eBooks

Studien zu Leben und Werk von Gustav Regler

2018
978-3-7720-5658-1
A. Francke Verlag 
Hermann Gätje
Sikander Singh

Der im saarländischen Merzig geborene Gustav Regler (1898-1963) zählt zu den interessanten, aber dennoch vergessenen Schriftstellern der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Seine Werke reflektieren die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, seine Rolle im ­Saarkampf, seine Zeit als Kommissar der Internationalen ­Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, die Jahre des Exils in Frankreich und in Mexiko und schließlich die Anfänge einer europäischen Nachkriegsordnung im Schatten des Kalten Krieges. Aber nicht nur als Zeuge der epochalen Umstürze des 20. Jahrhunderts ist ­Regler ein bemerkenswerter Autor. Im Spannungsfeld von Realismus und Neoromantik, Neuer Sachlichkeit und den Avantgarden seiner Generation hat er zu einer ganz eigenen Form einer littérature engagée gefunden. Die Studien des Bandes beleuchten in jeweils einzelnen Ansätzen biographische wie autobiographische Fragestellungen und bieten neben Deutungen und Analysen seiner Dichtungen auch ideen- und motivgeschichtliche Kommentare.

Studien zu Leben und Werk von Gustav Regler Passagen Literaturen im europäischen Kontext Herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes Band 3 Hermann Gätje, Sikander Singh Studien zu Leben und Werk von Gustav Regler © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2512-8841 ISBN 978-3-7720-8658-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 7 9 11 27 39 49 61 75 87 97 109 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkung zur Zitierweise / Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Gätje Gelebtes und geschriebenes Leben bei Gustav Regler . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sikander Singh Grenzdiskurse bei Gustav Regler I. Eine Lesart des Erinnerungsbuches Das Ohr des Malchus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sikander Singh Grenzdiskurse bei Gustav Regler II. Das Erinnerungsbuch Das Ohr des Malchus im Kontext literarischer Reflexionen über die Grenze . . . . . . . . . . Hermann Gätje Lebensbericht und Lebensstilisierung. Die Biographien und Autobiographien Otto Flakes und Gustav Reglers im Vergleich . . . . . . . . . . Hermann Gätje „Wir lasen Bücher … wir suchten und suchten“. Gustav Regler - Einflüsse und Prägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Gätje Der Wandel in der Deutung des Ersten Weltkriegs unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs bei Gustav Regler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Gätje „Das Exil begann mit dem Verpacken der Bücher“. Die Bücherverbrennung und Gustav Reglers Entwicklung im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Regler Heinrich Heine. Zu seinem 80. Todestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sikander Singh Gustav Regler liest Heinrich Heine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 129 137 145 165 173 185 186 Hermann Gätje Unmittelbarkeit und Rückblick. Gustav Reglers Exilwerk und seine Erinnerungen an die Emigration in Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sikander Singh Die gelebte Utopie. Spanienbilder in Gustav Reglers Romanen über den Spanischen Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Gätje Auf dem „Niveau des Pfaffenspiegels“? Gustav Reglers Kirchenkritik im Spannungsfeld von Religion und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Regler Ausgewählte Texte zur Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Gätje Gustav Regler und die Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Gätje „Gegen diesen Aal kann man nicht an“. Gustav Reglers Kontroverse mit Manfred Hausmann 1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtevermerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 1 Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert. Berlin 2018, S. 178. 2 Hans Sahl: Das Exil im Exil. Memoiren eines Moralisten II. Frankfurt am Main 1990 [Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. 63], S. 76. Vorwort Unter den Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts, deren Lebens- und Werkgeschichten Hans Magnus Enzensberger in seinem Buch Überlebens‐ künstler skizziert, findet sich auch ein Porträt Gustav Reglers. Dieser sei zwar kein „großer Schriftsteller“, habe aber „eine Reihe von bemerkenswerten Bü‐ chern“ verfasst und sei als Zeitzeuge „unentbehrlich“, konstatiert Enzens‐ berger. 1 Er verweist damit auf das bewegte Leben, aus dem im Spannungsfeld von Politik und Spiritualität, Heimat und Exil, Tendenzliteratur und verspäteter Romantik ein vielstimmiges, zum Teil auch disparates Werk entstanden ist. Ein anderer deutscher Intellektueller, der ebenfalls vor dem Barbarischen und Inhumanen des Nationalsozialismus fliehen musste, schreibt in seinen Erinne‐ rungen in diesem Sinne über Regler: „Er war ein Ästhet, der im Spanischen Bürgerkrieg beweisen wollte, daß er keiner war. Er schrieb eine männliche Prosa, er schrieb wunderbar beredsame, beschwörende lyrische Bücher.“ 2 Hans Sahl ist Regler in Paris begegnet. Hier, in der französischen Hauptstadt machte der in der Weimarer Republik bekannte Literatur- und Theaterkritiker jene Er‐ fahrung, die Regler erst während seines Exils in Mexiko zuteilwerden sollte: Indem er sich von dem autoritären und längst totalitär gewordenen Sozialismus der Kommunistischen Partei lossagte, entfremdete er sich zugleich von den vor‐ maligen sozialistischen Gesinnungsfreunden. Dieses doppelte Exil sollte auch Reglers Erfahrung werden. Weil er sich aus dem Dogmatischen der politischen Gewissheiten und Glaubenssätze löste und nach eigenen Wegen und Denkan‐ sätzen suchte, wurde er zu einem Ausgestoßenen, dem in der Fremde des Exils auch die Gefährten zu Fremden wurden. Dass er nach der Befreiung Europas durch den Sieg über das nationalsozia‐ listische Deutsche Reich nicht mehr in seine alte Heimat zurückfand, sondern erneut als ein Fremder gesehen wurde, gehört zu den bitteren Konsequenzen, die Regler mit zahlreichen antifaschistischen Schriftstellern in den Gründungs‐ jahren der Bundesrepublik teilte. Erst mit der Verleihung des Kunstpreises des Saarlandes im Jahr 1960 und in der Folge des gesellschaftlichen Modernisie‐ rungsprozesses nach der Revolte von 1968 erwachte das Interesse an seiner Person und seinem Werk. Ausdruck dieser Entwicklung war unter anderem die Gründung der Arbeitsstelle für Gustav-Regler-Forschung an der Universität des Saarlandes durch die Neugermanisten Gerhard Schmidt-Henkel und Ralph Schock im Jahr 1978. Die Einrichtung, die seitdem die Herausgabe einer Ausgabe seiner Schriften betreut, hat in enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem Gustav-Regler-Archiv, das von der Familie des Schriftstellers in seiner Ge‐ burtsstadt Merzig unterhalten wird, die Forschung vorangetrieben. Heute ist die Arbeitsstelle Teil des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass und erfüllt weiterhin ihre Aufgabe im Hinblick auf die Publikation der auf fünfzehn Bände konzi‐ pierten Werkausgabe. Aus der editorischen Auseinandersetzung mit Reglers Werken sind im Laufe der Jahre eine Vielzahl von Vorträgen und Aufsätzen entstanden, von denen der vorliegende Band eine Auswahl versammelt. Wesentlich haben die Autoren sich hierbei von dem Gedanken Hans Magnus Enzensbergers leiten lassen, dass Gustav Regler ein „unentbehrlicher“ Zeitzeuge ist, dessen Romane, Essays und Erinnerungsbücher einen Beitrag zum Verständnis der politischen Kämpfe und ästhetischen Debatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts leisten. Die Auseinandersetzung mit seinem Werk dient damit nicht nur der Rehabilitation eines durch das Unrecht der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verges‐ senen Schriftstellers. Sie ist zugleich ein Beitrag zu einem vertieften Verständnis deutscher Literatur- und Ideengeschichte zwischen dem wilhelminischen Kai‐ serreich und der jungen Bundesrepublik. Das Erscheinen dieses Bandes in der vorliegenden Form wäre ohne Annemay Regler-Repplinger, die Nichte Gustav Reglers, nicht möglich gewesen. Sie hat die Autoren mit Auskünften und Materialien freundlich unterstützt und die Ge‐ nehmigung zur Publikation der ausgewählten Texte zur Musik und des Vor‐ trages Heinrich Heine. Zu seinem 80. Todestag erteilt. Hierfür sei ihr herzlich gedankt. Nicht zuletzt danken wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass für ihre hilfreiche Unterstützung bei der Drucklegung dieses Buches. Saarbrücken, im Herbst 2018 Hermann Gätje und Sikander Singh 8 Vorwort Anmerkung zur Zitierweise / Siglen Die Werke von Gustav Regler werden mit der Sigle GRW mit Band- und Sei‐ tenzahl nach folgender Ausgabe zitiert: Gustav Regler: Werke. Hrsg. von Gerhard Schmidt-Henkel [u. a.]. Frankfurt am Main und Basel 1994 ff. Bd. I Zug der Hirten / Die Söhne gehen zu den Knechten / Der verlorene Sohn Bd. II Wasser, Brot und blaue Bohnen / Im Kreuzfeuer Bd. III Die Saat Bd. IV Der große Kreuzzug / Tagebuch 1937 Bd. V Juanita Bd. VI Sohn aus Niemandsland / Tagebuch 1940-1943 Bd. VII Amimitl / Verwunschenes Land Mexiko Bd. VIII Keine bleibende Stadt / Sterne der Dämmerung Bd. IX Aretino / Uccello Bd. X Das Ohr des Malchus Bd. XI Gesammelte Gedichte / Hahnenkampf. Komödie Bd. XIII/ 1 Briefe I: 1915-1940 Supplement Gustav Regler - Klaus Mann: Briefwechsel GRA Gustav Regler Archiv, Annemay Regler-Repplinger, Merzig LASLLE Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass, Universität des Saarlandes, Saarbrücken 1 GRW, Bd. X, S. 12. 2 Hermann Gätje: Leben und Leben schreiben. Gustav Reglers autobiographische Schriften. Entstehungsprozess - Fassungen - Gattungsdiskurse. St. Ingbert 2013 [Saar‐ brücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. Bd. 89]. Gelebtes und geschriebenes Leben bei Gustav Regler Hermann Gätje „Im Anfang war die Angst und die Angst war bei mir und ich war in ihr.“ 1 Mit diesem abgewandelten Zitat aus dem Johannes-Evangelium beginnt die 1958 erschienene Autobiographie von Gustav Regler, die den ebenfalls dem Neuen Testament entlehnten Titel Das Ohr des Malchus trägt. Und wie die Bibel ist diese Lebenserzählung Gustav Reglers inhaltlich eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit, aus Legende und Wirklichkeit, aus Geschichten und Betrachtungen, textgenetisch eine Sammlung und Kompilation von zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Texten und Aufzeichnungen. Als Gesamtwerk ist Das Ohr des Malchus die Summe des Lebens und des Schreibens dieses Autors. Dieses komplexe Beziehungsfeld ist Ausgangspunkt meiner 2013 als Buch erschienenen Dissertation Leben und Leben schreiben. Gustav Reglers autobio‐ graphische Schriften. Entstehungsprozess - Fassungen - Gattungsdiskurse, deren Inhalte, Thesen und Ergebnisse ich in diesem Beitrag zusammenfasse. 2 Das Wortspiel „Leben und Leben schreiben“ erscheint mir einprägsam und erfasst zugleich den Wesenskern der Studie. Der Titel bringt den die gesamte Arbeit bestimmenden Spannungsbogen von gelebtem zu geschriebenem Leben auf den Punkt. Gustav Regler hatte ein bewegtes und in vieler Hinsicht für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts exemplarisches Leben. Er wird 1898 in Merzig im damals preußischen Rheinland geboren, wo er auch aufwächst. Seine Sozialisation ist vor allem durch die Mutter stark vom römischen Katholizismus geprägt, mit dem ihn zeitlebens eine zugleich widersprüchliche und starke Affinität ver‐ binden wird. Nach dem Abitur im November 1916 geht er zum Militär, wird in Ostpreußen ausgebildet und kommt an der Westfront bei Soissons am Chemin des Dames zum Einsatz. Nach einer schweren Gasvergiftung im Herbst 1917 mit anschließendem Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt wird er im Februar des darauf folgenden Jahres entlassen, studiert in Heidelberg und München, schließt mit einer Dissertation über die Ironie Goethes ab. Während dieser Zeit wird er Mitglied von unterschiedlichen Gruppierungen wie nationalistischen und so‐ zialistischen Studentenvereinigungen oder Stefan-George-Zirkeln. Er heiratet nach dem Studium die Tochter eines Leipziger Textilkaufmanns, leitet dessen Filiale in Berlin und lernt dabei das Spekulantentum der Weimarer Republik sowie das hauptstädtische Bohèmeleben kennen. Aus dieser Ehe stammt der 1923 geborene Sohn Dieter, der 1942 als Soldat in einem Münchener Lazarett an Diphtherie sterben wird. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau 1926 ar‐ beitet er als Journalist in Nürnberg für eine liberale Zeitung. In diese Periode fallen seine Anfänge als Schriftsteller. 1928 lernt er in Worpswede seine zu‐ künftige Lebensgefährtin und spätere Frau Marie Luise Vogeler kennen, die Tochter des Malers Heinrich Vogeler. Die beiden ziehen nach Berlin, Regler tritt in die Kommunistische Partei Deutschlands ein. Dazu trägt maßgeblich der Ein‐ fluss Vogelers bei, der unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs vom bürger‐ lichen Jugendstilkünstler zum radikalen Kommunisten und Exponenten sozia‐ listischer Kunsttheorien geworden ist. Regler ist als Schriftstellerfunktionär tätig, 1933 geht er ins französische Exil, engagiert sich im Wahlkampf zur Saar‐ abstimmung 1935, kämpft als Politischer Kommissar der Internationalen Bri‐ gaden im Spanischen Bürgerkrieg und wird dort schwer verwundet. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wird er wie viele andere Exilanten in Frankreich inter‐ niert. Nach der Entlassung aus dem Lager Le Vernet im März 1940 gelangt er Ende Mai 1940 in die Vereinigten Staaten und reist im September 1940 weiter ins mexikanische Exil. In diese Phase fällt Reglers Abkehr vom Kommunismus. Unter dem Eindruck des Hitler-Stalin-Pakts geht er zunehmend auf Distanz zur Partei. Nachdem es bereits vorher Unstimmigkeiten gegeben hat, die auch aus gegenseitigen Nützlichkeitserwägungen nicht öffentlich ausgetragen wurden, kommt es Anfang 1942 zum offenen Bruch, auf den ehemalige Freunde und Genossen wie Egon Erwin Kisch oder Ernst Bloch mit einer polemischen Pressekampagne reagieren. Die Jahre 1942 bis 1946 sind von einer sich zuspitzenden Existenz- und Sinn‐ krise Reglers geprägt: In Mexiko ist er fernab von den Zentren des literarischen Lebens und hat Mühe, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten; die mit ihrer Ge‐ meinschaft und Überzeugungssicherheit die Exilsituation kompensierende Geborgenheit der Partei ist verloren. Die ersehnte Einreise in die USA, wo er für sich eine Zukunft sieht, wird dem abtrünnigen Kommunisten wegen seiner politischen Vergangenheit verweigert, wozu auch Intrigen seiner ehemaligen Parteifreunde beitragen. Die schlechte Lage kulminiert im September 1942 12 Hermann Gätje 3 Volker Weidermann: Das Buch der verbrannten Bücher. 2. Aufl. Köln 2008, S. 66. durch eine Krebsdiagnose bei seiner Frau Marie Luise. Sie stirbt im September 1945 nach einer schweren Leidenszeit. Der Schriftsteller heiratet kurz darauf im Januar 1946 erneut. Die US-Amerikanerin Peggy Paul, geschiedene Irwin, hat er auf einer Neujahrsfeier 1942/ 43 kennengelernt; seither haben die beiden einen intensiven Briefwechsel geführt. Regler wird 1949 mexikanischer Staatsbürger, doch ist sein Leben in den kommenden Jahren bis zu seinem Tod durch lange Reisen und Ortswechsel gekennzeichnet; so hält er sich von 1952 bis 1956 ohne Unterbrechung in Europa auf, war dabei vor allem in Deutschland, Italien, Frankreich und England. Immer wieder besucht er während dieser Zeit auch das Saarland und seine Familie in Merzig. 1960 erhält er den ersten in der Sparte Literatur vergebenen Kunstpreis des Saarlandes. Er stirbt 1963 auf einer Studienreise in Indien. Sein Leben steht im Zeichen der kulturellen und weltanschaulichen Strö‐ mungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und macht ihn zu einem Reprä‐ sentanten seiner Generation: starke katholische Prägung gepaart mit Patrio‐ tismus in der Jugend, in den 1920er Jahren eine Entwicklung von Sympathien für sozialistische Ideen bis zum Bekenntnis zum radikalen Kommunismus, der Bruch mit der Kommunistischen Partei, in späten Jahren zunehmende Hinwen‐ dung zur Naturmystik, Esoterik und Parapsychologie. Er kannte maßgebliche Persönlichkeiten des Jahrhunderts wie Ernest Hemingway, André Malraux oder Eleanor Roosevelt und war an bedeutenden historischen Ereignissen sowie ideengeschichtlichen Prozessen beteiligt. Regler war lebenslang ein Sinn- und Glaubenssucher. Er hoffte, diese sowohl in der Kunst als auch in politischen Bewegungen zu finden. Sein Charakter ist geprägt von der Spannung zwischen einer starken ästhetischen Neigung und einem Drang zum politischen Engage‐ ment. Der Journalist Volker Weidermann schrieb einmal in Bezug auf Reglers be‐ wegte Biographie: „So ist auch keines der Bücher Gustav Reglers so interessant wie sein Leben.“ 3 Dies sehe ich anders, denn ich denke, dass seine Bücher gerade so interessant sind, weil er in ihnen sein Leben literarisch transformiert und gestaltet, sei es implizit oder explizit. Sein gesamtes literarisches Werk ist von autobiographischen Bezügen durchdrungen, fast alle Romane sind verschlüs‐ selte Selbstdarstellungen. Die 1958 veröffentlichte eigentliche Autobiographie Das Ohr des Malchus ist sein bis heute bekanntestes und populärstes Buch. In seinem Nachlass fanden sich zahlreiche Entwürfe und Fassungen zu diesem Werk. Er hatte bereits 1941 mit seiner Autobiographie begonnen und den Text Sohn aus Niemandsland abgeschlossen, eine Mischung aus autobiogra‐ 13 Gelebtes und geschriebenes Leben bei Gustav Regler 4 GRW, Bd. VI. 5 Unpubliziert, Typoskript, Nachlass Josephine Herbst, The Beinecke Rare Book & Manuscript Library, Yale University (New Haven/ CT). 6 Unpubliziert, Typoskript, GRA. phisch-narrativen Teilen und politischen Kampfschriften. 4 1947/ 48 entstand die Kindheits- und Jugendautobiographie I would do it again, 5 die in das 1949 ent‐ standene im erzählten Lebenslauf etwas erweiterte Werk Die Tränen der Niobe einfloss. 6 In die Arbeit zu Das Ohr des Malchus zog Regler diese bereits abge‐ schlossenen, aber unveröffentlicht gebliebenen Schriften heran, ergänzte sie und arbeitete sie um. Diese Ausgangslage bestimmt den Aufbau meines Buches. Es besteht aus zwei Hauptteilen. Der erste beinhaltet die Darstellung der Textfassungen, beschreibt die Entstehungsgeschichte in einem größeren biographischen Zusammenhang, ordnet das autobiographische Schaffen in Reglers Gesamtwerk ein. Das Ver‐ ständnis der Autobiographien ergibt sich für mich in einem komplexen Zusam‐ menhang mehrerer Ebenen, die heuristisch nur schwer zu differenzieren sind. Der Dualismus zwischen gelebter und selbst geschriebener Biographie lässt sich angesichts eines vielschichtigen Beziehungsgeflechts weder in einer rein chro‐ nologischen Struktur noch in einer rein thematischen Gliederung beschreiben. Unbedingt notwendig ist die systematische Trennung von biographischen Fakten und Textinhalten. Da das gelebte und das erzählte Leben sich stark über‐ schneiden, ließen sich manche Wiederholungen und Rückgriffe nicht ver‐ meiden, um einerseits eine klare terminologische Trennung zwischen Lebens‐ beschreibung und Inhaltsangabe der Autobiographien zu gewährleisten und andererseits die signifikanten Zusammenhänge dieser beiden Ebenen darzu‐ stellen. Eine der Hauptintentionen der Studie ist es, darzulegen, dass gelebtes und geschriebenes Leben in einem dialektischen Verhältnis stehen. Dabei sind nicht nur die im autobiographischen Text beschriebenen Lebensabschnitte von Bedeutung, sondern auch die Lebensumstände zur Zeit der Entstehung der Texte. Knapp gefasst heißt dies, dass die jeweilige Sicht auf das bisherige Leben durch die entsprechende Lebenssituation beeinflusst wird und sich ändert. Zu‐ gleich ist das Schreiben der Autobiographie auch Teil des Lebens, also auch ihr pontentieller Inhalt, und die Deutung der bisherigen Biographie beeinflusst das weitere Denken und Handeln. Daher steht im Kern des ersten Teils der Studie nach einer kurzen verglei‐ chenden Beschreibung der vorhin genannten vier Primärtexte eine umfang‐ reiche Darstellung der Entstehungsgeschichte von Reglers Autobiographie, die einen „autobiographischen Prozess“ von 1941 bis 1958 beschreibt und analysiert. Die Ausführungen stützen sich auf biographische Fakten, Selbstzeugnisse 14 Hermann Gätje (Briefe und Tagebücher) sowie verschiedene literarische Texte. Gezeigt wird, dass sich zwischen Inhalten der Autobiographien und den Lebensumständen des Autors zur Zeit ihrer Entstehung signifikante Zusammenhänge finden. So ist z. B. der erste autobiographische Text Sohn aus Niemandsland unter dem Ein‐ druck von Reglers Trennung vom Kommunismus entstanden und legt den Schwerpunkt auf die politische Vita des Autors. Die autobiographischen Texte I would do it again und Die Tränen der Niobe sind trotz politischer Implikationen als Anfang einer stärker persönlich akzentuierten Lebensbeschreibung auszu‐ machen, da sie mit dem Blick auf die Kindheit beginnen und diesen hervorheben. Der autobiographische Rückgriff auf die Jugend entstand unter dem Eindruck der privaten Neuorientierung nach dem Tode seiner zweiten Frau Marie Luise und der Heirat mit seiner dritten Frau Peggy vier Monate später. Die Arbeit an der endgültigen Autobiographie Das Ohr des Malchus wurde nachweislich nicht, wie bei den vorhergehenden, primär aus einem persönlichen Antrieb motiviert, sondern durch Nachfrage von außen (im konkreten Fall wandte sich ein Verleger an Regler). Charakteristisch für den Schriftsteller Regler ist die wechselseitige Beziehung zwischen fiktionalem und autobiographischem Werk. Am Beispiel seiner im Vorfeld der Autobiographien entstandenen literarischen Werke lässt sich illus‐ trieren, wie sein autobiographisches Schreiben und sein dichterisches Schaffen miteinander verknüpft sind. Vor allem zu den Romanen, die den Autobiogra‐ phien unmittelbar vorangehen, lassen sich jeweils komplementäre Beziehungen darstellen. Es zeigt sich, dass er in den fiktionalen Texten häufig die Dinge ver‐ klausuliert zum Ausdruck bringt, die in den Lebenserzählungen nicht er‐ scheinen. Romanfiguren wie das spanische Waisenmädchen Juanita im gleich‐ namigen Roman von 1941 und der amerikanische Kriegsheimkehrer Bill Armstrong in Keine bleibende Stadt und Sterne der Dämmerung (1945/ 46) er‐ weisen sich als beschädigte Menschen, in denen sich Reglers jeweilige persön‐ liche Situation spiegelt. Sie haben eine selbsttherapeutische, kompensatorische Funktion für ihren Autor, aus der sich das Selbstbewusstsein des Autobiogra‐ phen speist. Dem politisch ahnungslosen, verunsicherten Mädchen Juanita, die in Madrid während des Bürgerkriegs zum arglosen Spielball zwischen den zy‐ nischen Geheimdiensten Hitlers und Stalins wird, folgt in Sohn aus Niemands‐ land der gefestigte Autobiograph Regler, der in autobiographischen Episoden aus seinem politischen Leben erzählt und aus dem Bekenntnis seiner politischen Fehler selbstbewusst seine neuen Positionen formuliert. So wie Regler 1945 den Tod seiner Frau verarbeiten und in der Beziehung zu Peggy den Neuanfang finden will, versucht der Kriegsheimkehrer Bill Armstrong einen Wiederein‐ stieg in die zivile Welt, indem er durch die Annäherung an die Frau und den 15 Gelebtes und geschriebenes Leben bei Gustav Regler blinden Sohn eines gefallenen Kameraden sowohl dessen Andenken bewahren als auch ein ganz neues Leben beginnen möchte. An die Bill-Armstrong-Romane schließt sich in Reglers Schaffen unmittelbar die mit der Kindheit beginnende Lebensgeschichte I would do it again an. In der Wiedererzählung des bisherigen Lebens gewinnt er die Kraft für das neue. In der Romanbiographie über den Renaissancedichter Pietro Aretino verschlüsselt er im Protagonisten sein Ver‐ hältnis zu Frauen und einige Liebesaffären, während in der darauf folgenden Autobiographie Das Ohr des Malchus von privaten Dingen praktisch nicht die Rede ist. Die Beziehung zu seiner Frau Marie Luise wird dort zum Topos eines stabilen Fundaments in unruhigen Zeiten stilisiert. Der biographisch fundierten Entstehungsgeschichte folgt eine textgenealo‐ gische Untersuchung der verschiedenen z. T. verstreuten Fassungen und Ent‐ stehungsstufen der Texte. Dabei ließen sich zwei komplette Vorfassungen von Das Ohr des Malchus rekonstruieren. Darin einbezogen ist eine Betrachtung der Übersetzungen ins Englische und Französische, die sich sowohl von der deut‐ schen Erstausgabe als auch untereinander wesentlich unterscheiden. Diese ver‐ tiefenden Textuntersuchungen folgen erst im Anschluss an die Entstehungsge‐ schichte, da sie sich durch die Einbettung und den Rekurs auf diese besser verstehen lassen und die teilweise verstreuten Nachlassmaterialien zum Ohr des Malchus erst auf der Basis der Entstehungsgeschichte zugeordnet werden können. Während der erste Großabschnitt meiner Studie Reglers eigentliche Autobiographien als Teil eines Gesamtkontinuums des autobiographischen Schreibens charakterisiert, zu dem auch fiktionale Texte, Gedichte und Tage‐ bücher gehören, greift der zweite Teil die Theorie der Autobiographie im en‐ geren Sinne auf und wendet sie auf Reglers Texte an. Im allgemeinen Sprach‐ gebrauch scheint der Begriff Autobiographie selbsterklärend zu sein: Eine Person erzählt rückblickend ihr Leben. Doch die Beschreibung der literarischen Form ist problematischer. Dies liegt daran, dass die Autobiographie sich als hybrides Genre zwischen der rhetorisch-historischen Gebrauchsliteratur und dem literarischen Kunstwerk positioniert. Ihr Spektrum reicht vom nüchternen Tatsachenbericht bis zu einem dichterisch geformten Text mit ästhetischem Anspruch. Zwar betonen die meisten Definitionen die Übereinstimmung von Autor und Erzähler, doch gibt es Randformen wie den autobiographischen Roman, der die beiden Kategorien zwar formal trennt, faktisch jedoch auch auf ihrer Identität beruht. Beispielhaft für diese Problematik ist Reglers Autobio‐ graphie Die Tränen der Niobe, in der er sich als Paulus verschlüsselt. Später hat er das Manuskript überarbeitet und den Text mit entsprechenden Streichungen und Ersetzungen in die Ich-Form umgesetzt. 16 Hermann Gätje 7 Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: ders. (Hrsg.): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main 1998, S. 75-82. 8 Ruth Klüger: Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie. In: Magdalena Heuser (Hrsg.): Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Tübingen 1996, S. 405-410, hier S. 409. 9 Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart [u. a.] 1965. 10 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt am Main 1994. Eine mögliche definitorische Annäherung liegt meines Erachtens in einer idealtypischen Betrachtungsweise. Dabei sollte die Wesenheit bzw. psychologi‐ sche Kategorie des Autobiographischen vom literarischen Genre der Autobio‐ graphie unterschieden werden. Ein Text ließe sich in der Ausprägung be‐ stimmter Elemente des Autobiographischen graduell beschreiben. Eng mit dem Problem der Definition verbunden und ähnlich kompliziert ist die Frage nach der autobiographischen Wahrheit. Die Wirklichkeitsbzw. Wahr‐ heitsfrage steht im Zentrum der wissenschaftlichen Theoriebildung. Die An‐ sätze reichen von konstruktivistisch geprägten Annahmen wie der „biographi‐ schen Illusion“ bis hin zu historistischen, 7 die möglichste Faktentreue im Sinne von oral history postulieren, z. B. sieht Ruth Klüger Autobiographie als „Zeu‐ genaussage“. 8 Dass es nicht möglich ist, mit Texten völlig objektiv die Wirk‐ lichkeit wiederzugeben, ist selbstverständlich. Ebenso wenig lässt sich ein ganzes Leben in einem Buch darstellen, die Auswahl des Stoffes muss subjektiv sein. Viele Theoretiker wie z. B. Roy Pascal postulieren eine literarische Wahr‐ heit der Autobiographie. 9 Dabei lässt sich die Frage nach der faktischen Rich‐ tigkeit einer Autobiographie jedoch nicht ausklammern. Es ist zumindest weit‐ gehender Konsens, dass die literarische Darstellung den biographischen Fakten nicht widersprechen, sondern diese (auch durch Fiktionalisierungen) ver‐ dichten, pointieren und unterstreichen sollte. Aber eine auf literarischer Evidenz beruhende Wahrheit ist nur schwer fassbar. Aufgrund dieser Problematik glaube ich, dass es gerade bei der Autobiogra‐ phie von großer Bedeutung ist, wie ein Werk sich selbst über textinterne und -externe Signale positioniert und welchen Anspruch es für sich erhebt. Deshalb habe ich die Ausführungen von Philippe Lejeune über den autobiographischen Pakt als theoretisches Ausgangsmodell verwendet, da er die Gattung Autobio‐ graphie relativ normfrei umreißt. 10 Lejeunes Ansatz bietet ein Modell, um die Autobiographie als literarischen Kommunikationsakt auf den drei interpretationsrelevanten Ebenen Autor, Text und Leser differenziert zu untersuchen. Le‐ jeune spricht von einem Pakt zwischen Autor und Leser, in dem der Autor dem Leser versichert, dass es sich um eine Autobiographie handelt. Logischerweise impliziert die Aussage in dieser Form, dass „Autobiographie“ für den Leser de‐ 17 Gelebtes und geschriebenes Leben bei Gustav Regler finiert sein muss. Um der Verschiedenheit der Auffassungen von Autobiographie gerecht zu werden, habe ich für meine Ausführungen den Ansatz modifiziert: Ich beziehe mich nicht auf die eigentliche Gattungsangabe Autobiographie, sondern möchte anhand einzelner Aussagen und Textsignale ermitteln, wie der Autor selbst seine Autobiographie dem Leser gegenüber definiert. Der gleiche Text kann eine unterschiedliche Dimension entwickeln, je nachdem ob der Autor versichert, er habe sich an den Fakten orientiert, oder ob er von vorne‐ herein mitteilt, vieles sei erfunden oder stilisiert. Auf den theoretischen Problemaufriss folgt eine eingehende Betrachtung des Verhältnisses zwischen den Tatsachen und ihrer Darstellung in Reglers Auto‐ biographien. Abweichungen von den Fakten können unterschiedliche Ursachen haben, man kann etwas schlicht vergessen haben, andererseits kann man auch wider besseres Wissen die Fakten verändern. Es geht auch um die Frage, ob Faktenabweichungen wesentlich oder unwesentlich sind, und welche Funktion sie haben. Sie können eine literarisch verdichtende Funktion haben. Sie können dem Autor aber auch dazu dienen, unangenehme Tatsachen umzuschreiben. Es ist z. B. nicht von der Hand zu weisen, dass Regler seine Rolle in der stalintreuen KP schönt, und dass er die im mexikanischen Exil zunehmend kriselnde Ehe mit Marie Luise zu einer harmonischen Gemeinschaft überhöht. Insgesamt zeigt die detaillierte Untersuchung, dass seine Autobiographien das der Gattung normale Maß an Stilisierung der Fakten weit überschreiten. Insbesondere die Schilderung seiner Moskaureise 1936 in Das Ohr des Malchus ist hierfür ein prägnantes Bei‐ spiel. Er beschreibt Begegnungen mit historischen Personen, die erwiesener‐ maßen zu dieser Zeit nicht dort waren, er ordnet wirkliche Ereignisse in der Chronologie völlig um, verfremdet sie und reichert sie mit fiktiven Episoden an. So entsteht ein labyrinthisches assoziatives Beziehungsgeflecht aus Realität und Fiktion, das sich in der geschlossenen Frage „historisch wahr“ oder „unwahr“ nicht fassen lässt. Regler selbst beharrte in öffentlichen Interviews und in einem in Das Ohr des Malchus enthaltenen Anhang auf der unbedingten Faktizität seiner Autobio‐ graphie. Dagegen jedoch ist die offensichtlich romanhafte Gestaltung mit dra‐ matischer wörtlicher Rede oder anekdotischen Zuspitzungen u. a. Stilmitteln ein eindeutiger textimmanenter Indikator für eine Verfremdung der Fakten, was der Autor in privaten Briefen auch konzedierte. Diese Widersprüchlichkeit bringt Regler in einer Reaktion auf eine Rezension unfreiwillig auf den Punkt. Ein Kritiker hatte angesichts der häufigen wörtlichen Rede in Das Ohr des Malchus angemerkt, dass der Text massiv fiktionalisiert sein 18 Hermann Gätje 11 Vgl. Gätje: Leben und Leben schreiben (Anm. 2), S. 363-365. 12 John Kotre: Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt. Mün‐ chen und Wien 1996. müsse. Regler antwortete darauf mit dem Einwand, er habe ein Gedächtnis wie ein Tonband. 11 Angesichts dieser Diskrepanz und der bisweilen unstrukturierten Durch‐ mengung von Wirklichkeitsaussagen und literarischer Formung in Reglers Autobiographien ist der Rekurs auf ein psychologisches Erklärungsmodell von John Kotre erhellend. 12 Dieser zeigt auf, dass das Gedächtnis Erinnerungen be‐ reits verdichtet und dabei Ähnlichkeiten mit literarischen Verfahren der Abs‐ trahierung und Verfremdung auftreten. Reglers Realitätsklitterungen er‐ scheinen häufig als eine typische Mythisierung der eigenen Person, die ähnlich wie kollektive Mythen unerklärliche Zufälle der Geschichte in sinnstiftende Ereignisse umwandelt. Erinnerte Kindheitserlebnisse antizipieren bereits die spätere Persönlichkeit. An die Erörterung psychologischer Faktoren knüpft unmittelbar ein Kapitel an, dass sich den literarischen Techniken Reglers in den Autobiographien widmet. Dabei ist vor allem die Betrachtung einiger bei ihm besonders ausge‐ prägter Metaphernbereiche von Bedeutung. Mir ist wichtig, diese nicht als rein künstlerische Darstellungsmittel des Texts zu verstehen, sondern vielmehr als mit Reglers Deutungsweise der Welt verknüpfte Bildmuster. Am Beispiel von Briefen und Tagebüchern zeigt sich, wie die in Autobiographien und auch an‐ deren Texten sehr verbreitete Himmelskörpermetaphorik existenziell in seinem Bewusstsein verwurzelt ist. In eine ähnliche Richtung zielt die Darstellung von Verweisen aus Kunst und Literatur in den Autobiographien. Im Hinblick auf den von Intertextualitätstheoretikern wie Julia Kristeva und Gérard Genette umris‐ senen Gedanken, dass jeder Text Zitate und Bezüge auf andere Texte enthält, ist besonders von Interesse, wie sich die Sicht auf das eigene Leben und dessen Deutung aus den Lektüren des Autobiographen speist. Am Beispiel besonders der Bibel und Dostojewskis Romanen lässt sich aufzeigen, wie sehr Regler auf Darstellungs- und Verstehensmuster anderer zurückgreift. Die literarische Inszenierung sowie die Bezüge zu Literatur und Kunst gehen zu einem Teil auf verinnerlichte Denkmuster zurück, zum andern nutzt Regler aber auch Meta‐ phern und Analogien zu mythischen, literarischen und künstlerischen Leitbil‐ dern, um seinem Leben nach außen Bedeutung zu verleihen. Insgesamt gesehen bietet Reglers Autobiographik ein ambivalentes Bild. Die Texte selbst sind in sich im Hinblick auf ihre typologische Verortung im Genre Autobiographie nicht schlüssig. Sie sind gewiss weitgehend künstlerisch ge‐ staltet und als literarische Werke zu begreifen. Doch eine naheliegende graduell 19 Gelebtes und geschriebenes Leben bei Gustav Regler 13 Roy Pascal: Die Autobiographie als Kunstform (1959). In: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. 2. Aufl. Darm‐ stadt 1998, S. 148-157, hier S. 145. 14 Alfred Diwersy: Gustav Regler. Bilder und Dokumente. Saarbrücken 1978, S. 116. typologische Verortung in der von Roy Pascal definierten „eigentlichen Auto‐ biographie“, 13 die eine höhere, literarische Wahrheit postuliert, fällt angesichts der Ungeschlossenheit der Texte schwer. Ihre Literarizität wird oft durch his‐ torisch-expositorisch gehaltene Passagen gebrochen und sie enthalten eine Vielzahl eindeutiger Wirklichkeitsaussagen, die nicht zutreffen. Dieser Wider‐ spruch lässt sich nicht aufheben und hierin sehe ich in Reglers Werk einen Anachronismus. Dennoch denke ich aber, dass zahlreiche Einzelepisoden seiner Autobiographien eine große literarische Evidenz besitzen. Auch wenn die Arbeit sich in weiten Teilen speziell auf Regler konzentriert, dabei text- oder lebensgeschichtlich neue Erkenntnisse und Deutungen präsen‐ tiert, so versteht sie sich auf der analytischen Ebene immer auch als Darstellung Reglers als einem für das Genre Autobiographie exemplarischen Autor. Ich stelle bestimmte Mechanismen und Techniken der Transformation von gelebtem Leben in literarische Texte heraus, die in ihrer Typologie nicht auf die Indivi‐ dualität Reglers beschränkt sind. Er hat sein Leben nicht nur in Autobiographien bilanziert, sondern in Tagebüchern, Briefen und literarischen Texten immer schreibend begleitet. Seine Biographie stellt für mich eine Wechselbeziehung von „Leben und Leben schreiben“ dar, die Einblicke in grundlegende Konditionen literarischen Schreibens gibt. Ich möchte nun meine Methode und die von mir postulierte Dialektik aus Leben und Schreiben an einem konkreten Beispiel demonstrieren, der unmit‐ telbaren Entstehungsgeschichte von Das Ohr des Malchus. Reglers Biographie von 1949 bis zu seinem Tod 1963 war geprägt durch zahl‐ reiche Ortswechsel. Alfred Diwersy spricht von einem „Ruhelosen bis zu seinem Tod“, der „nicht mehr ganz zurückfand aus der Emigration“. 14 Regler reiste über den Jahreswechsel 1949/ 50, zum ersten Mal nach dem Krieg, nach Europa. Er war bemüht, Kontakte zu knüpfen bzw. wieder aufzunehmen und als Autor Fuß zu fassen. Auch wenn er im Mai 1949 mexikanischer Staatsbürger geworden war, sah er keine Möglichkeit, sich dort als Schriftsteller, Journalist oder Publizist zu etablieren. Einige vor allem durch Peggy initiierte Versuche, in Mexiko eine stabile Existenz aufzubauen, scheiterten, so etwa eine Ferienpension in Atongo und später eine Hühnerfarm. Die Jahre nach 1950 sind von einem häufigen Un‐ terwegssein Reglers gekennzeichnet, es scheint, dass der Titel seines 1945 ent‐ standenen Romans Keine bleibende Stadt dies bereits antizipierte. Anhand von Briefen und Tagebüchern lassen sich die zahlreichen Stationen weitgehend 20 Hermann Gätje 15 Brief Henry Goverts an Gustav Regler, 19. August 1955, Kopie LASLLE. nachzeichnen. Da Regler als ehemaliger Kommunist immer noch nicht in die USA einreißen durfte, bot sich ihm einzig in Europa eine berufliche Perspektive. So suchte bzw. reaktivierte er persönliche Bekanntschaften, vor allem in den kulturellen Zentren Paris und London. Häufige Stationen in Deutschland waren seine Familie in Merzig im damals von Frankreich verwalteten Saarland, und Worpswede, wo er bei Marie Luises Familie im Haus im Schluh logierte. Von 1952 bis 1956 hielt sich Regler durchgehend in Europa auf. In dieser Zeit lebte er längere Zeit in Italien, wo er an seiner Romanbiographie des Renaissance‐ dichters Pietro Aretino arbeitete, die auf umfangreichen Recherchen vor Ort an den historischen Schauplätzen beruht. Regler suchte vor allem den Kontakt zur jüngeren Generation und gewann in diesen Jahren bei ihr zahlreiche neue Freunde. Im Zusammenhang mit der Entstehung von Das Ohr des Malchus her‐ vorzuheben sind dabei Irmela und Günter Abramzik, Studentenpfarrer in Wil‐ helmshaven (später Domprediger in Bremen), sowie Petra und Walter Rosen‐ garten, Redakteur beim Südwestfunk in Baden-Baden. Bei beiden Ehepaaren hielt er sich während der Schreibarbeit an Das Ohr des Malchus häufig auf und diskutierte mit ihnen die entstandenen Texte. Ein weiterer Grund für die lange Abwesenheit von Mexiko lag neben den genannten beruflichen Ursachen in einer Ehekrise. Regler hatte in dieser Zeit einige Liebesaffären, doch kam es schließlich Ende 1955 zu einer Versöhnung mit Peggy. Mitte 1956 reiste er wieder nach Mexiko. In diese Lebensphase fällt die Entstehung von Das Ohr des Malchus. Regler nahm die Arbeit an seiner Autobiographie nach dem Abschluss von Aretino 1955 wieder auf. Der Schreibprozess wurde gewiss auch durch das konkrete Interesse von dessen Verleger Henry Goverts befördert. Dieser hatte bereits Georg K. Glasers Geheimnis und Gewalt verlegt und sah in Regler einen weiteren wich‐ tigen Zeitzeugen: Mit Mostars, die ich grüßte und die Sie wiedergrüßen lassen, hatte ich neulich eine längere Unterhaltung, die darauf hinauslief, daß Sie eine Autobiographie schreiben sollten, ähnlich wie Glaser die seine schrieb. Die Form ist gleichgültig. Sie sollten das unbedingt tun. Ihr Leben ist für unsere Generation beispielhaft und Sie haben wirklich wichtiges erlebt. Indem ich einmal hoffe, diese Biographie oder diesen Lebensbericht verlegen zu dürfen, verbleibe ich. 15 Der Brief des Verlegers deutet an, dass seinerzeit auf dem Buchmarkt Nachfrage nach Autobiographien von Zeugen der Zeitgeschichte bestand. Angesichts der 21 Gelebtes und geschriebenes Leben bei Gustav Regler 16 Brief Gustav Regler an Irmela Abramzik, 7. September 1955, Kopie LASLLE. 17 Brief Gustav Regler an Walter Rosengarten, 30. Juni [1955], GRA. 18 Brief Gustav Regler an Peggy Regler, 30. April 1956, GRA. Im Original Englisch, Über‐ setzung H. G. politischen Lage im Kalten Krieg kam dabei ehemaligen Kommunisten eine be‐ sondere Rolle zu. Memoirenwerke von Arthur Koestler, Jan Valtin oder Marga‐ rete Buber-Neumann, die Kontakte zum inneren Machtzirkel der KP bzw. UdSSR gehabt hatten, waren große Erfolge. Anders als bei den vorangegangenen Autobiographien schien nun auch Reg‐ lers Zeit gekommen zu sein. Er zog bereits geschriebene Teile seiner Biographie heran und arbeitete sie um. In Briefen, vor allem an seine Ehefrau Peggy und Irmela Abramzik, erläuterte er seine Intentionen und Arbeitsmethoden. Die Schreibtätigkeit war begleitet von umfangreichen Recherchen in Bibliotheken. Besonders in Briefen an Irmela Abramzik betonte er den lehrhaften Impetus des Buches: „[D]eine Generation; das ist, was ich will! “ 16 Regler wollte seine Irrtümer und Lebenserfahrungen an die Jugend weitergeben. Die Briefe geben auch Auf‐ schluss über seine Stimmungen, so beschrieb er die Erinnerung und Rekapitu‐ lation als mühsamen, schmerzhaften Prozess. Einmal sagt er: „Ich krepiere vom Wiederkaeuen meiner selbst“. 17 Der Autobiograph leidet an der unüberschau‐ baren Stoffmenge: „[D]er Kopf brennt und blockiert mich. Während ich mit der Machete eine Öffnung öffne, finde ich immer neue Dinge daneben, die mir auch wichtig erscheinen, so muss man sich schrecklich zusammenreißen, nicht schi‐ zophren zu werden“. 18 Aus den zahlreichen Briefen geht hervor, wie sehr die Autobiographie sowohl die Zeitgeschichte allgemein als auch Reglers persönliche Verstrickung und Mitwirkung spiegeln soll. Er wies immer wieder darauf hin, wie viel er für die Abfassung nachrecherchiert hatte. Dabei unterstützten ihn Freunde, vor allem Irmela Abramzik. Sie half bei der Ermittlung historischer Daten, die die persön‐ lichen Erinnerungen mit dem zeitgeschichtlichen Kontext dramaturgisch ef‐ fektvoll verknüpfen und beglaubigen sollten. Auch Peggy ließ er intensiv am Entstehungsprozess teilhaben, denn aus Briefen geht hervor, dass er für sie ein‐ zelne Passagen ins Englische übersetzte. Regler arbeitete vor allem in Wilhelms‐ haven, Worpswede und London an Das Ohr des Malchus. Eine erste Fassung schloss er nach seiner Rückkehr nach Mexiko im Oktober 1956 ab. Das fertige Manuskript fand jedoch nicht die Zustimmung des Verlegers Goverts und seiner Lektoren. Neben einigen kleineren Monita war der Hauptkritikpunkt, dass vieles „konstruiert“ und das Buch generell zu lang sei. Regler beklagte sich da‐ rüber in Briefen an Walter Rosengarten. Dieser nahm im Entstehungsprozess eine besonders wichtige Rolle ein, weswegen Regler ihm das Buch in der deut‐ 22 Hermann Gätje 19 GRW, Bd. X, S. 9. schen Originalausgabe widmete. Der Zusatz „den Unbestechlichen“ spielt dabei auf Rosengartens offene und ehrliche Art der Kritik an. 19 Er fungierte als von beiden Seiten akzeptierter Vermittler zwischen dem Autor und dem Verleger Goverts sowie dessen Lektoren Knaus und Seewald. Regler kam den Überar‐ beitungswünschen anfangs nach, doch fanden sich für den Verlag immer noch Kritikpunkte. In einem Brief sprach Regler sogar davon, dass Goverts eine komplette Überarbeitung wünschte. Weiterhin verärgerte ihn, dass der Verleger sich immer noch sträubte, einen Vertrag abzuschließen. Schon Anfang 1957 er‐ wähnte Regler die Option, zu Kiepenheuer & Witsch zu gehen. Am 30. Sep‐ tember 1957 kam es schließlich zum Vertrag mit Kiepenheuer, der das Buch in der nun vorliegenden Fassung annahm, die unter intensiver Mitwirkung Walter Rosengartens entstanden war. Reglers Lebensumstände im Vorfeld der Entstehung von Das Ohr des Malchus sind völlig andere als jene bei den anderen Autobiographien Sohn aus Nie‐ mandsland und I would do it again/ Die Tränen der Niobe. Während diese direkt von den existentiellen Krisen Lösung von der KP bzw. Tod Marie Luises beein‐ flusst wurden, gab das Interesse des Verlegers hier das Initial für die Schreibar‐ beit. Die geänderten Entstehungsvoraussetzungen von Das Ohr des Malchus lenken den Blick auf die Schreibmotivation Reglers. Wegen des unmittelbaren Bezugs zur Person des Autors kommt dem autobiographischen Impuls beson‐ dere Bedeutung zu. Während Sohn aus Niemandsland (1942) den politischen Wechsel nach einem längeren Prozess der Ablösung bilanziert, I would do it again und Die Tränen der Niobe nach dem persönlichen Neubeginn das eigene Leben reflektieren, ist Das Ohr des Malchus eher aus einer objektiv vermuteten Publikationsmöglichkeit als aus einer subjektiven Bekenntnis- oder Bewälti‐ gungsabsicht entstanden. Das Ohr des Malchus ist mehr als Sohn aus Niemands‐ land, I would do it again und Die Tränen der Niobe durch einen Anstoß von außen als durch einen inneren, selbsttherapeutischen Antrieb bedingt. Gewiss hat Regler die vorhergehenden Texte auch im Hinblick auf eine Publikation ge‐ schrieben, und Das Ohr des Malchus stellt eine persönliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben dar, doch Tendenz und Gewichtung unterscheiden sich maßgeblich. Bei Sohn aus Niemandsland und I would do it again/ Die Tränen der Niobe entwickelten sich im Schreibprozess aus dem ursprünglich persönlichen Antrieb Buchprojekte. Bei Das Ohr des Malchus lässt sich die Reihenfolge um‐ kehren: Äußere Anlässe wie die Nachfrage nach Autobiographien seit Beginn der 1950er Jahre, verstärkt durch Anregungen wie die von Goverts’, waren das Schreibinitial, aus dem sich dann die persönliche Auseinandersetzung mit der 23 Gelebtes und geschriebenes Leben bei Gustav Regler 20 Brief Gustav Regler an Peggy Regler, 11. Juni 1956, GRA. Im Original Englisch, Über‐ setzung H. G. eigenen Person während der Arbeit entwickelte. Äußerungen Reglers aus der Entstehungszeit untermauern diese These. Er spricht von Das Ohr des Malchus als „das Buch, das mich zwingt, die alten Zeiten wieder aufleben zu lassen“. 20 Diese Akzentverschiebung spiegelt sich in der Textgenese von Das Ohr des Mal‐ chus. Während Sohn aus Niemandsland und I would do it again/ Die Tränen der Niobe sich aus Texten, die aus dem gleichen Schreibrespektive Erinnerungs‐ prozess stammten, zusammensetzen, bilden Teile ebendieser bereits die Grund‐ lage von Das Ohr des Malchus. Dessen Arbeitsbasis waren vorhandene Passagen aus den beiden viele Jahre zurückliegenden Schaffensphasen, die Regler kom‐ pilierte, überarbeitete und mit neuen Texten ergänzte. Daher kann man bei Das Ohr des Malchus generell auch nicht von einer einheitlichen Entstehungszeit sprechen. Vieles wurde zwar neu geschrieben, manches davon aber zwischen bereits geschriebenen Passagen als Übergangstext verfasst, was zeigt, dass das Neugeschriebene in der Gesamtstruktur in einer Interdependenz zu dem Vor‐ herigen steht. Von daher kann man die neuverfassten Teile nicht isoliert von den anderen betrachten. Bei den übernommenen Textstellen mischen sich durch die Überarbeitung wiederum Altes und Neues. Das Ohr des Malchus ist entste‐ hungstechnisch wie -psychologisch keine in sich geschlossene Autobiographie. Dieser Aspekt kann nicht nur fassungsgeschichtlich dokumentiert werden, er lässt sich auch in seinen inhaltlichen und stilistischen Konsequenzen darlegen. Des Weiteren ist die Buchfassung von Das Ohr des Malchus das Produkt um‐ fangreicher Lektoratsarbeiten. Die Mitwirkung Dritter und die Zahl der Über‐ arbeitungen im Verlauf der Genese ist signifikant größer als bei den vorherigen Autobiographien. Ebenso schlagen sich die historischen Nachrecherchen, die Regler nun in Europa machen konnte, im Text nieder. Die subjektive Erinnerung tritt durch die Implementierung geschichtlicher Daten im narrativen Textablauf stärker zurück. Man erkennt im Vergleich zu den vorhergehenden Autobiogra‐ phien, dass historische Ereignisse und Personen gegenüber der Schilderung seiner persönlichen Entwicklung deutlich mehr Gewicht gewinnen. Beispielhaft sind dafür die ausführlichen Beschreibungen seiner Begegnungen mit Malraux und Hemingway. Man erkennt, dass in der Entstehungsphase von Das Ohr des Malchus die konkrete seelische Befindlichkeit Reglers nicht von solch dominanter Wirkung auf den Text ist wie bei Sohn aus Niemandsland und I would do it again/ Die Tränen der Niobe. Doch kann man mitnichten sagen, Reglers aktuelle Lebenssituation hätte keinen Einfluss auf Das Ohr des Malchus gehabt. Der Zusammenhang liegt 24 Hermann Gätje mehr auf einer mittelbaren Bezugsebene. Der inhomogene Duktus von Das Ohr des Malchus ist auch ein Abbild der schwankenden Persönlichkeit des Autors und des unsteten Lebens jener Zeit. Das Ohr des Malchus ist nicht nur inhaltlich die Summe seines Lebens, sondern zudem als Kompilation von Texten aus ver‐ schiedenen Lebensphasen. In der formalen Uneinheitlichkeit spiegeln sich auch die Brüche in seiner Vita. Auf dieser Metaebene ist Das Ohr des Malchus au‐ thentischer Ausdruck des suchenden Charakters und Jahrhundertmenschen Regler, der die wirkungsmächtigen Ideologien seiner Epoche durchlebt und die prägenden literarischen Impulsgeber seiner Generation von Rilke über Döblin bis zu Hemingway, so unterschiedlich sie auch sind, in sein Werk hat einfließen lässt. 25 Gelebtes und geschriebenes Leben bei Gustav Regler 1 Vgl. beispielsweise die Studie von Jang-Weon Seo: Die Darstellung der Rückkehr: Re‐ migration in ausgewählten Autobiographien deutscher Exilautoren. Würzburg 2004 [Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft. Bd. 470]. Grenzdiskurse bei Gustav Regler I Eine Lesart des Erinnerungsbuches Das Ohr des Malchus Sikander Singh I. Während seiner späten Jahre als Reisender hat er viele Grenzen überquert. Gustav Regler, der Schriftsteller und Journalist, Kommunist und Renegat, Spanienkämpfer und Exilant hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, das er in Mexiko erlebte, nicht mehr in die alte Heimat, das nunmehr befreite Deutschland, zurückgefunden. Darin gleicht sein Lebensweg denjenigen zahl‐ reicher Intellektueller, die zwischen 1933 und 1945 die Einflusssphäre des so‐ genannten Dritten Reiches verlassen mussten, und denen die Fremde zwar nicht zur Heimat wurde, die Heimat aber zur Fremde. Das für die emigrierten Schriftsteller Problematische hat nicht nur in der Forschung vielfach Beachtung gefunden, auch in Romanen und Erzählungen, Gedichten und Dramen sind diese Erfahrungen und ihre literarischen wie lebensweltlichen Konsequenzen reflektiert worden. 1 Gerade vor diesem Hin‐ tergrund zeigt sich jedoch in dem Leben, das Gustav Regler in den Nachkriegs‐ jahrzehnten führte, ein besonderes Moment, das einer Betrachtung wert ist. Der Aufsatz wird deshalb zunächst einleitend über den Lebensweg des Schriftstellers nachdenken, um nachfolgend einige Gedanken zu seinem autobiographischen Lebensroman Das Ohr des Malchus zu entwickeln, der 1958 im Kölner Verlag Kiepenheuer und Witsch erstveröffentlicht worden ist. Nachdem Regler im Jahr 1933, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, auf der Flucht vor der Gestapo über Worpswede und das Saargebiet - wie im Vertrag von Versailles geregelt, war das Industriegebiet an der mittleren Saar seit 1920 ein Mandatsgebiet des Völkerbundes -, nachdem Regler solchermaßen nach 2 Brief Gustav Regler an Marianne Regler-Schröder, 25. Dezember 1962, GRA. Paris emigrieren musste, war Europa für ihn zu einem Kontinent voller Grenzen geworden. Seine Internierung im Pyrenäenlager Le Vernet als Enemy Alien, als eine Konsequenz aus dem Kriegseintritt Frankreichs im Herbst 1939, dokumen‐ tiert dies ebenfalls sehr deutlich. Aber auch Mexiko, wohin er, gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau Marie Luise Vogeler, im Jahr 1940, mit einer Zwischen‐ station in den Vereinigten Staaten von Amerika, ausreisen konnte, erwies sich als ein begrenzter Ort. Hier musste er zwar nicht um sein Leben fürchten, aber die Reisemöglichkeiten waren aufgrund der politischen Situation wie aus fi‐ nanziellen Gründen limitiert. Die Befreiung Deutschlands und Europas durch die Alliierten im Jahr 1945 bedeutete deshalb für ihn, wie für viele Emigranten, eine Befreiung aus dem Ort des Exils. Vor allem zeigt sich diese wieder gewonnene Freiheit in den Reisen, die der Schriftsteller in den folgenden Jahren durch Europa, Nord- und Südamerika, Asien und Afrika unternommen hat. In einer Welt, in der die politischen und ideologischen Konflikte, die sein Leben über viele Jahrzehnte bestimmt haben, überwunden sind, wird er zu einem Ruhelosen, für den die Reise von Ort zu Ort, über Ländergrenzen und Kontinente zu der einzigen Lebensform wird, die noch möglich ist - gleichsam als wäre die wiederholte Erfahrung der Flucht zu einem Teil seiner Person und seines Wesens geworden. Exemplarisch wird dies in einem späten Brief greifbar, den er am Weihnachtsmorgen des Jahres 1962, also nur wenige Wochen vor seinem Tod, in Beirut verfasste und an seine Schwester Marianne Regler-Schröder sandte: […] wir sind im privaten Wagen eine Woche durch Griechenland gefahren, waren oben in Delphi beim Orakel, fuhren über den Golf von Korinth nach Olympia, waren im uralten Mykenä und kamen über den Isthmus zurück nach Athen, wo wir am Abend das Flugzeug nach Cypern und hier nahmen. Den Weihnachtsabend verbrachten wir in der Luft (was Dir wohl einen Schauder einjagt[)] - solche Heiden! Aber beruhige Dich; der Flugkapitän wünschte alle halbe Stunde von seiner Kabine in allen Sprache[n], auch der von Homer und Sophokles, Merry Christmas, und das Radio war voll von Chorälen und über unserm Abendessen hing eine silberne Glocke mit weiss‐ bestreuten Tannenzweigen Ich benutze den frühen Morgen in der Sonne des Mittelmeers, wo man Delphine springen sieht auf alte griechische Weise, Euch unsere Neujahrgrüsse zu senden. […] Unsere nächste Adresse ab 3. I. für mindestens den ganzen Januar ist American Express New Delhi / India. […] 2 28 Sikander Singh 3 Vgl. hierzu Hermann Gätje: Leben und Leben schreiben. Gustav Reglers autobiogra‐ phische Schriften: Entstehungsprozess - Fassungen - Gattungsdiskurse. St. Ingbert 2013 [Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. Bd. 89]. Indem er zu Weihnachten, Fest der deutschen Innerlichkeit, an seine Familie in Merzig denkt und schreibt, aber zugleich mit dem Flugzeug von Griechenland über Cypern, den Libanon und die arabische Halbinsel nach Indien unterwegs ist, dokumentiert der Brief das Spannungsverhältnis zwischen der Erinnerung an die Heimat (und das mit ihr Verlorene) und den fortwährenden Grenzver‐ schiebungen, die seine Existenz nunmehr bestimmen. Weil Regler in den Jahren seines mexikanischen Exils einer Kultur begegnete, in welcher sich die ihm seit seiner Kindheit vertraute katholische Religion mit Traditionen und Riten der indianischen Kulturen durchmischte, vermochte das Fremde durch diesem inhärente Momente des Bekannten eine Faszination zu erlangen, die den Schriftsteller - zu einem Substitut für die verlorene Heimat werdend - zu einem Reisenden machte, der fortan auf der Suche war nach dem Eigenen im Fremden und Anderen. Er lebte während dieser späten Jahre in der unausgesprochenen, aber vergeblichen Hoffnung, im Transitorischen etwas Vertrautes zu finden und indem er beständig unterwegs war, bleiben zu können. Seinen Tod als ein Sinnbild dieser Lebensform zu begreifen, ist nicht nur des‐ halb naheliegend, weil Regler sich - gemeinsam mit seiner dritten Ehefrau Mar‐ garet Paul - auf einer Studienreise durch Indien befand, als er am Nachmittag des 14. Januar 1963 starb. In seiner Autobiographie, die seit den 1940er Jahren in verschiedenen Arbeitsphasen und Fassungen entstanden ist, 3 interpretiert er das eigene Leben einerseits im Sinne einer Zeugenschaft jener politischen Ent‐ wicklungen, Umbrüche und Verwerfungen, welche die erste Hälfte des 20. Jahr‐ hunderts bestimmt haben. Andererseits erhebt der Text seine Biographie zu einem exemplarischen Lebensweg für die Verlusterfahrungen und Verunsiche‐ rungen des Menschen in der Moderne. Die These von der Sinnbildhaftigkeit seines Todes ist also ein Nachklang jener Verschränkung von gelebter Erfahrung und Literatur, die in der Erzählung seiner Lebensgeschichte programmatisch angelegt ist. II. Diese metaphorische Dimension des Erinnerungsbuches wird auch in dem Dis‐ kurs über die Grenze sichtbar, von dem das Werk strukturiert und bestimmt wird. Im ersten Buch des Ohr des Malchus erscheint die Grenze zunächst in dem Sinne jener Bedeutung des Wortes, welche die imaginäre Trennung zweier Ter‐ ritorien, die aus historischen Bedingungen entstanden ist oder in spezifischen 29 Grenzdiskurse bei Gustav Regler I 4 GRW, Bd. X, S. 36f. 5 Ebd., S. 366. Machtverhältnissen ihre Begründung findet, bezeichnet. So erzählt Regler von Spaziergängen, die ihn in der Nähe seines Geburtsortes Merzig, zwischen Hil‐ bringer Wald und Märchengrund, gemeinsam mit seinem Vater zu der lothrin‐ gischen Grenze führten. Die programmatisch überformte und literarisch stili‐ sierte Kindheitsbegebenheit hinterfragt das in den Übergängen vom 18. zum 19. Jahrhundert entstandene Konzept des Nationalstaates und dekuvriert auf diese Weise das Normative der Grenzziehung und der daraus resultierenden Distinktionen als Imagination, weshalb es künstlicher Merkmale und Kenn‐ zeichnungen bedarf, diese sichtbar und dauerhaft verifizierbar zu machen. Ostern zog er [der Vater] mit uns über die Felder und Hügel und lehrte uns die „wich‐ tige Umgebung“ kennen […]. Wenn wir dann „ganz am Anfang“ angelangt waren, wo es keine Geographie mehr gab, lenkte er wohl zur alten viel umstrittenen Grenze zwischen Deutschland und Frankreich hin und ließ uns an bestimmten Stellen Blumen pflücken oder das Fallobst von verschiedenen Bäumen probieren; unvermittelt fragte er uns: „Welcher Apfel ist französisch? “ Wir hielten die angebissenen Äpfel still vor unsern Mündern und sahen auf die Baumallee, die aus dem Unendlichen zu kommen schien und sich in das Unendliche fortsetzte. Wir verstanden ihn früh: er glaubte nicht an Grenzen. 4 Auch wenn Regler seine Heimatstadt bereits früh verlassen hat und lediglich im Kontext des Abstimmungskampfes der Jahre 1933 bis 1935 für längere Zeit in das Saargebiet - er selbst nennt es das „kleine Niemandsland zwischen dem Dritten Reich und Frankreich“ 5 - zurückkehrte, bewies sich die Erfahrung der französischen und der deutschen Traditionen, die in dieser Grenzregion ein‐ ander sowohl wechselseitig durchdringen und ergänzen als auch gegeneinander streiten, als bestimmend für sein literarisches Werk wie sein politisches Enga‐ gement. Die Episode, von der er in jenen einleitenden Kapiteln seiner Autobiographie erzählt, die der Kindheit und Jugend in Merzig gewidmet sind, überführt darüber hinaus dieses große Thema seines Lebens in ein literarisches Bild. So ist die vom Vater anschaulich vermittelte Einsicht in das Konzept der Grenze als Konstrukt der Hintergrund für die Beschreibung eines Lebens im Spannungsfeld der natio‐ nalistischen Verwerfungen und ideologischen Konflikte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie grundiert die Erfahrungen des Krieges, die Reglers private wie literarische Existenz wesentlich bestimmt haben: Nach dem Abitur wurde er als Infanterist zum kaiserlichen Heer eingezogen und erlitt an der Westfront 30 Sikander Singh 6 Ebd. eine Gasvergiftung. In Das Ohr des Malchus inszeniert er sich demnach als An‐ gehörigen einer vom Krieg gezeichneten und deshalb geistig ortlosen, verlo‐ renen Generation. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er als Politischer Kom‐ missar bei den Internationalen Brigaden gegen die von General Francisco Franco angeführten spanischen Faschisten; auch dort wurde er schwer verwundet. Schließlich zwang ihn der vom nationalsozialistischen Deutschen Reich entfes‐ selte Krieg, Europa zu verlassen und nach Mexiko zu emigrieren. Sein Erinnerungsbuch erzählt von diesen Erlebnissen und betrachtet die po‐ litischen und ideologischen Positionen, in deren Gravitationsfeldern sich das Leben des Schriftstellers bewegt hat. Der intellektuelle Internationalismus, den das Werk vertritt, erlangt durch den Rückbezug auf die Herkunft aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet eine Beglaubigung durch das eigene Leben: Indem das erzählte Ich bereits als Kind versteht, dass Grenzen gedachte Linien sind, dass sie politische und ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Ent‐ wicklungen zwar beeinflussen und wesenhaft prägen, aber dennoch nur als Konstrukte zu verstehen sind, indem die für den Verlauf der Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert so wesentliche Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ein integraler Bestandteil der Lebenserzählung ist, verweist der Text auf das Metaphorische, das in den Bildern der Grenze und den Diskursen über Grenzverläufe zugleich angelegt ist. III. Dieses Moment des Sinnbildhaften kontrastiert in der Autobiographie mit der Beschreibung realer Grenzen, die das erzählte Ich zu überqueren bzw. zu über‐ winden hat. So berichtet das Vierte Buch von einer Zugfahrt, die im Jahr 1933 aus dem Saargebiet, dem „Niemandsland des Völkerbundes“, nach Trier führte. 6 Obwohl er sich des Riskanten und Gewagten bewusst ist, schließt er sich einer Gruppe von Gläubigen an, die in die Domstadt pilgern, um den Heiligen Rock zu sehen. Täglich fuhren Pilgerzüge das Saartal hinunter, ohne sich um die Grenze zu kümmern. In den wenigen Monaten des Exils war mir der Gedanke in Fleisch und Blut überge‐ gangen, daß das Dritte Reich identisch sei mit Terror, Gewalt und Verfolgung. Nie‐ mand von uns konnte sich getrauen, ins Reich zurückzukehren, ohne den Tod zu riskieren. Würden die Pilger die veränderte Luft riechen, wenn sie aus dem liberalen 31 Grenzdiskurse bei Gustav Regler I 7 Ebd., S. 367. 8 Vgl. ebd., S. 368f. 9 Ebd., S. 367. Saarland ins Reich der Diktatur fuhren? Ich wollte es selbst feststellen und schloß mich unter einem anderen Namen einem der Pilgerzüge an. 7 Der Text inszeniert das Gefahrvolle des Grenzübertrittes mit retardierenden Momenten, indem der Erzähler von der Landschaft, den Pilgern im Zug und schließlich einem stattgefundenen Gespräch über die Passion Jesu Christi be‐ richtet. 8 Signifikant ist die Schilderung der Zugreise deshalb, weil der Gedanke der „veränderte[n] Luft“, den der Erzähler - zwischen Soliloquium und rheto‐ rischer Frage die Balance haltend - formuliert, als eine Kontrafaktur auf den Spaziergang des Knaben mit dem Vater bezogen ist. 9 Betont dieser das Imma‐ terielle von Grenzen sowie die Fragwürdigkeit, die Schnittstellen zwischen Na‐ tionen durch Markierungen sichtbar und damit erst unterscheidbar zu machen, bezeichnet die Grenze hier die Differenz zwischen der freiheitlich-demokrati‐ schen Grundordnung des Saargebietes unter dem Statut des Völkerbundes, und der Herrschaft der Gewalt und Willkür im nationalsozialistischen Deutschen Reich. Solchermaßen inszeniert der Erzähler den Kontrast zwischen der Libe‐ ralität seines Denkens, die in Herkunft und Erziehung gründet, und seiner Epoche, die - das Trennende zwischen den Völkern und Staaten betonend - von dem (Un)Geist des Nationalismus bestimmt wird und zwei Weltkriege hervor‐ gebracht hat. Die rhetorische Frage, welche die autobiographische Darstellung in das Zentrum dieser Zugfahrt rückt, dekuvriert den Internationalismus des Intellektuellen jedoch als eine schöne, aber vergebliche Hoffnung. Im Fluchtpunkt dieser Erzählung liegt das Bild, das die Autobiographie von dem Tag zeichnet, an dem das Ergebnis der Saarabstimmung vom 13. Januar 1935 bekannt gegeben wurde. Das erzählte Ich hat auf Seiten der kommunisti‐ schen Partei für den Erhalt der bestehenden Rechtsordnung und damit für den Verbleib des Saargebietes unter dem Statut des Völkerbundes gekämpft. Die so‐ genannte „Rückgliederung“ an das Deutsche Reich, für die über neunzig Prozent der Bevölkerung gestimmt hatte, bezeichnet deshalb einerseits die Niederlage einer humanistischen Idee; andererseits dokumentiert sie den progredienten Zerfall der europäischen Friedensordnung in der Zwischenkriegszeit. Für den politischen Schriftsteller, der seit dem November 1934 den Nationalsozialisten als Staatsfeind galt und deshalb verfolgt wurde, bedeutete sie auch die Notwen‐ digkeit einer erneuten Flucht nach Frankreich. Das Symbolische, das in diesem Grenzübertritt liegt, der ein weiteres Mal ein Gang in das Exil ist, wird in der 32 Sikander Singh 10 Ebd., S. 385. 11 Ebd. Darstellung durch das erzählende Ich in besonderer Weise herausgearbeitet. Über den Abend des 14. Januar 1935 heißt es in Das Ohr des Malchus: Ich entkam in der Nacht durch die Wälder von Forbach, über den Berg von Spichern nach Lothringen. Als ich am deutschen Soldatenfriedhof vorbeikam, fiel mir ein, daß 1870 mein Großvater hier gegen die Franzosen gekämpft hatte; Vater aber hatte uns vor den gleichen Gräbern immer gesagt, die Soldaten seien für eine Chimäre gefallen, es gebe keine Grenzen, wenn man genau hinschaue, nur Grabsteine, aus denen die Menschen nichts lernen. Auch daran dachte ich in diesem Augenblick. 10 Die Flucht führt das erzählte Ich nicht nur über die räumliche Grenze nach Lothringen, in das sichere Frankreich, sondern auch über eine zeitliche in die Vergangenheit. Beide Bewegungen erscheinen im Text simultan; und beide voll‐ ziehen sich vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Geschichte, deren Folgen auch die Gegenwart des Erzählers noch bestimmen. Die Erinnerung an den Krieg des Jahres 1870/ 1871, die mit dem Verweis auf den Großvater und dem Bild des Soldatenfriedhofes evoziert wird, deutet nur sekundär auf die sogenannte Reichsgründung nach dem Sieg der deutschen Staaten über die zweite französische Republik. Sie rekurriert primär auf die Haltung des Vaters, den Glauben seiner Epoche das Sinn- und Identitätsstiftende der Grenzen zu hinterfragen. In dem nächtlichen Grenzübertritt des erzählten Ich überlagern sich also zum einen zeitliche und räumliche Dimensionen, zum anderen die Flucht Gustav Reglers aus dem Saargebiet im Januar 1935 und die retrospektive, autobiographische Betrachtung bzw. Verortung derselben. IV. Der nachfolgende, das Kapitel beschließende Abschnitt nimmt weitere Aspekte der Grenz(land)thematik auf und setzt diese mit den zuvor genannten in Bezie‐ hung: Ganz nah schon der Grenze fiel mir Kaganowitsch ein, der mich für den Fall unseres Sieges zu einem Fest nach Moskau eingeladen hatte. Es war eine sternenklare, kalte Nacht. Der große Bär stand über dem Warndt, dort, wo die Maginot-Linie unterbro‐ chen war. Ich begegnete weder einem Grenzwächter noch einem Nazi. Sie feierten alle. Aus dem Tal von Saarbrücken schossen Raketen; vom Winterberg glühte ein Freudenfeuer. 11 33 Grenzdiskurse bei Gustav Regler I 12 Ebd. 13 Vgl. beispielsweise das Gedicht Die Sternseherin Lise. In: Matthias Claudius: Werke. Asmus omnia sua secum portans oder Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten. Hrsg. von Urban Roedel. Stuttgart 1954, S. 665. Indem der einsame Weg, den das erzählte Ich durch Nacht und Kälte nimmt, mit den Bildern der Feiernden, der Raketen über dem Tal und dem leuchtenden Feuer über der Stadt kontrastiert, veranschaulicht der Text die Verlassenheit, die mit dem Gang in die Emigration verbunden ist. Der Grenzübertritt erscheint in dieser Lesart auch als ein Schritt in die soziale Isolation. Das Pathos, mit dem dies inszeniert wird, unterstreicht den Aspekt zusätzlich. Zugleich wird das Persönliche, das in diesem Erleben liegt, mit dem Zeitge‐ schichtlichen in ein Verhältnis gesetzt. Denn die Nennung der von dem französischen Verteidigungsminister André Maginot zwischen 1930 und 1940 errichteten Verteidigungsanlage verweist auf die konfliktgeladenen deutsch-französischen Beziehungen in dem Jahrzehnt, das dem Zweiten Welt‐ krieg vorausging. Aber noch eine weitere Dimension der Erfahrung von Grenze wird in diesem Textabschnitt sichtbar: Die imaginäre Linie der politischen To‐ pographie, die Nationen, Macht- und Einflusssphären voneinander scheidet, aber keine Entsprechung in der Topographie der Landschaft hat, ist mit diesem Verteidigungssystem entlang der französischen Grenze zu Belgien, Luxemburg und dem Deutschen Reich dinghaft geworden. Dass der Erzähler bei seinem nächtlichen Grenzübertritt um eine Stelle weiß, „wo die Maginot-Linie unter‐ brochen war“, kann deshalb als ein Sinnbild für die Position des Schriftstellers zwischen Deutschland und Frankreich gelesen werden. 12 Während die Natur solchermaßen von der Kultur verdrängt und überformt worden ist, richtet sich der Blick des erzählten Ich in dem Bericht über seine nächtliche Flucht auf den weiten, unbegrenzten Sternenhimmel. Vor dem Hin‐ tergrund politischer Ideologien, kriegerischer Auseinandersetzungen und lebensgeschichtlicher Krisen verweist Reglers Erinnerungsbuch damit auf den Widerspruch zwischen der Existenz in der realen Geschichte und den idealen Möglichkeiten des Seins, die der Mensch zu denken vermag. Diese Ausweitung der Perspektive, die literaturwie ideengeschichtlich in der Nachfolge der Dich‐ tungen Matthias Claudius’ steht, ist daher auch als eine Metapher für die Ver‐ geblichkeit einer Littérature engagée in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. 13 Aus der Retrospektive der Nachkriegszeit unternimmt Gustav Regler den Versuch einer Einordnung seiner Arbeit als politischer Schriftsteller. Die meta‐ phorische Funktion, welche die Grenze im Zusammenhang seiner Lebenserin‐ nerungen hierbei gewinnt, hebt die Einsicht hervor, dass allem Trennenden stets 34 Sikander Singh 14 GRW, Bd. X, S. 9. 15 Ebd., S. 371. ein Moment von Gewalt immanent ist. Einer Gewalt, mit der Menschen die Möglichkeiten anderer Menschen (aber auch ihre eigenen) einschränken und beschränken; einer Gewalt, die sowohl eine schirmende, schützende Funktion hat, als auch limitierend wirkt. Durch das Zeugnis des eigenen Erlebens verleiht der Schriftsteller diesem humanistischen Gedanken eine Beglaubigung. Dass die autobiographische Darstellung zu Teilen von der historischen Wahrheit ab‐ weicht, sie verdichtet und überformt, stilisiert und inszeniert, ist für die Aussage wie Programmatik der literarischen „Lebensgeschichte“, wie Regler sein Werk im Untertitel charakterisiert, unerheblich. 14 Der Diskurs über die Grenze, die paradoxe Mehrdimensionalität ihrer Be‐ deutungen sowie ihre politischen wie literarischen Implikationen bestimmen auch die weitere Gestalt des Erinnerungsbuches. Dieser Beitrag wird deshalb abschließend zwei Schilderungen betrachten, die weitere Aspekte des Themen‐ komplexes beleuchten. Da ist zunächst jener Abschnitt zu Beginn des ersten Kapitels des Fünften Buches anzuführen, in dem das erzählte Ich von einem Grenzübertritt von Frankreich nach Spanien berichtet. Im September des Jahres 1936 verlässt er mit anderen Freiwilligen Paris, um auf Seiten der Republik gegen den Staatsstreich der spanischen Faschisten zu kämpfen. In dem Weg, der ihn über die Pyrenäen zu den Internationalen Brigaden führt, wiederholt sich der Weg, den er, ebenfalls als Freiwilliger und ebenfalls von Paris kommend, in seine alte Heimat, an die Saar, genommen hat. Das Ohr des Malchus ist nach dem narrativen Prinzip der Spiegelungen auf‐ gebaut. Jede Erfahrung, jede Szene und jede Begegnung hat eine Entsprechung, die in einem Korrespondenzverhältnis zu ihr steht; die Abschnitte und Stationen des erzählten Lebensweges kommentieren einander. In diesem Sinne sind die politische Agitation im Saarkampf und das militärische Engagement im Spani‐ schen Bürgerkrieg aufeinander bezogen. (Dies zeigt sich auch in der Rolle der kommunistischen Partei, über die das Buch in der Darstellung beider Lebens‐ abschnitte nachdenkt und zu der das erzählte Ich seine eigenen Positionen in ein Verhältnis zu setzen sucht.) Während die Begegnung mit der „SA auf dem Bahnsteig“ sowie mit Polizisten mit Hakenkreuzbinden in Serrig an der Saar als ängstigend und einschüchternd geschildert wird, hat die Szene mit dem französischen Douanier eine humoris‐ tische Qualität: 15 Wir sahen schon den spanischen Milizionär hinter dem Grenzbaum stehen und fühlten, wir müßten vorwärtspreschen in seinen Schutz hinein, aber wir gehorchten 35 Grenzdiskurse bei Gustav Regler I 16 Ebd., S. 446. dann doch dem Wink des französischen Zöllners und hielten. Er prüfte lange unsere Papiere. Dann kam die Mittagszeit, in der jeder Franzose von Kultur nur noch die Stimme des Magens hört. […] Unser Beamter trat vor die Tür des kleinen Häuschens. „Ich fahre zum déjeuner“, sagte er. „Was während der Mittagspause hier geschieht, geht mich nichts an.“ 16 Die Darstellung spielt nicht nur mit klischeehaften Vorstellungen nationaler Eigenart, die seit dem späten 18. Jahrhundert tradiert worden sind. Indem der Grenzbeamte seinen persönlichen Ermessensspielraum nutzt, um dem erzählten Ich und seinen Gefährten zur Ausreise zu verhelfen, zeigt die autobiographische Erzählung Möglichkeiten eines notwendigen, weil moralisch richtigen Unge‐ horsams auf. Auf diese Weise veranschaulicht der Text eine der übertragenen Bedeutungen des Grenz-Begriffs: Das Zusammenleben von Menschen in sozialen Gemeinschaften wird durch Gesetze und Normen reguliert, welche die Ent‐ faltung des Einzelnen einerseits befördern, andererseits limitieren. Die humane Haltung, die hinter der Genreszene in Reglers Erinnerungsbuch aufscheint, sieht im Wohlergehen des Menschen den Maßstab sittlichen Handelns: Grenzen und Begrenzungen sind lediglich dann sinnhaft, wenn sie eine Funktion im Hinblick auf den Menschen haben; kehrt sich diese Relation um, werden sie zu einem Instrument totalitärer Herrschaft. V. Inwiefern die Frage nach der Freiheit des Individuums im Kontext des Diskurses über Grenzen fassbar wird, zeigt ein Abschnitt aus dem Sechsten Buch der Auto‐ biographie. Dem erzählten Ich ist es - vornehmlich durch die Fürsprache nam‐ hafter Freunde gelungen - Europa zu verlassen. Bevor er jedoch in die Verei‐ nigten Staaten von Amerika einreisen darf, muss er einige Tage auf Ellis Island verbringen, jener der Stadt New York vorgelagerten Insel im Mündungsgebiet des Hudson River, auf der die Einwanderungsbehörde über die Einreiseerlaubnis für Immigranten entscheiden musste. Sowohl die Schiffspassage über den At‐ lantik als auch der Aufenthalt auf der Insel werden verkürzt wiedergegeben; der Erzähler fokussiert nicht die Erlebnisse der Reise, sondern ihr Ergebnis: Acht Tage später waren wir in Ellis Island; ein Gefängnis, aber kein Luftalarm mehr; Eisengitter, aber kein Maschinengewehr davor. Manhattan leuchtete wie ein Verspre‐ 36 Sikander Singh 17 Ebd., S. 595. 18 „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschenge‐ schlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde nie‐ mandem.‘“ (Jean Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Hrsg. von Heinrich Meier. Paderborn 2008, S. 173.) chen. Luxusessen, nachts saubere Decken, am Morgen heiße Bäder. Nach zwei Tagen waren wir frei! 17 An der Grenze der Vereinigten Staaten macht das erzählte Ich zwar die Erfah‐ rung einer erneuten Gefangenschaft. Indem diese aber mit den Gefahren und Begrenzungen des europäischen Kontinents verglichen wird, verliert sie als ein transitorischer Zustand ihren Schrecken. Der letzte Grenzübertritt, von dem Das Ohr des Malchus erzählt, bezeichnet den Weg des erzählten Ich aus dem durch Grenzen zerschnittenen, zerteilten, zergliederten Europa in das freie, grenzenlose Amerika. Wenngleich diese Darstellung von einer ahistorischen Stilisierung bestimmt wird, zeigt sie die Funktion der Grenze als eine Zone des Übergangs. In diesem positiven Bild liegt die Einsicht, dass Grenzen als mate‐ rialisierte Schnittstellen zwischen Staaten nicht nur Paradigmen der Spaltung, der Teilung und Trennung sind, sondern, indem sie dazu beitragen, Identität und Selbstbild einer Nation zu stabilisieren, Freiheit ermöglichen. In der Erzählung seiner Lebensgeschichte denkt Gustav Regler über Grenzen als symbolische Repräsentationen nach, über das Recht des Einzelnen und die Begrenzungen seiner Möglichkeiten, über die Dialektik von Freiheit und Un‐ freiheit als bestimmende Größe seiner Epoche. Schließlich regt die Autobiogra‐ phie einen kritischen Diskurs über das Unrecht an, das jedem Versuch immanent ist, das kulturell Gemachte einer Grenzziehung absolut zu setzen. Regler ist damit auch in der ideengeschichtlichen Tradition Jean Jacques Rousseaus zu lesen, der in seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen aus dem Jahr 1755 die Re‐ gelung von Besitzverhältnissen - und das Setzen von Grenzen ist sichtbarer Ausdruck derselben - als eine Abkehr vom Prinzip der Natur auffasst. In der Ver- und Aufteilung von Land, das - nach Rousseau - in dem glücklichen Urzustand des Menschen Gemeingut war, an dem alle Menschen gleicher‐ maßen partizipierten, liegt der Beginn der „bürgerlichen Gesellschaft“, ihrer Vorstellungen von Eigentum und Wert. 18 Das Ohr des Malchus begegnet dem 37 Grenzdiskurse bei Gustav Regler I Nationalismus des 19. Jahrhunderts und seinen Folgen, aber auch den Ideo‐ logien des 20. Jahrhunderts mit dieser aufgeklärten Denkfigur und unter‐ streicht auf diese Weise den Anspruch und die fortwährende Notwendigkeit einer Littérature engagée. 38 Sikander Singh 1 Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. von der Klassik Stiftung Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin und Paris 1970 ff., Bd. II, S. 297. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 299. Grenzdiskurse bei Gustav Regler II Das Erinnerungsbuch Das Ohr des Malchus im Kontext literarischer Reflexionen über die Grenze Sikander Singh I. „Und als ich an die Grenze kam, / Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen / In meiner Brust, ich glaube sogar / Die Augen begunnen zu tropfen“, bekennt der Reisende in dem Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen. 1 Das 1844 veröffentlichte Werk des deutsch-französischen Dichters Heinrich Heine erzählt von einer Reise, die im „traurigen Monat November“ von Paris über Aachen, Köln, Hagen, Paderborn und Minden nach Hamburg führt. 2 Der Winterreisende thematisiert zum einen die Zustände in den Staaten des Deutschen Bundes unter der Ägide des österreichischen Staatskanzlers Metternich, zum anderen seine eigene Situation, seine Befindlichkeit als Exilant, der nach langen Jahren der Abwe‐ senheit die Heimat besucht und aus einer Perspektive, in der sich enttäuschte Vaterlandsliebe und das Gefühl von Fremdheit abwechseln, die deutschen Ver‐ hältnisse betrachtet. Der Grenzübertritt, mit dem das Versepos beginnt, hat vor diesem Hinter‐ grund eine programmatische Bedeutung: Während seine Koffer von „preußi‐ schen Douanièrs“ durchsucht werden, denkt der Heimkehrende noch einmal über die widerstreitenden Gefühle in der Heimat und der Fremde nach, über die Erfahrungen, die ein Homme de lettres macht, der mit dem Vaterland nicht nur die Heimat, sondern auch die Sprache verliert - und mit der Sprache seine Leser. 3 Das ist ein altes, wiederkehrendes Thema der Literatur im Exil. Bereits 4 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1972-1989, Bd. V/ 1, S. 45. 5 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793-1801, Bd. II, Sp. 777. im Werk des römischen Dichters Publius Ovidius Naso, der die letzten Jahre seines Lebens in der Verbannung am Schwarzen Meer verbringen musste, wird Klage geführt über diesen Verlust. Während aber Ovid Rom verlassen musste, um in einem Randbezirk des römischen Imperiums ein einsames Leben zu führen, lebte Heine seit 1831 in Paris, der größten Metropole des europäischen Kontinents - der „Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, wie Walter Benjamin, ein anderer deutscher Exilant, einhundert Jahre später formulieren wird. 4 Ge‐ meinsam ist beiden Dichtern jedoch die Erfahrung, durch die räumliche Ent‐ fernung sich auch geistig der Heimat entfremdet zu haben. So legt das Winter‐ märchen auch Zeugnis von einer emotionalen und intellektuellen Alterität ab, die nach dem Grenzübertritt und der Rückkehr in die Heimat umso deutlicher in das Bewusstsein tritt. Die Bedeutung, die der Grenze als Staats- und Kulturgrenze in diesem Zu‐ sammenhang zukommt, ist zwar schon in den Betrachtungen des römischen Dichters erkennbar, die Signifikanz der Grenze als eines politisch wie kulturell prägenden Paradigmas ist jedoch erst seit dem 18. Jahrhundert zu beobachten. Insbesondere an der Geschichte des Begriffs ist dieser Prozess ablesbar. So ver‐ zeichnet Johann Christoph Adelung in seinem Grammatisch-kritischen Wörter‐ buch der Hochdeutschen Mundart zwar bereits das Wort der Grenze, definiert sie aber zunächst als „das Letzte an einem Dinge, dasjenige, wo ein Ding aufhöret, in welchem weitesten Verstande es im Plural am häufigsten ist; die Schranken.“ Nach einigen, im Stil des aufgeklärten Jahrhunderts ausführlichen Erläute‐ rungen kommt er schließlich auf die räumliche Dimension des Begriffes: „In engerer Bedeutung, das Ende eines Gebiethes, dasjenige, wo ein Gebieth auf‐ höret […].“ 5 Vor dem Hintergrund der Vielzahl von kleinen und kleinsten Herrschaften, die das Heilige Römische Reich Deutscher Nation prägten, ist auffallend, dass Adelung im Rahmen seiner begrifflichen Bestimmungen die Grenze als politi‐ sche Kategorie zuletzt benennt. Der Reisende des 18. Jahrhunderts musste zwar, wenn er sich auf den Weg von Königsberg nach Aachen machte, zahllose Grenzen überqueren. In dem von dem dynastischen Prinzip bestimmten Alten Reich verschoben sich die Grenzen jedoch aufgrund von Erbfällen beständig. Vor allem aber verband sich mit dem Konzept staatlicher Organisation keine 40 Sikander Singh 6 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961, Bd. IX, Sp. 128. 7 Vgl. hierzu u. a. das Kapitel Topographische Verteilung - Grenz und Kerngebiete. In: Andreas Schumann: Heimat denken. Regionales Bewußtsein in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1914. Köln [u. a.] 2002, S. 59-78. ideologische oder weltanschauliche Position, sondern lediglich die Vorstellung eines feudalen Herrschaftsgebietes. Insbesondere dieser Gedanke wird in der Erläuterung des Begriffs durch Adelung sichtbar. In Jacob und Wilhelm Grimms Deutschem Wörterbuch wird demgegenüber nach einer einführenden Darstellung der Etymologie des Wortes folgende De‐ finition angeführt: im eigentlichen sinne bezeichnet grenze die gedachte linie, die zur scheidung von gebieten der erdoberfläche dient; der sprachgebrauch vergröbert vielfach den begriff, indem er ihn überträgt auf die äuszeren merkmale, denen die grenze folgt, z. b. wälle, wasserläufe, gebirgszüge. 6 Die Wörterbücher von Johann Christoph Adelung und Jacob und Wilhelm Grimm werden nicht nur von jenen fünfzig Jahren geschieden, die zwischen ihrem Erscheinen liegen. In der Geschichte des Begriffs, die sich in den Defini‐ tionen der Lexikographen spiegelt, wird der Übergang vom Feudalismus des 18. Jahrhunderts zu der Vorstellung des modernen Nationalstaates, welche die Geschichte sei dem 19. Jahrhundert bestimmt, dokumentiert. II. Indem das Deutsche Wörterbuch von der Grenze als einer „gedachten linie“ spricht, verweisen die Autoren darauf, dass Grenzen politische und ökonomi‐ sche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen zwar beeinflussen und wesenhaft prägen, aber dennoch nur als Konstrukte zu verstehen sind. Die „scheidung von gebieten der erdoberfläche“ beruht lediglich in Ausnahmefällen auf zwingenden Gegebenheiten der Topographie - einem Fluss, einer Meeres‐ küste, einem Gebirgs- oder Höhenzug. Weitaus häufiger markieren Grenzen eine imaginäre Trennung zweier Territorien, die aus historischen Bedingungen entstanden ist oder in spezifischen Machtverhältnissen ihre Begründung findet, weshalb es künstlicher Merkmale und Kennzeichnungen bedarf, diese sichtbar und dauerhaft verifizierbar zu machen. 7 In Das Ohr des Malchus erzählt Regler von Spaziergängen, die ihn an der Hand des Vaters in der Nähe seiner Heimatstadt Merzig, zwischen Hilbringer Wald und Märchengrund, zu der Grenze zwischen der Preußischen Rheinprovinz und 41 Grenzdiskurse bei Gustav Regler II 8 GRW, Bd. X, S. 36f. dem Reichsland Elsaß-Lothringen führten. Ob diese literarische Erinnerung auf einer wahren Kindheitsbegebenheit gründet oder eine in programmatischer Absicht überformte Fiktion ist, ist nicht zu entscheiden. Reglers autobiographi‐ sche Reflexion zeigt auf, dass bereits ein Kind das Willkürliche und Zufällige politischer Grenzziehungen zu verstehen vermag. Worauf die Nationalstaaten seit dem späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert wesentliche Aspekte ihrer Iden‐ tität und Legitimität gründen, wird solchermaßen als imaginär dekuvriert: Ostern zog er mit uns über die Felder und Hügel und lehrte uns die „wichtige Umge‐ bung“ kennen […]. Wenn wir dann „ganz am Anfang“ angelangt waren, wo es keine Geographie mehr gab, lenkte er wohl zur alten viel umstrittenen Grenze zwischen Deutschland und Frankreich hin und ließ uns an bestimmten Stellen Blumen pflücken oder das Fallobst von verschiedenen Bäumen probieren; unvermittelt fragte er uns: „Welcher Apfel ist französisch? “ Wir hielten die angebissenen Äpfel still vor unsern Mündern und sahen auf die Baumallee, die aus dem Unendlichen zu kommen schien und sich in das Unendliche fortsetzte. Wir verstanden ihn früh: er glaubte nicht an Grenzen. 8 Auch wenn Regler seine Geburtsstadt bereits früh verlassen hat und lediglich im Kontext des Abstimmungskampfes der Jahre 1933 bis 1935 für längere Zeit in das Saargebiet zurückkehrte, bewies sich die Erfahrung der französischen und der deutschen Traditionen, die in dieser Grenzregion einander sowohl wech‐ selseitig durchdringen und ergänzen als auch gegeneinander streiten, als be‐ stimmend für sein Denken. Die Episode, von der er in jenen einleitenden Kapi‐ teln seiner Autobiographie erzählt, die der Kindheit und Jugend in Merzig gewidmet sind, überführt darüber hinaus eines der großen Themen seines Lebens in ein literarisches Bild. So ist die vom Vater anschaulich vermittelte Einsicht in das Konzept der Grenze als Konstrukt der Hintergrund für die Beschreibung eines Lebens im Spannungsfeld der nationalistischen Verwerfungen und ideologischen Kon‐ flikte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zudem grundiert sie die Berichte aus den drei Kriegen, die Reglers private wie literarische Existenz wesentlich bestimmt haben: Nach dem Abitur wurde er als Infanterist zum kaiserlichen Heer eingezogen und erlitt an der Westfront eine schwere Gasvergiftung. In seiner Autobiographie beschreibt er sich deshalb als Angehörigen einer vom Krieg gezeichneten Generation. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er als Po‐ litischer Kommissar bei den Internationalen Brigaden gegen die von General Francisco Franco angeführten spanischen Faschisten. Auch dort wurde er 42 Sikander Singh 9 Matth. 26, 51 f. Zitiert nach GRW, Bd. X, S. 10. 10 Das Manuskript des Gedichts, das bislang nicht im Druck erschienen ist, wird im Lite‐ raturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes aufbewahrt. schwer verwundet. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er wie viele andere deutsche Exilanten in Frankreich als feindlicher Ausländer interniert. Nach seiner Entlassung im März 1940 konnte er das Land, noch vor dem Einmarsch der deutschen Truppen, verlassen und in die Vereinigten Staaten von Amerika ausreisen. Asyl fand er schließlich in Mexiko; von dort verfolgte er das Ge‐ schehen auf den europäischen Kriegsschauplätzen, um sich sowohl in Tagebü‐ chern als auch in Korrespondenzen damit auseinanderzusetzen. Regler zählt zwar nicht zu jenen Autoren des 20. Jahrhunderts, die aus ethi‐ schen Erwägungen den Krieg prinzipiell ablehnen; die autobiographische Dar‐ stellung seines Lebens entwickelt jedoch die Bildungsgeschichte eines Intellek‐ tuellen, der durch die aktive wie publizistische Teilnahme an verschiedenen Kriegen zu der Einsicht gelangt, dass Konflikte nicht durch Waffengänge gelöst werden können. In diesem Sinne verweist bereits der Titel seines Erinnerungs‐ buches Das Ohr des Malchus im Anklang an das 26. Kapitel des Matthäus-Evan‐ geliums auf ein Wort Jesu Christi, das eine der neutestamentarischen Grund‐ lagen ist, auf die sich der religiöse Pazifismus beruft. Die Passage ist Reglers Autobiographie zudem als Motto vorangestellt: „Und siehe, einer aus denen, die mit Jesus waren, reckte die Hand aus und zog sein Schwert aus und schlug des Hohenpriesters Knecht und hieb ihm ein Ohr ab. Da sprach Jesus zu ihm: Stecke dein Schwert an seinen Ort! denn wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen.“ 9 Nicht zuletzt spiegelt sich die pazifistische Haltung, die Regler als eine der Lehren seines widersprüchlichen Lebens verstanden hat und die als solche we‐ sentlich in den frühen Erfahrungen im Spannungsfeld des deutsch-französi‐ schen Grenzgebietes begründet liegt, in der Überlegung, das Gedicht Guernica als eine Mahnung und Warnung an den Schluss seiner Autobiographie zu setzen. 10 Die im Mai 1956 entstandene Anti-Kriegs-Dichtung ist eine lyrische Reflexion über Pablo Picassos Gemälde von der Zerstörung der baskischen Stadt durch deutsche Kampfflugzeuge der Legion Condor im Jahr 1937. III. Ausgehend von der Beobachtung, dass die „Grenze zwischen Deutschland und Frankreich“ sein „persönliches Schicksal“ sei und seinen „Blick an dem Schnitt‐ punkt zweier Völker besonders geschult“ habe, denkt der Schriftsteller, Essayist und Übersetzer René Schickele in einer Ansprache, die er im Juni des Jahres 1928 43 Grenzdiskurse bei Gustav Regler II 11 René Schickele: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Hermann Kesten unter Mitarb. von Anna Schickele. Köln und Berlin 1959, Bd. III, S. 1001. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 1003. auf der Tagung des Rheinischen Dichterbundes gehalten hat, über Erscheinungs‐ formen wie Erfahrungen der Grenze nach. 11 Wenngleich seine Betrachtungen nicht auf die Grenze als völkerrechtlich-politische Entität beschränkt bleiben, sondern darüber hinaus an diesen Begriff angelehnte, soziale und ökonomische Konzeptualisierungen thematisieren, sind die Konflikte und Fragestellungen, die sich in seiner elsässischen Heimat aus der Konfrontation der kulturellen Traditionen Deutschlands und Frankreichs ergeben, der zentrale Gegenstand seiner Überlegungen. Die Geschichte des schmalen Landes zwischen Vogesen und Rhein, Pfälzer‐ wald und Jura, in der sich seit Jahrhunderten die machtpolitische Dialektik zwi‐ schen Deutschland und Frankreich spiegelt, wird in der Deutung dieses Schrift‐ stellers, der 1883 in Oberehnheim als Sohn eines deutschen Weingutbesitzers und einer französischen Mutter geboren wurde und bis zu seiner Emigration unter dem Eindruck der drohenden nationalsozialistischen Machtergreifung im alemannischen Kulturraum lebte, zu einem Exempel für die Chancen und Po‐ tentiale eines Europäertums, das die Denkmuster und die nationalstaatlichen Grenzen des 19. Jahrhunderts überwindet: „Nein, das Elsaß ist vor allem Prüf‐ stein für die Aufrichtigkeit des Verhältnisses zwischen Deutschland und Frank‐ reich, und dann bin ich davon durchdrungen, daß dies Verhältnis entscheidend ist für die Zukunft des Kontinents, und zwar nicht in einer mehr oder minder fernen Zeit, sondern heute und morgen.“ 12 Die Idee eines friedlichen Miteinanders der europäischen Völker in der Kon‐ sequenz einer deutsch-französischen Aussöhnung argumentiert aus der Erfah‐ rung regionaler Herkunft. Denn das Elsass ist in Schickeles Wahrnehmung weder deutsch noch französisch; seine kulturelle Eigenart und Identität hat sich vielmehr durch den gleichberechtigten und wechselseitigen Einfluss beider Traditionen herausgebildet. In diesem Sinne konstatiert der Schriftsteller im Hinblick auf die im 19. und 20. Jahrhundert mehrfach gewechselte staatliche Zugehörigkeit der Region: „Zu Tausenden leben an unsrer Grenze Menschen, die vor dem Krieg als Franzosenfreunde galten, und heute gelten sie mit eben‐ solcher Bestimmtheit als Deutschenfreunde. Des Rätsels Lösung wäre einfach genug: sie sind beides zugleich.“ 13 Aus dem Erlebnis der Grenze, wie Schickele seine Rede überschrieben hat, aus der Erfahrung seines Lebens, aber auch aus der Beschäftigung mit der Ge‐ schichte erwächst für den Schriftsteller die Einsicht, dass die Grenze als Schei‐ 44 Sikander Singh 14 Ebd., S. 1005. 15 Ebd., S. 1001. delinie konkurrierender, politischer Einflussbereiche weder der historisch ge‐ wachsenen Eigenart des Elsass noch der Lebenswirklichkeit seiner Bewohner gerecht wird. Indem Schickele das politikwie ideengeschichtlich Trennende und Abgeschiedene, das durch die deutsch-französische Grenze manifest wird, zugleich als ein Sinnbild für die Fortschreibung nationalistischer und chauvi‐ nistischer Diskurse liest, vermag er zu argumentieren, dass die „Überwindung der Grenze“ auch die „Überwindung der nationalen Eitelkeiten und Gewaltan‐ sprüche“ bedeutete. 14 Die Dekonstruktion des die politische Ideenwelt wie die Lebenswirklichkeit seiner Zeit prägenden Konzeptes der Grenze ist die wesent‐ liche Voraussetzung für den Frieden in Europa. IV. Die Konfrontation zwischen Deutschland und Frankreich ist auch eine der Grunderfahrungen im Leben und Werk des Schriftstellers Yvan Goll. So gehörte sein Geburtsort Saint-Dié-des-Vosges zwar zu jenem Teil Lothringens, der nach dem Krieg der Jahre 1870/ 1871 nicht vom Deutschen Reich annektiert wurde, sondern Teil der Französischen Republik blieb. Als Goll sechs Jahre alt war, übersiedelte die Familie allerdings nach Metz, der Verwaltungs- und Garnisons‐ stadt im deutschen Reichsland Elsaß-Lothringen. Wenngleich der Schriftsteller, wie Schickele, seinen „Blick an dem Schnittpunkt zweier Völker besonders ge‐ schult“ hat, wird die Problematik der Grenze als politisches und kulturelles Pa‐ radigma in seinen Dichtungen und Schriften jedoch nur implizit thematisiert. 15 Indem Goll zu Beginn des Ersten Weltkrieges in die neutrale Schweiz emig‐ rierte, weil er aufgrund seiner französischen Herkunft nicht auf Seiten Deutsch‐ lands gegen Frankreich kämpfen wollte, erlangte die Frage nach der Zugehö‐ rigkeit zu einer der beiden Nationen und der daraus begründeten Identität eine über das Persönliche hinausweisende Signifikanz. Der junge Schriftsteller, der in Zürich, Lausanne und Ascona, wo er zwischen 1914 und 1919 abwechselnd lebte, sich jener Gruppe von Künstlern und Intellektuellen um Romain Rolland und Henri Guilbeaux anschloss, die publizistisch für Frieden und Völkerver‐ ständigung im Sinne einer europäischen Idee eintrat, beginnt während dieser Jahre in seinen Dichtungen über die deutsche und die französische Sprache nachzudenken, in denen er seit seiner Kindheit gleichermaßen verwurzelt ist. Sowohl die Elégies internationales. Pamphlets contre cette guerre aus dem Jahr 1915 und das 1917 publizierte Requiem für die Gefallenen von Europa als auch 45 Grenzdiskurse bei Gustav Regler II 16 Yvan Goll: Die drei guten Geister Frankreichs. In: Kasimir Edschmid (Hrsg.): Tribüne der Kunst und Zeit. Eine Schriftensammlung. Berlin 1919, S. 29f. 17 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Frankfurt am Main 1980, S. 202. die publizistischen Arbeiten dokumentieren neben der Hinwendung zu der Bildlichkeit und Metaphorik des Expressionismus ein Bewusstsein dafür, dass die geistig-weltanschaulichen Positionen, die sein Denken als Reaktion auf den Waffengang der europäischen Völker bestimmen, dass der Kosmopolitismus, der Humanismus und der Pazifismus, stets bezogen sind auf seine Herkunft im Spannungsfeld der deutschen und der französischen Kultur und Sprache. Der daraus sich ableitende Auftrag, mit den Mitteln und Möglichkeiten der Literatur als Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich aufzutreten, wird so zu dem Grundthema seines Schaffens über die Zeit des Ersten Weltkrieges hinaus. Das Engagement für eine friedliche, geistig-humanistische Verständigung der Völker über Grenzen und Sprachen findet bei Yvan Goll jedoch primär eine Begründung im Individuellen. So schreibt er in dem Beitrag Die drei guten Geister Frankreichs: Der erste und entscheidende Grund für unsere antikriegerische Gesinnung ist die Erkenntnis, daß der Krieg, in so mancher Hinsicht, aus der Verleugnung der mensch‐ lichen Persönlichkeit entsprang. […] was das Individuum betrifft: Es bedingt zunächst den Respekt der menschlichen Persönlichkeit. […] da aber hören aller „Fortschritt“, alle „Eroberungen“ der Zivilisation auf, auf die der Bürger so angeregt pocht. Und gerade in diesem Sinn bedeutet der Krieg den Ruin der Zivilisation. […] Für uns, die wir Menschen sind und sein wollen, ist die menschliche Persönlichkeit der einzig achtbare Wert. 16 In Golls pazifistischen Positionen, die geistesgeschichtlich gleichermaßen in den Diskursen des deutschen Idealismus wie der französischen Aufklärung ihre Be‐ gründung und Verortung finden, spiegelt sich einerseits die Skepsis gegenüber kollektiven Instanzen und Institutionen in der Nachfolge der Revolution von 1789 und andererseits der (neu-)romantische Glaube an die Möglichkeiten der Kunst, Bedingungen für einen ebenso umfassenden wie dauerhaften Frieden zu schaffen. In seinem im brasilianischen Exil entstandenen Erinnerungsbuch Die Welt von Gestern betont Stefan Zweig deshalb, dass sowohl Schickele als auch Goll „Deutschland und Frankreich als Brüder“ sahen, dass sie für „Verständigung statt Befeindung“ eintraten und auch „um beide und für beide“ litten. 17 Golls Enga‐ gement für eine friedliche, geistig-humanistische Verständigung der Völker über Grenzen und Sprachen ist allerdings nicht nur aus der für seine Zeitgenossen nicht zu konzeptualisierenden, doppelten Identität als deutscher und französi‐ 46 Sikander Singh 18 Yvan Goll: Von neuer französischer Dichtung. In: Die Neue Rundschau (1920) Nr. 31/ 1, S. 103-110, hier S. 104. scher Schriftsteller zu deuten: In seinem Denken macht sich auch der Einfluss seiner jüdischen Herkunft geltend. Das Bewusstsein für die Bedeutung der Sprache als Paradigma kollektiver wie individueller Identität ist auch ein Erbe des Umgangs mit der Sprache in der jüdischen Religionspraxis. Das Unbestimmte und Unbestimmbare zwischen Deutschland und Frank‐ reich, jüdischer und christlicher Tradition gerinnt in den Dichtungen und Schriften, die Goll während des Ersten Weltkrieges im Exil in der Schweiz ver‐ öffentlicht, zwar in einer Gebrochenheit, die als Signum der Moderne gelesen werden kann. Sein Werk vermag jedoch zugleich die divergenten Erfahrungen der Grenze, der Begrenzung und der Abgrenzung als gedanklich notwendige Voraussetzung für jene „Menschfreundschaft“ produktiv werden zu lassen, die er in einem Beitrag für die Neue Rundschau des S. Fischer Verlages als in der Zeit notwendige „politische Geste“ definiert. 18 V. Die Grenze reguliert in einem staatsrechtlichen Sinne das Mit- und Nebenein‐ ander von Gesellschaften; sie hat als Paradigma der Unterscheidung und Tren‐ nung eine das kollektive Bewusstsein der Nationen und ihre Geschichte zugleich konstituierende wie stabilisierende Funktion. Solchermaßen ist sie zwar ein wesentlicher Aspekt des kulturellen Gedächtnisses, die pazifistischen Diskurse in den Werken Gustav Reglers, René Schickeles und Yvan Golls zeigen jedoch, dass die Herkunft aus dem Spannungsfeld der deutsch-französischen Grenzge‐ biete eine kritisch-reflexive Haltung gegenüber der nationalistischen Idee der Grenzziehung und Unterscheidung ermöglicht. In den Regionen entlang der deutsch-französischen Grenze, im Elsass, in Lothringen und im Saargebiet, hat nicht nur der im 19. und 20. Jahrhundert wiederholte Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit ein Bewusstsein für das his‐ torisch Bedingte und Relative von Landesgrenzen hervorgebracht. Indem die Landschaftsbilder topographisch ineinander übergehen und sowohl die Alltags‐ kultur und -tradition als auch die Sprache die Menschen verbinden, konnte eine Identität entstehen, die nicht durch die Abgrenzung von dem politisch oder kulturell Anderen definiert ist. Die Werke der drei Exil-Schriftsteller diskutieren deshalb nicht die für das Selbst- und Fremdbild der Nationen konstitutive Frage der Identitätsbildung, sie begründen stattdessen die historische Notwendigkeit, Grenzen zu überwinden. 47 Grenzdiskurse bei Gustav Regler II 19 Vgl. Günter Häntzschel: Literatur und Pazifismus. In: Hans-Christoph Graf von Ney‐ haus / Krysztof A. Kuczyński (Hrsg.): Im Dialog mit der interkulturellen Germanistik. Warschau 1993, S. 61-68. 20 Heine: Säkularausgabe (Anm. 1), Bd. II, S. 358. Zugleich dokumentiert das Denken dieser Autoren unterschiedliche Traditionen, die den pazifistischen Diskurs im 20. Jahrhundert geformt haben. 19 So spiegelt sich in den Schriften Yvan Golls die Erfahrung der Fremdheit, die ei‐ nerseits durch die doppelte Identität als Deutscher und Franzose begründet, an‐ dererseits von der jüdischen Herkunft des Dichters bestimmt wird. Dieser Pa‐ zifismus aus dem Geist der Alterität kontrastiert mit den Positionen René Schickeles, der, indem er seine Verwurzelung im alemannischen Sprach- und Kulturraum betont, den Internationalismus seines Denkens aus dem Regiona‐ lismus begründet. Gustav Regler schließlich folgte jenen politischen Hoff‐ nungen und Ideologemen, welche die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben, und gelangte deshalb erst am Ende seines Lebensweges zu der Einsicht in die Notwendigkeit eines friedlichen Miteinan‐ ders der europäischen Völker. Nicht zuletzt schreiben Regler, Schickele und Goll auch die Denktradition Heinrich Heines fort, der in dem Vorwort zu Deutschland. Ein Wintermärchen einerseits über den engherzigen deutschen Nationalismus seiner Epoche nachdenkt, andererseits aber eine Hoffnung formuliert auf den Frieden in Europa: Ich bin der Freund der Franzosen, wie ich der Freund aller Menschen bin, wenn sie vernünftig und gut sind, und weil ich selber nicht so dumm oder so schlecht bin, als daß ich wünschen sollte, daß meine Deutschen und die Franzosen, die beiden auser‐ wählten Völker der Humanität, sich die Hälse brächen […]. 20 48 Sikander Singh 1 Dieser Beitrag ist eine Überarbeitung meines Aufsatzes: Lebensbericht und Lebensmetapher. Die Biographien und Autobiographien Otto Flakes und Gustav Reglers im Vergleich. In: Françoise Lartillot / Frédéric Teinturier (Hrsg.): Autobiographie et textualité de l’événement au XX e siècle dans les pays de langue allemande. Bern [u. a.] 2016, S. 91-102. 2 Erstausgabe: Gütersloh 1960. Hier zitiert nach: Otto Flake: Es wird Abend. Frankfurt am Main 1980. 3 Erstausgabe: Berlin und Köln 1958. Hier zitiert nach GRW, Bd. X. Lebensbericht und Lebensstilisierung Die Biographien und Autobiographien Otto Flakes und Gustav Reglers im Vergleich 1 Hermann Gätje Gustav Regler und sein Schriftstellerkollege Otto Flake (1880 bis 1963) bieten sich für eine vergleichende Betrachtung an, da zwischen ihnen typologisch be‐ trachtet sowohl signifikante Affinitäten als auch Gegensätze bestehen. Beide sind in der Großregion Saar-Lor-Lux-Elsass geboren und aufgewachsen. Auch wenn Otto Flake etwas älter ist, haben sie dieselben markanten historischen Epochen durchlebt und in ihrem Werk verarbeitet. Die beiden repräsentieren jedoch exemplarisch unterschiedliche Lebensläufe, Persönlichkeiten und lite‐ rarische Stile. Dies lässt sich prägnant anhand der beiden Autobiographien fo‐ kussieren. Flakes Lebensbericht Es wird Abend (1960) 2 und Reglers Lebensroman Das Ohr des Malchus (1958) 3 stehen sich in der Ausprägung der Gattung Auto‐ biographie antagonistisch gegenüber: Flake erzählt seine Biographie in einem nüchternen, berichtenden Stil, während Regler seine persönliche Geschichte literarisch formt und überhöht. Der Beitrag stellt die beiden Lebensläufe ne‐ beneinander und betrachtet die Texte kontrastiv. Dabei wird die Frage vertieft, inwieweit die Sozialisation der Autoren in der Grenzregion zwischen Frankreich und Deutschland in der Epoche von 1871 bis 1918 den Rückblick und die Deu‐ tung ihres eigenen Lebens geprägt hat. 4 Flake: Es wird Abend (Anm. 2), S. 20. Als Sohn einer aus dem Deutschen Reich eingewanderten Familie wurde Otto Flake am 29. Oktober 1880 in Metz im seit 1871 dem wilhelmischen Deutschland angegliederten Reichsland Elsaß-Lothringen geboren. Sein Vater gehörte als Polizei-Kanzlist zum kleinen Beamtentum. Seit 1889 lebte Flake in Colmar, be‐ gann 1900 in Straßburg ein Studium der Germanistik, Philosophie, Geschichte und des Sanskrits, später belegte er auch Kunstgeschichte. Während dieser Zeit publizierte er seine ersten Artikel in Zeitschriften und widmete sich zunehmend mehr seinen literarischen Neigungen als dem Studium. Mit einigen Freunden gründete er den Zirkel Das Jüngste Elsaß. Dazu gehörten der pazifistisch orien‐ tierte René Schickele, Sohn eines eingewanderten Deutschen und einer Fran‐ zösin, der aus der deutschstämmigen Oberschicht stammende Lyriker Ernst Stadler oder auch Salomon Grumbach, der später in Frankreich sozialistischer Abgeordneter wurde. Man erkennt, welch ein heterogener Kreis das Jüngste Elsaß war. Gemeinsam war allen Mitgliedern das Interesse am Elsass, seiner Kultur und seinen Menschen. 1907 brach Flake sein Studium endgültig ab und arbeitete als Journalist. Von der sozialen Herkunft her repräsentieren Regler und Flake zwei zeittypische Gesellschaftsgruppen. Während Flake aus der ins damalige Reichsland Elsaß-Lothringen eingewanderten protestantischen Beamtenschicht stammte, kam Regler aus einer einheimischen katholischen Familie, mit der Einschrän‐ kung, dass der Vater, ein Buchhändler, als junger Mann aus Bayern ins Saarge‐ biet gezogen war. Geboren wurde Regler am 25. Mai 1898 in Merzig/ Saar, das seinerzeit zur preußischen Rheinprovinz gehörte. Diese Region stand unter dem Eindruck des sogenannten Kulturkampfes zwischen der zugewanderten preu‐ ßisch-protestantischen Verwaltungsschicht und der katholischen Bevölke‐ rungsmehrheit. Reglers Erziehung war religiös geprägt und zeitlebens bleibt bei ihm trotz aller weltanschaulichen Schwankungen eine Affinität zum Katholi‐ zismus. In dieser Hinsicht verhält er sich antipodisch zu Flake, der sich in seiner Autobiographie bereits im Jugendalter als agnostisch eingestellt und kirchlich nicht aktiv beschreibt. 4 Nach dem Abitur 1916 kam Regler an der Westfront in Frankreich zum Einsatz und erlebte die Schrecken des Krieges. Nach einer schweren Verwundung wurde er Anfang 1918 aus dem Kriegsdienst entlassen und begann ein geisteswissen‐ schaftliches Studium in Heidelberg und München. Flake hingegen war zu Beginn des Krieges bereits ein arrivierter Schriftsteller. 1912 erschien sein erster Roman Schritt für Schritt, ebenfalls in diesem Jahr begann seine Mitarbeit bei der Neuen Rundschau im S. Fischer Verlag, eine der bedeutendsten Literaturzeitschriften, 50 Hermann Gätje für die er bis in die 1930er Jahre hinein regelmäßig Beiträge verfasste. 1915 wurde Flake eingezogen, entging dem Fronteinsatz aber zunächst durch Abbe‐ rufung zur Zivilverwaltung in Brüssel. Als ihm gegen Ende des Kriegs wieder die Einberufung drohte, setzte er sich im März 1918 nach Zürich ab. Auch wenn Flake nicht mehr im Elsass lebte, hielt er sich bis 1918 häufiger in Straßburg auf. Bis Kriegsende und der Rückgliederung des Reichslands zu Frankreich publizierte er zahlreiche Aufsätze zur Elsässischen Frage, in denen er sich für die Schaffung eines Bundesstaats Elsaß-Lothringen als gleichberech‐ tigtes Glied neben den anderen deutschen Ländern einsetzte. Er befürwortete zwar die Zugehörigkeit der Region zu Deutschland, forderte aber das Ende der direkten Unterstellung unter die Reichsverwaltung, damit seine Bewohner gleichberechtigte Bürger würden. Es kennzeichnet Flakes politische Publizistik, dass er bestimmte Standpunkte engagiert vertrat, sich jedoch nie einer Partei oder Ideologie anschloss. Ganz anders dagegen Regler. In seiner Person verkörpert sich die kollektive weltan‐ schauliche Krise der um 1900 geborenen Kriegsgeneration. Regler verband als Jugendlicher seinen Katholizismus mit einer zeittypischen patriotischen Begeisterung, die nach dem Ende des Kaiserreichs in kollektiver Verunsicherung mündete. So erscheint nachvollziehbar, dass er während seines Studiums wechselweise Mitglied des Bunds deutsch-nationaler Studenten in Heidelberg wie auch der linken Gruppe sozialistischer Akademiker in München war. Dennoch entschied er sich, anders als Flake, zunächst für eine solide Exis‐ tenz. Er schloss sein Studium in München ab und war danach im Textilunter‐ nehmen seines damaligen Schwiegervaters in Berlin tätig. Nach der Scheidung seiner ersten Ehe begann Regler als Journalist in Nürnberg zu arbeiten und ver‐ öffentlichte 1928 seinen ersten Roman Zug der Hirten, eine Adaption der bibli‐ schen Moses-Geschichte. Flake avancierte in den 1920er Jahren zu einem einflussreichen Schriftsteller und Intellektuellen der Weimarer Republik. Er erwies sich als vielseitiger Er‐ zähler, mit einem klaren Blick sowohl für die Psychologie seiner Charaktere als auch die politischen Verhältnisse. Deutlich tritt in seinem Erzählwerk der Ein‐ fluss der französischen Realisten wie Stendhal oder Honoré de Balzac hervor, der gewiss auch von seiner Sozialisation im Elsass herrührt. Eine herausragende Bedeutung gewann Flake in jener Zeit aber vor allem als Essayist. Er verstand es, politische, philosophische und historische Themen anschaulich, verständlich und zugleich differenziert darzustellen. Immer wieder griff er in seinen Texten auf Themen der deutsch-französischen Geschichte zurück, schrieb Essays über französische Autoren und übersetzte z. B. Montaigne, Stendhal oder La Bruyère. Nach zahlreichen Reisen und wechselnden Wohnorten ließ Flake sich 1928 in 51 Lebensbericht und Lebensstilisierung Baden-Baden nieder, wo er bis zu seinem Tode lebte. Er betont in seiner Auto‐ biographie, wie sehr ihm Baden auch wegen der Nähe zum Elsass und Frankreich zusagte und zur Heimat wurde. Regler schloss sich Ende der 1920er Jahre der Kommunistischen Partei Deutschlands an, lebte in Berlin in einer sozialistischen Künstlerkolonie, emigrierte 1933 nach Frankreich. Im Mittelpunkt seines Lebens stand nun die poli‐ tische Exilarbeit, er agitierte im Saarkampf 1935 und kämpfte als Politischer Kommissar der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. 1939 wurde er nach Kriegsbeginn in Frankreich interniert, im März 1940 aus dem Lager entlassen, im Mai konnte er, kurz vor dem deutschen Einmarsch, in die USA ausreisen und gelangte im September ins mexikanische Exil. Dort brach er endgültig mit dem Sowjet-Kommunismus, von dem er sich bereits in den Jahren zuvor, vom Hitler-Stalin-Pakt bestärkt, zunehmend entfremdet hatte. Unter dem Eindruck der Lösung vom Kommunismus setzte sich der Sinnsucher Regler mit ihm neuen philosophischen und künstlerischen Ideen auseinander. Er schloss sich keiner politischen Bewegung mehr an, blieb jedoch ein engagierter Autor und versuchte in der Kunst, fremden Mythologien und esoterischen Bewe‐ gungen die Bedeutung des menschlichen Seins zu ergründen. Flake hingegen blieb während der NS-Herrschaft in Deutschland. Die neuen Verhältnisse bedeuteten einen Einschnitt in seine schriftstellerische Laufbahn. Er stand zwar nicht in offener Opposition und wurde nicht direkt bedroht, doch die Situation war für ihn persönlich schwierig, da seine Frau als sogenannte „Halbjüdin“ gefährdet war. Seine Bücher wurden nicht verbrannt oder verboten, doch war er gelegentlichen Schikanen z. B. durch Verweigerung der Papierbe‐ willigung ausgesetzt. Flake entsprach mit seinem individualistischen Stand‐ punkt und seiner weltanschaulich ausgeglichenen Haltung nicht dem national‐ sozialistischen Bild eines Schriftstellers. Er zog sich zurück und während dieser Zeit erschienen kaum Publikationen von ihm. Weder der geflohene Regler noch der daheim gebliebene Flake konnten sich nach der NS-Zeit im deutschen Literaturbetrieb durchsetzen. Flake hatte zwar kurz nach dem Krieg einige Bücher veröffentlicht, geriet jedoch außerhalb der Region um Baden-Baden bald in Vergessenheit. Ende der 1950er Jahre erlebte er dann eine Renaissance, zahlreiche seiner Werke wurden vom Bertelsmann Verlag neubzw. erstveröffentlicht, u. a. die 1960 erschienene Autobiographie Es wird Abend. Diese Bücher erreichten zwar eine große Leserschaft und be‐ scherten dem zeitweise mittellosen Autor finanzielle Absicherung, doch wurde er als wirkender Intellektueller im zeitgenössischen Diskurs, wie es seine Ab‐ sicht war, praktisch nicht zur Kenntnis genommen. 52 Hermann Gätje 5 Interview mit Gustav Regler, Saarländischer Rundfunk 1958. Regler war vor seiner Emigration ein zwar beachteter junger Autor, doch im Vergleich zu Flake noch relativ unbekannt. So war es für ihn nach der langen Abwesenheit noch schwieriger, sich in Deutschland zu etablieren. Er behielt zwar seinen Wohnsitz in Mexiko und erwarb die Staatsbürgerschaft, war aber seit 1949 häufig auf Reisen, und dabei oft in Deutschland. Er verlegte dort nach dem Krieg einige Bücher, die jedoch insgesamt gesehen nicht den erhofften Durchbruch brachten. Erst durch den Erfolg der 1958 erschienenen Autobio‐ graphie Das Ohr des Malchus gelangte Reglers Name ins öffentliche Bewusstsein. Er reklamierte für sich die Rolle eines Präzeptors der jungen deutschen Gene‐ ration, was ihm, auch wenn er nicht die Massen erreichte, in einem gewissen Rahmen gelang. Er zog seine Lehren aus den schmerzhaften persönlichen Er‐ fahrungen mit totalitären Ideologien und wollte diese zur Schaffung einer bes‐ seren Zukunft weitergeben. Dabei verwies er auf seine Herkunft aus dem Saar‐ land: Ich bin Saarländer und habe von dieser Gegend, die immer der Streitball zwischen zwei großen Ländern war, etwas sehr Wesentliches mitbekommen: nämlich das Wissen um den Unsinn der Grenze und das Wissen auch um die Notwendigkeit, dass man die Grenzen aufhebt in einem geistigen Zusammengehen zwischen den Völkern nicht nur von zwei Ländern, sondern von Europa und der ganzen Welt. 5 Beide Autoren starben im Jahr 1963. Regler erlag in Neu Delhi einem Gehirn‐ schlag. Da er in Indien für eine eventuelle Erweiterung seines spirituellen Großessays über Hellseher und Charlatane recherchieren wollte, liegt es nahe, diese letzte Reise als Abschluss seiner lebenslangen rastlosen Sinnsuche sym‐ bolisch zu überhöhen. Flake hingegen verschied nach längerer Krankheit in seiner Wohnung in Baden-Baden. Die beiden Autobiographien korrespondieren in Stil und Anlage mit den skizzierten Lebenswegen und Persönlichkeiten ihrer Autoren. Flakes Es wird Abend ist in einem nüchtern berichtenden und präzisen Stil verfasst. Er erzählt streng chronologisch und schließt jede Jahresbeschreibung mit der Auflistung seiner Einnahmen ab. Die Lebensdarstellung wird durch kommentierende, reflektierende Passagen zu politischen oder persönlichen Fragen unterbrochen, dabei werden die elsässische Frage und das Verhältnis von Deutschland und Frankreich häufig erörtert. Flake legt seine weltanschaulichen Grundpositionen dar und erläutert seine Lebensphilosophie. Im Gegensatz zu Flake stellt Regler die Erlebnisse und Episoden seines Lebens in einer literarischen Form vor. Er erzählt sein bewegtes, ereignisreiches Leben 53 Lebensbericht und Lebensstilisierung als Roman und bedient sich dabei epischer Gestaltungsmittel. Charakteristisch für seinen Stil sind z. B. dramatisierte Dialoge in wörtlicher Rede, die in Flakes konsequent expositorischer Schreibweise nicht erscheinen. Regler formt und stilisiert seine Erlebnisse in anekdotischer Zuspitzung. Seine Lebensprinzipien und politischen Überzeugungen bringt er in bilderreichen, gleichnishaften Epi‐ soden plastisch zum Ausdruck. Unter diesem Aspekt stellt sich die Frage nach der Fiktionalisierung. Flakes Autobiographie ist in ihrer Form und ihrem Gestus als Wirklichkeitsaussage zu verstehen. Die Faktizität einer Lebenserzählung wird allerdings grundsätzlich durch psychologische Faktoren wie Erinnerungstrübung und unterbewusste Selbststilisierung relativiert, worüber der Autor an einigen Stellen seines Texts explizit reflektiert. Unabhängig davon ist interessant, ob er gezielt bestimmte Dinge auslässt oder Fakten verändert. Im Gesamtduktus seiner Autobiographie fällt auf, dass er sich als Stoiker beschreibt und dies durch einen lakonischen Stil unterstreicht. Doch verweisen vor allem die emotional gefärbten Passagen gegen Ende der Autobiographie, in denen er sich über seinen Misserfolg und den Verfall der Werte in den 1950er Jahren beklagt, auf einen wenig gleichmü‐ tigen Charakter. Auch wenn Flake seine Handlungen und Positionen darstellt und argumentativ untermauert, bleibt offen, ob manche Einsichten nicht einer nachträglichen Selbstverortung und -deutung entspringen. Reglers Autobiographie stellt sich in dieser Hinsicht komplexer dar. Als lite‐ rarischer Text evoziert sie neben der faktischen eine literarische Verständnis‐ ebene. So weist die dramatische Verdichtung der Lebenserzählung zwar auf Fiktionalität hin, doch bricht der Autor häufig den literarischen Duktus mit ex‐ positorischen Passagen, die beschreiben und kommentieren. Insofern vermi‐ schen sich in seinem Text Wirklichkeitsaussagen mit literarisch-künstlerischen zu begreifenden Passagen. Dabei verfährt er sehr frei mit den Tatsachen, sei es aus stilistisch-dramaturgischen Gründen oder zur Selbststilisierung. Grundsätz‐ lich kann man festhalten, dass Reglers Autobiographie nicht als faktenorien‐ tierter Text begriffen werden darf. In der formalen Differenz der Autobiographien spiegelt sich der lebensphi‐ losophisch unterschiedliche Ansatz der Autoren. Flake begreift sich als Indivi‐ duum, beschränkt sich auf die Beschreibung des Selbsterlebten und ergänzt dies mit Reflektionen und Kommentaren. Bei Regler hingegen geht bereits aus der Anlage der Autobiographie hervor, dass er versucht, sein Leben in einen sinn‐ haften, größeren biographischen und historischen Zusammenhang zu stellen, dem ein übergeordnetes Prinzip zugrunde liegt. Der der Bibel entlehnte Titel Das Ohr des Malchus und der Anfangssatz seiner Autobiographie mit einer An‐ 54 Hermann Gätje 6 GRW, Bd. X, S. 12. 7 Otto Flake: Selbstanzeige [= Meine badischen Romane] (1935/ 1948). In: ders.: Ein Leben am Oberrhein. Essays und Reiseskizzen aus dem Elsaß und aus Baden. Hrsg. von Michael Farin. Frankfurt am Main 1987, S. 220-228, hier S. 220. spielung auf das Johannes-Evangelium - „Im Anfang war die Angst“ - unter‐ streichen diese Tendenz. 6 Die typologischen Unterschiede der beiden Autoren zeigen sich in den Auto‐ biographien auch darin, wie ihre Sozialisation an der Grenze zwischen Deutsch‐ land und Frankreich in die Lebensberichte und das ausgedrückte Lebensgefühl einfließt. Bei Flakes expositorischem Text ist die starke Prägung offensichtlich, da er diesen Aspekt an zahlreichen Stellen ausdrücklich aufgreift. Vor allem in der Schilderung seiner Jugend erörtert er die elsässische Problematik und setzt sie in Beziehung zu eigenen Erlebnissen. Er beschreibt den Einfluss des regio‐ nalen Umfelds auf seine Persönlichkeit als Basis seiner Affinität zur französi‐ schen Kultur. Flake fühlte sich dem Elsass zeitlebens verbunden und schätzte an seinem späteren Wohnort Baden-Baden auch die geographische Nähe zum fran‐ zösischen Kulturkreis, und verwies unter dem Eindruck des Konflikts zwischen Deutschland und Frankreich auf den verbindenden Charakter der Region der Oberrheinischen Tiefebene: Der Zufall will, daß ich diese Zeilen gegenüber von Straßburg schreibe; am Tag sieht man das Münster und nachts den Lichtarm, der für die Flieger die Milchstraße abtastet. Nur der Rhein liegt zwischen dort und mir; für mich aber ist er eine unüberschreitbare Grenze geworden. Landschaftlich ist kein Unterschied. Dieselben Wäldchen von Edelkastanien be‐ schatten die Hügel, die den Gebirgsstöcken vorgelagert sind, umschmiegen die Rebä‐ cker noch weit hinaus. […] Die Menschen sprechen das eine unteilbare Alemannisch, das jeder fremden Kehle unnachahmlich ist. 7 Bei Regler hingegen erscheint die Frage nach dem Verhältnis zur Region kom‐ plexer. Im Gegensatz zu Flake geht er in seiner Autobiographie kaum explizit auf seine (Saar-) Heimat oder eine entsprechende Prägung ein. Sein literarisches Werk enthält, ebenfalls anders als bei Flake, relativ wenige unmittelbare Bezüge zu seiner Geburtsregion. Doch lässt sich bei ihm anhand zahlreicher Textsignale aufzeigen, wie stark seine Herkunft aus dem Grenzgebiet in seiner Bildsprache und seinem assoziativen Denken verankert ist. Reglers frühe Autobiographie von 1942 trägt den Titel Sohn aus Niemands‐ land. Dabei allegorisiert er seine Herkunft aus dem Saarland, einem „kleine[n] 55 Lebensbericht und Lebensstilisierung 8 GRW, Bd. VI, S. 44. 9 GRW, Bd. X, S. 36f. 10 Vgl. Hermann Gätje: Leben und Leben schreiben. Gustav Reglers autobiographische Schriften: Enstehungsprozess - Fassungen - Gattungsdiskurse. St. Ingbert 2013 [Saar‐ brücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. Bd. 89], S. 284f. 11 GRW, Bd. X, S. 25. Niemandsland“ an der Grenze, 8 mit seiner persönlichen Befindlichkeit nach der Ablösung von der Kommunistischen Partei, als er sich isoliert zwischen allen politischen Fronten sah. In Das Ohr des Malchus hat die Grenzmetaphorik sogar einen leitmotivischen Charakter. Bei fast jeder seiner Lebensstationen greift er auf dieses Bild zurück. Der signifikante Gebrauch in der Autobiographie deutet an, dass die Grenze für Regler eine Lebensmetapher war. Im Rahmen der Erzählung seiner Jugend in Merzig thematisiert er an einer Stelle, die zu den meistzitierten Passagen seines Werks gehört, die nahe Grenze zwischen Deutschland und Frankreich: Ostern zog er [Reglers Vater] mit uns über die Felder und Hügel […] Wenn wir dann „ganz am Anfang“ angelangt waren, wo es keine Geographie mehr gab, lenkte er wohl zur alten vielumstrittenen Grenze zwischen Deutschland und Frankreich hin und ließ uns an bestimmten Stellen Blumen pflücken oder das Fallobst von verschiedenen Bäumen probieren; unvermittelt fragte er uns: „Welcher Apfel ist französisch? “ Wir hielten die angebissenen Äpfel still vor unsern Mündern und sahen auf die Baumallee, die aus dem Unendlichen zu kommen schien und sich in das Unendliche fortsetzte. Wir verstanden ihn früh: er glaubte nicht an Grenzen. 9 Aus der - wie aus Fassungsvergleichen hervorgeht - wahrscheinlich stilisierten Episode erklärt sich Reglers immer wiederkehrender Rückgriff auf das Sprach‐ bild der Grenze. 10 Am Beispiel eines strengen Kaplans, der Kirmes und Karneval als Sündenpfuhl verdammt, offenbart sich bereits dem Kind die Falschheit or‐ thodoxer Ideologien und rigider Morallehren, die den Menschen einengen und unglücklich machen: „[W]ie wenig ich auch verstand, was Völlerei eigentlich war, so zeichnete sich doch in meinem Knabenhirn immer deutlicher die Grenze, die er [der Priester] durchs Leben zog.“ 11 Regler variiert das Motiv: Die be‐ stehende Grenze als Trennung wird zum Abgrund, die Überschreitung von konkreten und abstrakten Grenzen wird zur Erweiterung und Verbindung. Ein sinnvolles Lebensprinzip sieht er darin, diese Barrieren zu überwinden und zu versuchen, allen Menschen zu einer würdigen Existenz in persönlicher Freiheit zu verhelfen. Zentrale Ereignisse seines Lebens wie den Bruch mit dem Kom‐ munismus setzt er in Bezug zu seiner symbolischen Deutung des Begriffs Grenze. Nach der Ablösung von der KP freundete sich Regler mit dem surrea‐ 56 Hermann Gätje 12 Ebd., S. 603. 13 Ebd., S. 264. 14 Ebd., S. 146. 15 Ebd., S. 367. 16 Ebd., S. 385. listischen Maler Wolfgang Paalen an. Die Beschäftigung mit dessen metaphy‐ sisch geprägtem Werk sieht er als Beitrag zu seiner persönlichen Überwindung eines simplen Materialismus, den er der Partei attestiert: „[D]ieser verächtliche schnelle Rationalismus war meine frühere Welt gewesen […]. ‚Der Atheist ist auch nur ein Theologe‘, sagte Paalen. […] Er versuchte die Grenzenlosigkeit der nordischen Wälder zu schildern.“ 12 Über André Malraux, eines seiner großen intellektuellen Vorbilder, schreibt er in Das Ohr des Malchus: „Malraux über‐ schritt die Grenze.“ 13 Unpassierbare Grenzen werden bei Regler häufig mit Bedrohung assoziiert, denn Krieg und Gewalt haben diese geschaffen. Die Überwindung der Grenzen bedeutet für ihn die Schaffung einer besseren Welt. Doch verwendet er das Motiv bisweilen doppeldeutig, wenn er die Abgrenzung von dem fordert, was ge‐ waltsam Grenzen schafft. Als er einer Studienfreundin bei einer Bootsfahrt von seinen Fronterlebnissen im Ersten Weltkrieg berichtet, sagt diese: „‚Rudere so‐ fort ans Land! ‘ […] ‚Es hat alles seine Grenzen.‘“ 14 Seinen Einsatz im Saarkampf 1935 für den Status Quo und gegen den Anschluss des Saargebiets an Hitler-Deutschland bringt er mit einem Satz auf den Punkt: „Die Grenze zum Reich mußte gewahrt werden! “ 15 Nach der Niederlage bei der Saarabstimmung 1935 muss Regler über die Grenze bei Saarbrücken nach Frankreich fliehen: Ich entkam in der Nacht durch die Wälder von Forbach, über den Berg von Spichern nach Lothringen. Als ich am deutschen Soldatenfriedhof vorbeikam, fiel mir ein, daß 1870 mein Großvater hier gegen die Franzosen gekämpft hatte; Vater aber hatte uns vor den gleichen Gräbern immer gesagt, die Soldaten seien für eine Chimäre gefallen, es gebe keine Grenzen, wenn man genau hinschaue, nur Grabsteine, aus denen die Menschen nichts lernten. 16 Diese Textstelle ist paradigmatisch für seine häufige Variation von tatsächlichen und metaphorischen Grenzen. In seiner Lebenserzählung fällt auf, dass der Schilderung von Grenzübertritten besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird und diese immer auch eine übertragene Bedeutung haben. Im Rahmen der Schilderung einer Russlandreise 1934 beschreibt Regler den Grenzübertritt: 57 Lebensbericht und Lebensstilisierung 17 Ebd., S. 293f. 18 Yvonne Drosihn: Studie 3. Zwischen Russophobie und Russophilie. Der Westen und der „Osten“ und ein russisches „writing back“. In: Gabriela Lehmann-Carli / Yvonne Dro‐ sihn / Ulrike Klitsche-Sowitzki: Russland zwischen Ost und West? Gratwanderungen nationaler Identität. Berlin 2011, S. 161-265, hier S. 215. 19 GRW, Bd. X, S. 451. Wir fuhren am nächsten Tag über Stockholm, Åbo und Helsinki zur russischen Grenze. Es war ein heiterer Morgen. Die Sonne glänzte auf den Birkenbäumen rechts und links der finnischen Station, spiegelte sich in den kleinen Seen des Landes, lockte zu mü‐ ßigen Gängen an seinen Forellenbächen, zu einem Leben der zeitlosen Beschaulich‐ keit. Aber wir waren nicht mehr bereit, uns von Beschaulichkeit verführen zu lassen; es gab keine Flucht mehr. Man hatte sie nicht mehr nötig. Die große Einsamkeit war vorüber, die Gemeinschaft war! […] ein Student […] starrte auf den Begrüßungsbogen über den Schienen, auf dem stand: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Als sich der Zug hinter der vorgespannten kleinen Lokomotive endlich in Bewegung setzte, schwiegen wir alle. In diesem Augenblick riß der rothaarige Amerikaner seinen Strohhut vom Kopf und warf ihn rückwärts nach dem finnischen Land; er stieß einen seltsamen Schrei aus; es war wie eine Erlösung und wie ein Fluch. 17 Die Szene steht sinnbildlich dafür, wie Regler (und viele andere) sich vom Kom‐ munismus haben täuschen lassen. Die Überschreitung respektive Auflösung der Grenze ist nur eine scheinbare, die sowjetischen Verhältnisse entsprechen nicht dem Ideal. Dieses assoziiert die zurückgelassene finnische Landschaft, denn die ‚Verführung‘ ist auf der anderen Seite. Der Erzählduktus des Grenzübertritts rekurriert auf Grundelemente „eine[s] einheitlichen Aufbauschema[s] der Russ‐ landreiseschilderungen“, gleichzeitig konterkariert sie diese im kritischen Rück‐ blick. 18 Auch wenn Regler sich von seiner kommunistischen Vergangenheit distan‐ zierte, hat er seinen Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg zeitlebens für eine gute und richtige Sache gehalten. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass eine mutige Autofahrt hinter die dortige Front als wahrhafte Grenzüberschreitung geschil‐ dert wird: Der Chauffeur raste weiter, alle schienen es zu genießen, daß wir die Grenze über‐ schritten hatten, die keine natürliche war. Oder war sie doch eine natürliche, und zwar die einzige, vor die man in diesem Jahrhundert immer wieder geführt wurde, die Grenze zwischen dem Volk und den Regierungen, zwischen denen, die Freiheit suchten, und denen, die alles Alte erhalten wollten? 19 58 Hermann Gätje 20 Ebd., S. 528. 21 Gustav Regler: Schwarzes Notizbuch 1928, Manuskript, GRA. Der Sieg der Faschisten unter Francisco Franco kommt für Regler der Schaffung einer Grenze gleich. Er beschreibt die Ankunft spanischer Flüchtlinge in einem französischen Grenzort: „Die Entwaffneten standen auf der schmutzigen Straße zwischen zwei Dörfern, aber es war nicht mehr die Grenze zwischen zwei Län‐ dern, es war der Abgrund zwischen zwei Welten.“ 20 Angesichts der interessanten biographischen und literarischen Wechselbezie‐ hungen bleibt die Frage, ob und wie die beiden ungleichen Zeitgenossen Otto Flake und Gustav Regler sich persönlich wahrgenommen haben? Doch für eine intensive gegenseitige Rezeption oder gar eine Bekanntschaft gibt es keine Be‐ lege oder Hinweise. Lediglich ein Zeugnis ist überliefert. Dieses stammt von Regler. In einem Notizbuch aus dem Jahr 1928, in dem er seine Lektüren festge‐ halten hat, findet sich ein kurzer Vermerk: „Flake Sommerroman (schlecht)“. 21 59 Lebensbericht und Lebensstilisierung 1 Gustav Regler: Sohn aus Niemandsland, GRW, Bd. VI, S. 16. „Wir lasen Bücher … wir suchten und suchten“ 1 Gustav Regler - Einflüsse und Prägungen Hermann Gätje Ein wesentliches Merkmal von Gustav Reglers Texten ist, dass sie in einer markanten Weise Projektionen seines Leben und seines Charakters darstellen. Sein Werk ist maßgeblich auf seine Person und seine Lebenserfahrungen zentriert. Unter dieser Prämisse soll im Folgenden dargelegt werden, wie sein Han‐ deln und Schreiben, sei es bewusst oder unbewusst, Prägungen seiner Persön‐ lichkeit thematisieren und verarbeiten. In den ersten Kapiteln seiner Autobiographie Das Ohr des Malchus spielen die Wirkung der Geburtsstadt Merzig und ihrer Soziologie auf das Kind und den Jugendlichen eine bedeutende Rolle. Wenn auch stark stilisiert und pointiert, stellt die berühmte Anfangsszene des Buches vor dem Stadthaus in Merzig eine Art Vorausdeutung des bewegten Lebenslaufs dieses Autors dar. Im Anfang war die Angst und die Angst war bei mir und ich war in ihr. Dort am Beginn, fünf Jahre war ich alt, standen zwölf Männer unter der Freitreppe des Jagd‐ schlosses, in dem der strenge Bürgermeister meiner Heimatstadt amtierte. Er hatte den westlichen Turm als Büro und konnte nach alle Richtungen sehen. Ich saß am Rand der Straße auf einem Stück sauberen Zeitungspapiers, das ich selbst ausgebreitet hatte, aber gewiß nicht liegenlassen würde. Von den Männern kannte ich nur den dünnen, lustigen Schneider und den nach Leder riechenden Polizisten. Alle Männer, so schien mir, waren Riesen. Ich verstand nichts von ihren Reden, bis der Polizist mit der flachen Hand nach unten durch die Luft fuhr, den Schneider drohend ansah und sagte: „Kopf ’runter! “ Alle lachten, da sah einer zu dem Fenster des Bür‐ germeisters und sagte: „Nicht zu laut! “ Dann begannen die Glocken zu läuten, und sofort heulte auch die Mittagssirene der Brauerei in das Geläut hinein. Da sprang der Polizist auf den Schneider zu, faßte ein Ohr, drehte den Kopf des Mannes ein wenig 2 Ebd., Bd. X, S. 12. 3 Ebd., S. 626. 4 Ebd., S. 399. zur Erde und zwang ihn, der wie ein Tier quietschte, die Treppe hinauf. Der Schneider wehrte sich nicht, er benahm sich, als wäre es um ihn geschehen. 2 In dieser Episode verweist Regler allegorisch auf die zentralen Fragen seines Lebens: Wer hat das Recht zu richten? Was ist Gerechtigkeit? Ist staatliche Ge‐ walt legitim? Dies formuliert er am Schluss des Texts: [Mir fällt] die Szene ein, mit der meine Kindheit begann: Ein Uniformierter zerrte einen Erwachsenen, den Schneider von Merzig, an den Ohren die Rathaustreppe hinauf. Zu welchem Gericht und vor welchen Herrn, habe ich nie herausgefunden. Aber auch wenn ich es herausgefunden hätte, wüßte ich denn, wer überhaupt das Recht zum Gericht hat? 3 Signifikante Querverbindungen zu einigen wesentlichen Einflüssen und Prä‐ gungen in seinem Leben und Werk sollen im Folgenden exemplarisch illustriert werden: der Zusammenhang von Glauben und Politik in seinem Denken und Handeln; die Kriege, die Regler erlebt hat; das Verhältnis zu seiner Familie und seinen Ehefrauen; seine lebenslange Affinität zur Kunst; seine literarischen Vorbilder und sein Verhältnis zu seiner Heimat an der Saar. Eingebettet in diesen Komplex ist die Vorstellung der Person, der Lebensstationen und des Schaffens dieses Autors. I. Glauben und Politik Reglers Leben und Werk sind von dem starken Wunsch nach Glaubensgewiss‐ heit und gleichzeitigen Zweifeln bestimmt. Obwohl der Schriftsteller die Kirche und ihre Vertreter wiederholt vehement kritisierte, blieb er dem römischen Ka‐ tholizismus seiner Jugend bis in seine späten Jahre verbunden. Diese Prägung bringt ein Zitat aus Das Ohr des Malchus treffend zum Ausdruck: „In bestimmten Augenblicken schießt in mein Denken immer ein Bibelspruch.“ 4 Christliche Grundwerte und biblische Erzählungen formten nicht nur sein Denken, auch sein literarisches Werk ist von entsprechenden Bezügen beein‐ flusst. So glaubte er im Kommunismus jene Ideale von sozialer Gerechtigkeit, Moral und Nächstenliebe verwirklicht zu sehen, die Jesus von Nazareth ver‐ kündigte. Der Schriftsteller musste jedoch erkennen, dass auch die sozialistische Gesellschaftsutopie keine angemessene Antwort auf die existenziellen Fragen des Menschen bereithielt. 62 Hermann Gätje 5 Brief Gustav Regler an Helene Regler-Steinmetz, 19. Juni 1953, GRA. In den Jahren, die dem Rückzug aus der aktiven Politik folgten, widmete sich Regler der Bildenden Kunst sowie der mexikanischen Kultur; zugleich entwi‐ ckelte er eine Neigung zu kosmologischen und parapsychologischen Vorstel‐ lungen. Gleichwohl bildeten christliche Werte auch weiterhin das Fundament seines Denkens. In diesem Sinne war er in jeder Phase seines Lebens ein enga‐ gierter Intellektueller, auch wenn er keiner politischen Partei oder Bewegung mehr beitrat. Reglers katholische Prägung geht vor allem auf seine tief religiöse Mutter Helene zurück. In einem Brief an sie vom 19. Juni 1953 versichert er, dass der entstehende Renaissance-Roman Aretino nicht gegen das Papsttum gerichtet sein werde. Also habe keine Angst: Dein Lebensabend wird nicht geschreckt werden durch ein antikirchliches Werk Deines Sohnes. Ich bin für die Wahrung gewisser Werte. Ein kleiner Zug von Rebellentum ist in den Reglers, und das hindert, dass wir je Paffen‐ diener werden. Aber das Grosse anerkennen, wo wir es finden, und den ewigen Sym‐ bolen unseren Respekt erweisen - mit jedem Jahr meines Lebens habe ich mehr die Notwendigkeit eingesehen. 5 Diese Ausführungen geben Aufschluss über die Einstellung des Schriftstellers zu Kirche und Religion in seiner letzten Lebensphase, die er als Erkenntnis aus seinem wechselvollen Lebensweg im „Jahrhundert der Ideologien“ (Raymond Aron) begreift. Sein 1928 erschienener erster Roman Regler Zug der Hirten ist beispielhafter Ausdruck seiner religiösen Sozialisation. Die Adaption eines bib‐ lischen Stoffs erzählt die Geschichte vom Auszug des Volkes Israel, variiert und interpretiert sie gleichermaßen; nicht zuletzt stellt der Text autobiographische Bezüge und Parallelen zur Gegenwart her. Der 1933 im Exil erschienene Roman Der verlorene Sohn pointiert in der Dualität der beiden Hauptfiguren das ambi‐ valente Verhältnis Reglers zur katholischen Kirche. Dem ehemaligen Priester Leon steht der kirchentreue Geistliche Anatole gegenüber. In der drastischen Kritik an Missständen wird zugleich die tiefe Verwurzelung Reglers in christli‐ chen Prinzipien sichtbar. Der 1934 erschienene Agitationsroman zum Saarkampf Im Kreuzfeuer ist ein prägnantes Zeugnis dafür, wie sehr Reglers Bekenntnis zum Kommunismus struk‐ turell wesensverwandt mit dem Glauben an eine Religion und deren unbedingte Wahrheit ist. Das Werk evoziert in Episoden aus dem Alltag eine überwiegend gegen Hitler gerichtete Stimmung im Saargebiet vor dem Wahlgang im Januar 1935. Regler hat sich später von dem Roman distanziert, wie ein Exemplar mit 63 „Wir lasen Bücher … wir suchten und suchten“ 6 Widmung Gustav Regler an Franz Zemke, 1949, GRA. 7 Brief Gustav Regler an Eva Bates, 27. November 1942, GRA. 8 Die Bibel und die Kristallkugel befinden sich im Gustav-Regler-Archiv. einer persönlichen Widmung von 1949 an seinen Cousin Franz Zemke dokumen‐ tiert: „Dies ist ein schlechtes Buch und wird von mir nur deshalb nicht verbrannt, weil es auch andere warnen soll, niemals Kunst mit Parteipropaganda zu verman‐ schen. Und überhaupt keiner Partei zu dienen. Amen! “ 6 An Reglers prozesshafter Ablösung vom Kommunismus ist zu erkennen, wie problematisch der Abschied von eingeprägten Glaubensvorstellungen ist. Er suchte während dieser Lebensphase den Rat von Freunden wie Ralph und Eva Bates. Der britische Schriftsteller Bates ging nach dem Hitler-Stalin-Pakt offen auf Distanz zur kommunistischen Partei. In zahlreichen Briefen an das Ehepaar thematisierte Regler seine Positionen und inneren Kämpfe, exemplarisch ist ein Auszug aus einem Brief an Eva Bates vom 27. November 1942: I read that there is a school somewhere in USA where men are educated to take over the re-education of Germany; I am surly not able to express what many of my friends are thinking in that apostolic task; but on the other side the same friends feel that it makes no difference if the re-education comes from those new men or from the GPU-agents who would follow the entrance of the Red Army in Berlin in one hour; there are people who believe the later worse, and about this I agree with them. Paul [Willert] put it well, when he said: We want democracy to be revolutionary. But we also want the revolution to be democratic. 7 Reglers letztes Werk war der Anfang der 1960er Jahre entstandene Großessay Hellseher und Charlatane, der bislang unveröffentlicht ist. Auch wenn sich der Text offenkundig mit parapsychologischen Phänomenen befasst, bildet er eine Summe und Bilanz seines Denkens. In den Betrachtungen spiegeln sich die le‐ benslange Suche nach einem Glauben und das ambivalente Verhältnis zur Kirche ebenso wie Reglers ethische und religiöse Grundeinstellungen. Zwei Gegenstände aus seinem Nachlass sind beredtes Zeugnis seiner Affinität zu Religion und Glauben. Eine Lutherbibel in der Ausgabe des Jahres 1952 war in Reglers späten Jahren ein ständiger Begleiter auf Reisen. Handschriftlich hat der Schriftsteller darin Lebensstationen von 1954 bis 1960 vermerkt. Eine Kris‐ tallkugel, die er ebenfalls immer mit sich führte, ist gegenständlicher Ausdruck seines ausgeprägten metaphysischen Naturells, dem eine Neigung zum Okkul‐ tismus eigen war. So ließ er sich regelmäßig Horoskope erstellen; auch spielt das Motiv der Sterne in seiner Bildsprache eine besondere Rolle. Diese Leiden‐ schaft verband ihn mit dem befreundeten surrealistischen Künstler Wolfgang Paalen, von dem ein künstlerischer Lederreif um die Kugel stammt. 8 64 Hermann Gätje 9 GRW, Bd. X, S. 15. II. Kriege Drei Kriege haben das Leben von Regler geprägt: Der Erste Weltkrieg, der Spa‐ nische Bürgerkrieg und der Zweite Weltkrieg. Zudem wuchs er in Merzig im Spannungsfeld der deutsch-französischen Grenzkonflikte auf. Den Großvater mütterlicherseits, Franz Friedrich Wilhelm Steinmetz beschreibt Regler in Das Ohr des Malchus als alten Soldaten. Nicht ohne Respekt vor dem Menschen, erscheint ihm doch dessen soziale Rolle als Vorbild „prob‐ lematischer“. 9 Franz Steinmetz hatte dreißig Jahre im preußischen Heer gedient und an drei Kriegen teilgenommen. Nach dem Abitur wurde Regler als Infanterist zum kaiserlichen Heer einge‐ zogen und erlitt an der Westfront eine schwere Gasvergiftung. In seiner Auto‐ biographie Das Ohr des Malchus schildert er sich deshalb als Angehörigen einer vom Krieg gezeichneten Generation. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er als Politischer Kommissar bei den Internationalen Brigaden gegen die von General Francisco Franco angeführten spanischen Faschisten. Auch dort wurde er schwer verwundet. Reglers Kampf im Spanischen Bürgerkrieg fand in der - nach eigenen Worten - „romanzierten Reportage“ Der große Kreuzzug seinen litera‐ rischen Niederschlag, die auf unmittelbaren Tagebuchaufzeichnungen beruht. Der in mehreren Fassungen überlieferte Text wurde 1940 in englischer Sprache erstveröffentlicht. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er wie viele andere deutsche Exilanten in Frankreich als feindlicher Ausländer interniert. Nach seiner Entlassung im März 1940 konnte er das Land - noch vor dem Einmarsch der deutschen Truppen - verlassen und in die Vereinigten Staaten von Amerika ausreisen. Asyl fand der Schriftsteller schließlich in Mexiko; von dort verfolgte er aufmerksam das Kriegsgeschehen und setzte sich in Tagebüchern und Briefen intensiv damit auseinander. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in den vom beginnenden Kalten Krieg geprägten 1940er und 1950er Jahren warnte Regler vor der Gefahr neuerlicher bewaffneter Konflikte; vor allem fürchtete er den Einsatz der damals neu entwickelten Atom- und Wasserstoffbomben. Seit den 1940er Jahren begann er, seine Erfahrungen und Warnungen vor neuen Kriegen in lyrischen Texten zum Ausdruck zu bringen. Die Einsicht, dass der Zweite Weltkrieg noch schreck‐ licher verlief als der Erste, bestimmte seine Sorge vor einem neuen Konflikt. Die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki im August 1945 hatten ge‐ zeigt, dass dieser möglicherweise zu einer Auslöschung der Menschheit führen könnte. Zahlreiche Texte Reglers wie das Mitte der 1940er Jahre entstandene 65 „Wir lasen Bücher … wir suchten und suchten“ 10 Gustav Regler: The last herd (or Atomic hour), Typoskript, LASLLE. 11 Gustav Regler: Guernica, Manuskript, LASLLE. 12 Brief Gustav Regler an Michael Regler, 7. Februar 1917, GRA. Gedicht The last herd (or Atomic hour) sind Mahnungen zu Besinnung und Um‐ kehr: For too much death has it absorbed. Now silent as an eye of glass, paralysed moon, looming up over the last of the herd. 10 Das im Mai 1956 entstandene Gedicht Guernica über Pablo Picassos Gemälde von der Zerstörung der baskischen Stadt Guernica im Jahr 1937 vermittelt ein‐ drucksvoll Reglers Botschaft an die deutsche Nachkriegsjugend. Regler hatte erwogen, dieses Anti-Kriegs-Gedicht als Lehre seines Lebens an den Schluss seiner Autobiographie Das Ohr des Malchus zu setzen: Guernica calls from far away: „To forget is flight - To negate life is to kill one’s children - To sacrifice is stupidity - No priest who slaughters is a holy man.“ Do the young ones follow me? Their breath is grazing my neck. 11 III. Familie Seiner Jugend in Merzig widmet Regler in Das Ohr des Malchus ein umfangreiches Kapitel, in dem er auch den prägenden Einfluss seines Elternhauses the‐ matisiert. Auch wenn er seine Heimatstadt verließ, blieb er zeitlebens, außer in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft, mit den Eltern und Geschwis‐ tern in Merzig in Verbindung. Den größten Einfluss auf seine Persönlichkeit schreibt Regler in seiner Auto‐ biographie seinem Vater zu. Er schildert Michael Regler als aufgeklärten Geist, der dem Wilhelminismus kritisch gegenübersteht. Zwischen Vater und Sohn gab es einen intensiven Briefwechsel, den der Schriftsteller in seinen Erinnerungen aufgreift und literarisch überformt. Ein Brief, den er während der militärischen Grundausbildung am 7. Februar 1917 in Königsberg verfasste, illustriert das enge persönliche Verhältnis und den Respekt vor seinem Vater: „Nicht nach rechts und nicht nach links blicktest Du, geradeaus war Dein Weg.“ 12 Seine Mutter Helene bildet in seinen Erinnerungen einen mentalen Gegenpol zum Vater, doch 66 Hermann Gätje 13 Vgl. GRW, Bd. X, S. 167-183. 14 Gustav Regler: Die letzte Nacht, Manuskript, unpubliziert, GRA. akzentuiert er ebenso ein enges Verhältnis. In den Charakteren der Eltern, die in Reglers autobiographischen Darstellungen in ihrer Gegensätzlichkeit zuge‐ spitzt dargestellt werden, projiziert er seinen eigenen Zwiespalt zwischen Ver‐ nunft und Glauben, politischem Aktivismus und Ästhetizismus. Regler war dreimal verheiratet. Seine Ehefrauen verkörpern drei ganz unter‐ schiedliche Charaktertypen, die ihn jedoch jede auf ihre Weise geprägt haben. Seiner Tätigkeit als Kaufmann im Textilunternehmen des Schwiegervaters während der ersten Ehe mit Charlotte Dietze widmet Regler in Das Ohr des Malchus eine längere Passage. 13 Dabei stilisiert er seine persönliche Erfahrung als Geschäftsmann und Mitglied einer begüterten sozialen Schicht zu einer Dar‐ stellung des Spekulantentums und des Bohèmelebens während der Weimarer Republik. Das Scheitern seiner Ehe inspirierte maßgeblich seine schriftstelleri‐ sche Tätigkeit. Die 1926 entstandene Erzählung Die letzte Nacht ist Reglers erstes (überliefertes) umfangreicheres literarisches Werk. 14 Vorbild für die unglück‐ liche Liebesgeschichte war das Ende seiner Ehe mit Charlotte. Seine zweite Ehefrau Marie Luise („Mieke“) Vogeler war die Tochter des Ma‐ lers Heinrich Vogeler und selbst Künstlerin. Regler hatte sie 1928 in Worpswede kennengelernt. Das Künstlerdorf wurde zu einem der prägenden Lebensorte des Schriftstellers, dessen Genius loci ihn faszinierte und anzog. Bis an sein Lebens‐ ende besuchte er dort regelmäßig die Familie von Marie Luise über längere Zeiträume. Ende 1942 lernte er seine spätere dritte Ehefrau Margaret („Peggy“) Paul kennen. Seitdem stand er mit ihr in einem intensiven brieflichen Austausch. Sie war für ihn Ansprechpartnerin in allen Lebensdingen. Knapp achthundert, meist tagebuchartige Briefe sind von seiner Hand überliefert, in denen er ausführlich von Gemütszuständen und Reisen berichtet. Die Briefe sind eine der wichtigsten Quellen für die Forschung. In einem Schreiben vom 12. Oktober 1955 berichtet er unter anderem von der Arbeit an der Autobiographie (GRA): [D]ramatic days. I was working in the National Library, it is the time of 1933-1938 that I am recapitulating; vehement memories of illegal crossings of Hitler frontier; the menaces of the Saar-fight, Spain, the friends, the wounds, the Russian treason, Marie Luise’s understanding. I worked and neglected almost all my friends […] someone rushed into me and broke several of my right. Die eher pragmatisch, praktisch orientierte US-Amerikanerin verkörperte in vielen Wesenszügen einen Gegensatz zum emotionalen, impulsiven Regler, doch 67 „Wir lasen Bücher … wir suchten und suchten“ 15 Brief Gustav Regler an Marianne Schröder-Regler, 20. Juni 1946, GRA. spiegelt sich in seinem Verhältnis die zunehmende Affinität zum „American Way of Life“. Aus der ersten Ehe ging sein 1923 geborener Sohn Dieter hervor. Dieser nimmt in Reglers erster autobiographischer Schrift, Sohn aus Niemandsland, eine Schlüsselstellung ein. Der Text entstand 1941/ 42 unter dem Eindruck des Bruchs mit dem Kommunismus. In Form von Briefen an den Sohn reflektiert Regler seine bisherigen Lebensstationen und formuliert neue Positionen und alterna‐ tive Perspektiven. Der Text verbindet Lebenserzählung, Beschreibungen der Gegenwart und programmatische politische Schriften zu einer Trias aus Rück‐ blick, Bestandaufnahme und Neuanfang. Den in Deutschland lebenden Sohn deutete er dabei als Personifikation einer kommenden Generation, der er seine schmerzhaften Erfahrungen mit Krieg und totalitären Ideologien beispielhaft zur Gestaltung einer besseren Zukunft vermitteln wollte. Es war dem Schrift‐ steller ein großes Anliegen, die vom Nationalsozialismus indoktrinierte und missbrauchte Jugend von seinen neugewonnenen Idealen von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit zu überzeugen. Für ihn persönlich war es ein Schicksals‐ schlag, als er nach dem Krieg erfuhr, dass Dieter bereits 1942 in einem Mün‐ chener Lazarett an Diphterie verstorben war. Die Schwester Marianne Schröder-Regler hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt. Auf die schmerzvolle Nachricht antwortete er in einem sehr persönlichen Brief vom 20. Juni 1946: Er hatte mich mehr begleitet auf meinen Irrfahrten, als ich hier schildern kann. Ich habe ein Buch an ihn geschrieben: „Sohn aus Niemandsland“; […]. Er schien mir die bessere Fortsetzung von allem, an das ich geglaubt habe, und es war ganz gleichgültig, ob er durch den Terror und einen irrigen Idealismus vielleicht sogar gezwungen worden war, an Dinge zu glauben, die ich von Anfang an bekämpft habe. Ich wusste, ich werde ihn wiedergewinnen, sobald ich ihn sehen werde. 15 Nach dem Krieg trat Regler wieder in intensiven Kontakt mit seiner Familie. Er nahm die Korrespondenz zu seiner Mutter wieder auf, sein Bruder Franz ver‐ mittelte die Publikation der Mexikobücher Amimitl und Vulkanisches Land 1947 im Saar-Verlag. Von 1949 bis zu seinem Tod besuchte der Schriftsteller regel‐ mäßig die Familie in Merzig. 68 Hermann Gätje 16 Brief Heinrich Vogeler an Gustav Regler und Marie Luise Vogeler, 27. Dezember 1935, LASLLE. 17 Die Texte sind unpubliziert. Zu beiden finden sich im Nachlass mehrere Typoskripte und Entwürfe, GRA. 18 Gustav Regler: Wolfgang Paalen. New York 1946. IV. Kunst Eine besondere Beziehung verband Regler mit der Bildenden Kunst. In seinen autobiographischen Schriften stellt er in allen Lebensphasen begleitend und sinngebend Bezüge zu Motiven aus der Kunst her. Es kennzeichnet seine Per‐ sönlichkeit, dass er in Lebenskrisen häufig Aufbau und Trost in der Kunst suchte. An der künstlerischen Arbeit seiner langjährigen Lebensgefährtin Marie Luise Vogeler nahm er großen Anteil. Regler hatte persönliche Beziehungen zu zahlreichen Künstlern, die sein Denken und Schaffen prägten. Mit dem Maler Heinrich Vogeler, dem Vater seiner Lebensgefährtin, stand er seit Ende der 1920er Jahre in intensivem Kontakt. Der Einfluss Vogelers, dessen Weg vom Jugendstil zum Formalismus führte, trug dazu bei, dass Regler sich dem Kommunismus zuwandte. Die Briefe Vogelers an die beiden diskutieren häufig das Verhältnis Kunst und Sozialismus, so schreibt er am 27. Dezember 1935 aus Moskau: Vielleicht bin ich mit meiner Kunst etwas zu weit vorausgeeilt und muß jetzt versu‐ chen, in Front zu kommen mit einfachen realistischen Bildern, wenngleich die öf‐ fentlichen Diskussionen vor den Komplexbildern im Kulturpark bei den Arbeitern den Wunsch an verschiedenen Stellen (bei englischen und bei deutschen) hervorbrachten, grade diese Art der Bilder, die die enge Verbundenheit des kulturellen Lebens mit den Betrieben zeigen durch diese neuen Realitäten - den Arbeitern der kapitalistischen Länder gezeigt werden müßten. 16 Als Regler sich nach seiner Abkehr von der Kommunistischen Partei verstärkt der Kunst zuwandte, freundete er sich in Mexiko mit einem Kreis surrealisti‐ scher Maler um den österreichischen Künstler Wolfgang Paalen an, deren Bilder ihn zu fantastischen Texten wie die Erzählung Das Traumschiff oder den Roman Familie Dupont anregten. 17 Paalen lebte mit seiner Frau in Mexiko in der Nach‐ barschaft der Reglers. Bald schon entwickelte sich eine intensive Freundschaft zwischen den Familien. Regler ist als alleiniger Autor des Texts der Bildmono‐ graphie Wolfgang Paalen aus dem Jahr 1946 verzeichnet, die anlässlich einer Ausstellung Paalens in New York erschien. 18 Indizien verweisen allerdings da‐ rauf, dass es sich um eine Arbeit handelt, an der Marie Luise und Paalen selbst 69 „Wir lasen Bücher … wir suchten und suchten“ 19 GRW, Bd. XI, S. 363. 20 Ebd., S. 391. 21 Auszüge in GRW, Bd. IX, S. 587-616. Ein vollständiges Reintyposkript und Entwürfe finden sich im Nachlass, GRA. ebenfalls beteiligt waren. Der Schriftsteller reflektierte Paalens Werk und Welt‐ anschauung zudem in lyrischen Texten wie dem Gedicht Les Cosmogenes: Parabeln? Seid ihr Kinder der Sonne, die euch eben gebar? Oder seid ihr gekommen aus dem neidischen Dunkel des Alls den Kreis zu verschlingen - Gleich verspielten Haifischen werft ihr euch blind in die geschlossenen Wellen, die ihrem Zentrum gehorchen, doch nie ein Ufer fanden zum brandenden Bruch ihrer Vieldeutigkeit. 19 Auf seinen zahlreichen Reisen in den 1950er und 1960er Jahren besuchte Regler häufig Museen und kulturhistorisch bedeutsame Stätten. Von unterwegs schickte er seinen Freunden und Verwandten Kunstpostkarten, die er stets leidenschaftlich, originell und geistreich zu kommentieren oder dichterisch zu fassen verstand. Einer der von Regler sehr bewunderten und häufig adaptierten Maler der Gegenwart war Marc Chagall. Das Gedicht Für Heide ist der befreun‐ deten Kunstkeramikerin Heide Weichberger zugeeignet und stellt eine dich‐ terische Reflexion über Chagalls Bild Der grüne Geiger dar: Er geigt Türkisen um deinen Hals und Mandeln in deine Hände zum verträumten Naschen am Bettrand. Frisch gebackenes Brot ist sein Lied, ein ganzes Dorf bot sich als Fußbank an, damit sein von Bitten schief gewordener Mund wenigstens eine Wolke schmecken könne. 20 Sein letzter, im Jahr 1960 abgeschlossener und bislang nur in Teilen publizierter Roman Uccello erzählt die Lebensgeschichte des Renaissance-Malers Paolo di Dono (gen. Uccello). 21 Die Kapitel stellen jeweils ein Bild des Künstlers in den Mittelpunkt, beschreiben und deuten es im Kontext der entsprechenden Ent‐ stehungsrespektive Lebensphase. Der Wechsel zwischen dem Blickwinkel Uccellos und dem eines Erzählers korrespondiert mit der perspektivischen Ma‐ lerei des Italieners. 70 Hermann Gätje 22 Brief HAP Grieshaber an Gustav Regler, August 1961, Kopie LASLLE. 23 Tagebuch, 19. April 1926, GRA. 24 Vgl. Hermann Gätje: Leben und Leben schreiben. Gustav Reglers autobiographische Schriften. Entstehungsprozess - Fassungen - Gattungsdiskurse. St. Ingbert 2013 [Saar‐ brücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. Bd. 89], S. 441-461. Seit Beginn der 1960er Jahre war Regler mit dem Grafiker und Maler HAP Grieshaber befreundet. Die beiden führten eine regelmäßige Korrespondenz, die einige Künstlerbriefe Grieshabers enthält. Mit dem Filmemacher und Autor Heinz Dieckmann drehte Regler einen Film über den auf der Schwäbischen Alb lebenden Künstler, der vor allem für seine Holzschnitte berühmt war. Grieshaber hat sich besonders für den Künstlerroman Uccello begeistert: „Wann endlich kommt Uccello? Er ist so nötig wie das Spanienbuch - wie Brot! “ 22 V. Literarische Einflüsse Regler lebte in einer Zeit des Übergangs. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde von gesellschaftlichen Umbrüchen und Spannungen, von politischen Ideologien und Utopien bestimmt. Literarisch steht diese Phase noch unter dem Eindruck des Paradigmenwechsels von den idealistischen Positionen des 19. Jahrhunderts hin zu den ästhetischen Debatten der Moderne. In seinem Werk machen sich deshalb viele Einflüsse geltend; vor allem die großen Erneuerer der modernen Literatur wie Fjodor Dostojewski, Rainer Maria Rilke, Alfred Döblin und Franz Kafka haben auf ihn gewirkt. In einigen Auf‐ zeichnungen thematisiert er selbst diese prägenden Einflüsse. Während der Entstehung seiner ersten Erzählung Die letzte Nacht setzte sich Regler mit Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow auseinander: „Heute morgen denke ich an gestern abend. An Iwan, die besessene Lisa, sein Abbild im Animalischen, an Mitja, draußen in der Köhlerhütte, an seinen Hymnus im Gefängnis, an Gruschenka, da sie Ajoscha Schwester nennt und an den alten Oberst, als er das Geld zertritt.“ 23 . An zahlreichen Bezügen in seinem gesamten Werk ist abzulesen, wie sehr die Beschäftigung des russischen Autors mit den moralischen Fragen der Menschheit auch Reglers Schreiben und Denken prägte. Vor allem die Schilderungen der Russland-Reisen in Das Ohr des Malchus greifen Motive Dostojewskis auf. 24 Sein 1948 bis 1950 entstandener, jedoch unveröffentlicht gebliebener Roman Familie Dupont (andere Titel: Die Familie, die das Glück suchte; Lola und Mutter Maria) erinnert aufgrund seiner surreal-grotesken Handlung an Franz Kafka. In zahlreichen Briefen betont Regler seit 1945 den Einfluss Kafkas auf sein 71 „Wir lasen Bücher … wir suchten und suchten“ 25 Brief Gustav Regler an Peggy Regler, 25. November 1945, GRA. 26 Widmung Gustav Regler an Franz Zemke, 1949, GRA. 27 Tagebuch Januar/ Februar 1919, Eintrag ohne Datierung, GRA. Schaffen, bereits in einem Schreiben an seine Frau Peggy vom 25. November 1945 spricht er von „my kinship to Kafka“. 25 VI. Heimat Saarland Reglers Verhältnis zum Saarland und zu seiner Geburtsstadt Merzig ist ebenso vielschichtig wie ambivalent, zudem wird es bis in die Gegenwart vom Topos des „verlorenen Sohn“ geprägt. Er selber signierte während seines ersten Be‐ suchs im Saarland nach dem Exil eine Buchwidmung an seinen Vetter Franz Zemke mit „der immer noch verlorene Sohn Gustav“. 26 Von seinem Naturell war Regler gewiss ein Charakter, den es in die Zentren der Welt zog und der das Leben in der Kleinstadt Merzig bisweilen als einförmig und beengend empfand. Zugleich hat er aber stets seine innere Verbundenheit mit der Stadt und der Region betont, vor allem im Hinblick auf die verbindende Funktion der Grenze im europäischen Versöhnungsprozess. „Zur Zeit der Besetzung in Merzig 1919“ - so überschreibt Regler einige Tagebuchaufzeichnungen, die aus dem Januar oder Februar 1919 stammen. Unter dem Eindruck der Besetzung der Heimatstadt durch Truppen der Entente räsoniert er über den eigenen Patriotismus und seine Zweifel daran, hinterfragt die Kriegsbegeisterung von 1914: Aber ein Zweifel mischt sich hinein, die Augen haben zuviel gesehen und die Ohren zuviel gehört in den letzten Monaten. Es mag etwas Hohes sein, die Nation und das Bewußtsein ihr anzugehören, die Deutschen kennen es nicht. Ja ich höre schon wieder: „Aber denke doch an die Augusttage 1914 …“ Ich kann mir nicht helfen und will auch nichts Erhabenes in den Schmutz ziehen - man kann das ja auch gar nicht - aber war 1914 nicht doch 80. % aller Begeisterung ein sensationeller Rausch, ein durch über‐ menschliche Nervenanspannung herbeigeführter Gefühlsausbruch, ein gedanken‐ loses Draufstürmen in eine Zukunft, deren Furchtbarkeit keiner ahnte. Die Heimat schützen, die Lieben bewahren vor den Kriegsgreueln, das waren die Parolen und wir haben sie wahr gemacht; dabei 2 Millionen Mann verloren und uns unserer Freiheit beraubt. 27 Im Wahlkampf zur Abstimmung über die politische Zukunft des Saargebiets im Januar 1935 engagierten sich zahlreiche antifaschistische Schriftsteller wie Ber‐ tolt Brecht oder Ilya Ehrenburg. Dem Saarländer Regler kam dabei eine beson‐ dere Rolle zu, und er war als unermüdlicher Agitator gegen den Anschluss an 72 Hermann Gätje 28 Brief Gustav Regler an Marie Luise Vogeler, 12. August 1933, LASLLE. 29 Brief Gustav Regler an Helene Regler, 10. September 1955, GRA. 30 Brief Gustav Regler an Marianne Schröder-Regler, 10. Dezember 1960, GRA. Hitler-Deutschland unterwegs. In Briefen an seine Lebensgefährtin Marie Luise berichtet er von seiner Tätigkeit und über die Stimmung in seiner Heimat. So schreibt er in einem Brief vom 12. August 1933: Liebes! ich sitze in den Wäldern über Völklingen. Eine tropische Hitze brütet um mein Dach‐ zimmer, das ich bei dem Besitzer des Kinderheims mit Gesamtpension gemietet habe. Aber ich bin doch zufrieden, denn erstens ist man doch viel sicherer an der Saar als ich glaubte, man kann arbeiten, man kann mit den besten Proleten überall zusammen sitzen, die sonst lärmenden, aufdringlichen Nazimassen sind nur beim abendlichen Pennälerbummel oder bei Kriegervereinsfesten als Haufen mutig. Unsere Jungens aber stehen und werden jeden Tag aktiver. 28 Ende 1949 besuchte Regler zum ersten Mal nach vierzehn Jahren im Exil wieder das Saarland. In Tagebuchnotizen reflektiert er seine Empfindungen bei diesem Wiedersehen: „Die Saar, mein Niemandsland zwischen den Wällen, das nur ge‐ sunden kann, wenn alle Grenzen ausgewischt sind.“ (GRA) Unter dem Eindruck des gesprengten Westwalls hält er fest, dass es für das Saarland eine reelle Zu‐ kunftsperspektive nur in einer europäischen Integration gibt. Bei den heftigen politischen Auseinandersetzungen im Vorfeld der Abstim‐ mung über das europäische Saarstatut am 23. Oktober 1955 sah er die bösen Geister des Nationalismus wieder am Werk. Sehr kritisch bilanziert er in diesem Kontext das Wirken des kurz zuvor, am 24. August 1955 verstorbenen saarlän‐ dischen Industriemagnaten Hermann Röchling: „Wenn ich an Völklingen denke, weiss ich, dass es eine Hölle gibt.“ 29 Regler erhielt 1960 den ersten in der Sparte Literatur verliehenen Kunstpreis des Saarlandes. Diese Auszeichnung seiner Heimatregion bedeutete ihm sehr viel und er brachte das in zahlreichen Briefen und Interviews zum Ausdruck. Nachdem er von der Auszeichnung erfahren hat, schreibt er an seine Schwester Marianne Schröder-Regler in Merzig: „Ich bin froh und bewegt, denn es drückt den Sieg eines Werks aus, das durch viele Irrtümer sich immer treu blieb“. 30 73 „Wir lasen Bücher … wir suchten und suchten“ 1 Dieser Beitrag ist eine Überarbeitung meines Aufsatzes: Die (Neu-)Deutung des Ersten Weltkriegs unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs in Literatur und literarischen Autobiographien am Beispiel der Schriften Gustav Reglers. In: Claude D. Conter / Oliver Jahraus / Christian Kirchmeier (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg als Katastrophe. Deutungsmuster im literarischen Diskurs. Würzburg 2014, S. 337-349. Der Wandel in der Deutung des Ersten Weltkriegs unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs bei Gustav Regler 1 Hermann Gätje Bei Durchsicht von Nachlass und Schaffen Gustav Reglers fällt auf, dass in seinen Texten und Aufzeichnungen von 1914 bis 1958 der Erste Weltkrieg, wenn auch nicht exponiert, so doch immer wieder auftaucht, seine Sicht der Dinge aber einem Wandel unterworfen ist. Zu fragen wäre, welche Faktoren diese veränderten Sichtweisen verursacht haben. Sowohl die Deutung der persönlichen Kriegser‐ lebnisse als auch die politisch-historische Einordnung wechseln bei Regler im Lauf der Zeit und es scheint, dass ein Zusammenspiel individueller sowie allgem‐ einer Faktoren dies bedingt. Die eingehende literarische und autobiographische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg setzte bei ihm erst unter dem Ein‐ druck des Zweiten Weltkriegs ein. Der Beitrag möchte eine exemplarische An‐ näherung und Anregung sein, sich grundsätzlich mit der Frage auseinanderzu‐ setzen, wie und durch welche Faktoren sich die Deutung des Ersten Weltkriegs durch den Zweiten verändert hat. Dies ist vor dem Hintergrund bedeutsam, dass der Zweite Weltkrieg sowohl persönlich autobiographisch als auch kollektiv historisch neue Deutungen des Ersten Weltkriegs evoziert hat. Unsere heutige Sichtweise auf den Ersten Welt‐ krieg ist maßgeblich geprägt von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Im Sinne des Begriffs der „Historisierung“ könnte man heuristisch formulieren, dass der Erste Weltkrieg relativ früh als Teil der „Geschichte“ gedeutet wurde, während der Zweite bis heute noch eher als „Zeitgeschichte“ empfunden wird. Gewiss lässt sich eine solche Sichtweise empirisch nur schwer belegen, doch glaube ich, dass der Zweite Weltkrieg uns nach über siebzig Jahren immer noch näher ist, als es der Erste Weltkrieg seinerzeit nach dreißig Jahren war. Der Grund liegt auf der Hand: Die Verbrechen und Grauen der NS-Herrschaft haben den Ersten Weltkrieg verdrängt und historisiert. Häufig werden der Erste Welt‐ krieg bzw. seine Folgen als Ursache für die noch größere Katastrophe des Zweiten gedeutet. Er erscheint dann in einem Kausalzusammenhang. Weil der Zweite Weltkrieg so fest im heutigen kollektiven Bewusstsein verankert ist, ist es sehr schwer, die Stimmungen zur Zeit des Ersten Weltkriegs isoliert zu fassen. Diese Gedanken möchte ich als Ausgangspunkt in den Raum stellen und an‐ hand der Schriften Reglers beispielhaft aufzeigen, wie sich persönliche, aber auch kollektive Deutungsmuster des Ersten Weltkriegs unter dem Eindruck des historischen Prozesses verändert haben. Der 1898 in Merzig/ Saar geborene Regler verkörpert nahezu exemplarisch einen Schriftstellertyp des 20. Jahrhunderts, für den das Fronterlebnis des Ersten Weltkriegs eine einschneidende Rolle gespielt und die weitere Biographie maß‐ geblich geprägt hat. Betrachtet man die Vita, deutet sich schon an, wie sehr hier kollektives und persönliches Schicksal zusammenfließen. Regler gibt ein Fall‐ beispiel des zerrissenen, verunsicherten, sinnsuchenden Menschen der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ab. Er wächst in Merzig im damals preußischen Rheinland auf, unmittelbar an der Grenze zu den 1871 vom Deutschen Reich annektierten Reichslanden Elsaß-Lothringen. Seine Heimatregion und Lebenswelt ist unmittelbar betroffen vom deutsch-französischen Konflikt. Nach dem Abitur im November 1916 geht er zum Militär, wird in Ostpreußen ausgebildet und kommt an der Westfront bei Soissons am Chemin des Dames zum Einsatz. Nach einer schweren Gasvergif‐ tung im Herbst 1917 mit anschließendem Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt wird er im Februar 1918 entlassen, und beginnt mit dem Studium. Vor dem Hintergrund seines folgenden Lebenslaufs ergeben sich bei ihm wechselnde Sichtweisen auf den Ersten Weltkrieg. Diese korrespondieren mit der jeweiligen Lebenssituation des Autors und der jeweils aktuellen politischen Lage. Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg sind die ältesten Textzeugnisse dieses Autors überhaupt. Es ist ein Tagebuch des Schülers von Juli 1914 bis Dezember 1915, in dem er neben Persönlichem die Stimmung am Vorabend und Beginn des Kriegs in Merzig, die Auswirkungen auf das alltägliche Leben sowie das allgemeine Kriegsgeschehen beschreibt und kommentiert. Das Tagebuch ist vordergründig Ausdruck der zeittypischen patriotischen Einstellung des jungen Regler, es kommentiert freudig Siegesmeldungen und enthält Lobgesänge 76 Hermann Gätje 2 Gustav Regler: Tagebuch Juli 1914 bis Dezember 1915, LASLLE. 3 Gustav Regler: Boelcke. In: Merziger Zeitung, 2. November 1916. auf Hindenburg und Mackensen. Im Zuge der Reflexion über einen Patriotismus-Aufsatz in der Prima legt er darin ein glühendes Bekenntnis der vaterländischen Gesinnung nieder. 2 Auch Reglers erste nachgewiesene Publi‐ kation, ein heroischer Gedicht-Nachruf auf den Jagdflieger Oswald Boelcke, 3 entspricht dieser Tendenz und steht bezeichnend am Beginn eines schriftstel‐ lerischen Werks, dessen Arbeiten auch immer Ausdruck der jeweiligen weltan‐ schaulichen Einstellungen ihres Autors sein werden. Doch ist bemerkenswert, dass sich neben den von emphatischer Siegesbe‐ geisterung emotional gefärbten Stellen im Tagebuch immer wieder nachdenk‐ liche, Zweifel andeutende Betrachtungen finden, die in der noch allgemeinen Euphorie am Anfang des Krieges auf die kommenden schweren Zeiten ver‐ weisen, so zum Beispiel, als die Schulklasse vom Soldatentod eines Lehrers er‐ fährt. Von Katastrophe oder gar Niederlage ist gewiss niemals die Rede, es über‐ wiegt die patriotische Haltung, die der junge Regler, obwohl er im Verlauf der folgenden Jahre deutlich nachdenklicher wurde, im Grundsätzlichen auch nach seiner Kriegsverletzung im Herbst 1917 (belegt durch Briefe an seinen Vater Michael Regler) und noch nach der Kriegsniederlage beibehält, wie ein Eintrag in seinem Tagebuch von Anfang 1919 bezeugt, als seine Heimatstadt Merzig von französischen Truppen besetzt ist. Jedoch hinterfragt er dort seine patriotische Gesinnung von 1914: Zur Zeit der Besetzung in Merzig 1919 Ob ich überhaupt das Buch aufschlagen sollte? Es ist vielleicht eine Entweihung, aber ich möchte mich aussprechen, und es durchwogt mich vieles: Ich komme gerade aus dem Café zurück, in dessen gemütlicher Kleinstadtstille ich wie früher nach Tagesar‐ beit meinen Gedanken nachhängen wollte. Es war aber Lärm dort, feindliche Offiziere beim Sekt, eine hübsche Dirne von Weltallüren, dreier Sprachen mächtig, anscheinend Engländerin und dazu eine Bürgermeisterstochter aus dem Nachbarort mit ihrem Bruder und einem Benehmen, das schon an Bordell erinnerte. Mich schmerzte erst der ganze Auftritt, dann zwang ich mich und setzte mich, die Gefühle soviel wie möglich ausschaltend, in die Ecke. Ich beobachtete. Was ging mir nicht alles durch den Kopf! Ich will gerecht sein, aber die Selbstverständlichkeit, mit der das ganze Lokal das Tanzen, Singen und Spielen aufnahm, gab mir doch zu denken. Ist denn Nationalbe‐ wußtsein nur etwas künstlich Anerzogenes, was vor der Gewohnheit, vor den mate‐ riellen Fragen ohne weiteres in den Hintergrund tritt? Soll es denn wirklich Torheit sein, ein solches Ideal zu dem seinigen zu machen und es bedingungslos zu verfechten? 77 Der Wandel in der Deutung des Ersten Weltkriegs 4 Gustav Regler: Tagebuch November 1917 bis März 1919, GRA. 5 GRW, Bd. II, S. 59. 6 GRW, Bd. I, S. 398f. Ich fühl es doch, daß sie in mir wohnt, die Liebe zu dem Volk, dessen Sprache ich spreche, dessen Fehler und Vorzüge ich kenne und teile. Deshalb halte ich daran fest, getrieben vom inneren Muß. Aber ein Zweifel mischt sich hinein, die Augen haben zuviel gesehen und die Ohren zuviel gehört in den letzten Monaten. Es mag etwas Hohes sein, die Nation und das Bewußtsein ihr anzugehören, die Deutschen kennen es nicht. Ja ich höre schon wieder: „Aber denke doch an die Augusttage 1914 …“ Ich kann mir nicht helfen und will auch nichts Erhabenes in den Schmutz ziehen - man kann das ja auch gar nicht - aber war 1914 nicht doch 80. % aller Begeisterung ein sensationeller Rausch, ein durch übermenschliche Nervenanspannung herbeige‐ führter Gefühlsausbruch, ein gedankenloses Draufstürmen in eine Zukunft, deren Furchtbarkeit keiner ahnte. Die Heimat schützen, die Lieben bewahren vor den Kriegsgreueln, das waren die Parolen und wir haben sie wahr gemacht; dabei 2 Mil‐ lionen Mann verloren und uns unserer Freiheit beraubt. 4 Angesichts der sehr intensiven Beschäftigung mit dem Krieg in Tagebüchern und Briefen und den ausführlichen Reflexionen erscheint es überraschend, dass danach in den Aufzeichnungen und später den journalistischen und literari‐ schen Texten Reglers der Erste Weltkrieg respektive das eigene Erlebnis prak‐ tisch keine Rolle spielen. Dabei lassen ihn seine Biographie und Entwicklung, seine politischen Kurswechsel bis zum Bekenntnis zum Kommunismus als ty‐ pischen Vertreter der verunsicherten Nachkriegsgeneration erscheinen. In seinen Romanen verweist er allenfalls am Rande und indirekt darauf, wenn er z. B. im kommunistischen Gefängnisroman Wasser, Brot und blaue Bohnen von 1932 seinen autobiographisch inspirierten Protagonisten Rotter im Dunkel der Zelle denken lässt: „[D]ie Nächte werden furchtbarer werden als die frühen Stunden im Trommelfeuer am Damenweg“, womit er die Zustände in den Haft‐ anstalten der Weimarer Republik charakterisieren will. 5 In seinem kirchenkri‐ tischen Roman Der verlorene Sohn (1933) überspringt er in der Handlungschro‐ nologie den Krieg, indem er lakonisch berichtet, dass der (französische) Protagonist Leon die vier Kriegsjahre als Simulant in einem Kloster-Lazarett verbracht hat: „Nun ließ man ihn frei in ein gerettetes Vaterland, dem die besten Söhne fehlten, das aber seine Generale und Priester nicht verloren hatte.“ 6 Die wenigen Äußerungen aus dieser Lebensphase sind durch seinen kommunisti‐ schen Standpunkt geprägt und sehen den Ersten Weltkrieg als imperialistischen Krieg. Ein explizites Dokument zum Ersten Weltkrieg ist der Artikel Wieder‐ 78 Hermann Gätje 7 Gustav Regler: Wiedersehen mit meiner Front. In: Berliner Tageblatt, 4. Januar 1933, o. P. 8 Ebd. 9 Gustav Regler: Kumpel Karl. In: „durch einen Flözarm von Wörtern“. Literatur und Bergbau. Eine Anthologie. Hrsg. von Hermann Gätje / Sikander Singh. Saarbücken 2012 [illimité], S. 156-200, hier S. 176. sehen mit meiner Front, 7 der von einer Versammlung in Soissons, dem Schauplatz seines Einsatzes im Ersten Weltkrieg, und seiner dortigen Rede berichtet. In zwei Abschnitten seiner im Grunde gesamtpolitischen Betrachtungen geht er auf ei‐ gene Kriegserlebnisse ein, um dann als Teil eines kollektiven Ichs glaubhaft seine politische Botschaft als Friedensappell zu unterstreichen und damit das vorge‐ gebene Deutungsmuster zu bekräftigen: „Wir waren Mitspieler in jenem blu‐ tigen Spiel und wir verachten es bis heute als dumm und gemein, wir sehen in aller Tapferkeit keinen Sinn, und wir betrachten uns als Missbrauchte.“ 8 Die Erzählung Kumpel Karl von 1934, anlässlich des Abstimmungskampfes an der Saar in der Arbeiterzeitung Saarbrücken in Fortsetzungen publiziert, folgt diesem Deutungsmuster noch schablonenhafter. Auf seinem Lebensweg zum Vorzeige‐ kommunisten erlebt der Bergmann Karl den Krieg als Missbrauch und Ausbeu‐ tung der Arbeiterklasse. Als nach dem Krieg die Franzosen das Saargebiet be‐ setzen, ändert sich nichts: „[N]ur die Farbe der Uniformen hatte sich geändert.“ 9 Die wenigen Zeugnisse der Zwischenkriegszeit unterscheiden sich von denen des jungen Regler auch darin, dass sie im Wesentlichen unreflektiert ein vor‐ gegebenes kommunistisches Deutungsmuster übernehmen. Denn trotz aller patriotischer Begeisterung enthielten die persönlichen Texte bis 1919 zweifelnde und reflexive Passagen. Doch mit seiner Ablösung vom Kommunismus und unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs zeigt sich bei Regler ein neues Deutungsmuster des Ersten Weltkriegs, und es beginnt nun eine intensive Beschäftigung in literarischen und autobiographischen Texten. Reglers erster autobiographischer Text Sohn aus Niemandsland von 1942 ist das Manifest eines politischen Neuanfangs. Es ist nicht als klassische Biographie strukturiert, sondern in Form von fingierten Briefen an seinen Sohn in Deutsch‐ land gestaltet, zu dem er keinen Kontakt hat, den er aber als Pars pro Toto für die ganze junge Generation in NS-Deutschland ansprechen will. Diese Briefe erzählen vor dem Hintergrund von Reglers Abschied vom Kommunismus in Episoden und Reflexionen die Stationen seiner Zeit als Kommunist bzw. politi‐ scher Aktivist von 1928 bis in die Erzählgegenwart in Mexiko 1942, ergänzt um einige politische Agitationstexte, die seine neuen Auffassungen verdeutlichen sollen. Der Erste Weltkrieg wird vor allem in seiner allgemeinen Auswirkung 79 Der Wandel in der Deutung des Ersten Weltkriegs 10 GRW, Bd. VI., S. 292f. auf die Entwicklung der Weimarer Republik erwähnt, und Regler geht an den Beispielen von Rainer Maria Rilke und Heinrich Vogeler auf die Wandlung zahl‐ reicher Künstler von anfänglichen Kriegspathos und -begeisterung hin zu Skepsis und Ablehnung ein, was auch seine persönliche Entwicklung wider‐ spiegeln soll. Zudem ist das Buch ein Appell an die junge deutsche Generation, sich gegen Hitler zu stellen und dem Krieg ein Ende zu machen. Dabei geht er auch auf den Ersten Weltkrieg und seine Folgen ein: „Der letzte Rattenfänger war Wilson“, so sagst du mit Hohn. „Wir trauten seinen 13 Punkten [sic! recte: 14] und wir endeten in jenem Spiegelsaal, vor dessen vergoldeten Toren ein selbstsüchtiges Volk schrie: le boche payera.“ Glaubst du, daß wir vergessen haben? Ich war gläubiger Student in jenem Jahr 1919. Das Gas des Chemin des Dames kitzelte noch in meinen Lungen, aber wir schrien jenem bärtigen Apostel Eisler, dem bayrischen Premier, mit allen Kräften zu, als er von der Berner Arbeiterkonferenz zurückkehrte und kundgab, daß er den französi‐ schen Arbeitern dort unten angeboten habe, freiwillige Bataillone deutscher Arbeiter zu bilden, um die Städte um Soissons und Reims wieder aufzubauen. Ich will nicht davon sprechen, wer den großen Idealisten niederknallte, du willst hören, was ich von den Feinden denke, von denen, die Versailles machten, von den Völkern, die es ge‐ statteten. Nun, die Völker haben versagt. Sie haben ihre Stunde nicht erkannt. Sie zertrümmerten unsere Hoffnungen. Heuchelei schuf die Demütigung, und die De‐ mütigung schuf den Eroberer. Wir wissen es längst, daß das rebellische Heer am Rhein hätte stehen bleiben sollen; es hätte seinen Marschall zum Teufel jagen und dann von den Völkern Europas sein Recht fordern sollen. Ich meine dies ernsthaft. Mit der re‐ volutionären Wacht am Rhein wäre nie ein Versailles entstanden. Und so fordere ich auch heute nichts anderes. Laßt euch nicht entwaffnen! Werdet das Heer des neuen Deutschlands! Der Feind ist nicht nur der größenwahnsinnige Führer eurer Schlachten; er ist auch auf der anderen Seite. Die Welt will wieder eure Demütigung; ihr habt ihr viele Gründe gegeben. 10 Regler vertritt hier noch die vieldiskutierte These, dass der Versailler Vertrag den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Krieg begünstigte, was er später nicht mehr tat. Dies lässt sich eventuell damit erklären, dass ihm 1942 das ganze Ausmaß der NS-Gräuel noch nicht bekannt war und ihm solch eine Deutung in dieser expliziten Form im Nachhinein als Rechtfertigung erschienen wäre. Während der Erste Weltkrieg in Sohn aus Niemandsland zwar in seiner histo‐ risch-politischen Dimension an einzelnen Stellen thematisiert und diskutiert wird, geht er auf sein persönliches Erlebnis nur einmal am Rande ein. Erst Reglers spä‐ 80 Hermann Gätje 11 Brief Gustav Regler an Peggy Regler, 25. Oktober 1945, GRA. 12 Brief Gustav Regler an Peggy Regler, 10. April 1945, GRA. tere Autobiographien, die unveröffentlichten I would do it again (1947/ 48), Die Tränen der Niobe (1948/ 49) und das 1958 erschienene Das Ohr des Malchus, die textgenetisch aufeinander aufbauen, erzählen seine Erlebnisse im Ersten Welt‐ krieg und betten sie in den Kontext des Diskurses der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Doch seine intensive literarische und autobiographische Ausein‐ andersetzung mit dem Ersten Weltkrieg beginnt bereits 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs mit den beiden Romanen um den US-Heimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg Bill Armstrong. Regler analogisiert dort den Ersten und den Zweiten Weltkrieg und stellt so ein Deutungsmuster her, das in dem Zusammen‐ hang der beiden Kriege seine spätere Sicht über den Ersten Weltkrieg bestimmen wird. Im ersten der Romane, Keine bleibende Stadt, reisen Armstrong und sein Begleiter Nuncle, ein afroamerikanischer Kriegsveteran, mit einem alten Jeep durch die USA, um ehemalige Kameraden oder Hinterbliebene aufzusuchen. Aus den Lebenden und den Toten soll eine spirituelle Gemeinschaft begründet werden, die zugleich für eine bessere Welt steht: die „Kompanie“. Regler hatte mit diesem Heimkehrer-Roman bereits im Januar 1945 begonnen, als der Krieg noch gar nicht zu Ende war. Zudem war er weder im Fronteinsatz noch konnte er sich wegen eines Einreiseverbots vor Ort ein Bild von der Stimmung in den USA machen. Er reagierte auf eine in diese Richtung zielende Kritik eines Lektors mit einem Verweis auf die Parallelität der Ereignisse: The argument that few things are „too similar“ to the feelings of the last war or its aftermath does not convince me. I have so many letters of typical American boys who where in it that I believe I am right to express their opinions this way […] You won better than the last time and I wish your leading men will make more of it than poor Wilson could make. But on the non-political level, in the human sphere, that I want to describe, the problem always will have a „similar“ character. Death is the same 1918 and 1945. And the question „what for? “ is asked again and still not answered. 11 Und auch an anderer Stelle weist Regler explizit auf den Zusammenhang hin: [W]hen I talk about readjustment, I mean the US. I feel it has hope; it is positive; […] And therefore I am writing my story; I am not without experience, because I lived the end of the last war, and mankind reacts everywhere the same. 12 Man kann also davon ausgehen, dass die entsprechenden Romanpassagen so‐ wohl das Fronterlebnis als auch die Integrationsprobleme betreffend zu einem beträchtlichen Teil auf Reglers persönlichen Erfahrungen im Zuge des Ersten 81 Der Wandel in der Deutung des Ersten Weltkriegs 13 GRW, Bd. VIII, S. 101. 14 Ebd., S. 195. 15 Ebd., S. 62. Weltkriegs beruhen. Zieht man die spätere Autobiographie heran, so werden Analogien mit Keine bleibende Stadt offensichtlich. Man erkennt Reglers Grund‐ absicht, in der vergleichbaren Situation des Kriegsendes mithilfe seiner eigenen Lebenserfahrungen darlegen zu wollen, dass es nun nicht noch einmal eine ähn‐ liche (Fehl-)Entwicklung wie nach dem letzten Krieg geben dürfe, die schließlich in die noch größere Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führte. Regler schildert sich in seiner Autobiographie als Angehörigen einer Heimkehrer-Generation, die durch die Kriegserfahrung und die Niederlage ihrer Ideale beraubt und willkom‐ menes Opfer für politische Ideologien, Sekten, Demagogen aller Art ist. In dieser Folge sieht und rechtfertigt er zugleich auch seinen eigenen politischen Irrweg, den Glauben an die Erlösung durch den Kommunismus. Die „Kompanie“, die eine Besinnung des Einzelnen auf die einfachen Grundwerte der menschlichen An‐ ständigkeit und Ablehnung diffuser politischer Heilslehren verkörpert, soll die Menschheit vor einer Duplizität der Ereignisse bewahren, denn der Krieg - so lässt Regler Armstrong denken - „sei noch längst nicht vorbei, im Gegenteil, er sei jetzt in seine schwierigere und auch wichtigere Phase eingetreten: wo man Menschen dafür gewinnt, einen ewigen Frieden zu errichten.“ 13 Und: „Jeder Krieg schuf einen neuen Golem von Vätern. Dieser schuf keinen. Weil wir da sind. Wir stoßen den tönernen Koloß um, bevor er über unsere Leichen marschieren kann.“ 14 Regler stellt im Romantext häufig Bezüge zwischen den beiden Weltkriegen her, hier ein Beispiel, in dem er die Erwähnung des „mythischen“ Orts Verdun mit den Gegenwartsproblemen der USA verknüpft. Gerade in deren Lösung sieht er auch eine Vermeidung zukünftiger Konflikte, wobei er die Vorreiterrolle von Bill und seinen Kameraden betont: „Erster September“, sagte er mit fröhlicher Stimme. „Das war doch der Tag, an dem wir Verdun nahmen. Ich fand Gräber von Schwarzen da. Jungens vom letzten Krieg. Die hatten damals einen eigenen Friedhof. Diesmal waren wir zusammen.“ 15 Regler stellt eine Parallele zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg her, die als Lehre für die Zukunft steht. Da er auf der einen Seite die Gemeinsamkeit der historischen Situation hervorhebt, wird die Warnung besonders eindringlich, wenn er auf der anderen Seite das größere Ausmaß der Schrecken des Zweiten Weltkriegs hervorhebt, denn ein nun folgender dritter globaler Krieg würde noch verheerender werden. 82 Hermann Gätje 16 Ebd., S. 193. Er [Bill] fragte sich, wie die anderen es nach dem letzten Krieg angestellt hatten […] Man wußte nicht so viel. Alles war klarer und nicht so groß. Die Flugzeuge und alles waren noch nicht zu solcher Höhe aufgestiegen. Und Männer wie er hatten noch nicht so tief gegraben. 16 Der zweite Roman, Sterne der Dämmerung, ist stärker von Reglers persönlichen Problemen geprägt. Hier sucht Armstrong die Witwe eines gefallenen Kame‐ raden auf; zwischen den beiden bahnt sich eine schwierige Liebesbeziehung an. Diesen Roman hat Regler nach dem Tod seiner Frau Marie Luise begonnen, zudem erfährt er während der Schreibarbeit im September 1946 vom Tod seines Sohnes Dieter. Diese Eindrücke bedingen hauptsächlich bei Sterne der Dämme‐ rung eine stärkere Akzentuierung auf das Private, doch ist es dabei bemerkens‐ wert, dass er das Heimkehrermotiv und die Todeserfahrung im Krieg mit dem Tod seiner Frau und seiner anschließenden Neufindung parallelisiert. Die persönlichen Schicksalsschläge und die Verarbeitung der Erlebnisse des Ersten Weltkriegs im literarisch-fiktionalen Gewand inspirieren und beein‐ flussen maßgeblich die Arbeit an einer neuen Autobiographie. In die unmittelbar nach den Bill-Armstrong-Romanen entstandene zweite autobiographische Schrift I would do it again hat Regler ein Kapitel aufgenommen, das seinen Ein‐ satz an der Front und die anschließende Zeit in der Nervenheilanstalt Waldbröl behandelt. Diese Teile sind eingereiht in die Lebenserzählung zwischen Kind‐ heit/ Jugend und ein kurzes Kapitel über den Beginn seines Studiums in Heidel‐ berg. Für die spätere Autobiographie hat Regler I would do it again überarbeitet und fortgesetzt. Der Text floss in die bereits ein Jahr später begonnene nächste Autobiographie Die Tränen der Niobe ein, die in der Chronologie der Lebenser‐ zählung etwas erweitert wurde. Beide Schriften verstand Regler als Anfänge einer umfassenden Lebensbeschreibung, die er aber erst Mitte der 1950er Jahre wieder aufnahm und 1958 unter dem Titel Das Ohr des Malchus veröffentlichen konnte. Im Zuge der Überarbeitungen wurden die Passagen über die Kindheit und Jugend, den Ersten Weltkrieg und die Wirren der Nachkriegszeit zunehmend gekürzt. I would do it again steht dabei noch wesentlich stärker im Zeichen des noch nicht lange zurückliegenden Endes des Zweiten Weltkriegs. Wilhelmi‐ nismus und Preußentum werden als Ursache und Auslöser des Ersten Weltkriegs und letztlich des Zweiten und der NS-Verbrechen herausgestellt. Ihre Reprä‐ sentanten werden mit den Nazis parallelisiert. In den folgenden Texten bleibt dieses Deutungsmuster zwar erhalten, doch wird Regler zunehmend differen- 83 Der Wandel in der Deutung des Ersten Weltkriegs 17 Brief Gustav Regler an Josephine Herbst, 21. August 1948, Nachlass Josephine Herbst, The Beinecke Rare Book & Manuscript Library, Yale University (New Haven/ CT). 18 Gustav Regler: I would do it again, Typoskript, Nachlass Josephine Herbst, The Beinecke Rare Book & Manuscript Library, Yale University (New Haven/ CT), S. [143 f.]. zierter und reduziert Polemik, Schärfe, Einseitigkeit und kollektive Schuldzu‐ weisungen. I would do it again war, obwohl auf Deutsch verfasst, für den US-Markt bestimmt. Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des NS-Regimes wollte Regler mit seiner Autobiographie dem amerikanischen Publikum einen authentischen Einblick in die deutsche Seele und ein Erklärungsmodell für den Weg in die NS-Katastrophe geben. Dies geht aus Briefen an die befreundete US-Schriftstellerin und Journalistin Josephine Herbst hervor, der er Teile des Werkes schickte und die die Kürzungen von allzu Persönlichem und die Fokus‐ sierung auf „Gustav Regler and his time“ forderte. 17 Man merkt dem Text an, dass er unter dem Eindruck der späteren Entwicklung stilisiert wurde. Be‐ trachtet man seine oben angeführten Tagebücher und Briefe aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, stellt er seine persönliche Rolle signifikant anders dar. Dabei verfährt er so, dass er seine als junger Mann formulierten Zweifel und Re‐ flexionen über den eigenen Patriotismus zu einer unbedingten Gegnerschaft zu allem Preußischen und dem Wilhelminismus überhöht. In diesem Punkt korre‐ liert die Fassungsentwicklung der Autobiographie: Vor allem in I would do it again überhöht er seine Rolle. Die faktischen Differenzen zur tatsächlichen Biographie erklärt er damit, dass er seine Abneigungen bisweilen aus Loyali‐ tätsgefühl und dem starken Wunsch nach Überzeugungssicherheit unterdrückt habe. Die sich aus dieser Spannung ergebende innere Zerrissenheit habe oft dazu geführt, dass er sich nach außen hin als besonders eifriger Anhänger gab, um dadurch in einem mentalen Kraftakt seinen Zweifel zu überwinden. So spielt er in der Autobiographie auf die Entstehung des oben erwähnten heroischen Ge‐ dichts über Oswald Boelcke an, das er in unmittelbarer Reaktion auf eine Be‐ gegnung mit enttäuschten, unzufriedenen Soldaten am Bahnhof Merzig verfasst haben will: Am Nachmittag schrieb ich ein Gedicht auf einen beruehmten Kampfflieger, das sie in der Stadtzeitung veroeffentlichten; ich glaube, es war auf Immelmann, der kurz darauf abgeschossen wurde. Es half mir nichts; ich war wie eine Brunnenpumpe, die nur Luft pumpt; ein hohles Geraeusch aus der Tiefe antwortet. 18 In den späteren Autobiographien behält er zwar diese Tendenz der Darstellung seiner Person bei, jedoch tritt die Selbstüberhöhung, die sich in I would do it again in einigen sehr konstruierten Episoden besonders manifestiert, zugunsten einer subtilen Darstellung zurück. 84 Hermann Gätje 19 Vgl. Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen [The Structure Of Scientific Revolutions, 1962]. Deutsch von Hermann Vetter. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1979. Insgesamt muss in diesem Zusammenhang generell angemerkt werden, dass Reglers Autobiographien nicht als historiographische Lebensberichte sondern als literarische Ausformungen und -deutungen verstanden werden müssen. Der Leser sollte sich bewusst sein, dass die spannende und literarisch evidente Er‐ zählung der persönlichen Erinnerungen mit dem Wissen um den späteren Ver‐ lauf entstanden ist und diesen implizit antizipieren. Schließend möchte ich meine Gedanken zusammenfassen: Ursprünglich war es gar nicht die Absicht, die Ausführungen zu dem Thema auf Regler zu kon‐ zentrieren. Doch entsprang die Idee zu dem Thema meiner intensiven Beschäf‐ tigung mit diesem Autor und es ergab sich, dass in seiner Person die Entwicklung und der Wandel eines Deutungsparadigmas des Ersten Weltkriegs in seiner ganzen Dimension im Ganzen beleuchtet werden können, zumal sämtliche Texte und Nachlassmaterialien zur Verfügung standen. Im Hinblick auf weitere Forschungen wäre es von Interesse, Parallelen zwi‐ schen Regler und anderen Autoren zu ermitteln, um den Wandel kollektiver Paradigmen in der literarischen Verarbeitung des Ersten Weltkriegs typologisch herausarbeiten zu können. Eine solche Untersuchung kann darüber hinaus auf einer theoretischen Ebene erkenntnisreich sein, wenn man der Frage nachgeht, ob Thomas Kuhns wissenschaftstheoretisches Modell des Paradigmenwechsels auch auf die Literatur anwendbar ist. 19 Bei der Arbeit an diesem Aufsatz verstärkte sich bei mir der Eindruck, dass im literarischen wie im politischen Diskurs der Zweite Weltkrieg den Ersten Weltkrieg verdrängte. Während in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg literari‐ sche Texte über ihn Hochkonjunktur hatten, spielt er nach Beginn der NS-Herr‐ schaft und im Exil keine große Rolle mehr. Vor allem während der Weimarer Republik Ende der 1920er Jahre/ Anfang der 1930er Jahre waren die Texte über den Krieg Teil der politischen Dispute der Zeit, zogen heftig geführte Debatten nach sich und bildeten die Polarisierung der Deutschen ab. Die Texte oszillierten zwischen Heroismus und Pazifismus, Sinngebung und Sinnlosigkeit des Kampfes. Regler ist somit ein eher untypischer Autor. Er hat zwar an den poli‐ tischen Auseinandersetzungen der Zeit partizipiert, doch währenddessen in seinen Texten das Thema nicht signifikant aufgegriffen. Erst der Zweite Welt‐ krieg hat ihn zur vertieften literarischen Auseinandersetzung mit dem Ersten motiviert. Die Steigerung des Grauens im Zweiten Weltkrieg gegenüber dem Ersten, die noch größere Katastrophe, ließ ihn ahnen, dass ein möglicher Dritter Weltkrieg das Ende der Menschheit bedeuten könnte. 85 Der Wandel in der Deutung des Ersten Weltkriegs 1 Der Beitrag ist eine Überarbeitung meines Aufsatzes: „Das Exil begann mit dem Verpacken der Bücher“. Gustav Regler - Die Bücherverbrennung und seine Entwicklung im Exil. In: Reiner Wild / Sabina Becker / Matthias Luserke-Jaqui / Reiner Marx (Hrsg.): Dennoch leben sie. Verfemte Bücher, verfolgte Autorinnen und Autoren. Zu den Auswirkungen nationalsozialistischer Literaturpolitik. München 2003, S. 323-332. 2 Vgl. Gerhard Sauder (Hrsg.): Die Bücherverbrennung. 2. Aufl. München 1983, S. 125. 3 GRW, Bd. X, S. 242. 4 Gustav Regler: Am Vorabend der Autodafés. In: Die Neue Weltbühne 30 (1934), S. 595- 599. „Das Exil begann mit dem Verpacken der Bücher“ Die Bücherverbrennung und Gustav Reglers Entwicklung im Exil 1 Hermann Gätje Auf den „Schwarzen Listen“ vom Mai 1933 findet sich auch der Schriftsteller Gustav Regler. 2 Als aktives KPD-Mitglied gehörte er zu den Autoren, die wegen ihrer politischen und agitatorischen Tätigkeit durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten am bedrohtesten waren. So floh er bereits im März 1933 ins Exil. In seiner romanhaften Autobiographie Das Ohr des Malchus stellt er den Satz „Das Exil begann mit dem Verpacken der Bücher“ an den Anfang des Ka‐ pitels, in dem er hiervon erzählt, und lässt eine kommentierende Betrachtung einiger Bücher folgen. 3 Ähnlich verfährt er am Beginn der Erzählung Am Vor‐ abend der Autodafés aus dem Jahr 1934, in der er die Bücherverbrennung explizit thematisiert. 4 Dieser Text ist Ausgangspunkt dieses Beitrags; anhand seiner In‐ terpretation sollen die politisch-ideologische Position Reglers sowie seine Vor‐ geschichte und sein weiterer Werdegang skizziert werden. Darüberhinaus sollen auch einige Elemente dieser Erzählung, die nicht nur temporär, sondern generell für Regler und sein Werk typisch sind, dargestellt werden. Ein besonderes Au‐ genmerk gilt dem Motiv „Buch“, so etwa, wenn Regler Bücher als Repräsen‐ tanten bestimmter Ideen fungieren lässt oder wenn Inhalte durch Analogien zu anderen literarischen Texten allegorisiert werden. Die Erzählung spielt am Abend des 9. Mai 1933. Ein jüdischer Arzt namens Wassermann sitzt vor einem Stapel Bücher - alles solche, die am morgigen Tag von den Nazis verbrannt werden sollen - und sinniert beim Betrachten der Bände noch einmal über einzelne Werke. Resignation macht sich breit. Wasser‐ mann will die Bücher vernichten, da es ab morgen zu gefährlich sei, sie zu be‐ halten. Da klingelt es, den Arzt überkommt die Furcht, es könne die SA oder irgendein anderer Nazi sein. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall: Ein Arbeiter - NS-Gegner -, der berichtet, dass Arbeiter öffentlich gegen das Verbot, sich von dem jüdischen Arzt Wassermann behandeln zu lassen, protestiert hätten. Auch hat er erfahren, dass Wassermann unmittelbar in Gefahr ist, warnt ihn und will ihm helfen, vor der Flucht aus der Wohnung möglichst viel in Sicherheit zu bringen. Entgegen den Erwartungen respektive sozialen Stereotypen des Arztes stellt sich der Arbeiter nicht nur als tatkräftig in der Opposition gegen Hitler heraus, sondern auch als Freund des Geistes und der Literatur. Die An‐ regung Wassermanns, die Bücher zu vernichten, findet nicht seine Zustimmung. Der Arbeiter ist unbedingt bemüht, die Bücher in Sicherheit zu bringen und sondiert dazu taktisch das Terrain um Wassermanns Wohnung. Wie ein Deus ex machina erscheint in einem Baum des Gartens ein Luftballon, der aus dem autonomen Saargebiet illegales Schrifttum - hier die Arbeiterzeitung - nach NS-Deutschland transportiert hat. In dieser Zeitung steht fettgedruckt ein Aufruf für die Freiheitsbibliothek in Paris, in der von den Nationalsozialisten verbrannte und verbotene Bücher gesammelt werden sollen. Und genau dies ist die Absicht des Arbeiters gewesen: Wassermanns Bücher eben dorthin zu schaffen. Wassermanns Anregung, das Exil an der Saar zu suchen, lehnt der Arbeiter für sich ab, er habe in Deutschland (in der illegalen Widerstandsarbeit) seine Aufgabe. Regler war in jener Zeit aktives Mitglied der Kommunistischen Partei und schrieb zahlreiche parteikonforme Agitationstexte. Der 1898 in Merzig/ Saar ge‐ borene und aufgewachsene Autor hatte bereits ein bewegtes Leben hinter sich: In der Erziehung starke Prägung durch die römisch-katholische Kirche, nach dem Abitur Kriegsteilnehmer, schwere Verwundung, Studium (Promotion Die Ironie im Werk Goethes, 1922). Während seiner ersten Ehe arbeitete er in lei‐ tender Position in dem Textilunternehmen seines Schwiegervaters. Nach dem Scheitern der Beziehung begann er als Journalist bei der DDP-nahen (liberalen) Nürnberg-Fürther Morgen-Presse. In den Texten dort zeigen sich bereits deutliche Sympathien für die Ideale der Russischen Revolution und die Sowjetunion, wobei der Duktus der Äußerungen noch eher in einer liberal-demokratischen Gegenhaltung zu dem als autoritär empfundenen (deutschen) Staat gefärbt ist 88 Hermann Gätje 5 Vgl. Gustav Regler: Ruhrtiger, Locarno-Engel und rote Matrosen. St. Ingbert 2002, S. 26f. und S. 56-60. 6 Besonders in Sohn aus Niemandsland (GRW, Bd. VI, S. 34-35, S. 44-74 passim). 7 Regler: Vorabend (Anm. 4), S. 598. 8 Vgl. dazu Gerhard Sauder: Nachwort. In: GRW, Bd. I, S. 707-726. als dogmatisch kommunistisch. 5 In diese Zeit fallen auch Reglers Anfänge als Schriftsteller. Vermutlich auch unter dem Einfluss des Vaters seiner neuen Le‐ bensgefährtin Marie Luise Vogeler, dem Maler Heinrich Vogeler, trat er (nach eigenen Angaben 1929) in die KP ein. Hier war er als Schriftsteller organisiert und lebte in einem kommunistischen Künstlerblock in Berlin. Diese Persön‐ lichkeitsentwicklung spiegelt sich auch in seinem literarischen Werk wider. Die ersten größeren Erzähltexte wie Zug der Hirten (1928) und Die Söhne gehen zu den Knechten (entstanden 1928/ 29, Erstpublikation 1994 GRW, Bd. I) sind noch abwägend-unentschieden, sie thematisieren den Generationenkonflikt und die Frage von Führer und Folgschaft insbesondere bei jungen Menschen. Der Roman Wasser, Brot und blaue Bohnen (1932) ist dagegen in seiner Tendenz nicht mehr zweifelnd-schwankend, sondern eindeutig der KPD-Ideologie folgend. Das Exil bedeutete für den Autor Regler eine empfindliche Störung seiner Laufbahn. Einem jungen, als vielversprechend geltenden Schriftsteller, zwar gefördert und anerkannt, aber noch nicht etabliert, fiel nun der Großteil des potentiellen Lesepublikums weg. Konkret traf ihn, dass sein bereits von Kie‐ penheuer angekündigter Roman Der verlorene Sohn nicht mehr in Deutschland erscheinen konnte, sondern im Dezember 1933 im Exilverlag Querido in Ams‐ terdam veröffentlicht wurde. Am Vorabend der Autodafés ist nur eine aus einer größeren Menge von Pro‐ pagandaerzählungen Reglers aus jener Zeit, die in dem Roman zur Saarabstim‐ mung von 1935 Im Kreuzfeuer (1934) eine literarische Großform erreichen. Sie enthalten häufig grenzenlosen Optimismus und Fehleinschätzungen der tat‐ sächlichen politischen Lage, was Regler später selbst konzedierte. 6 Die Tendenz dieser Erzählung drückt sich prägnant in einer abwertenden Äußerung aus, die sich auch auf nicht in der KP aktive Hitlergegner beziehen lässt: „Die Leser von Thomas Mann und Toller und Feuchtwanger standen nicht auf, um ihre großen Lieblinge zu schützen; die erwerbslosen Proleten aber ließen sich für ihren Doktor zur Krankenkasse hinausprügeln.“ 7 Dennoch finden sich bei Regler in jener Zeit auch Texte, die auf innere Kon‐ flikte und Zweifel schließen lassen; vor allen Dingen der Roman Der verlorene Sohn, in dem sich ein regelrechtes Ringen des Autors mit dem Glauben seiner Jugend, der katholischen Kirche, manifestiert. 8 Eine zentrale Widersprüchlich‐ keit der Person zeigt sich hier evident: Der verlorene Sohn stellt keine einseitige 89 „Das Exil begann mit dem Verpacken der Bücher“ 9 Regler: Vorabend (Anm. 4), S. 596. 10 Zur komplizierten Entstehungsgeschichte vgl. Michael Winklers Editionsbericht. In: GRW, Bd. IV, S. 547-584. Abrechnung mit dem Katholizismus dar, vielmehr eine Art Hassliebe. Das teil‐ weise hysterische Anrennen - verbunden mit der Suche nach dem richtigen Glauben - der einen Hauptfigur Leon gegen die katholische Kirche ist auf Reg‐ lers eigene Situation übertragbar. Scheinbare Orthodoxie auf der einen Seite für die als richtig empfundene Sache, zugleich aber auch heftige Zweifel, Der ver‐ lorene Sohn ist geradezu Ausdruck eines Glaubenswunsches des Autors. Ein of‐ fenkundiges Indiz dafür, dass für Regler die Hinwendung zum Kommunismus Teil dieser persönlichen Sinnsuche ist, findet sich, wenn er Wassermann Fol‐ gendes denken lässt: „,Gefährten‘ von Seeghers [recte: Seghers], dichteste At‐ mosphäre der Emigration. Eine gläubige Fanatikerin. Sie macht manchmal traurig. Sie soll Kommunistin sein. Becher ‚Ein Mensch unserer Zeit‘. Ein Ly‐ riker, der bis zum Letzten gegangen war. Lava über die alte Welt. Und ein fast kindliches Fingerzeigen in das neue Land. Er hat mir Rußland nah gebracht. Aber vielleicht bin ich zu alt für so viel Glauben.“ 9 Das Thema der Sinnrespektive Glaubenssuche durchzieht Reglers gesamtes Werk, vom Zug der Hirten bis zu Hellseher und Charlatane, eng damit verbunden ist der Komplex Führer und Geführter. In Am Vorabend der Autodafés erkennen wir eindeutig eine dualistische Struktur der zwei Figuren. Auf der einen Seite der zweifelnde Wassermann, auf der anderen der sichere, überzeugende Ar‐ beiter. Zugleich sind diese Figuren immer auch Spiegelungen ihres Autors, be‐ merkenswert ist die jeweilige Nuancierung der Rollen. In Die Saat. Roman aus den deutschen Bauernkriegen (1936) und Der große Kreuzzug (autobiographisch fundierter Roman aus dem Spanischen Bürgerkrieg, Erstveröffentlichung The Great Crusade 1940 in Englisch, die Erstfassung Das große Beispiel entstand 1937/ 38), sind die Figuren respektive jeweiligen Rollenträger weitaus differen‐ zierter und dialektischer angelegt. 10 Die Führerpersonen Martin (Die Saat) und Werner (Der große Kreuzzug) sind nicht ohne Zweifel an ihrer Sache, entspre‐ chend sind auch ihre Partner Joß (Die Saat) und Albert (Der große Kreuzzug) in sich komplexer und widersprüchlicher. Die statisch-dualistische Anlage findet sich bezeichnenderweise in den Werken, die am deutlichsten die Parteilinie ver‐ treten wie Wasser, Brot und blaue Bohnen, in dem der politische Gefangene Rotter unbestritten die positive Leitfigur ist, und Im Kreuzfeuer, in dem - ähnlich wie in Am Vorabend der Autodafés - dem orientierungslosen, schwankenden Werner der überzeugende Proletarier und Emigrant Karl gegenübergestellt wird. Am Vorabend der Autodafés enthält noch weitere für Regler typische literari‐ sche Gestaltungsmerkmale. So stilisiert er in vielen Texten die Realität zu‐ 90 Hermann Gätje 11 Regler: Vorabend (Anm. 4), S. 595. 12 Vgl. besonders eine Passage über Klaus Mann im Anhang von Das Ohr des Malchus (GRW, Bd. X, S. 641). gunsten einer pointierten, literarischen Wirkung. Die Freiheitsbibliothek in Paris wurde am Abend des 9. Mai 1934 gegründet, in der Woche, als die Erzäh‐ lung erschien, genau ein Jahr nach dem Tag, an dem sie spielt. Die epische Zu‐ sammenziehung der Bücherverbrennung und des Aufrufs zur Freiheitsbiblio‐ thek drückt prägnant den Sinnzusammenhang der beiden Ereignisse aus. Ein weiteres bei Regler oft erscheinendes Stilmerkmal ist die Variation zwischen eigentlicher und metaphorischer Bedeutung eines Begriffs. So lässt er diese Er‐ zählung am tatsächlichen Vorabend des 10. Mai 1933 spielen. Besonders hervorgehoben sei in unserem Zusammenhang die Funktion der Erwähnung von Büchern in Analogie zur Verdeutlichung bestimmter Gesichts‐ punkte: „Feuchtwanger, Erfolg! Schön, der hat sie porträtiert, wie sie anfingen: wie sie das Fememorden zu lernen begannen; sie habens gut gelernt. Er griff einen zweiten Band: Arnold Zweig, Grischa. Das gefällt ihnen auch nicht. Fünf‐ hundert Seiten für einen unschuldig Erschossenen, das hören die starken Männer nicht gern. Das ist zuviel Sentimentalität für Leute, die schon wieder einen neuen Krieg brauchen.“ 11 Vergleichende Bezüge zu literarischen Texten finden sich - stilistisch ausgeprägter - besonders in Reglers späteren, autobio‐ graphischen Schriften. Nach seiner Lösung vom Kommunismus etwa allegori‐ siert er im Sohn aus Niemandsland den Konflikt zwischen Stalin und Trotzki respektive die Ermordung Trotzkis mit den Figuren Macbeth und Banquo aus Shakespeares Macbeth. In Das Ohr des Malchus parallelisiert er sein kommunis‐ tisches Engagement leitmotivisch mit Don Quichotte. Reglers Bruch mit der KP, sein „Renegatentum“, sowie seine nachträglichen Selbstdeutungen über diese Zeit sind sicherlich ein zentraler Aspekt in der Be‐ schäftigung mit diesem Autor. In den Jahren seit 1933 beteiligte er sich uner‐ müdlich an der propagandistischen Arbeit gegen das NS-Regime: Mitarbeit am Braunbuch im Kreis um Willi Münzenberg, Teilnahme an den Schriftsteller‐ kongressen in Moskau 1934 und Paris 1935, politischer Kommissar im Spani‐ schen Bürgerkrieg, nach seiner schweren Verletzung dort Sammelreise in die USA für die Spanische Republik. Von Zeitzeugen wie Klaus Mann, Oskar Maria Graf oder Alfred Kantorowicz wird Regler als linientreuer Kommunist geschil‐ dert. Regler hat später angedeutet, seine strikte Linientreue „nach außen“ in der KP sei auch ein psychologisches Mittel gewesen, seine Zweifel zu über‐ winden. 12 Diese Position ist nicht unumstritten. Sie findet allerdings eine ge‐ wisse Entsprechung in dem geschilderten Naturell Reglers als Glaubenssucher. Ebenso lassen Passagen der Romane Die Saat und der Der große Kreuzzug, auch 91 „Das Exil begann mit dem Verpacken der Bücher“ 13 Vgl. Gustav Regler: Tagebuch 1940-1943 (GRW, Bd. VI). 14 GRW, Bd. VI, S. 106-108. 15 Ebd., S. 106. wenn sie in ihrer Synthese der KP-Linie folgen und Parteidisziplin verlangen, einen dialektischen Prozess erkennen. Als „feindlicher Ausländer“ wurde Regler bei Kriegsausbruch 1939 in Frank‐ reich interniert. Hier im Lager Le Vernet begann seine Entfremdung von der KP. Man kann nicht sagen, dass der Hitler-Stalin-Pakt für ihn die abrupte Lösung von der Partei initiierte. Nach seiner Entlassung aus dem Lager (April 1940), im vorübergehenden Exil in den USA, dann in Mexiko, pflegte er weiterhin Kon‐ takte zu kommunistischen Bekannten (u. a. Egon Erwin Kisch, Bodo Uhse). Zum offenen Bruch kam es erst im Januar 1942 in Mexiko. In den Tagebüchern von 1940 finden sich aber schon deutlich kritische Stellen, zeitgleich arbeitete Regler an dem Roman Juanita, in dem er deutliche Kritik am Stalinismus formulierte. 1941 begann er die autobiographische Kampfschrift Sohn aus Niemandsland. 13 Letztgenannte Texte sind als literarische Ausformungen der Totalitarismus‐ theorie beachtlich. Deutlich stellt Regler hier Analogien zwischen NS-Regime und Stalinismus heraus. Bemerkenswert ist die Ausprägung oben erwähnter Reglerscher Charakteristika unter diesen neuen Vorzeichen. Die während des Spanischen Bürgerkriegs orientierungslos zwischen zwei taktierenden Geheim‐ polizeien durch Madrid irrende Juanita ist nicht nur Ausdruck für die Lage Spa‐ niens, sondern spiegelt auch die momentane Situation ihres Autors. Der kurz danach entstandene Sohn aus Niemandsland ist seine erste explizit autobiogra‐ phische Schrift. Ihre Entstehung während der Zeit einer radikalen Umkehr, deutet schon darauf hin, dass das selbstbiographische Schreiben auch der selbst‐ therapeutischen Bestandsaufnahme diente. Da hier das Thema Bücherverbrennung und damit die Haltung eines Regimes zum Buch (als Sinnbild für geistige Freiheit) im Mittelpunkt steht, soll einer Passage des Sohn aus Niemandsland besondere Beachtung geschenkt werden. In einer Episode lässt Regler einen ungenannten Sowjetschriftsteller in wört‐ licher Rede ein Erlebnis berichten. 14 Dieser gerät zufällig auf den Hinterhof des Staatsverlags von Kiew, dort sieht er, wie Frauen Bücher zerreißen und sie „auf den Karren, der zum Ofen fuhr“, schmeißen. 15 Es handelt sich um Bücher von Autoren, die während der sogenannten Säuberung verurteilt wurden und in Ungnade fielen. Aus dem Text geht hervor, dass es sich bei dem Schriftsteller um Isaak Babel handelt, da in dem Bericht - die Ereignisse analogisierend - eine Passage aus Babels Erzählung Die Geschichte meines Taubenschlages paraphrasiert wird. In 92 Hermann Gätje 16 Vgl. Isaak Babel: Die Geschichte meines Taubenschlages. In: ders.: Erste Hilfe. Nörd‐ lingen 1987, S. 375-387, hier speziell S. 384f. 17 GRW, Bd. VI, S. 106. einer späteren Notiz im Rahmen der Arbeit an Das Ohr des Malchus nennt Regler Babel auch explizit. Die Frage nach der Echtheit dieser Geschichte berührt ein grundsätzliches Problem im Umgang mit Reglers autobiographischen Schriften, da diese generell zahlreiche Fiktionalisierungen enthalten. Logischerweise muss schon bei der Wiedergabe von wörtlicher Rede in Autobiographien davon ausgegangen werden, dass der Text vom Autor bearbeitet wurde. In seinen Schlüssen und Folgerungen, vor allem durch den pointierten Einbau der Passage aus Babels Erzählung, wirkt dieser Text eher konstruiert als authentisch erzählt. 16 Des Wei‐ teren legt Regler die Passage in das Jahr 1936, schreibt aber: „[E]s war ein halbes Jahr vor seiner Verhaftung“. 17 Babel wurde jedoch erst 1939 verhaftet. Ein di‐ rekter Kontakt zwischen den beiden konnte in Reglers vorliegenden Nachlass‐ teilen nicht nachgewiesen werden. Seine Versuche, Juanita und Sohn aus Niemandsland in einem Verlag unter‐ zubringen, scheiterten alle. Regler wurde nun in jeder Beziehung zum Außen‐ seiter. Die Bücher passten in ihrer Tendenz nicht zum Bündnis der Alliierten mit der Sowjetunion. Da er als ehemaliger Kommunist immer noch verdächtig war, gelang es dem „Renegaten“ nicht, ein heißersehntes Visum für die USA zu er‐ halten. Daneben trugen seine kommunistischen Widersacher zu dieser Ableh‐ nung bei, indem sie ihn als Nazi-Agenten denunzierten. Doch Juanita und Sohn aus Niemandsland stellen nicht nur eine Absage an den Nationalsozialismus und den Stalinismus als Herrschaftsformen dar, sie postulieren eine schlichte Menschlichkeit jenseits aller Ideologien. Damit weisen sie bereits in vielem auf Tendenzen hin, die für den späteren Regler charakteristisch sind. Juanita, ein naiver unpolitischer Mensch, die im Grunde für sich und ihre Mitmenschen ein friedliches, glückliches Leben wünscht, gerät in die Mühlen der taktisch-zynisch operierenden Vertreter von Faschismus und Stalinismus. Sie ist repräsentativ für einen Menschentyp und zugleich Sinnbild für die Spanische Republik. In Sohn aus Niemandsland deutet Regler explizit Sympathien für universalistisch-humanitäre Ideen an. So stellt er besonders po‐ sitiv die Rolle der Quäker heraus. (Er plante seinerzeit sogar, einen Quäkerroman zu schreiben.) Die Absage an die „Apostel des Absoluten“ geht einher mit einem Bekenntnis zu einer „decent world“. Treffend drückt er seine Position mit einem Zitat von Victor Serge, einem in Mexiko exilierten ehemaligen russischen Re‐ volutionär, aus: „,Demokratie‘, sagte der Mann, ‚das ist die moderne Staatsform, 93 „Das Exil begann mit dem Verpacken der Bücher“ 18 GRW, Bd. VI, S. 277. 19 GRW, Bd. XI, S. 57 bzw. S. 310-312. in der es nicht möglich ist, daß ein Mensch in der Nacht verschwindet ohne Spur und keiner wagt zu fragen, wo er geblieben ist.‘“ 18 Die Akzente von Reglers Werk verschoben sich in der Folgezeit: er widmete sich verstärkt der Lyrik, beschäftigte sich intensiv mit bildender Kunst und seinem Exilland Mexiko. Manches aus dem Spätwerk mag unpolitisch erscheinen, aber seine Texte haben dennoch fast immer einen politisch-moralischen Bezug. Im Ohr des Malchus betont er wiederholt seine innere Ambivalenz zwischen ästhetizisti‐ scher Neigung und dem Gefühl der Notwendigkeit des Engagements angesichts der deprimierenden Weltlage. So ist seine Lyrik durchdrungen von Anspielungen auf die politische Situation (z. B. die Gedichte Kleine Warnung an die Freunde zum Silvester oder Ghandi starb [sic! ]). 19 Die Mexiko-Texte enthalten Gleichnisse mit globalen zeitgeschichtlichen Bezügen (z. B. Amimitl), des Weiteren behandeln sie neben Mythos, Natur und Geschichte auch eindringlich die Probleme des mo‐ dernen Mexiko. In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre verfasste Regler neben autobiographi‐ schen Texten Romane, die deutlich seine neue Haltung veranschaulichen. Die symbolistisch-visionären Romane um den Kriegsheimkehrer Bill Armstrong Keine bleibende Stadt und Sterne der Dämmerung sind getragen vom Wunsch der Erlösung der Menschen aus den Zwängen einer (scheinbar) rationalen Ordnung, vor allem durch eine spirituelle Gemeinschaft zwischen den Toten und den Überlebenden des Krieges. Sie setzen der technokratischen Politik Ideale einer besseren Welt entgegen. Der unpublizierte Roman Familie Dupont (anderer Titel: Die Familie, die das Glück suchte) stellt gleichnishaft-phantastisch Versuche dar, die Welt zu verbessern, und kontrastiert in der grotesken Übertreibung irreale Wunschvorstellungen und reale Möglichkeiten. Regler engagierte sich in keiner politischen Partei mehr, aber in human-idealistsch gesinnten Organisationen, so ließ er sich vom Conseil Mondial pour l’Assemblée Constituante des Peuples als Weltbürger registrieren. Regler war von Ende der 1940er Jahre bis zu seinem Tode häufig auf Reisen, pendelte zwischen Mexiko und Europa. Dies symbolisiert sowohl seine Suche als auch seine Position zwischen allen Stühlen. Er übte vehemente Kritik an der DDR, in der viele seiner alten, nun mit ihm verfeindeten KP-Genossen hohe Ämter innehatten. In der Bundesrepublik bemängelte er die ungenügende Aus‐ einandersetzung mit dem Nationalsozialismus und verurteilte die Wiederbe‐ waffnung. Für ihn war die Politik der 1950er Jahre im Zeichen des Kalten Krieges 94 Hermann Gätje wieder mehr von der Taktik bestimmt als von der Verwirklichung menschlicher Werte. Seine Wunschrolle im Nachkriegsdeutschland war die eines Präzeptors der Jugend im Sinne der von ihm vertretenen Ideale. Dies belegen seine zahlreichen Briefe an das Ehepaar Irmela und Günter Abramzik, letzterer war Pfarrer der Evangelischen Studentengemeinde Wilhelmshaven. Besonders ärgerte den Exi‐ lanten Regler, dass viele junge Leute dem 1933 mit den Nationalsozialisten sym‐ pathisierenden Gottfried Benn ein hohes Maß an Verehrung entgegenbrachten. Auch in dieser Lebensphase zeigt sich wieder die oben erwähnte Dialektik zwi‐ schen Leitfigur und Folgschaft bei Regler. Der Wunsch, selber eine Leitfigur zu sein, korrespondierte mit der großen Verehrung, die Regler von ihm aner‐ kannten Führungspersönlichkeiten zuteil werden ließ. So etwa im politischen Bereich André Malraux. Großen Respekt zollte er Menschen, die sich aufrichtig und unter Inkaufnahme von Opfern höheren Idealen verschrieben, wie etwa dem mexikanischen Umweltaktivisten Quevedo oder Abbé Pierre. Diese Tendenz ist auch ein zentraler Gesichtspunkt seines letzten größeren Texts, dem Großessay Hellseher und Charlatane (entstanden 1960 bis 1962, bisher unveröffentlicht). Schon der Antagonismus im Titel deutet auf eine Scheidung seiner Sicht zwischen falschen Propheten und ehrlichen Idealisten. Die einen, wie etwa den 2002 vom Papst heiliggesprochenen Padre Pio, kritisiert er heftig, die anderen, wie den indischen Philosophen und Guru Jiddu Krishnamurti, lobt er emphatisch. Der Beginn einer vertieften Auseinandersetzung mit fernöstli‐ cher Mystik, wie wir sie bei vielen deutschen Autoren ausgeprägt finden (be‐ sonders Hermann Hesse oder auch Hermann Kasack), deutet sich hier an. Bei Reglers Naturell mag es erstaunen, dass er sich nicht schon früher intensiver mit dieser Materie beschäftigt hat. Während einer Indienreise, die ein weiterer Teil seiner Sinnsuche werden sollte, starb Gustav Regler 1963 in Neu-Delhi. 95 „Das Exil begann mit dem Verpacken der Bücher“ 1 Heine lebte von Januar 1836 bis Dezember 1838 in der Wohnung 3, Cité Bergère und zog im Januar 1838 zu seiner Lebensgefährtin und späteren Ehefrau Mathilde Mirat in der rue Cadet. Hier lebte das Paar bis zum Juli 1838. In der rue d’Amsterdam wohnte Heine von September 1848 bis September 1854. 2 Heines Testament datiert auf den 13. November 1851. Ferdinand-Léon Ducloux war von 1841 bis 1875 als Notar in Paris, 16 rue de Choiseuil, niedergelassen, Charles-Louis- Emile Rousse von 1845 bis 1856 in der 12 rue de la Chaussé-d’Antin. Bei den als Zeugen fungierenden Bäcker und Gewürzhändler handelte es sich um Geschäftsleute, die in der unmittelbaren Nachbarschaft des Dichters lebten und deshalb hinzugerufen wurden. Heinrich Heine. Zu seinem 80. Todestag Gustav Regler Eh ich zu Ihnen nach Belgien kam aus der Stadt, wo Heinrich Heine vor achtzig Jahren starb, ging ich mit meinem Freund Egon Erwin Kisch, der vor kurzem wohl auch Ihr Freund geworden ist, auf die Suche nach den Wohnungen, in denen Heine die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbracht hat: Cité Bergere 4 (oder 3? ), 2. Stock des Hauses 50 rue d’Amsterdam und 18 rue Cadet, 1 wo seine Leidensjahre endeten und wo er in Gegenwart des Bäckers Michel Jacob und des Gewürzkrämers Eugène Grouchy den Notaren Ducloux und Rousse sein Testament diktierte. 2 Es ist eine grosse Versuchung in diesen Zeiten der Krise, eine solche Gedenk‐ stunde einmal mit der Ironie zu füllen, die Heine auszeichnete, den Jongleur der Sprache vorzuführen, dem Witz das Wort zu lassen und einzig dem Witz. Man steht vor seinem Werk und erinnert sich seines Kindererlebnisses vom Denkmal des Kurfürsten Wilhelm in Düsseldorf. Man hatte ihm erzählt, dass der Bildhauer während er das Denkmal goss, plötzlich mit Schrecken bemerkte, dass das Silber nicht reichte, und nun einen Aufruf an die Hausfrauen ergeht, die auch wirklich kamen und ihre silbernen Löffel brachten, sodass der Kurfürst schließlich doch noch gegossen werden konnte. Der Knabe Heine stand nun davor und rechnete 3 Regler bezieht sich auf eine Schilderung Heines aus dem sechsten Kapitel des Reisebilds Ideen. Das Buch Le Grand. Vgl. Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. von der Klassik Stiftung Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin und Paris 1970 ff., Bd. V, S. 97f. sich nachdenklich aus, wieviel Apfeltörtchen man für diese verschwendeten Löffel hätte kaufen können. 3 Mir geht es wie dem Knaben. Wenn ich das Werk des grossen Dichters be‐ trachte, mit all seiner Schwere, allem zum Gedicht gewordenen Kummer, all den Klagen seiner letzten Jahre, da die Freunde abfielen, da ihn Neid umgab und die Krankheit ihn zum lebenden Leichnam machte, da Verwandtschaft ihm den Gnadenstoss zu geben suchte, möchte man denken: wieviel Leichtigkeit hätte dieser der Welt schenken können, wieviel Heiterkeit mehr könnte uns entge‐ genströmen, wenn nicht Deutschland, wenn nicht das Zeitalter Metternichs, wenn nicht die engstirnige bourgeoise Welt seiner jüdischen Bankierver‐ wandten seinen Humor immer wieder umgewandelt hätte in Bitterkeit. Aber dann blättert man in seinen Briefen, dann liest man seine Reisebilder, dann hört man sein Wintermärchen und weiss wieder, dass diesen mehr als viele seine Welt zu dem machte, was wir heute Abend bewundern wollen, dass die Gegnerschaft auch der Kleinen ihn gross werden liess, dass er wuchs an der Niedertracht der Feinde, dass die Zensur ihn zwar einengte, dass sie ihn aber auch hineinwachsen liess in neue Formen, dass die ihn geschmeidig machte und dass er über sie alle hinwegwuchs, über die preussischen Feldwebel und die reichen Verwandten, über die hamburger Spiesser und über die falschen Vater‐ länder. Und wir begreifen zusammen, dass es gut ist, dass dieser litt, denn er hatte die Gabe mitbekommen, zu sagen, was er litt. Und er sagte es für viele, sagte es für uns, die ein Jahrhundert von ihm trennt, und die wir doch seinem Leben folgen können als sei er einer von uns. Denn übrig geblieben ist noch viel von der Dummheit, die ihn würgte, neu erstanden ist in dem gleichen Vaterland die alte Schmach des gelben Flecks, - erinnern wir uns gleich zu Beginn, dass die Bücher Heines, die damals mit Mühe die Zensur passierten, aber immerhin erschienen und Deutschland vorwärtsstossen halfen, heute aus allen deutschen Bibliotheken entfernt sind, dass man sie vor drei Jahren symbolisch verbrannte, dass sein Denkmal in einem Keller des hamburger braunen Hauses verstaubte und jetzt zerschlagen wurde. Es ist Zeit, seine Stimme wieder zu hören, und es ehrt diese Versammlung, dass sie sein Andenken hochhalten will; sie ehrt das wahre Deutschland damit, jenes Deutschland, das nicht untergehen wird trotz aller Autodafés, jenes Deutschland, das nach diesen bitteren Jahren auch den gelben Fleck auslöschen wird, den es auch auf die Werke eines seiner grössten Dichter schmierte. 98 Gustav Regler 4 Zitat aus Caput I des Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen. Vgl. ebd., Bd. II, S. 297. Wenn sie sagen, er sei fremden Blutes - ich kennen keinen, der so leiden‐ schaftlich sich zu dem Land seiner Sprache bekannt hat - und er hatte Grund dazu. Er sah das echte Deutschland und verteidigte es gegen seine Patrioten. Er kannte die Schönheit des Landes besser, als die welche sie jetzt auf militärischen Paraden feiern oder in gestohlenen Schlössern. Er liebte seine Muttersprache - und wäre wohl mit Hohn und Spott dazwischengefahren, hätte er eins der Bü‐ cher gelesen, die jetzt zur Schande der deutschen Sprache die augenblicklichen Machthaber des deutschen Regimes geschrieben haben. Seine Liebe war nicht phrasenhaft, sie bedurfte nicht des Lautsprechers, sie hatte den Mut zu zärtli‐ chen Tönen: und als ich an die Grenze kam da fühlt ich ein stärkeres Klopfen in meiner Brust, ich glaube sogar die Augen begunnen zu tropfen. 4 Er hatte allerdings ebenso den Mut zu bekennen, dass er nicht auf die Fahne eines Landes vereidigt sei, den Mut, sein Vaterland zu tadeln und „den helden‐ mütigen Lakaien in schwarz-rot goldener Livrée ihr patriotisches Pharisäertum ins Gesicht hinein zu rügen: „Pflanzt die schwarz-rot-goldene Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des freien Menschtums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben. Beruhigt euch, ich liebe das Vaterland ebenso wie ihr. Wegen dieser Liebe habe ich dreizehn Jahre im Exil verlebt, und wegen eben dieser Liebe kehre ich wieder zurück ins Exil, vielleicht für immer, jedenfalls ohne zu flennen, oder eine schiefmäu‐ lige Duldergrimasse zu schneiden.[“] Und gegen den Vorwurf, er sei ein Franzosenfreund, fährt er fort: „Ich bin der Freund der Franzosen, wie ich der Freund aller Menschen bin, wenn sie vernünftig und gut sind, und weil ich selber nicht so dumm oder so schlecht bin, als dass ich wünschen sollte, dass meine Deutschen und die Franzosen, die beiden aus‐ erwählten Völker der Humanität, sich die Hälse brächen zum Besten von England und Russland und zur Schadenfreude aller Junker und Pfaffen dieses Erdballs. Seid ruhig, ich werde den Rhein nimmermehr den Franzosen abtreten (sagt er und lockert das Pathos in Ironie): schon aus dem einfachen Grund: weil der Rhein mir gehört. Ja, mir gehört der Rhein durch unveräusserliches Geburtsrecht, ich bin des freien Rheins noch weit freierer Sohn, an seinem Ufer stand meine Wiege, und ich sehe 99 Heinrich Heine. Zu seinem 80. Todestag 5 Beide Zitate sind dem Vorwort zum Einzeldruck von Deutschland. Ein Wintermärchen aus dem Jahr 1844 entnommen. Vgl. ebd., Bd. II, S. 357f. garnicht ein, warum der Rhein irgendeinem anderen gehören soll, als den Landes‐ kindern.“ 5 Mit dieser leichten Schwenkung hat Heine uns selbst in sein Geburtshaus ge‐ führt und ich bitte Sie, mir durch dieses Leben eine Stunde zu folgen. Es ist unzertrennlich von seinen Werken, und die Werke sind nicht zu trennen von dem Leben. Jeder Betrachter des Lebens dieses Dichters wird immer wieder in seinen Werken stöbern müssen, und keiner seines Jahrhunderts hat so sehr pri‐ vates Erlebnis zur höheren Dichtung erhoben wie er. Fast könnte man sagen, das Werk Heines ist das privateste der ganzen Früh- und Spätromantik. Denn ob er die rührende Geschichte von Schnabelewopski schreibt - es sind Heines Studentenjahre. Ob er Napoleon huldigt in der Geschichte des Tambours Le Grand - es sind Heines Kinderjahre in Düsseldorf. Ob er das Prosastück Rabbi von Bacharach nennt, es ist das persönliche Erlebnis der jüdischen Bräuche seine Elternhauses. Selten ist die Nähe des Dichters zu seinem Werk so offen zuge‐ geben, dieser eine wollte nicht ewigen Gestalten Figur geben, er wollte sein Leben singen; andere mögen ihm diesen schwachen Willen zur „Gestaltung“ als dichterische Schwäche nachrechnen, wir sind hier keine Literaturprofessoren. Wir stellen fest: Heines Werk ist ein grosses Tagebuch, ein verspieltes und doch leidenschaftliches, seine Prosastücke sind Memoiren, farbige und künstlerische erstklassige Dokumente eines ruhelosen Pilgers, seine Briefe sind Dichtungen, aggressive und zärtliche, seine Gedichte sind Briefe eines zwischen Heiterkeit und Bitternis, echtem Schmerz und ebenso echter Ironie hin und her prome‐ nierenden souveränen Einzelgängers, der ein Vorläufer grosser menschlicher Freiheiten war, um die wir heute erneut zu kämpfen haben. Ich sagte, wir sind keine Literaturprofessoren, und dachte dabei an jene kleinen Geister, die sich nicht genug tun können, Lebensdaten auszukramen, im Privatleben der Dichter zu forschen, Urbilder zu suchen, jedes Genie aus der Perspektive des Kammerdieners zu betrachten und die dabei vergessen, wie der Dichter über sich selbst hinausgestiegen ist. Ich erinnere mich während der Universitätsstudien öfter diesen Herren begegnet zu sein; da fand ich eines Tages im Verzeichnis der Dissertationen über Goethe zwei Arbeiten; die eine beschäf‐ tigte sich damit, zu ergründen, wo Goethe seine Uhr trug, ob in einer linken oder einer rechten Westentasche; die zweite bewies die Echtheit eines Hosenknopfs der in Weimar in einer Schatulle des Goethehauses gefunden worden war. Heine hat es diesen fleissigen Männern schwer gemacht, er hat ihnen nicht einmal ein echtes Geburtsdatum hinterlassen. 100 Gustav Regler 6 Regler bezieht sich auf ein Zitat aus dem Reisebild Die Bäder von Lukka. Vgl. ebd., Bd. VI, S. 93. 7 Regler bezieht sich auf Aussagen, die Heine in seinen als Bruchstück überlieferten Me‐ moiren macht. Vgl. ebd., Bd. XII, S. 167f. 8 Auch diese Darstellung Reglers fußt auf dem Memoirenfragment aus Heines Nachlass. Vgl. ebd., Bd. XII, S. 156f. 9 Regler bezieht sich auf einen Hetzartikel von Julius Streicher, der unter der Überschrift Das Schwein auf dem Montmartre in der Zeitschrift Der Stürmer. Nürnberger Wochenblatt zum Kampfe um die Wahrheit erschienen ist ( Jg. 1926, Nr. 52, Dezember). Seit der Schrift Heinrich Heine. Auch ein Denkmal (Dresden und Leipzig 1906) des völkisch-antisemiti‐ schen Literarhistorikers Adolf Bartels hatte die von Regler zitierte stigmatisierende Namensgebung „Chajjim Bückeburg“ in antisemitischen Publikationen Verbreitung gefunden. Vgl. hierzu auch Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Literatur. In zwei Bänden. Leipzig 1902, Bd. II, S. 310-327. Das Geburtsdatum: Die Dokumente sind bei einem Brand vernichtet worden. Heine sagte: „Ich bin einer der ersten Männer des Jahrhunderts.“ 6 Zweifellos ein Wortspiel des Ironi‐ kers, aus dem die Gelehrten schlossen, dass er in der Neujahrsnacht 1800, der Jahrhundertwende geboren sei. Heine verwirrte die Herren darum noch einmal, indem er sein Geburtsjahr auf 1799 und später auf 1797 datierte, woraus nun einige antisemitische Gelehrte schlossen, der Jude habe sich durch diese Un‐ klarheit vom Militärdienst drücken wollen. Wir lassen die Herren unter sich, wie wir auch nicht vorhaben, besonders auf die neuesten „Heineforscher“ na‐ tionalsozialistischer Prägung einzugehen, die dem Lyriker nachweisen, wie zer‐ setzend seine Ironie war; wir sehen in ihr einen Reiz und in den neuen Profes‐ soren Figuren, die nicht viel mehr als diese Ironie verdienen. Heine wurde nach einem englischen Geschäftsfreund H a r r y genannt. 7 Sein Vater hatte im damals französischen Düsseldorf ein Tuchgeschäft. Ich will nicht verweilen bei der Familiengeschichte der Heines, nicht bei dem Urahn Simon von Geldern, 8 der in arabischen Wüsten sich als Räuberhauptmann einen Namen gemacht hatte (die Nazis werden das wohl eines Tages mit gebührendem Neid anprangern), nicht vom Grossvater Heymann Heine (dessen jüdischen Gemein‐ denamen Chajjim Bückeburg die Streicherianer auch dem Dichter anzuhängen für wichtig fanden), nicht von den verschiedenen Stiftungen, die die Heines ihren Städten machten (diese wiederum findet man nicht im „Stürmer“), wir wollen die Stammbaumkunde den Feinden überlassen und mit dem uns be‐ schäftigen, wozu den Rassestürmern der Verstand und die Kultur fehlt: mit dem Werk des Dichters und mit der Entwicklung zu diesem Werk. 9 101 Heinrich Heine. Zu seinem 80. Todestag 10 Das Zitat stammt, wie die nachfolgende Darstellung, ebenfalls aus den Memoiren. Vgl. Heine: Säkularausgabe (Anm. 3), Bd. XII, S. 155. 11 Vgl. ebd., Bd. XII, S. 159. Ich führe Sie also hinauf in den Speicher des elterlichen Hauses, dann zu seiner ersten Geliebten und wieder zurück zu der Mutter, und Sie werden das wahre Bild einer Dichterjugend gewinnen. Der Speicher: In jenem Speicher standen viele Bücherkisten des Oheims, eine dicke Angora‐ katze schlich in den Ecken, wo die morsch zerbrochene Wiege der Mutter stand und die Staatsperücke des Grossvaters lag, „die vor Alter kindisch geworden zu sein schien.“ 10 Da hing auch der verrostete Galanteriedegen des Ahns, daneben auf einem wackligen Brett der ausgestopfte Papagei der seligen Grossmutter, der nur noch ein Glasauge hatte und hinabschielte auf einen grünen chinesi‐ schen Mops aus Porzellan. Der grosse Mief verschwundener Zeit stickte aus diesen Trümmern, aber Heine machte sich doch ein Märchenschloss aus dem Winkel, verwandelte die Katze in eine verzauberte Prinzessin und las in dem Tagebuch seines Räuberhauptmann-Onkels, beschwor sich die morgenländi‐ schen Oasen herauf und dachte sich eine exotische Welt zurecht, indem er zwi‐ schendurch die alchimistischen Kolben und Retorten betrachtete, die in seinem einsamen Versteck herumstanden. Die Knabenphantasie glühte, der junge Schwärmer empfand sich als Doppelgänger des Grossohms, er lebte das aben‐ teuerliche Leben nach, er entdeckte in den Träumen die Verwandtschaft und wie er später sagte, mehr noch die Fortsetzung bestimmter Eigenschaften. Heine steigert sich in diese Idee, er erzählt sie eines Tages seinem Vater, der ihn schwerhaft warnt und sagt: er hoffe, dass der Oheim keine Wechsel unter‐ schrieben habe, die der Neffe Heine einst präsentiert bekomme. Heine zitiert für seine Idee die Bibel: „Die Väter haben Härlinge gegessen und die Enkel haben davon schmerzhaft taube Zähne bekommen.“ 11 Er behauptet, das Individuum vergehe, aber die Familie sei unsterblich. Wir wollen dieser Blutphilosophie nicht nachgehen, umso weniger als die Sippenforscher des heutigen Deutschlands genug beweisen, wohin solche Ex‐ perimente führen. Was uns an jenem Speicher interessieren muss, ist die Ent‐ stehung jener Fabuliersucht des Dichters, der Traum vom Morgenland, das Ver‐ gessen der Realität zugunsten einer farbigen, selbst erfundenen Welt, die Neigung, die sich früh ausdrückt, sich zurückzuziehen von den Härten und Schwierigkeiten des Daseins, die Unbekümmertheit, mit der der Knabe Heine sich vergangenen Welten nähert und sich als flüchtiger Reisender dort festsetzt. 102 Gustav Regler 12 Regler ergänzt hier handschriftlich: „Hitler rettet Europa auf gleiche Weise Deutschland März 36“. 13 Regler zitiert die Verse augenscheinlich aus dem Gedächtnis, in Heines Fragment Jehuda ben Halevy heißt es: „Wollte nicht auf platter Erde / Promeniren wie wir andern / Säu‐ gethiere, und sie pflanzte / Einen Garten in die Luft -“ (Heine: Säkukarausgabe [Anm. 3], Bd. III, S. 113). 14 Vgl. ebd., Bd. III, S. 114. Alles, was wir später an morgenländischen Gedichten im Werk Heines finden, hat seinen ersten Ursprung in jenen träumerischen Monaten in dem alten Ge‐ rümpel; dort sind jene Erinnerungen aufgestiegen an die Vergangenheit seines Volkes, dort vor dem Galanteriedegen des Ahns und den vergilbten Blättern des Tagebuchs entstand jene Gesinnung vom rächenden Gott der Väter, die viel später das Gedicht schuf, das ihm einen Namen in Europa machte: das Gedicht von Belsazzer, der sich übernahm gegen Mächte, die Heine trotz all seiner Zwei‐ felsucht doch für stärker erachtete als Tyrannen: die Mächte des Glaubens. 12 Dort oben - und glauben Sie nicht, dass es übertrieben ist, denn ich spreche nur von den leisesten Schwingungen jenes Freiheitsgefühls - hat er sich bei allem Ahnenkult auch die Verachtung vor dem bürgerlichen Plunder, vor dem Tabak‐ geruch, vor den Hofräten und den Nachtwächtern Deutschlands anzulesen be‐ gonnen. Dort in nächster Nähe von einer deistischen Mutter und jedem äusser‐ lich ritenstrengen Vater hat er den Hauch jener lyrischen Religionsromantik gespürt, die ihm später das Hochzeitskarmen von der Prinzessin Sabbat eingab, die ihn Jehuda ben Halevy preisen liess, so wie der Vater ihm ihn gezeigt hatte, die ihn Semiramis nachträumen liess, der exotischen Fürstin, von der er singt in echter Verachtung der grauen Wirklichkeit: wollte nicht auf platter Erde promenieren wie wir andern Säugetiere, und sie pflanzte einen Garten in die Luft. 13 Der Knabe hat sich nicht aus schierer Fabulierlust in jenen Speicher zurückge‐ zogen, er hatte schon „den schnöden Erdendunst und Missgeruch“ geatmet. 14 Und hier treten wir in den zweiten Raum, der sein Wesen formte: Die Strasse und der Dreckmichel: Es gab da einen Mann im Stadtviertel, der mit einem eselbespannten Karren durch die Strassen fuhr und die Pferdeäpfel und allen Unrat aufschaufelte und fortfuhr. Er hatte die Gewohnheit, seinen Esel „Haarü“ zu rufen. Die Schulkameraden erfassten bald, dass dieser Ruf grosse Aehnlickeit mit dem Vornamen „Harry“ von Heine hatte. Eine grossangelegte Kampagne brach aus; keine Ge‐ 103 Heinrich Heine. Zu seinem 80. Todestag 15 Regler bezieht sich erneut auf Heines Darstellung in den Memoiren. Vgl. ebd., Bd. XII, S. 169f. 16 Vgl. ebd., Bd. XII, S. 160. 17 Nachdem August Graf von Platen ein Epigramm aus den im Anschluss an die Dritte Abtheilung der Nordsee veröffentlichten Xenien Karl Immermanns, ohne dass dies von Heine oder Immermann intendiert gewesen wäre, auf sich und seine dichterischen Werke bezogen hat, antwortet er mit der fünfaktigen Komödie Der romantische Ödipus, die im Frühjahr 1829 erscheint und in der Immermann relativ harmlos als „Nimmermann“ verspottet, während Heine durch antisemitische und rassistische Kli‐ schees diffamiert wird. Heine reagierte auf Platens Ausfälle im dritten Band der Reise‐ bilder, der 1830 veröffentlicht wurde, indem er im elften Kapitel der Bäder von Lukka die Homosexualität Platens thematisierte. legenheit wurde versäumt, den Namensvetter des Esels zu höhnen; Kinder sind erfinderisch in ihrer Grausamkeit; Heine erlebte es früh, als ihm die Pferdeäpfel, „brühwarm, wie sie aus dem Backofen der Natur kamen“, um den Kopf flogen und der schimpfliche Name aus den Ecken tönte; zum bösen Ueberdruss brüllte dann manchmal der wirkliche Esel auch noch sein bestätigendes „I’ - ah“ dazu. 15 Die Wunde war wohl noch nicht vernarbt, als dem Knaben schon eine andere, schlimmere geschlagen wurde: er hatte einmal den Vater gefragt, wer sein Grossvater gewesen sei; der Vater antwortet, lachend und überlegen, fast stolz: „Dein Grossvater war ein kleiner Jude und hatte einen grossen Bart.“ 16 Heine wiederholte ahnungslos diesen Spruch vor den Kameraden. Ein Höllengelächter geht los. Heine hat unbewusst die unbewussten antisemitischen Instinkte seiner Altersgenossen geweckt; eine Prügelei bricht aus, der Lehrer kommt hinzu; die Strafe fällt über Heine, der alles dies angezettelt habe! Heine hat, als er diese Ungerechtigkeit niederschrieb, noch nicht geahnt, dass achtzig Jahre nach seinem Tod in seinem Vaterland diese Taktik des „Haltet den Dieb“ zur Staatsräson werden sollte, dass man den Begriff „Schutzhaft“ und das Ereignis „Volkszorn“ erfinden würde, um gegen Juden vorzugehen und aus ihren Verfolgern Ankläger zu machen. Wir wollen es hier einen Augenblick festhalten; ohne übrigens aus Heine den Vorläufer der hunderttausend Märtyrer des dritten Reiches machen zu wollen; denn Heine hat sich noch wehren können; er hatte gegen die Schulknaben den fast beschämenden Schutz des elterlichen Hauses, wo viele der ihn beschimpfenden Knaben später beim Vater Armenpfleger er‐ schienen und dem Knaben Heine wenigstens den Trost der Beschämung des anderen gaben. Heine hatte dazu noch seine Feder, und wir wissen, wie er vor‐ ging mit ihr, als ihm der Graf Platen seine Beschneidung vorwarf; der wirklich Verstümmelte in der Geschichte der deutschen Literatur ist der Herr Graf ge‐ worden und geblieben. 17 Heine hatte als drittes aber noch jene Möglichkeit, die 104 Gustav Regler 18 Regler ergänzt hier handschriftlich: „nicht nur Orient“. 19 Regler folgt wiederum der Darstellung in Heines Memoiren. Vgl. Heine: Säkularausgabe (Anm. 3), Bd. XII, S. 177ff. 20 Regler ergänzt hier handschriftlich: „und heute “. 21 Das Zitat ist Heines Memoiren entnommen. Vgl. Heine: Säkularausgabe (Anm. 3), Bd. XII, S. 182. seinem Wesen entsprach, sich zu flüchten, in seine eigenen dichterischen Welten. Und wir sehen ihn in diesen Jahren 18 in eine zweite Welt sich einführen lassen, die echtes Gut seiner deutschen Umgebung war, in die Hexen- und Geisterwelt der alten Sagen; in den Blutzauber des Mittelalters, in das Walpurgisdämmer‐ licht. Die Einführende war besonders geeignet; sie hiess Sefchen und war die Tochter eines Scharfrichters; 19 sie kannte die alten, gruseligen Volksmärchen, wusste Gedichte auswendig, deren Grundtöne wir in den besten Balladen des grossen Dichters wiederfinden; sie fügte zum hellen Palmenorient, den der Oheim vorspiegelte, die dunklen Farben der nordischen Gespenstergeschichten, erzählte von den Dieben, die sich nachts vom Galgen herunter an die Türen schleichen, um die Finger wiederzuholen, die sich der Henker abschnitt, um weiter zu stehlen, um die Lebenden zu ängstigen. Sie berichtet von der merk‐ würdigen Versammlung der Scharfrichter, die sie beobachten konnte, wo die Männer ein Schwert begruben, das hundert Menschen getötet, weil das Schwert 20 von diesem Augenblick an ein Eigenleben bekomme; Heine hört es, - er ist sechzehn Jahre alt, die Erzählerin in gleicher Blüte - er hört es, ihm gruselt, aber über allen Reiz der Nacht hinaus sieht er den lachenden Mund; seine erste Liebe fällt ihn an; das Schwert stört ihn nicht, er umarmt das junge Blut, so verfemt es auch ist, sich mit einer vom Stamm der Scharfrichter einzu‐ lassen. Heine bekennt in seinen Memoiren - und so leichthin auch dies wieder gesagt ist, es ist umfassende Wahrheit seines Wesens darin: „Ich küsste sie nicht bloss aus zärtlicher Neigung, sondern auch aus Hohn gegen die alte Gesellschaft und alle ihre dunklen Vorurteile, und in diesem Augenblicke loderten in mir auf die ersten Flammen jener z w e i P a s s i o n e n, welchen mein späteres Leben gewidmet blieb: die Liebe für schöne Frauen und die Liebe für die französische Revo‐ lution, den modernen furor francese, wovon ich auch ergriffen ward im Kampf mit den Landsknechten des Mittelalters.“ 21 105 Heinrich Heine. Zu seinem 80. Todestag 22 Das Zitat bildet den Schluss des Memoirenfragments. Vgl. ebd., Bd. XII, S. 184. 23 Die Formulierung, auf die Regler sich bezieht, ist von Adolf Strodtmann überliefert worden, vgl. Adolf Strodtmann: H. Heine’s Leben und Werke. Berlin 1867, Bd. I, S. 43. Zwischenspiel als Kaufmann: Wir schließen damit das Kapitel der Jugend Heines ab. Vielleicht aber gehört hierher noch jene Ermahnungspredigt, die der Vater des Dichters ihm eines Tages hielt, als er einige irreligiöse Sottereien aus drittem Mund gehört hatte; Heine wiederholt sie mit dem grossen Respekt, den er vor dem wesensfremden kaufmännischen Vater zeitlebens hatte; er wiederholt sie mit all der dünnen Sprachironie, die ihn weit über sein Jahrhundert trug, das aus dem Bürgertum eine schlappe, zwischen Klassen stehende, unfähige Schicht gemacht hatte: „Lieber Sohn! Deine Mutter lässt dich beim Rektor Schallmeyer Philosophie studieren. Das ist ihre Sache. Ich meinesteils, liebe nicht die Philosophie, denn sie ist aus lauter Aberglauben, und ich bin Kaufmann und habe meinen Kopf nötig für mein Geschäft. Du kannst Philosoph sein, soviel du willst, aber ich bitte dich, sage nicht öffentlich, was du denkst, denn du würdest mir im Geschäft schaden, wenn meine Kunden er‐ führen, dass ich einen Sohn habe, der nicht an Gott glaubt; besonders die Juden würden keine Velveteens mehr bei mir kaufen, und sind ehrliche Leute, zahlen prompt und haben auch recht, an der Religion zu halten. Ich bin dein Vater und a l s o älter als du und dadurch auch erfahrener; du darfst mir aufs Wort glauben, wenn ich mir erlaube, Dir zu sagen, dass der Atheismus eine grosse Sünde ist.“ 22 Dieser Rede ist nichts hinzuzufügen; sie ist von echtem bürgerlichen Schrot und Korn; eine gewisse Naivität, eine Besorgtheit aber wohnt noch in ihr, die den Dichter selbst nach Jahren noch geduldig sein lässt; die Rede steht ohne Kom‐ mentar am Schluss der Memoiren, die nur zum Teil erhalten sind; der grössere Teil des Anfangs wurde von einem Verwandten, der nicht zugestehen wollte, dass die Familie Heine jüdisch war (das gab es auch schon damals) im Kamin‐ feuer verbrannt. Heftiger reagiert Heine auf ein anderes Familienmitglied, der wie ein düsterer, wenn auch majestätischer Schatten Heines Leben verdunkelte. Der Onkel Salomon Heine aus Hamburg, ein jüdischer Grossbürger, Assimilant unsterblicher Prägung, der den historisch gewordenen Ausspruch über seinen Neffen machte: „Hätte der dumme Junge etwas gelernt, braucht er nicht zu schreiben Bücher.“ 23 Heine antwortet wohl mit ebenso treffendem Wort: „Meine Mutter las gute Bücher und ich bin Dichter geworden, meines Onkels Mutter 106 Gustav Regler 24 Regler zitiert ein Bonmot, das der Literaturhistoriker Gustav Karpeles überliefert hat; es steht jedoch in keinerlei Zusammenhang mit der Äußerung Salomon Heines über seinen Neffen. Vgl. Gustav Karpeles: Heinrich Heine. Leipzig 1899, S. 59. hat den Räuberhauptmann Cartouche gelesen und Onkel Salomon ist Bankier geworden.“ 24 Es war kühn so zu reden, denn die ganze Familie Heines hing von diesem Parvenü finanziell auf Gnade und Ungnade ab. Salomon rächte sich denn auch auf seine Art zu mehreren Malen; als erstes zwang er Heinrich Heine in eine kaufmännische Arbeit; überzeugt, dass der Dichterling sich als unfähig erweisen werde; aber ein Kaufmann lässt es sich schon etwas kosten, um die Ueberle‐ genheit über geistige Welten feiern zu können. Harry Heine & Compagnie li‐ quidierte schon 1818. Heine hatte es für wichtiger gefunden, dem Spiel der Möwen am Hafen von Hamburg zuzusehen. Sein Instinkt hatte ihn davor be‐ wahrt, Respekt vor dem Bankgewerbe zu bekommen. Begriff er schon damals, dass diese Bürgerwelt, die so sicher sich nur fühlte, weil sie reich war, zum Untergang bestimmt war? Ertrug er ihre Beleidigungen schon als Sohn der auf‐ steigenden Armee der Unterdrückten? War in ihm schon der Abscheu vor dem Assimilantentum und all seiner Charakterlosigkeit? Literaturhistoriker verweilen hier gern bei der unglücklichen Liebe, die Heine zu seiner reichten Nichte Amalie trug, doch lassen wir die Wertherforscher, und gewähren wir diesem Kummer das grosse Prädikat, dass er Heine vor dem Ver‐ sacken in die Spiessbürgerlichkeit bewahrt und der Nachwelt mit dem Buch der Lieder und seinen bitter-süssen Klageliedern kostbarste Lyrik geschenkt hat. Was uns mehr angeht, ist der soziologische Raum, in dem Heine sich herum‐ schlagen musste. Ist die Lehre, die wir heute noch daraus ziehen können. Denn im Grund hat sich nichts geändert. Das Judentum Düsseldorfs war durch die französischen Revolutionsheere befreit worden; es war als Religion allen Religionen gleichgestellt worden, die Juden bekamen volle Bürgerrechte; sie konnten mit einem Schlag in die Stadt‐ vertretungen hinein, sie hatten Wohnrecht, Recht auf Schulbesuch, auf Immo‐ bilienbesitz, kurz sie genossen die Vorteile der grossen Revolution. Dann kam das deutsche Befreiungsheer und nahm die Freiheiten mit einem Griff wieder weg. Es schonte dabei die reichen Juden. Kein Wunder, dass diese mit grösserem Nachdruck sich die Philosophie zurechtlegten, dass der Mensch erst bei bestimmter Höhe des Bankkontos anfinge. Kein Wunder, dass ein la‐ kaienhaftes Assimilantentum ausbrach, das sich erfolgreich behaupten konnte. Heine erkennt es; er ist Gefangener im Schloss dieses Onkels, das er Affronten‐ 107 Heinrich Heine. Zu seinem 80. Todestag 25 Hier liegt ein Irrtum Reglers vor. Das Gedicht Affrontenburg entstand im Juni 1853, sein Erstdruck erfolgte in der Sammlung Gedichte. 1853 und 1854 im ersten Band der Ver‐ mischten Schriften im Jahr 1854. Vgl. Heine: Säkularausgabe (Anm. 3), Bd. IIIK, S. 428. In der Zeitschrift Hamburgs Wächter erschienen zwischen dem 8. Februar und dem 17. März 1817 verschiedene Gedichte Heines, die später in das Buch der Lieder aufge‐ nommen wurden, vgl. hierzu ebd., Bd. IK1, S. 35f. 26 Vgl. Max Brod: Heinrich Heine. Amsterdam 1934. Das dritte Kapitel der biographischen Darstellung ist „Der ‚Fußtritt ins Herz‘ - Hamburg“ überschrieben. burg nennt, in einem seiner ersten Gedichte, die damals in „Hamburgs Wächter“ zur gleichen Zeit erschienen, als sein Laden Pleite machte. 25 Heine sieht tiefer, er ahnt die Klassensituation und ohne sie so zu benennen, sagt ihm der Instinkt, dass er reine Trennung wahren muss. Er trennt sich von dem Haus, das nach Gold und Unkultur riecht; seine Mutter verkauft ihren Schmuck, der Onkel gibt die Zustimmung zum Universitätsbesuch. Die Kauf‐ mannszeit ist zu Ende; der Dichter ist aus der Puppe gekrochen. Mit traurigem Flügelschlag macht er seine ersten Ausflüge. Die Biographen, unter anderem Max Brod, haben sich viel Mühe gegeben, die ersten von Mitternachtsschauern erfüllten Gedichte Heines auf den „Fusstritt ins Herz“ zurückzuführen, den ihm die Kusine Amalie gab. Einige haben sich sogar auf das psychoanalytische Pferd geschwungen 26 108 Gustav Regler 1 Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. von der Klassik Stiftung Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin und Paris 1970 ff., Bd. IX, S. 267. Gustav Regler liest Heinrich Heine Sikander Singh Wer je seine Tage im Exil verbracht hat, die feuchtkalten Tage und schwarzen langen Nächte, wer die harten Treppen der Fremde jemals auf- und abgestiegen, der wird begreifen weßhalb ich die Ver‐ dächtigung in Betreff des Patriotismus mit wortreicherem Unwillen von mir abweise als alle andern Verläumdungen, die seit vielen Jahren in so reichlicher Fülle gegen mich zum Vorschein gekommen und die ich mit Geduld und Stolz ertrage. Ich sage mit Stolz: denn ich konnte dadurch auf den hochmüthigen Gedanken gerathen, daß ich zu der Schaar jener Auserwählten des Ruhmes gehörte, deren Andenken im Menschengeschlechte fortlebt, und die überall neben den geheiligten Lichtspuren ihrer Fußstapfen, auch die langen, kothigen Schatten der Verläumdung auf Erden zurücklassen. Heinrich Heine: Ueber den Denunzianten  1 I. Unter den Intellektuellen, die während der Epoche der Restauration zwischen 1815 und 1848 aufgrund politischer Verfolgung ihre deutsche Heimat verlassen mussten, um dauerhaft oder auch nur temporär im Exil zu leben, war es Heinrich Heine, der dieser einschneidenden Erfahrung eine gültige und bis in das 20. Jahrhundert wahrgenommene literarische Stimme gab. Ludwig Börne, Georg Büchner, Georg Herwegh oder Ferdinand Freiligrath haben das Bedrückende 2 Xantippus (d. i. Franz Sandvoß): Was dünket euch um Heine? Ein Bekenntnis. Leipzig 1888; Theodor W. Adorno: Die Wunde Heine. In: ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main 1994. (Ursprünglich ein Vortrag, den Theodor W. Adorno im Februar 1956 zum 100. Todestag Heinrich Heines im Westdeutschen Rundfunk gehalten hat.) und Leidhafte, das Einsame und Quälende der schriftstellerischen Existenz in der Fremde zwar ebenfalls problematisiert, in den Debatten nachgeborener Ge‐ nerationen treten ihre Schriften und Dichtungen jedoch in den Hintergrund. Obwohl literarische Rezeptions- und Kanonisierungsprozesse ebenso von unterschiedlichen Faktoren wie von kontingenten Einflüssen bestimmt werden, ist für die bemerkenswerte Nachwirkung seines Werkes vor allem eine Ursache zu benennen: Heine wurde von seinen Zeitgenossen als Autor des Buches der Lieder geschätzt, jenes Gedichtbuches, das von seinem Erscheinen im Jahr 1827 bis zum Tod des Dichters elf Auflagen erlebte und im Verlauf des 19. Jahrhun‐ derts als eine der populärsten und einflussreichsten Lyriksammlungen deut‐ scher Sprache nicht nur weite Verbreitung erlangte, sondern auch zahlreiche Nachahmer fand. Dass ihr Verfasser aufgrund seines politischen Engagements sein deutsches Vaterland verlassen musste und die zweite Hälfte seines Lebens in der Emigration in der französischen Hauptstadt verbrachte, ist ein provo‐ zierender Widerspruch. Auch die Unvereinbarkeit von Bildern und Metaphern, die - so die Perspektive seiner zeitgenössischen Leser - das Dichtungsideal der Romantik fortschreiben, und des Ironischen seiner zeitkritischen Schriften, öff‐ neten sein Werk deshalb bereits ab den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts für divergente ästhetische und weltanschauliche Deutungen und Vereinnahmungen. Das von Franz Sandvoß 1888 geprägte Wort „ein Pfahl in unserm Fleische“ oder Theodor W. Adornos 1956 getroffene und vielzitierte Feststellung von der „Wunde Heine“ sind beredter Ausdruck dieser Schwierigkeit der Mit- und Nachwelt im Umgang mit einem - wie schon die Zeitgenossen, trotz aller Meinungsverschiedenheiten, nicht müde wurden zu betonen - bedeutenden deutschen Schriftsteller. 2 Für die Autorinnen und Autoren, die infolge der nationalsozialistischen Machtergreifung nach 1933 aus dem Deutschen Reich und nach 1938 aus den annektierten Ländern fliehen mussten, war Heine zudem eine Identifikations‐ figur, weil er jüdischer Herkunft war: Indem er sein Exil in Frankreich auch in der Nachfolge der Exilerfahrungen des jüdischen Volkes deutete, eröffnete die Analogie zu dem Schicksal der jüdischen Intellektuellen in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Möglichkeit, den eigenen Lebensweg in einem Traditionszusammenhang zu verstehen. Damit blieb die eigene Exis‐ tenz zwar bedroht, waren Heimat und Vaterland zwar verloren, aber Dichtung 110 Sikander Singh 3 Heine: Säkularausgabe (Anm. 1), Bd. XII, S. 72. 4 Vgl. hierzu Heines Geist in Mexiko. Hrsg. vom Heinrich-Heine-Klub. Mexiko 1946. Vgl. hierzu auch Karin Ceballos Betancur: Egon Erwin Kisch in Mexiko. Die Reportage als Literaturform im Exil. Frankfurt am Main [u. a.] 2000 [Analysen und Dokumente. Bei‐ träge zur Neueren Literatur. Bd. 42], S. 86-88. 5 Doris Danzer: Zwischen Vertrauen und Verrat. Deutschsprachige kommunistische Intel‐ lektuelle und ihre sozialen Beziehungen (1918-1960). Göttingen 2012 [Freunde - Gönner - Getreue. Studien zur Semantik und Praxis von Freundschaft und Patronage. Bd. 5], S. 388. und Geistesgeschichte konnten, um ein Wort Heines zu variieren, als ein „por‐ tatives Vaterland“ ausgedeutet werden. 3 Diese traditionsstiftende Funktion Heines für die deutschsprachigen Exil‐ schriftsteller während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft spiegelt sich nicht nur in Auswahlwie Neuausgaben seiner Werke, die von emigrierten Autorinnen und Autoren mit Vor- oder Nachworten versehen in Exilverlagen herausgegeben wurden, sondern auch in literarischen oder essayistischen Bei‐ trägen, die in Zeitschriften in Amsterdam, Paris oder New York erschienen. Auch war eine von 1941 bis 1946 existierende Vereinigung von Exilanten in Mexiko nach Heine benannt. Der Heinrich-Heine-Klub und die von ihm verantwortete Zeitschrift avancierten während der fünf Jahre ihres Bestehens zu kulturellen Zentren der Gemeinschaft deutschsprachiger Exilierter und Emigranten und eröffneten solchermaßen den Angehörigen künstlerischer oder akademischer Berufe ein Betätigungsfeld sowie die Möglichkeit des geistigen Austauschs. 4 Doris Danzer schreibt in ihrer Studie über die deutschsprachige Gemeinde in Mexiko hierzu: Dort fanden sie sich am 7. November 1941 ein und gründeten den Heinrich-Heine-Klub, ein kulturelles Forum für deutschsprachige Emigranten in Mexiko. Dem ersten Vor‐ stand gehörte neben Egon Erwin Kisch, Bodo Uhse und Rudolf Feistmann auch Anna Seghers an. Ziel des HHK war, die Mitglieder der kommunistisch-dominierten Bewe‐ gung Freies Deutschland, der jüdischen und bürgerlichen Organisationen sowie öster‐ reichische Emigranten zusammenzubringen. Auch Auslandsdeutsche sollten miteinge‐ bunden werden. Hierfür wurde in Abendveranstaltungen nicht nur über deutsche Literatur vom Vormärz bis in die Gegenwart referiert, sondern auch über Themen der internationalen Politik diskutiert. Auch Autorenlesungen von Kisch und Seghers fanden statt. Sie waren gut besucht und gehörten mit szenischen Inszenierungen der Stücke von Büchner, Brecht und Kisch, die ab Mai 1942 aufgeführt wurden, zu den Höhepunkten der Veranstaltungen des Heinrich-Heine-Klubs. 5 Dass Heinrich Heine nicht nur unter den eher linken Intellektuellen, die in dem mittelamerikanischen Land Aufnahme fanden, als eine Identifikationsfigur be‐ 111 Gustav Regler liest Heinrich Heine 6 Vgl. hierzu den von Geoffrey E. Silverman erarbeiteten und dem Verfasser ergänzten und erweiterten Beitrag: Heinrich Heine. In: Encyclopaedia Judaica. Hrsg. von Fred Skolnik / Michael Berenbaum. 2. Aufl. Bd. VIII. Detroit [u. a.] 2007. 7 Vgl. hierzu Dietmar Goltschnigg / Hartmut Steinecke (Hrsg.): Heine und die Nach‐ welt. Geschichte seiner Wirkung in den deutschsprachigen Ländern. Texte und Kon‐ texte, Analysen und Kommentare. Berlin 2006-2011, Bd. II, S. 363-370 sowie Marga‐ rita Pazi: Max Brod’s Presentation of Heinrich Heine. In: The Jewish Reception of Heinrich Heine. Hrsg. von Mark H. Gelber. Tübingen 1992 [Conditio Judaica. Bd. 1], S. 173-184. 8 Vgl. hierzu Rudi van Doorslaer: Enfants du ghetto / Kinderen van het getto. Juifs révolutionnaires en Belgique (1925-1940). Brüssel 1997, S. 110. trachtet wurde, wird in dem Beitrag über den Dichter, den Geoffrey E. Silverman für die Encyclopaedia Judaica vefasst hat, ebenso sichtbar, 6 wie in der 1934 bei Allert de Lange in Amsterdam veröffentlichten Heine-Biographie von Max Brod. 7 In exemplarischer Weise behandelt dieses Werk die Lebensgeschichte des Dichters und reflektiert zugleich das Schicksal der deutschen Juden im 20. Jahr‐ hundert. Indem sich die eigene Erfahrung von Ausgrenzung und Verfolgung (durch das nationalsozialistische Deutschland), Exil und Existenzangst im Leben und Werk eines großen, deutschen Dichters spiegelt, entstand ein Moment von Trost und Ermutigung. II. Gustav Regler, der unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, der im Jahr 1933 den neuen nationalsozialistischen Machthabern den Vorwand für die Zerschlagung der linken (Arbeiter-)Parteien und der Gewerkschaften lieferte, gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Marie Luise Vogeler das Deutsche Reich verließ, um nach Paris überzusiedeln, verfasste 1935 oder 1936 in der französischen Hauptstadt einen Vor‐ trag, der die Bedeutung Heinrich Heines für sein Leben als Schriftsteller wie seine Zeit umreißt. Anlass für diese Arbeit war die Vortragseinladung der sozialistisch-re‐ volutionären jüdischen Vereinigung „PROKOR“ nach Brüssel, die von der Schrift‐ stellerin und Journalistin Andrée Viollis vermittelt worden war. 8 Regler nutzte den Aufenthalt in Belgien, um auch in Antwerpen, Charleroi, Liège und Eupen vor Ver‐ sammlungen jüdischer und kommunistischer Arbeiter zu sprechen. Drei handschriftliche Briefe, die in dem Teilnachlass Reglers, der im Litera‐ turarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass in Saarbrücken verwahrt wird, überliefert sind, vermitteln einen deutlichen Einblick in die politische Arbeit (in Dienst und Auf‐ trag der Kommunistischen Partei), welcher der Schriftsteller sich seit dem En‐ gagement im Rahmen des Saarkampfes in Form von Reden widmete. So schreibt er am 14. März 1936 aus dem Hotel Métropole in Brüssel an Marie Luise: 112 Sikander Singh 9 GRW, Bd. XIII/ 1, S. 189, Nr. 66. 10 Ebd., S. 191, Nr. 67. Tagesbericht Samstag. Kurz vor der Abreise nach Charleroi, mein Gutes. Gestern Abend war Antwerpen. Welch ein herrliches Proletariat. Ich sprach zwei Stunden. Fast frei. Hatte etwas Angst. Weil sie mich als „Redner“ angekündigt. Der Saal aber ant‐ wortete mit einer Spannung, wie ich sie selten erlebte. Süsse Mädchen, bester Orient, stürzten am Schluss auf den Veranstalter[,] um ihm zu sagen mit strahlend schwarzen Augen, es sei der schönste Abend dieses Winters gewesen. (Sag das aber keinem der Freunde, die auch hier waren) Ich muss wiederkommen „so bald wie geht“. Später in der Nacht lud mich die Jugend in ihr Haus zu einem „Bankett“, wie sie es bezaubernd nannten: lange weisse Tische mit Weihnachtstellern und Tee. Deklamationen, An‐ sprachen und grosse gläubige Augen ringsum. 9 Das nächste Schreiben, das auf den 15. März zu datieren ist, berichtet von der Rede, die Regler am Vorabend in Charleroi gehalten hat. Die Anspannung und die Emphase, die den Schriftsteller in diesen, von öffentlichen Auftritten be‐ stimmten Tagen begleiteten, vermitteln sich auch in der brieflichen Darstellung: Gestern abend war Charleroi. Borinage-Gebiet, Bergarbeiter jüdische. Kleine Ver‐ sammlung. Gute Spannung. Diskussion bestand aus einem Redner, der wünschte, ich möge bald wiederkommen. Beifall der ganzen Gesellschaft. Dann stand ein Abge‐ sandter aus Antwerpen auf und sagte, er sei geschickt aus [Antwerpen], um mich heute Nacht nach Antwerpen zu führen, wo die ältere Jugend erst mit mir tanzen und dann diskutieren wolle. „Über alles.“ 10 Am 16. März erzählt Regler schließlich von seinem Vortrag über Heinrich Heine, den er am Vorabend im Maison des Huit-Heures, einem der Zentren linker Politik und Intelligenz in Brüssel, gehalten hat. Der Schriftsteller verwendet zwar wei‐ terhin das Briefpapier des Hotel Métropole, er verfasst den knappen Bericht für seine in Paris zurückgebliebene Lebensgefährtin jedoch bereits in Lüttich: Liège. Morgenfrühstück. 8.30. Der kurioseste aller vier Abende ist vorbei. Gegen acht Uhr marschierte in einen charmanten kleinen Saal die Universitätsjugend der deut‐ schen Kurse ein, darunter einige, die die Nazis wohl leicht bewundern, wie mir ihre Professoren erklärten, die ausserdem gekommen waren, um mich leicht zu warnen, recht literarisch zu bleiben. Ich kann Dir sagen, dass ich keinen Angriff ausgelassen habe, nur bei den heftigen Stellen ganz leise sprach. Die Professoren kamen in ausgesprochen schneidige Fahrt. Der Saal gab Vollgas. Am Ende: Felicitations! (man spricht hier nur französisch) 113 Gustav Regler liest Heinrich Heine 11 Ebd., S. 192, Nr. 68. 12 Vgl. in diesem Band S. 108. Felicitations! Und dann die offizielle Einladung der Universität wiederzukommen und das Referat auf französisch vor dem höchsten Publikum zu halten. Jetzt kommen die beiden polnischen Studenten an den Tisch. Ich will die Stadt be‐ sichtigen. Um 10 Uhr eingeladen von „meinen“ Professoren die Universität zu besich‐ tigen. Um ½ 12 kommt die Viollis von Brüssel. Dann geht’s endlich nach Eupen. 11 Das Redemanuskript ist leider nicht erhalten, allerdings verwahrt das Gustav- Regler-Archiv in Merzig ein knapp vierzehn Seiten umfassendes Typoskript (mit eigenhändigen Ergänzungen und Korrekturen) mit einer Entwurfsstufe des in diesem Band edierten Vortrages. Die Darstellung, die dem Leben Heinrich Heines chronologisch folgt, bricht mit der Betrachtung seiner kaufmännischen Lehrjahre in Hamburg ab - und damit vor dem Beginn seiner Laufbahn als Schriftsteller. Die Analysen und Deutungen der politischen Dichtungen, die für das Heine-Bild Reglers von besonderem Interesse wären, liegen somit nicht vor. Inhaltlich stützt Regler sich in seinem biographischen Abriss einerseits auf das 1827 erstveröffentlichte Reisebild Ideen. Das Buch Le Grand, in dem Heine verschiedene autobiographische Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in Düsseldorf literarisch überformt, andererseits auf die Memoiren des Dichters, die zwar in den Jahren 1854 und 1855 entstanden sind, jedoch erst posthum im Jahr 1888 als Fragment aus dem Nachlass publiziert wurden. Ob Regler aus‐ schließlich mit den Primärquellen gearbeitet hat oder für die Abfassung seines Vortrages auch biographische Darstellungen herangezogen hat, ist auf der Grundlage des überlieferten Typoskriptes und fehlender Zeugnisse zur Entste‐ hungsgeschichte nicht zu entscheiden. Der Hinweis auf die Heine-Biographie des Schriftstellers und Journalisten Max Brod, der sich im letzten Absatz von Reglers Typoskript findet, legt jedoch nahe, dass der Schriftsteller dieses Werk für seine Arbeit herangezogen hat. 12 Die Lesart, die der promovierte Germanist Regler entfaltet, ist charakteris‐ tisch für die Perspektive, welche die Wirkungsgeschichte der Werke noch zu Lebzeiten Heines bestimmt hat und die bis in das 20. Jahrhundert dominierend bleiben sollte: Weder die Literaturkritik noch die Literaturwissenschaft unter‐ schieden zwischen der Person des Autors und der Persona des Erzählers, viel‐ mehr werden das lyrische Ich bzw. der Ich-Erzähler mit der Person des Autors gleichgesetzt. Jede literarische Aussage wird somit auch als eine persönliche gelesen, und jeder in einem literarischen Werk eingenommene Standpunkt wird als Aussage über die Lebensgeschichte des Verfassers oder seiner Einstellungen verstanden. Dass sowohl in Heines lyrischen wie in seinen prosaischen Werken 114 Sikander Singh 13 Die freundschaftliche Beziehung zwischen Regler und Kisch, die bis in die Zeit des gemeinsamen Exils in Mexiko währte, zerbrach, nachdem Regler sich unter dem Ein‐ druck des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts aus dem Jahr 1939 (Hitler- Stalin-Pakt bzw. Ribbentrop-Molotow-Pakt) von der Kommunistischen Partei, deren Mitglied er seit 1929 war, löste. Nach einer publizistischen Auseinandersetzung sah sich Regler schließlich als „Renegat“ isoliert und von den Diskursen der (kommunistischen) Exilantengruppe ausgeschlossen. Vgl. hierzu Ceballos Betancur: Egon Erwin Kisch in Mexiko (Anm. 4), S. 125-129 und Danzer: Zwischen Vertrauen und Verrat (Anm. 5), S. 223f. die Perspektive der ersten Person dominiert, hat zu diesen einseitigen Deu‐ tungen und verkürzenden Interpretationen ebenfalls beigetragen. Der Vortrag, zu dem die jüdische Vereinigung aus Anlass von Heines 80. Todestag (am 17. Februar 1856) eingeladen hat, bewegt sich somit im Hinblick auf den biographistischen Deutungsansatz, den er durchgehend verfolgt, im Kontext eines seit dem im 19. Jahrhundert verbreiteten Dichtungsverständ‐ nisses, das Figuren wie fiktionale Handlungsverläufe in literarischen Texten ausschließlich auf das Leben des Autors bezieht. Durch die Identifizierung mit biographischen Vorlagen oder Ereignissen wird der Gehalt des literarischen Werkes erschöpfend erklärt. Dass Regler mit dieser Methode weder dem kom‐ plexen Spiel, das Heine in Ideen. Das Buch Le Grand mit autobiographischen Wahrheiten, Erfindungen, Fiktionen und Träumen treibt, gerecht wird, noch die gedankliche Tiefe auszuloten vermag, mit welcher der Dichter in dem Fragment seiner Memoiren individuelles Leben und Zeitgeschichte verschränkt, ist offen‐ sichtlich. Interessanter als dieser aus der Retrospektive heutiger literaturwissenschaft‐ licher Methodenreflexionen eindimensionale Interpretationsansatz ist die Art und Weise, wie Regler den Dichter in Beziehung setzt zu den Problemen und Fragen seiner eigenen Gegenwart: Indem der dem eigentlichen Vortrag voran‐ gestellte Absatz (der in dem vorliegenden Entwurf noch nicht sauber in den nachfolgenden Gedankengang eingearbeitet worden ist) die Besuche Reglers mit seinem Freund und politischen Kampfgefährten Egon Erwin Kisch bei ver‐ schiedenen der insgesamt fünfzehn Wohnungen Heines in Paris anreißt, stellt er die Verbundenheit mit dem Dichter heraus. 13 Dieser persönliche Gestus be‐ stimmt auch die nachfolgenden Betrachtungen, mit denen Regler seinen Vortrag beginnen lässt. Vor diesem Hintergrund betont der Schriftsteller den Gegen‐ wartsbezug seiner Ausführungen. Im Rekurs auf die Lebensgeschichte Heines, die durch Erfahrungen von Ausgrenzungen (aufgrund seiner jüdischen Her‐ kunft) und politischer Zensur (aufgrund seines politischen Engagements) be‐ stimmt worden ist, thematisiert Regler indirekt auch den Hass und die Verach‐ 115 Gustav Regler liest Heinrich Heine 14 Vgl. in diesem Band S. 98. 15 Vgl. in diesem Band S. 99. tung, mit der die nationalsozialistische „Kulturpolitik“ sein eigenes literarisches und publizistisches Werk diffamiert. Die Auslandsdeutschen wie auch die jüdische Gemeinschaft, vor der er in Brüssel spricht, bewahren in der Deutung Reglers jene Traditionen der deut‐ schen Geistesgeschichte, durch welche die durch den ideologischen Rassen‐ wahn des Hitler-Faschismus korrumpierte und zerstörte Kultur Deutschlands wieder erneuert werden kann: Es ist Zeit, seine Stimme wieder zu hören, und es ehrt diese Versammlung, dass sie sein Andenken hochhalten will; sie ehrt das wahre Deutschland damit, jenes Deutsch‐ land, das nicht untergehen wird trotz aller Autodafés, jenes Deutschland, das nach diesen bitteren Jahren auch den gelben Fleck auslöschen wird, den es auch auf die Werke eines seiner grössten Dichter schmierte. 14 Das Schwierige und Existenzbedrohende des Exils, das Regler selbst seit 1933 durchleben musste, erhält in dieser Lesart eine über das individuelle Schicksal hinausweisende Bedeutung. Zudem wird vor diesem Hintergrund verständlich, warum Regler sich in der einleitenden Passage seines Vortrages so intensiv mit Heines Vorrede zum Einzeldruck des Wintermärchens aus dem Jahr 1844 be‐ schäftigt: In kaum einer anderen Schrift erörtert der Dichter sein Verhältnis zu seiner verlassenen Heimat so unmittelbar und explizit. Weil die Textsorte der Vorrede die direkte Anrede des Lesers erlaubt, entsteht ein vertraulicher, be‐ kenntnishafter Ton, der integraler Bestandteil der Aussage ist, die Heine ver‐ mitteln will: Das Leben in der Fremde ist nicht als Abkehr von der Heimat zu verstehen, sondern - im Gegenteil - Ausdruck einer unveräußerlichen Liebe zum Vaterland. In diesem Sinne erläutert Regler: Wenn sie sagen, er sei fremden Blutes - ich kennen keinen, der so leidenschaftlich sich zu dem Land seiner Sprache bekannt hat - und er hatte Grund dazu. Er sah das echte Deutschland und verteidigte es gegen seine Patrioten. Er kannte die Schönheit des Landes besser, als die welche sie jetzt auf militärischen Paraden feiern oder in gestohlenen Schlössern. Er liebte seine Muttersprache - und wäre wohl mit Hohn und Spott dazwischengefahren, hätte er eins der Bücher gelesen, die jetzt zur Schande der deutschen Sprache die augenblicklichen Machthaber des deutschen Regimes ge‐ schrieben haben. Seine Liebe war nicht phrasenhaft, sie bedurfte nicht des Lautspre‐ chers, sie hatte den Mut zu zärtlichen Tönen[.] 15 116 Sikander Singh 16 Vgl. in diesem Band S. 100. 17 Anna Seghers: Abschied vom Heinrich Heine-Klub. In: Goltschnigg / Steinecke (Hrsg.): Heine und die Nachwelt (Anm. 7), S. 437-439, hier S. 438. 18 GRW, Bd. X, S. 242 und S. 243. Im Zitat dieser dialektischen Denkfigur verweist Regler zugleich auf sich selbst. Auch sein Exil bedeutet keine Abkehr vom Vaterland, sondern eine Hinwendung zu dem ‚wahren‘ Deutschland, zu jenen geistes- und ideengeschichtlichen Tra‐ ditionen, die nach 1933 von den nationalsozialistischen Machthabern geleugnet, umgedeutet und schließlich verboten (oder getilgt) worden sind. Aus dieser Perspektive verstanden, ist die Emigration nicht nur das Resultat einer politisch erzwungenen Flucht, sondern ein notweniger Schritt zu der Erneuerung der deutschen Kultur. Regler interpretiert Heine daher als einen „souveränen Ein‐ zelgänger […], der ein Vorläufer grosser menschlicher Freiheiten war, um die wir heute erneut zu kämpfen haben“. 16 Aus der Sicht der rhetorischen Analyse setzt Regler damit geschickt auf eine seit der Antike bewährte persuasive Strategie: Der Verweis auf analoge Erfah‐ rungen und vergleichbare Lebenssituationen erzeugt eine Gemeinschaft von Redner und Zuhörer. Dieser Ansatz gründet jedoch nicht nur auf dem Kalkül des versierten Redners. Er dokumentiert zugleich, auf welche Weise sich das Heine-Bild Reglers in den Kontext der Positionen fügt, die von exilierten, deutschsprachigen Schriftstellern zwischen 1933 und 1945 wiederholt formu‐ liert worden ist. So hat Anna Seghers, die wie Regler vor dem Nationalsozia‐ lismus nach Mexiko geflogen ist, das Werk Heines und seine auf ihre Gegenwart bezogene Relevanz auf eine interessant parallele Weise verstanden. In der Rede, die sie 1946 anlässlich der Auflösung des Heinrich-Heine-Klubs hielt, formuliert sie: Wir haben in seinem [Heines] Namen eine grosse Strecke gemeinsam zuruecklegen koennen, weil unsere Leben innen und aussen viele Punkte mit seinem gemeinsam hatten. Die wichtigsten, tiefsten inneren Fragen und aeussere Schicksale. Wir haben wie er versucht, an Werten aus unserer Heimat festzuhalten, was des Erhaltens wert war, und in gemeinsamer Richtung weiterzugehen. Wir hatten nicht allzuviel Mittel zur Hand, wir hatten keine gewaltige Buehne. […] Heine hat alle Stadien der Emigration mir uns geteilt: Die Flucht und die Heimatlosigkeit und die Zensur und die Kaempfe und das Heimweh. 17 Gustav Regler, der später in seiner romanhaften Autobiographie Das Ohr des Malchus sein Exil „mit dem Verpacken der Bücher“ beginnen lässt, darunter selbstverständlich auch ein Band Heine, 18 steht mit seiner Deutung des Dichters und seines Werkes somit im Kontext derjenigen Künstler und Akademiker, die 117 Gustav Regler liest Heinrich Heine 19 Heine: Säkularausgabe (Anm. 1), Bd. XII, S. 72. auf der Flucht vor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus in einer unsi‐ cher gewordenen Welt nach einer intellektuellen Heimat, einem „portative[n] Vaterland“ suchten. 19 118 Sikander Singh 1 Dieser Beitrag ist die schriftliche Ausarbeitung eines Vortrags, den ich im Rahmen der Tagung Translation in Exile (Organisiert vom Centre for Literature in Translation of the Vrije Universiteit Brussel und der Ghent University, in Zusammenarbeit mit der University of Santiago de Compostela und der Federal University of Santa Catarina) am 10. Dezember 2015 in Brüssel gehalten habe. Unmittelbarkeit und Rückblick Gustav Reglers Exilwerk und seine Erinnerungen an die Emigration in Übersetzungen 1 Hermann Gätje Alle fremdsprachlichen Übersetzungen von Werken Gustav Reglers sind signi‐ fikant mit seinem Exil verknüpft, sind währenddessen entstanden oder um‐ fassen Texte mit speziellem Exilbezug. Regler übersetzte seine Werke bis auf wenige Ausnahmen nicht selbst, doch sprach er Englisch wie Französisch flie‐ ßend, und viele Übertragungen entstanden unter seiner aktiven Mitwirkung und in Korrespondenz mit den Übersetzern. Dieser Beitrag stellt die Übersetzungen von Texten Reglers vor und setzt sie in Bezug zu seiner Biographie. Das Exil und die Stationen seines Lebens nach 1933 bestimmen maßgeblich die Übersetzungen seiner Werke. Reglers letzter in Deutschland erschienener Roman Wasser, Brot und blaue Bohnen aus dem Jahre 1932 stellt ein eindeutiges Bekenntnis zum Kommunismus und eine Systemkritik an der Weimarer Repu‐ blik dar. Er spielt in einem Gefängnis und allegorisiert dies mit den sozialen und politischen Zuständen in Deutschland. Es drückt Reglers Parteitreue aus, dass das bereits beim Kiepenheuer Verlag gesetzte Buch schließlich in einem Verlag des kommunistischen Medienzars Willi Münzenberg erschien. 1933 ging Regler ins Exil nach Paris und arbeitete dort maßgeblich im Kreis um Willi Münzenberg am ersten Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror mit. Aus diesen Kon‐ takten in der Emigration ergaben sich auch die ersten Übersetzungen seiner Werke. In diesen spiegelt sich die erste Phase seines Exils, die geprägt ist von seiner kommunistischen Tätigkeit und seiner Treue zur Partei. 2 La Sarre en Feu. Paris 1934. 3 La Passion de Joss Fritz. Paris 1937. Im Bestand des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass finden sich Kopien von rund 20 Rezensionen aus dem französischen Sprachraum, vor‐ wiegend von sozialistischen und kommunistischen Presseorganen. Über Reglers erstes geplantes Übersetzungsprojekt ist nur wenig bekannt. Es handelt sich um eine englische Ausgabe seines kirchenkritischen, aber nicht dezidiert kommunistischen Romans Der verlorene Sohn. Dieser hatte im Original bei Kiepenheuer erscheinen sollen, konnte aber wegen der politischen Verhält‐ nisse nicht mehr in Deutschland publiziert werden und kam 1933 bei Querido in Amsterdam heraus. Es existiert ein Typoskript Prodigal Son im Nachlass (GRA), allerdings ohne Übersetzerangabe, und in einem Katalog wurde das Er‐ scheinen 1934 im New Yorker Putnam-Verlag angekündigt. Aus Briefen Reglers geht hervor, dass sich die Veröffentlichung immer wieder verzögert hat und schließlich nicht zustande gekommen ist. Die erste Übersetzung eines Buches von Gustav Regler erschien auf Franzö‐ sisch, seine Übersetzerin war Jeanne Stern, die französische Frau seines Freundes und Parteigenossen Kurt Stern, der ebenfalls im Kreis um Willi Münzenberg aktiv war. Es war die französische Fassung seines Saar-Romans Im Kreuzfeuer von 1934. Sie erschien im gleichen Jahr in einem Verlag der französischen kommu‐ nistischen Partei Edition sociales internationales, das deutsche Original war in Münzenbergs Exilverlag Editions Carrefour in Paris erschienen. 2 Das Werk ist im Stile des proletarischen Agitationsromans geschrieben, spielt im Saargebiet wäh‐ rend des Abstimmungskampfes zur Volksabstimmung 1935 und will in Episoden ein Stimmungsbild vor Ort vermitteln. Regler vertritt in diesem streng realistisch erzählten Text ohne Nuancen den kommunistischen Standpunkt, die Figuren werden entsprechend gestaltet: strahlenden Parteigenossen und Funktionären, die allenfalls sympathische Selbstzweifel hegen, ob sie auch klassenbewusst genug sind, stehen Nazis und die mit ihnen verbündeten Priester und Unternehmer ge‐ genüber. Dazwischen die Schwankenden, Unsicheren, die jedoch im Verlauf des Romans erkennen, dass nur der sozialistische Weg der richtige ist. Während dieses Buch in Frankreich relativ unbeachtet blieb, erlangte der im selben Verlag erschienene und ebenfalls von Jeanne Stern übersetzte Bauern‐ kriegsroman Die Saat, das deutsche Original war 1936 bei Querido erschienen, einige Presseresonanz. 3 Dies lässt erkennen, dass die Gattung des historischen Romans und sein Gegenwartsbezug in der Exilliteratur auch in den Ländern der Emigration selbst Beachtung fanden. 120 Hermann Gätje 4 Voda, chleb i puli. Leningrad: Goslitizdat 1936. Übersetzung von Izabelly Grinberg, Nachwort von V. Admoni. 5 Bludnyi syn. Moskva: Goslitizdat 1938. Übersetzung von I. A. Gorkina u. I. A. Gorkinoj. 6 Posev. Roman iz epochi krest’janskoj vojny v Germanii. Moskau: Zurnal’no -gazetnoe ob-edinenie 1937 (Seria vsemirnaja biblioteka 38-41) [Serie Weltbibliothek 38-41]. Übersetzung von Ja. I. Reckera, Neuauflage im selben Jahr von Moskau: Staatsverlag für schöne Literatur 1937. 7 V. Admoni: Nachwort. In: Gustav Regler: Voda, chleb i puli. Leningrad 1936. Zitiert nach einer Rohübersetzung, Typoskript, LASLLE. Diese und die im Folgenden zitierten Über‐ setzungen wurden Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Slavistik an der Universität des Saarlandes angefertigt. 8 Ebd. 9 Ebd. Drei Romane Reglers wurden ins Russische übersetzt und in der Sowjetunion verlegt: Wasser, Brot und blaue Bohnen, 4 Der verlorene Sohn  5 und Die Saat. 6 Kri‐ tiken in der sowjetischen Presse bewerten die Texte positiv und betonen ihre Bedeutung im Hinblick auf die sozialistischen Postulate an die Literatur. Wäh‐ rend Wasser, Brot und blaue Bohnen sich in seiner Aussage als explizit kommu‐ nistisch gibt, stellen sich die anderen beiden Romane ambivalenter dar. Der ver‐ lorene Sohn spiegelt auf Reglers katholische Sozialisation zurückgehende religiöse Konflikte am Beispiel des Verhältnisses zwischen einem Geistlichen und einem abgefallenen Priester. Trotz differenzierter Passagen und Reflexionen bemüht der Roman einige in der kommunistischen Propaganda gängige Kli‐ schees über die Kirche, z. B. ein Priester in einem Bordell. Betrachtet man die Rezensionen und Nachworte der russischen Ausgaben, erkennt man, wie sehr das Zustandekommen und die Rezeption der Überset‐ zungen auf die einseitige Auslegung der Texte hinsichtlich der Paradigmen pro‐ letarischer Literatur fixiert sind. Das Nachwort der russischen Ausgabe von Wasser, Brot und blaue Bohnen betrachtet den Roman nach allen Regeln der so‐ zialistischen Literaturtheorie und -doktrin, er lobt Reglers antifaschistischen Kampf, attestiert dem Roman gemäß dem sozialistischen Verständnis und Ideal von Entwicklung gute Ansätze, aber „manche seiner Eigentümlichkeiten liegen außerhalb des allgemeinen Entwicklungsweges des deutschen proletarischen Romans, und einiges bedarf einer Überwindung.“ 7 Der Verfasser V. Admoni sieht den Roman noch in einem typisch deutschen expressionistischen Moment, der die mystische Umwandlung des inneren Menschen zum Guten der Welt hin postuliert. Dies widerspiegle „den kurzlebigen, anarchistischen Aufstand des Kleinbürgertums, das sich noch nicht unter der Führung des Proletariats be‐ fand.“ 8 „Aber das Hauptverdienst Reglers liegt in der Klarheit und Kraft, mit der er das Gefängnis der Bourgeoisie entlarvt und damit auch die ganze kapitalis‐ tische Gesellschaft.“ 9 121 Unmittelbarkeit und Rückblick 10 I. Tolin: „Bludnyi syn“ Gustava Reglera. In: Oktjabr (Moskau) 1939, Nr. 4. Zitiert nach einer Rohübersetzung, Typoskript, LASLLE. 11 Ebd. 12 E. Gal’perina: Posev. In: Literaturnoje obosrenije (Moskau) 1937, Nr. 17. Zitiert nach einer Rohübersetzung, Typoskript, LASLLE. Der ambivalente Roman Der verlorene Sohn wird in einer Rezension der Zeit‐ schrift Oktober von I. Tolin aus dem Jahre 1939 im Sinne der sozialistischen Doktrin als eindeutig antireligiös (d. h., nicht nur kirchenkritisch! ) interpretiert: „Er zerlegt deutlich die eine oder andere Seite der Kirchlichkeit und Religiosität, um den äußerlichen feierlichen Glanz der Priester und ihrer betrogenen Ge‐ meinde zu zeigen und, um dadurch die Verlogenheit und den Verfall der Kirche, der Geistlichen und der Religion schärfer darstellen zu können.“ 10 Die Bücher Reglers seien „Dokumente des Kämpfers gegen den Faschismus und die Reli‐ gion“, die „zwei Feinde der Menschheit“. 11 Der Bauernkriegsroman Die Saat zählt zu seinen bekanntesten Büchern und hat in der Exilliteratur und ihrer Erforschung einen hohen Stellenwert, weil der Text exemplarisch für den im Exil verbreiteten historischen Roman steht und er auch Bestandteil des umfassenden Diskurses ist, in dem etwa auch Feuchtwan‐ gers und Heinrich Manns Werke stehen. Er wurde bereits 1937, ein Jahr nach seinem Erscheinen, in Russisch publiziert und im gleichen Jahr zweimal aufge‐ legt. Eine Rezension in Literaturnoje obosrenije von E. Gal’perina illustriert in ihrer Ausführlichkeit das Interesse, das dieser Roman bei sowjetischen Litera‐ turtheoretikern weckte. Während zahlreiche spätere Interpreten in dem Buch einen autobiographischen Subtext lesen, der bereits Zweifel am kommunisti‐ schen Bekenntnis impliziert, die dann dialektisch zugunsten des großen Ziels niedergerungen werden, deutet die Rezensentin der russischen Ausgabe den Text über den Aufstand der Bauern unter Joss Fritz als programmatisches Gleichnis für die Gegenwart und lobt ihn in seiner Einstellung: „[V]on der ersten bis zur letzten Seite ganz von der Leidenschaft unserer Tage erfüllt. […] er stärkt im Leser den festen Glauben an den zukünftigen Sieg des deutschen Volkes.“ 12 Diese wie andere zeitgenössische Rezensionen indizieren, dass die später einsetzende Deutung von Textpassagen als verschlüsselte Zweifel am Stali‐ nismus aus dem Wissen um Reglers weiteres Werk und Leben entstand. Regler galt seinerzeit als zuverlässiger Parteigenosse, nahm als Politischer Kommissar der Internationalen Brigaden am Spanischen Bürgerkrieg teil. Dort lernte er zahlreiche englische und US-amerikanische Journalisten und Autoren kennen und freundete sich mit ihnen an, u. a. Ernest Hemingway, dessen damalige Frau Martha Gellhorn, Ralph Bates, Josephine Herbst, Jay Allen und vor allem Paul Willert, Sohn des britischen Politikers und Diplomaten Sir Arthur Willert. Paul 122 Hermann Gätje 13 Gustav Regler: The Great Crusade. New York und Toronto 1940. 14 Gustav Regler: Das große Beispiel. Roman einer internationalen Brigade. Frankfurt am Main [u. a.] 1976. 15 Vgl. das Nachwort von Michael Winkler (GRW, Bd. IV, S. 707-741). Willert leitete die amerikanische Dependance von Oxford University Press. Er vermittelte Reglers im Entstehen befindlichen Roman über seine Erlebnisse im Spanienkrieg an Longmans, Green & Company, einen renommierten Verlag mit Sitz auch in New York und Toronto. In der Entstehungsgeschichte dieses Textes spielt seine Übersetzung eine maßgebliche Rolle. Kein Text Reglers spiegelt die Gefühle und inneren Kämpfe im Zuge seiner Lösung vom Kommunismus so wie dieser, in Inhalt wie auch Fassungsgeschichte. Während die Deutung dialektischer Muster bei Die Saat lediglich auf Auslegung von Textstellen als verschlüs‐ selte Anspielungen beruht, finden sich in diesem Roman, der unter mehreren Titeln firmierte, eindeutige Aussagen und Dialoge, die die Probleme Reglers mit dem Kommunismus ansprechen, vor allem zahlreiche Passagen, in denen die Moskauer Prozesse thematisiert und diskutiert werden. Es existieren drei vollständige Fassungen, zwei deutsche Typoskripte und die englische Buchausgabe von 1940, The Great Crusade, die Erstpublikation des Romans. 13 Die erste deutsche Ausgabe erschien 1976 unter dem Titel Das große Beispiel und beruht auf dem deutschen Typoskript aus Reglers persönlichem Nachlass. 14 Da diese Fassung deutlich weniger als kommunismuskritisch aus‐ legbare Stellen enthält als die englische Erstausgabe, ging man davon aus, dass diese deutsche Fassung zuerst da war und am Text eine stringente Entwicklung zu Reglers Lösung vom Kommunismus nachgezeichnet werden kann. Es tauchte später auch noch ein weiteres deutsches Typoskript auf: Der große Kreuzzug, das als Fassung letzter Hand gelten darf und etwa aus dem Jahr 1940 stammt. Recherchen von Michael Winkler im Zuge der Herausgabe des Bandes in der Gustav-Regler-Werkausgabe haben ergeben, dass es in diesem Sinne keine solche Fassungsentwicklung gab. 15 Es ist davon auszugehen, dass der Roman, als der Übersetzer seine Arbeit begann, erst halb fertig war, und Regler diesen sukzessive belieferte. Der erste Teil des Romans wurde von Whittaker Chambers übersetzt, der Kommunist war, sich aber während dieser Arbeit von der KP löste und die Übersetzung daher mittendrin abgab an Barrows Mussey. Bei der eher parteikonformen Fassung Das große Beispiel handelt es sich also nicht um die Urfassung, sondern man darf davon ausgehen, dass diese Fassung möglicher‐ weise eine Entschärfung darstellt, auch um nicht allzu sehr in Konflikt mit seinen Parteigenossen zu geraten. Das deutsche Original ist nicht überliefert. Die Unterschiede in den Fassungen und ihre ambivalente Entwicklung spie‐ geln Reglers innere Kämpfe während dieser Zeit: auf der einen Seite der Wunsch, 123 Unmittelbarkeit und Rückblick 16 Ralph Bates: A Commissar on Spain. In: The New Republic, 21. Oktober 1940. Vgl. Her‐ mann Gätje: Leben und Leben schreiben. Gustav Reglers autobiographische Schriften. Entstehungsprozess - Fassungen - Gattungsdiskurse. St. Ingbert 2013 [Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. Bd. 89], S. 79. 17 Das Buch wurde in zahlreichen Zeitschriften und Zeitungen der USA rezensiert. Es finden sich in Kopie knapp 80 Zeitungsartikel im LASLLE gesammelt. 18 Vgl. dazu Detlev Gohrbandt: Sich selbst übersetzen. Zu G. R.’s „Der Brunnen des Ab‐ grunds“. In: Begegnung mit Gustav Regler. Hrsg. vom Verband deutscher Schriftsteller Landesverband Saar (VS Saar). Saarbrücken 1978, S. 47-49. Gohrbandt thematisiert die Besonderheit der Selbstübersetzung: „Reglers Bedürfnis, sich mitzuteilen und sich zu rechtfertigen, mag ein Antrieb zum Schreiben gewesen sein, und daß er eine englische Übersetzung mitlieferte, erklärt sich wesentlich aus der sprachlichen Verbannung. […] jede Übersetzung […] vollzieht gegenüber dem Ausgangstext Veränderungen. Wenn der Dichter sich aber selbst übersetzt, wenn er sich bei jedem Übersetzungsproblem auf die eigene, vorsprachliche, quasi geheime Intention berufen kann, dann wird der Um‐ fang der ‚erlaubten‘ Änderungen von vorneherein größer sein.“ (Ebd., S. 47). 19 Gätje: Leben und Leben schreiben (Anm. 16), S. 116f. sich nach den im Roman angedeuteten Erfahrungen mit den sowjetischen Säu‐ berungen und den Aktivitäten der Kommunisten in Spanien von der Partei zu lösen, auf der anderen das Beharren auf den quasireligiös adaptierten Glau‐ bensmustern der Partei und die Angst vor dem Verlust der sozialen und mensch‐ lichen Beziehungen. Wie Archivfunde belegen, stieß The Great Crusade auf Argwohn bei den of‐ fiziellen Kommunisten, unter anderem auch, weil der bereits als abtrünniger Kommunist geltende Schriftsteller Ralph Bates das Buch in The New Republic besprach. 16 Der Roman wurde zwar von der US-Presse viel beachtet, Ernest He‐ mingway hatte ein Vorwort geschrieben, doch der erhoffte Verkaufserfolg blieb aus. 17 Dieser hätte Regler auch bei seiner Trennung von der KP geholfen, denn er war, wie oben geschildert, im Exil als Schriftsteller materiell und in seinen persönlichen Beziehungen stark mit dem kommunistischen Apparat verbunden. Nachdem Regler sich von der kommunistischen Partei endgültig gelöst hatte, setzte eine verstärkte Beschäftigung mit Kunst, Lyrik und dem neuen Exilland Mexiko ein. Regler begann, Texte auch auf Englisch zu schreiben. In dieser Phase seines Schaffens wurde Regler zum Übersetzer seiner selbst. Er veröffentlichte zweisprachige Gedichtbände in englischer und deutscher Sprache als Parallel‐ druck. 18 Die Hinwendung zur englischen Sprache war bestimmt von seinem Wunsch, in die USA überzusiedeln und sich dort als Autor und Dozent eine Existenz aufzubauen. Die gewünschte Einreise dort blieb ihm jedoch wegen seiner kommunistischen Vergangenheit bis 1958 verwehrt. Aus Briefen geht hervor, dass er mit literarischen Texten gegenüber den Einreisebehörden seine Abkehr vom Kommunismus untermauern wollte. 19 Interessant ist in diesem 124 Hermann Gätje 20 GRW, Bd. VIII. 21 Michael Winkler: Nachwort. In: GRW, Bd. VIII, S. 564. 22 Gustav Regler: Terre Bénie Terre Maudite. Le Mexique à l’hombre des siècles. Monaco 1953. Übersetzung von Gaston Floquet. 23 A land bewitched. Mexico in the shadow of the centuries. London 1955. Übersetzung von Constantine Fitzgibbon. Kontext vor allem die Existenz zweier verschiedener Romane, die jedoch einen Stoff behandeln, von denen der eine auf Englisch und der andere auf Deutsch (Sterne der Dämmerung) vorliegt. 20 Sie erzählen Erlebnisse des GI Bill Armstrong, der traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg in seine US-amerikanische Heimat zurückkehrt. Der englische Roman No Continuing City (1945 bis 1946 ent‐ standen) blieb zu Lebzeiten unveröffentlicht und wurde aus dem Nachlass in deutscher Übersetzung im Rahmen der Gustav-Regler-Werkausgabe ediert. Sein Herausgeber und Übersetzer Michael Winkler findet in Reglers Englisch „Ger‐ manismen und andere linguistische Fehlgriffe“. 21 Aus Briefen ist überliefert, dass Regler seiner amerikanischen Frau und anderen Bekannten aus den USA seine englisch geschriebenen Texte zur Überarbeitung gab. In dieser Schaffensperiode arbeitete er auch an einem auf Deutsch verfassten Buch über sein neues Exilland Mexiko, das 1947 als Sammlung von Erzählungen, Reiseskizzen und Essays unter dem Titel Vulkanisches Land als eines seiner ersten Bücher nach dem Krieg in Deutschland erschien. 1954 wurde es in über‐ arbeiteter Fassung unter dem Titel Verwunschenes Land Mexiko neu aufgelegt und war kommerziell sein größter Erfolg. Diese zweite Fassung markiert eine Rücknahme der autobiographisch fundierten politischen Implikationen, die die erste Fassung stärker akzentuierte, und die der Exilsituation in den 1940er Jahren im Zuge der Lösung vom Kommunismus geschuldet sind. Auch wenn dieser Aspekt des Werks in der überarbeiteten Ausgabe nicht verschwindet, ist doch eine Verlagerung der Akzente hin zu einer Art literarischem Reiseführer oder landeskundlichem Buch erkennbar. Bemerkenswert ist, dass bereits 1953 eine französische Ausgabe erschien, die sich als Fassung zwischen den beiden deutschen Buchausgaben beschreiben lässt. 22 Diese Fassungsgeschichte spiegelt auch die Entwicklung Mexikos für Regler vom vorläufigen Exil zur neuen Heimat - er wurde 1949 mexikanischer Staatsbürger. 1955 erschien das Buch auf Englisch, jedoch der deutschen Fassung von 1954 voll entsprechend. 23 Im Gegensatz zu den deutschen Ausgaben enthalten die Übersetzungen zahlreiche Fotos, die den landeskundlichen Aspekt des Buches unterstreichen. Eine neue Facette ergibt sich im Kontext von Reglers Autobiographie Das Ohr des Malchus, in der er auch auf seine Emigration zurückblickt. Diese erschien 1958 in der deutschen Erstausgabe und gelangte sogar auf die Bestsellerliste. 125 Unmittelbarkeit und Rückblick 24 The Owl of Minerva. London 1959. Übersetzung von Norman Denny, text- und seiten‐ identisch eine Ausgabe New York 1960, Le Glaive et Le Fourreau. Paris 1960. Überset‐ zung von Gaston Floquet und Jean Weiland. Kurz darauf publizierte englische und französische Ausgaben weisen gegenüber dem Original signifikante Differenzen auf. 24 Diese dokumentieren den unter‐ schiedlichen Blick der Länder Deutschland, Frankreich, Großbritannien bzw. der USA auf die Jahre 1933 bis 1945. Es wird erkennbar, dass sich die Übersetzungen an in den jeweiligen Ländern verbreiteten historischen Deutungsmustern, Sen‐ sibilitäten und Leserinteressen orientierten. Beide Übersetzungen sind gekürzt, die englische umfasst etwa 80 Prozent des Originals, die französische 70. Während die in der englischen Ausgabe aufge‐ nommenen Passagen wörtliche Übersetzungen sind und nur an wenigen Stellen kleine Ergänzungen hinzugefügt wurden, weist die französische weitergehende Bearbeitungen des Originals auf. Die Kürzungen der englischen ergeben sich aus der Herausnahme einzelner Passagen, was dem Text nicht schadet, da Regler sein Leben nicht durchgehend chronologisch, sondern in exemplarischen Epi‐ soden erzählt. In der französischen Ausgabe wird der Text bisweilen gestrafft und zusammengefasst. Gemeinsam ist beiden Ausgaben, dass die Exilzeit stärker akzentuiert erscheint, weil Passagen, die spezifisch deutsche Befindlichkeiten betreffen und nur für deutsche Leser verständlich sind, zurückgenommen werden. Die Lebensbeschreibung Reglers wirkt so stärker auf den weltpoliti‐ schen Kontext konzentriert. Die Schilderung der Kaiserzeit, des Ersten Welt‐ kriegs und der Weimarer Republik wird stringenter ausgerichtet auf die für den ausländischen Leser relevante Vermittlung des Weges Deutschlands zum Nationalsozialismus und dessen Ursachen aus der Sicht und Geschichtsdeutung des unmittelbaren Zeugen. In der englischen Ausgabe hat Regler noch kleinere Passagen über seine Bekanntschaften mit einigen in England und den USA pro‐ minenten Persönlichkeiten hinzugefügt. Ein markanter Unterschied zwischen der deutschen und englischen auf der einen und der französischen auf der an‐ deren Seite betrifft ein wichtiges Moment von Reglers Exilzeit. Seine Inhaftie‐ rung als „feindlicher Ausländer“ in dem Internierungslager Le Vernet nach Kriegsbeginn im Jahr 1939 thematisiert er bereits in frühen Fassungen seiner Autobiographie zu Beginn der 1940er Jahre. Auch wenn er die Polemik gegen diese Aktion der französischen Regierung bis zur Buchausgabe von Das Ohr des Malchus zurücknimmt, spürt man in den Passagen die Verbitterung über das Exilland. Pointiert lässt sich dies daran festmachen, dass er in der deutschen wie der englischen Ausgabe für das Lager den nach der NS-Zeit völlig kompromit‐ tierten Ausdruck „Konzentrationslager“ bzw. „concentration camp“ verwendet. In der französischen Ausgabe vermeidet er den Ausdruck, spricht nur vom 126 Hermann Gätje 25 Vgl. Gätje: Leben und Leben schreiben (Anm. 16), S. 248-262. 26 Le Divin Arétin. La vie d’un séducteur. Paris 1957 [Hommes et faits de l’histoire. Bd. 11], Le Divin Arétin. La vie d’un séducteur. Paris 1958. Übersetzung von Gaston Floquet; L’Aretino. Milano 1962. „camp de Vernet“. Obwohl er dort nach wie vor dezidiert Kritik an seiner In‐ haftierung und der ihr zugrundeliegenden Politik übt, nimmt er ihre Schärfe zurück und reduziert den Stellenwert der Erlebnisse in Le Vernet durch massive Kürzungen. 25 Wenn man bedenkt, dass Gustav Regler nie aus dem Exil heimgekehrt ist, spiegelt sich in seinem übersetzten Werk, wie sehr er zwischen den Welten und Sprachen zu Hause war, es unterstreicht seine Rolle als Grenzgänger zwischen den Kulturen. Unter den zu Lebzeiten Reglers übertragenen Werken wurde le‐ diglich auf die 1955 erschienene Romanbiographie über Pietro Aretino nicht eingegangen, von der französische und italienische Ausgaben publiziert wurden. 26 Hier lässt sich ein unmittelbarer Bezug zu seinem Exil im Zusam‐ menhang mit den Übersetzungen zwar nicht herstellen, doch ist bemerkenswert, dass Regler in der stilisierten Nacherzählung des Lebens des Renaissance-Dich‐ ters, der häufig auf der Flucht war, die Wege seiner eigenen Emigration reflek‐ tiert und bilanziert. 127 Unmittelbarkeit und Rückblick 1 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Gustav Regler: Der große Kreuzzug. Hrsg. von Michael Winkler. In: GRW, Bd. IV, S. 558f. sowie Michael Winkler: Gustav Regler in Spain: His Diary of 1937 and the Genesis of „The Great Crusade“. In: Ian Wallace (Hrsg.): Aliens - Uneingebürgerte. German and Austrian Writers in Exile. Amsterdam und Atlanta/ GA 1994 [Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Bd. 37], S. 57-69. Die gelebte Utopie Spanienbilder in Gustav Reglers Romanen über den Spanischen Bürgerkrieg Sikander Singh I. Der Schriftsteller Gustav Regler nahm von November 1936 bis Juni 1937 als Freiwilliger am Spanischen Bürgerkrieg teil. Nachdem er infolge einer lebens‐ gefährlichen Verwundung, die er sich bei Huesca auf der Fahrt zur Front zuge‐ zogen hatte, aus dem Dienst als Politkommissar der zwölften Internationalen Brigade ausgeschieden war, entstand in verschiedenen Arbeitsphasen in der Zeit zwischen Dezember 1937 und seiner Internierung als politischer Häftling in dem Lager Le Vernet in den französischen Pyrenäen im September 1939 ein erzäh‐ lerisches Werk, das unter dem Titel The Great Crusade im Jahr 1940 in New York erstveröffentlicht wurde. 1 Die deutschsprachige Ausgabe des Buches wurde erst nach dem Tod des Autors posthum im Jahr 1976 publiziert; bereits dieser Aspekt der Veröffentlichungsgeschichte des Werkes dokumentiert, dass die notwendige Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland und die Jahre des Exils in Frankreich und Mexiko für Regler neben der Heimatlosigkeit auch den Verlust jenes Lesepublikums brachte, das seine Existenz als freier Schriftsteller und Journalist gewährleistete. Der große Kreuzzug, wie der Roman in der letzten deutschen Fassung betitelt ist, erzählt vor dem Hintergrund der Verteidigung Madrids durch die elfte und zwölfte Brigade, dem militärischen Geschehen, das die erste Phase des Krieges bestimmte, von den internationalen Freiwilligen, die für die Spanische Republik 2 Gerhard Schmidt-Henkel: Gustav Reglers Romane „Das große Beispiel“ und „Juanita“ als Versuche einer literarischen Verarbeitung des Spanischen Bürgerkriegs. In: Donald G. Daviau (Hrsg.): Exil. Wirkung und Wertung. Columbia/ SC 1985, S. 203-213. und gegen die nationalistischen Putschisten unter dem General Francisco Franco kämpften. Die zentralen Figuren dieses mehrdimensional erzählten Textes sind der Arzt Werner und Albert, ein Politischer Kommissar, der von der wissenschaftlichen Kritik als ein literarisches Selbstporträt Reglers gedeutet worden ist. Gerhard Schmidt-Henkel spricht in diesem Kontext davon, dass im Vordergrund der „Darstellungsabsicht“ Reglers ein „autobiographisch fundiertes, aber allgemein interessierendes und politisch gewichtiges Motiv“ steht. 2 Vor dem Hintergrund der eigenen Wirklichkeitserfahrung verfasst Regler einen fiktionalen Erzähltext, der Aspekte des Historischen mit Momenten des Imaginären in ein wechselseitiges Spannungsverhältnis setzt. Der Roman besteht aus einer Folge von Bildern und Gesprächen, die jedoch nicht einen heroischen Befreiungskampf zeigen, sondern das blutige Handwerk des Krieges dokumentieren. Die Beschreibungen des Schreckens von Angriff und Gegenangriff, das verzweifelte Bemühen um Menschlichkeit inmitten des Kriegsgeschehens, die inneren Monologe, welche die Ambivalenzen von kämp‐ ferischem Mut und kriegerischer Routine im Erleben des Einzelnen sichtbar werden lassen, die den Text dominierenden dialogischen Passagen, welche die unterschiedlichen weltanschaulichen Standpunkte wie militärstrategischen Überlegungen erörtern, lassen den Widerspruch zwischen Idealismus und ab‐ geklärter Lakonie, der sowohl die Figuren als auch die Erzählhaltung bestimmt, in besonderer Weise explizit werden. Obwohl die Kämpfer aus unterschiedli‐ chen europäischen Ländern stammen, obwohl ihre militärische Ausbildung und Erfahrung also verschieden ist, weshalb sie den nationalistischen Soldaten un‐ terlegen sind und ihr Vorgehen teilweise unkoordiniert erfolgt, und obwohl ihre weltanschaulichen Positionen divergieren, betont der Text das verbindende Moment des gemeinsamen Einsatzes: Die Freiwilligen werden von der sicheren Überzeugung bestimmt, in diesem Krieg gegen den spanischen Faschismus auf der moralisch richtigen Seite zu stehen und für die politisch gerechte Sache zu streiten. In diesem Sinne sind Albert und Werner die Protagonisten eines des‐ illusionierten Idealismus. Die Art und Weise, wie Regler hiervon erzählt, ist an der reduzierten Sprache und bewusst schmucklosen Bildlichkeit des 1929 veröffentlichten Romans A Farewell to Arms von Ernest Hemingway ausgerichtet. Das Werk des Ameri‐ kaners, das die Erlebnisse eines Sanitäters in Italien während des Ersten Welt‐ krieges nachzeichnet, wird deshalb auch durch ein Motto, das dem vierten Ka‐ 130 Sikander Singh 3 GRW, Bd. IV, S. 157. 4 Ebd., S. 20. 5 Ebd. pitel vorangestellt ist, zitiert. 3 Während Hemingway jedoch über das Schicksal des Einzelnen schreibt, zeigt sich bei Regler der Anspruch, die Widersprüche und Notwendigkeiten der politischen Situation seiner Gegenwart im Medium eines literarischen Textes zu reflektieren. Indem die ideologischen Differenzen zwischen Republikanern, Sozialisten, Kommunisten und Stalinisten, die in den Gesprächen der Figuren zwar sichtbar, aber in dem gemeinsam zu bestehenden Kampf gleichwohl nicht explizit werden, relativiert der Roman die weltan‐ schaulichen Wertungen, Vorstellungen und Sichtweisen, die seine Epoche prägen und akzentuiert die Notwendigkeit einer gemeinsamen Front gegen den Faschismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Das Bild Spaniens, das Der große Kreuzzug zeichnet, ist integraler Bestandteil der politischen Programmatik dieses Romans. Madrid, die Universität wie die umgebende Landschaft sind zwar nur der Schauplatz eines Kampfgeschehens, das auf eine dem Leser undeutlich bleibende Weise zwischen wechselnden Fronten sich vollzieht, die Darstellung der räumlichen Dimension des Krieges hat jedoch zugleich eine erzählerische Signifikanz. So verweist bereits der Satz, mit dem der Roman beginnt, auf die Topographie: „Sie kannten die Stadt nicht, die sie verteidigen wollten.“ 4 Der Text betont damit im Sinne der expositorischen Funktion des ersten Kapitels zwei Aspekte: Indem das Subjekt des Satzes unbe‐ stimmt bleibt, antizipiert das Personalpronomen in der dritten Person Plural das kollektive Moment der freiwilligen Gemeinschaft, die der Kampf gegen den Fa‐ schismus miteinander verbindet. Werner und Albert als zentrale Figuren er‐ langen deshalb nur bedingt Plastizität, vielmehr gewinnt der Erzähler, indem er die Perspektive auf sie fokussiert, die Möglichkeit, Bilder und Szenen des Kampfes sowie diese reflektierende Gespräche und Gedankenströme darzu‐ stellen. Zum anderen stellt der Satz heraus, dass die Stadt, die es gegen die Put‐ schisten zu verteidigen gilt, als ein exemplarischer Ort verstanden wird. Die Freiwilligen kämpfen nicht aufgrund einer persönlich-lebensgeschichtlichen Bindung, sondern für die Republik, das Recht und die Freiheit: Die Stadt ist ihnen unbekannt, aber ein Ideal verbindet sie. Beide Aspekte werden auch durch die nachfolgende Schilderung der Fahrt nach Madrid akzentuiert: „In der Nacht waren sie angekommen, im Bogen durch die Vorstädte nach dem Norden gefahren und ausgestiegen auf gedämpfte Rufe hin, die einer aus dem Dunkel in die Zeltplane hineinrief “. 5 Der Ankunftsort bleibt im Dunkel, aber aus diesem „Dunkel“ ergeht ein Ruf an die freiwilligen Kämpfer. Hinter der realistischen Beschreibung der Szene und ihrer Relevanz 131 Die gelebte Utopie 6 Ebd. 7 Vgl. hierzu Ulrike Hönsch: Wege des Spanienbildes im Deutschland des 18. Jahrhun‐ derts. Von der Schwarzen Legende zum „Hesperischen Zaubergarten“. Tübingen 2000 [Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge Bd. 91] sowie Anne Maximiliane Jäger: „Besaß auch in Spanien manchʼ luftiges Schloß“. Spanien in Heinrich Heines Werk. Stuttgart und Weimar 1998 [Heine-Studien]. für den Handlungsverlauf wird damit auch eine metaphorische Dimension des Textes erkennbar. Neben dem Gefahrvollen und durch die fortwährenden militärischen Bewe‐ gungen Unübersichtlichen der Kriegsschauplätze sowie den wiederholt in den Fokus gerückten Zerstörungen der Orte, welche die wechselnden Hintergrund‐ bilder der Romanhandlung bilden, betont der Text jedoch vor allem die land‐ schaftliche Schönheit und kulturelle Eigenart Spaniens. „Madrid war groß, Madrid war schön, in Madrids Straßen spielte man Guitarre“, beschreibt der Erzähler die Stadt, aber er ergänzt, dort „sang man revolutionäre Lieder, tanzten die Arbeiter mit ihren Frauen um den Mast der republikanischen Fahne, trugen Kinder Steine herbei zum Bau der Barrikaden, standen Mädchen mit dem Ge‐ wehr hinter der Schießscharte.“ 6 Im Spannungsfeld jener tradierten Spanienbilder, die in der Nachfolge Johann Gottfried Herders und der Idealisierungen durch die Literatur und Malerei der romantischen Epoche zu verorten sind, und einer revolutionären Rhetorik, die an die Sprache und Bildlichkeit der politischen Texte Heinrich Heines und Ludwig Börnes aus den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts anschließt, ver‐ mittelt Der große Kreuzzug kein wirklichkeitsgetreues Bild des Spanischen Bür‐ gerkrieges. 7 Vielmehr werden die Häuser und Straßenzüge der spanischen Hauptstadt, werden die zu Teilen zerstörten Gebäude der Universität, werden Felder und Hügel, Höfe und Mauern, Dörfer und Wege, Senken und Flussläufe, indem sie als Räume der erzählten Welt die Topographie eines imaginären, ro‐ mantischen Spanien nachzeichnen, zu Chiffren für eine Idee, die es gegen den Faschismus zu verteidigen gilt. In diesem Sinne ist auch der Raum, von dem Reglers Roman erzählt, beispiel‐ haft: Literarische und historische Bilder werden aufgerufen und aktualisiert, um mit den Schrecken und Defiziten der Gegenwart zu kontrastieren. In dem sol‐ chermaßen entstehenden Gegenbild der Vergangenheit liegt jedoch, und damit schreibt der Roman eine Denkfigur des romantischen Zeitalters fort, eine Hoff‐ nung für die Zukunft. Der große Kreuzzug ist nicht nur deshalb ein politischer Roman, weil er - erstveröffentlicht 1940, dem ersten Jahr des Zweiten Welt‐ krieges - von einem exemplarischen Kampf gegen den die europäischen Werte und Kulturen bedrohenden Faschismus erzählt, er ist nicht nur deshalb politisch, 132 Sikander Singh 8 Vgl. zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte: Gustav Regler: Juanita. Hrsg. von Ralph Schock. In: GRW, Bd. V, S. 724-766. 9 Ebd., S. 769f. weil er den Verlauf einer frühen Phase des Spanischen Bürgerkriegs aus dem Erfahrungswissen eines Autors nachzeichnet, der selbst an den Kämpfen teil‐ genommen hat, er ist vor allem aus dem Grund ein politischer Text, weil er das Bild der Vergangenheit zur Veränderung der Zukunft zitiert. In diesem Sinne führt eine Traditionslinie von den Koalitionskriegen der Jahre von 1792 bis 1815, die auch über die Niederlage des revolutionären Frankreichs hinaus die politi‐ schen wie geistigen Debatten Europas im 19. Jahrhundert bestimmten, zu den Romanen des deutschen Spanienkämpfers Gustav Regler. II. Der zweite Spanien-Roman des Schriftstellers blieb bis zu seinem Tod unveröf‐ fentlicht. Wenngleich Regler nach der amerikanischen Erstausgabe von The Great Crusade mit der Arbeit an Juanita begann und das Werk in den Jahren seines mexikanischen Exils zahlreiche Ergänzungen und Revisionen erfuhr, konnte der Roman erst posthum - im Jahr 1986 - publiziert werden. 8 Zu Juanita ist ein Exposé überliefert, das der Autor in dem Bemühen einen Verlag zu finden, der das Manuskript annähme, selbst verschickte. Es stellt zum einen die Grundzüge der Handlung dar; zum anderen gibt es Hinweise darauf, wie Regler sein Werk gelesen und gedeutet hat. Es ist damit ein Text, der zwar auch die Funktion einer Inhaltsangabe übernimmt, vornehmlich jedoch als ein autopoetisches Dokument zu verstehen ist. Regler schreibt: Dies ist die Geschichte eines spanischen Mädchens, die entwurzelt durch die Rebellion vom Juli 1936 erst den Boden kennenlernt, in dem sie aufwuchs, und die in all der Verwirrung, sozusagen auf ihren Wurzeln marschierend, zu tieferen Erkenntnissen kommt als die Politiker mancher Richtungen. […] Der Autor hat sich nicht ent‐ schließen können, das Mädchen Stellung nehmen zu lassen auf irgendeiner der beiden Seiten. 9 Nicht nur diese Selbstdeutung, auch die verschiedenen Bearbeitungsstufen des Manuskripts zeigen, dass die Orte der Handlung, die sich zwischen Juli und Oktober 1936 vollzieht, lediglich eine relative Bedeutung für den Roman haben: Indem der Autor den ursprünglichen Text im Prozess seiner Revisionen um „etwa zwei Drittel“ gekürzt hat und auf jene Passagen verzichtete, die „Überle‐ gungen der handelnden Figuren“ und „Beschreibungen der Interieurs“ bein‐ halten, erschließen sich der gedankliche Gehalt wie der Ereignisverlauf aus der 133 Die gelebte Utopie 10 Vgl. ebd., S. 718. 11 Ebd., S. 769f. Handlung sowie der Wechselrede der Romanfiguren. 10 Die Landschaften Spa‐ niens, die Städte und Ortschaften, die Straßen und Häuser, in denen der Roman spielt, bilden lediglich den Hintergrund für die Gestalt Juanitas, für die Erfah‐ rungen und Beobachtungen, die sie auf ihrem kurzen, unglücklichen Weg macht. Während Reglers erster Spanienroman das Heroische eines Befreiungs‐ kampfes herausstellt, der ein Beispiel für die politische wie militärische Auseinandersetzung mit den faschistischen Diktaturen Europas seiner Zeit zu sein vermag, erzählt sein zweiter Spanienroman von den Grausamkeiten, den mo‐ ralischen Widersprüchen und Aporien, die der Krieg ebenfalls hervorbringt. Sowohl die Freiwilligen für die Sache der Republik als auch die Soldaten des Generals Franco, die unterschiedlichen politischen Parteiungen, die sich auf den Schlachtfeldern dieses Bürgerkrieges militärisch wie publizistisch gegenein‐ ander in Position brachten, erscheinen aus der Perspektive eines unpolitischen Mädchens, das zufällig - und nicht intendiert - ihre Zeugin wird, ebenso un‐ begreiflich wie sinnlos. In Juanita spiegelt sich der Versuch Reglers, nach Jahren des politischen und gesellschaftlichen Engagements der eigenen Ratlosigkeit im Hinblick auf die Grausamkeiten, welche die weltanschaulichen Positionen seiner Epoche hervorgebracht haben, einen literarischen Ausdruck zu verleihen. Der Schriftsteller formuliert diesen Gedanken auch in dem bereits zitierten Ex‐ posé zu seinem Roman: Das kurze Leben dieser entwurzelten Spanierin ist nur Symbol für die Unsicherheit der Begriffe dieser Jahrzehnte seit 1930. Die neue Moral muß gesucht werden; sie ist nicht in den Parteien; sie ist im Werden; das ist die Moral des Buchs, das seiner Zeit zu dienen hofft in seiner Weise. 11 Das Bild Spaniens tritt deshalb in den Hintergrund. Der Roman hat nicht den Anspruch - im Sinne eines realistischen Literaturverständnisses - die Wirk‐ lichkeit des Bürgerkrieges darzustellen, oder das Charakteristische und Einma‐ lige des Landes abzubilden; vielmehr werden die zerschossenen Häuser und aufgebrochenen Straßen, die im Granatbeschuss umgepflügten Landschaften, die Toten und Verwundeten zu Sinnbildern der zerstörerischen Dialektik poli‐ tischer Ideologien. Eine der letzten Szenen des Romans, in der das Mädchen in der Ruine eines Hauses einen gegnerischen Angriff erlebt, bei dem erneut Gefährten getötet werden, zeigt dies in exemplarischer Weise: „Juanita sank auf der Türschwelle nieder, als Bastian und die nachstürmenden Milizionäre in das Haus stürzten. 134 Sikander Singh 12 Ebd., S. 656f. 13 Ebd., S. 657. 14 Schmidt-Henkel: Gustav Reglers Romane (Anm. 2), S. 211. 15 Hönsch: Wege des Spanienbildes (Anm. 7), S. 274. Vgl. hierzu auch Ingrid García-Wi‐ städt: Das stereotypisierte Spanienbild in der deutschen Reiseliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Estudos Filológicos Alemanes 22 (2011), S. 565-574. Sie spürte noch, daß der Hund ihre Hand leckte. Dann vergingen ihr die Sinne.“ 12 Damit steht noch einmal die Gestalt des Mädchens im Mittelpunkt; indem sie jedoch das Bewusstsein verliert, wechselt die Erzählperspektive von einer internen Fokalisierung zu einer Nullfokalisierung. So schließt dieses Ka‐ pitel des Romans, dem einzig noch der Epilog folgt, mit dem Satz: „Aus der Halle kamen die ersten Schüsse und Geräusche von splitternden Türen und Fen‐ stern.“ 13 Der Erzähler betrachtet den Ort der Handlung; dieser ist jedoch weder durch seine Eigenart noch durch seine Geschichte gekennzeichnet: Der erzählte Raum - Spanien während einer frühen Phase des Bürgerkrieges - ist ein bloß exemplarischer Ort. In den Jahren, während derer der Roman entstand, ist ganz Europa zu einem solchen Kampfgebiet zwischen den Fronten und Parteiungen geworden. Und so vermag Regler, der sich einige Jahre so unbedingt von den Ideen des sowjetischen Sozialismus hat mitreißen lassen, in den Machtkonstel‐ lationen auf der iberischen Halbinsel eine literarische Chiffre für die morali‐ schen Fragen seiner Zeit, die auch seine eigensten gewesen sind, zu finden. Im Kontext dieser, auf den Autor selbst verweisenden Signifikanz des Romans konstatiert Gerhard Schmidt-Henkel, dass die Arbeit an dem Werk für Regler während der Jahre seines mexikanischen Exils eine „kathartische Funktion hatte“ und so zu „einem Akt der Selbsttherapie“ wurde. 14 In der Perspektivierung des Romans auf das Leben des Autors erübrigt sich jedoch die Frage nach der Differenz zwischen Reglers literarischem Bild und der spanischen Wirklichkeit sowie dem Problem der Faktizität autobiographisch fundierter Literatur. Wenn‐ gleich das Schreiben über das Erlebte in den dreißiger und vierziger Jahren eine Funktion für den Autor hatte - im Sinne einer psychologischen Verarbeitung und Entlastung -, zitieren die Bilder Spaniens, die seine Texte entwerfen, lite‐ rarische Vorbilder. Ulrike Hönsch konstatiert bereits für das 18. und das begin‐ nende 19. Jahrhundert, dass „Spanien für deutsche Autoren und ihr Publikum“ eine „Projektionsfläche für die unterschiedlichsten ästhetischen und politischen Richtungen geworden war“. 15 Diese Zitatstruktur betont einerseits den imagi‐ nären Charakter des erzählten Raumes und kontrastiert zugleich mit der Evi‐ denz seines Realitätsbezuges. Im Spannungsfeld von individueller und ideolo‐ gischer Selbstvergewisserung zeigen Reglers Spanien-Narrationen, dass ein Erzähltext, der politisch ausgerichtet ist, also den Positionen einer heteronomen 135 Die gelebte Utopie 16 GRW, Bd. IV, S. 17. 17 Evelyn Waugh: Brideshead Revisited: The Sacred and Profane Memories of Captain Charles Ryder. London o. J., S. 4. Ästhetik verpflichtet ist, das Unauflösbare des Widerspruchs literarischen Schreibens notwendig sichtbar macht. Regler erzählt in beiden Romanen von sich selbst, von dem Erleben des Krieges in The Great Crusade und von der gedanklichen Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit der Ideologien, des politischen wie militärischen Kampfes in Juanita. Ernest Hemingway, der ein Vorwort zu der amerikanischen Erstaus‐ gabe des ersten Spanienromans von Regler verfasst hat, betont, dass der Autor aufgrund der Bedeutung der Geschehnisse, die der Text beschreibt, moralisch zu einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung verpflichtet sei. 16 Das Wesen dieser durch die Literatur vermittelten Wirklichkeit liegt jedoch in ihrer Differenz zu der dargestellten Wirklichkeit. Der Gedanke, den Evelyn Waugh seinem Roman Brideshead Revisited als eine Notiz des Autors vorangestellt hat, hat in diesem Sinne auch eine Gültigkeit für Gustav Reglers Bild von Spanien: „I am not I: thou art not he or she: they are not they.“ 17 136 Sikander Singh 1 Gustav Regler: Ein Lamm hat sich verlaufen. In: Die Neue Rundschau 42 (1931), S. 795- 811. Auf dem „Niveau des Pfaffenspiegels“? Gustav Reglers Kirchenkritik im Spannungsfeld von Religion und Politik Hermann Gätje Gustav Regler und der aus Wadgassen stammende Johannes Kirschweng (1900 bis 1951) gelten als die bekanntesten saarländischen Schriftsteller ihrer Gene‐ ration. Zugleich verkörpert dieses Autorenpaar auf den ersten Blick nahezu exemplarisch typische Gegensätzlichkeiten: Regler, der Kosmopolit, Kommunist und Kirchenkritiker, Kirschweng, der Heimatverbundene und katholische Geist‐ liche. Nahezu repräsentativ kontrovers liest sich auch das einzige Zeugnis, das wir von einer gegenseitigen Wahrnehmung beider Schriftsteller besitzen: ein Protestbrief des Kaplans Kirschweng an die Redaktion der Neuen Rundschau, die Reglers kirchenkritische Novelle Ein Lamm hat sich verlaufen veröffentlicht hatte, und die Reaktionen darauf. 1 Dieser Disput soll den Ausgangspunkt der Betrachtung einiger Aspekte von Reglers Verhältnis zur Religion im Kontext seiner politischen Tätigkeit bilden. Kirschweng schrieb am 28. November 1931 aus Bad Neuenahr: Sehr geehrte Herren! […] Ich lese die Neue Rundschau seit vielen Jahren, nicht weil ich ihre liberalistische Grundhaltung teile, sondern, weil ich sie für eine vornehme und hochstehende Zeit‐ schrift halte, mit der sich auseinanderzusetzen sich lohnt, und wenn ich heute zu protestieren habe, so geschieht es freilich auch pro domo - ich bin katholischer Priester - aber auch um ihrer Zeitschrift willen. Ich protestiere dagegen, dass die Novelle Gustav Reglers in der Neuen Rundschau erscheinen konnte. Diese Novelle hat das Niveau des Pfaffenspiegels, begnügt sich auch durchaus nicht damit, Dichtung 2 Brief Johannes Kirschweng an Die Neue Rundschau, 28. November 1931, Kopie LASLLE. 3 Brief Rudolf Kayser an Johannes Kirschweng, 1. Dezember 1931, Durchschlag, Kopie LASLLE. 4 Brief Gustav Regler an Rudolf Kayser, 2. Dezember 1931, Durchschlag, Kopie LASLLE. 5 Regler: Ein Lamm hat sich verlaufen (Anm. 1), S. 806. zu sein (sie ist sehr fragwürdig als solche), sondern ist ein erklärter Angriff: „Aber was ist das schon für eine Freiheit, frage ich Euch? “ Es mag freilich vielleicht sein, dass mit dieser Novelle eine neue antiklerikale Periode eingeleitet werden soll - - es gibt in Deutschland und Europa ja sicher kein[e] wich‐ tigeren Aufgaben - aber, bitte, dann sagen Sie es doch deutlich, und sagen es nicht auf dem Weg eines so läppischen literarischen Erzeugnisses. Mit dem Ausdruck ausgezeichneter Hochachtung Ihr sehr ergebener gez. Johs. Kirschweng 2 Der Herausgeber der Neuen Rundschau verfasste einen Antwortbrief an Kirschweng: „Nichts liegt dem Autor ferner, als das Sakrament der Beichte und über‐ haupt den Priesterstand anzugreifen.“ 3 Regler stimmt diesen Ausführungen in einem Schreiben seinerseits an die Neue Rundschau ausdrücklich zu. Er verweist dabei darauf, dass die Erzählung Ein Lamm hat sich verlaufen nicht antireligiös sei, sondern im Gegenteil die in ihr geäußerte Kritik an der Kirche bereits Gegenstand innerkirchlicher Diskus‐ sionen sei. Kirschweng sei „ein recht rückschrittlicher Herr“, dem „völlig ent‐ gangen ist, wie stark die Bewegung um das Beichtsakrament bereits die katho‐ lischen Kreise ergriffen hat.“ 4 Regler deutet seine Erzählung also nicht als antiklerikal, sondern vielmehr als Unterstützung einer innerkirchlichen Re‐ formbewegung. Doch ohne Zweifel ist die Erzählung in einigen Punkten provokant. Ein dog‐ matischer Mönch hat eine Frau in den Selbstmord getrieben und mehr oder weniger als unmittelbare Folge erkrankt deren Kind und verstirbt. In spontaner Rache bringt der Bruder bzw. Onkel den Mönch um. Er legt ein Feuer und: „Ich habe die Hostie aus der Sakristei geholt und sie ihm durch die glimmende Tür geschoben. Er sollte erproben, ob die Hostie soviel aushalten kann. ‚Zur Glau‐ bensstärkung‘, habe ich ihm durch die Tür gerufen.“ 5 Er erzählt dies dem ver‐ ständnisvollen Priester Loup während einer Beichte, was den Rahmen der Er‐ zählung bildet. Der Text kann wegen ähnlicher Tendenzen als ein Vorläufer von Reglers großem religionskritischen Roman Der verlorene Sohn gesehen werden. Dieser erschien 1933, bereits im Exil. An der Erzählung lässt sich exemplarisch Reglers 138 Hermann Gätje 6 Ebd., S. 809. 7 Ebd., S. 796f. 8 Ebd., S. 797. 9 GRW, Bd. X, S. 399. Verhältnis zur Kirche und die Art seiner Religionskritik darstellen, die ambiva‐ lent zwischen Polemik und konstruktiver Argumentation wechselt. Trotz aller Drastik ist die Erzählung zweifellos eine ernstgemeinte Auseinandersetzung mit der Religion und lässt zugleich seine eigene Affinität zu ihr erkennen. Regler stellt in diesem Text einen Dualismus zwischen einem wirklich liebenden (Loup) und einem autoritär-dogmatischen (dem Mönch) Kleriker her. Der zuerst Ge‐ nannte weiß, „daß der Mensch immer mehr wert ist als das Dogma“. 6 In Bezug auf das Sakrament der Beichte wird klar, dass Regler diese in psychologischer Hinsicht für eine sinnvolle Einrichtung hält, wenn sie sich nicht an starren dog‐ matischen Mustern wie Sünde - Strafe und leeren Formen ausrichtet. Regler lässt den verständigen Loup sagen: „Ich kann keine sicheren Menschen leiden; die kommen und wissen was bei ihnen alles in Ordnung ist […]. Der Beichtvater sucht; und die haben alle schon gefunden.“ 7 Doch der Beichtende zweifelt an‐ gesichts seiner persönlichen Erfahrungen mit der Kirche: „Ihr redet alle vorbei.“ 8 Reglers gesamtes Werk ist von christlichen Motiven durchzogen. Bücher wie Der verlorene Sohn oder Das Ohr des Malchus deuten dies bereits im Titel an. Sein erster Roman von 1928, Zug der Hirten, adaptiert mit Moses’ Auszug aus Ägypten einen biblischen Stoff. Seine sämtlichen literarischen Texte sind voll von vergleichenden Bezügen auf biblische Figuren und Situationen, so dass er‐ kennbar wird, dass es sich nicht nur um bildliche Ausschmückungen oder Ver‐ deutlichungen handelt, sondern tiefer gehende Denkmuster. „In bestimmten Augenblicken schießt in mein Denken immer ein Bibelspruch“, schreibt er in Das Ohr des Malchus. 9 Reglers Renaissance-Romane Aretino (1955) und Uccello (1961, unpubliziert) kreisen immer auch um das Verhältnis Glauben und Kunst. Dies zeigt, dass Re‐ ligion und ästhetisches Empfinden bei Regler in einem engen Zusammenhang mit seinem Lebensgefühl stehen. Eine diesbezüglich aufschlussreiche Schilde‐ rung findet sich in der Autobiographie Das Ohr des Malchus, als er nach seiner Kriegsverwundung 1917 in der Kathedrale von Laon erwacht: Diesmal fühlte ich, daß ich heimgekehrt sei, und so anmaßend es klingen mag, kommt mir diese Sicherheit in allen Kathedralen bis heute immer wieder. Ich sah mit fiebernden Augen hinauf, wo sich die Säulen berührten. Licht brach durch eine Ro‐ sette; Licht flutete durch die Herzen der Heiligen; Licht streichelte die bauschigen 139 Auf dem „Niveau des Pfaffenspiegels“? 10 GRW, Bd. X, S. 61. 11 Gustav Regler: Die Tränen der Niobe, Typoskript, GRA, S. 44. 12 Stendhal: Rot und Schwarz. Übersetzt von Otto Flake. 8. Aufl. München 1998, S. 587. Gewänder von Maria und Elisabeth. Aus den Kelchen der Blumen brach Licht; ich war dankbar wie ein Kind an Weihnachten. 10 Eine weitere Passage stammt aus der unveröffentlichten autobiographischen Schrift Die Tränen der Niobe von 1949 - Paul ist Regler: In der Klosterkapelle hing ein Gekreuzigter; ein Oelbild, das wohl ein Schueler von Gruenewald gemalt hatte; es hatte dieselbe leidenschaftliche Art, den Tod zu erdulden, als wenn der geschundene Mann die letzte Stunde in Millionen Gedanken gespalten haette, und jeder der Millionen Gedanken haette die gleiche Ueberzeugung gehabt: ich leide fuer alles, was da lebt und leben wird und gelebt hat. Paul empfand, dass man mit einem solchen Mann sprechen konnte. 11 Dem autoritären, angsteinflößenden Dorfpfarrer von Merzig stellt er den liebenden, leidenden Christus gegenüber. Zentrales Moment von Reglers Religionskritik sind nicht Glaubensinhalte oder etwa eine atheistisch-materialisti‐ sche Grundhaltung. Vielmehr steht bei ihm der Gegensatz zwischen der auto‐ ritären Institution Kirche, die sozialen und politischen Einfluss nimmt, und der von ihm als wahr oder positiv empfundenen christlichen Werte im Mittelpunkt. Ganz ähnlich dachte der Regler wesensverwandte französische Autor Sten‐ dhal, der in seinen Romanen die Widersprüche zwischen Sein und Ideal im sozialen und politischen Leben im 19. Jahrhundert behandelt. Das „Schwarz“ steht in seinem Roman Rot und Schwarz für den Klerus, dessen ambivalente Rolle ein zentrales Motiv des Texts ist. Kurz vor dessen Hinrichtung lässt Stendhal seinen zwiespältigen Protagonisten Julien Sorel reflektieren: Wo ist die Wahrheit? In der Religion … Ja […]. Vielleicht im echten Christentum, dessen Priester nicht mehr bezahlt werden, als die Apostel es wurden. Aber Sankt Paulus machte sich mit dem Vergnügen am Befehlen, Reden, Aufsehenerregen bezahlt … Ah, wenn es eine echte Religion gäbe […]. Ich sehe eine gotische Kathedrale, ehr‐ würdige Kirchenfenster: mein geschwächtes Herz erträumt sich den Priester zu diesen Fenstern … Meine Seele verstände ihn, meine Seele braucht ihn … Ich sehe nur einen Schwätzer mit schmutzigen Haaren […]. 12 Auch Regler prangert in seinen Texten vor allem die Geschäftstüchtigkeit, den primitiven Okkultismus und den Fanatismus einiger Kirchenmänner an. Dieses Moment zieht sich ungeachtet aller weltanschaulichen Wechsel von seinen frühen religionskritischen Texten wie Ein Lamm hat sich verlaufen oder Der 140 Hermann Gätje 13 Gustav Regler: Hellseher und Charlatane, Typoskript, GRA, S. 242. verlorene Sohn bis zu seinem letzten Werk von 1962, dem unveröffentlichten Großessay Hellseher und Charlatane, wo er in seinen kritischen Ausführungen gegen den Stigmatisierten Padre Pio noch einmal seine grundsätzlichen Posi‐ tionen zur Kirche pointiert zum Ausdruck bringt: Wieder in der Sistina und wieder beim juengsten Gericht. Stand lange vor Charon, dem Faehrmann zum Hades. Die Kerzen der Messe haben sein Gesicht verdunkelt; ich dachte an die Messe des Padre Pio - dass er mich nicht loslaesst, selbst hier, wo er unbeliebte Konkurrenz ist? ! ! Aber auch seine Messkerzen schmerzen die Umgebung. Dies fiel mir ein, und dann sah ich, dass Charon mit dem Ruder auf die Verdammten schlug; schamlos; brutal; zur Verurteilung die Demuetigung. Und meine protestantische Seele empoerte sich. Keiner hatte das Recht zu solchem Gericht! Und ausserdem verfaelscht es die Antike. Der Charon der Griechen ist ein melancholischer Faehrmann, stumm empfaengt er seinen Obolus, stumm stoesst er seinen Nachen ins Reich, wo alles unwirklich ist, ins blutleere, glutleere Reich der Geister. Hier aber gebaerdet er sich wie der Padre von San Giovanni Rotondo, der Maedchen schroff aus dem Beichtstuhl weist, der sich das Gericht ueber Tausende anmasst, die seine Zauberkunststuecke und seine hysterischen Haende angezogen haben. 13 Zwischen Religion und Politik besteht bei Regler ein enger Zusammenhang. All sein politisches Handeln ist von Glauben, Idealismus und Emotionalität geprägt. Trotz seiner zahlreichen weltanschaulichen Wandlungen sind in seinem Ver‐ hältnis zur Politik einige lebenslange Konstanten feststellbar. Regler ist zwar nach seinem Bruch mit den Kommunisten nie mehr einer Partei beigetreten, doch hat er sich immer wieder in einzelnen Fragen engagiert und sogar politi‐ sche Ämter und Funktionen angestrebt, so wollte er in den USA in den 1940er Jahren in einem geplanten Indianerministerium arbeiten oder brachte sich bei der Saar-Regierung 1954 als eine Art Europa-Referent ins Spiel. Auch in seinem literarischen Werk finden sich immer politische Themen, wenn auch entsprechend seiner Wandlungen in sehr unterschiedlichen Ak‐ zenten. Der Gefängnisroman Wasser, Brot und blaue Bohnen (1932) und der Agi‐ tationsroman zur Saarabstimmung 1935, Im Kreuzfeuer (1934), sind eindeutig kommunistische Tendenzromane. Die bittere Niederlage der Hitler-Gegner bei der Saarabstimmung wird in dem Bauernkriegsroman Die Saat (1936) verar‐ beitet. Dabei hat Regler ein zeitgemäßes Muster aufgegriffen. Der historische Roman als Parabel auf die Gegenwart war in der Exilliteratur sehr verbreitet, z. B. Lion Feuchtwangers Der falsche Nero oder Heinrich Manns Romane um 141 Auf dem „Niveau des Pfaffenspiegels“? Henri Quatre. Die Hauptfigur aus Die Saat, Joss Fritz, der natürlich nicht mit der historischen Person der Bauernkriege gleichgesetzt werden darf, formiert hier mit seinem fiktiven Romanpartner Martin nach einer Niederlage die Truppen neu. Seine Erlebnisse im Spanischen Bürgerkrieg hat Regler in dem 1940 auf Englisch erstmals veröffentlichten autobiographisch fundierten Roman The Great Crusade verarbeitet, der auch Einblicke in die Machtstrukturen der KP in Spanien gibt. Im Kontext dieses Beitrages ist die positiv konnotierte Assozierung des Kampfes gegen die Faschisten in Spanien mit dem christlichen „Crusade“ (Kreuzzug) im Titel bemerkenswert. Im Zuge seiner Trennung von der KP 1940/ 1941 schrieb er seinen zweiten Spanien-Roman Juanita. Die Titelfigur Juanita, ein schlichtes, unpolitisches spanisches Mädchen, das in die Mühlen der gegeneinander agierenden Geheimdienste von NS-Deutschland und der So‐ wjetunion gerät, versinnbildlicht Reglers eigene Lage wie die der Spanischen Republik. Bemerkenswert ist, dass er in diesem Roman bereits die Totalitaris‐ mustheorie verarbeitet, also auf zentrale Gemeinsamkeiten zwischen National‐ sozialismus und Kommunismus anspielt. Reglers Verhältnis zur Politik ist von seinem Verhältnis zur Religion nicht zu trennen. Politische Aktivität bedeutete für Regler immer auch Bekenntnis und Arbeit auf ein größeres ideelles Ziel hin. Im Grunde lässt sich Regler als ganz‐ heitlicher Charakter beschreiben, denn seine literarische Tätigkeit ist nie von seinen weltanschaulichen Positionen isoliert zu deuten. Aus dieser Psychologie erklärt sich auch sein langwieriger Ablösungsprozess vom Kommunismus. Von einem punktuellen Akt der Trennung nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 kann man nicht sprechen, vielmehr handelt es sich um eine komplexe, schrittweise verlaufende Entwicklung. Ein schmerzhafter Ab‐ lösungsprozess von festen ideellen wie sozialen Bindungen, dessen ambiva‐ lenter Verlauf typisch war für zahlreiche ‚Renegaten‘ des Kommunismus. Reglers letzte Reise nach Indien und der Tod dort werden oft in einem sym‐ bolischen Zusammenhang gesehen mit seinem Wesenszug als Glaubenssucher. Tatsächlich steht seine Biographie im Zeichen der wesentlichen wirkenden re‐ ligiösen und ideologischen Strömungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: starke katholische Prägung gepaart mit Patriotismus in der Jugend, in den 1920er Jahren Hinwendung zu sozialistischen Ideen bis hin zum radikalen Kommu‐ nismus, der Bruch mit der KP, in späten Jahren zunehmende Hinwendung zur Naturmystik, Esoterik und Parapsychologie. Er rezipiert in seinen Aufzeich‐ nungen und Werken die maßgeblichen geistigen Impulsgeber jener Zeit wie Rilke, George, Nietzsche, Spengler, Dostojewski. Reglers politische Tätigkeit ist weniger von Taktik oder Pragmatik, sondern von Gefühl und Leidenschaft bestimmt. Bezeichnend ist eine überlieferte Epi‐ 142 Hermann Gätje 14 GRW, Bd. X, S. 386-388. 15 Brief Ernst Bloch an Karola Bloch, 26. Dezember 1937. In: Ernst Bloch: Das Abenteuer der Freiheit. Briefe an Karola 1928-1949. Frankfurt am Main 2005, S. 153. Gemeint ist: Ernst Bloch: Thomas Münzer als Theologe der Revolution. München 1921. sode vom Schriftstellerkongress in Paris 1935, die er in Das Ohr des Malchus beschreibt und die auch weitgehend den Tatsachen entspricht. 14 Seine Rede dort wurde wegen ihres allzu offenen kommunistischen Bekenntnisses, welches im Sinne einer neuen Partei-Taktik zur Einbindung bürgerlicher NS-Gegner ei‐ gentlich vermieden werden sollte, von den KP-Funktionären heftig gerüffelt. Sein kommunistischer Agitationsroman zur Saarabstimmung 1935 Im Kreuz‐ feuer enthält realitätsferne politische Forderungen im Sinne ‚einer roten Saar in Sowjetdeutschland‘, die auch zum Zeitpunkt seines Erscheinens 1934 infolge einer Änderung der Taktik der KP-Spitze völlig überholt waren. Regler war folglich auch kein ideologischer Systematiker oder Revolutions‐ theoretiker, worauf eine Bemerkung seines Bekannten Ernst Bloch anspielt: „Was hat Regler vom Thomas Münzer gehabt? Hat er ihn verstanden? “ 15 Der saarländische Autor Hans Bernhard Schiff formulierte dieses Moment treffend. Er hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Regler ein Rebell und kein Revolutionär gewesen sei. In der autobiographischen Kampfschrift Sohn aus Niemandsland spricht Regler von sich selbst in Bezug auf sein Verhältnis zur Sowjetunion als Wunsch‐ denker und Utopist. Sohn aus Niemandsland ist sicher sein markantester und aufschlussreichster politischer Text. Er verfasste ihn im Zuge seiner Lösung von der KP in den Jahren 1941 bis 1942. Aus der persönlichen Unsicherheit in der weltanschaulichen Krise speist sich die unbedingte Authentizität dieses Texts. Dieser ist als Erzählung und Bekenntnis seiner Zeit in der KP aufgebaut, führt in die Erzählgegenwart im mexikanischen Exil und enthält politische Manifeste. Die Schrift gleicht in der Kombination aus autobiographischer Reflexion des bisherigen (falschen) Lebens und der Formulierung neuer Inhalte den Bekennt‐ nissen von Augustinus. Damit ist ein religiöser Bezug gegeben, und auch stilis‐ tisch greift der Text auf homiletische Muster zurück. Die Emotionalität tritt in allen politischen Schriften Reglers hervor. Auch hierin zieht sich trotz aller Unterschiede ein roter Faden durch sein ganzes Werk. Seine ersten journalistischen Arbeiten in der Nürnberg-Fürther Morgen-Presse zeugen von seinem engagierten Gestus. Die Agitationstexte aus seiner KP-Zeit zeigen einen glühenden Rhetoriker. Auch wenn die späteren Texte in ihren Inhalten abgewogener und vor allem weniger radikal sind, bleibt ihr leiden‐ schaftlicher, engagierter Gestus bestehen. Dies gilt z. B. für die auf die aktuelle soziale und politische Lage verweisenden Passagen in seinem Mexiko-Buch 143 Auf dem „Niveau des Pfaffenspiegels“? Vulkanisches Land (1947). Der Essay Journal d’Europe von 1956 ist eine recht verbitterte politische Bestandsaufnahme des Europas der 1950er Jahre. In Reg‐ lers Ausführungen zu Politikern fällt die Dichotomie zwischen in Ansätzen zu Retter- und Erlösergestalten stilisierten Menschen wie Malraux, Roosevelt oder Aneurin Bevan und dämonisierten Negativtypen wie Stalin oder Walter Ulbricht auf. 144 Hermann Gätje 1 Marianne Regler, verheiratete Schröder (1901 bis 1988), Schwester Gustav Reglers. Ausgewählte Texte zur Musik Gustav Regler I. Briefe An Marianne Regler, 1 3. Januar 1927, GRA Liebes Ännchen! Da es unter Künstlern durch Aberglauben verpönt ist, sich Gutes v o r einer Veranstaltung zu wünschen, übersende ich dir also anbei und um Dir zu be‐ weisen, wie sehr ich mich über den Programmzettel von Vater gefreut habe, hiermit „brüderlichst Hals- und Beinbruch“. Möge die Bibel nicht recht haben und der Prophet in seinem Vaterland was gelten. In diesem Sinne Dir und dem ganzen Hause viele gute Grüsse und Du sollst Dir gegen Ende bei Scherzo vorstellen, dass ich in einer Ecke jener Turnhalle, in der ich sooft faul und gelangweilt an der Reckstange gehangen oder die Ge‐ sangsstunde von Herrn Weber geschwänzt habe, als Mäuschen sitze und doch zuhöre. So mitten drin fällt mir ganz eitel ein, dass diese Turnhalle ein günstiger Platz für die Familie Regler ist, da ein Familienmitglied dort zweimal die Lor‐ beeren seines Pennälerehrgeizes geerntet hat. Du kannst also ziemlich unbe‐ sorgt sein. Schlag also unbekümmert dem musikalischen Pferd ins Gebiss und fülle die Halle mit Tönen und Deine Nächsten mit Freude. In diesem Sinn und mit Grüssen an das ganze Haus, extra an die Grossmutter bin ich Dein treuer Bruder Gustav 2 Günter Abramzik (1926 bis 1992), evangelischer Theologe, Studentenpfarrer in Wilhelmshaven, später Domprediger in Bremen. Mit ihm und seiner Frau Irmela Abramzik (1922 bis 2013) war Regler eng befreundet. Er besuchte sie häufiger und sie waren intensiv am Entstehungsprozess von Das Ohr des Malchus beteiligt. Regler schreibt „Günther“. 3 „Mieke“ war der Kosename von Reglers zweiter Ehefrau Marie Luise Vogeler (1901 bis 1945). 4 Mozarts Kleine Nachtmusik. 5 Heide Weichberger (1922 bis 1980), Worpsweder Grafikerin und Keramikerin, mit Gustav Regler befreundet. 6 Gemeint ist der Dirigent Sir Georg Solti (1912 bis 1997). 7 Regler lässt hier eine Lücke. Er meint Mozarts damaliges Alter, hat die Zahl aber wohl nicht präsent. Die Zauberflöte entstand in Mozarts Todesjahr 1791, er war 35 Jahre alt. An Günter Abramzik, 2 13. Februar 1955, LASLLE Lieber Günther - eben habe ich nach langer mit Jugend durchtanzter Nacht und kurzem Schlaf den Bildern Miekes 3 zu Liebe die Serenade in G-Mayor 4 gespielt (trotz Missbrauch wird sie nie leer) und habe damit über die verjazzte Nacht zurück den Bogen wieder gespannt zu den zwei Tagen des geistigen Entzückens, zum Concerto und dem fast untragbar wissenden Requiem, und es ist leicht Ihnen für so glückliche Begegnung, für so fruchtbare Ausstrahlung, für so menschlichen Genuss unter uns dreien, für so geglückte platonische Akademie dort im Club meinen Dank und meine Genugtuung stolz und demütig zugleich auszudrücken. […] Vermutlich an Heide Weichberger, 5 25. Juli 1955, LASLLE Fernes - ich weiss nicht, wieviel der lockere verspielte Mozart unter den Buchen Dir bot, jedenfalls sind 3 Stunden Mozart hinter mir, wo ich immer wieder ge‐ wünscht hätte, Du wärest dagewesen. Die Eröffnung der Salzburger Festspiele 1955 mit Scholtin 6 als Dirigent der wundersamen, verwandelnden hinaufreis‐ senden Zauberflöte. Er nahm sie aufs Band und wir werden sie morgen wiederhören. Soviel Rein‐ heit, die erst erkämpft wird! Soviel Prüfungen! Das Wiederfinden von Tamino und Pamina! Fast unfasslich schön, dort wo der Jubel an schwarzen Schächten sich reibt. Aber doch erlösend. Keine Verzauberung mehr. Kein Abwenden der Gesichter. Keine Verzweiflung, die verstummt aus Selbstwürde. Eine andere Welt und die höhere Nähe. Duette von einer Weichheit, wie nur liebende Körper sie fühlen. Stürmen der Himmel Beharrlichkeit und ein unmerkliches Zusammenklingen. Papa‐ genos irdischer Humor ist gutes Gegengewicht. Ach, dies ist das reifste Werk. Ein -jähriger 7 hat es geschrieben; es gibt nichts Tieferes, wenn man lesen 146 Gustav Regler und hören kann. Da sind zwischen Böse und Gut zwei Geharnischte, die singen dem Tamino, der alle Proben bestand, ein Duett von einer so stahlharten Schönheit (ja, man muss das Wort sagen), fast modern in der Diktion - nie waren mir Cherubims so nah und ich doch ein Knabe, der willig ihrem Winken folgen würde, sprächen sie zu mir. Aber noch bin ich nicht so weit (und ir‐ gendwo bin ich schon ganz anderswo, das merke ich beim Schreiben der Bio‐ grafie oder auch heute, als ich plötzlich alle Heiterkeit dieser Landschaft auf Dich ausstreuen wollte und die Blumen zu meinem Glückstag dem 26. be‐ stellte. Da war die Jugend da, die an weisse Wolken über dem Deich rührt, die Jugend, die sich mit Deinem Lachen vereinen möchte, die Leichtigkeit, die Du in Tanznächten hattest oder wenn Du Vögel in offene Käfige setztest oder ein nougat-essendes Kind auf den Richtwegen wurdest. Mozart gab mir Flügel heute, ich schicke Dir ganze Büschel davon, nein die besten Schwungfedern, man hebt sich herrlich damit über den Alltag. Wen man über der ersten Wolkenschicht antrifft, ist unbekannt, aber ich bin da vertrau‐ ensselig, ausserdem gesellschaftslustig, selbst mit Putten, brauchen nicht immer gleich ausgewachsene Engel zu sein. Gustav 147 Ausgewählte Texte zur Musik 8 „Peggy“ war der Kosename von Reglers dritter Ehefrau Margaret Paul (1904 bis 2000). 9 Es handelt sich um Carl Orffs Carmina Burana. Regler kommentiert eine Aufführung in der Wiener Staatsoper vom 12. Mai 1957. An Günter Abramzik, 16. September 1955, LASLLE […] Ich lese eben Irmelas Brief wieder, in dem Euer Hochwürden Zusatz fehlt, und vernehme, dass es eine Psalmen-Symphonie von Strawinsky gibt; das macht mich sehnsüchtig auf Euren Nachmittags-Kaffee; all meine Radio- und Verlags‐ freunde sind so überbeschäftigt, dass sie kaum zu Musik kommen, und keiner(! ) hat einen Plattenspieler; ich ging deshalb gestern ins Funkhaus und liess mir einige ihrer Konzerte aus dem Archiv kramen; wundersame Bartoks, der draht‐ haarige Italiener Nono, Henze, der meinem „Biss des Knechts“ zugrunde liegt, alle gefördert von Strobl und einwandfrei aufgenommen. […] An Günter Abramzik, 11. Januar 1956, LASLLE Lieber Günther - Eine schnelle Information: Peggy 8 müde des schweigsamen Dichters oder viel‐ mehr: müde des Schweigens um mich und die schöne Bucht besteht auf einem Abschluss mit einer Opern- und Konzert-Woche in Wien. Dies sollte also in Ihre Planung eingeschlossen werden. Wir sind vom 10. - 24. Februar in Wien; […] Vielleicht langt Ihr Beutel, dass Sie sogar über Wien reisen, zwei oder drei Mu‐ sikabende mitbekommen, Peggy kennen lernen und mit mir dann zurückfahren. Wir selbst spenden für dieses Musik-Festival den letzten Dollar, aber ich bin durch Sie so verwöhnt worden, dass ich tatsächlich nicht lange ohne Musik leben oder arbeiten kann; in Wien ist Kubelik, André Cluyten[s] etc. Ausserdem das Philharmonische Kammer Orchester und andere. […] An Günter Abramzik, 14. Mai 1957, LASLLE Lieber Günther - was mich an O r f f störte, waren die A n l e i h e n: an alte Ora‐ torien, an die geschlossene Welt der Mysterienspiele, an den griechischen My‐ thus, den er laut Programmschrift erneuern will, damit wir „zu unseren Quellen“ zurückkehren. 9 Dabei ist nichts echte Rückkehr. Ich zweifle, ob je ein griechi‐ scher Chor in diesem Maschinen-Stakkato den Chorführer begleitete, ob diese grellen Zimbeln und Trompeten ein „Welttheater“ eingeleitet haben. Es ist ein Kaleidoskop, aber mit schmutzigem Glas. Grotesk geradezu, wenn er dann das Geheimnis der Zeugung in eine Parodie auf ein antikes Schlafzimmer verringert - die krächzende Braut, die zu allem Unglück für uns auch noch ein fettes, un‐ williges Monstrum war; im Stil der täppischen Dilettantenspieler des „Sommer‐ 148 Gustav Regler 10 Der Komponist Anton Bruckner (1824 bis 1896) fand seine letzte Ruhestätte in einem Sarkophag unterhalb der Orgel der Stiftsbasilika des Stifts Sankt Florian nahe Linz. Wegen seiner tiefen Religiosität, die sein Schaffen prägte, wird er häufig als „Gottes Musikant“ oder „Musikant Gottes“ tituliert. nachtstraums“; der Riesenchor ums Beilager herum ist von barbarischer Indis‐ kretion, ich meine dies alles musikalisch denn für die bessere Representation hier in Wien, die sich übrigens alle Mühe gab, würde ich den Komponisten nie verantwortlich machen. Egk ist übrigens (zwei Tage vorher) ein ähnlicher Ver‐ sager nach meiner Meinung gewesen, im Ballet „Joan von Zarissa“. Diese En‐ gelschöre, die sich mit Disharmonie entschuldigen, dass sie Atheisten sind oder keine Kirchensteuer zahlen! Und dies als Hintergrund (hinter einem Riesen‐ mond sangen sie es) zu einem Ballet, dass nichts als ein vielfältiges Frauenver‐ führen war. Irmela sagte kürzlich, dass ihr die Oper die rundeste vollkommene Form musikalischen Ausdrucks schiene. Wenn ich an Don Giovanni denke (den ich in ein paar Tagen hören werde, dabei gewiss viel an Sie denkend), möchte ich ihr Recht geben, doch soll man wie Orff keine Universalität anstreben, indem man Kulturkreise zwangsweise auf die Bühne zerrt, die nie „reproduziert“ werden können; wenn ich ganz tolerant sein will, würde ich hier den einfachen Irrtum im Kulturgeschichtlichen von Orff sehen und sagen, dass er ganz an‐ derswohin gehen muss, wenn er zu neuen Religionsschöpfungen beitragen will, vielleicht nach Indien, wer weiss. Aber ich glaube all diese religiosoiden Musiker sind nicht aufrichtig, decken ein Loch mit einem anderen - wir müssen mehr darüber sprechen. Gruss für heute! Gustav PS. Wir hörten gestern ein von GULDA ausgezeichnet gespieltes Beet‐ hoven-Konzert. (C-Dur, Opus 15) Ist auch auf DECCA aufgenommen und wert zu haben; welch ein demütiges, weiches Sicheinschalten ins Orchester! Und gute Piani. An Günter Abramzik, 26. Mai 1960, LASLLE Ansichtspostkarte (Motivlegende: „Nach einer Bruckner-Plakette vom Bild‐ hauer Frz. Forster in St. Florian“) Caro amico - am Grab von „Gottes Musikanten“. 10 Dicht daneben ein aufregend anklagender Altdorfer: ein verzweifelter Mann am Ölberg, ein enttäuschter Mann vor Judas, ein geschun‐ dener Mann unter Polizisten, ein fast gotisch schöner toter Mann am Kreuz. Ganz neu müsste man das alles sehen - Sie sehen, es verfolgt mich. In Melk 149 Ausgewählte Texte zur Musik 11 Sic! Es handelt sich um die Tagung des Europäischen Forums in Alpbach/ Tirol 1961. Regler berichtet davon in seinem unpublizierten letzten Großtext Hellseher und Char‐ latane. 12 Regler hatte ein großes Vertrauen in Horoskope. Den österreichischen Grafen Paul von Schönborn hatte er während seiner Internierung 1939/ 40 im Lager Le Vernet kennen‐ gelernt. Vgl. GRW, Bd. X, S. 551-553. sahen wir dann Barockengel, die alle eine Todsünde wert waren. Jetzt Wien mit Klemperer, Walter, Böhme [recte: Böhm] und Karajan. Werde viel an Sie denken, der wieder Musik und Kontrapunkte in mein Leben brachte. Herzlichst Ihr Gustav Sass heute in Karajans ISOLDE in der Loge neben Bruno Walther [sic! ], es war fast zu viel Strahlung. An Günter Abramzik, o. D. [August/ September 1961], LASLLE Lieber Guenther - mitten in der erstaunlichen Tagung von Alpach 11 (von der ich Ihnen erzählen werde - um den 13.9. herum, wenns recht ist) geht alles in die heitere Rokokokirche, wo die Puttis, die alle eine Todsuende wert waeren, um taenzerische Heilige herumschweben, den suessen Ruecken zum Beter zu‐ gekehrt, der sich wohl oft verwirren laesst, was wohl gottgefaellig ist. Und da spielt ein wuchtiger Gebirgsler an einer uebermaechtigen Orgel Hindemith, eine faszinierende Sonate, da singt eine Dame mit Wespentaille hoch oben auf der Empore, wo sie schon fast wie ein Engel selbst erscheint, obschon im schwarzen Abendkleid, aber sie hält die Noten so, als saenge sie zu dem, den sie hinter den Wolken vermutet, ein „de profundis“ von Karl Thieme, das uns ploetzlich etwas unbehaglich da unten empfinden laesst, obwohl es je nur die Flammen des Don Giovanni sein koennten - andere wuerde ich verlachen, mit Verlaub - und kurz darauf, als wir glauben, es würde nun etwas klassisch und die Blaeser und Floe‐ tisten Ihres herzoglichen Schlosses traeten auf die Seite des Organisten, - aber er hat auch 12 Toene im Leib, so scheint es und erst beim Suedtiroler Rotwein auf der Terrasse unter dem Kirchhof (wo uebrigens keine Grabsteine zugelassen sind, nur Putten und goldene Blechchristuesse! ) erholt man sich von all dem, was man Dissonanz zu sein glaubt, und was vielleicht ein ewiges Gut ist. Aber ich dachte an Sie und Ihre musikalische Besessenheit, die mein Astrolog Paul von Schoenborn 12 naechstens analysieren muss, und an den Wein, den Sie mir in Grazie kredenzen sollen - u[e]ber alle Tempel hinweg und alle Lorbeerkraenze und Tyrsusstaebe und Hirtenfloeten hinweg - und bald sehe ich Sie und moechte alles wissen. Alles! 150 Gustav Regler 13 Quelle: Gustav Regler: Der Biß. In: Akzente 3 (1956), S. 290-299. Ihr Gustav Die Kollektion der Ganymede bringe ich mit. Sie haben fast alle italienische Hueften, aber so hat sie auch Michelangelo geliebt, und so quaelten sie ihn … II. Der Biß 13 Mario wußte, daß Sorana verloren war, sich jedoch glücklich schätzte in der Annahme, daß er nichts von ihrem Zustand wußte. Wieviel aber ahnte sie von dem seinen? Er wollte nicht forschen. Müde von den Wochen im Asyl und der langen Flucht war er gern ihrer Aufforderung gefolgt, sich auf ihrem Bett aus‐ zustrecken, dort oben in der anmutigen unordentlichen Stube nah dem Pantheon der Großen Männer, und etwas von ihrem Rotwein zu trinken, während das kleine Radiokästchen irgendeine neutrale Musik summte. Manchmal beugte sie sich über ihn, um ihm neuen Wein einzuschenken, dann sah er an der linken Seite die Unregelmäßigkeit ihrer Bluse. Sie war aus schwarzer Seide und an der Stelle, wo die Brust amputiert worden war, etwas fülliger. Ein aufregender Verrat. „Es muß schwer sein für eine Frau“, dachte er betroffen, „solche Leere nicht durch ein Zuviel zu ersetzen.“ Das Radio schlief ein, Sorana fingerte an dem Drehknopf, und eine süßliche Stimme kündigte an, daß man eine musikalische Bearbeitung von Kafkas Ge‐ schichte „Der Landarzt“ senden werde. Ein gewisser Hans Werner Henze aus Deutschland habe die Musik dazu gemacht, man würde alles erklären, denn man habe auf eine Übersetzung verzichtet, sie sei zu schwierig. „Ich wollte, daß Sie das hören“, sagte Sorana. „Sie waren lange fort im Süden. Es wird Ihnen helfen.“ Woher weiß sie, daß ich Hilfe brauche, dachte er und leerte sein Glas. Habe ich ein Kainszeichen auf der Stirn? Und warum will gerade sie mir helfen - sie, die die Hilfe aller Engel benötigte? Wie mit Gewalt zog ihn die Stimme des Radios von seinen Gedanken weg. Ich will vergessen. Wenn man anderen zuhört, vergißt man sich leichter, nicht wahr? Im Lautsprecher heulte es wie in einer herbstlichen Nacht. Dann sprach ein Mann und erzählte von jenem Landarzt. Hat er einen Bart, dachte Mario. Ist er schmutzig? Schläft er allein in der Nacht? Sein Pferd ist gestern verendet, aber man hat nach dem Arzt geschickt, ein Kind ist krank, da schickt er also seine Magd, die Rosa, in die Nacht hinaus. Warum läßt er sie allein gehen? Ich ließ 151 Ausgewählte Texte zur Musik Vittoria allein, eine einzige Nacht, eine warme italienische Nacht, eine duftende, linde. Mario rieb sich über die Augen. „Nicht wieder anfangen“, murmelte er. Aber Sorana öffnete das Radio etwas weiter. Sie glaubte an dieses merkwürdige Heil‐ mittel; sie wußte, daß Mario in dieser Stunde genesen oder völlig zusammen‐ brechen würde. Diese Kafka-Geschichte war kein Zufall. Die Dienerin Rosa der Geschichte hatte kein Glück. Hilflos stand sie mit dem Doktor in der Schneenacht und starrte auf den Schweinestall neben dem Haus, der langsam von weißen Flocken bedeckt wurde. Aber nun regte er sich, einige Bretter fielen lautlos in den weichen Flaum, und aus der niedrigen Tür schoben sich zusammen mit einem Stallknecht zwei Pferde. Warum hasse ich diesen Knecht, dachte Mario, verschlug aber den Gedanken. Die Musik fesselte ihn nun. Sie war passend für all das verworrene Geschehen, sie war auch passend für das Schicksal der Frau, die auf dem Bettrand saß. Ja, und sie paßt auch zu mir, dachte Mario. Alles ist genau so schrill, und doch höre ich es nur aus weiten Räumen. Wie das Fallen von Gläsern ist es, wie Zusammenstürzen von Säulen, so wie ich sie in Italien anfaßte. Woher kenne ich diesen Sprecher? Ist er nicht wie der Irrenarzt von Genua, dem ich entlief ? Nein, er ist wie jemand ganz anderer, er ist wie Germano, der Geliebte von Vittoria. Mario atmete tief. Der Sprecher wurde nun feierlich. Er spricht wie ein Aztekenpriester, dachte Mario. Er hat ein Obsidianmesser in der Hand. Hat er Sorana die Brust amputiert? Hat er mir Vittoria gestohlen? Opfert er die kleine Italienerin irgendwo im Süden - gerade in diesem Augen‐ blick? Er spricht von dem Knecht, und er ist selber ein Knecht? Ich sollte nicht zuhören! Gleich werde ich wieder überall Germano sehen, den speichelnden. Gleich bin ich wieder reif zur Zelle. Warum lächelt diese Frau da, die doch reif fürs Grab ist? Was für ein bissiger Hund bin ich geworden! Nein, nicht bissig. „Ich beiße nicht! “ Er schrie es heraus. „Ich war zärtlich wie ein verliebter Faun den ganzen Sommer hindurch. Zu zärtlich. Dumm, zärtlich-dumm wie Rosa die Magd.“ Die Stimme aus dem Radio berichtete von dem merkwürdigen Benehmen des Knechts, der die Magd herankommen sah. Hilfreich war ihre Geste, schlicht ihr Gesicht, rosa ihre Backen wie die von Kindern beim Schlittenfahren. „Kaum war das Mädchen bei dem Knecht“, sagte die Stimme, „als er es umfaßt und schlägt sein Gesicht in ihres. Es schreit auf und flüchtet sich zu mir. Rot eingedrückt sind zwei Zahnreihen in des Mädchens Wange …“ 152 Gustav Regler Die Hörner im Hintergrund heulten auf wie getretene Hunde. Mario sah auf die Bluse von Sorana, strich sich dann verloren mit der Hand über die Lippen. Kafkas Geschichte ging weiter, grausam und kalt: Der Landarzt trat in das Haus des Kranken und fand heraus, daß dem Knaben, zu dem man ihn gerufen nichts fehle, so wenigstens dachte er und stellte sich zornig vor, daß Rosa, die er da in der Nacht zurückgelassen hatte, sich nun schon dem Knecht habe ergeben müssen. „Was gehts mich an“, sagte Mario in die kleine Oper hinein, aber Sorana sah ihn an und er schämte sich, daß er an Germano dachte. „Vielleicht lieben sie die Brutalität“, sagte er noch, aber dann warf er sich herum, vergrub den Kopf in den Kissen und über ihn brach die Flut der Erin‐ nerungen herein, die er gewaltsam zurückgedrängt hatte. „Vittoria! “ sagte er, und vor ihm stand die Landschaft des vergangenen Som‐ mers auf. Er hörte die geliebte Frau wieder singen. Links und rechts rasten die blühenden Oleanderbüsche vorbei, wenn sie im wildgewordenen Omnibus von der See ins Gebirge hinauffuhren. Aus üppigem Weinlaub lockten die reifenden Trauben. Sie fanden Tempel, die sie zu erwarten schienen. Vittoria tanzte zwi‐ schen den Säulen, legte am Altar des Tempels die Blumen nieder, die sie mitge‐ bracht. Mario erinnerte sich seiner Gedichte. Er hatte sie heimlich zu ihrem Haus gebracht, dem so streng bewachten, und hatte sie im Sand versteckt, damit sie am Morgen schon einen Gruß fand. Im Radio wetterte der Arzt gegen den Knecht. Mario hörte nicht mehr hin. Er wühlte sich in die Kissen, merkte nicht, daß die Frau seinen Kopf streichelte. Er dachte an seinen eigenen Knecht. Da war er gekommen mitten in das Liebesglück hinein. Mario hatte ihn sofort zu Vittoria gebracht. Wie kindlich sind Liebende! Und schon nach einem Monat hatte Germano alles verändert. So gestand sie und färbte auch das Geständnis noch mit Lüge: Lange hätte sie widerstanden, aber zuviel Mütterliches hätten Germanos Klagen in ihr geweckt, da er so allein sich bekannt. Unter Tränen hätte sie nach‐ gegeben. Sich mit Schuld zu belasten hätte sie ihn dann zu den Tempeln geführt, die sie mit Mario besucht. Vittoria schwelgte in Einzelheiten, es hörte sich wie ein Geißeln an, eine ehrliche wilde Beichte, als sie da neben Mario am Ufer von Taormina auf und ab ging, eine Hilflose, die sich töten wollte, wenn er ihr nicht verzeihe. So sprach sie, und einen Augenblick hatte er ihr geglaubt, denn er wollte ihr glauben. Aber dann merkten sie beide, daß Verzeihen nur ein giftiges Pflaster auf die Wunden war. Wie eine Schlammflut brach Scham über ihn, als er ent‐ 153 Ausgewählte Texte zur Musik deckte, daß sie auch in ihrem Geständnis noch gelogen hatte. Er widerstand dem würgenden Gedanken. Hatte sie nicht Gedichte in ihm geweckt, wie die Sonne Musik aus den Säulen des Niltals weckt? Er verglich, las seine Tagebücher wieder, warf sie in die Lagune, als er den Nebel des Wahnsinns näher kommen sah. Er führte Vittoria in die Berge, sie folgte ihm mit einer gewissen Angst, die er in ihren Augen sah, und die ihn rührte. In die weite Ebene schauend, vor dem schimmernden Horizont des Meeres erzählte sie ihm mehr von ihrer Verwirrung und verriet neue Abenteuer, deckte alte Lügen auf. Als er am Abend allein lag am Strand, schien ihm, daß er vergessen könne, aber am nächsten Morgen schoß Erinnerung wieder auf und machte ihn über‐ hell. Wie ein Folterknecht peitschte ihn sein Mißtrauen zu einem Spießruten‐ laufen durch alle Tage des vergangenen Sommers. Er hörte das mittägliche Lachen von Vittoria und wußte nun, es war nur ein Teil der Kadenz gewesen, die erste Hälfte hatte sie am Morgen Germano vor‐ getrillert. Diese Gleichzeitigkeit verwirrte ihn am meisten; er wehrte sich gegen die Doppelzüngigkeit ihrer Schwüre, aber er hörte nun doch das peinliche Ge‐ räusch ihres Umschaltens, dieses kurze Knipsen des Schalterknopfs. Wann hatte sie ihn wirklich geliebt? Er sah sich wieder zu ihrem weinumrankten Haus schleichen, um seine Verse im Sand zu verstecken, und es durchfuhr ihn wie ein brennendes Eisen der Gedanke, daß im gleichen Sand die Fußspuren von Ger‐ mano abgezeichnet waren, der mit ihr die Nacht verbracht hatte. Schon am Mittag hatte sie die Gedichte auswendig gewußt, sprach sie ihm vor mit den Lippen, die noch feucht von Germanos Küssen waren. Wann hatte sie wirklich geliebt? Und jenes Wochenende, da sie zu dem kranken Verwandten gefahren war, dem Boxer, der ihr immer Kleider schickte - wieviel hatte sie von ihm zu er‐ zählen gewußt! Wie er gesund geworden sei bei ihrem Eintritt in die Hazienda bei Tivoli und wie sie ihm die Wäsche gewaschen, ach, dabei habe sie garnicht gefragt, was Mario getrieben; sicher sei er mit einer anderen gegangen, sie wisse es, er solle gestehen. Entzückt von ihrer Eifersucht hatte er ein Gedicht ge‐ schrieben über ihre Unschuld. Beschämt erinnerte er sich, daß sie in Wirklich‐ keit mit Germano an den Wasserfällen von Tivoli gesessen und Mario vergessen hatte für zwei glückliche Tage des Betrugs. Durch die Casa Adriana waren sie gezogen, und in den majestätischen Steingärten hatte sie Germano all ihre kleinen Lieder vorgesungen, die Mario erst in ihr geweckt hatte, - sagte sie nicht so einen Tag vorher? Schal wurden die Lieder, grau wie der Morgen war jeder italienische Tag, blaß wurden die Erinnerungen, künstliche Blumen wurden 154 Gustav Regler Vittorias Schmeicheleien, staubig wie Papierblumen im Vorzimmer eines Bor‐ dells. Mario suchte sich in häßlichen Bildern zu befreien. Wie Hiob Eiter aus seinen Wunden kratzte, so schabte er an seinem kindli‐ chen Leid, und es schien unheilbar, als er entdeckte, daß es nicht nur verletzter Stolz war, sondern vielmehr die Krankheit dessen, der sich in keiner Wirklich‐ keit mehr zurechtfand, denn wo hatte Vittoria wirklich geliebt? Immer wieder kam diese Frage hoch, und da las er eines Abends, als er einen der alten Tempel besuchte, die Gedichte wieder, die er in diesem verwirrten Sommer geschrieben hatte. Wie in einem Strudel schoß das Blut in seinem Herzen zusammen, als er fand, daß Mario der Dichter von Anfang an gewußt hatte, was geschah und es in Versen festgelegt hatte wie eine Warnung an sich selbst, aber Mario der Verliebte war taub gewesen, taub wie ein Puter. Orpheus hatte geklagt, daß ihm die Geliebte verloren ging. Ikarus war abgestürzt, so schrieb der Dichter Mario: Dein Herz aus Stein, rot wie der Kamm des irren Hahns Dein Herz aus Lava Rot hingeschleudert aus dem Krater der Eifersucht Ins All, wo die Geliebte thront Und immer mehr zurückweicht; Blaue Grotte des Nichts Vom Raum gekühlt - Ein Absturz ohne Aufprall - Ein flügelloser Vogel: Ikarus. Ganz recht, auch einen Leander hatte Mario geschrieben und sich ahnungslos selbst verhöhnt, als er beschrieb, wie die Hirten Leander meldeten, daß Hero mit einem Knecht durchgegangen sei. Hatte er wirklich schon damals „Knecht“ geschrieben? Er zitierte die Verse in den fröstelnden Wald der Säulen hinein: „Ein Knecht sei gekommen - und vom Zauber benommen - sei die Braut ihm gefolgt in die Weite. O der Duft der Mimosen - die betäubenden Rosen - und die lockende blaue Lagune! “ Mario sah Vittoria wieder vor sich: wie sie lächelnd die Gedichte angehört hatte, wie sie ihm geschmeichelt, wie sie ihn gewarnt vor den Knechten, wie er ihren Spott als Zärtlichkeit genommen hatte. Wann hatte sie ihn wirklich geliebt? Er war aufgesprungen und es war ihm erschienen, als wenn ein Riß durch ihn hindurchginge wie ein Operationsschnitt, den die Scham und das wehe Er‐ staunen niemals würden heilen lassen, und wie er gebunden war an sie, die er nicht verstand, da er sie nie verstanden hatte, schien es ihm, daß er ein Leander 155 Ausgewählte Texte zur Musik war, den die Ebbe an den Strand gespült hatte, ein Ikarus, der immer noch stürzte, ein Schatten, der nach seinem Körper schrie. Er schrieb ein beängstigendes Gedicht, ehe er den Tempel verließ und seine ruhelose Wanderung antrat, die ihn dann zu der kranken Frau und vor den grausamen Kafka führen sollte: Nun streifen Blätter wund den Boden, Noch meiden sie den Grabesmund des Flusses, Ein kalter Nebel tupft die heißen Lippen, Der Schnitt der Sichel trifft den Stein im Herzen. Wer mähte unsre vollen Blüten, Lacht meiner Lieder, mischt sich ein Mit halben Küssen in den heißen Atem, Der uns verband wie Brandung zweier Meere? Eh ich die blassen Kelche breche Der Herbstzeitlosen vor dem toten Haus, Muß ich die Brücke der Lagune schmücken Mit weißen Blüten, die im Kupferhaar Wie der Gedanken reinste Träume rankten, Als deines Sommers volle Sonne stieg … Hier brach das Gedicht ab. Am nächsten Tag floh er; denn die Stadt, wo sie wohnte, schien überall in zwei Teile zu fallen wie er selber. Nächte wanderte er hinauf durch Italien; alles hatte sie berührt, so schien ihm, überall war es ihre Landschaft geworden und überall zerbröckelten Häuser, Burgen, Bäume, kam ihr Lachen aus Oleanderbüschen, ging ihre Gestalt über Marktplätze, sah er ihr Gesicht auf Fresken und Gemälden, und überall zerfiel es in zwei Teile wie er, der nur etwas ruhiger wurde, wenn er im Dunkel einer Kirche rastete. In einer Kirche nah bei Genua hatten sie ihn dann auch gefunden, wie er versuchte, seinen Namen auf ein Stück Papier zu schreiben - aber nur ein ein‐ ziger Buchstabe kam aus dem Bleistift, er schrieb ihn immer wieder; auch im Irrenhaus tat er nichts anderes, das M sah am Ende wie ein Galgen aus. Er dachte nun an das Aveläuten, das ihn eines Morgens geweckt hatte. „Es hat mir geholfen“, sagte er. „Es hat mich hierher geschickt. Ist es soweit? “ Sorana streichelte seine Hände. Er setzte sich auf. Aus dem Radio kamen Glocken. „Was ist mit meiner Liebe geschehen? “ fragte er laut. „Sie ist wie eine Flamme in einem Windlicht. Sie ist wie eine Chrysantheme, an die der Herbst‐ wind stößt; aber halten die Blätter noch? Ein milchiger Schleier liegt über meiner Hornhaut. Fühlst du das Gleiche, Landarzt? “ Er sprach in das Radio hinein. 156 Gustav Regler Die Erzählung dort näherte sich ihrem Höhepunkt; der Arzt hatte eben eine zweite Untersuchung gemacht und zu seinem Entsetzen festgestellt, daß der Knabe, der ihn gebeten hatte, ihn doch endlich sterben zu lassen, tatsächlich eine handtellergroße Wunde in der Hüfte hatte, die von Würmern wimmelte. Taktlos und abstoßend war die Wunde beschrieben worden. Mario besann sich auf die Operation, die Sorana erlitten hatte, und wollte das Radio abdrehen, aber Sorana hielt seine Hand fest. „Hör zu! “, sagte sie mit weicher Stimme. „Sie nehmen ihre Rache.“ Die Eltern des Knaben hatten eben beschlossen, an dem Arzt eine symbolische Vergeltung zu üben. Die Instrumente des Arztes hatten versagt, wie sie so oft versagen. „Aber hat nicht sein Körper wenigstens eine gewisse Heilkraft? Laßt uns pro‐ bieren! “ Sie zogen den Arzt aus und legten ihn nackt neben die schreckliche Wunde des Kindes. „Le voilà“, sagte Sorana. Ein Chor sang. Er schien hoch oben im Funkraum aufgestellt, sozusagen in der himmlischen Dachkammer. Es klang etwa, wie man sich Engelsgesang vor‐ stellt, doch waren es sehr ultimative, beinah verächtliche Engel. Sie sangen: Entkleidet ihn, dann wird er heilen, Und heilt er nicht, so tötet ihn! S’ist nur ein Arzt, s’ist nur ein Arzt. Mario war in einem Augenblick entrückt. Dies war Härte und Güte zugleich, es war aber auch eine neue Proportion, die allem Leid gegeben wurde. Man konnte die Medizin auf alles anwenden. Warum war er leicht wie ein Blatt, das endlich vom Baum sich lösen durfte? „S'ist nur ein Weib“, wollte er sagen, aber er verbat sich die Rückkehr zu seinem eigenen Kummer. „J’aime cela“, sagte Sorana. Mario fühlte, wie eine Welle von Scham durch sein Herz trieb. Wahrhaftig, diese Frau, die morgen sterben würde, hatte allen Grund, den irdischen Helfern ihren Spott ins Gesicht zu spucken, und da sagte sie: „Man muß nicht an Heilung glauben, es ist zu ehrgeizig.“ Mario schossen die Tränen in die Augen. Er mußte sprechen, er konnte nicht länger da sitzen. Sie sollte nun alles wissen, ja und der Arzt auch, und auch dieser Knabe, er Mario würde nun zu allen sprechen. Wie ein weher Rausch kam es über ihn. Sorana merkte, wo er angekommen war, sie rückte näher an ihn heran und faßte seine beiden Hände, als er nun in das Radio hineinsprach: 157 Ausgewählte Texte zur Musik „Niemand darf besitzen, Liebe ist keine Sicherheit. Eitelkeit ist in der Umar‐ mung, Eitelkeit im Gedicht, Eitelkeit in unserem Hinfassen an die Himmel …“ Sorana drückte seine Hände, da sprach er weiter: „Wenn ich nur einen einzigen Demütigen treffe, will ich die Welt wieder lieben -“ Er stotterte, dann sagte er überraschend: „Dann werde ich auch wieder Blumen auf Altäre legen.“ In diesem Augenblick kam aus dem Radio die uralte Stimme des sich fast sachlich fügenden Knaben: „Immer muß ich mich begnügen. Mit einer schönen Wunde kam ich auf die Welt. Das war meine Ausstattung.“ Es war wie eine Antwort. Mario sah das Kind vor sich, die jungen Züge, die der Schmerz verwischt hatte. Er ballte die Faust. Fiel ein Verband von seinem Herzen oder riß ihm jemand eine ganz andere Wunde? Da schossen in alle Sommer die vollen Astern. Kirschbäume verschwendeten sich über wehende Felder in regnenden Blüten. Ein Kind aber mußte die Blume der Verwesung in sich tragen wie ein Angebinde. Er sah auf die Frau. Konnte sie nicht auch Beschwerde erheben vor den zu stummen Instanzen? Tausend Liebesnächte stahl man ihr. Nie würde Lachen ihrer eigenen Kinder an ihr Ohr klingen. Er löste seine Hände aus den ihren. Er hatte kein Recht auf solche Gemein‐ schaft. Er sah, wie sie leise an ihrer Bluse zupfte. „Sie bedeckt sich, um dich da oben zu decken“, dachte er und wußte nicht, wen er damit anredete. Sorana aber griff nun nach der Flasche und füllte Marios Glas mit rotem Wein. „Cette plaie“, sagte sie wie nebenbei, „c’est la plaie originelle.“ Der Satz schlug wie ein Hochspannungsstrom durch Mario. So sachlich klang er und ging doch über jede Sachlichkeit hinaus. Ein verlorenes Paradies wuchs um das Bett herum. Wie Würmer aus der Rippe hoben sich die biblischen Bilder: Péche original. Plaie originelle. Erbsünde. Erb‐ wunde. Mario schien es, als ob alles zusammenklänge in einem wilden, aber erlö‐ senden Finale: Erbwunde, die Leidenschaft! Erbwunde, die brennende Blume, die sich in unserm Herzen öffnet, wenn wir uns verwirren lassen von unsern Wün‐ schen! Erbwunde, das unheilbare Siechtum der Sehnsucht! Erblich der Wunsch, erblich die Entbehrung, erblich das Irren am Abgrund, der klafft zwischen dir und mir! Wie der Landarzt neben dem Knaben, lag Mario neben seiner eigenen Wunde, und sie war nun mehr als der Stich der Eifersucht oder der Brand des Stolzes. „Il n’y a qu’un seul docteur“, sagte Sorana. Mario erschrak. Meinte sie wirklich denselben Arzt, an den er dachte? Oder glaubte sie, daß unerfüllte Liebe immer 158 Gustav Regler 14 Quelle: GRW, Bd. XI, S. 142. Publiziert in: Gustav Regler: The Bottomless Pit. Der Brunnen des Abgrunds. Mexico, D. F. 1943. nur mit Liebe und mit immer mehr Liebe geheilt werden kann? Der Balsam der Güte - war er nicht die einzige Medizin für den Biß des Knechts? Das Radio klang gedämpft. Sorana stand auf und ging zur Tür. Sie hob den Arm und strich sich über ihr Haar. „Es ist, als ob sie aus dem Garten Eden träte“, dachte er. „Und sie hält über sich einen Blütenkranz ganz aus schwarzen Blumen. Aber ihr Gesicht strahlt dabei von Helle.“ Sie liebte nicht mehr, sie haßte nicht mehr, sie bekannte sich zu ihrer Wunde. „Wir alle müssen uns dazu bekennen“, dachte er, und indem er es dachte, fühlte er um seine rechte Brustwarze ein jähes Brennen. Er hob sein Glas. Er wußte nicht, wer ihm eingab zu sagen, was ganz locker, fast freundlich aus seinem Mund kam: „Da meine sich nun öffnete, kann deine sich schließen.“ Sie nahm ihm das Glas ab, leerte es genießerisch und sagte: „In meinem Land gibt es einen Spruch: Niemand kann zwei Tode sterben. Une consolation char‐ mante, n’est-ce pas? ein graziöser Trost, nicht wahr? “ Und ein letztes Mal rückte sie ihr Kleid zurecht. „Du hast mich übrigens zum ersten Mal geduzt“, sagte sie und legte ihre Hand auf Marios Brust, wo der Schmerz sofort nachließ. Aus dem Radio sang noch einmal der Chor der Engel. III. Gedichte Die Sängerin Marian Anderson 14 Reine Quelle, die aus dem roten Ring deines Herzens kommt und zum gebieterischen blauen Strom wird, der uns wegreißt von unsren verbrannten Ländern von unseren elenden Träumen unerbittlich uns trennend von allem was tot ist. Und der dann wie eine große Schwester uns trägt. Floß, um das die Stille der namenlosen Gesänge ist die uns vergessen lassen die wilden Töne der Kriegstrommel die alle Horizonte punktieren mit bösen Fingern. 159 Ausgewählte Texte zur Musik 15 Gemeint ist die Berceuse Des-Dur op. 57 für Soloklavier von Frédéric Chopin. Quelle: GRW, Bd. XI, S. 317f. Entstanden Oktober 1947, publiziert in: Gustav Regler: Der Turm und andere Gedichte. Calw 1951. 16 Ehefrau von Louis E. Stephens, befreundete Nachbarn von Gustav Regler. Königlicher Vogel, der herabwirft auf die bedürftigen Hochhäuser unsrer faden Städte den reichen Schmuck seiner vollen Negerhütten, wo der Schmerz der Mütter weiß ist wie die Jasminblüte und die Gier der Männer hell wie die ersten Bäche, die im Frühjahr aus Riesengletschern züngeln. Gütige Priesterin vor dem Altar eines dunklen Gottes. Stehst schützend da vor deinem Volk Stehst mehr noch vor den Fremden Damit aus dem Tempel der Beleidigten nicht die Lava der Rache niederströmt. Lädst uns ein zu deinem Gott, der nur die Farbe der Seelen prüft und stehst stolz vor ihm auf dem Regenbogen deines Gesangs. Torwächterin, rufst uns zur Stadt mit den zwölf geöffneten Toren zu der hellen und heiteren Stadt, wo Wiegen schaukeln im Schatten summender Mütter und Demut und Stolz sich umwerben wie die heiß atmende Orchidee, um die das Verlangen des Kolibris zittert. Wie schön ist deine Stadt, Marian! Du träumst von ihr hinter den hohen Vorhängen deiner geschlossenen, grundlosen Augen. Wiegenlied 15 für Helen Stephens  16 Fallende Blüte wiegt sich im Wind. Welle der Träume entführt das hilflose Kind, Mutter hält Wacht. 160 Gustav Regler 17 Gemeint ist die 3. Klaviersonate, op. 58 von Frédéric Chopin. Quelle: GRW, Bd. XI, S. 366f. Entstanden im Juli 1947. Teil ihres Herzens atmet allein; Gestern und Morgen finden sich ein am Rande der Nacht. Alles ist ungewiß, alles ist klein, leg auf den Riß der Zeit die Hände dein, Mutter, die schon der leichte Schatten fliegender Schwalbe gemahnt an Gefahr, die sich in zärtlicher Sorge beschuldigt, daß sie in so viel Dunkel gebar - tadle den Abend nicht, da du nach Leben bangtest und es mit Küssen für dich verlangtest, Leben, das wie ein Fluß dich verließ ans Ufer der liebenden Furcht dich verstieß. Da liegt es vor dir im seligen Traum, breite dich über sein Licht wie ein Baum. Wohl ruft die Quelle zurück die Wolke, so sehr sie sich wehrt - aber dein Wesen gab sich dem Feuer der einen Stunde, die es verzehrt So wiege den Traum des kindlichen Boots und halte den Saum des Abendrots, halte die Wacht am Rande der Nacht der purpurroten … Sonate 3 17 Hörst du die Stimme im warmen Quell des Herzens sie klagt und jubelt steigt nach dem Rand des Lands und müd des Scherzens will sie zum Horizont, dem weiten blauen 161 Ausgewählte Texte zur Musik 18 Quelle: GRW, Bd. XI, S. 365f. Entstanden im Juli 1947. Hörst du die Stimme, die wie Hände den Jasmin streichelt, dem Wind des Abends schmeichelt Hände aus Samt zitternde Seide, wenn sich die Nacht verliert regnen die Blüten in der Kaskaden Schauer mischen sich Sterne Augen der Ferne und wie ein Reh das klagt und nicht zu weinen wagt hebt sich die Stimme wieder Blüte der blauen Lieder fällt wie des Brunnens Strahl lindernd auf meine Qual eh wie ein Schmetterling die Nacht es saugt Auge, das in mir glüht Mund, der in meinem glüht wach ist der fernste Traum streichelt des Meeres Saum stirbt mit der Welle weich im Uferried Liebe, du blaues Lied … Chopin, la nuit enchantée oder Polen 1947 18 Winternacht. Am Horizont ein weißes Klingen. Bäume stehn in schwerem Traum. Wurzeln halten atemlos der Erde Saum. Herz der Saat liegt starr in kalten Ringen. Der See verlor um Mitternacht sein Auge. Kein Stern versteckt in den beschilften Bänken. Umsonst ersehnt die Flur die Braut, verwirrte Spitzen reich auf den Gelenken 162 Gustav Regler und seidne Falten, die herab sich senken in Ackerfurchen, schwarz wie Beerenwein. Ein hilflos Harren - in allen Sparren des Kirchturms knarrt die bleiche Frage. Und Wölfe lauern an dem Waldesrand, der letzte Hunger und der letzte Brand mit roter Zunge leckend an dem weißen Land. Vergessen aller Sturm des heißen Bluts. Die Sommernacht erfror im Neigen dieser Erde zum eignen Pol, wo Schweigen schreit. O nur ein Schlitten aus dem Osten, die Glöckchen regnen in den Schnee kristallne Zeit - doch alle Schlösser fielen in die Knie, und auch die Sonnenuhr ist eingeschneit. Pianos grinsen mit zerbrochnen Tasten ein Tagebuch deckt eine welke Rose ein toter Fuß liegt still auf einem Notenkasten. Der Horizont klopft an die leeren Fenster - ein Rabe ruft vom eisigen Scheideweg Gespenster - ein weißes Klingen echot müde. 163 Ausgewählte Texte zur Musik 1 GRW, Bd. VI, S. 224. Gustav Regler und die Musik Hermann Gätje Die Bildende Kunst nimmt in Gustav Reglers Leben und Werk offensichtlich einen sehr großen Platz ein. Er verfasste zahlreiche Texte, die sich primär auf Kunst beziehen wie die Biographie über seinen Künstlerfreund Wolfgang Paalen oder den Roman über den Maler Uccello. In seinem Roman Aretino lässt er Tizian, Raffael und Michelangelo als Figuren auftreten. Die starke Affinität Reglers zur Malerei ergab sich auch aus seiner Beziehung zu der Künstlerin Marie Luise Vogeler, der Tochter des bekannten Worpsweder Malers Heinrich Vogeler. Im Gegensatz zu Reglers Textzeugnissen zur Bildenden Kunst bleibt die Zahl derer zur Musik überschaubar. Doch ein tiefergehender Blick auf seine biogra‐ phischen Umstände, seine Briefe und sein Werk zeigt, dass Regler, wenn auch nicht so ausgeprägt, einen wesensgleichen leidenschaftlichen und kenntnisrei‐ chen Zugang hatte. Dabei kommt der Musik in seinem ästhetischen Verständnis eine ähnliche Funktion wie der Kunst zu. Kunst wie Musik bilden einen ästhe‐ tischen Kontrapunkt zu sozialen und politischen Verwerfungen, zu persönlichen Krisen und Trauerfällen. Ein zentraler Satz für Reglers lebensphilosophisches Konzept heißt „Kunst ist immer ein Asyl“. 1 Die Wendung fällt in seiner ersten autobiographischen Schrift Sohn aus Niemandsland im Zusammenhang mit seinen ersten Eindrücken in Mexiko. Er betont den Kontrast zwischen der Armut in Mexiko und dem Kunstschaffen dort, interpretiert die Kunst als kompensa‐ torische Tätigkeit dem sozialen Elend gegenüber. Regler bestreitet die Deutung von Kunst als Eskapismus in diesem Kontext, vielmehr sieht er ihre Botschaft darin, aus ihrem Verständnis heraus die Verhältnisse zu verbessern, den Men‐ schen dazu anzuspornen, daran zu arbeiten. Die Offenheit und Vieldeutigkeit der Kunst wird für den späten Regler zu einem essentiellen Punkt seines Den‐ kens, die Freiheit der Kunst repräsentiert Toleranz und Ablehnung kategori‐ scher Wahrheiten, sie muss zweckfrei sein, um ihren Zweck zu erfüllen. Dieser Kunstbegriff Reglers impliziert auch sein Verhältnis zur Musik, das in diesem 2 Vgl. in diesem Band S. 146. Band mit der Edition einer Textauswahl von Briefen, der Erzählung Der Biß und Gedichten in seinem Facettenreichtum illustriert wird. Seine Nichte Annemay Regler-Repplinger weiß zu berichten, dass Gustav Regler aus einem musikalisch veranlagten Elternhaus stammte. Die Mutter He‐ lene spielte Harmonium, das „gute Stück“ stand im „Prachtzimmer“ der elterli‐ chen Wohnung und ist bis heute erhalten. Die Eltern waren um die Bildung und musische Förderung der Kinder bemüht. Von eigenen musikalischen Ambiti‐ onen Reglers ist allerdings nichts bekannt. Sein älterer Bruder Franz, Annemay Regler-Repplingers Vater, hatte Geigenunterricht, doch von tiefergehenden Nei‐ gungen ist nichts überliefert. Die Musik repräsentiert in der Familie gewiss die Schwester Marianne Schröder-Regler. Sie war ausgebildete Pianistin und Mu‐ sikpädagogin. Aus Korrespondenzen geht hervor, dass Gustav den künstleri‐ schen Werdegang und die Auftritte seiner Schwester mit großer Anteilnahme verfolgte. Der hier edierte Brief vom 3. Januar 1927 mit guten Wünschen für ein Konzert bezeugt dies. Sowohl in frühen wie in späten Briefen mit seiner Schwester ist Musik immer wieder ein Thema. Sehr intensiv tauschte sich Regler in den 1950er Jahren mit seinem Freund Günter Abramzik über Musik aus. Häufig schildert er diesem Konzertbesuche oder äußert sich zu Schallplatten. Aus diesen Briefen lassen sich grob Tendenzen seiner musikalischen Vorlieben erschließen. Insgesamt erkennt man bei Regler einen Hang zur Kunstmusik bzw. E-Musik. Die Konfluenz von Bildender Kunst, Musik und persönlicher Empfindung sowie die Differenz zum Jazz, zur U-Musik, tritt in einer Briefäußerung vom 13. Februar 1955 prägnant hervor: „[E]ben habe ich nach langer mit Jugend durchtanzter Nacht und kurzem Schlaf den Bildern Miekes zu Liebe die Serenade in G-Mayor gespielt (trotz Missbrauch wird sie nie leer) und habe damit über die verjazzte Nacht zurück den Bogen wieder gespannt zu den zwei Tagen des geistigen Entzückens“. 2 Die Kontrastierung von Mozarts Kleiner Nachtmusik mit der „verjazzte[n] Nacht“ ist typisch für Reglers dualistische Denkweise. Neben Mozart erscheinen Beethoven, Bach und Chopin als von Regler besonders favorisierte Komponisten der klassischen Musik. Deut‐ liche Skepsis findet sich gegenüber den Vertretern des Neoklassizismus Carl Orff und Werner Egk, deren Rolle während und im Kulturverständnis des National‐ sozialismus kontrovers diskutiert wurde. Sehr angetan zeigt sich Regler hin‐ gegen von einigen seinerzeit zeitgenössischen Komponisten der Neuen Musik, konkret hier Luigi Nono und Hans Werner Henze, der in der edierten Erzählung Der Biß eine essentielle Rolle spielt. 166 Hermann Gätje 3 GRW, Bd. XI, S. 189f. 4 GRW, Bd. X, S. 623. In dieser Erzählung aus dem Jahr 1956 zeigen sich konzentriert wesentliche Momente, die für die Implementierung, Rolle und Funktion von Musik in seinen literarischen Texten charakteristisch sind. Musikstücke fungieren in seinen er‐ zählenden Texten als Sinnbilder und innerhalb der Diegese spielt der Einsatz von Musik dramaturgisch eine Rolle. Kunst und auch die Musik stehen einer schweren, bedrohlichen Lage gegenüber, sie bilden darin eine Trost-, Kraft- und Kompensationsquelle. In dem Erzählgedicht Jungle Hut von 1946, das eine lite‐ rarische Verarbeitung des Todes seiner Frau Marie Luise darstellt, heißt es: „I always wished to die with music around me, / even when a man is dead his ears still hear.“ 3 Am Ende der romanhaften Autobiographie Das Ohr des Malchus steht der Tod von Marie Luise im September 1945, den Regler mit den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki sinnhaft assoziiert. Regler schildert ein Hauskon‐ zert wenige Tage vor Marie Luises Tod: Das Streichorchester stimmte die Instrumente. Walter Stein aus Wien leitete das Kon‐ zert. Marieluise lag im Nebenzimmer und sprach mit den vier Freundinnen, die allein sie zugelassen hatte; sie nannten sich graziös the ladies in wait. Die Freunde, beinah vierzig an der Zahl, hockten im Garten, um die vier Notenpulte herum oder um den Kamin, der brannte. Die Musiker hatten Mozart und Haydn gewählt. Sie schlossen mit der Kleinen Nachtmusik ab. Ich hatte nie vorher so sehr die Melancholie des Stücks gespürt. Es war, als stände man im Park von Versailles, wo er in die Unendlichkeit ausläuft und wo seine künstlichen Seen schon bäuerlich werden. Dort die Falben, um deren Hufe gelbe Blätter wehten. Es war ein Adieu sans paroles, angehaucht vom dünnen Geruch der Herbstzeitlosen. Eine Stunde vor Sonnenuntergang. Manchmal war der Tanz‐ schritt zu deutlich, stieß an alle Herzen, die die Frau nicht gehen lassen wollten. Ma‐ rieluise aber sah mit großen Augen in die Landschaft, die Mozart öffnete. 4 Regler inszeniert eine vielschichtige Synästhesie. Musik gewinnt hier eine transzendente Bedeutung. Sie steht für die Überwindung der Todesangst, ver‐ sinnbildlicht eine zeitlose Schönheit und Güte, die über das irdische Leben hi‐ nauswirkt. Die Erzählung Der Biß weist Parallelen zu dieser Passage auf. Der Text hat einen realen Hintergrund. Sorana ist nach der in Paris lebenden rumänischen Schriftstellerin Sorana Gurian (geborene Sara Gurfinchel, 1913 bis 1956) gestaltet, die tatsächlich an Krebs erkrankt war und am 10. Juni 1956 daran 167 Gustav Regler und die Musik 5 GRW, Bd. XI, S. 400-403. 6 Ebd., S. 372-375. In dem Gedicht heißt es abweichend von der in Der Biß angeführten Passage nicht „Knecht“, sondern „Faun“. 7 Die in der Erzählung angeführten Gedichtzeilen („Dein Herz aus Stein, […]“) stellen eine Variante des Schlusses von Reglers Gedicht Daedalus dar. Vgl. ebd., S. 375-377. 8 Vgl. in diesem Band S. 151. 9 Vgl. in diesem Band S. 152. 10 Vgl. in diesem Band S. 158. 11 Vgl. in diesem Band S. 159. verstarb. Regler besuchte sie häufiger. Die Figur Mario verweist auf ihn selbst, indem dessen Geschichte eine leidenschaftliche Liebesbeziehung Reglers, die in Italien begann, reflektiert. Deren Ende stürzte Regler in eine schwere Krise. Das Verhältnis hatte er bereits im 1955 erschienenen Roman Aretino verarbeitet. Jene „Mimi“ hatte sich dem Schriftstellerkollegen Hermann Kesten zugewandt - die Assonanz zum Namen „Germano“ in der Erzählung ist offensichtlich. Die er‐ wähnten Gedichte Orpheus, 5 Leander, 6 Ikarus  7 verweisen konkret auf Texte von Gustav Regler. Während seines Besuchs bei der todkranken Sorana läuft im Radio Hans Werner Henzes Funkoper Ein Landarzt nach Kafkas gleichnamiger Erzählung. Sorana meint, diese würde ihm helfen. Mario schämt sich für seinen Welt‐ schmerz angesichts Soranas Leiden: „Und warum will gerade sie mir helfen - sie, die die Hilfe aller Engel benötigte? “ 8 Er sträubt sich zunächst gegen den (kryptischen) Text Kafkas, kann zunächst keinen Zusammenhang zu seinem Unglück feststellen, doch über die Musik findet er einen Zugang: Die Musik fesselte ihn nun. Sie war passend für all das verworrene Geschehen, sie war auch passend für das Schicksal der Frau, die auf dem Bettrand saß. Ja, und sie paßt auch zu mir, dachte Mario. Alles ist genau so schrill, und doch höre ich es nur aus weiten Räumen. 9 Nun erinnert und reflektiert er dabei das Unglück seiner Liebe, und stellt Ana‐ logien zur Erzählung Kafkas her, deren tieferen Sinn er nun zu ergründen glaubt. Nur Demut, Liebe und Güte können das Leiden der Welt überwinden, die Oper endet in einem „wilden, aber erlösenden Finale“ 10 - „Aus dem Radio sang noch einmal der Chor der Engel.“ 11 Regler entwickelt ein Tableau von Zusammenhängen aus Literatur und Musik. Auch wenn die Musik in der Erzählung explizit marginal erscheint, so spielt sie doch eine entscheidende Rolle. Erst die musikalische Umsetzung er‐ öffnet Mario Kafkas Erzählung, der Klang, der Chor der Engel am Schluss er‐ möglicht das tiefe Verständnis und das „erlösende Finale“. 168 Hermann Gätje 12 GRW, Bd. X, S. 389. 13 Ebd., S. 507. 14 Ebd., S. 61. In ähnlicher Weise wie in Der Biß spielt Musik in der Diegese einiger Passagen seiner erzählenden Texte eine signifikante Rolle. Mit der Referenz auf Musik werden Aussagen pointiert unterstrichen, zugleich poetisiert und verdichtet. In die Handlung von Das Ohr des Malchus baut Regler mehrfach die Interna‐ tionale ein, um sein Verhältnis zum Kommunismus und zur Sowjetunion sym‐ bolisch zu akzentuieren. Das Lied steht bei ihm für die ursprünglich reine Lehre, für Stalin und seine Getreuen ist das „Lied […] ein Mittel zum Zweck.“ 12 Diese Wendung wiederholt er als Leitmotto in seinem kritischen Rückblick auf seine Russlandreisen und seine kommunistische Vergangenheit. Sein Engagement im Spanischen Bürgerkrieg sieht er jedoch auch nach seinem Bruch mit der Kom‐ munistischen Partei als moralisch richtig und wichtig an. Entsprechend dient hierbei die Internationale als Sinnbild: Am nächsten Tag siegten die Kommissare. Ich ließ die Internationale spielen. Sie konnte Katholiken drüben erschrecken. Sie konnte Faschisten wieder hart machen. Aber es schien mir, daß dem Reden endlich wieder Musik folgen müsse, eine wortlose Botschaft, und es mußte ein Chor sein, und er mußte breit dahinfließen und aufrau‐ schen wie eine Symphonie. Diesmal hatte das Lied, das mir in Rußland zum Schrecken geworden war, wieder die Reinheit einer übermenschlichen Anstrengung. 13 Regler geht in Das Ohr des Malchus auf seine Gasvergiftung im Ersten Weltkrieg ein, das Erwachen danach fasst er in eine Synästhesie: Ich hatte mich wachgehalten, bis andere Träger kamen; dann erst fiel ich wieder in Ohnmacht, um nach Stunden in der Kathedrale von Laon aufzuwachen. Säulenschäfte, steigend und brüderlich zusammengefaßt. Eine Motette von Palestrina. Eine Welt, die man vor langer Zeit in Konzertsälen geahnt hatte. Diesmal fühlte ich, daß ich heimgekehrt sei, und so anmaßend es klingen mag, kommt mir diese Sicherheit in allen Kathedralen bis heute immer wieder. Ich sah mit fie‐ bernden Augen hinauf, wo sich die Säulen berührten. Licht brach durch eine Rosette; Licht flutete durch die Herzen der Heiligen; Licht streichelte die bauschigen Gewänder von Maria und Elisabeth. Aus den Kelchen der Blumen brach Licht; ich war dankbar wie ein Kind an Weihnachten. 14 In seiner ersten autobiographischen Schrift Sohn aus Niemandsland von 1942 greift Regler an einer Stelle auf die Musik von Händel zurück, um ein retardie‐ rendes Moment zu stilisieren. Er reflektiert kein persönliches Erlebnis, sondern die Ermordung des Katholikenführers Erich Klausener im Zuge des sogenannten 169 Gustav Regler und die Musik 15 GRW, Bd. VI, S. 55f. 16 Gustav Regler: Kirchen wie ein Menuett von Mozart. Von einer Frühlingsfahrt ins schwäbische Rokoko. In: Saarbrücker Zeitung, 22. April 1961. 17 Ebd. 18 Ebd. Röhm-Putsches am 30. Juni 1934. Er imaginiert und dramatisiert den Moment, als Klauseners Frau von dem Tod ihres Mannes erfährt: Die Frau hört ihn [Hitler im Radio], sie ist angeekelt, aber mittendrin ertönt dann endlich die Hausklingel; sie glaubt nicht recht zu hören, sie rührt sich nicht von der Stelle, steht geneigt über die Rede des Mächtigen und ist ihm schon dankbar, denn sie verbindet ihn nun mit der Klingel, die ihr Mann geläutet haben muß; da ist er vor der Tür, der Führer hat ihn ihr zurückgebracht; so spiegelt sich in der wie gebannt daste‐ henden Frauenfigur ihr Denken und es ist sehr passend, daß nun aus dem Radio eine helle, fast heitere Sonate von Händel kommt; es ist wieder Glück im Haus. Da läutet es zum zweiten Mal, dringlicher, fordernd; das Glück will den Eintritt erzwingen. Und nun ist die Frau auch schon wieder lebendig und stürzt zur Tür. Der Briefträger steht davor, nur der Briefträger. Er bringt ein Paket vom Krematorium; die Asche des Ka‐ tholikenführers Klausner [sic! ] ist darin. 15 Sachtexte, die sich unmittelbar mit Musik beschäftigen, sind in Reglers Werk nicht nennenswert vorhanden. Zu erwähnen ist in diesem Kontext, dass er in dem Funkessay Verwunschenes Land Mexiko (1956, Saarländischer Rundfunk) Tonproben mexikanischer Musik vorstellt und kommentiert. Einer der wenigen Texte, die explizit auf Musik referieren, ist das Reisefeuilleton Kirchen wie ein Menuett von Mozart. Von einer Frühlingsfahrt ins schwäbische Rokoko. 16 Hier tau‐ chen die bereits für Reglers Denken skizzierten Muster wieder auf. Bildende Kunst und Musik fließen zusammen: „Denn dies ist der Glaube von Kopf bis Fuß. Glaube ist die Schwungkraft der Idee, Glaube an das Lächeln der Frau auf dem Hochaltar, Glaube an die Farbe und die Musik.“ 17 Regler kontrastiert aktuelle politische Verwerfungen und Bedrohungen mit der zeitlosen Kraft der Musik: Die Morgenzeitung aber ließ wissen, daß Washington mehr Polaris-Atom-Untersee‐ boote bauen will. Würde uns je - wenn auch nur für einen Tag - die Flucht in die friedliche Zeit des dixhuitième gelingen, das hier Kirchen mit behäbigen Zwiebel‐ türmen baute und Orgeln, auf denen man Bach und Frohberger und den Wiener Kerll spielte? 18 Das Zusammenwirken von Literatur, Bildender Kunst und Musik bei Regler in seiner Qualität und Quantität lässt sich anhand seiner Romanbiographie des Renaissancedichters Pietro Aretino exemplarisch skizzieren. Literatur und Bil‐ 170 Hermann Gätje 19 Vgl. Hermann Gätje: Leben und Leben schreiben. Gustav Reglers autobiographische Schriften. Entstehungsprozess - Fassungen - Gattungsdiskurse. St. Ingbert 2013 [Saar‐ brücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. Bd. 89], S. 181-208. 20 GRW, Bd. IX, S. 32. 21 Ebd., S. 45. dende Kunst nehmen hier eine hervorgehobene Stellung ein: Aretino ist eine Dichterbiographie mit autobiographischen Referenzen. 19 In der Romanhand‐ lung lässt Regler zahlreiche Künstler aus der Zeit (z. B. Tizian, Raffael, Michel‐ angelo) auftreten und projiziert Reflexionen über deren Charakter und Schaffen in die Diegese des Romans. Bezüge zur Musik tauchen zwar nur sporadisch auf, doch unterstreichen sie den Charakter von Reglers Kunstbegriff: Dann aber stand er [Aretino] eines Tages vor einem der Paläste und sah hinter den erleuchteten Fenstern Schatten auf und ab schweben. Wie von ganz ferne hörte er Musik von Flöten und Lauten. Er drückte sich näher an ein vergittertes Fenster und überließ sich für einige Minuten der Ruhe, mit der das Wellenbad der heiteren Weisen ihn gegen seinen Willen umgab. Für Minuten vergaß er, daß er sich mehr wünschte, daß er kein Zaungast des Lebens mehr sein wollte. Einen Augenblick lang dachte er sogar an seine Mutter und an ihre Stimme; ein Wiegenlied fiel ihm ein; er sah die Kathedrale von Arezzo vor sich, sie schwang in weichen, runden romanischen Bögen, und die Berceuse war wie ein Kranz von blauen Wolken um die Kapitäle. 20 Wenn einer hinter ihm die Orgel spielte! Gebadet in solcher Musik würde er dastehen und würde wissen, sie war für ihn bestimmt, sie war seine Erhörung, sein Wunder. 21 Passagen wie diese weisen Affinitäten zu Reglers lyrischem Werk auf. Im Kon‐ text von Reglers Schaffen lässt sich eine Referenz zu Frédéric Chopins Berceuse (Wiegenlied) erkennen, denn Regler hatte diesem ein Gedicht gewidmet, dass in mehreren Fassungen vorliegt, von denen eine hier abgedruckt ist. Chopin nimmt in Reglers wenigen Gedichten, die sich konkret mit Musik beschäftigen, eine zentrale Rolle ein. Die Menge der Gedichte über Musik entspricht dem allgemein und für die anderen Textgattungen konstatierten Befund. In ihrem Charakter korrespondieren sie ebenfalls entsprechend mit Reglers Kunstver‐ ständnis. Bis auf die hier abgedruckten Gedichte finden sich lediglich noch ei‐ nige Varianten, Fragmente und Entwürfe, wobei diese zum Großteil auch auf Chopin Bezug nehmen. Dem steht eine große Anzahl von Gedichten über Werke Bildender Kunst und deren Künstler gegenüber. Das Gedicht über die afroamerikanische Sängerin Marian Anderson (1897 bis 1993) zeigt in seinen politischen Implikationen, wie auch in Reglers Lyrik sein Engagement mitschwingt. Anderson hatte unter rassistischen Anfeindungen zu leiden. 1939 hatte sich die von Regler sehr geschätzte Präsidentengattin Eleanor 171 Gustav Regler und die Musik 22 Richard Powers: Der Klang der Zeit. Frankfurt am Main 2004 [Originalausgabe: The Time of our singing. New York 2003]. Roosevelt in einem besonders eklatanten Fall - eine konservative Frauenorga‐ nisation hatte einen Auftritt verhindert - mit Nachdruck und Öffentlichkeit für sie eingesetzt. Anderson wurde dadurch zu einer Symbolfigur der Bürgerrechts‐ bewegung. Der US-amerikanische Romanautor Richard Powers gab speziell diesem Fall in seinem zeitgeschichtlich fundierten Roman Der Klang der Zeit eine prononcierte Rolle. 22 172 Hermann Gätje 1 Der Beitrag ist eine überarbeitete Fassung eines Texts, der im Rahmen der kommentierten Edition der in Anm. 4 genauer skizzierten Streitschrift Reglers über Manfred Hausmann beigestellt wurde: „gegen diesen Aal kann man nicht an“ oder „il me dégoute, c’est tout“. Der „Exilant“ Gustav Regler ‚verleumdet‘ den „Inneren Emigranten“ Manfred Hausmann. In: Erledigungen. Pamphlete, Polemiken und Proteste. Hrsg. von Marcel Atze und Volker Kaukoreit unter Mitarbeit von Tanja Gausterer und Martin Wedl. Wien 2014 [Sichtungen 14./ 15. Jahrgang], S. 190-205 (Essay und Kommentar zu: Gustav Regler: „Verehrter Herr Hausmann“. Erstveröffentlichung einer ‚Klarstellung‘, 1958. Entwurfs- und Endfassung. In: ebd., S. 182-189). „Gegen diesen Aal kann man nicht an“ Gustav Reglers Kontroverse mit Manfred Hausmann 1958 1 Hermann Gätje Im Frühjahr 1958 veröffentlichte Gustav Regler seine vielbeachtete Autobiogra‐ phie Das Ohr des Malchus, eine romanhafte Beschreibung seines Lebens und seiner Zeit. Darin greift er in einigen Passagen explizit das Verhalten des Schrift‐ stellerkollegen Manfred Hausmann (1898 bis 1986) während der NS-Zeit auf: Ich empfand es wiederum als beschämend: in Deutschland versammelten sich die Generäle um den neuen Oberbefehlshaber; vom Schrifttum hörte man überhaupt nichts oder nur die peinlich erzwungene oder sklavisch begrüßte Gleichschaltung von Dichtern. Wohl setzte der „Doktor“, wie Goebbels sich nennen ließ, einige von ihnen, wie Manfred Hausmann, in goldene Käfige, aber sie sangen deshalb nicht besser. Sie alle hätten Goebbels sagen können, daß man Völker nicht durch Scheiterhaufen von Büchern erleuchtet; sie alle hätten den Gundolf-Schüler an seinen Lehrer erinnern können und an das Märchen aus Tausendundeiner Nacht, in dem der Wesir den Ty‐ rannen noch nach der Hinrichtung belehrt, daß mit dem Blut des Weisen auch das Buch der Weisheit vergiftet und unbrauchbar gemacht worden ist. Aber sie schwiegen und nannten sich erst viel später die „innere Emigration“, als ihnen die Adligen des 20. Juli 1944 zuvorgekommen waren. Einige wagten es, George zu zitieren, selbst 2 Gustav Regler: Das Ohr des Malchus. Köln und Berlin 1958, S. 269-270. Zu dem im Zitat erwähnten Heidelberger Dichter und Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf (1880 bis 1931), den Goebbels gerne als Doktorvater gehabt hätte, vgl. Ralf Georg Czapla: Ein Leben im Zitat. Joseph Goebbelsʼ Weg vom Germanisten zum Politiker. In: akten-kundig? Literatur, Zeitgeschichte und Archiv. Hrsg. von Marcel Atze / Thomas Degener / Michael Hansel / Volker Kaukoreit. Wien 2009 [Sichtungen 10./ 11. Jahrgang], S. 221-245, hier S. 227. 3 Regler: Das Ohr des Malchus (Anm. 2), S. 518f. 4 In Archivbeständen finden sich zwei Fassungen: eine Endfassung als Reintyposkript (Nachlass Regina Peregrin, Deutsches Literaturarchiv Marbach) und ein Entwurf (GRA). Beide wurden als Paralleledition - das Reintyposkript ediert, der Entwurf als Faksimile - unter dem Gesamttitel „Verehrter Herr Hausmann“. Erstveröffentlichung einer ,Klar‐ stellung‘, 1958. Entwurfs- und Endfassung (Anm. 1) veröffentlicht. Nach dieser Publika‐ tion wird hier zitiert. 5 Brief von Gustav Regler an Fritz Cobet, 8. Juli 1961, GRA. Goebbels wagte es, er bot dem „Meister“ sogar einen Preis an, erhielt allerdings nie eine Antwort. 2 Ich muß die Bemerkung über Manfred Hausmann modifizieren: Er scheint nie ein Parteibuch gehabt zu haben, vielleicht eins, das man ihm aufzwang. Doch wurde ihm nie aufgezwungen, bei einer Feier des Propagandaministers sein Sektglas zu heben, es auf Frau Goebbels zu leeren und mit einem aus seinen Wandervogelbüchern be‐ kannten Dünenjauchzer an der Wand zu zerschmettern. Ebenso konnte mich auch ein Porträt von ihm nicht als pazifistisch oder calvinistisch überzeugen, auf dem er einen Stahlhelm trägt und sein Volk auffordert, den Gürtel enger zu schnallen fürs neue, große Reich. 3 Hausmann sah sich dadurch verleumdet und drohte mit juristischen Schritten. Daraufhin verfasste Regler im September 1958 ein längeres Schreiben an diesen, in dem er seine Positionen vertiefte und präzisierte. 4 Dieser Text war nicht als persönlicher Brief, sondern als „satirisches Porträt von M.H.“ konzipiert, blieb aber unpubliziert. 5 In dem Pamphlet fließen Individuum und Zeitgeschichte pointiert zusammen. Es wirft ein Licht sowohl auf die persönliche Bekanntschaft zwischen Regler und Hausmann als auch auf ihre Lebenswege vor dem Hintergrund der Ge‐ schichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zugleich ist das Dokument ex‐ emplarisch für den Diskurs der Zeit und das Verhältnis zwischen Exilschriftstellern und den in Deutschland gebliebenen Autoren. Die Arbeitsfassung ist in diesem Kontext noch aufschlussreicher, denn sie visualisiert die Emotionalität und unmittelbare Betroffenheit Gustav Reglers in dieser Debatte. 174 Hermann Gätje Abb. 1: Autorenseite von Manfred Hausmann. In: Dichter unter den Waffen. Ein Kriegs‐ almanach deutscher Dichtung. Hrsg. von Heinz Riecke. Leipzig [1940]. Regler bezieht sich konkret auf dieses Dokument: „Es ist ein Mann im Stahlhelm und der Uniform des dritten Reiches; darunter ein Marschlied - o ich habe mich schrecklich geirrt, als ich schrieb, dass Sie Deutschland aufforderten, den Gürtel strammer zu ziehen; Sie dachten nicht an den Hunger Europas; Sie meinten das Gewehr, aber ich zitiere lieber: Da weiss, da rot, da sternumzackt, […] Es war also noch weniger pazifistisch als ich auf Seite 518 meines Anhangs sagte: es war auch nicht calvinistisch: Die Füsse gehn im gleichen Schritt, […]“ (Regler: Hausmann [Anm. 1], Endfassung, S. 186). Dieses Dokument war bei der Erstpublikation noch nicht ermittelt. Den Hinweis darauf verdanke ich Fred Ober‐ hauser (†). 175 „Gegen diesen Aal kann man nicht an“ Die Biographien von Regler und Hausmann weisen markante Parallelen auf. Beide Autoren wurden 1898 geboren, kämpften als ganz junge Männer im Ersten Weltkrieg, wurden schwer verwundet, studierten Literaturwissenschaft, schlossen in München mit einer Promotion ab. Beide sind Angehörige einer Kriegsgeneration, die von einer kollektiven Sinnkrise geprägt war. Regler hatte nach dem Studium zunächst als Kaufmann im Betrieb des Schwiegervaters ge‐ arbeitet, nach dem Scheitern seiner Ehe wurde er Journalist und Schriftsteller. 1928 besuchte er erstmals die Künstlerkolonie Worpswede, lernte Marie Luise Vogeler (1901 bis 1945) kennen, die älteste Tochter des Malers Heinrich Vogeler (1872 bis 1942), die bald darauf seine Lebensgefährtin wurde. An diesem sym‐ bolträchtigen Ort begegneten sich zu dieser Zeit auch Gustav Regler und Man‐ fred Hausmann, der mit Marie Luises Mutter Martha Vogeler (1879 bis 1961) gut bekannt war, zum ersten Mal. Manfred Hausmann hatte nach dem Studium eine Kaufmannslehre absolviert, war danach Feuilletonredakteur bei der Weser-Zeitung in Bremen. 1924 veröffent‐ lichte er sein erstes literarisches Buch, die Novellensammlung Die Frühlingsfeier, die wie der 1925 folgende Erzählungsband Orgelkaporgel ein Erfolg war. So konnte sich der begeisterte Anhänger der Wandervogelbewegung einen Wunsch erfüllen und reiste ab Ende 1925 ein Jahr als Landstreicher durch Deutschland. 1927 ließ sich Hausmann als freier Schriftsteller in Worpswede nieder. Auch wenn Regler und Hausmann nicht eng befreundet waren, traf man sich bei Martha Vogeler im Worpsweder Haus im Schluh häufiger. Es finden sich zwar kaum unmittelbare Zeugnisse der gegenseitigen Bekanntschaft, doch sind diese wenigen Materialien ebenso aussagekräftig wie der im Zentrum der Betrach‐ tung stehende Text. Sie erstrecken sich über einen Zeitraum von 1928 bis 1961 und tangieren markante charakterliche und biographische Facetten der Au‐ toren. Aus diesen Dokumenten lassen sich sowohl in der Affinität zueinander als auch in der Gegensätzlichkeit der zwei Schriftsteller einige Entwicklungsli‐ nien aufzeigen, die die Auseinandersetzung von 1958 beleuchten. Beide veröffentlichten 1928 ihre ersten Romane. Für Regler war es die erste literarische Buchpublikation überhaupt, Hausmann hatte vorher bereits einige Bände mit Erzählungen publiziert. Die Romane sind bemerkenswert, weil sich in ihnen und ihrem autobiographischen Subtext sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die unterschiedlichen Temperamente der beiden Autoren spiegeln. Zudem finden sich sogar ihre weiteren Lebenswege antizipiert. Beide Romane lassen sich als Ausdeutungen des Ausstiegs ihrer Autoren aus einer gesicherten bürgerlichen Existenz lesen. Reglers Roman Zug der Hirten ist eine Adaption der 176 Hermann Gätje 6 Gustav Regler: Zug der Hirten. Lübeck 1929 [vordatiert, recte: 1928]. 7 Manfred Hausmann: Die junge Generation. In: Die Tide (Bremen) 5 (1928), S. 621-626, hier S. 624f. 8 Manfred Hausmann: Lampioon küßt Mädchen und kleine Birken. Roman. Bremen 1928. 9 Manfred Hausmann: Salut gen Himmel. Roman. Berlin 1929. biblischen Geschichte des Auszugs des Volkes Israel aus Ägypten. 6 Er schreibt die Vorlage interpretierend um und lässt in diesen zeitlosen Mythos Parallelen zur Gegenwart einfließen. Die beschwerliche Reise ins Gelobte Land unter einem unerbittlichen Führer Moses steht für die zeittypische utopische Sehn‐ sucht. Während dieser Roman noch fragend und abwägend ist - Regler stellt z. B. sehr subtil eine Dialektik zwischen Moses und dem mäßigenden Aron he‐ raus -, glaubte der Autor kurz danach in seiner Hinwendung zum Kommu‐ nismus den richtigen Weg gefunden zu haben. Hausmann rezensierte Reglers Erstling in einer als Gespräch zwischen Vater und Sohn respektive Dialog der Generationen gestalteten Sammelrezension mehrerer Bücher äußerst positiv. 7 In diesem Kontext stellt er den Autor als „An‐ gehörigen der sachlichen Jugend“ heraus und drückt damit auch eine empfun‐ dene Seelen- und Schicksalsverwandtschaft unter Zeit- und Generationsge‐ nossen aus. Hausmann lobt das gelungene Wagnis, diese altbekannte Geschichte noch einmal neu zu erzählen. Er selbst veröffentlichte den Roman Lampioon küßt Mädchen und kleine Birken, der auf den Erfahrungen seines Jahres als Landstreicher beruht. 8 Im Ge‐ gensatz zu Reglers ‚Auszug‘ steht Hausmanns Roman für ein naturverbundenes Ideal, einen ‚Rückzug‘ aus der zunehmend hektischer und unübersichtlicher werdenden Zeit. Lampioon wurde ein großer Erfolg, ebenso wie die unmittelbare Fortsetzung Salut gen Himmel, die 1929 erschien. 9 Beide Bücher sind in einem Prozess entstanden und lassen sich werkgenetisch als Einheit begreifen. Sie schildern Episoden aus dem Leben der Hauptfigur Lampioon, der als Jugendli‐ cher einen Menschen getötet hat, die bürgerliche Existenz verlassen hat und als Landstreicher durch die Welt zieht. Er begegnet dabei immer wieder Menschen, denen die Tragik des Lebens mitgespielt hat, und setzt dem, in bisweilen naiv-sinnlich wirkendem Gestus, ein Ideal der stillen Harmonie des Menschen mit der Natur und christlicher Nächstenliebe entgegen. Reglers ironische An‐ rede „Lieber Lampion“ und die entsprechenden Anspielungen auf Hausmanns Figuren in der Streitschrift von 1958 drücken besonders drastisch den Zwiespalt zwischen diesem sanftmütigen Prinzip und der brutalen NS-Herrschaft aus. In einem Brief an Martha Vogeler vom 5. Januar 1930 gibt Regler seine Lese‐ eindrücke von Salut gen Himmel wieder: 177 „Gegen diesen Aal kann man nicht an“ 10 Brief Gustav Regler an Martha Vogeler, 5. Januar 1930, Haus im Schluh, Worpswede. Lisel Oppel (1897 bis 1960) war eine Worpsweder Malerin. 11 Arn Strohmeyer: Der Mitläufer. Manfred Hausmann und der Nationalsozialismus. Bremen 1999. Aber ich mochte doch gern wissen, wer recht hat: der das Buch für ein Belangloses hält oder der andere der es für ein Begabtes erklärt. Was sagt Liesel Oppl [sic! ]? Ich stellte mir gestern im D-Zug vor, dass sie gleichzeitig mit mir den Salut gen Himmel abfeuern hörte (übrigens welch ein irreführender Titel! ! [)] Man meint doch, das sei eine feurige Sache, ein Böllerschuss zu der Wohnung des alten Herrn, aber es heisst dann an der einen Stelle, dass man, wenn’s gar zu schlecht geht, sich damit helfen soll, einmal gen (warum übrigens „gen“? ) Himmel zu grüssen und zu sagen: Jawohl, ver‐ standen, ich salutiere ergebenst. 10 Diese Äußerung verweist pointiert auf die entgegengesetzten Schriftstellertem‐ peramente, wie die Romane sinnbildlich die unterschiedlichen Lebensentwürfe repräsentieren. Hausmann zog sich in die Naturidylle zurück, bis 1950 wohnte er in Worpswede, danach erwarb er ein Haus im ländlichen Bremen-Rönnebeck, wo er bis zu seinem Tod lebte. Regler hingegen begab sich mit Marie Luise in die Großstadt Berlin, wurde Kommunist, ging ins Exil, nahm als Politischer Kommissar am Spanischen Bürgerkrieg teil, reiste zweimal in die Sowjetunion, brach 1942 im mexikanischen Exil mit dem Kommunismus, wurde mexikani‐ scher Staatsbürger und führte in den 1950er Jahren ein Pendlerleben zwischen Mexiko und seinen verschiedenen Anlaufpunkten in Europa, unter anderem weilte er auch häufig bei der Mutter seiner 1945 verstorbenen Ehefrau Marie Luise in Worpswede. Während Regler in der Hauptstadt an der großen Revolution arbeitete, saß Manfred Hausmann bis 1933 für die SPD im Worpsweder Gemeinderat. Sein Verhalten während der NS-Zeit wird bis heute kontrovers diskutiert und ist Gegenstand einiger Publikationen. Während die einen seine mutige Haltung hervorheben (dass er zum Beispiel der jüdischen Familie S. Fischer immer bei‐ gestanden hat), stellen andere seine Anpassung heraus. Arn Strohmeyer cha‐ rakterisiert Hausmann unter Heranziehung zahlreicher Dokumente in einer 1999 erschienenen umfassenden Studie als Mitläufer, der seine Rolle in der NS-Zeit nach dem Krieg verharmlost und geschönt habe. 11 Dass diese Vorwürfe nicht neu sind, belegt Reglers Pamphlet. Er untermauert seine Angriffe hauptsächlich mit dem Artikel Das Großdeutsche Dichtertreffen in Weimar - Ein Überschlag und Ausblick von Manfred Hausmann, der in der NS-Zeitschrift Das Reich am 3. November 1940 erschien (vgl. Abb. 2). Goebbels 178 Hermann Gätje 12 Regler: Hausmann (Anm. 1), Endfassung, S. 186/ 188 bzw. Entwurf S. 187/ 189. Der Artikel nimmt auch in Strohmeyers Studie einen zentralen Platz ein (Strohmeyer: Der Mitläufer [Anm. 11], S. 46-52). hatte bei dem Treffen die Eröffnungsrede gehalten. Regler zitiert und glossiert diesen Text ausführlich. 12 Abb. 2: Das Großdeutsche Dichtertreffen in Weimar - Ein Überschlag und Ausblick von Manfred Hausmann, in: Das Reich (3. November 1940). Den Bogen zu der zentralen, 1945 begonnenen Debatte um das Verhältnis von äußerer und innerer Emigration schlägt eine Anspielung Reglers auf Thomas Mann. Sie illustriert seinen Streit mit Hausmann in einem größeren Kontext: 179 „Gegen diesen Aal kann man nicht an“ 13 Regler: Hausmann (Anm. 1), Endfassung, S. 184/ 186. 14 Regler: Hausmann (Anm. 1), Entwurf, S. 185. 15 Vgl. Die grosse Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Hrsg. und bearb. von J[ohannes] F[ranz] G[ottlieb] Grosser. Hamburg 1963. 16 Thomas Mann: Warum ich nicht zurückkehre! In: Die grosse Kontroverse (Anm. 15), S. 27-36, hier S. 30-31. 17 Vgl. Strohmeyer: Der Mitläufer (Anm. 11), S. 69. [S]eit man in Deutschland hörte, dass Sie den hochverehrten, uns alle himalajahoch überragenden Thomas Mann schmähten, weil er in der Zeit, da man in Deutschland Bücher verbrannte, sich lutherisch ereiferte über die undeutsche Verfolgung des Geistes, […] 13 [S]eit man in Deutschland hörte, dass Sie dem hochverehrten, uns alle himalaja-hoch überragenden toten Mann zürnten, weil er in Deutschlands schwieriger Zeit, nämlich in den Tagen der Bücherverbrennung, sich gegen die ereifert hat, die er als Deutsch‐ lands unwürdig erachtet, […] 14 Regler bezieht sich auf Manfred Hausmanns Kritik an Thomas Mann im Weser-Kurier vom 28. Mai 1947. Im Wesentlichen bezog Hausmann dabei Posi‐ tionen, die bereits in der „Großen Kontroverse“ von 1945 geäußert wurden. 15 Walter von Molo und Frank Thiess hatten im August 1945 Thomas Mann zur Rückkehr nach Deutschland aufgefordert. In seiner ablehnenden Antwort for‐ mulierte Thomas Mann seine Position: Fern sei mir Selbstgerechtigkeit. Wir draußen hatten gut tugendhaft sein und Hitler die Meinung sagen. Ich hebe keinen Stein auf, gegen niemanden. Ich bin nur scheu und ‚fremde‘ wie man von kleinen Kindern sagt. Ja, Deutschland ist mir in all diesen Jahren doch recht fremd geworden. […] Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. 16 Daraus entwickelte sich eine heftig geführte Debatte, in der die grundsätzlichen moralischen und ästhetischen Fragen der Autoren und der Literatur in NS-Deutschland diskutiert wurden. Hausmann äußerte 1947 die Meinung, dass Thomas Mann, wenn er nicht zurückkehre, die existentielle Situation der Men‐ schen in Deutschland nicht beurteilen könne und schweigen solle. 17 Zudem un‐ terstellte er Thomas Mann, dass dieser 1934 in einem Brief an Reichsinnenmi‐ nister Frick seinen Wunsch nach einer Rückkehr nach Deutschland bekundet 180 Hermann Gätje 18 Thomas Mann: [Brief an die „Neue Zeitung“ wegen einer Behauptung von Manfred Hausmann]. Frankfurt am Main 2011 (ebook), o. P. 19 Regler war im Spanischen Bürgerkrieg schwer verwundet worden. 20 Regler: Hausmann (Anm. 1), Endfassung, S. 184. habe, wogegen Mann in einem Brief an die Neue Zeitung vom 25. Juni 1947 dezidiert widersprach. 18 Auch wenn der Zwist zwischen Regler und Hausmann von den zentralen Standpunkten dieser Kontroverse bestimmt ist, weist er dennoch einige spe‐ zielle Nuancen auf. Während die Protagonisten der Debatte von 1945 vor der NS-Zeit bereits etablierte und ältere Autoren wie Thomas Mann oder Walter von Molo waren, standen sich mit Regler und Hausmann zwei Autoren jener oben skizzierten Generation gegenüber, deren Jugend vom Frontkrieg und den schwierigen Verhältnissen nach 1918 überschattet war. Regler führt denn auch gleich am Anfang seiner Schrift mit Nietzsche, Rilke und Stefan George einige Idole seiner Altersgenossen an. Deren ästhetisierte Glorifizierung des Idealmenschen und des Heroismus sieht er als mitverantwortlich für fehlge‐ leiteten jugendlichen Idealismus. Sie habe den Glauben an kollektive Heils‐ lehren begünstigt und damit den Weg in die Katastrophe des 20. Jahrhun‐ derts mit verursacht. Ein ganz wichtiges Moment ist in diesem Zusammenhang, dass Regler seine kommunistische Vergangenheit in Bezug zu Hausmanns NS-Verstrickung setzt: [I]ch bin schuldig, meine Zweifel an den Utopien dieses Jahrhunderts erst dann hinausgeschrieen zu haben, als mein Rücken schon gespickt war mit demselben Na‐ zistahl, der 1944 dann auch in den edlen Stauffenberg hineingeschossen wurde. 19 Welches ist nun der Unterschied zwischen uns persönlich, der Sie so aufregt? Dass ich Wacholderschnaps mit Gorki und am gleichen Tisch wie Molotoff trank, Sie Sekt bei Goebbels? 20 Regler hatte bereits 1941/ 1942 in seinem Spanienroman Juanita und der auto‐ biographischen Kampfschrift Sohn aus Niemandsland, beide stellen die unmit‐ telbare literarische Bilanz seines Bruchs mit dem Kommunismus dar, Parallelen zwischen den totalitären Ideologien des Nationalsozialismus und des Stali‐ nismus gezogen. Eindringlich warnte er vor den „Aposteln des Absoluten“ und entwarf die Vision einer „decent world“. Es ist hier nicht der Ort, alle Vorwürfe Reglers einzeln zu überprüfen und zu kommentieren, daher sei auf die entsprechende Literatur über Hausmann ver‐ wiesen. Unbestritten ist, auch Strohmeyer betont dies, dass Manfred Hausmann kein NS-Autor wie Hanns Johst oder Will Vesper war. Hausmann selbst sah sich im Nachhinein als Schriftsteller der Inneren Emigration. Die zahlreichen Fakten 181 „Gegen diesen Aal kann man nicht an“ 21 Brief Manfred Hausmann an Marie Luise Vogeler, 16. April 1936, LASLLE. Mit „Ferdi“ ist der damalige NS-Ortsgruppenleiter von Worpswede Ferdinand Stolte (1900 bis 1972) gemeint. und Textbelege über seine Rolle in der NS-Zeit werden in der Literatur unter‐ schiedlich gedeutet. Trägt man alle Äußerungen abwägend zusammen, so ent‐ steht ein ambivalentes Bild von Manfred Hausmann. Manche Handlungen lassen sich vielleicht psychologisch auf eine Gemengelage aus Angst, Resigna‐ tion, Heimatverbundenheit, Wunsch nach Lebensqualität und einem nicht un‐ eitlen Geltungsbedürfnis als Schriftsteller zurückführen, was nach der NS-Zeit in eine Mischung aus schlechtem Gewissen, Verdrängung und Selbstrechtferti‐ gung mündete. Der Zwiespalt seines Verhaltens lässt sich, heuristisch auch auf andere Fälle übertragbar, an einem bislang nicht von der Forschung rezipierten Dokument illustrieren. Es handelt sich um einen kryptischen Brief von Manfred Hausmann vom 16. April 1936 an Marie Luise Vogeler, die mit Gustav Regler im Pariser Exil lebte. Er berichtet darin durchaus positiv klingend von den neuesten Entwicklungen in Worpswede: Was gibt es Neues aus Worpswede? Käta Stolte hat soeben einen gewaltigen Jungen gekriegt. Ihr seht, der Lebenswille unseres Volkes ist noch ungebrochen. Ferdi aller‐ dings hat Bankrott gemacht, […] Allerdings muss man seine mutige Haltung bewun‐ dern. Er ist der Leiter der hiesigen Ortsgruppe der NS.Kulturgemeinde und soll sogar, wie es heisst, der politische Leiter unseres Ortes werden. Da kann man so recht sehen, wie wenig äussere Schicksalsschläge ihm anzuhaben vermögen. Mir kommt es so vor, als ob das überall in unserem Vaterland so wäre und als ob es geradezu ein Sinnbild für ganz Deutschland wäre. 21 Man muss jedoch einräumen, dass diese Passagen wegen einer möglichen Zensur geschönt oder getarnt sein könnten, denn eine Stelle des Briefs ist zwei‐ felsohne chiffriert: Liebe Mieke, von Bettina, die uns so viel Interessantes und Erfreuliches von Ihnen allen erzählt hat, hörte ich, dass Anna sich für Seeräubergeschichten interessiert. Viel Material habe ich ja nun gerade nicht. Immerhin lasse ich doch mit der gleichen Post zwei Bücher an Sie abgehen, die vielleicht einiges enthalten, was sachlich wissenswert ist: „Hasko, der Wassergeuse“ […] und „Die deutschen Segelschiffe“, ein reizend aus‐ gestattetes Büchlein, aus dem Anna eine Menge über Schiffstypen lernen kann. Früher habe ich einmal einen Roman namens „Godekes Knecht“ von Hans Leip gelesen, der, wenn ich mich recht erinnere, zur Zeit Störtebeckers [sic! ] und der Likedeeler spielt. 182 Hermann Gätje 22 Ebd. Bettina Müller-Vogeler (1903 bis 2001) ist die in Worpswede lebende Schwester von Marie Luise. 23 Von dem Text ist nur ein handschriftliches Fragment mit dem Titel Gottes Freund, aller Welt Feind überliefert (GRA), das ediert wurde in GRW, Bd. III. 24 Gustav Regler: Journal d’Europe. In: Texte und Zeichen 2 (1956), H. 4, S. 408-430. 25 Aus diesem Grund wurde Das Ohr des Malchus in diesem Beitrag nicht nach GRW, sondern nach der Erstausgabe zitiert. Vielleicht ist er in irgend einer pariser [sic! ] Bibliothek zu haben. Schlimmstenfalls würde ich versuchen, ihn hier aufzutreiben. 22 „Anna“ ist eine Verschlüsselung des ausgebürgerten und exilierten Gustav Regler (er hatte den Spitznamen Anselm). Im Frühjahr 1936 arbeitete er an einem historischen Roman über die am Ende des 14. Jahrhunderts in der Nord- und Ostsee umtriebigen sogenannten ‚Vitalienbrüder‘ um Gödeke Michels und Klaus Störtebeker, für dessen Recherchearbeiten ihn Hausmann mit seinen Literatur‐ angaben offenbar unterstützen wollte. 23 Reglers Bitterkeit und seine gegenüber Hausmann empfundene Ungerech‐ tigkeit des Schicksals lassen sich aus seiner Lebensgeschichte seit 1933 ver‐ stehen. Sein Exil war alles andere als sicher, er hatte ständig materielle Probleme, wurde in Spanien verwundet, in Frankreich 1939 interniert, konnte gerade rechtzeitig vor dem Einmarsch der Wehrmacht 1940 fliehen. Der moralisch fun‐ dierte endgültige Bruch mit dem Kommunismus 1942 bedeutete das Ende einiger existentiell wichtigen sozialen Beziehungen. Relativ isoliert lebte er in Mexiko und war auch Schikanen und Intrigen seiner ehemaligen Parteifreunde ausge‐ setzt. Nach dem Krieg gelang es ihm nur schwer, wieder in der Literaturszene Fuß zu fassen, den einen galt er als Kommunist, den anderen als Verräter. Ver‐ bittert beklagte Regler in seinem Essay Journal d’Europe (1956) den Umgang der Bundesrepublik mit der NS-Geschichte. 24 Symptomatisch erschien ihm, dass der Kommentator der Nürnberger Gesetze Hans Globke (1898 bis 1973) nun unter Konrad Adenauer Kanzleramtschef war. Während Regler nur mit Mühen einige Bücher veröffentlichen konnte, hatte Hausmann Auflagen in die Hunderttau‐ sende. Bezeichnend ist, dass in jenem Jahr 1958, als beide Autoren den sech‐ zigsten Geburtstag feierten, der des einen von der Öffentlichkeit praktisch un‐ beachtet blieb und bei dem anderen Medien und Politprominenz gratulierten. Konkret einigte man sich im Fall der Passagen von Das Ohr des Malchus schließlich außergerichtlich. Der Verlag sicherte zu, dass nach dem Verkauf der ersten Auflage von 5000 Exemplaren Manfred Hausmann nicht mehr in dem Buch erscheinen werde. So findet sich in den weiteren Auflagen und anderen Ausgaben anstelle des Namens nun ein „N. N.“, wobei relativ leicht ersichtlich ist, wer gemeint ist. 25 183 „Gegen diesen Aal kann man nicht an“ 26 Brief Fritz Cobet an Gustav Regler, 4. Juli 1961, GRA. 27 Brief Gustav Regler an Fritz Cobet, 8. Juli 1961, GRA. Mit „Beermann“ ist Gottfried Bermann Fischer (1897 bis 1995) gemeint. Wie sehr diese Angelegenheit Regler über Jahre noch bewegte, zeigt ein Briefwechsel mit dem Bremer Maler und Graphiker Fritz Cobet (1885 bis 1963). Cobet hatte im Zuge eines Streits mit Hausmann auf die Passagen in Das Ohr des Malchus verwiesen und bat nun Regler um eine Stellungnahme. 26 Dieser antwortete resignativ: Sehr geehrter Herr Cobet - soll nun wirklich vom Grab der Oma Vogeler [Martha Vogeler] aus diese Polemik mit dem Birkenkuesser wieder erneuert werden. […] Ich habe diesen Kampf nicht weitergefuehrt, weil M.H. persoenlich und ziemlich heuch‐ lerisch sich bei meinem Verleger einfand, mit Drohungen, wohl inspiriert von diesem zweitklassigen Verleger Beermann [sic! ], die bis zur Konfiskation meines Buches gingen; ich will mit ihm nicht kaempfen; er ist solch eine typische Erscheinung unsrer moralisch chaotischen Zeit, ich bin kein Charly Chaplin, und habe ausserdem wich‐ tigere Dinge zu tun; il me dégoute, c’est tout. […] Noch eins: zitieren Sie bitte nichts aus diesem Brief; ich bin nicht feige, aber gegen diesen Aal kann man nicht an; der rutscht aus, und ich moechte nicht das Opfer seines tiefen Verdrusses über seine offensichtliche literarische Impotenz sein. 27 184 Hermann Gätje Rechtevermerk S. 97-108 Gustav Regler: Heinrich Heine. Zu seinem 80. Todestag. © Annemay Regler-Repplinger, Merzig. S. 145-163 Gustav Regler: Ausgewählte Texte zur Musik. © Annemay Regler-Repplinger, Merzig. Über die Autoren Hermann Gätje, geboren 1962 in Tübingen, studierte Germanistik und Sozio‐ logie in Saarbrücken. Magister Artium 1992, Promotion 2013 mit einer Studie über die autobiographischen Schriften von Gustav Regler, seit 1990 Mitarbeit im Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes, seit 1998 dort wissenschaftlicher Mitarbeiter, Mitherausgeber der Gustav-Regler-Werk‐ ausgabe. Forschungen zur Literatur der Grenzregion Saar-Lor-Lux-Elsass, zu literarischen Paradigmen und Intertextualität. Sikander Singh, geboren 1971 in Bonn-Bad Godesberg, studierte Germanistik, Anglistik, Amerikanistik und Kanadistik in Düsseldorf, Montréal und Zürich. Magister Artium 1998, Promotion 2002 mit einer Arbeit zur Wirkungsgeschichte der Werke Heinrich Heines, 2009 Habilitation mit einer Studie über Christian Fürchtegott Gellert und die europäische Aufklärung. Professor für Neuere deut‐ sche Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes und seit 2011 Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass. Arbeiten zur deutschen Literatur von der Barockzeit bis zur Gegenwart sowie zu Fragen der Komparatistik, der Re‐ zeptions- und Wirkungsästhetik.