhandlungen, aus denen aber die Menschlichkeit noch nicht ganz verbannt war. Der Zweite Weltkrieg hingegen, den ich selbst miterlebt habe, war erbarmungslos, grausam und unmenschlich.“ 32 Wie gut 25 Jahre vorher die österreichisch-ungarische Armee waren auch die deutsche Wehrmacht und Waffen-SS dem Untergang geweiht: Im Herbst 1944 setzten in der bosnischen Waffen-SS-Divisionen „Handžar“ Massendesertionen ein. 33 Auch hier hatten wohl einige der Deserteure, die in letzter Minute ihr Leben zu retten versuchten, noch das Scheitern und den Untergang der Donaumonarchie am Ende des Ersten Weltkriegs vor Augen. 31 Vgl. ibid., p. 107. Vgl. auch Kasmi, Marenglen: Deutsche Besatzung in Albanien. Potsdam: ZMSBw 2013, p. 13. 32 Bernwald 2012, p. 15. 33 So meldete Horst Wagner im Oktober 1944„Zersetzungserscheinungen“ in der Bosniaken-Division (Leiter Referatsgruppe Inland II Horst Wagner an Gesandtschaft Budapest, 6.10.1944. PAAA Inland IIg R100998). Die Überreste der Division „Hand ž ar“ sollten aufgelöst, die Werbung eingestellt werden; vgl. Gesandter Kasche an AA, 27.10.1944. PAAA Inland IIg R100998, H297359. Auf der Drinabrücke 449 Auf der Drinabrücke Die Geschichte eines Chronotopos Wolfgang Müller-Funk (Wien) Vorbemerkung Ivo Andrić (1892-1975), der Nobelpreisträger, Humanist und Diplomat, der kein serbischer Nationalist im Sinne von Slobodan Milošević gewesen ist, sondern mit den in seinem Roman Na Drini Ćuprija entfalteten Narrativen ein zukünftiges Jugoslawien antizipieren wollte, 1 entzweit heute die Völker des ehemaligen südslawischen Staates. Während ihn vor allem die Serben als einen der Ihren feiern, soll die Lektüre seines bekanntesten Romans in bosnisch-muslimischen Schulen wenigstens zeitweise untersagt worden sein. Das muss nicht mit dem Autor und seinen heute historisch gewordenen Intentionen zusammenhängen, sondern hat ganz offenkundig damit zu tun, dass die Stadt Višegrad, die Stadt an der Drina-Brücke, infolge der Vertreibungen der ansässigen muslimischen Bevölkerung heute beinahe eine rein serbische Stadt ist. Mittlerweile wurde ein neuer Stadtteil auf Betreiben des Filmregisseurs Emir Kusturica Andrićgrad benannt. 2 Die Brücke als Chronotopos Chronotopos, Zeit-Raum, nennt Michael Bachtin jene Schnittstelle zwischen Raum und Zeit, in der sich beide verschränken und dadurch verdichten: die Zeit, der ein konkreter Raum zugewiesen wird, in der sie zum Ereignis wird, der 1 Kodrić, Sanjin: „Überschwang und Martyrium“. Das Attentat von Sarajevo und seine Reflexionen im literarischen Werk von Ivo Andrić. In: Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg.): The Long Shots of Sarajevo 1914. Ereignis - Narrativ - Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 22), pp. 405-422. 2 Vgl. http: / / www.andricgrad.com. 450 Wolfgang Müller-Funk Raum, der durch die Zeit gefüllt und konkret wird. 3 Unabhängig voneinander sind beide entweder unermesslich oder leer. Der russische Theoretiker gibt auch Beispiele für prominente Chronotopoi, die das Genre und die narrative Struktur prägen: den Weg und die Straße, die Schwelle und damit verbundene Phänomene (Treppe, Vorzimmer, Korridor), die Provinzstadt, den Platz, das Schloss. 4 Andere ließen sich hinzufügen: die moderne Großstadt, das Haus und eben die Brücke. Nicht wenige, wenn auch nicht alle dieser Chronotopoi sind passager; in ihnen obwaltet die Bewegung im Raum, während Schloss und Haus stationär sind und ihre Dynamik dem Umstand verdanken, dass sie zugleich Orte der Erinnerung sind, deren Vektor in die Vergangenheit weist. Die Brücke, die in Andrićs Roman mehr ist als ein Thema, ist zweifelsohne ein solch passagerer Ort. Mit der Straße hat sie gemein, dass sie ein Unterwegs von einem zum anderen Ort impliziert; sie führt tiefer in das Osmanische Reich hinein. Vornehmlich aber ist sie eine Schwelle, ein Übergang von einem Raum zum anderen, der durch eine Grenze markiert ist, hier einen Fluss, die Drina, den sie überwindet; zugleich bestätigt sie gleichsam die Trennung von zwei Räumen, denen im Roman von Andrić eine soziale und symbolische Bedeutung zukommt. 5 Das wird ganz zu Anfang des Romans von ihrem Chronisten auch betont, wenn es heißt, dass die christlichen Kinder, die auf dem linken Drina-Ufer geboren sind, schon in den ersten Tagen ihres Lebens über die Brücke zur Taufe in die Kirche gebracht werden. Auf der rechten Seite der Drina befindet sich also das Zentrum der Stadt und damit neben der Moschee auch die christliche, orthodoxe Kirche. So spiegelt sich, wie in allen vormodernen Raumordnungen, der soziale und symbolische Raum im Territorium, lässt diesen als gleichsam objektiv erscheinen. Georg Simmel hat in seiner essayistischen Miniatur Brücke und Tür die pathetische Ambivalenz der Brücke als eine „spezifisch menschliche Leistung“ des Wegebaus beschrieben: Im Bau der Brücke gewinnt diese Leistung ihren Höhepunkt. Hier scheint nicht nur der passive Widerstand des räumlichen Auseinander, sondern der aktive einer besonderen Konfiguration sich dem menschlichen Verbindungswillen entgegenzustel- 3 Bachtin, Michail: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Übers. von Michael Dewey. Frankfurt/ M.: Fischer 1989, p. 8. 4 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Kulturtheorie. Tübingen: Francke/ UTB 2 2010, pp. 311-331. 5 Vgl. Previšić, Boris: ‚Broken Imperial Narratives’ als Raumstruktur. Ivo Andrić und Joseph Roth. In: Babka, Anna / Finzi, Daniela / Ruthner, Clemens (Hg.): Die Lust an der Kultur/ Theorie. Transdisziplinäre Interventionen. Für Wolfgang Müller-Funk. Wien: Turia + Kant 2012, pp. 450-461. Auf der Drinabrücke 451 len. Dieses Hindernis überwindend, symbolisiert die Brücke die Ausbreitung unserer Willenssphäre über den Raum. 6 Was aber die Besonderheit der Brücke ausmacht, ist, dass man sie nicht nur wie jede Schwelle, wie jede Raumöffnung so schnell wie möglich passiert, sondern sich auch auf ihr aufhält, was der serbokroatische Titel Na Drini Ćuprija [ auf der Drina-Brücke] akzentuiert. Man verweilt nämlich auf dieser Brücke, diesem Weltwunder des Osmanischen Reiches, weil - wie die genaue Beschreibung erläutert - die Brücke in der Mitte eine platz- und terrassenartige Weitung hat, die Kapija . Diese bildet eine eigentümliche zweite Mitte der Doppelstadt, einen öffentlichen Ort, auf dem Kinder spielen, Menschen Kaffee trinken und miteinander sprechen, aber auch öffentlich hingerichtet werden. Viel mehr als die vergleichweise abseitige Strudlhofstiege in Heimito von Doderers gleichnamigem Wien-Roman ist die Brücke die Bühne des Lebens einer Stadt, das es im Hinblick auf das hintergründige Thema, die Geschichte Bosniens von 1516 bis 1914, verhandelt. Rhetorisch gesprochen hat die Brücke, das eigentliche Zentrum der kleinen Stadt Višegrad, eine metaphorische und eine metonymische, genauer: synonymische Bedeutung. Sie steht als Metapher für das Verhältnis der Ethnien in der Region, sie ist aber auch eine Welt im Kleinen, die Teil der großen Welt ist. Im Roman finden sich, der Brücke zugeordnet, noch weitere Chronotopoi: der Clan , eine Karawanserei, die erst in der Zeit der österreichischen Besatzung endgültig verschwindet und durch eine Kaserne ersetzt wird, das Hotel der galizischen Jüdin Lottika, die mit der österreichisch-ungarischen Armee ins Land kommt, Kaffeehäuser und Geschäfte. Aber die Brücke, die zugleich ein Platz ist, steht zweifelsohne im Zentrum des Geschehens. Der Originaltitel, der ein altes, aus dem Türkischen stammendes Wort für Brücke (ćuprija ) statt des geläufigen ( most) bewendet, macht von Anfang an die ethnische Zugehörigkeit der Brücke sinnfällig. 7 Die Besonderheit dieses zugleich historischen Romans besteht nicht zuletzt darin, dass der Chronotopos hier zum eigentlichen Helden wird, wobei Erzähler und Autor diesem Helden durchaus ambivalent gegenüberstehen. Nach einem klassischen Modell wird die Geschichte einer Epoche mit dem menschlichen Leben in Analogie gebracht, so auch die Brücke, die metaphorisch und meto- 6 Simmel, Georg: Brücke und Tür. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 12: Aufsätze und Abhandlungen 1908-1918 I. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2001, p. 56. 7 Vgl. hierzu Bergman, Gun: Turkisms in Ivo Andrićs Na Drini Ćuprija Examined from the Points of View of Literary Style and Cultural History. Uppsala: Aktiebolag/ Acta Universitatis Upsaliensis 1969, p. 21. Mit Berufung auf Vladam Nedić meint Bergman, der Titel des Romans stamme von einem muslimischen Volkslied; „Veće hajde gradu Višegradu,/ Da se gradi na Drini Ćuprija./ Osta danas na Drini Ćuprija/ Osta danas, osta dovijeka.“ 452 Wolfgang Müller-Funk nymisch für die regionale Geschichte einer Region im Schnittpunkt verschiedener Kulturen steht. Was der Roman erzählt, ist die Geburt und das Leben der Brücke in osmanischen Zeiten, ihre kulturelle Adaptierung und Erneuerung unter den Österreichern, die gerade den konservativen Muslimen als ein Frevel erscheinen muss, sowie ihre Zerstörung zu Beginn des Ersten Weltkriegs infolge des Beschusses der serbischen Angreifer. Parallel dazu wird ein Erzählbogen gespannt, der von der machtvollen, von christlich-serbischen Widerstand begleiteten Manifestation türkischer Herrschaft über die österreichisch-ungarische Besatzungszeit bis zum Kriegsjahr 1914, der Zerstörung der Brücke, der Besetzung der Stadt durch Serben reicht und mit dem Tod des konservativen muslimischen Kaufmanns Alihodscha endet. So wie die Brücke hat auch der Roman eine ganz eigene symmetrische Architektur, besteht er doch aus drei Teilen, die eben genau diesen Einschnitten entsprechen und die vierundzwanzig Kapitel in exakt drei Teile gliedern. Wie im historisch-literarischen Genre nicht unüblich, beschleunigt sich der Roman bis zur nahen Vergangenheit (1914). So sind die ersten 350 Jahre der Brücke in drei Kapitel komprimiert, wobei der Bau der Brücke einen gewaltigen Umfang des ersten Teils einnimmt. Der zweite Teil spielt zwischen 1878 und 1908, während sich der dritte Teil auf die sechs Jahre von der staatsrechtlichen Annexion bis zum Kriegsausbruch konzentriert. Die Geschichte der Brücke, dieses scheinbar unzerstörbare steinerne Manifest einer machtvollen imperialen Kultur: das sind auch die vielen kleinen Geschichten und Episoden, die sich auf der Brücke, um sie herum, ereignet haben. Diese Menschen kommen und gehen, aber die Brücke, die zum Erinnerungsmonument avanciert, bleibt bestehen. Eine gewaltsame Geburt Dass alle großartigen Werke der Kultur auch solche der Barbarei seien, diese Einsicht von Benjamin und Brecht, ist gleichsam in die ersten Kapitel über die Entstehung der Brücke als Gründungsnarrativ eingeschrieben, in dem es um Blut- und Bauopfer geht. Diese Gewalt trägt natürlich einen Namen: Es ist das Osmanische Reich, das sich in der Brücke manifestiert und präsentiert und so dem Kultprojekt eine zusätzliche Bedeutung verleiht - Symbol einer absoluten Herrschaft zu sein, mit der nicht zu spaßen ist und die keinen Widerstand duldet. So ist die Geschichte der Brücke von Anfang an mit dem verbunden, was man seit Edward Said als Orientalismus begreift, der sich hier aber als anti-imperial versteht. Die eigentliche Geschichte der Brücke beginnt nämlich längst vor ihrer Erbauung, mit dem Jahr 1516, mit visionärem Blick in die Tiefen der Geschichte: Auf der Drinabrücke 453 Das erste Bild einer Brücke, dem es bestimmt war, verwirklicht zu werden, leuchtete, natürlich noch völlig unbestimmt und nebelhaft, in der Phantasie eines zehnjährigen Jungen aus dem benachbarten Dorfe Sokolowitschi an einem Morgen des Jahres 1516 auf, als man ihn auf dem Wege von seinem Dorf zum fernen, strahlenden und fruchtbaren Stambul dort vorüberführte. 8 Dieser Kinderzug nach Istanbul ist ein kollektives Opfer, eine militärisch erzwungene Maßnahme, eine „festgesetzte Zahl christlicher Kinder für den Blutzoll, den Adschami-Oglan“, einzusammeln, wie es im Roman (p. 22/ 21) heißt. Das muslimische Herrschaftssystem schreibt sich durch die Zwangsbeschneidung kleiner Christen und ihre Trennung von ihrem realen und symbolischen Raum in die Körper der Untertanen ein, denn dieser Akt an den nach Istanbul pilgernden Kinder ist nichts als die Unterwerfung unter ein symbolisches Gesetz, das hier das Stigma des Fremden und Inhumanen trägt. Die Beschneidung bildet imaginär wie real eine Trennungslinie zwischen den Ethnien; die Kastration der christlichen Kinder spiegelt die Schmach der marginalisierten Kultur wider. Aber dieser beschnittene, seinem symbolischen Raum gewaltsame entrissene Mensch, wird, in einer augenfälligen Kehrwendung, zu einem großen Staatsmann, zum Schwiegersohn des Sultans. Als Mechmet Pascha Sokoli wird er zum Erbauer eben jener Brücke oder genauer zu jenem Politiker, der in seiner Heimat ein Denkmal nicht nur der osmanischen Herrschaft errichten lässt, sondern auch ein Erinnerungswerk für seine Landsleute setzt. Aber damit wird er als Held dieser Geschichte vollends ambivalent, denn man weiß nicht, wer der Vater der Brücke ist, ein Muslim oder ein Christ. So verherrlicht die Brücke in der Gestalt des christlichen Bauernbuben, der zum islamischen Würdenträger aufsteigt, beide Seiten: man weiß nicht, wem sie gehört. Man kann sie mehrfach deuten: auch als eine klammheimliche Rache, als einen Kassiber des muslimischen Würdenträgers, der insgeheim ein kleiner serbischer Bub geblieben ist. Insofern kann seine Tat im Sinne einer blutigen Machterhaltung, aber auch im Sinn eines verschwiegenen Gründungsmythos gelesen werden, eben unter den extremen Bedingungen einer brutalen ‘orientalischen’ Fremdherrschaft. Die Brücke trennt und verbindet die widerstrebenden Teile auf eine asymmetrische, machtförmige Weise. Wie die Topografie von Stadt und Brücke illustriert, markiert die kulturelle und religiöse Differenz auch eine soziale. „Türken“ - so werden die muslimischen Bewohner der Stadt im Roman durchgängig genannt 8 Andrić, Ivo: Die Brücke über die Drina. Übers. von Ernst J. Jonas. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1962, p. 20 / bzw. Ders.: Na Drini Ćuprija. Belgrad: Prosveta 1963, p. 19.- Im Folgenden werden die Seitennachweise für beide Ausgaben in dieser Reihenfolge im Lauftext angegeben. 454 Wolfgang Müller-Funk - und Christen sind auf verschiedene Räume und Raumdimensionen verteilt, die miteinander kontrastieren: Stadt und Land, Macht und Ohnmacht, Reich und Arm, Oben und Unten, Rechts und Links. In diese doppelte Raumordnung ist auch die Geschichte der Konversion eingeschrieben, des Übertritts der autochthonen Bevölkerung zum Islam, der als eine opportunistische Geste gegenüber der fremden Macht interpretiert wird: „Schön ist es, dem herrschenden, wahren Glauben anzugehören“ (p. 31/ 29). Demgegenüber sind die Fronarbeiter, die die Brücke in härtester Mühsal bauen müssen, Rajas, Christen, Serben, darunter auch der heldische Bauer Radislaw. Die Geschichte der gewaltsamen Errichtung der Brücke und ihrer Opfer wird zweifach erzählt, in Gestalt eines historischen Geschehens und einer mythischen Erzählung, die den Widerstand der christlichen Bevölkerung überhöht. Vom Chronisten wird dieser Mythos durchaus aus dem Wunschdenken - Macht, Größe, Stolz - kritisch erklärt und dessen Pathos damit gemäßigt. Der Mythos vom serbischen Helden weist metakritisch auf die Intensität der Erinnerung und damit des Erinnerten. Sie gleichen sich aber darin, dass sie Opfernarrative darstellen. Dies kulminiert in der Geschichte der Auseinandersetzung zwischen dem grausamen Brückenbauer Abidaga und dem einfachen Bauern Radislaw, der, lange unbemerkt, zusammen mit Freunden den Brückenbau in der Nacht zerstört. Er wird auf dem Plateau der Brücke öffentlich gepfählt und stundenlang gequält. „Türken auf der Brücke… wie Hunde sollt ihr verrecken… wie Hunde umkommen…! “ (p. 57/ 49) Auf den Tod des Märtyrers folgt als Gottesgericht tiefer Frost, der jeden Weiterbau an der Brücke zunächst verhindert. Die Geschichte der Opfer, die dieser Bau fordert, beginnt mit dem Blutzoll des späteren Mechmet Pascha und findet ihre Fortsetzung in der Fronarbeit der christlichen Bevölkerung Višegrads und der Hinrichtung des widerständigen Radislaw. Sie endet mit der Ermordung desjenigen, der die Brücke in seinem Kopf erbaut hatte: Mehmet Pascha. Mit dem Bau der Brücke ist indes ein kollektives Trauma beschrieben, das zwar in den folgenden Kapiteln beiseite geschoben, aber anscheinend nicht vergessen ist. So ist die Brücke Teil einer Herrschaftsgeschichte, die auf der symbolischen Ebene von der Islamisierung begleitet ist und die doch auch eine utopische Dimension, wie sie in der Brückenfunktion symbolisch enthalten, hat. So steht im Hintergrund der Geschichte der Brücke stets auch ein Kampf zwischen Serben und Türken, der im 19. Jahrhundert wieder entflammt. Der Chronist der Brücke ist auch insofern ambivalent, als er zuweilen im Hinblick auf die Bevölkerung der Stadt an der Brücke, deren Namen nur gelegentlich genannt wird, die erste Person Plural - „wir“, die „Unsrigen“ - verwendet und vornehmlich im im letzten Teil des opus magnum doch offen lässt, inwieweit er die als „Türken“ bezeichnete Bevölkerung der Stadt in dieses mit Auf der Drinabrücke 455 einbezieht. Es ist wohl kein Zufall, dass im letzten - achten - Kapitel des ersten Teils, die Geschichte einer stolzen und vornehmen muslimischen Frau erzählt wird, die sich lieber von der Kapija aus in die Drina stürzt als die Ehefrau eines ungeliebten Mannes zu werden: Die Geschichte der schönen Fata wird als Teil des kollektiven Gedächtnisses beschrieben. Habsburg imperial/ kolonial Im zweiten Teil des Romans verändert sich die narrative Matrix, die auch die Geschichte von Opfern und Tätern ist, schlagartig. Wenn die beiden islamischen Würdenträger, Mullah Ibrahim und der Muderis Hussein Effendi, der Pope Nikola und der Rabbiner David Levy auf der Kapija 1878 die Ankunft des k. u. k. Heeres erwarten, so geschieht dies schon im Geist einer resignativen Einmütigkeit. Nach dem Gespräch mit dem österreichischen Obersten befinden sie alle: ‚Ein abscheulicher Kerl, hol´s der Teufel.’ Aus der Stadt hörte man eine Trommel und dann die Trompete der Jägerabteilung, durchdringend und siegreich, mit einer neuen, ungewohnten Melodie. (p. 166/ 141) Die territoriale Kolonialmacht eint die bislang zerstrittenen Lager, wenn auch nicht - auch nicht im Roman - auf Dauer: Überall sind bei allen Furcht. Die einrückenden Schwaben fürchten einen Hinterhalt. Die Türken fürchten sich vor den Schwaben, die Serben vor Schwaben und Türken. Die Juden fürchten sich vor allem und jedem, denn besonders in Kriegszeiten ist jeder stärker als sie. (p. 153/ 130) Aber immerhin erwächst aus dieser neuen Situation - der Besetzung durch eine ganz andere Macht - die Möglichkeit der Verständigung, wie sie in diesem frühen ökumenischen Gespräch zutage tritt und auf ein jugoslawisches Gemeinschaftsnarrativ verweist, das ideologisch verschieden besetzt werden kann, liberal und marxistisch. Mit außereuropäischen kritischen Kolonialisierungsnarrativen gemeinsam hat dieser Teil, dass er die Besatzungszeit als Triumph einer fremden technischen, von den Bewohnern unverstandenen Zivilisation beschreibt, die Straßenbeleuchtung, Straßenreinigung oder Hausnummerierung einführt und vor allem Schule und Bildung fördert. Die ökonomische Situation wird zwiespältig beschrieben, im Sinne eines steigenden Wohlstandes, aber auch steigender Steuern und Preise. Das Bild der neuen Fremdherrscher wird dabei durchaus differenziert gezeichnet; die Bandbreite reicht von Überheblichkeit bis Gutmütigkeit. In der Figur der jüdisch-galizischen Hoteldirektorin Lottika hat der 456 Wolfgang Müller-Funk Chronist sogar eine sympathische Figur der fremden Macht geschaffen. 9 Viele der neuen Errungenschaften, die vor allem von der muslimischen Oberschicht beargwöhnt werden, werden vom Chronisten auch aus einem imperialistischen Kalkül erklärt, nämlich die neuen Untertanen zu integrieren und zu kontrollieren. Mit der Besatzungsmacht kommen andere Völker in die Stadt, die durch die Okkupation multikulturell wird. Vereinfacht gesprochen, kann man sagen, dass die muslimische Bevölkerung, vor allem die ältere Generation, eher zivilisatorischen Ungehorsam übt, die serbische Bevölkerung indes zunehmend nationalen Widerstand leistet. Im dritten Teil, der mit der Annexionserklärung Kaiser Franz Josephs 1908 beginnt, verschärfen sich die Gegensätze nach allen Richtungen: Während die muslimische Bevölkerung an ihren alten Privilegien festhalten möchte und sich mit der österreichisch-ungarischen Herrschaft arrangiert hat, streben die gut ausgebildeten serbischen jungen Leute, die außerhalb Bosniens studieren, zu neuen politischen Ufern, die vom Gegensatz von Sozialismus und Nationalismus geprägt sind. Es ist ein burgenländisch/ westungarisch-serbischer Student, Tomas Galus, der seinem muslimischen Gegenüber Fechim Bachtijarewitsch ein neues nationales Befreiungsnarrativ 10 verkündet, in dem die Nationsbildung das beinahe messianische Versprechen der Wende zum ganz Anderen in sich trägt: ,Du wirst sehen, Fechim’, versicherte der hingerissene Galus seinem Freunde, als sei das eine Angelegenheit dieser Nacht oder des morgigen Tages, ‚du wirst sehen, wir gründen einen Staat, der der wertvollste Beitrag zum Fortschritt der Menschheit sein wird, in dem jede Mühe gesegnet, jedes Opfer heilig, jeder Gedanke eigenwüchsig, getragen durch unsere Sprache und jedes Werk mit dem Siegel unseres Namens gezeichnet sein wird. Dann werden wir Werke schaffen, die das Ergebnis unserer freien Arbeit und Ausdruck unseres Rassengenius sein werden, Werke, denen gegenüber alles, was in den Jahrhunderten der Fremdherrschaft geleistet wurde, wie kleinliche Spielerei erscheinen wird. Wir werden breitere Flüsse und tiefere Abgründe überbrücken. Wir werden neue, größere und bessere Brücken bauen, und sie werden nicht fremde Zentren mit unterjochten Provinzen, sondern unsere Gebiete untereinander und unseren Staat mit der ganzen übrigen Welt verbinden.’ (p. 315f./ 268) Tomas’ humanistisch inspirierter Wiedergeburts-Nationalismus versucht, die soziale mit der nationalen Vision eines zukünftigen, mehr oder minder homogenen postimperialen Staates zu verschränken. Aus dieser Teilperspektive, die indes dem Roman eine stringente narrative Matrix liefert, ist der Untergang der 9 Zum „matriarchalen“ Charakter dieser Figur vgl. Previšić 2012, p. 456. 10 Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien, New York: Springer 2 2008, pp. 225-249. Auf der Drinabrücke 457 muslimischen Welt und der Drina-Brücke kein Drama, sondern ganz im Gegenteil Zeichen einer neuen Zeit. Die nationale Revolution wird so die Schmach der Geburt, die mit dem Bau der Brücke untrennbar verbunden ist, tilgen. Der symbolische Tod der Brücke ist aber auch Teil eines nach-hegelianisch gedachten Geschichtsprozesses. In diesem Sinn wird sie durch den Roman „aufgehoben“: Die große steinerne Brücke, die nach der Absicht und der frommen Entscheidung des Wesirs aus Sokolowitschi wie eines der Kettenglieder des Reiches die beiden Teile der Türkei verbinden und ‚zu seinem Seelenheil’ den Übergang zwischen Westen und Osten erleichtern sollte, war nun wirklich von Ost wie von West gleichermaßen abgeschnitten und wie ein gestrandetes Schiff oder eine verödete heilige Stätte sich selbst überlassen. Mehr als drei Jahrhunderte hatte sie alles ausgehalten und überlebt und unverändert getreu ihre Aufgabe erfüllt, aber die Bedürfnisse der Menschen hatten sich gewandelt und die Dinge verändert; jetzt war ihre eigene Aufgabe ihr untreu geworden. Ihrer Größe, Festigkeit und Schönheit nach hätten noch jahrhundertelang Heere über sie hinwegziehen und Karawanen sich auf ihr aneinanderreihen können, aber im ewigen und unvorausschaubaren Spiel der menschlichen Beziehungen war nun plötzlich die Stiftung des Wesirs verworfen und wie durch Zauber aus dem Hauptstrom des Lebens herausgerissen. Die heutige Bedeutung der Brücke entsprach in nichts ihrem ewig jungen Aussehen und ihren riesenhaften und doch harmonischen Ausmaßen. (p. 292/ 249) Der Zerstörung der Brücke, dieses ambivalenten „jugoslawischen“ Helden, vollzieht sich in zwei Etappen. Zuerst erfolgt ihr symbolischer Tod, durch die Implosion des Osmanischen Reiches und durch die - zu militärischen Zwecken - baulichen Veränderungen seitens der habsburgischen Macht. Wenn diese die Brücke dann im letzten Kapitel zerstört, serbische Freiheitskämpfer die Stadt einnehmen und der muslimische Würdenträger dramatisch effektvoll stirbt, dann signalisiert das, unausgesprochen, das Ende einer Epoche, den endgültigen Tod der Brücke des Mechmet Pascha Sokoli. Das ist ein starkes Ende, aber wie jedes ein vom Erzähler selbst gewähltes, das Bedeutung erzeugt. Nachsatz Der Roman endet 1914, obschon er erst 1945 beendet wurde. 11 Die Zeit, von der aus der Chronist erzählt, wird nicht abgelichtet. Die dreißig Jahre dazwischen sind ausgespart, und es ist nicht müßig, sich die Frage zu stellen, warum diese Auslassung erfolgte, die immerhin das Scheitern der von Tomas formulierten Utopie eines neuen serbisch geführten Nationalstaates am Balkan, die Verbrechen neuer Besatzer - der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten - und 11 Zur Entstehung des Romans vgl. Previšić 2012, p. 452. 458 Wolfgang Müller-Funk einen blutigen Bürgerkrieg umfasst. Aber vielleicht lebte der von Andrić geschaffene Mythos von der Brücke an der Drina, der nach 1945 durch den Partisanenmythos Titos überlagert wurde, gerade von diesen Auslassungen. Zeitweilig kann auch gemeinsames Vergessen - oder vielmehr: Schweigen - einen Zusammenhalt gewähren. Das Vergessen ist ein paradoxer und zugleich unverzichtbarer Aspekt des Erzählens: das gilt übrigens für Andrić wie für Doderer. Andrićs Roman verkörpert, aus der Autor- und der Erzählerperspektive betrachtet, einen humanen, gemäßigt-liberalen Nationalismus des Rinascimento , der zeitweilig mit Titos Sozialismus kompatibel gewesen ist. Dass für die muslimische Bevölkerung die narrative Matrix von Andrić´ Roman heute inakzeptabel erscheint, mag, gerade literarisch, als provokant und undankbar erscheinen, ist aber letztendlich mit Blick auf die große Erzählung des Romans durchaus verständlich. Denn in der Geschichte, die 1914 endet und danach wieder beginnt, ist für sie eigentlich kein Platz vorgesehen, außer einem Anschluss, der alle eigenen Spuren verwischen würde. Der Autor und sein Roman tragen keine Verantwortung dafür, was in den blutigen frühen 1990er Jahren in Bosnien geschehen ist, aber die Tatsache, dass Višegrad heute eine fast rein serbische Stadt und Teil einer serbischen Entität innerhalb eines kleinen, fragilen Landes - Bosnien-Herzegowina - ist, machen, politisch betrachtet, zentrale Elemente der Erinnerungsarchitektur des Romans für den jetzigen Staat dysfunktional. Kritisch, das heißt nicht im Sinne einer Erfindung einer kleinen bosnischen oder einer etwas größeren serbischen Nation gelesen, besitzt der Roman durchaus ein beträchtliches Kapital, insbesondere im Hinblick auf das Thema von Trauma, Gewalt und Erinnerung. Gerade weil er keiner multiethnischen Romantik huldigt, lässt er sich als Medium einer Kulturanalyse begreifen, in der der Konnex von Macht, Gewalt, Trauma und Erinnerung, wie er beinahe (und doch zugleich beängstigend) aus dem 19. ins 21. Jahrhundert weht, begreifen. Der Engel der Geschichte kann zuweilen sehr grausam sein; diesem Aspekt des Benjamin'schen Philosophems haben wir bislang zu wenig Augenmerk geschenkt. Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion Ingeborg Bachmanns Aufarbeitung des (post)imperialen südslawischen Erbes in Drei Wege zum See Boris Previšić (Luzern) Den wohl wichtigsten Wendepunkt zwischen habsburgischem Mythos und Peter Handkes ‚Bekehrung‘ zu einer landschaftlich induzierten Poetologie bildet Ingeborg Bachmanns letzter Text, die Erzählung Drei Wege zum See . 1 Bereits im Roman Malina kommt die Titelfigur zwar von der jugoslawischen Grenze, doch ist die genaue geografische Herkunft noch nicht von Belang. Vielmehr muss diese im Unbekannten belassen werden, damit sie die Rolle des Exotischen und Liminalen übernehmen kann. Im Unterschied zur unvollendet gebliebenen Skizze Gier handelt es sich beim ‚Miniaturroman‘ Drei Wege zum See innerhalb des Todesarten -Zyklus und der Simultan -Erzählungen um ein Vermächtnis der Autorin, welches sie vor ihrem Tod in Rom am 17. Oktober 1973 als letztes entworfen und noch abgeschlossen hat. 2 Darin spielt die topografische Verortung der Sehnsuchtsrichtung eine wichtige Rolle, denn sie ermöglicht einen elliptischen Umgang mit der Zeit, bei dem die spezifische österreichische Erfahrung der beiden Weltkriege in einer scheinbaren nostalgischen Utopisierung der kakanischen Peripherie im Süden kulminiert. Die Zeitlücke im Text, d. h. die historische Auslassung der fünfzig Jahre zwischen 1918 und 1968, korreliert mit einer topografischen Projektionszone. Obwohl biografische Spuren auf Stationen eines Lebensrückblicks der Autorin verweisen, steht die personale Erzählerin, die international zwischen Wien, Paris und New York tätige Fotojournalistin Elisabeth Matrei zur Autorin und zu 1 Zitiert wird nach Bachmann, Ingeborg: Drei Wege am See. In: „Todesarten“-Projekt. Kritische Ausgabe. Unter Leitung von Robert Pichl hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Bd. 4: Der ‘Simultan’-Band und andere späte Erzählungen. München, Zürich: Piper 1995. Im Folgenden im Lauftext mit der Sigle TP 4 angegeben. 2 Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaft unter Wahrung des Briefgeheimnisses. München: dtv 2003, p. 398. 460 Boris Previšić anderen Gestalten der Fiktion in einem kontrafaktischen Verhältnis. 3 Die Figuren und Ereignisse sind verschiedentlich verklausuliert; entsprechend vorsichtig ist die Erzählung vor dem biografischen Hintergrund zu deuten. Für unseren Kontext als fruchtbarer erweist sich der poetologische Bezug der Sprachfindung, welche aber ihrerseits auf die topografische Induktion, die das Motto der Erzählung vorgibt, angewiesen ist. Zum Leben der Protagonistin im internationalen Kontext, der meist negativ konnotiert ist, bildet der regionale Bezug zur österreichischen Provinz, zu Klagenfurt, wohin sie, ungefähr fünfzig Jahre alt, für eine Woche zurückkehrt, um ihren verwitweten Vater aufzusuchen, den Kontrapunkt. Die Entfremdung vom Kindheitsort reflektiert sich in Rückblenden auf das bisherige Leben, auf verflossene und immer öder werdende Liebesbeziehungen und vor allem in einer profunden Sprach-, Lebens- und Moralkritik an ihrer Tätigkeit als Journalistin. Ein eigener preisgekrönter Artikel über Abtreibung bildet den Gegenstand ihres Überdrusses an automatisierten Aussagen und Themen (vgl. TP 4, p. 420). Damit verortet die Erzählerin ihre Erzählzeit in der Jetztzeit mit dem Stichdatum 1968, indiziert sowohl durch die Wanderkarte als auch durch die politischen Ereignisse in Paris. Die journalistische Abgebrühtheit, welche die Medien im Umgang mit dem Elend dieser Welt auszeichnet, ist für die Erzählerin Indiz für die moralische Abstumpfung. Zwar vermitteln Augenzeugenberichte aus Algerien und Indochina das aktuelle Zeitgeschehen - es geht um die kolonialen Ablösungen und die Stellvertreterkriege in der Dritten Welt -, doch sie erfassen die Essenz eines historischen Bewusstseins nicht. Dank Jean Amérys Essay Über die Tortur gelangt die Protagonistin zur Einsicht, dass man „durch die Oberfläche entsetzlicher Fakten zu dringen“ brauche: „[…] [U]m diese Seite zu verstehen, die wenige lesen würden, bedurfte es einer anderen Kapazität als der eines kleinen vorübergehenden Schreckens, weil dieser Mann [= Améry, B.P.] versuchte, was mit ihm geschehen war, in der Zerstörung des Geistes aufzufinden und auf welche Weise sich wirklich ein Mensch verändert hatte […]“ (TP 4, p. 389f.). Im Nachruf Jean Amérys in seiner Rezension vom 8. November findet man eine Replik auf diese Textstelle. 4 Da- 3 „Paris wirkt wie ein überdimensioniertes Wien und New York wie eine Potenzierung von Paris.“ (Reitani, Luigi: „Heimkehr nach Galicien“. Heimat im Werk Ingeborg Bachmanns. In: Agnese, Barbara/ Pichl, Robert (Hg.): Topografie einer Künstlerpersönlichkeit. Neue Annäherungen an das Werk Ingeborg Bachmanns. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, pp. 31-46, zit. p. 40.) 4 Vgl. Améry, Jean: Trotta kehrt zurück. Über Ingeborg Bachmanns Novellenband „Simultan“. In: Die Weltwoche 45/ 40, 8. November 1972. Vgl. Weigel 2003, p. 331; vgl. auch Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Reinbek: Rowohlt 1999, p. 161. „Der Tag, an dem Jean Améry in Salzburg den Freitod wählte, war der 17. Oktober 1978, genau der fünfte Todestag Ingeborg Bachmanns.“ Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion 461 bei werden personale Erzählinstanz und Autorin deckungsgleich, und es wird deutlich, wie sich Ingeborg Bachmann gerade mit dieser Erzählung einerseits in Absetzung von den „poetische[n] Verfahren der Enthistorisierung ihrer frühen Lyrik“, 5 andererseits in einer bewussten Distanzierung von einem zu oberflächlichen Aktualitätsbezug in die Geschichte einschreibt. Dazu greift die Erzählerin auf Personen wie Trotta zurück, welcher als Randfigur immer schon gerade wegen des Geschichtsgangs exterritorialisiert ist. Der Selbstmord dieser großen Liebe Elisabeths lässt sich ebenso auf den Freitod Paul Celans im April 1970 wie auf denjenigen Peter Szondis im November 1971 münzen. 6 Damit sei nur angedeutet, in welchem Spannungsfeld und mit welch akribischer Genauigkeit die historische Faktualität zur Sprache gebracht wird, auch wenn sie - gerade wegen des Parlando-Stils der Erzählung - „nur“ innerhalb eines imaginären Projektionsraums poetologisches Potential entwickeln kann, welches wiederum seinerseits zu entschlüsseln ist. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht neben dem in der Literaturwissenschaft schon gut aufgearbeiteten intertextuellen Bezug zu Joseph Roths Imaginationen Österreich-Ungarns in den beiden Romanen Radetzkymarsch (1932) und Die Kapuzinergruft (1938) 7 vorab der dadurch induzierte südslawische Aspekt, der relativ vage und oftmals scheinbar unvermittelt auftaucht. Die imperiale Reminiszenz, welche Franz Joseph Eugen Trotta mit sich bringt, den Elisabeth in Paris kennenlernt und dessen Name schon für sich spricht, ist zunächst als obligater Abgrenzungsreflex Österreichs gegenüber Deutschland zu verstehen. Dabei geht es nicht einfach um die allgemein bekannte nostalgische Bezugnahme auf die Reichsgeschichte vor 1918, um die Opferrolle im Zusammenhang mit dem Anschluss 1938 an Nazi-Deutschland zu unterstreichen, sondern um eine noch tiefer greifende Vision von Deutschlands sprachlicher Vernichtung einerseits und um seine ökonomische Omnipräsenz 5 Weigel 2003, p. 243. 6 Trotta sei eine „vage Literarisierung Paul Celans“, s. Reitani, Luigi: Annäherung und Widerstand. In: Burdorf, Dieter (Hg.): „Im Geheimnis der Begegnung“. Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Iserlohn: Inst. für Kirche und Gesellschaft 2003, pp. 87-95. 7 Offensichtlich war dieser intertextuelle Bezug nicht in die ursprüngliche Konzeption der Erzählung eingeplant, deren erster Titel noch „Abschied vom See“ lautete (TP 4, p. 593). Die Forschungsliteratur zur Intertextualität zu Joseph Roth umfasst inzwischen folgende Titel: Omelaniuk, Irena: Ingeborg Bachmann’s Drei Wege zum See. A Legacy of Joseph Roth. In: Seminar 19/ 4 (1983), pp. 246-264; Lensing, Leo A.: Joseph Roth and the Voices of Bachmann’s Trottas. Topografy, Autobiografy, and Literary History in ‘Drei Wege zum See’. In: Modern Austrian Literature 18/ 3-4 (1985), pp. 77-90; Dollenmeyer, David: Ingeborg Bachmann Rewrites Joseph Roth. In: Modern Austrian Literature 26/ 1 (1993), pp. 59-74; Dippel, Almut: „Österreich - das ist etwas, das immer weitergeht für mich“. Zur Fortschreibung der ‘Trotta’-Romane Joseph Roths in Ingeborg Bachmanns ‘Simultan’. St. Ingbert: Röhring 1995. 462 Boris Previšić im Nachkriegsösterreich andererseits. Sollte es nach Trotta gehen, hätte in Jalta beschlossen werden müssen, dass die Deutschen „nicht mehr deutsch sprechen dürfen“, sondern nur noch englisch oder russisch. Zu „peinlich“ seien die festen Wendungen, zu sehr „steckt“ dieser „Jargon“ „in ihnen“ (TP 4, p. 395). Mit diesem Gedankenspiel folgt Trotta wohl am radikalsten Adornos Forderung, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch. Elisabeths Vater wiederum klassifiziert sowohl die deutschen Neuzuzüger als auch die deutschen Touristen als „Okkupanten“ (TP 4, p. 435): „Den Krieg hatte sie verloren, aber nur scheinbar, jetzt eroberten sie Österreich wirklich, jetzt konnten sie es sich kaufen, und das war schlimmer […]“ (TP 4, p. 446f.). Mit solchen Aussagen erinnert der Vater Elisabeth an Trotta, der aber selbst mit seiner eigenen Erfahrung nach 1938 die Österreicher nicht in Schutz nimmt. Der habsburgische Mythos dient in diesem Fall nicht mehr dazu, den Opfer-Mythos im Zusammenhang mit Österreichs Anschluss zu legitimieren. Im Gegenteil: Wenn er von seiner Entnazifizierungs-Erfahrung als Zwanzigjähriger, als französisch naturalisierter Soldat im besetzten Heidelberg erzählt, dann attestiert er den „prominenten Mördern“ nicht mehr als „Idiotie“: Die Deutschen seien „nur völlig verdaddert und bieder gewesen, wirkliche Biedermänner, bei denen […] ein Kurzschluß nach dem anderen eintreten kann“ (TP 4, p. 396). Bei den Interviews, die er für die Franzosen dolmetscht, tauchen auch zwei Österreicher auf; „denen war die Gemeinheit, der Genuß an jeder erdenklichen Brutalität, wirklich in die Visagen geschrieben […]“ (TP 4, p. 396). Gerade der habsburgische Mythos, die Herkunft „aus einem Operettenland“, macht in den Augen Trottas - im Unterschied zur Einschätzung der französischen Entscheidungsträger mit ihrer „logique française“ (TP 4, p. 396f.) - die Opferrolle nicht gerade einfach, denn „es war eben kompliziert zu sagen, auf welche Weise, mit welcher Geschichte, dieser amputierte Staat ein Opfer geworden war“ (TP 4, p. 397). Damit rückt zusehends der Protagonist Trotta und dessen Perspektive in den Vordergrund. Den Auftritt als siegreicher französischer Soldat im Nachkriegsdeutschland nimmt er mit Humor: „ausgerechnet ich, ein Trotta, wo wir die geborenen Verlierer sind […]“ (TP 4, p. 396). In dieser Selbstanspielung wird die Ambiguität der österreichischen Opferrolle manifest: Einerseits thematisiert sie das militärische Schicksal der Monarchie, die Niederlage von Solferino 1859, aus der paradoxerweise das Geschlecht der Trottas siegreich hervorgeht und in den Adel aufsteigt, weil der Bruder des Großvaters vom Ich-Erzähler in der Vorgeschichte zum Roman Die Kapuzinergruft „dem Kaiser Franz Joseph […] das Leben gerettet hat“: er ist der „Held von Solferino“. 8 Andererseits sind 8 Roth, Joseph: Die Kapuzinergruft. Roman. Berlin: Verl. der Nation 1990, p. 6. Im Folgenden im Text mit der Sigle KG nachgewiesen. Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion 463 gerade die Verwandtschaftsverhältnisse wiederum verwickelt und ausschlaggebend dafür, in welcher Genealogie sich Elisabeths Trotta einordnen lässt. Nach seinem „Selbstmord“ in Wien taucht bei der noch nichts ahnenden Elisabeth der Journalist Mühlbauer 9 auf, der vermutet, „Graf Trotta“ sei der „Ururenkel des Helden von Solferino“. Der habsburgische Mythos wird in diesem journalistischen Diskurs implizit als Einheit zwischen Volk und Elite, zwischen den einzelnen Völkern und zwischen Beherrschenden und Beherrschten gewertet. Dagegen hält Elisabeth „ärgerlich, es habe nie irgendwelche Grafen Trotta gegeben, und falls er [der Journalist] diese sagenhaften Trotta meine, die geadelt worden waren, eines Mißverständnisses wegen, dann seien die längst ausgestorben, schon 1914, und es gebe natürlich Nebenlinien, aber die seien nicht adlig, und einige sollen noch da unten leben in Jugoslawien […]. Was für ein Unsinn, sein Großvater war ein Rebell und kein treuer Diener seines Herrn wie die Solferino-Nachkommen“ (TP 4, p. 404f.). Damit entwirft die Erzählerin nicht einfach eine Gegengeschichte, sondern beruft sich auf die genauen Verwandtschaftsverhältnisse bei Joseph Roth. Dort ist der Vater des Ich-Erzählers „ein Rebell und ein Patriot“, der eine slowenische Partei zu gründen beginnt und Österreich-Ungarn reformieren will: „Er träumte von einer Monarchie der Österreicher, Ungarn und Slawen“ (KG, p. 6f.). Die trialistische Neuordnung, der sich auch Thronfolger Franz Ferdinand verschreibt und dennoch (wohl absurderweise und aus Ahnungslosigkeit) dem Attentat in Sarajevo zum Opfer fällt, scheint die Lösung des gordischen Knoten darzustellen. Damit setzt die Erzählerin von Bachmanns opus ultimum die Vision Joseph Roths fort, an welche der Autor selbst nach dem Niedergang der Monarchie nicht mehr zu glauben vermochte, welche aber seine Figuren in direkten Reden formulieren. Zentral sind die Äußerungen des polnischen Grafen Chojnicki, welcher den Zusammenhalt des Reiches über die Peripherie definiert. Es seien „die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Galizianer, die Kaftanjuden aus Boryslaw, die Pferdehändler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajevo, die Maronibrater aus Mostar, die Gott erhalte singen“ (KG, p. 16). Dagegen würde die deutschsprachige Bevölkerung „die Wacht am Rhein“ intonieren. Was Joseph Roth angesichts des Anschlusses Österreichs Chojnicki sagen lässt - „Österreich wird an dieser Nibelungentreue zugrunde gehen […]“ (ibid.) 10 - entspricht der Folie, auf der die Erzählung Ingeborg Bachmanns operiert. 9 Der Journalist Mühlbauer entspricht in seiner Funktion dem fast gleichnamigen Journalisten Mühlhofer, welcher in Malina den Erzähler interviewt. Vgl. Bachmann, Ingeborg: Werke III: Todesarten. Malina und unvollendete Romane. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München, Zürich: Piper 1978, p. 90. 10 Interessanterweise lassen sich alle idealisierten Peripherieorte im slawischen Raum und davon mehr als die Hälfte im südslawischen Raum lokalisieren. 464 Boris Previšić Entscheidend ist nicht die nostalgische Rückwendung, sondern das neue Lebensgefühl, welches der Pariser Trotta Elisabeth vermittelt. In ihrer Kindheitslandschaft, „auf dem Höhenweg Nummer. 1“, erinnert sie sich an die „große Liebe, die unfaßlichste, schwierigste zugleich, von Mißverständnissen, Streiten, Aneinandervorbeisprechen, Mißtrauen belastet“ (TP 4, p. 383). Die topografische Erkundung korreliert so in erster Linie - wie das die Wegbezeichnung suggeriert - mit der zentralen und zugleich komplizierten Figur Trotta, welche „sie zum Bewußtsein vieler Dinge brachte, seiner Herkunft wegen“ (TP 4, p. 383). Doch der Erinnerungsort induziert gerade nicht ein neues oder zumindest neu codiertes Heimatgefühl und eine neue Verortung. Die Liebe zu Trotta, zum aus „Anschluss-Österreich Exilierten“ 11 , macht sie selber, zuvor „eine Abenteuerin“ der großen Welt und der Welt der Großen, zur „Exilierte[n]“ (TP 4, p. 383f.). Mit dieser Fremderfahrung koinzidiert die Familiengeschichte Elisabeths, der Matreis. Ihr Vater ist nur noch „ein Relikt“ im neuen Österreich, ihr Bruder geht dank seiner Heirat in England „noch sicherer in […] Distanz“: „[W] as sie zu Fremden machte überall, war ihre Empfindlichkeit, weil sie von der Peripherie kamen und daher ihr Geist, ihr Fühlen und Handeln hoffnungslos diesem Geisterreich von einer riesigen Ausdehnung gehörten […]“ (TP 4, p. 366f.). Was aber in Bezug auf Trotta verbalisiert wird, bleibt bei der nächsten Liebe, bei „ihrer ganz großen Liebe“, zu Manes aus Zlotogrod, zum „falsche[n] Franzose[n]“ (TP 4, p. 407ff.) unartikuliert: „[E]s bleibt ihm verborgen, wie ihr Abschied von Trotta und ihre Auferstehung durch ihn und ein Wort wie Zlotogrod ineinandergegriffen hatten.“ (TP 4, p. 412) Der ironisierende Rückgriff auf den Trotta-Nachfolger Manes und damit auf den Juden Manes Reisinger, den Fiaker Joseph Roths, bleibt in seinem ungelösten Affekt symptomatisch für die ganze Erzählung, welche das jüdische Thema, das in der intertextuellen Vorlage omnipräsent ist, ansonsten systematisch ausklammert. Die trialistische Topografierung Wiens, Galiziens und Sloweniens in Form der „drei Wege“ der Erzählung wird um „dieses Land“, „die nördliche Schwester Sloweniens“ 12 , um das „biblische Land“ „Galicien“ 13 gekappt. Der Blick der Erzählerin nach Süden impliziert somit immer auch jenen nach Norden bzw. in den „fernen Osten der Monarchie“; 14 der intertextuelle Bezug ist somit nur als Übernahme einer ihr bereits eingezeichneten Topografie samt ihrer Stereotypen zu verstehen. Wenn Elisabeth „auf den See“ schaut, „der diesig unten lag und über die Karawanken hinüber, wo gradewegs in der Verlängerung einmal Sipolje gewesen sein mußte“, welche gemäß dem Pariser Trotta „so ver- 11 Weigel 2003, p. 405. 12 Roth, Joseph: Radetzkymarsch. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, p. 123. 13 Höller 1999, p. 24. 14 Roth, Joseph: Das falsche Gewicht. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, p. 11. Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion 465 flucht gesund seien“ (TP 4, p. 391), dann geht es weniger um ein Slowenien, das „im Unterschied zu dem es umgebenden Nationen mit keiner aufdringlichen Hypothek von Geschichte, Kultur und Tradition belastet sei“, 15 als vielmehr um einen gedoppelten Bezugsrahmen, einerseits um Joseph Roths Figur des Vetters Joseph Branco (vgl. KG, p. 12), welche quasi eine Generation später nochmals in der Schlusspassage der Erzählerin auftaucht, andererseits um den untergegangenen Ort Sipolje, der wie Zlotogrod „nicht mehr existiert“ (KG, p. 24) und schon bei Roth unter „imaginärer Ort“ zu rubrifizieren ist. 16 Der nostalgische Blick auf das „Dreiländereck“, „wo es noch Bauern und Jäger gab“, romantisiert nicht; die ‚Unvernunft‘ der Monarchie, wo selbst „die Revolutionäre […] ganz erschrocken gewesen [seien], wie es dann dieses verhaßte, aber mehr noch geliebte Riesenreich nicht mehr gab“, induziert vielmehr „ihre Moral“, welche aus der südöstlichen Peripherie kommt (vgl. TP 4, p. 417). Das Land der Gegenwart „Jugoslawien“ (TP 4, p. 404) verklärt die Erzählerin im Unterschied zu Peter Handkes Figuren gerade nicht; obwohl es nur marginal erscheint, so tritt es nicht das imperiale habsburgische Erbe an. Wenn von „Moral“ die Sprache ist, dann geht es um eine verdeckte Hypothek - die in den bisherigen Forschungsarbeiten zu dieser Erzählung noch nicht formuliert worden ist. Sie lässt sich zwar an die intertextuelle Verbindung zu Joseph Roth anschließen, erweitert aber den Komplex erheblich. „Auf dem Höhenweg 1 kam sie wieder zur Zillhöhe […], schaute kurz auf den See hinunter, aber dann hinüber zu den Karawanken und weit darüber hinaus, nach Krain, Slawonien, Kroatien, Bosnien, sie suchte wieder eine nicht mehr existierende Welt […].“ Der Erinnerungsakt selber ist in eine iterative Struktur der Wanderungen am Kindheitsort einerseits und der Suche nach dem nostalgischen Ort andererseits eingebunden. Doch dazwischen erweitert sich der Blick vom Sichtbaren, vom „See“ und von den „Karawanken“, zum Unsichtbaren, zu den südslawischen Provinzen Österreich-Ungarns, zunächst zum cisleithanischen „Krain“, dann zum transleithanischen „Slawonien“ und „Kroatien“ und schließlich zum gemeinsam von Wien und Budapest verwalteten „Bosnien“. Die Trennung vom Pariser Trotta schreibt sich in die „Geistersätze […] von dort unten, aus dem Süden“ ein. Im Erinnern imaginiert sich nochmals das Verschwinden, dessen Reste an den Vater geknüpft sind, denn seine Hochzeitsreise führt ihn „durch das Rosental und über den Loiblpass nach Bled“, und „[s]eine letzte Reise hatte er allein und nach Sarajevo gemacht mit siebzig Jahren“ (TP 4, p. 414). In der Textstufe II führt die Hochzeitsreise noch unverdächtig „zu Fuß durch die Wachau“, wobei 15 Šlibar, Neva: Das Eigene in der Erfindung des Fremden. Spiegelgeschichten. Rezeptionsgeschichten. In: Brandtner, Andreas / Michler, Werner (Hg.): Zur Geschichte der österreichisch-slowenischen Literaturbeziehungen. Wien: Turia + Kant 1998, pp. 367-387, p. 379. 16 Müller-Funk, Wolfgang: Joseph Roth. München: Beck 1989, p. 60. 466 Boris Previšić Elisabeths Mutter tschechischstämmig ist, welche, neu übersiedelt nach Gmünd, Österreicherin bleibt. Für Herrn Matrei stellt es „den dümmsten Fehler aller Zeiten“ dar, dass Österreich im Unterschied zur Sowjetunion nicht mehr als Vielvölkerstaat weiterbestehen ‚darf ‘; und in seinen Augen „bestand die Geschichte aus den diffizilen Problemen um die Dobrudscha [heutige rumänische und bulgarische Schwarzmeerküste] und die sieben jugoslawischen Provinzen [der Zwischenkriegszeit: Slowenien, Kroatien und Slawonien, Dalmatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Vojvodina und Montenegro, B.P.]“ (TP 4, p. 315). 17 Damit bleibt die (süd)slawische Affizierung des Vaters noch unfokussiert - im Gegensatz zu seinen Ausführungen über seine letzte Reise nach „Sarajewo“ in derselben Textstufe: „[W]ie voller Gastfreundschaft dieses neue Land noch war, aber am liebsten hielt er sich in Sarajewo auf und beschrieb ihr sachlich, wie er sich alles hatte erklären lassen und genau die Stelle, an der es geschehen war, und wie anders sich das an dem Ort ausnahm als in den Beschreibungen, die nicht zureichend waren, obwohl er viele kannte“ (TP 3, p. 323). Offenbar interessiert Herrn Matrei in erster Linie das für ihn und die ganze Doppelmonarchie traumatische Attentat auf Franz Ferdinand am 28. Juni 1914. So erfährt die Imagination der Erzählerin durch den Vater einen konkreten Beweggrund. Die Sehnsucht scheint zwar klar in eine Richtung zu zielen, aber in ihrer Aussagekraft dennoch vage zu bleiben und ein Bild stereotypisierter südslawischer Figuren als Resultat einer (post)kolonialen Imagination zu perpetuieren. Im kritischsten und kulturalistisch wohl avanciertesten Beitrag zum Todesarten -Projekt ordnet Zorana Gluscevic sämtliche Personen aus dem jugoslawischen Bereich in eine Reihe ein, welche nur so von Primitivität strotze: von Franza über Mihailovics und Sascha bis hin zu Branco Trotta. „The majority of South Slavs […] are depersonalized, dislocated, postcolonial subjects.“ 18 Das Urteil über Ingeborg Bachmann selbst fällt entsprechend hart aus: „Thus while Bachmann did attempt to challenge gender roles, she nevertheless reinforced racial, and national ones.“ 19 So richtig die Beobachtung auch sein mag, so falsch liegt die Analyse in ihrer Schlussfolgerung. Denn in ihrer berechtigten Brisanz unterschlägt sie geflissentlich, aus welcher Perspektive die Figuren beschrieben werden und in welchem funktionalen Zusammenhang eines übergeordneten Narrativs (der bei Ingeborg Bachmann nicht gerade leicht zu bestimmen ist) sie stehen könnten. 17 Vgl. dazu auch den Kommentarteil: TP 4, p. 630. 18 Gluscevic, Zorana: Ingeborg Bachmann’s Sentimental Journey through the „Haus Österreich“ and (Post)Colonial Discourse in ‘Drei Wege zum See’. In: Seminar 38/ 4 (2002), pp. 344-363, p. 353. 19 Ibid., p. 363. Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion 467 Damit wird der südslawische Aspekt der Erzählung Drei Wege zum See ohne den intratextuellen Bezug zur ausgelagerten und Fragment gebliebenen Binnenerzählung um Elisabeth Mihailovics ( Gier ) nicht zur Gänze verständlich. Elisabeth Matrei begegnet auf dem Rückweg von einer ihrer Wanderungen Elisabeth Mihailovics mit einem jungen Mann, „der angezogen war wie ein Förster, etwas primitiv aussah“ (TP 4, p. 392) - eine typische Stereotypisierung, die aber gerade nicht auf das Konto Ingeborg Bachmanns verbucht werden darf - und erfährt wenige Tage darauf aus der Lokalpresse vom „Eifersuchtsdrama auf [der] Millionärsvilla“, bei dem Bertold Rapatz, „einer der drei reichsten Männer Österreichs, wenn nicht der reichste“, „seine [dritte] Frau [Elisabeth Mihailovics] und irgendeinen slowenischen Forstgehilfen […] und sich selber“ erschießt (TP 4, p. 449f.). 20 Dieser Vorfall wirkt in der Erzählung Drei Wege zum See lediglich handlungsmotivierend, insofern Elisabeth Matrei darauf beschließt, schleunigst wieder aus Klagenfurt abzureisen. Dennoch fällt ihr beispielsweise auf, dass Rapatz als „Schutzwall gegen Neugierige“ „fast nur Slowenen [und] einige Kroaten“ angestellt hat (TP 4, p. 454). Entscheidend ist aber, dass sie gegen die Medienberichterstattung Sturm läuft - was ihr Vater wiederum nicht nachvollziehen kann: „[U]nsere brave Gendarmerie wird nie herausfinden, was da wirklich los war, denn es stimmt alles nicht, was die sich in ihren beschränkten Hirnen zusammenreimen, da stimmt überhaupt nichts“ (TP 4, p. 452). Dieser Zornausbruch wird aber nicht weiter begründet, bleibt völlig in der Luft hängen und lässt sich höchstens in den allgemeinen Kontext der Medienkritik einordnen. Doch das ist nicht das Gelbe vom Ei. Vielmehr ertönt an dieser Stelle eine Stimme, welche an die Gegenwelt im Traumkapitel von Malina erinnert, an das vielsprachige Nein, welches einen Akt der letzten Verzweiflung darstellt. 21 Andeutungsweise klärt sich der Sachverhalt im Fragment Gier, dessen Veröffentlichung bereits geplant war. 22 Obwohl davon auszugehen ist, dass die überlieferte Version eine Fassung ‚vorletzter Hand‘ darstellt, ist die Erzählung schon so weit fortgeschritten, dass zwar nicht aus der logischen Abfolge der äußeren Handlung, sondern vielmehr „in der Zusammenschau der scheinbar 20 Es ist davon auszugehen, dass die Anfänge der Erzählung Drei Wege zum See „in einem engeren motivischen Zusammenhang mit der anderen ‚Kärntner‘ Erzählung Gier “ steht (vgl. TP 4, p. 594). 21 Bachmann, Werke III, p. 176. 22 Ingeborg Bachmann stellt die endgültige Ausarbeitung dieser Erzählung noch zurück, da sie von einer Aufnahme in den Simultan-Band absieht. Noch anfangs 1973 gibt es Verhandlungen mit dem Suhrkamp-Verlag für eine Einzelveröffentlichung. Vgl. Pichl, Robert: Editorische Notiz. In: Höller, Hans (Hg.): Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge. Ingeborg Bachmann - Vorschläge zu einer neuen Lektüre des Werks. Mit der Erstveröffentlichung des Erzählfragments Gier . Wien, München: Löcker 1982, pp. 63-69, hier p. 63. 468 Boris Previšić disparatesten Ereignisse“ einer inneren Handlung die Bluttat von Rapatz erklärbar wird. 23 Der Fragment-Charakter unterstreicht in dem Fall eine Lektürehaltung, welche sich nicht primär auf eine handlungsorientierte und handlungsmotivierende Sequenzierung als vielmehr auf eine ars combinatoria stützt, bei der die einzelnen Mosaiksteinchen ein gewisses Bild der historischen Realität durchscheinen lassen. In Gier ist die Protagonistin Elisabeth Mihailovics; offenbar wird hier Elisabeth Matrei ‚slawisiert‘ bzw. in der Werkabfolge vom Fragment zur fertiggestellten Erzählung Drei Wege zum See ‚deslawisiert‘. Elisabeth Mihailovics ist eingebunden in eine Dreiecksgeschichte zwischen dem habgierigen, reichen und skrupellosen Rapatz, der sich neben Frauen und Alkohol fast nur für die Jagd interessiert, und dem Gastarbeiter Sascha aus Montenegro. Offenbar steht hinter dieser Umschreibung des jugoslawischen Kontrahenten vom slowenischen „Jaslo soundso“ - aus der Perspektive Elisabeth Matreis in Drei Wege zum See (TP 4, p. 450) - zum ‚syphilitischen‘ sowie „schlechteste[n] und ungelernteste[n] Förster“ - in der Wahrnehmung von Bertold Rapatz -, „den man einfach Sascha nannte, weil er einen unaussprechlichen Namen hatte“ (TP 4, p. 493), eine noch stärkere Stereotypisierung. Gleichzeitig zeigt sich daran deutlich, dass je nach Fokalisierung sogar scheinbar objektive Kriterien wie die Herkunft Änderungen unterworfen sind. Das Figurenkabinett um Rapatz wird ergänzt durch einen kroatischen Abwart und dessen slowenische Gattin, die er beide ausnützt. Wie der Entwurf der Verlagsankündigung deutlich macht, steht die Figur Berthold Rapatz für „ein[en] Typus unserer Zeit“: „Rapatz will alles und bekommt alles. Seine Gier ist Gier nach Geld, nach Macht, nach dem Besitz von Frauen, nach Leben.“ 24 Strukturell kommt dieser Typus der ökonomischen Okkupation Österreichs durch die Deutschen gleich, verortet man ihn in der Jetztzeit der Erzählung. Doch historisch gesehen, entpuppt sich diese Nachkriegskonfiguration als (post)koloniales Erbe, welches sich noch auf den Eisenbahnbau zu Zeiten der Monarchie beruft. Je nach Textstufe hat sich der Großvater bzw. der Vater in diesem Bereich ausgezeichnet und wurde dafür auch geadelt (TP 4, p. 478 bzw. p. 484). So wenig aber Rapatz etwas auf den Adelstitel hält, so egalitär herablassend verhält er sich gegenüber dem neuen System der Ersten Republik (vgl. TP 4, p. 485). Seine Jagdobsession, seine unternehmerische Tätigkeit im Holzhandel und seine südslawische Entourage überführen kolonial-imperiale 23 Vgl. ibid., p. 65. Der Herausgeber des Fragments beruft sich bei dieser Argumentation auf die Vorrede zum Fall Franza, wo zu lesen ist: „Die wirklichen Schauplätze, die inwendigen, von den äußern mühsam überdeckt, finden woanders statt.“ (Bachmann: Werke III, p. 342) 24 Maschinenschriftl. Entwurf der Verlagsanzeige für den Suhrkamp-Prospekt mit Korrekturen fremder Hand abgebildet bei Höller 1982, p. 60. Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion 469 Muster direkt in ein scheinbar provinziell orientiertes Lebensmuster in Kärnten. Dieser Befund wäre weiter nicht von Bedeutung, stünde er nicht in Korrelation mit einem weiteren Indiz, welches wiederum in der Erzählung Drei Wege zum See zu finden ist. Denn kaum von der Londoner Hochzeit ihres Bruders mit Liz in Klagenfurt angelangt, schenkt Elisabeth Matrei ihrem Vater „ein Buch, das sie zufällig gefunden hatte […], ‚Die Straße nach Sarajewo‘, […] und er blätterte darin still, denn das ging ihn etwas an“ (TP 4, p. 368). Obwohl auch hier zunächst nicht nur der Eindruck von belangloser Kontingenz hinterlassen wird, sondern auch so getan wird, als handle es sich um einen nostalgischen Rückbezug auf das Sarajevo der Doppelmonarchie, so handelt es sich hier um eine äußerst kritische Sichtung der österreichisch-ungarischen Besatzung Bosnien-Herzegowinas aus der Feder des umstrittenen und umtriebigen Historikers Vladimir Dedijer unter dem Titel The Road to Sarajevo, ein Buch, das sich auch in Ingeborg Bachmanns Bibliothek wiederfindet. 25 Mit anderen Worten: Die Autorin war sehr wohl informiert über die kolonialen Zustände in Bosnien-Herzegowina während der Okkupation, aber auch nach der Annexion durch Österreich-Ungarn. So akribisch genau die historische Abhandlung von Dedijer die Ereignisse um das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand in den Blick nimmt, so umfassend kontextualisiert sie diese innerhalb der neu gegründeten südslawischen Bewegungen, allen voran natürlich der Mlada Bosna , welche sich - und auch das scheint der Autorin nicht entgangen zu sein - unter anderem für die Gleichstellung und Emanzipation der Frauen einsetzt. Alle Parameter der Binnenkolonialherrschaft gelangen ungeschönt und manchmal vielleicht auch übertrieben zur Darstellung - so der Eroberungskrieg, bei dem während über dreier Monate 200.000 Soldaten eingesetzt wurden, da man nach dem Berliner Kongress 1878 unerwartet auf Widerstand insbesondere der einfachen Bevölkerung gestoßen war; dabei die Anwendung von brutaler Gewalt, z. B. die Auslöschung ganzer Ortschaften; die Unterdrückung von Aufständen vor allem seitens der Serben und Muslime im Jahre 1881 und 1882 in der Herzegowina, Südbosnien und in Süddalmatien; das konsequente ethnische Divide et impera ; die systematische Repression gegen die wenigen Intellektuellen, welcher noch stark in der eigenen Scholle verwurzelt sind; eine erschreckend hohe Analphabetenrate noch im Jahre 1910; die einseitige Infrastruktur, welche vor allem für militärische und 25 Dedijer, Vladimir: The Road to Sarajevo. New York: Simon & Schuster 1966. Erwähnt im Kommentarteil: TP 4, p. 630. Von diesem Buch gibt es auch eine deutsche Übersetzung: Die Zeitbombe - Sarajewo. Übers. von Tibor Simányi. Wien, Frankfurt, Zürich: Europa 1967. Der Historiker Vladimir Dedijer (1914-1990) ist vor allem darum so umstritten, weil er in seinem Buch The Yugoslav Auschwitz (1987) die Anzahl der in Jasenovac umgekommenen Serben nach heutigen Erkenntnissen deutlich zu hoch angesetzt hat. 470 Boris Previšić wirtschaftliche Zwecke bestimmt ist zur Verteidigung der Südostgrenze und zur Erschließung von Rohstoffen wie Eisen und Holz. 26 Letztlich handelt es sich bei der Aufzählung um Faktoren einer kolonialistischen Einverleibung, welche den Nährboden für den Attentäter Gavrilo Princip bilden. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die heftige Reaktion Elisabeths auf die falsche Zuordnung Trottas durch den Journalisten oder das Aufbegehren gegen das vermeintliche Eifersuchtsdrama um Rapatz. Die andere Geschichte impliziert somit explizit keinen Habsburgermythos, wie man aus der Anlehnung an Roths Vorlage vermuten könnte, sondern um eine komplexe Unterdrückungsgeschichte, welche den Frauen weitere Opfer hinzufügt. Die Erzählung ist weder positiv noch negativ zu werten, wie sich das beispielsweise im Vergleich mit der Verfilmung von Michael Haneke aus dem Jahre 1976 anbieten würde. Der Film konzentriert sich auf den Pariser Trotta und hebt seine Strukturparallele zum Vater hervor, wie die Elisabeth übergeordnete Erzählinstanz verlauten lässt: „Beide hatten die Zukunft nicht akzeptiert, weil sie nicht einmal wussten, was sie an der sogenannten Zukunft hatten, wie sie in die geraten waren, und worauf sie hätten hoffen sollen.“ 27 Im Film erhält der gemeinsame Ausflug der Erzählerin mit dem Vater an den See durch die langsamen Einstellungen großes Gewicht; dagegen fällt die letzte Begegnung mit dem Vetter Trottas, mit Branco, am Wiener Flughafen ab: „die traurig süße Abschiedsbegegnung einer wieder einmal versäumten Liebe“. 28 Die filmische Perspektive, die über der personalen Erzählinstanz steht, verstärkt die Eigenreflexion der Hauptprotagonistin Elisabeth und somit ihre Krise. Daraus kann man aber nicht rückschließen, dass „Elisabeth Matrei in der Erzählung durch ihre Vergangenheitsbewältigung einen neuen identitätsstiftenden Weg finden kann“. 29 Dazu sind die einzelnen Handlungsmomente am Schluss der Erzählung zu heterogen und zu vielschichtig angelegt. Kann der Pariser Trotta Elisabeth Matrei noch vom Plan abbringen, als Fotojournalistin in Algerien tätig zu sein, so gelingt dasselbe in der Schlusssequenz nach der Rückkehr der Protagonistin nach Paris und nach der Begegnung mit Branco Trotta ihrem gegenwärtigen Liebhaber Philippe, der sowieso abspringt, nicht mehr. Sie nimmt den mörderischen Auftrag Andrés an, vom Vietnamkrieg zu berichten. Die „Selbstfindung“ in einer dichterischen Sprache, mit der die Vergangenheit verarbeitet werden könnte, ist ebenso trügerisch. 26 Vgl. die Einleitung von Clemens Ruthner zum vorliegenden Sammelband. 27 Haneke, Michael: Drei Wege zum See (1976), Einstellung 121. 28 Filmfest München. Das Programm 1994. Die Filme - die Regisseure. Katalog. München 1994, p. 166. 29 Ruttner, Lothar: Kritische Analyse der Verfilmung von Ingeborg Bachmanns Erzählung ‘Drei Wege am See’. Wien: Diplomarbeit der Univ. Wien 2002, p. 102. Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion 471 Das „Topografische“ hingegen, wie es im Motto zum „Ursprung dieser Geschichte“ deklariert wird (TP 4, p. 361), bietet in dem Sinne keine Lösung, auch keinen utopischen Projektionsraum, wie man vermeinen könnte, sondern ein Dispositiv, auf dessen Grundlage die historischen Vernetzungen und deren Darstellungsweise aufgezeigt und problematisiert werden können. Schon der Vater, mit dem sowohl Figuren wie Motive verknüpft sind, kann weder einfach einer biografischen noch einer allegorischen Interpretation unterzogen werden. Vielmehr spannt sich der Bogen vom leiblichen Vater, der als Lehrer schon 1932 der damals noch illegalen NSDAP beitritt, über ihren literarischen und deutschnational gesinnten Mentor Josef Friedrich Perkonig und dem fiktiven Vater im zentralen Kapitel „Der dritte Mann“ in Malina 30 bis hin zur intertextuellen Anspielung auf die Hauptfigur in Hofmannsthals Der Schwierige, auf Hans Karl Bühl, der sich nach dem Ersten Weltkrieg auch nicht mehr zurechtfindet. 31 Ausschlaggebend für die Erzählung Drei Wege zum See ist, dass das „Panorama historischer Gewalt“ 32 nicht mehr explizit und exklusiv dem Vater überantwortet wird; insofern sind in der letzten Erzählung Ingeborg Bachmanns versöhnliche Töne zu vernehmen. Die Kontinuität von Machtstrukturen über die großen Zäsuren der jüngeren Geschichte Österreichs 1918 und 1938 hinweg lagern sich zwar in anderen Motiven und Figuren an, doch scheint der Vater von Elisabeth Matrei - im Unterschied zum Pariser Trotta - durch seine Unkenntnis in dieselben eingebunden zu sein. Gerade darum sind auch die „drei Wege“ - abgesehen von ihrer topografischen Signatur in der „Wanderkarte für das Kreuzberglgebiet“ - historisch nicht eindeutig zu lokalisieren, auch wenn beispielsweise schon vorgeschlagen worden ist, die drei Wege stünden für die drei politischen Systeme von realsozialistischem Ostblock, westlichem Kapitalismus und dem durch das Tito-Jugoslawien initiierte Projekt der Blockfreien. 33 Es könnte einer Überlegung wert sein - die zwar um einiges komplexer, aber der Erzählung wohl angemessener ausfallen würde, da sie nicht nur allegorisch wäre - die drei Frauengestalten mit demselben Vornamen für drei verschiedene Optionen, mit der Vergangenheit umzugehen, einzusetzen. Dazu gibt es eine Schlüsselstelle, an welcher nach der Begegnung mit Elisabeth Mihailovics die drei Frauen in Verbindung gebracht werden: Bevor sie [= Elisabeth Matrei, B.P.] einschlief, dachte sie noch, daß es etwas viel war, jetzt noch eine Elisabeth zu treffen, sie war schon verstört gewesen, als Liz [die Frau 30 Höller 1999, p. 24f. 31 Bannasch, Bettina: Von vorletzten Dingen. Schreiben nach ‘Malina’. Ingeborg Bachmanns ‘Simultan’-Erzählungen. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, p. 146. 32 Höller 1999, p. 35. 33 Dippel 1995, p. 59f. 472 Boris Previšić ihres Bruders Robert] auf dem Registry Office mit vollem Namen genannt wurde, Elizabeth Anne Catherine, mit einem Familiennamen dazu, den Elisabeth sofort wieder vergessen durfte, weil sie ihn vorher nicht gewußt hatte und er jetzt keine Rolle mehr spielt, für die neue Frau Matrei (TP 4, p. 393f.). Der eine Weg (derjenige von Liz) wäre der Weg des Ignorierens und Vergessens, der zweite Weg (von Elisabeth Matrei) der Weg der ‚Verstörung‘ und des Vermittelns, und der dritte Weg (von Elisabeth Mihailovics) der Weg des ahnungslosen Opfers. Alle Wege brechen ab, man gelangt auf keinem zum See; gerade die topografische Bruchstelle, welche durch den Eingriff der Moderne, durch den Bau der Autobahn in Kärnten, entsteht, ermöglicht gleichzeitig die mnemonische Sehnsuchtsrichtung über die Karawanken hinweg ins ‚Neunte Land‘. Die topografische Ausrichtung der modernen Verkehrsmittel steht ihr diametral entgegen. Klagenfurt ist „angeschlossen […] an das internationale Eisenbahnnetz und Flugnetz mit je einem Zug und einem Flugzeug, mit dem man, aus unerfindlichen Gründen, über Frankfurt nach London fliegen konnte. Zwischen Kärnten und England bestanden keine Beziehungen, es hätte welche nach dem Süden und Osten gebraucht […]“ (TP 4, p. 426). Damit schreibt sich die letzte Erzählung Ingeborg Bachmanns in eine „nicht offizielle, ins Unbewußte verdrängte Geschichtsschreibung“, in eine „verstörende Wiederkehr der ausgelöschten Geschichte“ ein. 34 Die zufällige Begegnung an einem ‚Nicht-Ort‘ (Marc Augé), dem Flughafen Wien, mit Branco Trotta - sie auf der Rückkehr nach Paris, er auf Reise nach Moskau -, das Nicht-Verbalisieren ihrer „Hingabe“ bildet ein kleines (Zeit-)Fenster zu jener Utopie historischer Versöhnung, die in der Erzählung möglich wird. Branco Trotta stellt die einzige Figur dar, welche das „Vordergrundgeschehen“ in Klagenfurt und die verschiedenen „Erinnerungsebenen“ biografischer und historischer Natur in Verbindung bringt, und ermöglicht, „in der Verfremdung selbst heimisch zu werden“, indem die Geschichte als schwebende Parabel mit offenem Schluss endet. 35 In der Textstufe IV und V heisst es noch, dass für diese Begegnung nur „das Wort ‚nichts ist geschehen‘ das richtige sein konnte, denn sie würde Branco nie wiedersehen, und sie würde dorthin gehen, wohin sie nicht gehen wollte, denn unter ihrem Kopfpolster lag der kleine Zettel, eine Flaschenpost, die nach soviel Jahren von ihr gefunden worden war.“ (TP 4, p. 467) So wird das ungesprochene Wort in Form des Zettels von Branco Trotta, worauf „Ich liebe Sie. Ich habe Sie immer 34 Höller 1999, p. 42. 35 Pichl, Robert: Verfremdete Heimat - Heimat in der Verfremdung. Ingeborg Bachmanns ‚Drei Wege zum See‘ oder die Aufklärung eines topografischen Irrtums. In: Shichiji, Yoshinori (Hg.): Sektion 15. Erfahrene und imaginierte Fremde (Bd. 9). München: iudicium 1991, pp. 447-454, 453 f. Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion 473 geliebt“ steht (TP 4, p. 460), am Nicht-Ort gleichzeitig zum Nicht-Ereignis und zur dichterischen Botschaft, welche als Flaschenpost „irgendwo und irgendwann an Land gespült“ wird - „an Herzland vielleicht“. 36 36 Celan, Paul: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen. In: Ders.: Gesammelte Werke III. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1986, p. 186. Das ‘Wir’ im ‘Ich’ 475 Das ‘Wir’ im ‘Ich’ Zum Problem der Identitätskonstruktion im Bosnien- Herzegowina der Gegenwart Ana Mijić (Wien) Während sich die meisten Beiträge in diesem Band - unter verschiedenen Schwerpunkten - mit dem Bosnien-Herzegowina der Vergangenheit beschäftigen, um z.T. von dort den Blick in die Gegenwart zu richten, liegt der Fokus der folgenden Überlegungen auf dem heutigen Staat. Immer wieder wird sowohl von wissenschaftlicher als auch von journalistischer oder politischer Seite konstatiert, dass diese Gegenwart trotz einiger zentraler Fortschritte seit der Unterzeichnung des ‘Allgemeinen Rahmenabkommens von Dayton für einen Frieden in Bosnien und Herzegowina’ im Jahr 1995 auch heute noch durch prekäre politische Strukturen sowie durch eine prekäre ökonomische und soziale Lage geprägt ist. Bosnien-Herzegowina ist bis zum heutigen Tag ein Problem, sowohl für die Internationale Gemeinschaft als auch für die Menschen im Lande selbst. In regelmäßigen Abständen werden von wissenschaftlicher Seite ‘ernüchternde Bilanzen’ publiziert und von Seiten der internationalen Politik Sorgen ob der schwierigen Situation in Bosnien-Herzegowina bekundet. Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt nicht auf einer solchen Bilanzierung. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht vielmehr die Frage nach den Besonderheiten der Identitätskonstruktionen in der bosnisch-herzegowinischen Nachkriegszeit. Auch hier stellt sich jedoch ganz wesentlich die Frage nach der Rolle der ‘Internationalen Gemeinschaft’ sowie der internationalen Öffentlichkeit als einer außenstehenden ‘dritten’ Partei, die zwar vergleichsweise unbeteiligt erscheint, doch de facto mit ihren eigenen Wahrheiten interveniert. Es ist davon auszugehen, dass die Selbst-Bilder in der Region sowie die damit im Zusammenhang stehenden ethnischen oder nationalen Grenzziehungen stark durch die an die Menschen von außen herangetragenen Fremdbilder beeinflusst werden. Dies zeigte sich bereits während der österreichisch-ungarischen Herrschaft. Für den vorliegenden Kontext wichtig erscheint vor allem, dass der Blick der ‘westlichen’ Welt auf den gesamten Südosten Europas - damals wie heute - we- 476 Ana Mijić sentlich durch eine post/ koloniale Verzerrung geprägt wurde und wird, welche die bulgarische Historikerin Maria Todorova in Anlehnung an Edward Saids „Orientalismus“ (1978) als „Balkanismus“ bezeichnet: By the beginning of the twentieth century Europe had added to its repertoire of Schimpfwörter or disparagements, a new one which turned out to be more persistent than others with centuries old traditions. ‘Balkanization’ not only had come to denote the parcelization of large and viable political units but also had become a synonym for a reversion to the tribal, the backward, the primitive, the barbarian. 1 In der Habsburger Monarchie wurde die dem Balkan zugeschriebene Rückständigkeit vor allem auf den nicht-europäischen Einfluss während des osmanischen Reiches zurückgeführt. Das k. u. k. Kaiserreich hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Bosnien wieder zu ‘europäisieren’ und zu ‘zivilisieren’. 2 Durch den Zerfall Jugoslawiens und die darauf hin folgenden Kriege bekam die sich nahezu über ein Jahrhundert erhaltene Balkanvorstellung einen neuen Aufwind, indem sie von vielen JournalistInnen, PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen unreflektiert reproduziert wurde. Die wesentliche Ursache des Krieges glaubte man in der Irrationalität und dem Anachronismus der Menschen zu erkennen, in ihrer rückwärtsgewandten, gar ‘archaischen’ und äußerst gewaltbereiten ‘Natur’. 3 Bis in die Gegenwart hinein hat sich an dieser Imagination des Balkans nicht viel verändert; noch heute lassen sich außenstehende KommentatorInnen im Hinblick auf die Menschen in Bosnien-Herzegowina zu eben jenen hierarchisierenden ingroup-outgroup -Unterscheidungen hinreißen, die sie bei den Menschen selbst als illegitim bewerten: Nur wird hier die Grenze nicht durch ethnische Zugehörigkeit markiert, sondern durch den ‘zivilisierten’ Westen 1 Todorova Maria: Imagining the Balkans. New York: Oxford University Press 2009, p. 3. 2 Rathberger, Andreas: Balkanbilder. Vorstellungen und Klischees über den Balkan in der Habsburgermonarchie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: http: / / www.kakanienrevisited.at/ beitr/ fallstudie/ ARathberger1.pdf v. 07.04.2009, p. 7; Ruthner, Clemens: K. u. k. ‚Kolonialismus‘ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren Klärung. In: http: / / www.kakanien-revisited.at/ beitr/ theorie/ CRuthner3.pdf v. 29.01.2003 sowie Uhl, Heidemarie: Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialimus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne. In: http: / / www.kakanien-revisited.at/ beitr/ theorie/ HUhl1.pdf v. 19.05.2002. 3 Wenig hilfreich sind in diesem Zusammenhang, wie Slavoj Žižek zu Recht bemerkt, beispielsweise die Filme des international erfolgreichen serbischen Regisseurs Emir Kusturica. Seines Erachtens verstärkt Kusturica „the innocent gaze of liberal and democratic Europe on the Balkans - this gaze in which the Balkans appear as a kind of exotic spectacle that should either be tamed or quarantined; the place where the progress of history is suspended and where one is caught in the circular repetitive movement of savage passions.“ (Žižek, Slavoj: Underground, or Ethnic Cleansing as a Continuation of Poetry by Other Means. In: InterCommunication 18 [1996], p. 4) Das ‘Wir’ im ‘Ich’ 477 auf der einen Seite und das ‘unvollkommene Eigene’ auf der anderen. Es kann plausibel angenommen werden, dass dieses stigmatisierende (Fremd-)Bild 4 die Identitätskonstruktion der Menschen in der Region auf die eine oder andere Weise beeinflusst, dass die Betroffenen dieses Bild entweder annehmen und ihr Verhalten diesem Bild entsprechend anpassen; 5 oder aber, dass es ihnen gelingt, dieses Bild abzuwehren, indem sie etwa jenen, die ihnen die Bestätigung eines positiven Selbstbildes verweigern, durch Delegitimierung - beispielsweise durch moralische Disqualifikation - die Definitionsmacht entziehen. 6 Eine weitere potentielle Strategie besteht wohl darin, dass die Menschen diese pejorative Balkanvorstellung zwar übernehmen, sich jedoch weigern, sich selbst zum Balkan zu zählen. Diesen Abwehrmechanismus bringt der Philosoph Slavoj Žižek treffend zum Ausdruck: If you ask, ‘Where do the Balkans begin? ’ you will always be told that they begin down there, towards the south-east. For Serbs, they begin in Kosovo or in Bosnia where Serbia is trying to defend civilised Christian Europe against the encroachments of this Other. For the Croats, the Balkans begin in Orthodox, despotic Byzantine Serbia, against which Croatia safeguards Western democratic values. For many Italians and Austrians, they begin in Slovenia, the Western outpost of Slavic hordes. For many Germans, Austria is tainted with Balkan corruption and inefficiency; for many Northern Germans, Catholic Bavaria is not free of Balkan contamination. Many arrogant Frenchmen associate Germany with Eastern Balkan brutality - it lacks French finesse. Finally, to some British opponents of the European Union, Continental Europe is a new version of the Turkish Empire with Brussels as the new Istanbul - a voracious despotism threatening British freedom and sovereignty. 7 Das Augenmerk soll nun im Folgenden auf die Frage gerichtet werden, wie die Akteure auch vor diesem Hintergrund eines verzerrten Fremdbildes ihr (ethnisches) ‘Selbstbild’ und damit aber auch das Bild der (ethnisch) jeweils Anderen im ‘Nachkrieg’ gestalten und mit welchen Schwierigkeiten diese Konstruktionsprozesse verbunden sind. 8 Diese Frage ergibt sich m. E. notwendigerweise, 4 Goffman, Erving: Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity. Englewood Cliffs: Prentice Hall 1963. 5 Elias, Norbert/ Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1990; Merton, Robert K.: Die self-fulfilling prophecy. In: Soziologische Theorie und soziale Struktur. Berlin: de Gruyter 1990, pp. 399-423. 6 Schimank, Uwe: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurstheoretische Soziologie. Weinheim: Juventa 2010, p. 130. 7 Žižek, Slavoj: „You May! “ Slavoj Žižek writes about the Post-Modern Superego. In: London Review of Books , 21.6 (1999), pp. 2-6. 8 Dieser Frage ging ich im Rahmen meines Dissertationsprojektes empirisch nach; vgl. Mijiċ, Ana: Verletzte Identitäten. Der Kampf um den Opferstatus im bosnisch-herzegowinischen Nachkrieg. Frankfurt, New York: Campus 2014; vgl. auch Soeffner, Hans-Georg 478 Ana Mijić wenn man eine wissenssoziologische Perspektive einnimmt und aus dieser Perspektive einen Blick auf die heutige bosnisch-herzegowinische Nachkriegsgesellschaft richtet. Der bosnisch-herzegowinische ‘Nachkrieg’: Legitimation und Delegitimation hierarchisierender Ethnizität Zahlreiche soziologische, sozial-psychologische oder auch psychologische Studien beschäftigen sich mit dem Phänomen der ‘ethnischen Identität’ bzw. der Mobilisierung ethnischer Differenzen im Zusammenhang mit Konflikt, Gewalt und Krieg. Auch die Persistenz dieser Phänomene ist Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung. Was jedoch typischerweise aus dem Blick gerät, ist die Frage nach den Spezifika der Identitätskonstruktion, d. h. nach den Besonderheiten der Konstruktion des ‘Selbst’ und damit auch des oder der ‘Anderen’ im Zuge von Nachkriegstransformationsprozessen. Ein solcher Prozess, wie er etwa in Bosnien-Herzegowina stattfindet, ist dadurch charakterisiert, dass hier im Vorfeld sowie während der kriegerischen Auseinandersetzungen zunächst ein Selbst konstruiert wird, welches durch eine Reduktion auf die ethnische Zugehörigkeit charakterisiert und im Zuge dessen in besonders ausgeprägtem Maße über hierarchisierende ethnische ingroup-outgroup -Differenzierungen strukturiert ist. Die Reduktion auf die Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder nationalen Gruppe bringt die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulić in ihrem Essay Vom Nationaldenken überwältigt (1992) mit folgenden Worten prägnant zum Ausdruck: Ich lebe in einem Land, das viele blutige Kriegsmonate hinter sich hat; ihnen [= meinen Freunden im Ausland, A.M.] fällt es schwer, zu verstehen, dass es mir zum Schicksal geworden ist, Kroatin zu sein. Wie kann ich ihnen erklären, dass ich in diesem Krieg über meine Nationalität definiert werde, und zwar einzig und allein darüber? […] Zusammen mit Millionen anderen Kroaten wurde ich an die Wand der Nationalitätenfrage gedrängt - nicht allein aufgrund des äußeren Drucks durch Serbien und die Bundesarmee, sondern auch durch die innere nationale Homogenisierung in Kroatien. […] Ich bin niemand mehr, weil ich keine Person mehr bin. Ich bin eine von 4,5 Millionen Kroaten. […] Ich fühle mich wie eine Waise, weil der Krieg mich des einzigen wahren Besitzes beraubt hat, den ich in meinem Leben erworben hatte, / DGS (Hg.): Transnationale Vergesellschaftung. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt/ M. 2010. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2013 (CD-Rom). Das ‘Wir’ im ‘Ich’ 479 meiner Individualität. […] Ich habe jedoch keine Wahl, jetzt nicht mehr. Ich denke niemand hat eine Wahl. 9 Der Nationalismus auf dem Balkan seit Mitte der 1980er Jahre hatte, so Michael Ignatieff, zur Folge, „daß es am Ende keinem Bewohner des Balkans mehr möglich war, sich von der Fiktion einer ‘reinen’ ethnischen Identität frei zu machen“. 10 Diese Reduktion der eigenen Identität auf die ethnische Zugehörigkeit ist verbunden mit einer hierarchisierenden Unterscheidung zwischen ‘Uns’ und ‘den Anderen’, gekennzeichnet durch abwertende Zuschreibungen gegenüber der ethnischen Fremdgruppe und aufwertenden Zuschreibungen gegenüber der Eigengruppe. 11 Das eigene ‘Gruppencharisma’ wird, um es mit Norbert Elias auszudrücken, der fremden ‘Gruppenschande’ gegenübergestellt. 12 Die Reduktion der Identität auf die ethische Zugehörigkeit sowie die damit verbundene wertgeladene Definition der Grenzen zur je anderen ethnischen Gruppe, d. h. die hierarchisierende ethnische ingroup outgroup -Differenzierung, sind charakteristisch für die ethnische Mobilisierung im Vorfeld des Krieges sowie während der kriegerischen Auseinandersetzungen. Nach Beendigung des gewaltsamen Konfliktes, d. h. im konkreten Fall nach dem Friedensabkommen von Dayton mit dem daran anschließenden Prozess der Neuorganisation Bosnien-Herzegowinas, werden die Akteure nun aber mit einer neuen Situation konfrontiert, welche von ihnen eine neue Definition der Situation abverlangt. Diese neue Situationsdefinition wird aus zwei Gründen erforderlich: Die hierarchisierende Ethnizität wird einerseits im Lichte ‘von außen’ herangetragener normativer Standards delegitimiert bzw. gerät unter ‘neuen’ Legitimierungszwang - hier stellt sich vor allem die Frage nach der Rolle der Internationalen Gemeinschaft als einer ‘dritten Partei’. Andererseits stehen diese hierarchisierenden ethnischen ingroup-outgroup -Differenzierungen einem gesamtgesellschaftlichen Integrationsprozess - jenseits der ethnischen Vergemeinschaftung - entgegen. Das Dilemma zeigt sich, wie der Historiker 9 Drakulić, Slavenka: Sterben in Kroatien. Vom Krieg mitten in Europa. Reinbek: Rowohlt 1992, p. 84ff. 10 Ignatieff, Michael: Reisen in den neuen Nationalismus. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1996, p. 33. 11 Der Fall Bosnien-Herzegowina kann dabei, wie Ignatieff zu Recht feststellt, als ein hervorragendes Beispiel dafür gesehen werden, was Sigmund Freud als den „Narzissmus des kleinen Unterschieds“ bezeichnet hat: „Freud hat einmal gesagt, je kleiner der wirkliche Unterschied zwischen zwei Völkern sei, desto größer und bedrohlicher werde er sich in ihrer Vorstellung ausnehmen […]. Daraus folgt, daß Feinde einander brauchen, um sich daran zu erinnern, wer sie eigentlich sind. Demnach ist ein Kroate jemand, der kein Serbe ist. Ein Serbe ist jemand, der kein Kroate ist. Ohne gegenseitigen Haß gäbe es kein klar definiertes nationales Ich, das man verstehen und anbeten könnte.“ (Ignatieff 1996, p. 28) 12 Elias/ Scotson 1990, p. 16ff. 480 Ana Mijić Wolfgang Höpken aufzeigt, zentral bei der Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit: […] vor allem der Umstand, dass - anders als im deutschen Beispiel - Opfer und Täter auch nach den Erfahrungen von Massengewalt weiterhin eine gemeinsame Staatlichkeit teilen müssen, beschwört erinnerungskulturelle und gedächtnispolitische Dilemmata herauf, die es innerhalb der einzelnen ethnischen Gruppen und erst recht zwischen ihnen bislang verhindert haben, zu einem konstruktiven Vergangenheitsdiskurs zu gelangen […]. Jede ethnische Gruppe bezieht ihre Identität ganz aus ihrer jeweiligen Perspektive der Vergangenheit, kaum jedoch aus einer Berufung auf eine gemeinsame Geschichte ihres formal noch gemeinsamen Staates. 13 Im Zuge des Nachkriegstransformationsprozesses steht damit eine vormals weitgehend gültige Deutung hierarchisierender ethnischer Differenz nunmehr in Opposition zu einer quasi wertneutralen Deutung von Ethnizität. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen kann systematisch betrachtet davon ausgegangen werden, dass hier eine strukturelle Spannung vorliegt, insofern die in einem Deutungsangebot als legitim institutionalisierten Handlungsgründe in einem anderen Deutungsangebot (bzw. Deutungs gebot ) als illegitim institutionalisiert sind. Die Spannung von Legitimierung und Delegitimierung hierarchisierender ethnischer Differenzierung kann auch umschrieben werden als Spannung zwischen einer Deutung von ethnischer Zugehörigkeit als Dimension sozialer Ungleichwertigkeit und der Deutung von Ethnizität als Dimension sozialer Unterschiedlichkeit . Die Deutung von Ethnizität als Dimension sozialer Unterschiedlichkeit ist nicht per se als problematisch zu betrachten. Doch kategoriale Unterschiede, wie etwa Ethnizität oder Religion, bergen die Gefahr, hierarchisierend ausgelegt zu werden. 14 In diesem Fall wird dann die Unterschiedlichkeit zur Ungleichwertigkeit. Und diese Deutung von Ethnizität hat desintegrative Folgen, steht also einem gesamtgesellschaftlichen Integrationsprozess entgegen. Sighard Neckel und Ferdinand Sutterlüty erklären diese desintegrative Wirkung so genannter ‘kategorialer Klassifizierungen’ unter Rückgriff auf die Konflikttheorie von Georg Simmel: 13 Höpken, Wolfgang: Innere Befriedung durch Aufarbeitung von Diktatur und Bürgerkriegen? Probleme und Perspektiven im ehemaligen Jugoslawien. In: Kenkmann, Alfons/ Zimmer, Hasko (Hg.): Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem - Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert. Essen: Klartext 2006, pp. 153-191, hier p. 173f. 14 Neckel, Sighard/ Sutterlüty, Ferdinand: Negative Klassifikationen und die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit. In: Neckel, Sighard/ Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Mittendrin im Abseits. Ethnische Gruppenbeziehungen im lokalen Kontext. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, pp. 15-98, hier p. 19f. Das ‘Wir’ im ‘Ich’ 481 Da es ihnen [den kategorialen Klassifizierungen, A.M.] an ‘teilbaren’ Werten mangelt, repräsentiert ihre Gebrauchsweise die ‘dissoziative’, also die Gegensätze hervorbringende Dimension von Konflikten, die Georg Simmel mit dem Konflikttypus gewaltträchtiger Kämpfe bis hin zum Krieg verbunden hatte. Dies ist der Grund, weshalb negative Klassifikationen, die Ungleichwertigkeitsurteile zum Ausdruck bringen, dem für den Zusammenhalt moderner Gesellschaft zentralen Mechanismus der ‘konfliktvermittelten Integration’ nicht zugänglich sind. Sie zielen nicht auf soziale Konflikte - obgleich ihr praktischer Gebrauch solche zur Folge haben kann -, sondern auf Exklusion, um Konflikte möglichst gar nicht austragen zu müssen. 15 Der gesamtgesellschaftliche Integrationsprozess wird jedoch nicht zuletzt von der Internationalen Gemeinschaft forciert. Für die Mitglieder der jeweiligen ethnischen Gruppen stellt sich dieser forcierte Transformationsprozess als problematisch dar, weil er die Legitimität der positiven Selbstzuschreibung, d. h. die Legitimität des eigenen ‘Gruppencharisma’ in Frage stellt. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass das Deutungsangebot der hierarchisierenden ethnischen ingroup-outgroup -Differenzierung (Ungleichwertigkeit) sowie das Deutungsangebot der wertneutralen ethnischen Grenzziehung (Unterschiedlichkeit) trotz ihrer Widersprüchlichkeit nebeneinander bestehen und zumindest potentiell aufgrund dessen zu strukturellen ‘Brüchen’ oder ‘Verletzungen’ in Identitätsbildungsprozessen führen können. Exemplarisch lässt sich diese Spannung am Beispiel des Umgangs mit Kriegsverbrechen verdeutlichen. Dieser Umgang gestaltet sich insofern als schwierig, als einige, als ‘nationale Helden’ gefeierte Mitglieder der ethnischen Eigengruppe in der Nachkriegssituation als ‘Verbrecher’, als ‘Schuldige’ klassifiziert wurden. So etwa vom International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY): ‘Hag’ - so die gängige Abkürzung, nicht nur für die niederländische Stadt Den Haag, sondern gleich auch für das dort ansässige Kriegsverbrechertribunal - ist bis vor kurzem in Serbien, Kroatien sowie Bosnien-Herzegowina allgegenwärtig und mit einem emotionalen Gehalt verbunden gewesen, der manchen Außenstehenden verwundern mag. Die Thematik findet auch in der so genannten ‘patriotischen’ Populärkultur ihren Niederschlag, so etwa in den Texten des kroatischen Sängers Miroslav Škoro: 15 Ibid., p. 20f. Vgl. Simmel, Georg: Der Streit. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1992 [EA 1908], pp. 284- 382. 482 Ana Mijić Sie richten über mich / weil ich das Meine liebe / am meisten liebe und weil ich es verteidigt habe, mein Allerliebstes. / Sie richten über mich / die Feinde, meine Liebe / doch sie wissen nicht, dass die Wahrheit ein tiefes Wasser ist. 16 Dieses Sude mi betitelte Lied, in dem Škoros Freund Marko Perković alias „Thompson“ 17 einen Gastauftritt hat, widmeten seine Fans dem ehemals in Den Haag inhaftierten kroatischen General Ante Gotovina. Erkennbar ist eine ausgeprägte Identifizierung mit den Helden, die zu Verbrechern werden: „Sude mi“, d. h. „sie richten über mich“, weil ich Kroate/ Serbe/ Bosniake bin. „Der Widerstand gegen das Tribunal“, so Drakulić, „wurde zum Maßstab des Patriotismus“. 18 Dort wurde, so die verbreitete Annahme, nicht über Individuen gerichtet, sondern über das ganze jeweilige Volk, wie auch in den folgenden Zeilen eines offensichtlich ironisch gebrochenen Liedes von Škoro sehr deutlich wird: Hag ist unsere letzte Chance / Von wegen München, Wien oder Prag / Volk, macht euch bereit, denn die Kutsche fährt ab, die uns alle bringt nach Hag. 19 „Wer bin ich? “: Theoretische Überlegungen zu einer fundamentalen Frage Die eingangs formulierte Frage, wie Individuen im Kontext des Nachkriegs ihr Selbstbild und damit auch das Bild der jeweils anderen konstruieren, kann nun unter Berücksichtigung der erfolgten Ausführungen spezifiziert werden: Es geht um die Erforschung des Prozesses der Konstruktion des ‘Selbst’ und des ‘Anderen’ im Kontext der strukturellen Spannung von gleichzeitiger Legitimierung und Delegitimierung hierarchisierender ethnischer Differenzierung. Eine Antwort auf diese Frage kann letztlich nur eine empirische Analyse bringen, die auf eine Rekonstruktion der Prozesse angelegt ist, durch die soziale Wirklichkeit in ihrer sinnhaften Strukturierung hergestellt wird. Im Zentrum zu stehen hat 16 „Sude mi / Zato što svoje volim / Volim najviše što sam branio moje najdraže / Sude mi / Dušmani moja ljube / Ali ne znaju da je istina voda duboka.“ 17 Škoro verbindet eine enge Freundschaft mit dem umstrittenen Sänger Marko Perković, bekannt unter dem Namen „Thompson“. Perković gerät international immer wieder aufgrund nationalistischer Tendenzen in seinen Texten in die Kritik. Und doch gelingt es ihm, weltweit ganze Stadien zu füllen - soweit die Konzerte genehmigt werden. Von mit seiner Musik sympathisierenden Kroaten wird Thompson immer nur als „heimatliebend“ beschrieben. 18 Drakulić, Slavenka: „Wenn Helden zu Mördern werden“. Spiegel v. 02. Juli 2005. Online unter: http: / / www.spiegel.de/ politik/ ausland/ 0,1518,350151,00.html [Stand: 29.05.2009] 19 „Hag je naša posljedna šanca / Ma kakvi Munchen, Beč ili Prag / Spremi se narode jer diližansa / Kreće što vozi sve nas za Hag“. Das ‘Wir’ im ‘Ich’ 483 damit die Rekonstruktion von in der empirischen Wirklichkeit bereits erfolgten sozialen Konstruktionen. Eine solche empirische Analyse erfolgte etwa im Rahmen des Projektes „Verletzte Identitäten“. 20 Hierfür wurden zwischen 2007 und 2009 in verschiedenen Regionen Bosnien-Herzegowinas insgesamt 30 themenzentrierte narrative Interviews geführt. Die Datenauswertung orientierte sich an dem Interpretationsverfahren der objektiven Hermeneutik, welche auf die Rekonstruktion der so genannten latenten Sinnstrukturen zielt. 21 Mittels dieser Analyse konnten schließlich soziale Deutungsmuster identifiziert werden, Wissensbestände, die vor dem Hintergrund kollektiver, d. h. gesellschaftlicher Problemkonstellationen entstehen. Diese ragen als Handlungsprobleme in die Alltagspraxis von Individuen hinein und müssen in der Alltagspraxis von den AkteurInnen bewältigt werden. 22 Es handelt sich also um ursprüngliche Krisenlösungen, die, insofern sie sich als zuverlässig erwiesen haben, verbindliche Routinen für die alltägliche Bewältigung bestimmter, wiederkehrender Probleme innerhalb eines Kollektivs zur Verfügung stellen. Verbindlich sind soziale Deutungsmuster nicht zuletzt insofern, als sie - hat man sie im Rahmen von Sozialisationsprozessen einmal verinnerlicht - weitgehend unbewusst das Handeln von AkteurInnen strukturieren. 23 Zentral ist dabei die Vorstellung, dass es sich bei sozialen Deutungsmustern nicht einfach um eine Ansammlung von Einzelerfahrungen oder Einzeldeutungen handelt. Diese Wissensbestände sind durch eine Struktur gekennzeichnet. Situationsgebundene Einzeldeutungen, die von AkteurInnen in Handlungszusammenhänge abgerufen werden, leiten sich aus diesem strukturierten Grundstock an Wissen ab. 24 In ihrer bestehenden Form werden soziale Deutungsmuster solange re- 20 Mijić 2014 21 Vgl. z. B. Oevermann, Ulrich/ Allert, Tilman/ Konau, Elisabeth/ Krambeck, Jürgen: Die Methodologie einer „objektiven Hermeneutik“ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart: Metzler 1979, pp. 352-434. 22 Das Deutungsmusterkonzept wurde von dem Frankfurter Soziologen Oevermann in die deutschsprachige sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt und seit Mitte der 1970er Jahre auf verschiedenste Weise aufgegriffen, modifiziert und erweitert. Vgl. Oevermann, Ulrich: Kommentar zu Christine Plaß und Michael Schetsche: „Grundzüge einer wissenssoziologischen Theorie sozialer Deutungsmuster“. In: Sozialer Sinn (2001) Heft 3, pp. 537-546, hier p. 536. 23 D.h. aber auch, dass Deutungsmuster typischerweise nicht explizit abgefragt werden können; es handle sich vielmehr, so Oevermann, um ein „tacit knowledge“, um ein „schweigendes Wissen“. Vgl. Oevermann, Ulrich: Die Struktur sozialer Deutungsmuster - Versuch einer Aktualisierung. In: Sozialer Sinn (2001) Heft 1, pp. 35-81, hier p. 41. 24 Solche Einzeldeutungen sind dann (idealerweise) sowohl mit den bis dahin gemachten Erfahrungen als auch mit den Deutungen des Kollektivs, dem die AkteurInnen angehören, vereinbar. 484 Ana Mijić produziert, wie sie sich bewähren. Tauchen in Handlungssituationen Probleme auf, für deren Deutung die vorhandenen, eingeschliffenen Interpretationen nicht ausreichen, drängt der Handlungsdruck der Alltagspraxis zu Lösungen, die sich im Rahmen des bis dahin gültigen Deutungsmusters nicht begründen lassen. 25 Die Folge ist, dass Elemente eines Deutungsmusters einer Revision unterzogen werden. Deutungsmuster sind jedoch in der Regel nie vollständig neu entwickelte Programmatiken, sondern gehen typischerweise immer aus der Transformation vorausgehender Deutungsmuster hervor; 26 das ‘Neue’ muss sich diesem Verständnis zufolge aus dem Alten entwickeln. 27 Der Soziologe Ulrich Oevermann selbst spricht in diesem Zusammenhang von einem historisch-genetischen Spiralmodell. 28 Identität als soziales Produkt Die gesellschaftliche Problem- oder Krisenkonstellation, die es mit dem hier zur Debatte stehenden Deutungsmuster zu bewältigen gilt, lässt sich mit einer ebenso simplen wie komplexen Frage umreißen: Wer bin ich? Es ist die Frage nach der Konstitution des Selbst. Dass es sich bei dieser Frage um eine ‘soziale’ Problematik handelt, liegt in dem hier vertretenen Verständnis von Identität begründet: Ihm zufolge ist Identität per se als sozial zu verstehen. Die Vorstellung der Identitätsbildung über Vergesellschaftungprozesse geht unter anderem auf den Chicagoer Sozialpsychologen George Herbert Mead zurück: 29 Die Identität konstruiert und rekonstruiert sich im ständigen Prozess der Abarbeitung am Sozialen, d. h. im Prozess der permanenten Wechselwirkung von Gesellschaftlichem und Individuellem. Ihren systematischen Niederschlag findet diese so- 25 Vgl. Oevermann, Ulrich: Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern. In: Sozialer Sinn (2001), Heft 1, pp. 3-33, hier p. 22. 26 Vgl. Oevermann 2002, p. 44. 27 Meuser, Michael/ Sackmann, Reinhold: Zur Einführung. Deutungsmusteransatz und empirische Wissenssoziologie. In: Dies. (Hrsg.): Analysen sozialer Deutungsmuster. Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie. Pfaffenweiler: Centaurus 1992, pp. 9-37, hier p. 20ff. 28 Oevermann 2001, pp. 20 f.- Darin liegt nun aber auch die Tatsache begründet, dass sich gesellschaftliche Umbruchssituationen oder Krisenkonstellationen, in denen typischerweise von einer Modifikationen sozialer Deutungsmuster auszugehen ist, besonders zu einer Deutungsmusteranalyse eignen, denn hier ist auf Seiten der AkteurInnen eine erhöhte Reflexivität notwendig, die eine zumindest zeitweise Manifestierung von Deutungsmustern mit sich bringt; vgl. Meuser/ Sackmann 1992, p. 20f. 29 Mead, George Herbert: Mind, Self and Society. Chicago: The University Press 1934. Vgl. auch Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday 1956; Strauss, Anselm L.: Mirrors and Masks. The Search for Identity. San Francisco: The Sociology Press 1959. Das ‘Wir’ im ‘Ich’ 485 zialkonstruktivistische Grundannahme in der von Peter L. Berger und Thomas Luckmann formulierten „fundamentalen Dialektik des Sozialen“: Gesellschaft hat eine Geschichte, in deren Verlauf eine spezifische Identität entsteht. Diese Geschichte machen jedoch Menschen mit einer spezifischen Identität. Hat man diese Dialektik vor Augen, so kann man die irreführende Vorstellung einer ‘kollektiven Identität’ fallen lassen, ohne zur Einzigartigkeit der individuellen Existenz, sub specie aeternitatis, Zuflucht nehmen zu müssen. 30 Unter welchen Voraussetzungen, so kann nun gefragt werden, wird Identität problematisiert? Die Frage „Wer bin ich? “ stellt sich, so die Soziologen Berger und Luckmann, „einfach weil zwei konkurrierende Antworten zur Wahl stehen“ 31 - konkurrierende Antworten von konkurrierenden ‘Anbietern’. Diese sind im vorliegenden Fall die Trägergruppen der oppositionell zueinander stehenden Deutungsoptionen. Sie liefern verschiedene „objektive Wirklichkeiten“, d. h. solche, die durch Institutionalisierungsprozesse strukturell verfestigt und durch Legitimierungen, zu welchen beispielsweise auch kollektive Narrative zu zählen sind, abgesichert werden. Die objektive Wirklichkeit wird dem Individuum im permanenten Prozess der Sozialisation vermittelt, d. h. im selben Prozess, in welchem sich auch die Identität entwickelt. Eine zentrale Rolle spielen dabei konkrete Bezugspersonen: „Die signifikanten Anderen sind im Leben des Einzelnen die Starbesetzung im Spiel um seine Identität.“ 32 Sie bringen die ausdrückliche und gefühlsgetragene Gewissheit darüber, dass man ist, und auch wer man ist. Die Gruppe der signifikanten Anderen ist in diesem Sinne die primäre Instanz zur Vermittlung der eigenen Wirklichkeitsbestimmung. Bestehen wie in dem hier diskutierten Fall konkurrierende Wirklichkeitsbestimmungen nebeneinander, „so duldet man alle Arten von Sekundärgruppen-Beziehungen der Konkurrenten, solange fest etablierte Primärgruppen-Beziehungen vorhanden sind, in denen die jeweils eine Wirklichkeit gegenüber ihrer Konkurrenz behauptet wird.“ 33 Damit lässt es sich erklären, dass in der heutigen bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft vielfältige wirtschaftliche und andere Formen nicht-intimer sozialer Kontakte bestehen, während aber etwa ‘gemischte’ Ehen typischerweise zumindest einer Art von Rechtfertigungszwang unterliegen. Auch das Phänomen der ethnisch getrennten Schulen - die Schule ist als eine zentrale Sozialisationsinstanz zu betrachten - wird dadurch analytisch erfassbar. 30 Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/ M.: Fischer 1996, p. 185. 31 Ibid., p. 178. 32 Ibid., p. 161. 33 Ibid., p. 163; Hervorhebung im Original. 486 Ana Mijić Ethnizität - nicht ohne „den Anderen“ Wie ‘Identität’, kann auch ‘Ethnizität’ nicht als ein ursprüngliches und unveränderliches Element menschlichen Daseins betrachtet werden. Das entscheidende Kriterium bei der Identifikation ethnischer Gruppen sind Prozesse der situativen Selbst- und Fremdzuschreibung, d. h. die ethnische Grenzziehung. 34 Diese kann sich zu unterschiedlichen Zeiten verschieden gestalten - weshalb auch zu betonen ist, dass Ethnizität im Allgemeinen in ihrer Relevanz für Identitätsbildungsprozesse graduell verstanden werden muss. Ihr Gewicht ist situationsgebunden, d. h. vom spezifischen Kontext abhängig. Im hier diskutierten Fall ist auf Grund der kriegerischen Gewalt in jüngster Vergangenheit von einer zentralen Bedeutung ethnischer Selbst- und Fremdzuschreibungen auszugehen. Die Ethnisierung der Identität verfestigte sich, wie oben beschrieben, im Konfliktverlauf gar zu einem wesentlichen Bestandteil des ‘Selbst’. Es ist davon auszugehen, dass der Konnex zwischen ethnischer Zugehörigkeit und Identität typischerweise mit einer ausgeprägten Identifikation mit der jeweiligen ethnischen Gruppe einhergeht. Diese Verwobenheit des ‘Ichs’ mit dem ‘Wir’ beschreibt Norbert Elias folgendermaßen: Das Wir-Bild und das Wir-Ideal eines Menschen ist ebenso ein Teil seines Selbstbildes und Selbstideals wie das Bild und Ideal seiner selbst als einzigartiger Person, zu der er ‘Ich’ sagt. 35 In dieser Identifikation mit der jeweiligen ethnischen Gruppe liegt die potentielle Verletzlichkeit der Identität durch die Infragestellung des ‘Gruppencharisma’ begründet. Die Identifikation mit den ‘Kriegshelden’, um nochmals auf das oben angeführte Beispiel zurückzugreifen, bringt es mit sich, dass die Infragestellung ihres Status’ als Held, Auswirkungen auf das individuelle ‘Selbstbild’ hat und das ‘Selbstideal’ erschüttert, so wie es das ‘Wir-Ideal’ erschüttert. Dieser hier formulierten Annahme der Verletzlichkeit der Identität liegt kein statisch-essentialistisches Identitätsverständnis zugrunde. Identität soll, wie oben bereits ausgeführt, als ständiger Prozess der Abarbeitung am Gesellschaftlichen verstanden werden, und insofern unterliegt auch die Identität einer permanenten Veränderung. Nichtsdestotrotz ist die Identität nicht beliebig formbar. Unter bestimmten Umständen kann es zu Brüchen sowie emotionalen Verletzungen der an die individuelle Biografie gekoppelten Identität kommen. Der Frage, unter welchen Umständen es zu solchen ‘Brüchen’ kommen kann und ob diese Umstände im Nachkriegs-Bosnien-Herzegowina potentiell gegeben sind, soll im 34 Barth, Fredrik (Hg.): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. Oslo: Universitetsforlaget/ Scandinavian Univ. Press 1969. 35 Elias/ Scotson 1990, p. 44. Das ‘Wir’ im ‘Ich’ 487 Folgenden nachgegangen werden. Hierfür wird der Blick auf die problematische ‘objektive Wirklichkeit’ der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft sowie den Prozess der Internalisierung dieser Wirklichkeit im Rahmen von Sozialisationsprozessen gerichtet. Das Problem mit der „objektiven Wirklichkeit“ in Bosnien-Herzegowina Die von Berger und Luckmann herausgearbeitete fundamentale Dialektik des Sozialen verläuft in einem Dreischritt von ‘Externalisierung’, ‘Objektivierung’ und ‘Internalisierung’. Jedes dieser Elemente ist ein wesentliches Merkmal der sozialen Wirklichkeit: Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt. 36 Oben wurde Identität als ein soziales Produkt bezeichnet. Identität, respektive Menschen mit spezifischen Identitäten, sind aber diesem Verständnis zufolge nicht nur Produkte, sondern auch Produzenten sozialer Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit wird im permanenten Prozess der Entäußerung geschaffen. Zur objektiven Wirklichkeit wird das Produkt menschlicher Entäußerung im Prozess der Objektivierung. Richtet man nun den Blick auf die Nachkriegssituation in Bosnien-Herzegowina, kann zunächst festgestellt werden, dass im Hinblick auf die Relation zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen unterschiedliche ‘objektive Wirklichkeiten’ nebeneinander bestehen. Es sind die objektiven Wirklichkeiten genau dieser ethnischen Gruppen. Verfestigt haben sich diese im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen. In der Nachkriegssituation werden die Menschen in Bosnien-Herzegowina mit einer weiteren Wirklichkeitsbestimmung konfrontiert. Es ist die Deutung der Wirklichkeit etwa der „Internationalen Gemeinschaft“. Diese Deutung der Wirklichkeit ist jedoch nicht aus der Gesellschaft heraus gewachsen, sondern wurde von außen auferlegt. Während also von einer weitreichenden Symmetrie zwischen der subjektiven Wirklichkeit der Menschen in Bosnien-Herzegowina mit den objektiven Wirklichkeiten ihrer jeweiligen ethnischen Gruppe ausgegangen werden kann, ist von einer Asymmetrie zwischen diesen subjektiven Wirklichkeiten und einerseits den von außen herangetragenen objektiven Wirklichkeiten sowie andererseits den objektiven Wirklichkeiten der je anderen ethnischen Gruppe auszugehen. Diese Asymmetrie führt, so die These, zu strukturellen „Verletzungen“ oder Brüchen von auf pragmatische Konsistenz angelegten Identitätsbildungsprozessen. 36 Berger/ Luckmann 1969, p. 65. 488 Ana Mijić Sozialisation als Internalisierung „objektiver Wirklichkeit“ Im permanenten Prozess der Sozialisation wird die sozial konstruierte objektive Wirklichkeit internalisiert, so Berger und Luckmann. Im Lichte der durch die Internalisierung zur subjektiven Wirklichkeit werdenden objektiven Wirklichkeit konstruieren Individuen ihr Selbstbild: „Die subjektive Aneignung der eigenen Identität und die subjektive Aneignung der sozialen Welt sind nur verschiedene Aspekte ein und desselben Internalisierungsprozesses.“ 37 Dieser Prozess der Internalisierung verläuft nach Berger und Luckmann typischerweise in zwei von einander zu unterscheidenden Phasen: der primären Sozialisation und der sekundären Sozialisation. Unter primärer Sozialisation versteht man zuallererst die erste Phase, in der ein Kind zum Mitglied der Gesellschaft wird, während unter sekundärer Sozialisation „ jeder spätere Vorgang [zu verstehen ist], der eine bereits sozialisierte Person in neue Ausschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft einweist“. 38 Die Sozialisation wird in diesem Sinne als niemals abgeschlossen betrachtet. Die subjektive Wirklichkeit unterliegt einem steten Transformationsprozess. Diese Transformationen lassen sich jedoch nach dem Grad der Modifikation, die sie mit sich bringen, differenzieren. Am einen Ende einer Skala sind dabei die Transformationen anzusiedeln, welche durch solche sekundären Sozialisationsprozesse hervorgerufen werden, die unmittelbar an die primären Internalisierungen anschließen. In diesem Fall wird die im Rahmen der primären Sozialisation inkorporierte Wirklichkeit im weiteren Sozialisationsverlauf immer nur bestätigt. Am anderen Ende steht die ‘Verwandlung’, d. h. die Übernahme einer neuen, gänzlich differenten subjektiven Wirklichkeit. Die zentrale Voraussetzung für eine Verwandlung sind Re-Sozialisationsprozesse, die jenen „der primären Sozialisation ähnlich sind, da sie radikal neue Wirklichkeitsakzente setzen müssen.“ 39 Sekundäre Sozialisationsprozesse setzen auf der Grundlage der primären Internalisierungen an und vermeiden im allgemeinen krasse Brüche in der subjektiven Lebensvorstellung. Das Resultat ist die Schwierigkeit, den Zusammenhang zwischen früheren und späteren Elementen der subjektiven Wirklichkeit zu sichern. Dieses Problem - das bei der Resozialisation in dieser Art nicht vorkommt, da sie die subjektive Biografie auseinanderreißt und die Vergangenheit neu aufrollt, statt sie mit der Gegenwart abzustimmen -, wird dringlicher, je näher die sekundäre Sozialisation der Resozialisation kommt, ohne tatsächlich in sie umzuschlagen. Resozialisation heißt: Man durchschneidet den gordischen 37 Ibid., p. 143. 38 Ibid., p. 141 [Hervorhebung A.M.]. 39 Ibid., p. 168. Das ‘Wir’ im ‘Ich’ 489 Knoten des Zusammenhangsproblems, indem man die Suche nach Zusammenhängen aufgibt, und die Wirklichkeit neu konstruiert. 40 Im Falle der Verwandlung haben auch die signifikanten Anderen gewechselt, denen im Prozess der Resozialisation eine zentrale Bedeutung als Vermittler der neuen Wirklichkeit zukommt: „Die neue Plausibilitätsstruktur muss dem Individuum durch signifikante Andere vermittelt werden, mit denen es zu einer tiefen Identifikation kommen muss.“ 41 Und gerade aufgrund dieser Bindung sind „Identifikation, Entidentifikation und Verwandlung von emotionalen Krisen begleitet.“ 42 Wege aus der Spannung - Einige abschließende Gedanken zu möglichen Bewältigungsstrategien Unter Berücksichtigung der theoretischen Überlegungen im vorhergehenden Teil, sollen nun abschließend im Hinblick auf die Frage, wie Individuen im Kontext der strukturellen Spannung gleichzeitiger Legitimierung und Delegitimierung hierarchisierender ethnischer ingroup-outgroup -Unterscheidungen ihr Selbst konstruieren, unter Rückgriff auf das empirische Material einige Thesen formuliert werden. Geht man von den beiden Extremen ‘Resozialisation’ sowie der bruchlos auf primären Internalisierungen aufbauenden Sekundärsozialisation aus, könnte die angenommene Spannung zwischen gleichzeitiger Legitimierung und Delegitimierung (idealtypisch) zu zwei Seiten hin aufgelöst werden: Auf der einen Seite stünde dabei eine den ‘neuen’ Deutungsangeboten gänzlich trotzende ungebrochene Ratifizierung wertgeladener ethnischer Differenzierung; auf der anderen Seite eine prinzipielle Delegitimierung der wertgeladenen Differenzierung, durch die Entkoppelung der Kriegsvergangenheit vom Gegenwartshorizont. Im letzteren Fall bedarf es einer Resozialisation. Empirisch werden sich diese Typen in ihrer ‘Reinform’ nicht identifizieren lassen. Gegen eine ungebrochene Ratifizierung sprechen etwa von außen initiierte gesamtgesellschaftliche Transformationen sowie die damit gegebenen strukturellen Rahmenbedingungen. Die unveränderte Aufrechterhaltung des eigenen ‘Gruppencharisma’ sowie der ‘Gruppenschande’ der ethnischen Außengruppe bedarf zumindest einer neuen Form der Legitimierung. Gegen eine prinzipielle Delegitimierung vormals konstitutiver Deutungen spricht die Tatsache, 40 Ibid., p. 172f. 41 Ibid., p. 168. 42 Ibid., p. 183. 490 Ana Mijić dass sich neue Deutungen prinzipiell transformatorisch aus alten entwickeln müssen. ‘Konversionen’ im vollendeten Sinne sind als soziale Randerscheinungen zu betrachten. Zwischen der Sekundärsozialisation, wie sie hier beschrieben wurde, und der Resozialisation gibt es in der Praxis zahlreiche Zwischentypen . 43 Eine Orientierung, die der Verwandlung nahe kommt, findet sich beispielsweise in einem Prozess, der als Pan-Ethnisierung bezeichnet werden kann. Diese Orientierung steht mit der Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen Integration im Einklang, dafür aber, aufgrund der Abkoppelung der (Kriegs-) Vergangenheit vom Gegenwartshorizont, im Spannungsverhältnis zu den Erfahrungen der 1990er Jahre. So zeigt die Interpretation der im Rahmen des Forschungsprojektes in Bosnien-Herzegowina erhobenen Interviews etwa, dass im Zuge interethischer Kommunikation das Wissen über die Kriegsvergangenheit aufgrund pragmatischer Überlegungen oft nicht mobilisiert wird. Ein Interviewpartner sagte: […] Nach einer so kurzen Zeit, es vergingen keine paar Monate, nachdem der Krieg aufhörte, fingen wir an, zueinander zu gehen. […] Als sei nichts gewesen […] Als hätte dieses Loch nie existiert. Als hätten die Linien nie existiert. (Interview 1, Zeile 81 ff.) Darüber hinaus wird der Krieg regelmäßig als nicht von Menschen gemacht, sondern als ein übermenschliches, die Menschen vernichtendes und verfeindendes Phänomen beschrieben: Als Tito starb, als Jugoslawien zerfiel, […] kam dieser verdammte Krieg, welcher angerichtet hat, was er angerichtet hat: uns alle verfeindet. (Interview 2, Zeile 11 ff.) Der Krieg tritt in der Gestalt eines vom Handeln menschlicher Subjekte unabhängigen Geschehens auf, ähnlich einer Naturkatastrophe, oder gar als aktiv handelnd - quasi als Subjekt. Die Konsequenz dieser Perspektive ist, dass der Krieg letztlich nicht zum Objekt ethischer Überlegungen gemacht werden kann und menschliches Handeln von jeder Verantwortung befreit wird. Die Funktion dieses Deutungsmusters in Bezug auf den hier verhandelten Fall ist evident: Indem man den Krieg personifiziert, geht man einerseits selbst in Distanz zum Geschehenen und schützt damit sein Wir-Ideal. Gleichzeitig bietet man diese Möglichkeit auch dem Gegenüber an. Dahinter verbirgt sich sehr wahrscheinlich der kleinste gemeinsame pan-ethnische Nenner, denn die Subjektivierung des Krieges erleichtert es, die unmittelbare Kriegsvergangenheit vom Gegenwartshorizont abzukoppeln, um an eine genuin positiv bewertete Vorvergangenheit - der gemeinsamen jugoslawischen Lebenswirklichkeit mitsamt ihrer 43 Ibid., p. 172. Das ‘Wir’ im ‘Ich’ 491 Plausibilitätsstrukturen - anzuschließen. 44 Vor allem jene, die erfolgreich (und anhaltend) ins sozialistische System des ehemaligen Jugoslawien sozialisiert wurden, scheinen auf dieses Deutungsmuster, mit welchem stets auch gewisse jugo-nostalgische Narrationen einhergehen, zurückzugreifen. Dabei zeigt sich, dass diese Narrationen oder die Erzählungen von dem, was war, gleichzeitig Erzählungen sind, von dem, was sein soll; es wird deutlich, dass im Vergangenen stets auch - wenn nicht gar vor allem - Zukünftiges verhandelt wird. Ein empirisch beobachtbarer Fall, der der ungebrochenen Ratifizierung wertgeladener ethnischer ingroup-outgroup -Differenzierung sehr nahe kommt, ist dagegen die Viktimisierung der ethnischen Eigengruppe. Dabei verläuft die Identitätskonstruktion über die Konstruktion des Selbst als Opfer. Dies geschieht jedoch durchaus im Lichte des neuen Begründungszwangs. Die Delegitimierung der wertgeladenen ethnischen Grenzziehung wird unter Berufung auf das erfahrene Leid infragegestellt. ‘Opfer-Sein’ und ‘Verantwortung tragen’ werden als sich gegenseitig ausschließende Kategorien gesehen und die Anerkennung als Opfer widerspricht dieser Wahrnehmung zufolge der Zuschreibung von (Mit-)Verantwortung. Die Selbstviktimisierung basiert auf dem Glauben an die Rechtmäßigkeit der eigenen Ziele; sie dient der moralischen Rechtfertigung und damit auch einer Stärkung des eigenen Gruppencharisma, welche typischerweise einhergeht mit der Betonung der Illegitimität der Ziele des ethnischen Gegenübers und einer Akzentuierung der fremden Gruppenschande. Es geht im Wesentlichen um die Demonstration der eigenen moralischen und zivilisatorischen Überlegenheit. Dort wo die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine Auseinandersetzung mit der eigenen Täterrolle erzwingt, kommt es typischerweise zu einer Umschichtung der Prioritäten. Die eigene Täterrolle wird im kollektiven Gedächtnis zugunsten einer Selbstdefinition als Opfer in den Hintergrund gedrängt. Exemplarisch zeigt sich eine solche Umkehrung in der folgenden Interview-Sequenz: Frage: Ich habe noch eine Frage. Hier in Banja Luka leben mehrheitlich Serben, oder? Antwort: Ja, ja, mehrheitlich ja. Aber es sind auch viele Muslime zurückgekehrt. Etwas weniger Kroaten, weil die Kroaten haben sich an anderen Orten niedergelassen. (3) Wissen sie, wenn jemand 10-15 Jahre irgendwo lebt, findet er sich dort zurecht und 44 An diesem Beispiel wird nun aber auch sehr deutlich, dass unterschiedliche Strategien, die Spannung aufzulösen, wahrscheinlich auch von biografischen Daten abhängig sind. So wird sich etwa die Jugo-Nostalgie vor allem innerhalb der Generation identifizieren lassen, die in den 1960er und 1970er Jahren primär sozialisiert wurden, oder eben auch bei Kindern aus ‘gemischten’ Ehen. 492 Ana Mijić will später gar nicht zurückkommen. Aber das Eigentum wurde zurückgegeben. Alles. Sarajewo ist, sagen wir mal, eine ethnisch gesäuberte muslimische Stadt. Tuzla genauso. Zenica genauso. (2) Von daher…Prijedor ist (.) vor allem Serben sind dort. Doch auch dorthin sind viele Muslime zurückgekehrt. (Interview 3; Zeile 94 ff.) Hier wird durch den Interviewten die moralische Überlegenheit seiner ingroup - in diesem Fall der Serben - sowie das amoralisch Verhalten der outgroup - hier vor allem der Bosniaken - sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Ist auf der einen Seite die Rede davon, dass „hier“, also in Banja Luka und in Prijedor (beide Städte liegen in der sog. Republika Srpska), vor allem Serben leben, und dass es dem freien Willen der Anderen obliegt, ob sie zurückkehren oder nicht, spricht er andererseits im Zusammenhang mit den Städten Sarajevo, Tuzla und Zenica von „ethnisch gesäuberten muslimischen Städten“. Konfrontiert mit dem sozial-historischen Kontext ist es vor allem im Hinblick auf Sarajevo, das von 1992 bis 1996 von serbischen Truppen belagert wurde, doch recht befremdlich, wenn hier von einer „ethnisch gesäuberten muslimischen Stadt“ gesprochen wird. Die Täterrolle der „Wir-Gruppe“ wird an dieser Stelle sehr deutlich in den Hintergrund gedrängt und der Sachverhalt, dass in Sarajevo gegenwärtig relativ wenige SerbInnen leben, nicht auf die Verbrechen von Mitgliedern der ingroup zurückgeführt, sondern auf als Verbrechen deklariertes Verhalten von Mitgliedern der bosniakischen respektive der „muslimischen“ outgroup . Die Anerkennung des je eigenen Opferstatus wird auch von Dritten eingefordert. So wird etwa vom ICTY erwartet, dass es die Version der Wahrheit vertreten soll, welcher zufolge die ingroup insgesamt als Opfer betratet wird. Wird die Erwartung enttäuscht, wird dies als ein Angriff auf die eigene Identität betrachtet. Aufgrund der starken Identifikation mit den Angeklagten ist die Annahme verbreitet, dass vor dem Tribunal nicht über Individuen gerichtet wird, sondern über die gesamte ethnische Gruppe. Insofern erscheint es recht plausibel davon auszugehen, dass das Tribunal auch als eine Kampfarena zur Bewahrung der eigenen Identität und der eigenen Wirklichkeitsperspektive betrachtet wird. Da jede Gruppe sich selbst als primäres Opfer des Krieges bzw. der Anderen betrachtet, bleibt das Spannungsverhältnis zum Anspruch auf die gesamtgesellschaftliche Integration in ausgeprägter Form bestehen. 45 Fazit Einleitend wurde dargelegt, dass das ‘westliche’ Bild vom ewig gestrigen Balkan sehr wahrscheinlich auch Konsequenzen hinsichtlich der Selbstwahrnehmung 45 Höpken 2005, p. 175. Das ‘Wir’ im ‘Ich’ 493 der Menschen vor Ort zeitigt. Angesichts der Ergebnisse der hermeneutischen Analyse kann abschließend plausibel angenommen werden, dass die Selbstviktimisierung auch ein Resultat dieser Fremdbilder ist: „[D]ie Protagonisten werden nicht ernst genommen. Das heisst, sie werden nur ernst genommen, wenn sie die Rolle von hilflosen Opfern spielen, die der Westen dann rettet“, so etwa Slavoj Žižek (2010) in einem Interview mit der NZZ. 46 In den vergangenen Jahren wird darüber hinaus vor allem von Seiten populistisch argumentierender westlicher PolitikerInnen auch vor einer zunehmenden Islamisierung Bosnien-Herzegowinas und dem Einfluss islamischer Staaten auf das Land gewarnt. Vor allem in Österreich wird das Deutungsmuster einer drohenden islamischen Gefahr auf dem Balkan gerne mobilisiert: Heute wie damals vor einem Jahrhundert tritt ‘der Westen’ als ‘Helfer in der Not’ in Erscheinung und trägt damit nicht nur zu einer Stabilisierung der Selbst-Viktimisierung und der gegenwärtigen Verhältnisse bei sondern auch zu einem anhaltend verzerrten Balkanbild - charakterisiert durch Rückständigkeit, Barbarei und Primitivismus. 46 Ernst, Andreas: „Der Balkan verschwindet.“ Gespräch mit Slavoj ŽiŽek. In: NZZ, 22.11.2010, http: / / www.nzz.ch/ aktuell/ feuilleton/ uebersicht/ der-balkan-verschwindet-1.8447698. - Die Wirkung dieser Fremdbilder geht vermutlich noch sehr viel weiter. Das Strukturmuster der Selbstviktimisierung reproduziert sich zwar über das gesamte Datenmaterial hinweg; der kontrastierende Vergleich der Interviews offenbart jedoch auch ethnisch spezifische Ausprägungen dieser Selbstviktimisierung. Es liegt sehr nahe, davon auszugehen, dass sich die jeweilige Erscheinungsform der Selbstviktimisierung, d. h. die Art und Weise der Argumentation und der Legitimation des eigenen Opferstatus’, der Tatsache verdankt, mit welchem Fremdbild sich die Akteure jeweils konfrontiert sehen. Die internationalen Akteure - sowohl die politischen Akteure als auch die internationale Öffentlichkeit - halten nicht alle am Krieg Beteiligten oder vom Krieg Betroffenen gleichermaßen für Opfer. Vielmehr unterscheiden auch sie zwischen jenen, die den Krieg und die damit verbundenen Verbrechen primär zu verantworten haben, und jenen, die den Gräueltaten der anderen zum Opfer gefallen sind. Diese Differenzierung verläuft dabei nicht selten pauschalisierend entlang ethnischer Grenzziehungen. Vgl. dazu Mijić 2014, pp. 405-414. Ethnonationalismus in der longue durée? 495 Ethnonationalismus in der longue durée? Vermessungen der historischen und aktuellen Widersprüche Bosnien-Herzegowinas Vedran Džihić (Wien) Die Geschichte Bosnien-Herzegowinas ist eine Geschichte der Widersprüche. In den letzten beiden Jahrhunderten wechselten sich Phasen des friedlichen Miteinanderlebens mit Perioden tiefen Misstrauens und blutig ausgetragener Konflikte ab. Das heutige Post-Dayton-Bosnien scheint vor allem die negative und konfliktgeladene Dimension internalisiert zu haben, in der das Ethnische als das Trennende gilt und das Gemeinsame im Rahmen des hegemonialen Diskurses als ein naiver und idealisierter Topos der angeblichen Realitätsverweigerer abgetan wird. Die heutige Gegenwart ist deprimierend: die staatliche Konstruktion von Dayton funktioniert nicht und produziert permanent neue Konflikte; das Land befindet sich im Würgegriff der ethnonationalen politischen und ökonomischen Eliten, denen die eigenen Interessen längst wichtiger sind als die Interessen der Menschen; die ökonomische und soziale Lage für die Mehrheit der Bevölkerung ist trist. Schließlich werden auch die Bürgerinnen und Bürger Bosnien-Herzegowinas immer apathischer, von denen sich sehr viele längst mit der Post-Dayton-Realität abgefunden zu haben scheinen. Das Heute und Jetzt kann als ein Zeitalter der permanenten Gegenwart und des permanent Ethnischen betrachtet werden, aus dem heraus betrachtet alle Widersprüche der Geschichte verwischt und zum ethnonationalen Einheitsbrei vermischt werden, der keinen Widerspruch duldet und den Anspruch auf Unendlichkeit, Unzerstörbarkeit und ewige Existenz erhebt. Ein solches ethnonationalisiertes Bosnien-Herzegowina ist in seiner eigenen und vom Dayton-Paradigma bestimmten Selbstreferenzialität gefangen. Auch die Geschichte Bosniens und der Herzegowina ist längst zu einer regelrechten Kampfarena geworden. Das heutige Land als ein Gebilde, in dem symbiotisch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen, generiert einen wichtigen Teil seiner Existenz und Macht aus der bewussten und beliebigen Verzerrung der Historie durch seine Protagonisten, die ethnonationalistischen 496 Vedran Džihić Politiker und die jeweiligen politischen und ökonomischen Eliten. Überlässt man ihnen dieses Feld, akzeptiert man auch ihre Macht. Eine demystifizierende und die exklusiven ethnonationalen Narrative dekonstruierende Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Entwicklung der nationalen Frage, eine Form von longue durée, wie sie in diesem Beitrag versucht wird, verlangt nach einer Hinterfragung der scheinbar gegebenen historischen Umstände, sucht zu enttarnen, was als Ergebnis verzerrter und manipulierter Geschichtsdeutungen entlarvt werden kann. 1 Dies ist vor dem Hintergrund der heute fast monolithisch dastehenden, ethnonational geprägten und stets exklusiven „(National) Geschichten“ eine wichtige Aufgabe. In diesem Sinne versteht sich der vorliegende Beitrag als eine um Objektivierung bemühte Skizze der Widersprüchlichkeit der bosnisch-herzegowinischen Geschichte, als ein Gang durch die wesentlichen Eckpunkte des heute geschichtlich Umstrittenen und eine Hinterfragung, wie sich die Spuren der Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Gegenwart widerspiegeln. Der Beitrag verweist damit auf jene geschichtlichen - politischen und gesellschaftlichen - strukturellen Merkmale der Gewachsenheit Bosnien-Herzegowinas, die man durchaus im Sinne von longue durée der Annales-Schule verstehen kann. Der Anspruch des Beitrags liegt aber auch implizit in einem Versuch der Dekonstruktion der heutigen ‘permanenten Gegenwart’, des Ethnonationalismus und der Ethnopolitik sowie entsprechender (geschichtlicher und aktueller) Narrative. Der Beitrag teilt sich in mehrere größere Abschnitte: Zuerst wird die strukturelle Formation der Widersprüche des interethnischen Lebens - oder des Ethnischen in einem breiteren Sinne (im 20. Jahrhundert) - beginnend mit der späten Phase des Osmanischen Reiches über die Zeit der Okkupation / Annexion durch Österreich-Ungarn bis hin zur Entstehung des ersten Jugoslawien - anhand des Gegensatzes zwischen ethnonationaler Gruppenbildung einerseits und den das Ethnische transzendierenden Konzepten wie jenem des komšiluk untersucht. Dann wird kurz die Entwicklung der nationalen Frage während der sozialistischen Zeit sowie jene Phase der bosnisch-herzegowinischen Geschichte in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren geschildert, in der es zur konflikthaften Aktualisierung der ethnonationalen Frage kam, die als zentrale Rahmenbedingung für das Verständnis der heute gültigen Form der Ethnostaatlichkeit nach dem Daytoner Muster definiert wird. Abschließend wird die spezifische Form der institutionalisierten Einschreibung des Ethnischen in Staat und Gesellschaft 1 Vgl. dazu die Anmerkung des bosnischen Geschichtswissenschaftlers Srećko M. Džaja, der in der Einleitung zu seinem Buch über die Geschichte Bosnien zwischen 1463 und 1804 auf dieses Dilemma hinweist. Vgl. Džaja, Srećko M.: Konfessionalität und Nationalität Bosniens und der Herzegowina - Voremanzipatorische Phase 1463-1804. München: Oldenbourg 1984. Ethnonationalismus in der longue durée? 497 nach Dayton als Ausgangspunkt für einige kritische Betrachtungen über das neue ethnonationale (Macht-)Narrativ und seine realpolitische Begleitung in Form von Ethnopolitik genommen. 1. Bosnien-Herzegowina am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jhs.: ethno-religiöse Vergemeinschaftung und komšiluk Der Prozess der ethnischen Differenzierung der drei großen Gemeinschaften verlief bis ins 19. Jahrhundert nach keinem klaren Muster: Es gab seitens aller drei religiösen Gemeinschaften passiven und aktiven Widerstand gegen das Osmanische Reich, gleichzeitig auch viele Formen des Arrangements mit dessen Strukturen, in denen bestimmte Gruppen - und hier v. a. jene Schichten, die den Islam als Religion annahmen - im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben des Reiches aktiv partizipierten und so durchaus ihre sozioökonomische Lage verbessern konnten. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts organisierten sich die Juden und die beiden christlichen Kirchen in Form von milets (religiöse Gemeinschaften mit weitgehender Autonomie innerhalb des Osmanischen Reiches). Damit zeigte sich die bosnische Gesellschaft das erste Mal in ihrer Geschichte als ethnisch-religiös ‘vergemeinschaftet’: milets agierten in vielen Bereichen unabhängig von der staatlichen Macht und konnten eigene Formen der Verwaltung für die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft entwickeln. Durch sie kommt es auch zu einer bis ins 20. Jahrhundert wirksamen Aufteilung bestimmter Stadtteile oder Gewerbe nach ethno-religiösen Grundsätzen. Gleichzeitig - und dies ist eines der zentralen Elemente für das Verständnis der Widersprüchlichkeit der nationalen Verhältnisse - wird hier das Element des komšiluk zum ersten Mal relevant: In diesem Begriff, das mit dem Konzept gutnachbarschaftlicher Beziehungen nur annähernd charakterisiert werden kann, offenbart sich die ganze Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Verhältnisses zwischen den drei Gemeinschaften. Komšiluk stammt aus dem Türkischen und steht für ‘Nachbarschaft’, bedeutet aber in Bosnien-Herzegowina viel mehr, nämlich jenes System, mit dem die Kohabitation zwischen unterschiedlichen ethno-religiösen Gemeinschaften geregelt wurde. In der Darstellung von Xavier Bougarel heißt es: Dieses Miteinander-Leben manifestiert sich im Kern in der gegenseitigen Hilfe im alltäglichen Leben und in der Arbeit, in den gegenseitigen Einladungen zu den religiösen Feiern und durch freundschaftliche Zusammenkünfte während der Familienfeiern. In diesen drei Bereichen unterliegt das System des Miteinander-Lebens strengen Regeln der Achtung und der Reziprozität. Komšiluk symbolisiert oft der gezuckerte Kaffee, 498 Vedran Džihić den der Nachbar aus Fildzan (Porzellantassen ohne Henkel) am gemeinsamen Tisch trinkt. 2 Komšiluk als ein im Alltag und abseits der staatlich geregelten Beziehungen der ethno-religiösen Gemeinschaften funktionierendes System produzierte in seiner Praxis während der osmanischen Herrschaft einen hierarchischen und nicht-territorialen Pluralismus, der zur harmonischen, friedlichen und stabilen Ausgestaltung der Alltagsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften führte. Gerade in der Stärke des komšiluk -Systems im Bereich der Alltagsbeziehungen liegt auch seine Fragilität und sein „Ausgeliefertsein“ an die Ebene des Politischen begründet. Dazu Bougarel: Diese alltägliche Bestätigung des stabilen und friedfertigen Charakters der zwischennationalen Beziehungen funktioniert so lange, so lange der Staat in der Lage ist, mit seiner Politik diesen stabilen und friedfertigen Charakter zu garantieren. Hört der Staat auf dies zu tun, oder sobald er Gemeinschaften gegeneinander positioniert, verschiebt das auch das System des komšiluk - der Suche nach der Sicherheit durch Reziprozität und Frieden - Richtung Verbrechen, Richtung Suche nach Sicherheit durch Vertreibung und Krieg. Und gerade das zeigen die zwischennationalen Akte der Gewalt, die seit dem 18. Jahrhundert beinahe regelmäßig die Agrarkrisen oder fremde Invasionen nach Bosnien und Herzegowina begleiten. 3 Dieser von Bougarel skizzierte Mechanismus der Verwandlung des komšiluk als Folge der Verschiebung der politischen Machtverhältnisse und daraus resultierenden Vernichtung des Zusammen-Lebens durch die ethnonational begründete Gewalt sollte im Krieg zwischen 1992 und 1995 einen historischen Höhepunkt finden. Bereits ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkten sich die ethno-religiösen Differenzen zwischen den drei Gemeinschaften durch den starken Einfluss der serbischen und kroatischen Nationalbewegung auf die Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina. Das osmanische Reich diente dabei vielfach zur diskursiven Konstruktion des Anderen, das man für die Stärkung des eigenen nationalen Zusammenhalts benötigte. So definierte sich die serbische nationale Bewegung in dieser Zeit v. a. durch klar zum Ausdruck gebrachte Opposition zu den „Türken“ und später auch zur österreichisch-ungarischen Monarchie, die zu den Feinden der serbischen Nation stilisiert wurden. 4 Die Auflehnung gegen das Osmanische Reich wurde 2 Bugarel, Ksavije: Bosna. Anatomija rata. Beograd: Fabrika knjiga 2004, p. 32f.; im Orig.: Bougarel, Xavier: Bosnie. Anatomie d’un conflit. Paris: La Découvert 1996, p. 118f., alle Zit. übers. v. V.D.- Vgl. auch Bringe, Tone: Being Muslim the Bosnian Way. Identity and Community in a Central Bosnian Village. Princeton: Princeton Univ. Press 1995. 3 Bugarel 2004, p. 123. 4 Vgl. Allcock, John: Explaining Yugoslavia. London: Hurst 2000, p. 330. Ethnonationalismus in der longue durée? 499 auch damals sehr stark durch mythologische Elemente, u. a. durch die Berufung auf die Schlacht am Amselfeld (Kosovo Polje) begleitet. Die Bestimmung der osmanischen Zeit als einer Ära der Unterdrückung, der Diskriminierung und der Bedrohung der eigenen Nation, gegen die man stets ankämpfen musste, sollte dann seitens der Serben im 20. Jahrhundert nahtlos in die Sicht der bosnisch-herzegowinischen Muslime als der Nachkommen des Osmanischen Reiches und als „Türken“ übergehen. Vor allem im serbischen und kroatischen Ethnonationalismus der 1980er und 1990er Jahre kommt es zur starken diskursiven Verwendung des antitürkischen Topos und folglich zu einer bewussten Gleichsetzung der Bosniaken mit den Türken als auch zur Propagierung einer angeblichen neuerlichen Bedrohung der katholischen und orthodoxen Bevölkerung durch Muslime und den Islam. Das 19. Jahrhundert ist auch aus einem anderen strukturellen Grund von großer Bedeutung. Branka Magas bringt das Dilemma auf den Punkt: „Bosnia in the nineteenth century failed to make the transition to modern nationhood.“ 5 Damit spricht Magas den Umstand an, dass die Umwandlung von der ethnischen Identität der einzelnen Volksgruppen hin zu einer überethnischen und damit staatlichen Identität nicht erfolgt ist. Das Gefühl des „Bosnisch-Seins“, so Magas, wurde durch die dominanten Nationalstaatsbildungsprozesse in Serbien und Kroatien unterminiert. Hier war es vor allem die Religion, die zum zentralen Identifikations- und Unterscheidungsmerkmal in den beiden großen Nationalstaatsbildungsprojekten in Serbien und Kroatien wurde; sie wurde zum wichtigsten Instrument der Transformation von orthodoxen und katholischen Bosniern/ Herzegowinern in Serben bzw. Kroaten. Der Nationalismus erwies sich somit im 19. Jahrhundert als ein sehr potenter modus operandi für die politischen Eliten und sicherte ihnen ihr politisches Dasein. In der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie, die mitten in der virulenten Nationalstaatsbildungsphase in Serbien und (dem habsburgischen) Kroatien 1878 die Macht in Bosnien-Herzegowina übernahm, kam es zu großen politischen, gesellschaftlichen und sozioökonomischen Veränderungen im Land, mit denen das gesamte politische Leben und damit auch Wettbewerb zwischen den einzelnen politischen und oft auch national bestimmten Kräften dynamisiert wurden. Die einzelnen ethno-religiösen Gemeinschaften definierten jeweils ihr Verhältnis zur Okkupationsmacht als dem Anderen und wurden von dieser in ihrer Entwicklung vielfach geprägt. 6 Die sog. „nationale Frage“, also das Verhältnis zwischen den muslimischen, kroatischen und serbischen Volksgruppen, die sich zu diesem Zeitpunkt alle unter jeweils unterschiedli- 5 Magas, Branka: On Bosnianness. In: Nations and Nationalism 9 (2003), nr. 1, p. 19-23. 6 Redžić, Enver: Prilozi o nacionalnom pitanju. Sarajevo: Svjetlost 1963, p. 80. 500 Vedran Džihić chen Voraussetzungen mitten im Prozess der nationalen Aufklärung befanden, sollte die österreichisch-ungarische Ära von 1878-1918 maßgeblich prägen. Zu diesem Zeitpunkt lebten etwas weniger als 1,9 Mio. Menschen in Bosnien-Herzegowina, wovon im Jahr 1910 43,9% orthodox, 32,25% muslimisch und 22,87% katholisch waren. 7 Bei der christlich-orthodoxen und der katholischen Bevölkerung vollzog sich der Prozess der Entwicklung des Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert stärker und schneller als bei der muslimischen Bevölkerung. So war bspw. auf Grund der im 19. Jahrhundert von Serbien ausgegangenen Impulse die Entwicklung des serbischen Nationalbewusstseins zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie bereits mehr oder weniger abgeschlossen, aus dem heraus die serbische Bevölkerung erste Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung unabhängig von der österreichisch-ungarischen Monarchie formulieren konnte. Die katholische Bevölkerung hatte zwar mit Kroatien ähnlich wie die christlich-orthodoxe mit Serbien ein „external national homeland“ 8 mit ausgeprägter nationaler Identität im Rücken, allerdings vollzog sich die Nationalbewusstseinsbildung langsamer als bei den Serben. Der Grund dafür war die dominant ländliche Struktur der katholischen Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina und die Abwesenheit eines Bürgertums, das die Rolle des Trägers der Nationalaufklärung hätte spielen können. 9 Die kroatische Bevölkerung war durchaus starkem Einfluss aus dem ungarischen Kroatien und dem österreichischen Dalmatien ausgesetzt und in ähnlicher Weise zwischen zwei politischen Optionen geteilt. Die einen akzeptierten die Vorherrschaft der Monarchie zwar, setzten sich aber für Selbstverwaltung und größere Autonomie innerhalb jenes Staatsgebildes ein. Die anderen unterstützen jene kroatischen Kräfte rund um Frano Supilo und Ante Trumbić für die Errichtung eines gemeinsamen Staates aller Südslawen. Für die österreichisch-ungarischen Behörden war der Umgang mit den drei wichtigsten Religionsgemeinschaften jedenfalls vom Beginn an ein heikler Ba- 7 Duraković, Nijaz: Kontroverze o nacionalnom i nacionalističkom. Zenica: Centar društvenih aktivnosti RK SSOBiH 1987, p. 129.- Wichtig bei dieser Statistik ist, dass zu diesem Zeitpunkt v. a. die Konfession jenes Element war, welches das Nationalgefühl stiftete und als nationales Distinktionsmerkmal diente. 8 Vgl. Brubaker, Rogers: Nationalism reframed. Nationhood and the national question in the New Europe. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1996. 9 Vgl. ibid. Vgl. auch Džaja 1984 und Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878-1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93). Weiters, etwas spezifischer zur Entwicklung des bosniakischen Nationalbewusstseins, Filandra, Šaćir: Bošnjačka politika u XX. stoljeću. Sarajevo: Sejtarija 1998 und Filipović, Muhamed: Bošnjačka politika - Politički razvoj u Bosni u 19. i 20. stoljeću. Sarajevo: Svjetlost 1996. Ethnonationalismus in der longue durée? 501 lanceakt. Man vermittelte zwischen Katholiken, die sich bevorzugt und in einer besseren Position als die anderen beiden Konfessionen fühlten, und Orthodoxen, deren Skepsis gegenüber der k. u. k. Monarchie stark war und nie substantiell schwinden sollte. Der zwischen 1882 und 1903 für Bosnien zuständige österreichisch-ungarische Finanzminister Benjamin v. Kállay richtete vor dem Hintergrund jenes starken kroatischen und serbischen Einflusses auf die nationale Frage seine ganze Politik auf die Stärkung einer eigenen, einigenden bosnischen Nationalität, die er in Form eines integralen Bosniakentums konzipierte: Dieses hätte aus allen drei ethnischen Gemeinschaften eine neue, vierte Nation schaffen sollen, die die zahlreichen antagonistischen Elemente zwischen Serben, Kroaten und Muslimen in einem gemeinsamen Rahmen auflösen hätte sollen. 10 Die nationalistischen Bewegungen in Serbien und Kroatien waren aber zu diesem Zeitpunkt zu stark, und die Zeitspanne der Herrschaft von Kállay zu knapp, um die Wende von konfessionellen und ethnischen Identitätsmustern hin zu einer einigenden bosnischen Nationalität zu schaffen. Mit großem Einsatz für die Reform der Verwaltung, der Umstrukturierung der Landwirtschaft sowie im Bildungs- oder Transportwesen gelang jedoch die Modernisierung des Landes. Berichte von Besuchern und Journalisten nach der Jahrhundertwende vermitteln den „Eindruck von Unparteilichkeit“ in der Verwaltung und im Umgang der einzelnen Religionen untereinander, was man als objektiven Fortschritt und Verdienst der österreichisch-ungarischen Verwaltung bezeichnen kann. 11 Wie sah aber die Entwicklung der einzelnen Konfessionen im Einzelnen aus? Bei den Muslimen (und v. a. innerhalb ihrer geistigen und politischen Eliten) setzte in der Zeit der österreichisch-ungarischen Herrschaft ab 1878 ein Prozess der beginnenden nationalen Emanzipation ein, der später im 20. Jahrhundert (am deutlichsten in der Zeit des sozialistischen Jugoslawien und in den Jahren seit 1990) einen wesentlichen Bezugspunkt für ihr nationales Selbstverständnis darstellen sollte. Abgesehen von der einigenden Klammer der islamischen Religion und einiger National- und Ursprungsmythen, die sich auf die Zeit des bosnischen Königreichs und der mittelalterlichen Kirche bezogen, gab es bei den Bosniaken bis zur Periode unter der Herrschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie keine Anzeichen einer breiten politisch-nationalen Emanzipation. Šaćir Filandra sieht den Grund für die verspätete nationale Entwicklung der Muslime v. a. in der starken Herrschaft von außen durch die Osmanen und dann durch Österreich-Ungarn, die eine selbstbewusste und eigenständige Entfaltung der Bosniaken verhindert habe; als weiteren gewichtigen Grund bezeichnet Filandra den 10 Ibid. 11 Vgl. Malcolm 1996, p. 175. 502 Vedran Džihić überragenden Einfluss der nationalen Interessen der Nachbarn Kroatien und Serbien, die jeweils eine Vormachtstellung in Bosnien-Herzegowina anstrebten. 12 Es war dann v. a. der Versuch der Abgrenzung von deren dominanten Nationalideologien, die die Entwicklung eines eigenständigen bosniakischen Nationalbewusstseins förderte. Als primäres Unterscheidungsmerkmal von Serben und Kroaten diente die Konfession, also der Islam. Dazu Šaćir Filandra: Bosniaken fanden sich in der Zwickmühle zwischen der serbischen und kroatischen Nationalideologie. Sie konnten sich nur durch beständige Betonung ihrer Eigenheit und Eigenständigkeit gegen das Aufzwingen der serbischen und kroatischen nationalen Idee wehren. Der sicherste Schutz vor ‚Nationalisierung“ und Assimilierung war ihr Glaube, was auch der Grund dafür ist, dass das bosniakische Volk auf einer allgemeinen gesellschaftlichen Ebene mit ihm gleichgesetzt wird. Der Islam war die sicherste und tiefste differentia specifica sowohl in Bezug auf die orthodoxen Serben als auch auf die katholischen Kroaten. Deswegen leben die Bosniaken den Großteil ihrer nationalen Bedürfnisse durch ihr Glaubensbekenntnis aus, und Versammlungen auf Grund des Glaubens waren auch die einzigen, die zu Beginn des Jahrhunderts möglich waren. 13 In der Zeit Österreich-Ungarns wurde dann die Entwicklung des Nationalbewusstseins innerhalb der muslimischen Bevölkerung besonders durch die Gründung von Vereinen und Vereinigungen geformt. Vor allem rund um das Literaturblatt Behar entwickelte sich ein Kreis von Intellektuellen und Literaten, der für die Entwicklung der bosniakischen Nation eine entscheidende Rolle spielen sollte. Auf der anderen Seite wurde von der österreichisch-ungarischen Verwaltung und hierbei insbesondere durch den Minister Kállay die Entwicklung einer national-politischen Eigenständigkeit und ihrer Abschirmung von den Einflüssen aus den Nachbarstaaten (v. a. aus Serbien) betrieben. Das von Kállay unter Rückgriff auf die Ideen des Großvesirs Osman Topal-Paša forcierte Konzept der Entwicklung eines integrativen und interkonfessionellen Bosniakentums ( Bošnjaštvo ), das sowohl Muslime als auch katholische Kroaten und orthodoxe Serben rund um eine moderne nationale Ideologie hätte vereinen sollen, setzte sich aber schließlich doch nicht durch. 14 Bošnjaštvo und die damals in Bosnien-Herzegowina favorisierte Sprachbezeichnung „bosnische Sprache“ blieben aber bis heute ein wichtiger Bezugspunkt für die bosnischen Muslime bzw. die Bosniaken. Als staatseinendes Element bzw. als Kern einer überethnischen staatlichen Identität konnte das Konzept des Bosniakentums keine tiefe- 12 Vgl. Filandra 1998, pp. 11-20. 13 Ibid., p. 16, Übers. v. V.D. 14 Vgl. Malcolm 1996, p. 175 sowie Redžić 1963, pp. 81 ff. Ethnonationalismus in der longue durée? 503 ren Wurzeln schlagen. Historisch betrachtet war aber die Zeit Österreich-Ungarns in Bosnien-Herzegowina jene Phase, in der der maßgeblichste Versuch einer von Außen mitgesteuerten staatlichen und über- oder transethnischen Identitätsbildung erfolgte. 2. Bosnien in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg: die 'nationale Frage' wird wieder virulent Bei der Planung und späteren Gründung des ersten jugoslawischen Staates wurden die Vorstellungen der bosnisch-herzegowinischen Gemeinschaften nur am Rande berücksichtigt. Während sich die meisten orthodoxen und auch katholischen Vertreter den Vorstellungen ihrer politischen Anführer aus Serbien und Kroatien anschlossen, waren die Muslime in Bezug auf ihre Vorstellungen von der zukünftigen Ordnung des Raumes gespalten. Eine Gruppe rund um Šefik Arnautović und Safvet-beg Bašagić bevorzugte eine bosnische Autonomie innerhalb Ungarns, eine andere Gruppe um Reis ul-Ulema Čaušević sprach sich für die Beteiligung am neuen jugoslawischen Staat aus. 15 Bedingt durch die enorme Dynamik der Ereignisse gegen Ende des Ersten Weltkrieges gingen die bosnisch-muslimischen Vorschläge unter und sollten fortan auch keine relevante Rolle bei der Entscheidung über die staatliche Neuordnung des jugoslawischen Gebietes nach Kriegsende spielen. Bosnien-Herzegowina wurde in den neu gegründeten Staat, das „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (SHS) integriert, wurde aber zwischen den kroatischen und serbischen Interessen hin und her gerissen und spielte im Ersten Jugoslawien politisch nur eine untergeordnete Rolle. Die Serben und Kroaten vor Ort orientierten sich im neuen jugoslawischen Staat weiterhin stark an den jeweils von Serbien und Kroatien als den dominanten Polen Jugoslawiens vorgegebenen politischen Richtungen. Bei den Muslimen kam es in der Zeit des Ersten Jugoslawien zur Stärkung des nationalen Selbstgefühls - und dies nicht zuletzt wegen der stets intensiv betriebenen Unterscheidung zwischen einzelnen ethnischen oder besser gesagt konfessionellen Gruppen, die auch den Muslimen schärfere nationale Konturen verlieh. Muslime fanden sich auch im Ersten Jugoslawien eingezwängt zwischen einer starken hegemonialen serbischen Nationalideologie und einer in Bezug auf Bosnien ebenso starken kroatischen Ideologie. Zwar konnten sich die Muslime auf der Ebene des damaligen jugoslawischen Staates politisch organisieren und durch Mehmed Spaho und seine Jugoslawische Muslimische Partei ( JMO) eine relevante Rolle im Staat 15 Imamović 1997, p. 476f. 504 Vedran Džihić spielen; eine starke und von Kroatien und Serbien nicht in Frage gestellte bzw. herausgeforderte nationale Identität konnten sie nicht ausbilden. 16 Die muslimische JMO unter Spaho kämpfte für die Erhaltung der regionalen und administrativen Identität Bosnien-Herzegowinas. Sie hatte dabei auch einen gewissen Erfolg, den sie allerdings mit der Unterstützung der zentralistischen Verfassung des Jahres 1921 bezahlen musste. Die historischen Grenzen Bosnien-Herzegowinas blieben jedoch bei der damaligen Reorganisierung des jugoslawischen Territoriums in 33 Provinzen ( Oblasti ) größtenteils erhalten. Die sechs bosnisch-herzegowinischen Oblasti entsprachen den sechs Kreisen der österreichisch-ungarischen Aufteilung, so dass „Bosnien als einziges der konstituierenden Elemente Jugoslawiens auf diese Weise seine Identität erhielt“. 17 Allerdings blieb diese Identität nur auf territoriale Grenzen beschränkt; auf der politischen Ebene wurden die Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina durch die Dynamik des sich verstärkenden Gegensatzes zwischen den beiden großen jugoslawischen Nationen, der serbischen und kroatischen, bestimmt. Die Entwicklung der muslimischen Nation verlangsamte sich in dieser Zeit. „Der Prozess der ‘Nationalisierung’ der Muslime blieb insgesamt nur auf die politische und gesellschaftliche Elite beschränkt und erreichte nicht die breite Masse der Bevölkerung.“ 18 Gleichzeitig vollzog sich auch ein anderer Prozess: Durch die im jugoslawischen Gebiet und auch in Bosnien immer stärkeren säkularisierenden Tendenzen und in Folge des Prozesses der langsamen politischen muslimischen Emanzipation (also der Stärkung der politischen Bedeutung der Bezeichnung „muslimisch“) kam es nach und nach zur Unterhöhlung der streng konfessionellen nationalen Konnotation bei den Muslimen. 19 Die Suche nach einem optimalen interkonfessionellen bzw. interethnischen Gleichgewicht innerhalb Bosnien-Herzegowinas im Spannungsverhältnis zwischen dem starken, vereinnahmenden kroatischen und serbischen Nationalismus einerseits und den Emanzipationsversuchen der bosnischen Muslime andererseits, die den Kern dieser „bosnischen Frage“ ausmacht, wurde prolongiert und - nicht zuletzt auf Grund des Verlaufs des Zweiten Weltkrieges - unter anderen Vorzeichen im sozialistischen Jugoslawien fortgesetzt. Die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges, der auf dem Grundgebiet Bosnien-Herzegowinas besonders intensiv ausgetragen wurde und stark von erbitterten ethnonationalen Kämpfen und dem konkurrierenden Verhältnis der serbischen und kroatischen nationalistischen Ideologie geprägt war, beeinflussten die interethnischen Be- 16 Vgl. Imamović 1997 u. Filandra 1998. 17 Malcolm 1996, p. 195. 18 Vgl. Kasapovi ć, Mirjana: Bosna i Hercegovina podijeljeno društvo i nestabilna država. Zagreb: Politička kultura 2005, p. 93. 19 Vgl. Malcolm 1996, p. 195ff. Ethnonationalismus in der longue durée? 505 ziehungen nachhaltig. Die bereits aus früheren historischen Perioden bekannten Vereinnahmungsversuche der bosnischen Muslime durch die kroatische bzw. serbische Seite erlebten im Zweiten Weltkrieg einen Höhepunkt. 20 Die Tito-Partisanen wurden im Laufe des Krieges immer mehr zu einer dominanten Bewegung, die auch mit zunehmender Unterstützung der lokalen Bevölkerung rechnen konnte. Die Vorstellung von Tito und seines engsten Kreises über die zukünftige staatliche Neuordnung Jugoslawiens und Bosnien-Herzegowinas wurden zunehmend immer konkreter. Man griff schließlich auf die Idee zurück, das neu zu bildende Jugoslawien nach dem Krieg als eine Art Bundesstaat aus sechs Verwaltungseinheiten einzurichten, wovon eine Bosnien-Herzegowina in seinen historischen Grenzen und mit drei „gleichberechtigten“ Völkern sein sollte. Aus diesem Grund betrachteten es Tito und sein Beraterkreis als ihre Aufgabe, den Vorstellungen von einem „kroatischen“ oder „serbischen“ Bosnien-Herzegowina entgegenzutreten und in diesem Zusammenhang auch die spezifische nationale Identität der bosnischen Muslime als Ausgleichsmechanismus für die aggressiven Ansprüche aus Kroatien und Serbien zu fördern. 21 Hier haben wir eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Zeit der österreichischen-ungarischen Herrschaft, die wie weiter oben ausgeführt insbesondere in der Zeit von Kállay die Stärkung der bosniakischen und den Aufbau einer übernationalen Identität als ausgleichendes Instrument für die beiden starken Nationalismen in Serbien und Kroatien vorantrieb. Der positive Bezug zu der Region während des Zweiten Weltkrieges als fester Bestandteil des Partisanen-Narrativs („Bosnien-Patriotismus“) sowie die anationale Ideologie des Kommunismus sollten dabei helfen. Auf bosnischem Boden wurde auch 1943 die Entscheidung über die Gründung eines neuen Jugoslawien getroffen, die Region in Liedern besungen und in Partisanen-Filmen als Ort des heroischen Widerstands gegen die Okkupationskräfte hochgehalten. 22 Die Entwicklung eines solchen Lokalpatriotismus sollte die Entwicklung Bosnien-Herzegowinas ab 1945 entscheidend mitprägen. Der Versuch, ein übernationales bosnisches Bewusstsein und die Suche nach einer spezifischen Stellung für die bosnischen Muslime zu stärken, schlug sich bereits während des Krieges nieder. Am 25. November 1943 fand in Mrkonjic-Grad jene Sitzung des Antifaschistischen Komitees der Volksbefreiung Bosnien und Herzegowinas ( Zemaljsko antifašističko vijeće narodnog oslobođenja Bosne i 20 Vgl. Hoare, Marco Attila: The History of Bosnia. From the Middle Ages to the Present Day London: Saqi 2007, p. 202f. 21 Vgl. ibid., pp. 205-212; außerdem Ekmečić Fadil: Bosna. Kratka popularna povijest sa prilozima. Paris: Librairie Ekmecic 1994, p. 68ff. 22 Vgl. Hoare 2007, pp. 235-242; dazu auch Leksikon YU-mitologije. Hg. v. Slađana Novakoviću. Željko Serdarević. Beograd, Zagreb: Rende/ Postscriptum 2005. 506 Vedran Džihić Hercegovine - ZAVNOBIH) statt, auf der entschieden wurde, dass Bosnien-Herzegowina eine gleichwertige Republik im neuen Jugoslawien werden sollte. Dieser Beschluss kann als die Geburtsstunde der damals erst imaginierten und später zumindest zum Teil real gewordenen modernen (sozialistischen) bosnisch-herzegowinischen Staatlichkeit bezeichnet werden. 23 In diesem Beschluss wird das erste Mal auch jene berühmte politische Redewendung verwendet, wonach Bosnien-Herzegowina „weder den Serben noch den Kroaten und noch den Muslimen gehört, sondern Serben, Kroaten und Muslimen gemeinsam“. 24 Bei der Sitzung des Antifaschistischen Nationalkomitees zur Befreiung Jugoslawiens (AVNOJ) am 29. November 1943 in der bosnischen Stadt Jajce wurde auch endgültig beschlossen, Bosnien-Herzegowina als eine von sechs zukünftigen Teilrepubliken Jugoslawiens in seinen historischen Grenzen wieder zu errichten. 25 Die Bedeutung des Beschlusses des AVNOJ und insbesondere des ZAVNOBIH für die bosnische Staatlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg war enorm; sie strahlt bis in die Gegenwart hinein. Der Tag der ZAVNOBIH-Sitzung, der 25. November, wird auch heute noch als Staatsfeiertag in Bosnien-Herzegowina begangen, wird aber vor allem von Bosniaken und jenen Bürgern und Bürgerinnen gefeiert, die sich dem dominanten national(istisch)en Diskurs verweigern. Die Ereignisse der 1990er Jahre, ein exklusiver und sich stark an Serbien und Kroatien anlehnender Ethnonationalismus sowohl bei den bosnisch-herzegowinischen Serben als auch bei den Kroaten haben dazu beigetragen, dass diese den Bezug zur gemeinsamen staatlichen Geschichte und folglich auch zu diesen Feiertag negieren. In der Republika Srpska (RS) wird ein eigener Nationalfeiertag gefeiert, während der überwiegende Teil der bosnisch-herzegowinischen Kroaten den kroatischen Nationalfeiertag begeht. In beiden Fällen distanziert man sich damit - unterschiedlich stark, wohl am vehementesten in der kroatischen Politik - von bestimmten Elementen des sozialistischen Jugoslawiens, während man gleichzeitig - v. a. auf der serbischen Seite - andere Elemente aus der Tradition des antifaschistischen Kampfes der Partisanen hervorhebt und feiert. Im ZAVNOBIH-Beschluss wird explizit die gleiche Teilhabe aller Völker und Minderheiten am Staat formuliert, womit diesem Dokument ein - damals natürlich sozialistisch geprägter - Kern des multiethnischen und bürgerlichen Bosnien-Herzegowinas und damit auch einer möglichen übernationalen Staatlichkeit begründet wurde. Diese Interpretation ist auch heute v. a. bei Vertretern 23 Vgl. Hoare 2007, p. 29. 24 Ibid., p. 288. 25 Vgl. Calic, Marie-Janine: Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1996, p. 50f. Ethnonationalismus in der longue durée? 507 einer übernationalen und multiethnischen Staatlichkeit eines jener Argumente, mit denen der Anspruch auf die Gesamtstaatlichkeit untermauert wird. Der Zweite Weltkrieg als eines der tragischsten Ereignisse in der neueren bosnischen Geschichte war auch ein innerjugoslawischer und innerbosnischer Krieg, in dem nicht zuletzt auch die durchaus unterschiedlich nationalen Vorstellungen der Kroaten, Serben und Muslime konflikthaft aufeinander trafen. Die Kriegshandlungen und zahlreiche ethnisch motivierte Verbrechen sollten im sozialistischen Jugoslawien tendenziell zu Gunsten der Konstruktion des heldenhaften Partisanenkampfes als einem der wesentlichen Gründungsmythen des neuen Staates verdrängt werden bzw. jedenfalls nicht genügend und nicht offen genug aufgearbeitet worden sein. Nur so war es möglich, dass der Zweite Weltkrieg in Zeiten der sich zuspitzenden Krise des sozialistischen Jugoslawiens in den 1980er Jahren und dann umso mehr zu Beginn der 1990er Jahre in den neuen ethnonationalistischen Bewegungen zu einem wichtigen Bezugspunkt wurde. Er wurde in dieser Zeit zu einem der bedeutendsten contested issues innerhalb Bosnien-Herzegowinas und diente sowohl der ethnischen/ nationalen Abgrenzung als auch der Mobilisierung entlang ethnischer Bruchlinien. Dies wurde durch das Dayton-Abkommen formalisiert und erschwert auch mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Jugoslawien-Kriege den Prozess der Konsolidierung und der Befriedung der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft. 3. Nationalitätenfrage im sozialistischen Jugoslawien Bosnien-Herzegowina war im Rahmen des sozialistischen Jugoslawiens in der Tat eine besondere Teilrepublik: Es war die einzige politische Entität, die nicht als ‘Nationalstaat’ eines der jugoslawischen Völker konzipiert wurde, sondern als ‘kleines Jugoslawien’. Im wirtschaftlichen Bereich setzte man v. a. in Bosnien stark auf breit angelegte Industrialisierung der Gesellschaft, die eine große Auswirkung auf das Selbstbewusstsein der Menschen innerhalb der jugoslawischen Föderation hatte; 26 speziell wurde ein Schwerpunkt im Bereich der Militärindustrie gesetzt. Das trug zum wirtschaftlichen Aufschwung der zuvor wirtschaftlich armen Republik und zum Aufstieg einer neuen selbstbewussten Klasse von bosnisch-herzegowinischen Politikern in den Gremien des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens bei. Die rapide Verbesserung der Lebensbedingungen sowie ökonomische und gesamtgesellschaftliche Modernisierung waren ebenfalls ein Grund dafür, dass die Bevölkerung dem sozialistischen System und v. a. auch Tito äußerst positiv gegenüberstand. 26 Allcock 2000, p. 68ff. 508 Vedran Džihić Ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges vollzog sich auch der langsame, aber stete Prozess der in der sozialistischen Ideologie begründeten „Befreiung“ der Nationen von ihren ethno-kulturellen Elementen. Für die Sozialisten war der Abschied von kulturell bestimmten Nationen ein wichtiger Schritt im Prozess des Aufbaus einer solidarischen und übernationalen Arbeitergesellschaft. Dies war nach Mappes-Niediek „der Preis für die Anerkennung, die die Nationen im Kommunismus erfuhren. Alles, was über die grundlegenden Markierungen der Nationalität hinausging: Sprache, Schrift, Namen, wurde unterdrückt. Die Religion wurde aus dem öffentlichen Leben ferngehalten“. 27 Ein Prozess der Säkularisierung setzte ein, der - v. a. in urbanen Gebieten - in den 1960er und 1970er Jahren zur Herausbildung einer breiten säkularen Schicht von Bürgern führen sollte, die sich selbst jenseits ihrer ursprünglichen nationalen Identität als Jugoslawen und Bosnier deklarierten. Jedenfalls versuchte das sozialistische Regime aus ideologischen Gründen, eine nicht transparente und offene, aber im Kern ausgewogene Nationalitätenpolitik zu betreiben, die sich in Bosnien-Herzegowina in einer penibel eingehaltenen Gleichbehandlung aller drei Völker niederschlug. Dazu Anđelić: Careful observance of inter-ethnic relations was a constant feature in Yugoslavia and the republic grew much stronger. Equality of all ethnic was imposed and preserved most of the time. Economic development, a significant improvement in the standards of living, security and the suppression of any political thought critical of the ruling ideology at its very roots, were major characteristics of the system. On this basis the communists handled ethnic politics. Although it was not transparent, political leaders in Bosnia-Herzegovina were always chosen according to the principle that all three ethnic groups would be represented equally. The politicians, however, never acted as ethnic representatives, but as leaders of the whole Bosnian political nation. This kind of rule secured peaceful, and indeed prosperous, inter-ethnic relations in the country. 28 Ein Teil der Bemühungen um die Stabilisierung und Verbesserung der im Zweiten Weltkrieg eskalierten interethnischen Beziehungen und damit um die Lösung der „nationalen Frage“ war sicherlich auch die Politik des jugoslawischen Regimes, mit der die Emanzipationsprozesse jener Völker unterstützt wurden, die im 19. Jahrhundert im Gegensatz zu Kroaten oder Serben keinen so intensiven Prozess der nationalen Integration durchlaufen hatten. Der Jugoslawismus wurde in dieser Zeit zur ideologischen - und sicherlich stark dogmatischen - Formel, unter der v. a. die kleineren jugoslawischen Völker wie Mazedonier, 27 Mappes-Niediek, Norbert: Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann. Berlin: Links 2006, p. 154. 28 Anđelić 2003, p. 18f. Ethnonationalismus in der longue durée? 509 Muslime oder Kosovo-Albaner einen Prozess der intensiven kulturellen Entfaltung und der Stärkung der eigenen nationalen Identität erfuhren. 29 Die Ideologie des Jugoslawismus mitsamt der Nationalitätenpolitik trug somit zu einer deutlichen Verschiebung der Verhältnisse zwischen den einzelnen Republiken/ Nationen landesweit wie auch innerhalb Bosnien und Herzegowinas bei. Vor allem die Muslime erlebten als eine im Vergleich zu Serben und Kroaten ‘verspätete Nation’ eine Phase der nationalen Emanzipation. 30 Was waren die Eckpunkte dieser Emanzipation der Muslime im Rahmen des sozialistischen Jugoslawien? Die Position der Muslime innerhalb Bosnien-Herzegowinas war bis in die 1960er Jahre unklar. Sie konnten sich bei der Volkszählung 1948 entweder als „Muslime/ Serben“ und „Muslime/ Kroaten“ oder als „Muslim, national unbestimmt“ deklarieren: 72.000 erklärten sich als Serben, 25.000 als Kroaten, aber eine große Mehrheit von 778.000 deklarierte sich als unbestimmt. Bei der nächsten Volkszählung 1953 konnten sich Muslime als „Jugoslawe/ national unbestimmt“ eintragen, was 891.800 Menschen taten. 31 In der Volkszählung des Jahres 1961 konnten sich die bosnischen Muslime das erste Mal als Muslime - mit einem großen „M“ im Serbokroatischen geschrieben - im Sinne der Nationalität eintragen. 1963 wurde wurden „Muslime“ als Nation/ alität in die bosnische, im Jahr 1968 in die Bundesverfassung aufgenommen. 32 Am deutlichsten kam der Grundsatz der sozialistischen Führung in der Formel zum Ausdruck, die im Rahmen der 20. Sitzung des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten Bosnien und Herzegowinas im Jahr 1968 verabschiedet wurde: Die Freiheit des Individuums und der Äußerung nationaler Gefühle und Zugehörigkeit ist eines der wesentlichen Elemente der Gleichberechtigung der Menschen und Völker. Die Praxis hat gezeigt, dass die unterschiedlichen Arten des Drucks und des Insistierens darauf, dass sich Muslime in nationaler Hinsicht als Serben bzw. als Kroaten deklarieren müssen, schädlich war, da sich auch schon früher gezeigt hat, und dies beweist auch die heutige sozialistische Praxis, dass die Muslime ein eigenes Volk sind. 33 Mit den Verfassungsänderungen des Jahres 1974 wurden Muslime auch verfassungsrechtlich als eine der drei konstitutiven Nationen in Bosnien-Herzegowina anerkannt. Die neue Verfassung der „Sozialistischen Föderativen Re- 29 Melčić, Dunja: Jugoslawismus und sein Ende. In: Dies.: Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. Opladen, Wiesbaden: Westdt. Verlag 2 2008, pp. 208-227. 30 Vgl. dazu Zgodić, Esad: Ideja bosanske nacije i druge teme. Sarajevo: Zalihica 2008. 31 Vgl. Malcolm 1996, p. 229ff. 32 Vgl. Imamović 1997, pp. 562-569, Filandra 1998, p. 229ff. 33 Zit.n. Filandra 1998, p. 237 [Übers. V.D.]. 510 Vedran Džihić publik Bosnien und Herzegowina“ aus dem Jahr 1974 bringt also das erste Mal die Erwähnung der Muslime, Serben und Kroaten als staatstragende Völker im Haupttext und nicht nur in der Präambel der Verfassung. So heißt es in Artikel 1: The Socialist Republic of Bosnia-Hercegovina is a socialist democratic state and socialist self-managing democratic union of working people and citizens, nations of Bosnia-Hercegovina - Muslims, Serbs and Croats, members of other nations and nationalities who live in it, based on the government and the self-management of the working class and all working people and on the sovereignty and equality of the nations of Bosnia-Hercegovina and the members of other nations and nationalities who live in it. 34 Die Anerkennung der Muslime als „Nation“ hatte durchaus Einfluss auf die anderen beiden bosnischen Volksgruppen. Aus der Sicht kroatischer und serbischer Nationalisten war die Anerkennung der muslimischen Nation in den 1960er Jahren nämlich ein direkter Angriff auf ihre Vormachtstellung in Bosnien und auch im jugoslawischen Staatenbund. Francine Friedman stellt diesbezüglich fest: I argue, however, that official recognition of the Bosnian Muslims made them vulnerable to Serb and Croat pressures, because neither group would accept the Bosnian Muslims as anything more than a religious entity - certainly not as a national entity. 35 Dieser Druck der serbischen und der kroatischen Seite war aber kein konstanter und in allen Punkten aggressiver. Die bosnischen Muslime konnten durchaus ab den 1960er Jahren - selbstverständlich immer nur im Rahmen des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens - an ihrer politischen und gesellschaftlichen Verankerung als wichtiges Subjekt der jugoslawischen Föderation arbeiten und zu einem wichtigen politischen Faktor innerhalb Jugoslawiens werden. Auf Grund der paritätischen Aufteilung der wichtigsten Posten auf Republiks- und Staatsebene bekleideten eine ganze Reihe muslimischer Politiker wie Hamdija Pozderac oder Raif Dizdarević hochrangige Positionen in Staat und Partei. Auch in Kunst, Kultur und im intellektuellen Leben nahm Bosnien-Herzegowina mit der Hauptstadt Sarajevo eine wichtige Rolle innerhalb Jugoslawiens ein. Nicht zuletzt die Vergabe der olympischen Spiele 1984 an Sarajevo brachte einen zusätzlichen Impuls für die Entwicklung des Landes und damit indirekt auch für die bosnischen Muslime. Die Stärkung des nationalen Bewusstseins der bosnischen Muslime und ihre gestiegenen politischen und kulturellen Ansprüche 34 Zit. n. Hoare 2007, p. 332f. 35 Friedman, Francine: The Bosnian Muslims. Denial of a Nation. Boulder, Oxford: Westview Press 1996, p. 1. Ethnonationalismus in der longue durée? 511 wurden jedoch in Teilen der serbischen und kroatischen nationalen Elite nicht immer mit Wohlwollen betrachtet. Durch die Stärkung der Muslime ergaben sich auch in der Frage der Ausbalancierung des ethnischen Gleichgewichts, die zu einem wichtigen Teil durch die Verteilung der Posten in Staat und Partei auf der Grundlage eines ethnischen Schlüssels erfolgte, neue und durchaus konflikthafte Herausforderungen. 36 Ab den 1970er Jahren veränderte sich der Charakter der jugoslawischen und damit auch der bosnischen Staatlichkeit als eines Spiegelbilds der neuen jugoslawischen Verhältnisse deutlich. Der Grund war aber nicht nur die Anerkennung der Muslime als Nation, sondern vielmehr die Tatsache, dass die vielfachen politischen und zunehmend auch wirtschaftlichen Unzufriedenheiten aller Nationen vom Streben nach größerer nationaler Autonomie wie von einem Löschpapier aufgesogen wurden. Der kroatische Nationalismus, der seinen Höhepunkt im sog. „Kroatischen Frühling“ des Jahres 1971 fand, die ständigen Klagen der Serben über tendenzielle Benachteiligung in der Föderation, die sich nach dem Sturz von Ranković und ersten Unruhen im Kosovo im Jahr 1968 verstärkten, wurden immer lauter. Mit der Verfassung des Jahres 1974 wurde jedenfalls ein Höhepunkt des Trends zur Dezentralisierung Jugoslawiens erreicht. Nach dieser Verfassung erhielten die einzelnen Republiken und die autonomen Provinzen weitaus mehr Selbständigkeit als zuvor, so dass die jugoslawische Föderation bereits Elemente einer Konföderation besaß. Neben diesen politischen Prozessen und damit verbundenen weitreichenden Veränderungen der Situation Bosniens war die Zeit des sozialistischen Jugoslawiens zwischen 1945 und dem Tod Titos im Jahr 1980 v. a. durch die fortdauernde Ambivalenz der interethnischen Beziehungen innerhalb Bosniens gekennzeichnet. Trotz der intensiven Bemühungen des sozialistischen Regimes, die ethno-kulturelle Bestimmung der bosnisch-herzegowinischen Nationen durch eine politisch-sozialistische, den Jugoslawismus präferierende und breitenwirksame Entwicklung zu ersetzen, blieben alle Institutionen unterhalb der Staatsebene weiterhin ethnisch strukturiert. Spätestens mit den 1970er Jahren und dem offenkundigen Aufbrechen der nationalistischen Tendenzen innerhalb Jugoslawiens wurde klar, dass die ethnonationalen Gegensätze sich in keiner Weise aufgelöst hatten. 37 Die politischen Eliten der einzelnen Republiken fanden in national(istisch)er Rhetorik den Weg zur Legitimierung ihrer eigenen politischen Macht. Die einigende Ideologie des Partisanenkampfes und eines Dritten Weges verlor zunehmenden an Strahlkraft und Wirksamkeit. Norbert 36 Vgl. Zgodić 2008, vgl. auch Mappes-Niediek 2005. 37 Vgl. Bugarel 2004, p. 63f . 512 Vedran Džihić Mappes-Niediek spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ethno-Falle“, in die die jugoslawischen und bosnischen Sozialisten hineingetappt waren. Er ist der Meinung, dass es gerade der Versuch der Aufrechterhaltung des ethnischen Gleichgewichts war, der Jugoslawien und damit auch Bosnien-Herzegowina zerstörte: Das ethnische Gleichgewicht, kein immer wieder behauptetes Ungleichgewicht war es, das Jugoslawien schließlich zerstörte. Der Versuch, dieses Gleichgewicht zu halten und immer wieder neu auszutarieren, versorgte Staat und Gesellschaft stets mit reichem Konfliktstoff. Das ethnische Gleichgewicht gab dem Vielvölkerstaat seine Legitimation - und zugleich zerstörte es alle anderen möglichen Legitimationen, auch die sozialistische. Und mit der Legitimation zerstörte es zugleich den Staat. 38 Die Lage in Bosnien-Herzegowina war aber auch in dieser Hinsicht noch eine Spur komplexer und widersprüchlicher. Als einzige Republik, die drei konstitutive Völker besaß, wurde es in Folge der Anerkennung und der politischen Emanzipation der Muslime zu einem Land, in dem die tagtägliche Austarierung des nationalen Gleichgewichts in allen Institutionen der Republik besonders subtil und schwierig war. Die Politik, die sich nach dem sog. und in Bosnien-Herzegowina so oft in Debatten paraphrasierten „nationalen Schlüssel“ strukturierte, führte durchaus zu politischen Kämpfen und Rivalitäten, die nicht zuletzt auch innerhalb des bosnisch-herzegowinsichen Zentralkomitees sichtbar waren. Auch der Einfluss der nationalen Institutionen aus Serbien und Kroatien (z. B. durch die Serbische Akademie der Wissenschaften oder die Matica Hrvatska ) und der religiösen Instanzen (hier auch der islamischen Gemeinschaft in Bosnien, die immer selbstbewusster auftrat) wurde in den 1970er Jahren stärker. Auf der anderen Seite gab es jedoch v. a. in urbanen Zentren und innerhalb der gebildeteren Schichten der Bevölkerung ein ausgeprägtes überethnisches und überkonfessionelles Bewusstsein als Bosnier. 39 In diesem Umfeld kam es auch zu einem überproportional hohen Anteil an sog. Mischehen, die innerhalb der urbanen Schichten bzw. der sog. „sozialistischen Arbeitsklasse“ ein weit verbreitetes Phänomen waren. Am Beispiel der Mischehen wird auch ein Konflikt zwischen zwei Grundprinzipien der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft sichtbar, nämlich zwischen dem Konzept des bereits diskutierten komšiluk und des građanstvo (Bürgerlichkeit). Das Konzept der Mischehe kollidierte direkt mit dem System des komšiluk , bei dem statt der persönlichen und intimen Nähe wie im Falle der Mischehen die räumliche Nähe zwischen den Mitgliedern der jeweils anderen ethnischen 38 Mappes-Niediek 2005, p. 75. 39 Vgl. Allcock 2000, p. 227. Ethnonationalismus in der longue durée? 513 Gemeinschaft im Vordergrund stand. In den Mischehen, von denen es in den 1980er Jahren etwa 12 % in ganz Bosnien-Herzegowina gab (in urbanen Gebieten wie in Sarajevo, Tuzla, Mostar, Banja Luka etc. lag dieser Prozentsatz deutlich höher, in Sarajevo z. B. bei 28 %), wurde das Prinzip der individuellen Entscheidungsfreiheit und damit des bürgerlichen Prinzips (des citoyen ) verkörpert, das der Logik hinter dem komšiluk -Prinzip widersprach. 40 Seit Beginn der 1990er Jahre wird durch die exklusive ethnonationale Politikpraxis das latente Aufeinanderstoßen der beiden Konzepte zu einem manifesten Konflikt zwischen den einzelnen ethnonationalen Gemeinschaften umgewandelt. Aus der gesamten Palette der ambivalenten sozialen Alltagswelten Bosnien-Herzegowinas sollten sich dann v. a. jene durchsetzen, die auf ethnonationaler Exklusivität als politischem Prinzip und der ständig heraufbeschworenen Angst und Bedrohung vor dem jeweils Anderen basierten. 4. 1980er Jahre: rapider Wandel von Politik und Gesellschaft Der Charakter der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft und Politik veränderte sich unter den Bedingungen der seit dem Tod Titos im Jahr 1980 sich vertiefenden strukturellen Krise des jugoslawischen Staates und damit auch des sozialistischen Modells der Staatlichkeit nachhaltig. Die Aktualisierung der nationalen Fragen, die Schwäche der ideologischen Klammer des Jugoslawismus und des Konzepts der „Brüderlichkeit und Einheit“ sowie die wirtschaftlichen Schwierigkeiten trugen zur zunehmenden Delegitimierung des sozialistischen Regimes bei. In der sich zuspitzenden Krise des jugoslawischen Staates und des sozialistischen Modells in den 1980er Jahren kam es zur Entstehung eines neuen Typus des Nationalismus, der sich einerseits - wie im Fall von Slobodan Milošević - hinter den Forderungen nach der Reform des innerjugoslawischen Gefüges versteckte. 41 Auf der anderen Seite verbanden sich v. a. in den westlichen und besser entwickelten jugoslawischen Republiken Kroatien und Slowenien Forderungen nach mehr Rechten und einer stärkeren Dezentralisierung bzw. einer Konföderalisierung Jugoslawiens mit Teilen der anti-jugoslawischen nationalistischen Bewegungen, die - wie im kroatischen Fall - von der antisozialistischen Diaspora und von Kirchenkreisen unterstützt wurden. 42 Das Hochspielen der 40 Vgl. Bugarel 2004, p. 124f. 41 In der Literatur bezeichnet man diese Art des Nationalismus in den 1980er Jahren als einen „bürokratischen Nationalismus“. Vgl. Popov, Nebojša: Srpska strana rata. Trauma i katarza u istorijskom pamćenju, I i II deo, drugo izdanje. Beograd: Republika 2002. 42 Vgl. dazu Šunjić, Melita H.: Woher der Haß? Kroaten und Slowenen kämpfen um Selbstbestimmung. Wien: Amalthea 1992; Ramet, Sabrina P.: Balkan Babel. The Disintegration 514 Vedran Džihić im Rahmen des jugoslawischen Staates nicht gelösten nationalen Frage und ihre Instrumentalisierung für politische Zwecke vertiefte jedenfalls die Krise und beschleunigte den Zerfall des Staates. Auch in Bosnien-Herzegowina verstärkten sich in der Spätphase des sozialistischen Jugoslawiens die nationalistischen Tendenzen, die sich zunächst einmal in stärkeren Tendenzen der muslimischen religiösen Emanzipation und einem verstärkten „antimuslimischen serbischen Nationalismus“ äußerten. 43 Unter dem Vorwand des notwendigen Schutzes der Nationen vor der Durchdringung mit (negativen) religiösen Elementen und des Beharrens auf säkularen nationalen Identitäten versuchte die politische Führung der Republik, diese Tendenzen zu unterbinden. Ein Höhepunkt beim Vorgehen gegen muslimische Aktivisten war der Prozess gegen 13 Männer rund um Alija Izetbegović, die - so der damalige Vorsitzende des Präsidium des bosnischen Zentralkomitees Hamdija Pozderac - wegen „ de facto Forderungen nach einem ethnisch reinen Bosnien und nach Organisierung eines islamischen Staates“ 44 und „feindseliger und konterrevolutionärer Handlungen aus muslimisch nationalistischen Gründen“ angeklagt wurden. 45 Schließlich wurde der spätere bosnische Präsident Izetbegović als Verfasser der Islamischen Deklaration (die ein allgemein philosophisches islamisches Werk ist und keine Hinweise auf Bosnien-Herzegowina bzw. den Wunsch nach der dortigen Errichtung eines islamischen Staates enthält) 46 zu einer 14-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die in der Berufung auf elf Jahre reduziert wurde. Scheinbar um einen „ethnischen Ausgleich“ zu schaffen, fand ein Jahr später in Sarajevo ein ähnlich aufgebauter Prozess gegen den serbischen Nationalisten und heutigen Angeklagten des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, Vojislav Šešelj, statt. Diese beiden Prozesse waren ein Ausdruck des Bestrebens zur Absicherung der Macht des Bundes der Kommunisten in Bosnien-Herzegowina und des Versuchs zur Aufrechterhaltung des ethnischen Gleichgewichts in der bosnischen Politik. Die damalige sozialistische Elite sollte nur wenige Jahre später im Zuge der Agrokomerc-Affäre ab 1987 einen totalen Kollaps erleben. Dieser spektakuläre Wirtschaftsskandal in einem prosperierenden Geflügelbetrieb in Nordwestbosnien, der 1987 13.000 Menschen beschäftigte und dessen Direktor und späteof Yugoslavia from the Death of Tito to the Fall of Milosevic. Boulder: Westview Press 4 2002 sowie auch Little, Allan / Silber, Laura: Bruderkrieg. Der Kampf um Titos Erbe. Graz, Wien: Styria 1995. 43 Malcolm 1996, p. 240. 44 Vgl. Filandra 1998, p. 325; Filandra schildert in seinem Buch ausführlich diesen Prozess, seinen Verlauf und Folgen (ibid., pp. 325-347). 45 Malcolm 1996, p. 241. 46 Vgl. Izetbegović, Alija: Islamska deklaracija. Sarajevo: Oko 1990. Ethnonationalismus in der longue durée? 515 res Mitglied des ersten bosnischen Präsidiums nach 1990, Fikret Abdić, enorme Popularität genoss, hatte enorme Folgen. Viele Muslime waren überzeugt, dass der Skandal von Belgrad aus organisiert war, um einige der prominentesten bosnisch-muslimischen Politiker, v. a. Hamdija Pozderac, zu Fall zu bringen. Pozderac trat von seinen Ämtern zurück und die überwiegend muslimische Bevölkerung in der gesamten Nordwestregion litt danach sehr stark unter Folgen einer sich verstärkenden Wirtschaftskrise. Die Agrokomerc-Affäre und ihre Folgen führten zur Diskreditierung des Sozialismus-Gedankens und der bosnischen sozialistischen Elite. Solange jedoch die politische Führung der Kommunisten im Großen und Ganzen geschlossen gegen die nationalistischen Tendenzen auftrat, konnten die ersten kleineren interethnischen Zwischenfälle ab 1987 Bosnien noch nicht wesentlich destabilisieren. In einer Umfrage aus dem Jahr 1988 konnte sogar eine hohe positive Einstellung in Bezug auf den Jugoslawismus, der in Bosnien ein Symbol für Toleranz und gegenseitigen Respekt zwischen den drei ethnischen Gruppen war, festgestellt werden. 47 Zu diesem Zeitpunkt wurde die Krise des jugoslawischen Staates, der in den schrittweisen Zerfallsprozess hineinschlitterte. Neben der Delegitimierung des jugoslawischen Staats- und Gesellschaftsmodell hielt auch eine andersgeartete gesellschaftliche Rationalität Einzug in Jugoslawien und Bosnien-Herzegowina. Es entwickelte sich eine spezifische „mentale Ebene“, die dazu führte, dass die Bürger in der Absicherung der eigenen Nation gegenüber den anderen Nationen, Republiken oder Völkern (wie innerhalb Bosniens) bzw. im dadurch entstehenden subjektiven Gefühl einer individuellen „Sicherheit“ im Rahmen eines größeren Kollektivs (der Nation) eine wesentliche Leistung sahen, die ihre politischen Vertreter erfüllen sollten. Dies schuf ideale Voraussetzungen für das Wirken der neuen - ehemals sozialistischen - ethnonationalen Eliten, die teils aus Überzeugung und teils aus reinem Machtkalkül den Nationalismus gekonnt einsetzten, um die politische Kontrolle über die einzelnen Republiken zu erlangen bzw. abzusichern. Bosnien-Herzegowina fügte sich in den Trend ein; unter dem Einfluss der Nationalismen aus Serbien und dann auch aus Kroatien vollzog sich eine rasche Ethnonationalisierung der Gesellschaft. 48 Wie bereits geschildert, stellte diese Teilrepublik auf Grund ihrer spezifischen Geschichte und der großen Ambivalenzen im Leben und Erleben der ethnonationalen Unterschiede ein Gebilde 47 Lt. Anđelić 2003, p. 73, hatten von 35 % der Befragten in Bosnien, die sich als Jugoslawen verstanden, 86,2% eine sehr positive Einstellung zum Jugoslawismus. Eine ähnlich positive Einstellung hatten auch jene, die sich als Serben bzw. Kroaten deklarierten (79,6%) oder als Muslime (83,9%) 48 Vgl. ibid. 516 Vedran Džihić dar, in dem die ethnonationale Frage auch im sozialistischen Jugoslawien als ein besonders wichtiger, wenn nicht entscheidender Faktor für das Funktionieren der Gesellschaft war. Dies war v. a. auch durch die Grundantagonismen der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft bedingt, durch gegensätzliche und sich bedingenden Strukturmerkmale - jenes des komšiluk auf der einen und der latenten ethnischen Spannungen auf der anderen Seite. 49 Bei diesen beiden gegensätzlichen Polen ist auch der Unterschied zwischen einer lebensweltlichen Alltagsebene und der Ebene des Politischen wesentlich. Waren die Beziehungen zwischen den drei Ethnien auf der Ebene des Alltags in Form von komšiluk geregelt - also respektvoll und einander gegenseitig in positiver und produktiver Form weitgehend ergänzend und bedingend -, waren sie auf der politischen Ebene von Konkurrenz und Konflikt geprägt. Solange der Staat in der Lage war, einen stabilen und funktionierenden Rahmen für den toleranten, sich gegenseitig unterstützenden Umgang miteinander zu garantieren, konnte man von einem mehr oder weniger harmonischen und gut ausbalancierten zwischenethnischen Umgang sprechen. Sobald aber der Staat schwächer wurde und der politische Kampf um Ressourcen aller Arten sich verstärkte (und das Politische also begann, die Ebene des Alltags zu bestimmen), geriet das subtil austarierte Modell ins Wanken und verkehrte sich in seinen Gegensatz. Die ehemals im komšiluk -Konzept garantierte Sicherheit im Alltag wurde jetzt in der - mitunter auch gewalttätigen - Konkurrenz zu den jeweils anderen gesucht. 50 Generell betrachtet waren die Ambivalenzen der unterschiedlichen Lebensformen sowie die gegenseitige Verwebung und Beeinflussung der scheinbar unvereinbaren Gesellschaftsentwürfe in Bosnien und Herzegowina dafür verantwortlich, dass man sowohl Formen des toleranten und das Ethnische transzendierenden Lebens - wie z. B. v. a. in den Fällen der sog. Mischehen - vorfinden konnte, als auch Formen der Skepsis und gewisser Distanz zu den ethnisch jeweils Anderen. Dieses Misstrauen wurde auch durch die Erinnerungen an Verbrechen des Zweiten Weltkrieges bzw. in den jeweiligen und aus Serbien und Kroatien stark forcierten Geschichtsnarrativen, die stets historische Differenzen betonten, genährt. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre kam es unter den Bedingungen der allgemeinen Krise und der verstärkten politisch-nationalistischen Konkurrenz zwischen einzelnen jugoslawischen Republiken schließlich zu schrittweisen Veränderungen der inneren Struktur der bosnisch-her- 49 Als ein weiteres Merkmal gab es eben auch die bereits beschriebenen Ansätze des građanstvo , die sich aber angesichts der Stärke der ersten beiden Merkmale nur im geringeren Ausmaß innerhalb der urbanen und fortschrittlichen Schichten etablieren konnten. Vgl. Bugarel 2003, p. 125ff. 50 Vgl. ibid. Ethnonationalismus in der longue durée? 517 zegowinischen Gesellschaft. Die Beziehungen zwischen den drei ethnischen Gruppen bzw. Nationen zueinander entwickelten sich fortan immer deutlicher in Richtung Konflikt; die anderen zivilen Formen der Vergemeinschaftung und der intensiven Zusammenlebens wurde immer stärker in den Hintergrund gedrängt. So kann auch der Grundkonflikt der modernen bosnischen Geschichte in den 1980er Jahren als ein Konflikt zwischen dem modernen Prinzip der Verstaatlichung mit dem Bürger ( citoyen ) im Mittelpunkt und jener anderen Form der Vergemeinschaftung bezeichnet werden, bei der das ethnonationale Kollektiv als Staatlichkeitssubjekt figuriert. In Bosnien bekam dieser Konflikt jene spezifische Note, die auch die Zeit nach dem Kriegsende 1995 stark prägen wird: Indem die Alltagskonzepte des komšiluk ( susjedstvo ) und des građanstvo (Bürgerlichkeit) von neuen ethnonationalistischen Eliten politisiert wurden, konnte in einer Zeit des rapiden Verlustes der politischen Steuerungsfähigkeit des jugoslawischen Staaten und einer allgemeinen Atmosphäre der Verunsicherung in der Bevölkerung das kollektivistische Prinzip der strengen Trennung der einzelnen Ethnien von einander Vorrang vor der Praxis des gemeinsamen Lebens und der Nivellierung der kollektiven Grenzen durch die Alltagspraxis gewinnen. Die Verschiebung des Politischen hin zu einer konflikthaften und ausgrenzenden Kategorie, die sich der ethnischen Differenz bediente, um die eigene Machtbasis abzustützen, wurde so unter der Bedingungen der allgemeinen Krise der jugoslawischen Gesellschaft Ende der 1980er Jahre zur politischen Norm. 5. Krieg 1992-1995 als das Elementarereignis der jüngeren bosnisch-herzegowinischen Geschichte Der Krieg von 1992 bis 1995 markierte jenes Ereignis in der modernen Geschichte Bosnien-Herzegowinas, das bis heute als absoluter Bezugspunkt für die Aufrechterhaltung des Ethnonationalismus und damit der jeweiligen Ethnostaatlichkeit dient. Die Frage nach der Erinnerung an den Krieg im ex-jugoslawischen Gebiet und insbesondere in Bosnien lässt sich nicht von der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die interethnische Gewalt in diesem Zeitraum loslösen, ebenso wenig von der Erinnerung an die in der Zeit des Tito-Jugoslawien unter ideologischen Vorzeichnen betriebenen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und einer jegliche ethnischen Unterschiede verwischenden Identitätspolitik. So konnten die nationalistischen Parteien zu Beginn der 1990er Jahre in ihrer Erinnerungs- und Identitätskonstruktionspolitik nahtlos an nicht-thematisierte Dimensionen der Tito-Ära anschließen bzw. mit Verweis auf diese Unterlassungen der Tito-Zeit in ihren Geschichtsversionen 518 Vedran Džihić in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg „wühlen“ und sich jeweils als Opfer darstellen. In dieser Darstellung sahen sich die Kroaten als Opfer der serbischen Hegemonialpolitik, die Serben als Opfer des kroatischen faschistischen Staates NDH und die Bosniaken als Opfer der beiden aggressiven Großstaatsprojekte in der Nachbarschaft. Vom Opferstatus des Zweiten Weltkrieges über die Opfer der Unterdrückung durch das Tito-Regime bis hin zum Opferstatus im Kontext der „neuen Demokratie“, der sich aus der unmittelbaren Bedrohung durch die jeweils anderen ableitete, war kein weiter Weg zu den Kriegen und zum heute vorherrschenden exklusiven Anspruch auf die ethnonationale Selbstständigkeit und damit auf die Gestaltung der Geschichte, der eigenen Denkmäler, auf das Stilisieren von Kriegsverbrechern zu Helden, v. a. aber auch auf die exklusive Beherrschung des eigenen ‘reinen’ nationalen Territoriums. All diese Prozesse wurden und werden auf der Ebene der Alltagswelt begleitet und in unterschiedlichen Facetten widergespiegelt. 51 „Offizielle“ Narrative werden dabei von persönlichen Narrativen begleitet und bedingen sich gegenseitig. 52 Der Krieg in Bosnien und Herzegowina und die vielfältigen (Miss-)Interpretation des Krieges prägen bis heute entscheidend die bosnisch-herzegowinische Realität. Der Krieg und die politische Bestätigung seiner Ergebnisse durch die Bestimmungen von Dayton haben zur Verankerung einer grundlegenden Paradoxie in Post-Dayton-Bosnien geführt: mit einem Friedensabkommen, das den Rahmen für die friedliche Transformation und Demokratisierung der Gesellschaft unter internationaler Aufsicht schaffen sollte, wurde das Kriegerische und v. a. das Konflikthafte in der Beziehung der drei Volksgruppen zueinander auf allen Ebenen der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft nachhaltig verankert. Mit der nur scheinbaren Neutralität und Äquidistanz in Bezug auf alle drei Kriegsparteien wurden die Voraussetzungen für Interpretationen des Dayton-Abkommens durch die drei großen ethnischen Gruppen und ihre politische bzw. intellektuelle Führung geschaffen, deren Ausgangspunkt die jeweils ethnisch gefärbte (da in Dayton nicht geklärte) Verklärung des Krieges darstellt. So verstehen sich bosnische Serben bis heute als Opfer der Kroaten und der Bosniaken, die Bosniaken als Opfer der kroatischen und serbischen Aggression und bosnische Kroaten als Leidtragende der aggressiven und hegemonialen Politik der Serben und Bosniaken. Entsprechend wird beliebig in der Geschichte gegraben, uminterpretiert, neu und ‘richtig’ gedeutet, und all dies immer im bewussten Gegensatz zu den Positionen der jeweils anderen Seite, die im öffentlichen 51 Bougarel, Xavier / Helms, Elissa / Duijzings, Ger (Hg.): The New Bosnian Mosaic. Identities, Memories and Moral Claims in a Post-War-Society. Aldershot: Ashgate 2007, p. 24f. 52 Ibid., p. 21. Ethnonationalismus in der longue durée? 519 Bewusstsein einer koordinierten Diffamierung ausgesetzt wird. Dieser Prozess kann anhand von Schulbüchern und ethnisch getrennter Unterrichtsräumlichkeiten dokumentiert werden 53 und lässt sich auch in unterschiedlichen Bereichen des Alltags gut verfolgen. 54 Geschichte und Gegenwart Bosniens werden dadurch zu einem Spielplatz von verklärenden und einander ausschließenden Fantasien über die Vergangenheit und den Krieg. Die „Politik der Fantasie“ wurde somit zu einem fixen Bestandteil der Ethnopolitik. 55 Die Erinnerungen an den Krieg sind in Bosnien untrennbar mit verschiedensten existenziellen Ängsten verbunden. Bereits vor dem Krieg wurde die Angst vor der angeblichen Bedrohung durch die Mitglieder der jeweils anderen Volksgruppe zum wirksamen Mittel zur ethnonationalen Mobilisierung und zur Absicherung der ethnonationalen Herrschaft, die in der Zeit seit dem Kriegsende nicht abgenommen hat. So wird Angst im Prozess der Reproduktion der eigenen ethnischen Gruppe eingesetzt, indem die ethnisch jeweils Anderen als potenzielle Gefahr dargestellt werden. Die ethnische Unterscheidung zwischen ‘Uns’ und den ‘Anderen’ gewinnt v. a. in Krisensituationen an Bedeutung; Gewalt (in der Vergangenheit bzw. Angst vor Gewalt in der Zukunft) trägt in Zeiten allgemeiner gesellschaftlicher Verunsicherung dazu bei, dass der „Groupism-Effekt“ 56 auftritt und Ethnizität als ordnende und selektierende Kategorie an Bedeutung zunimmt. 57 Ihre Wirkung als „interpretative Matrix“ ist dabei umso stärker, je größer der Bezug zu einem vorangegangenen Konflikt ist und je größer dieser Bezug mit subjektiver Angst bzw. dem Gefühl der Bedrohung verbunden ist. Dieser durch die ethnonationale Mobilisierung zu Beginn der 1990er Jahre und durch die im Krieg geschaffenen territorialen und symbolischen vollendeten Tatsachen stabilisierte interpretative Rahmen wurde mit Dayton und der politischen Praxis in Post-Dayton-Bosnien legitimiert und damit auf unbestimmte Zeit prolongiert. So entstand jener für die Entwicklung der bosnischen Staatlichkeit verhängnisvolle Komplex der Ethnopolitik, die sich von den Krisen der Zeit ab 1995 nährt, die Angst vor dem ethnisch jeweils Anderen zum politischen Prinzip erhebt und das Ethnische als wirksamste Machterhaltungsstrategie bzw. Mittel zur Absicherung partikularer Privilegien instrumentalisiert. Die Wirkung der 53 Das Thema des ethnisierten Unterrichts wird in der bosnischen Öffentlichkeit immer wieder diskutiert. 54 Vgl. Jansen, Stef: Remembering with a Difference. Clashing Memories of Bosnian Conflict in Everyday Life. In: Bougarel/ Helms/ Duijzings 2007, pp. 167-193. 55 Vgl. Zgodić, Esad: Politika fantazije. O ratu protiv Bosne i Herecegovine. Sarajevo: DES Sarajevo 2005. 56 Vgl. Brubaker 2006. 57 Mujkić, Asim: „Zatvorenikova dilema“ i njene implikacije u etnopolitici Bosne i Hercegovine. In: Godišnjak [Sarajevo] 2007, pp. 31-44. 520 Vedran Džihić Angst als eines integralen Bestandteils des ethnischen Prinzips beschrieb Ivan Lovrenović noch 2004 wie folgt: Die Angst ist der primäre Reflex, der die politischen Beziehungen zwischen den drei ethnischen Gemeinden in Bosnien-Herzegowina bestimmt, und zwar in jenem Ausmaß, in dem das die drei regierenden nationalen Parteien einen solchen Charakter der zwischenethnischen Beziehungen festgelegt haben. Angst, tiefes Misstrauen, Unfähigkeit für die Öffnung gegenüber einer anders gearteten Zukunft, geschweige denn vor einer gemeinsamen Zukunft! Würde man diesen Zustand analytisch und begrifflich korrekter bezeichnen wollen, könnte man fast sagen, dass diesbezüglich der Krieg noch nicht beendet wurde, sondern nur in latenter Form sich in die Mimikry-Formen des kollektiven politischen Verhaltens, der Aspirationen, der Ängste, Fantasien etc. verwandelt hat. 58 An diesem Muster hat sich bis heute nichts geändert. Lovrenović präzisiert auch, dass es bei den drei großen ethnischen Gruppen Unterschiede in der Ausprägung der Angst gibt. So haben die bosnischen Serben v. a. die Angst vor der Auflösung der RS, die sie als den letzten Schutz vor unitaristischen Tendenzen und damit einer Dominanz der Bosniaken betrachten. Die bosniakische Angst geht auf den Krieg und seine Ergebnisse zurück und besteht darin, dass die Bosniaken neuerlich Opfer der Kroaten und Serben werden könnten. Die Kroaten hingegen fürchten sich davor, von den beiden größeren ethnischen Gruppen innerhalb Bosniens unterdrückt zu werden und setzen alles daran, diese Angst durch die offensive Politik der Stärkung der kroatischen Identität und durch den Kampf um die Errichtung einer dritten Entität zu überwinden. 59 Vor dem Hintergrund einer solchen ‘Angst-Landschaft’, die aus der Furcht der einen ethnischen Gruppe vor der Bedrohung durch die jeweils andere besteht und bis heute nichts von ihrer Wirksamkeit und Relevanz eingebüßt hat, sind die Chancen für die Stärkung einer Gesamtstaatlichkeit, die Abschwächung des Ethnonationalismus sowie für die Verbesserung der interethischen Beziehungen gering. Eine Normalisierung müsste in diesem Sinne auch bedeuten, dass die Angst als gestalterisches Prinzip der Politik in Post-Dayton-Bosnien-Herzegowina verschwinden müsste. Mit ihrem Verschwinden und damit verbunden einer Normalisierung des Politischen könnte die Macht der oben erwähnten Daytoner „interpretativen Matrix“ reduziert werden. 60 Die Normalisierung jedoch scheint zum Hauptfeind der ethnonationalen politischen Eliten geworden zu sein. Ein ’normales’ Bosnien würde sie des Ethnischen als der zentralen Mobilisierungs- und Legitimierungsstrategie berauben. 58 In: Feral Tribune v. 07.05.2004 [Übers. V.D.]. 59 Ibid. 60 Mujkić 2007, p. 43. Ethnonationalismus in der longue durée? 521 6. Die Ethnonationalisierung der bosnischen Gesellschaft als zentrales Paradigma der modernen bosnischen Staatlichkeit Im politischen Bereich kam es als Folge des militärischen Konflikts zu einer weitgehend unhinterfragten Fortsetzung des im Krieg festgeschriebenen Denkens in ethnischen Kategorien, das nach einem Ausschlussmechanismen zwischen ‘Uns’ und ‘den Anderen’ den Rahmen für die Bemühungen um die Wiederherstellung der gemeinsamen bosnischen Staatlichkeit abgab. Angesichts der Dauer, der Intensität und der Brutalität, mit der gekämpft wurde, und der bewussten Benutzung des Ethnischen als der Mobilisierungs- und Machtabsicherungsstrategie im Vorfeld und während des Krieges, ist dies nicht weiter verwunderlich. Die (partielle) Anerkennung der gewaltsam erzielten ethnischen Territorialgrenzen der drei Krieg(er)staaten hatte natürlich strukturelle Folgen, nämlich die Formalisierung des ethnonationalen Prinzips und seine implizite Festschreibung als des obersten Staatsprinzips. Die im Annex 4 des Abkommens enthaltene neue Verfassung von Bosnien und Herzegowina ist der Tradition der während des Krieges vorgelegten Friedenspläne verpflichtet und damit vom ethnischen Prinzip dominiert. Diese Logik findet ihren realpolitischen Niederschlag in der Teilung des Landes in zwei ethnisch definierte Entitäten und der Festlegung des ethnisch definierten Bürgers und der entsprechenden Kollektive als der Subjekte des neuen Staates. Mit dem Akt der Schaffung beider Entitäten wurde der Status quo der gewaltsam erzielten ethnischen Territorialgrenzen akzeptiert. Die zugleich im Dayton-Abkommen festgehaltene Absicht, die Gesamtstaatlichkeit bzw. den multiethnischen und multikulturellen Charakter Bosniens zu schützen und zumindest in einzelnen Bereichen wiederherzustellen, erwies sich - wie im weiteren Verlauf der Studie dokumentiert werden wird - als unzureichend, um die enorme Virulenz und Dynamik des Ethnonationalen in Bosnien zu konterkarieren. Die Ethnoterritorialisierung in Dayton und die damit indirekt sanktionierten Bevölkerungsverschiebungen als Ergebnis des Krieges haben sich - wie die Entwicklungen der Jahre ab 1995 bis heute zeigen - als sehr widerstandsfähig erweisen. Das Ergebnis des Daytoner-Pragmatismus und des Zwangs zum Kompromiss haben aus Bosnien-Herzegowina ein Land gemacht, das weitgehend aus ethnisch ‘reinen’ Gebieten besteht und sich somit in seinem Charakter grundsätzlich von der Vorkriegszeit unterscheidet. Der bunte Fleckenteppich, auf dem kompakte Siedlungsgebiete einer der drei Volksgruppen eher die Ausnahme darstellten (nach der Volkszählung 1991 hatte Bosnien-Herzegowina vor dem Krieg 4.377.033 Einwohner, wovon 43,48% Muslime, 31,21% Serben, 17,38% 522 Vedran Džihić Kroaten und 5,54% Jugoslawen waren), 61 verwandelte sich in weitgehend geschlossene ethnische Gebiete nach dem Krieg. 62 Betrachtet man diese Verschiebung an konkreten Beispielen einiger Städte, wird das Ausmaß der durch den Krieg verursachten Verschiebungen augenscheinlich: In der Republika Srpska liegen bspw. Städte, die vor dem Krieg eine Mehrheit an nicht-serbischer Bevölkerung aufwiesen, wie z. B. Srebrenica (74,8% Muslime), Višegrad (62,8% Muslime), Zvornik (59,4% Muslime), Prijedor (44,0% Muslime, 13,5% andere), Doboj (40,2% Muslime, 13,0 Kroaten, 5,5% Jugoslawen), Odžak (54,2% Kroaten, 20,3% Muslime), Bosanski Brod (41,0% Kroaten, 12,2% Muslime, 10,6% Jugoslawen) usw. In der Föderation Bosnien-Herzegowina sind hingegen Städte mit einer eindeutigen serbischen Mehrheit verblieben, wie z. B. Drvar (97,3% Serben), Bosansko Grahovo (95,5%), Glamoč (79,3%) oder Bosanski Petrovac (75,2%). 63 Die ehemals multiethnische Stadt Banja Luka verwandelte sich in eine de facto serbisch dominierte Hauptstadt der Republika Srpska, Sarajevo ist eine dominant bosniakische Stadt, 64 Mostar auch lange nach dem Ende des Krieges eine geteilte Stadt zwischen Kroaten und Bosniaken. Die Folgen der beschriebenen Ethnoterritorialisierung für die grundsätzliche Begründung der bosnischen Staatlichkeit sind abseits der Formalisierung der territorialen Autonomie der ethnischen Kollektive in Kantonen und Entitäten enorm. Die Spirale der Entfernung der einzelnen ethnischen Gruppen voneinander, die sich schon in den späten 1980er Jahren stark zu drehen begann und die ihren Höhepunkt im Wahnsinn des Krieges erreichte, wurde also durch Dayton und nach Dayton fortgesetzt. Mit der ethno-politisch forcierten Entfernung der einzelnen Völker Bosniens voneinander wurde das Fundament einer gemeinsamen Staatlichkeit weggerissen. Durch die Perpetuierung des krisenhaften Zustandes in Post-Dayton-Bosnien wurde der Raum für die uneingeschränkte Dominanz des Ethnonationalen als einer erprobten und in Augen ethnonationaler Eliten äußerst effizienten Herrschaftstechnik geschaffen. Und hier liegt der Kern des heutigen Problems in Bosnien und Herzegowina: Die drei exklusiven ethnonationalen Konzepte der Serben, Kroaten und Bosniaken schließen einander aus; die drei Völker sind aber gleichzeitig gezwungen, zumindest formal im Rahmen eines gemeinsamen und von der internationalen 61 Vgl. Duraković 1993, p. 167. 62 Vgl. dazu Kurspahić, Kemal: Osmrtnica za ›leoparda‹. In: Radio Slobodna Evropa v. 24.10.2008, abrufbar unter www.slobodnaevropa.org/ content/ Article/ 1332460.html3. 63 Ergebnisse der Volkszählung 1991, zit. n. Oslobođenje , o.A. 64 Zur Veränderung des Charakters von bosnischen Städten werden in den bosnischen Medien zahlreiche Debatten geführt. Im Band Bosnian Mosaic wird aus ethnografischer Perspektive den Veränderungen des ethnischen Charakters von Städten und den Folgen für die sozialen Alltagswelten und damit auch für die Staatlichkeit Bosnien nachgespürt; vgl. Bougarel/ Helms/ Duijzings 2007. Ethnonationalismus in der longue durée? 523 Gemeinschaft beaufsichtigten Staaten zu leben. Dieses Ausschließlichkeitsprinzip wird von den politischen ethnonationalen Bewegungen erfolgreich benutzt und instrumentalisiert: die Politisierung und Vertiefung der Unterschiede mit ethnonationalen Argumenten und unter beliebiger und stets exklusiver Geschichtsinterpretation wird auch im 23. Jahr nach Dayton auf allen Ebenen eingesetzt und fällt bei einer vielfach geschundenen und im Kampf um die Sicherung des Alltagsüberlebens abgestumpften Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. Das Ethnonationale wurde schrittweise auch in die habitualen Formen übernommen; diese wurden und werden wiederum von den sozialen und politischen Strukturen als einzig richtige und gesellschaftlich (aber auch formal-rechtlich) akzeptierte Denk- und Handlungsform nahezu vorausgesetzt. Die bosnische Ethnopolitik heute wäre ohne Unterstützung seitens eines großen Teils der Bevölkerung, die sich exklusiv ethnisch identifiziert und offensiv von der jeweils anderen Ethnie abgrenzt, nicht möglich. Gleichzeitig verstärkt die Art und Weise, wie die Ethnopolitik in Bosnien in den formalen staatlichen Institutionen auf der Staats-, Entitäts- und Kantonalebene praktiziert wird, das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe, das nach Möglichkeit im Rahmen einer ethnoterritorial definierten politischen Gemeinschaft bzw. Staatlichkeit realisiert werden sollte. Angesichts dieses Befundes könnte man im Sinne von Pierre Bourdieu schlussfolgern, dass der ursprüngliche Schein der konstruierten „Natürlichkeit“ des Ethnonationalen und damit einer ethnisch geprägten Post-Daytoner-Staatlichkeit im Laufe der Zeit seit 1995 zur bosnisch-herzegowinischen Realität geworden ist, entgegen den vielfältigen strukturellen Spuren aus der bosnischen Geschichte. 65 Alle gegenteiligen und auf die Wiederbelebung jener Tradition des Zusammenlebens hindeutenden Tendenzen, die durchaus in Randöffentlichkeiten bzw. im einfachen tagtäglichen Umgang der Menschen miteinander zu sehen sind, wurden und werden durch politisch gesteuerte und durch ethnische Exklusivität geprägte Diskurse der Post-Daytoner-Politiker und Intellektuellen marginalisiert (ein gutes Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit war die starke übernationale Solidarität während der historischen Überschwemmungen des Jahres 2014). Jegliche andersgeartete Erfahrung wird auf der Ebene des Staatlichen und des Politischen verdrängt bzw. aktiv bekämpft. Das gesamte Feld des Politischen bleibt somit auch in der Gegenwart auf die Ethnopolitik reduziert. Die Logik dahinter ist weiterhin jene der unmittelbaren Kriegs- und Postkriegstage in den 1990er Jahren - „ich kann nur dann gewinnen, wenn der andere verliert“. Die ethnonationalen Parteien reduzieren somit ihre politische 65 Vgl. Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1998, p. 99. 524 Vedran Džihić Verantwortung den Wählern gegenüber hauptsächlich auf den Schutz vor der Bedrohung der eigenen Ethnie und der „vitalen nationalen Interessen“ der eigenen Volksgruppe. Die Mehrheit der politischen Repräsentanten der drei bosnischen Volksgruppen vertreten sie in diesem Punkt de facto gleich, in dem sie das Ethnische benutzen, um die Legitimität für das eigene Handeln und für die demokratische Vertretung herzustellen. Politik und damit auch der Staat, in dem diese praktiziert wird, werden dadurch zu einem ethnopolitisierten Marktplatz für die Realisierung eigener Interessen, wodurch sich die Funktion des Staates als eines dem Bürger dienenden Rahmens für die normale Führung des Lebens auflöst. Der mittlerweile verselbstständigte Daytoner Ethnonationalismus hat sich zu einer Kraft entwickelt, die es seinen Akteuren einfach macht, es als Herrschaftsmittel einzusetzen. Laut Nerzuk Ćurak wird damit ein politisches System aufrechterhalten, der den Schlechtesten die Zugehörigkeit zur Elite des Landes ermöglicht, die den Staat führt. Diese „Schlechtesten“ besitzen natürlich ein immanentes Interesse an der Aufrechterhaltung des Krisenzustandes und an weiterer Politisierung der ethnischen Unterschiede, die als probates Mittel zur Prolongierung ihrer Macht eingesetzt wird. 66 Die schwierige Lage der Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina, die weiterhin an niedrigem Lebensstandard, hoher Armut und hohen Arbeitslosenzahlen leidet, vor allem aber am permanenten status quo ohne positive Zukunftsvisionen verzweifelt, wird dadurch prolongiert. Der Staat nach Dayton ist also nicht bzw. kaum in der Lage, seine Funktion als Garant der Stabilität und jene Instanz wahrzunehmen, die für die gerechte Verteilung der gesellschaftlichen Güter und Ressourcen sorgen könnte und müsste. Das Versagen der staatlichen „Output-Leistungen“ im Sicherheitsbereich, im Bereich des Schutzes der nationalen Rechte und der Minderheiten sowie eben im Bereich der gerechten Verteilung der ohnehin knapp vorhandenen sozialen und ökonomischen Güter, tragen dazu bei, dass das Vertrauen der Bürger in die Politik und damit in weiterer Folge in das Demokratiemodell schon lange schwindet und in politische Apathie umschlägt. Die fortdauernde Krise der bosnischen Staatlichkeit nährt das Misstrauen, verstärkt die allgemeine Verunsicherung und etabliert eine Form des ahistorischen Ur-Misstrauens als eines Kernelements der Daytoner-Ethnostaatlichkeit, gewissermaßen als conditio-sine-qua-non der bosnischen Nachkriegsstaatlichkeit. Eine direkte Folge davon ist massive Abwanderung vor allem junger Menschen, die damit auch eine unmissverständliche Botschaft aussenden, dass die Form des Politischen und des Gesellschaftlichen dem Land die Luft zum Atmen nimmt. 66 Ćurak, Nerzuk: Obnova bosanskih utopija. Sarajevo, Zagreb: Synopsis 2006, p. 83f. Ethnonationalismus in der longue durée? 525 7. Auswege im Denken und Handeln Einige Zeit vor dem Beginn des Kriegs in Bosnien-Herzegowina brach man in der Region des ehemaligen Jugoslawien in die vermutliche Freiheit auf. Das Ziel war eine freie, demokratische, offene Gesellschaft, losgelöst von den Zwängen des autoritären Regimes zuvor. Der Nationalismus, der sogleich zu wüten begann, erstickte den Beginn der demokratischen Ära am Balkan und in Bosnien-Herzegowina. Das Versprechen von Freiheit und Demokratie wurde im jugoslawischen Raum in den 90er-Jahren einfach nicht realisiert - vielmehr wurden der gemeinsame Staat und die gemeinsame Wirtschaft von nationalistischen Eliten vereinnahmt und systematisch ruiniert. Das Gemeinsame ging in Flammen auf und machte Platz für das Partikulare; die Suche nach dem Unterschied wurde zum Kampf. Bosnien-Herzegowina machte von allen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens, die seit dem Beginn der 90er Jahre diesem Wirbel des Übergangs ausgesetzt waren, die schnellste Metamorphose zu einem Land ohne Eigenschaften und einer Gesellschaft ohne Gesellschaft durch, gefangen in der permanenten Gegenwart, in der das gemeinsame Vergangene mit Gewalt aus unser aller Gedächtnis gelöscht werden sollte und Zukunft von den Verkündern der nationalen Homogenität in drei diffuse Puzzleteile zerrissen wurde, die nach einer Periode des nationalistischen Herumwütens von mehr als 20 Jahren auch durch den besten Puzzle-Bauer zusammengesetzt nur noch ein wirres Bild abgeben würden. Das Ergebnis dieser Metamorphose, so kann man annehmen, sollte aus der Sicht der nationalistischen Ideologen eine bessere Zukunft für „uns“ - für uns Bosniaken, für uns Kroaten, für uns Serben sein. Um richtig verstanden zu werden: Im exklusiven und atavistischen Bild von der Erfüllung der Zukunftsträume durch die Vernichtung der gemeinsamen Vergangenheit und das Einsperren in den jeweils eigenen - bosniakischen, kroatischen oder serbischen - national-kollektiven Rahmen ist kein Platz für die Anderen vorgesehen. In der Vorstellung vom reinen nationalen Körper sind es die ethnisch jeweils Anderen, die für dessen Reinheit die größte Gefahr darstellen. Vielleicht besser verständlich: In der Vorstellung vom vollkommenen nationalen Körper stellen die Anderen die größte Gefahr für dessen Reinheit dar. Sie sind es, vor denen wir - so suggeriert man uns - Angst haben sollen. Im vorliegenden Beitrag wurde eine Analyse der vielfältigsten und widersprüchlichen Formen der (nationalen) Vergemeinschaftung in Bosnien und Herzegowina vorgenommen. Die Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen in der Entwicklung der nationalen Frage, die sich am besten mit den Gegensatzpolen der nationalen Exklusivität, des komšiluk und letztlich auch građanstvo beschreiben ließen, wurde in der Post-Daytoner Zeit von einer Selbstverständlichkeit und 526 Vedran Džihić Natürlichkeit des exklusiven Ethnonationalismus und der Ethnopolitik als der entsprechenden Machtpraxis abgelöst. Will man den Weg zu einer modernen Staatlichkeit Bosniens bestreiten, wird eine kritische Dekonstruktion der exklusiven nationalen Geschichtsschreibungen abseits des herrschenden ethnonationalen Paradigmas notwendig sein. Wie im Beitrag gezeigt werden konnte, verlief die Geschichte Bosnien-Herzegowinas seit dem 19. Jahrhundert bis heute nicht geradlinig. Zumindest in zwei historisch wichtigen Phasen - in der Zeit Österreich-Ungarns rund um die Jahrhundertwende und im sozialistischen Jugoslawien - gab es relevante Versuche des Aufbaus einer überethnischen und übernationalen Formation der bosnischen Staatlichkeit. Wie Noel Malcolm in Bezug auf die Zeit von Österreich-Ungarn feststellt, wäre die Politik der Bildung einer integralen bosnischen Identität durch Kállay möglich gewesen, wenn es gelungen gewesen wäre, „die Orthodoxen und die Katholiken in Bosnien völlig von den religiösen, kulturellen und politischen Entwicklungen in den Nachbarländern abzuschotten.“ 67 Eine solche Isolierung war damals nicht möglich, genauso wenig sie in der Zeit des sozialistischen Jugoslawiens möglich war, als man mit der Bildung einer über-nationalen Volkskategorie der Jugoslawen den althergebrachten ethnischen und nationalen Identitäten das Wasser abgraben wollte. Die Tatsache, dass sowohl in der Zeit Österreich-Ungarns als auch ab 1945 der Gedanke einer gemeinsamen übernationalen staatlichen Identität in Bosnien vorhanden war und auch heute noch - und dies trotz des blutigen Krieges der 1990er Jahre - von den dominanten ethnonationalen Identitäten und politischen Identitätsmaschinerien nicht völlig vernichtet werden konnte und noch pulsiert, spricht dafür, dass die derzeitige ethnonationale Kontingenz des bosnischen Gemeinwesens historisch nicht die einzige Möglichkeit darstellt. Die Spuren dieses anderen Bosniens müssen immer wieder aufs Neue freigelegt und auch und gerade im heutigen Bosnien in den diskursiven Kampf gegen die ethnonationalistischen Ideologien geführt werden. Es stellt sich an dieser Stelle natürlich stets eine realpolitische Frage: Wie können die ethnonationalistischen Gegensätze überwunden werden bzw. ist die Überwindung solcher Gegensätze überhaupt für das Funktionieren einer Demokratie sinnvoll? Chantal Mouffe bezieht dazu eine radikale demokratiepolitische Haltung, indem sie meint: Die Besonderheit demokratischer Politik liegt nicht in der Überwindung des Wir-Sie-Gegensatzes, sondern in einer spezifischen Art und Weise seiner Etablie- 67 Vgl. Malcolm 1996, p. 177. Ethnonationalismus in der longue durée? 527 rung. Demokratie erfordert eine Form der Wir-Sie-Unterscheidung, die mit der Anerkennung des für die moderne Demokratie konstitutiven Pluralismus vereinbar ist. 68 Und weiter: Wollen wir einerseits die Dauerhaftigkeit der antagonistischen Dimension des Konflikts anerkennen, andererseits die Möglichkeit ihrer ‚Zähmung’ zulassen, so müssen wir eine dritte Beziehungsform in Aussicht nehmen. Für diese Form habe ich die Bezeichnung ‚Agonismus’ vorgeschlagen. Während der Antagonismus eine Wir-Sie-Beziehung ist, in der sich Feinde ohne irgendeine gemeinsame Basis gegenüberstehen, ist der Agonismus eine Wir—Sie-Beziehung, bei der die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, dass es für den Konflikt keine rationale Lösung ist. 69 Was aber, wenn aus den Antagonismen mittlerweile schon seit nahezu drei Jahrzehnten - wie in Bosnien-Herzegowina - keine produktiven Impulse für die Gesellschaft entstehen und die „gemeinsame Basis“ von Tag zu Tag schwächer wird? Eine Antagonismen bearbeitende und transzendierende Form der agonistischen Politik braucht eine Basis. Fehlt diese Basis, eben das Gemeinsame, oder wurde sie gewalttätig geraubt und mutwillig zerstört, wird die Wiederbelebung eines normalen Gemeinwesens schwer. In einer solchen Situation braucht es eines radikalen Denkens abseits der bereits angetretenen Pfade, das in der Lage ist, deutlich die Grenzen der in Post-Dayton-Bosnien mittlerweile verfestigten Denkschemata der lokalen ethnonationalen „Eliten“ aufzuzeigen. Die scheinbare Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit dieser von verantwortungslosen politischen Eliten dominierten nationalistisch-egoistisch-pervertierten permanenten Gegenwart Bosniens-Herzegowinas ist es, die es anzugreifen und diskursiv und ideologisch und dann auch und vor allem real zu dekonstruieren gilt. Diese Dekonstruktionshoffnung trägt natürlich auch einen utopischen Kern in sich. Dazu Slavoj Žižek: In ihrem innersten Kern hat Utopie nichts mit der Vorstellung von einer unmöglichen idealen Gesellschaft zu tun; charakteristisch für die Utopie ist vielmehr die (so wörtlich) Konstruktion eines utopischen Raumes, eines gesellschaftlichen Raumes außerhalb der existierenden Para-mater, der Parameter dessen, was im bestehenden gesellschaftlichen Universum ‚möglich’ scheint. ‚Utopisch’ ist eine Geste, die die Koordination des Möglichen verändert. […] (U)topie (hat) nichts mit dem vom wirklichen Leben abstrahierenden Traum von einer idealen Gesellschaft zu tun: ‚Utopie’ ist eine Sache von höchster Dringlichkeit, etwas, in das wir um unseres Überlebens willen 68 Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Version, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2007, p. 22. 69 Ibid. 528 Vedran Džihić hineingestoßen werden, wenn es nicht mehr möglich ist, innerhalb der Parameter des ‚Möglichen’ weiterzumachen. 70 Nun stellt sich die Frage, ob die neuen sozialen Protestformen, deren Zeugen wir im Februar 2014 in Bosnien geworden sind, das Potenzial zur Veränderung der Parameter des Möglichen und zur Entwicklung einer neuen produktiven Form der agonistischen Politik haben? Dass in Bosnien im Februar 2014 den unverantwortlichen Politikern lautstark mitgeteilt wird, dass man politische Missstände nicht mehr dulden wird, dass man gegen elitendominierte und korrupte formaldemokratische Regime auf die Straße geht und zahlreiche Missstände beim Namen nennt und dagegen ankämpft, ist jedenfalls ein (kleiner) Teil des Erwachsenwerdens der Gesellschaft. Dass man die in der Regel nicht selbst verschuldete soziale Misere nicht mehr einfach akzeptieren will, gehört auch zum Prozess der demokratiepolitischen Emanzipation. Bosnien-Herzegowina durchläuft einen langwierigen Prozess der demokratischen Gesellschaftswerdung, die nicht automatisch als Endziel angenommen werden, aber dennoch erhofft werden darf. Diese verläuft nicht geradlinig, inkludiert immer wieder Rückschläge in autoritärer Form und ist ergebnisoffen. Umso mehr sind auch die letztlich als einmaliges Ereignis in die Geschichte Bosniens eingegangenen Protestformen sicherlich noch gesamtgesellschaftlich betrachtet zarte Pflänzchen, die aber - da bin ich mir sicher - an Bedeutung als einmal wahr gewordene Möglichkeit der alternativen Denk- und Handelspfade gewinnen werden. Sie werden an Bedeutung gewinnen, weil sie in einem Zeitalter ohne Alternativen doch die Möglichkeit von Alternativen eröffnen. Allein die Protestversammlungen in Bosnien-Herzegowina haben von Februar bis Sommer 2014 mehr an konkreten Reformvorschlägen und konstruktiven Ideen für einen besseren Staat geliefert als alle Regierungen von Dayton bis heute. Sie haben vor allem Widerspruch angemeldet. Und letztlich geht es in jeder demokratisch konstituierten Gesellschaft darum, dass man den Widerspruch anmeldet, die Debatte darüber in einer demokratischen Öffentlichkeit austrägt, und dabei aber das Allgemeinwohl und den Anderen nicht aus den Augen verliert. Ein unvoreingenommener und befreiter Blick in die bosnisch-herzegowinische Geschichte (und da ist sicherlich die Periode der österreichischen-ungarischen Herrschaft eine zentrale) und ihre longue durée mag dabei jenen, die diesen Weg gehen wollen, hilfreich sein. 70 Žižek, Slavoj: Die politische Suspension des Ethischen. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2005, p. 198f. EPILOG „Schau‘n gut aus“ 531 „Schau‘n gut aus“ Skizze zur Begriffslogik von Kolonie und Provinz Martin A. Hainz (Eisenstadt) Ein zusammengezwungenes Reich von hundert Völkern und hundertzwanzig Provinzen ist ein Ungeheuer, kein Staatskörper. 1 1. Habsburg hatte keine Kolonien im üblichen Sinne, es war kein Imperium mit Provinzen . - Was aber wäre das überhaupt: keine Provinz, keine Kolonie? Bebautes, bestelltes Land ist eine Kolonie, von lat. colere , spätestens bei Nennung der Stammformen erkennt auch der Nicht-Lateiner, dass das mit Kultur zu tun hat, „colo, coluī, cultum“. Das tut der „agrumcolens, der Landmann “, damit befasst, zu „ pflegen, […] bauen, bebauen, bearbeiten “, aber auch zu „ bewohnen, […] hausen, sich bleibend auf(zu)halten “ und jenen „ Ort häufig (zu) besuchen “, womit man ins Residieren gelangt. Das tut dann nicht mehr der Landmann, allenfalls praktiziert man das vom Landtmann aus, dem 1873 gegründeten Café im Palais Lieben-Auspitz. Kolonialisierung betrifft jedenfalls alles, was „ physisch od. geistig (zu) pflegen “ 2 ist. Das Problem, das sich so herauskristallisiert, ist, dass Kolonie gerade dort ist, wovon ausgehend eine Kolonie normalerweise gegründet worden wäre. Mit der Provinz - von pro und vincere - wird es nicht besser, Siegesbeute bedeutet das, „Wirkungskreis“ 3 meint es abstrakter. Jeder beanspruchte und einer Ordnung unterworfene Raum ist dies indes aufgrund einer wie immer subtilen Operation 1 Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hg. von Heinz Stolpe. Berlin, Weimar: Aufbau 1965, vol. 2, p. 57. 2 Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet. Darmstadt: WBG 8 1998, vol. 1, p. 1278. 3 Ibid., vol. 2, p. 2045. 532 Martin A. Hainz von Macht; es gilt für jede terra cognita bald, dass sie einigermaßen exklusiv Wirkungskreis meine: „ Nulle terre sans seigneur ” 4 … Also ist schon zum Beispiel ein Imperium selbst provinziell? Alternativ wäre die Provinz oder Kolonie - wenn nämlich nicht das Weltreich, das als Summe seiner von ihm nicht zu trennenden und also begrifflich nahezu inexistenten Provinzen/ Kolonien existiert - gar nicht : Die Provinz, die (noch) nicht integriert ist, die also ihrer Ressourcen wegen gehalten ist, aber nicht Teil des Ganzen, die nicht von jener Kultur ist, sondern entweder von einer anderen oder diffus Natur, ist nicht errungen, sondern, wie sich in den Postcolonial Studies zeigt, mit Widerstand und Widerstreit verknüpft - und verknüpft geblieben. Diese Alternative billigt nicht, wer Kolonien und/ oder Provinzen zu haben vermeint und/ oder beansprucht. Und so wird aufgrund der Begriffslogik das Zentrum von dem heimgesucht, was es organisiert, von eben jenen Provinzen und Kolonien also, die das nicht sind, sondern sich dem Zentrum gegenüber verändern, wie sie das Zentrum verändern: hin zum Knotenpunkt, wenn es denn eines Bildes bedarf. 5 Paul Gilroy schreibt über diesen Effekt : This shift generates a view of the colony as rather more than an extractive commercial operation. No longer merely a settlement, an adventure, an opportunity, […] and a space of death, it can be recognized as a laboratory, a location for experiment and innovation that transformed the exercise of governmental powers at home and configured the institutionalization of imperial knowledge. 6 2. Das überspringt schon einen Schritt, aber da wird es - vielleicht - enden. Stattdessen sei gefragt, was die Architekturen ausdrücken, womit eine Provinz sichtbar zu dieser wird, wie also ein Stil beides fixiert: dass Kolonie nicht Zentrum, aber auch nicht nicht-integriert ist. Dabei sind es zunächst Architekturen, die den Besatzungsposten dienen. Extra mures sind diese, aber als Teil der mures , als Vorposten derselben. Sie sind dabei zugleich ein Bild der Integrität, und zwar außerhalb des Imperiums, aber dann doch dieses dort, wo es nicht ist, realisierend. Sie wiederholen 4 Im Hof, Ulrich: Das Europa der Aufklärung. München: Beck 1993 (Europa bauen), p. 63. 5 „kein Zentrum, […] sondern eher einen Knotenpunkt” - Serres, Michel et al.: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Hg. von Michel Serres, übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1998 (=stw 1355), p. 607. 6 Gilroy, Paul: Postcolonial Melancholia. New York: Columbia Univ. Press 2005 (= Wellek Library Lectures), p. 43. „Schau‘n gut aus“ 533 dabei strukturell, was Kultur aber auch da ist, wo sie beginnt oder beginne/ begonnen habe: Kolonie ist, wie angedeutet wurde, zunächst das Zentrum, nämlich sich selbst kolonialisierend. Das Zentrum setzt sich in der Kolonie wie sich so selbst, wie das absolute Ich Fichtes, das gerade in seiner Absolutheit noch bloß nichts ist - vom „blossen Seyn[.]“ 7 schreibt Fichte -, während alles, was (etwa: ausgedehnt ) ist , bedingt ist.Die Art und Weise dieses Sich-Versicherns und Absicherns dessen, was das sei, was da kolonialisiere, lernt und übt es gerade da immer wieder: im Kakanien zu attestierenden Bewusstsein, dass es nichts gibt, was sich ausdehnte und was das Einverleibte einer Assimilation unterziehen könnte, von dieser Neigung zum Diskursivem abgesehen. Dieses dann geschulte Bewusstsein mag mehr denn der Umstand, dass Wien und das Kernland als melting pot nahe einem Limes in sich heterogen längst war, 8 dazu beigetragen haben, dass und wie Wien immer schon an den Fronten, an denen es sich wörtlich definiert, war und sich demgemäß zur Quasi-Kolonialmacht entwickelte: Die Art und Weise dieses Sich-Versicherns und Absicherns dessen, was das sei, was da kolonialisiere, lernt und übt es da immer wieder - an den Fronten, an denen es sich wörtlich definiert. Die Grenze wird zu dem, was „Zukunftsprojekt“ vielleicht nur als „abgrenzungsschwaches“ ist, 9 wie man den Worten Koschorkes entlang sagen kann. Als diese Grenzziehung ist sie im Herzen dessen, was sich ausgedehnt habe; Schnitzlers Leutnant Gustl formuliert dies in einer Passage, aus der die Titelworte dieses Essays stammen, über Österreich und seine Kolonien: Der Burghof. Wer ist denn heut’ auf Wach’? - Die Bosniaken - schau’n gut aus - der Oberstleutnant hat neulich g’sagt: Wie wir im 78er Jahr unten waren, hätt’ keiner geglaubt, daß uns die einmal so parieren werden! 10 7 Johann Gottlieb Fichte: Sämmtliche Werke. Hg. von I[mmanuel] H[ermann von] Fichte. Bd. 1-8. Berlin: Veit & Comp. 1845-46, vol. 1, p. 96. 8 Kraus‘ Auflistung der sich deutsch wähnenden Österreicher „Popelak, Jnderka, Molinek, Honsik, Haluschka, Budischowski, Konetschni, Dobrawski, Miklaucic, Horak, Jelinek, Janota, Kudielka, Machatsch, Wawra, Prochaska, Machatschek und Viskozil“, der „Wortführer[n] des Alldeutschthums in Untersteiermark [: ] Rakusch, Kokoschinegg, Stepischnegg, Kovatschitsch, Jessenko, Jabornegg, Ambrositsch, Mravlag, Besgorschak, Podgorschegg, Scheligo, Pollanetz“ sowie der „Parteigänger[n] der Slovenisch-Nationalen in Untersteiermark [: ] Einspieler, Rauch, Kaisersberger, Fischer, Lippoldt, Mayer, Sittig, Plapper, Schürzer, Rossmann, Blachmann, Sprachmann, Schuster, Rosenstein, Kramer, Jahn“ ist bekannt - Kraus, Karl: Die Fackel . Nr 1 (April 1899) -Nr 922 (Februar 1936) in 39 Bänden + Supplementband. Fotomechanischer Nachdruck im Originalformat, hg. von Heinrich Fischer. München: Kösel 1968-76, Nr 85, 16.11.1901, p. 11 9 Koschorke, Albrecht: Hegel und wir. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2013. Berlin: Suhrkamp 2015, p. 224. 10 Schnitzler, Arthur: Die Dramatischen Werke. Frankfurt/ M.: S. Fischer 1962, vol. 2, p. 362. 534 Martin A. Hainz Das Zentrum der Macht wird von jenen gehütet, derer sie sich bemächtigte, das setzt sich bis in das Subjekt (etwa Gustl) fort; der Kolonialisierte, zumal der kolonialisierte Städter, gleiche dem Wiener, dies besagt der kurze Abschnitt. Der Wiener ist umgekehrt der Kakanier, der denen gleiche, als Teil des Geflechts, das statt eines Zentrums viele Knotenpunkte miteinander verbindet, von denen keiner die Stupidität einer Identität oder des Identitären hätte, wie das heute von dessen Verfechtern geheißen wird. Kakanien verbindet Verbundene, konjunktivisch und konnektibel, deren Hybridität das ist, was, wenn es das gäbe, Zentrum wäre; „der Hybrid, so minoritär er auch sein mag, (hat) eine zentrale […] Funktion“ 11 , schreibt Müller-Funk, über das Wort zentral könnte man da streiten oder es ironisieren, nicht im Landtmann, sondern im fast zentralen Café Dezentral (im zweiten Wiener Gemeindebezirk) oder im leicht dezentralen Café Central, nämlich dem in Baden bei Wien. 3. Insofern meint der Begriff Kolonialmacht , daß ein Land sich zu universalisieren und zu ironisieren vermag, eines durch das andere, nicht von abstrakter Größe träumt, sondern seine Provinzialität versteht und darum ihr nicht aufsitzt: ein „coquettish way“ 12 der Provinzialität, wenn man so möchte. Von jener Ironie ist auch die Einladung zur Partizipation an die Kolonien, die dies so oder so nicht blieben, wo sie dies blieben; die Kolonie ist begriffslogisch ja unmöglich. Diese Ironie wird ironisch beantwortet, im Wissen darum, daß die Macht, die sich so performiert, die einzige ist, aber nur als ironische: Längst verstorbene Kaiser werden in unseren Dörfern auf den Thron gesetzt, und der nur noch im Liede lebt, hat vor kurzem eine Bekanntmachung erlassen, die der Priester vor dem Altare verliest. […] So verfährt also das Volk mit den vergangenen, die gegenwärtigen Herrscher aber mischt es unter die Toten. Kommt einmal, einmal in einem Menschenalter, ein kaiserlicher Beamter, der die Provinz bereist, zufällig in unser Dorf, stellt im Namen der Regierenden irgendwelche Forderungen, prüft die Steuerlisten, wohnt dem Schulunterricht bei, befragt den Priester über unser Tun und Treiben, und faßt dann alles, ehe er in seine Sänfte steigt, in langen Ermahnungen an die herbeigetriebene Gemeinde zusammen, dann geht ein Lächeln über alle Gesichter, einer blickt verstohlen zum 11 Müller-Funk, Wolfgang: Ein neues progressives Subjekt in der Welt? Anmerkungen zum Diskurs über den Hybriden. In: wespennest 145 (2007/ 1), pp. 80-83, hier p. 81. 12 Hainz, Martin A.: In hoc Signo [Pro]vinces. Out-Sourcing the Hearts of Empires, the Case of Chernivtsi (Czernowitz, Cernauti). In: Kakanien revisited , www.kakanien-revisited.at/ beitr/ fallstudie/ MHainz2.pdf(2008), pp. 1-4, hier p. 1. „Schau‘n gut aus“ 535 andern und beugt sich zu den Kindern hinab, um sich vom Beamten nicht beobachten zu lassen. Wie, denkt man, er spricht von einem Toten wie von einem Lebendigen, dieser Kaiser ist doch schon längst gestorben, die Dynastie ausgelöscht, der Herr Beamte macht sich über uns lustig, aber wir tun so, als ob wir es nicht merkten, um ihn nicht zu kränken. Ernstlich gehorchen aber werden wir nur unserem gegenwärtigen Herrn, denn alles andere wäre Versündigung. 13 Diese Passage aus Kafkas Nachlaß zeigt den Gehorsam Kakaniens. Dessen Bürger sind eingeladen zur Erlösung qua Ironisierung und Zivilisierung , etwa Habsburgisierung ; „wer immer strebend sich bemüht, den können wir besteuern“ 14 , so lautet das Motto eines solchen Projekts vielleicht. Es geht um Universalien, worin das Imperium Kakanien das, was ihm entgegensteht, eher sich als solches inkorporiert, als es frontal anzugehen.Dies wäre in einer anderen Weise als der ironischen provinziell: „Provinz gegen Provinz“, 15 wie es bei Suttner heißt. 4. Zugleich ist genau das, was die böse Seite des Verbindlichen ist - die Knoten (statt des Zentrums, das nur im Kursiven fortbesteht), die das Imperium konstituieren, sind … … erstens solche, die zwar die Provinzen und das Zentrum einander angleichen, aber nicht zwingend die Provinzen einander, die folglich disparat sind, wo die Vermittlung, die das Zentrum leistet, durch dieses ausbleibt, und … … zweitens in dieser Funktion auf weiteren Ebenen zu finden, siehe Kraus: Es sei nur noch erwähnt, dass man auch in Bosnien das österreichische Princip der Ausspielung einer Nationalität gegen die andere in Anwendung brachte und sogar eine dritte schaffen wollte. Die Verwirrung wird immer ärger. 16 Die Schlamperei des Umgänglichen ist also genauer höchst präzise, präziser jedenfalls als „die Exzesse kolonialer Gewaltherrschaft“ 17 , die es gleichwohl 13 Kafka, Franz: Gesammelte Werke. Hg. von Max Brod. Frankfurt/ M.: S. Fischer 1950 ff., vol. 8, p. 60. 14 Vogl, Joseph: Mittler und Lenker. Goethes Wahlverwandtschaften . In: Ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München: Fink 1999, pp. 145-161, hier p. 160. 15 Suttner, Bertha von: Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte. Dresden, Leipzig: E. Pierson‘s Verlag 1892, vol. 1, p. 71. 16 Kraus, Karl: Die Fackel, 1 Nr. 22 (Nov. 1899), p. 7. 17 Ruthner, Clemens: Habsburgs ‘Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke 2018 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 23), p. 22. 536 Martin A. Hainz auch gibt, quasi als das, was Kolonie und Kolonialmacht immer mitdefiniert: bis ins erwähnte Subjekt, das im Falle Gustls fast Selbstmord begeht, im Falle von Spiel im Morgengrauen aber tatsächlich: „Schlafen lassen. Bis ich von selber aufwach’.“ 18 Im Subjekt ist sozusagen das Unerträgliche des Kolonialisierens, das Monströse noch des Unterhandelns mikrologisch lesbar gegeben: „Das Monster erhebt sich auf Geheiß des ‘Selbst’ […] des Textes in der und durch die Apostrophe, das Monster ist das ‘Selbst’.“ 19 Kakanien ist nicht gemütlich und die Rede vom zum Beispiel „bosnische(n) Paradies“ 20 - in Kraus‘ Fackel - hat einen Haken, verlässlich: paradiesisch nimmt sich etwas auf Kosten von irgendwem und hier derer, die dort leben, aus. Der Knoten bedarf seiner „bestimmte(n) Clientel, die nur auf ihn angewiesen ist“, 21 so schreibt Kraus andernorts - gleichfalls über kakanische Mißstände in Bosnien-Herzegowina. Die Gefahr der Umkehr dessen besteht; angesichts der Eisenbahnverbindung Banjaluka-Jajce beschreibt Kraus dies, da hier Österreich „erlangt hat, was Ungarn niemals versagen wollte.“ 22 Dennoch ist ohne dieses Risiko die Chance nicht zu haben. 5. Zurück zu den Begrifflichkeiten und ihrer Logik. Kolonie und Provinz sind alles und nichts. Kakanien hat dieses alles/ nichts und ist also wie jede avancierte Kolonialmacht diese nur … … „als (Pseudo-) Kolonialmacht“, … … als „so etwas wie eine Kolonialmacht“ oder … … als „zwar keine Kolonialmacht“, aber durch die „kulturellen Formatierungen“ 23 dem ähnlich, was eine wäre … wenn es, so würde ich das fortzusetzen vorschlagen, eine Kolonialmacht denn gäbe . 18 Schnitzler, Arthur: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften. Frankfurt/ M.: S. Fischer 1961, vol. 1, p. 577. 19 Babka, Anna: Ambivalenzen einer Politik der Sichtbarkeit (Radical Representations! ? ). 3 Szenen zu den Radical Busts von Marianna Maderna. In: Dies. / Lasthofer, Katrin (Hg.): Representation Revisited. Wien: Turia & Kant 2017 (= AKA-Texte 5), pp. 89-109, hier p. 95. 20 Kraus: Die Fackel 22 (Nov. 1899), p. 7. 21 Ibid., Nr. 26, (Dez. 1899), p. 6. 22 Ibid., Nr. 58, (Nov. 1900), p. 3. 23 Ruthner 2018, p. 37. „Schau‘n gut aus“ 537 Im vorliegenden Band gebraucht Robert Donia ferner die Formel „Proximate Colony“ 24 . Umgekehrt ist die (zum Beispiel kakanische) Provinz/ Kolonie beansprucht, und zwar als „part of a cosmos “ 25 , wobei jedoch diese schmucke Ordnung, die den Anspruch tragen möge, ihn auflöst, insofern sie das Beanspruchte - es ordnend - zugleich aus partikulären Ansprüchen löst … universalisiert: Ist die Welt erst einmal „den Performanzen des Aktenanlegens unterworfen“, 26 haben die Performanzen das letzte als immer vorletztes Wort, ist anders formuliert prinzipiell „das ‘Mutterland’ nicht ganz eindeutig“ 27 . Ordnung ist, was Ordnung sein werde, oder Ordnungen, Adler + Adler: „Kosmos“ steht für Ordnung, Harmonie, Gesetzmäßigkeit und Anstand, für die Welt, für Himmel und Erde, aber auch für Schmuck, Verschönerung, Veredelung. Nichts geht so tief wie der Schmuck […]; der Schmuck hat die Dimensionen der Welt. 28 6. Abschließend seien daraus sieben Sätze abgeleitet: §1: Wenn es Kultur gibt, kolonialisiert sie, … §2: … und zwar sich und/ oder das, was sie/ ihr Ort sei, … §3: … und potentiell alles . §4: Kolonien , die integriert werden, sind diese Kultur, also keine Kolonien, aber … §5: … Kolonien , die nicht integriert werden, sind auch keine Kolonien. §6: Kakanien kolonialisierte (darum) ironisch. §7: Austriae Est Irritare Orbi Universo . 24 Siehe den Beitrag von Robert Donia im vorl. Sammelband. 25 Hainz 2008, p. 1. 26 Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt/ M.: Fischer 3 2011 (= FTB14927), p. 90. 27 Tamara Scheer in ihrem Beitrag zum vorl. Sammelband. 28 Serres, Michel: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Übers. von. Michael Bischoff. Frankfut/ M.: Suhrkamp 1998 (= stw 1389), p. 34. Forschungsliteratur zu Bosnien-Herzegowina 539 Forschungsliteratur zu Bosnien-Herzegowina Basisbibliografie 1 unter besonderer Berücksichtigung der österreichisch-ungarischen Epoche 1878‒1918 ALEKSOV, Bojan: Habsburg’s ‘Colonial Experiment’ in Bosnia and Hercegovina revisited. In: Brunnbauer, Ulf / Helmedach, Andreas / Troebst, Stefan (Hg.): Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geb. München: Oldenbourg 2007 (= Südosteurop. Arbeiten), pp. 201-216. ALEKSOV, Bojan: Habsburg Confessionalism and Confessional Policies in Bosnia and Herzegovina. In: Ruthner et al., op. cit. (2015), pp. 83-122. ALTAROZZI, Giordano: La lunga strada verso Dayton. Alle origini del conflitto bosniaco. Roma: Apes 2016, pp. 59-68. 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Der vorliegende interdisziplinäre Sammelband versucht diese Frage nach einem ‚post/ kolonialen‘ Zugang zur Geschichte, Gesellschaft, Kultur und Literatur der späten Habsburger Monarchie positiv zu beantworten. Die hier versammelten Aufrisse und Fallstudien wenden sich dem Begriff des Kolonialismus bzw. des Imperiums zu, einer emergenten bosnischen Literatur ebenso wie der österreichischen, der diplomatischen Vorgeschichte der Okkupation wie einer Diskursanalyse ihrer militärischen Narrative, der Konfessions- und Hygienepolitik, der Siedlerbewegung und der Entstehung einer bosnisch-herzegowinischen Volkskunde sowie imagologischen Fragen der mit der „Kolonie“ verbundenen Selbst- und Fremdbilder. In einem weiteren Schritt werden auch die Nachwirkungen - die longue durée - des k.u.k. Kolonialismus bis in die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts exemplarisch aufgezeigt - etwa anhand von Gedächtnisformationen bosnischer Waffen-SS-Leute, der jugoslawischen Nachfolgekriege in den 1990er Jahren oder des Status von Bosnien-Herzegowina als EU-Protektorat heute.