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Was grammatische Kategorien miteinander machen

2011
978-3-8233-7671-2
Gunter Narr Verlag 
Eva Mayerthaler
Claudia Elisabeth Pichler
Christian Winkler

Die Festschrift spiegelt die Bandbreite von Ulrich Wandruszkas Werk wider: Anhand von Beispielen aus dem Italienischen, Französischen, Spanischen und Deutschen werden komplexe Form-Inhaltsrelationen grammatischer Kategorien zwischen Morphosyntax, Semantik, textstruktur und Pragmatik analysiert. die Beiträge würdigen auch das enorme philologische 2Gepäck" des Jubilars, indem gezeigt wird, wie eine detaillierte einzelsprachliche (auch historische) Untersuchung immer wieder zu überraschenden Ergebnissen führt, die bisherigen typologischen oder vorwiegend theoriebasierten Annahmen widersprechen.

Eva Mayerthaler / Claudia Elisabeth Pichler Christian Winkler (Hrsg.) Was grammatische Kategorien miteinander machen Form und Funktion in romanischen Sprachen von Morphosyntax bis Pragmatik Festschrift für Ulrich Wandruszka Was grammatische Kategorien miteinander machen Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 527 Was grammatische Kategorien miteinander machen Form und Funktion in romanischen Sprachen von Morphosyntax bis Pragmatik Festschrift für Ulrich Wandruszka Eva Mayerthaler / Claudia Elisabeth Pichler / Christian Winkler (Hrsg.) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Veröffentlicht mit Unterstützung des Forschungsrates der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-6671-3 Tabula gratulatoria G ERALD B ERNHARD Bochum L ENA B USSE Potsdam A NDREAS D UFTER Erlangen-Nürnberg A NGELA F ABRIS Klagenfurt C HRISTOPH G ABRIEL Hamburg H ANS G EISLER Düsseldorf H ANS G OEBL Salzburg G ERDA H ASSLER Potsdam M AIDER I NSUNZA R AMÓN Velden a. W. D ANIEL J ACOB Freiburg A LLAN J AMES Klagenfurt P ETER K OCH Tübingen N UNZIO L A F AUCI Zürich M ARTINA M EIDL Klagenfurt M ARIA C RISTINA UND H ELMUT M ETER Klagenfurt W OLFGANG J. M EYER Hamburg W ULF O ESTERREICHER München H EINZ -D IETER P OHL Klagenfurt E VA -M ARIA R EMBERGER Konstanz E LMAR S CHAFROTH Düsseldorf 8 Tabula gratulatoria C LAUDIA S CHLAAK Potsdam M ARIA S ELIG Regensburg T HOMAS S TEHL Potsdam A CHIM S TEIN Stuttgart W OLF -D IETER S TEMPEL München R AYMUND W ILHELM Bochum Fachbibliothek für Romanistik, Karl-Franzens-Universität Graz Institut für Griechische und Lateinische Philologie, Romanistik und Altamerikanistik Rheinische Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn Institut für Italienische Sprache und Literatur Universität Bern Institut für Romanische Philologie, Philipps-Universität Marburg Institut für Romanistik Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Institut für Romanistik, Universität Rostock Institut für Romanistik, Universität Salzburg Institut für Romanistik, Universität Wien Universitätsbibliothek der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Inhaltsverzeichnis Vorwort ............................................................................................................. 11 Biographie Ulrich Wandruszka ...................................................................... 19 Schriftenverzeichnis Ulrich Wandruszka ..................................................... 23 Claudia Pichler Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse - Eine kategorialgrammatische Betrachtung ......................................................... 31 Christoph Schwarze Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen in einem Schichtenmodell.................... 57 Sabine Laaha, Dominique Bassano, Isabelle Maillochon und Wolfgang U. Dressler Constructions synthétiques et analytiques dans l’acquisition de la flexion verbale en français et allemand autrichien .............................................. 79 Hans Geisler Wie sinnlich sind grammatische Kategorien? ..................................................... 93 Michael Metzeltin Referentielle Semantik als Verstehensinstrument ............................................ 109 Daniel Jacob Was Wortarten miteinander machen: syntaktische Kategorien zwischen semantischer Funktion und struktureller Einbettung....................... 129 Werner Abraham Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung von erzählerischem Vorder- und Hintergrund .............................. 145 Thomas Krefeld ,Mi sbattissi a testa mura mura’ sizilianische Reduplikationsadverbiale ....... 171 Inhaltsverzeichnis 10 Elisabeth Stark L'expression de la réciprocité dans trois langues romanes................................ 183 Barbara Wehr Para-Diathesen im Italienischen ....................................................................... 201 Stefan Schneider Die Entstehung einer neuen Kategorie: Reduzierte parenthetische Teilsätze im Alt-, Mittel- und Neufranzösischen ............................................. 225 Giampaolo Salvi ,forse cui’: Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi .................... 245 Georg Kremnitz Zur Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken: Katalanisch, Baskisch und Galicisch im Vergleich............................................ 269 E-Mail-Adressen der Autorinnen und Autoren......................................... 285 Vorwort Die Herausgabe einer Festschrift ist bekanntlich kein ganz einfaches Unterfangen. Schon bei der Entscheidung, welche Autorinnen und Autoren zu einem Beitrag eingeladen werden sollten, ist es unvermeidlich, auf Schwierigkeiten zu stoßen und Fehler zu begehen: für manche kam unsere Einladung zu spät oder war im zu bewältigenden Arbeitspensum nicht unterzubringen. In Zeiten, in denen jede Publikation auch im Hinblick auf das Punktesystem für die Forschungsleistung bedacht wird und werden muss, sehen sich manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht mehr in der Lage, zu dem von manchen als altmodisch empfundenen Publikationstyp „Festschrift“ beizutragen. Leider mussten wir durch Absagen im letzten Moment auch auf Beiträge verzichten. All jene, die gerne beigetragen hätten und nicht eigeladen wurden, mögen uns dies verzeihen; sie werden eigene Wege finden, den Jubilar zu beglückwünschen. Da Ulrich Wandruszka Ende September 2010 emeritiert wurde, hatten wir keine Unterstützung durch eine/ n Lehrstuhlinhaber/ in, ein Problem, das durch die personelle und infrastrukturelle Knappheit des kleinen Klagenfurter Instituts noch verschärft wurde. Umso mehr freuen wir uns, trotz aller Stolpersteine nun diese Festschrift vorzustellen, welche die große Bandbreite von Ulrich Wandruszkas Werk von Wortbildung, Flexionsmorphologie, Morphosyntax, Syntax, Semantik bis hin zur Textlinguistik und Pragmatik widerspiegelt. Im Diskurs über seine „geliebte“ Kategorialgrammatik benutzt Ulrich Wandruska besonders gerne folgende Metapher: „eine Kategorie X macht mit einer Kategorie Y die Kategorie Z“. Der etwas ungewöhnliche Titel der Festschrift knüpft an diese Redeweise an und stellt gleichzeitig den Begriff der grammatischen Kategorie in den Mittelpunkt. Dementsprechend werden komplexe Form-Funktionsrelationen grammatischer Kategorien von den Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Das enorme philologische „Gepäck“ des Jubilars würdigen zudem jene Beiträge, die zeigen, wie eine detaillierte einzelsprachliche und diachronische Untersuchung immer wieder zu überraschenden Ergebnissen führt. Zwei Monographien und zahlreiche Artikel Ulrich Wandruszkas sind dem formalen Modell der Kategorialgrammatik gewidmet. Den Auftakt bildet daher Claudia Pichlers: „Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse - Eine kategorialgrammatische Betrachtung“. Sie zeigt deskriptive Festschrift für Ulrich Wandruszka 12 Möglichkeiten des kategorialgrammatischen Modells auf. Dabei wird das syntaktische Beschreibungsmodell der Kategorialgrammatik auf den Bereich der Morphologie übertragen. Im Zentrum des Interesses steht die Reorganisation sprachlicher (morphologischer) Strukturen (u.a. auch mit Begriffen wie morphologische Reanalyse, Gliederungsverschiebung, Morphemgrenzenverschiebung oder Metanalyse in Verbindung gebracht), welche ebenso wie die kumulative Inhaltsstruktur gebundener Morpheme (Suffixe) als Bündelung (Verzahnung) von Kategorien und Funktionen verstanden wird und die sich demnach als Ergebnis eines funktionskompositorischen Prozesses darstellen lässt. Da Funktionskompositionen nicht nur innerhalb eines Wortes, sondern auch darüber hinaus wirksam sind (d.h. an den Schnittstellen sprachlicher (Beschreibungs- Ebenen), verdeutlichen sie insbesondere das Zusammenspiel von Morphologie und Syntax. Schnittstellen verbaler Kategorien zwischen Morphologie und Syntax thematisiert Christoph Schwarze in seinem Beitrag: „Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen in einem Schichtenmodell“. Eher in Kontraposition zu Wandruszka zieht der Autor die Annahme eines syntaxähnlichen Modells für die Flexionsmorphologie in Zweifel und thematisiert prinzipielle Unterschiede zwischen Syntax und Flexionsmorphologie. Für die Beschreibung flexionsmorphologischer Unregelmäßigkeiten (speziell: der Stammallomorphien ital. Verben) präsentiert er ein aus vier Schichten bestehendes Modell (Konstituenz- Schicht: Verkettung der Morpheme, funktionale Schicht: morphologische Merkmale, phonologische Schicht: Veränderung phonologischer Merkmale, semantische Schicht). Je nach Ausprägung dieser Schichten in verschiedenen Sprachen lassen sich auch Aussagen über deren typologische Eigenschaften treffen. In einer Reihe seiner Arbeiten hat Ulrich Wandruszka die Frage der Konzeption morphologisch gebundener Einheiten und analytischer Kodierungen thematisiert, einer Frage, die Sabine Laaha, Dominique Bassano, Isabelle Maillochon und Wolfgang U. Dressler in „Constructions synthétiques et analytiques dans l’acquisition de la flexion verbale en français et allemand autrichien“ aus der Sicht der Spracherlernung aufgreifen. In ihrer Dokumentation der Erlernung synthetischer und analytischer Verbformen durch je zwei französische und zwei österreichische Kinder bestätigen sich dabei im Wesentlichen die Annahmen, dass weniger markierte vor markierteren Formen und ikonischere Kodierungen vor weniger ikonischen erlernt werden. In beiden Sprachen treten synthetische vor analytischen Formen auf; bei analytischen Formen wird in einer ersten Vorwort 13 Phase das Auxiliar weggelassen. Das Partizip Perfekt des Deutschen, das u.a. auf Grund der diskontinuierlichen Morpheme besonders markiert ist, wird besonders spät erworben und weist häufige analogische Bildungen auf. Die Komplexität dieser periphrastischen Formen würde sich wohl auch in einer kategorialgrammatischen Darstellung abbilden. Verschiedene Beiträge widmen sich sehr prinzipiellen Fragen zu Form und Funktion grammatischer Kategorien. Hans Geislers Artikel: „Wie sinnlich sind grammatische Kategorien? “ zeigt auf der Grundlage der Embodied-Cognition-Theorie, auf welche Weise grammatische Kategorien emergent aus sensomotorisch basierten Erfahrungszusammenhängen entstehen. Er beschreibt diese Entwicklung am Beispiel der Transitivität, die ein Prinzip zur Überführung von gestalthaft wahrgenommenen, prototypischen Handlungen in syntaktisch gegliederte Aussagen darstellt. Der Grammatikalisierungsgrad der zugrundeliegenden Konzepte ergibt sich aus graduellen Abweichungen vom Prototyp; diese Graduierungen werden anhand von Verben des lokalen Nachfolgens, des Berührens, des Helfens, der Perzeption und kognitiver Vorgänge beschrieben, wobei die romanischen Sprachen (Frz., It. und Span.) einen sehr hohen Grammatikalisierungsgrad aufweisen (am stärksten ausgeprägt im Frz.). Das Konzept Besitzverhältnisse schließlich wirft die Frage auf, inwieweit die Kodierungsänderung vom „Besitzer“ als Experiencer zu einer transitiven Konstruktion tatsächlich auf unterschiedliche Konzeptualisierungen der Realität schließen lässt. In seinem Aufsatz: „Referentielle Semantik als Verstehensinstrument“ beschäftigt sich Michael Metzeltin mit jenen (deiktischen, modalen) Kategorien, die den propositionalen Kern einzelner Sätze im Text in die Gruppierung <Sender, Sendeakt, Empfänger> („Modus“) einbetten. Die Dekonstruktion literarischer Texte (Maupassant, Proust, Flaubert) in ihre rein vordergrundierten Propositionen demonstriert die Leistung des „Modus“ für den narrativen Fluss der Texte. Mit „Sukzessivität“, „Transformativität“ und „Kompensation“ werden die Handlungsschemata narrativer Strukturen und deren Verankerung in der Wahrnehmung der Realität vorgestellt. Mit Bezug auf anthropologische Forschungen führt der Autor sogar fiktionale Texte (Märchen) auf solche realen Handlungsschemata zurück. Eine große Anzahl von Wandruszkas Publikationen hat die Informationsstruktur bzw. die Vorder/ Hintergrundierung in Sätzen und Texten zum Gegenstand (zuletzt 2009). Festschrift für Ulrich Wandruszka 14 Diese Themen werden in einer ganzen Reihe von Beiträgen aufgegriffen, wobei gezeigt wird, dass romanische Sprachen eine große Vielfalt grammatischer Kategorien einsetzen, um diese Funktionen zu kodieren. Während Metzeltin die Grundierungsfunktion jener Kategorien aufzeigt, die „Sender - Sendeakt - Empfänger“ kodieren, untersucht Daniel Jacob die spezifische Leistung der Hauptwortarten: „Was Wortarten miteinander machen: syntaktische Kategorien zwischen semantischer Funktion und struktureller Einbettung“. Er geht davon aus, dass Wortarten sich weniger in ihrem lexikalisch-prädikativen Gehalt unterscheiden als in der Art und Weise, wie sie diesen mit anderen Bedeutungskomponenten kombinieren und in die prädikative Hierarchie einer Proposition einbauen. Wortarten erscheinen so als hochspezialisierte grammatische Instrumente für kommunikative Ziele. Zwar gibt es prototypische Zuordnungen zwischen Wortarten und semantischen Konzepten, aber prinzipiell kann jedes prädikative Konzept durch jede Wortart kodiert werden. Ist allerdings zu Beginn eines Satzes einmal eine Entscheidung bezüglich der Wortart gefallen, läuft für den Rest des Satzes ein sehr restringiertes syntaktisches Programm ab. An Hand eines Ursache-Wirkungs-Gefüges wird gezeigt, dass sich je nach Wahl der Wortarten für die einzelnen Konzepte der referentielle Status (Präsupposition vs. Assertion) und die Thema-Rhema- Struktur eines Satzes ändern. Werner Abraham analysiert in seinem Beitrag: „Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung von erzählerischem Vorder- und Hintergrund“ an Hand von drei Auszügen literarischer Texte (Ionesco, Proust, Maupassant), wie durch das Zusammenspiel von Aktionsart, Tempus und Aspekt (hier noch kodiert durch das Paar imparfait/ passé simple) Vorder/ Hintergrundierung sowie Beschleunigung/ Verzögerung strukturiert wird, wobei neben der Kodierung durch Tempus/ Aspekt auch noch Parataxe/ Hypotaxe eingesetzt werden. Da das passé composé eine „Zwischenform zwischen Aorist und Resultativ“ ist, kann es die genannten Aufgaben der Textstrukturierung großenteils nicht übernehmen, wie die Analyse eine Auszugs aus Camus‘ „Etranger“ zeigt .(trotz Anerkennung der von diesem letztlich durchgesetzten Reoralisierung in der frz. Literatur, die ja die heutige Romanliteratur beherrscht). Die Analyse der frz. Texte wird mit Daten aus dem Altisländischen und Althochdeutschen konfrontiert, wo Vorder/ Hintergrundierung durch völlig andere Kodierungsmittel erreicht wird. Dass auch Reduplikationen eine Grundierungsfunktion erfüllen können, thematisiert Thomas Krefeld anhand sizilianischer Daten: „Mi sbattissi a testa mura mura sizilianische Reduplikationsadverbiale”. Er zeigt mit Vorwort 15 Einbeziehung einer kategorialgrammatischen Darstellung, wie durch Reduplikation von Nomina eine neue syntaktische Funktion entsteht, nämlich ein „kategoriell abgeschlossenes“ Nomen, das als Adverbiale fungiert. Dieses bisher nur unter semantischer Perspektive betrachtete Verfahren ist nicht phraseologisch, sondern funktional: derart reduplizierte Nomina sind immer indefinit, nicht-referentiell und dienen der Vordergrundierung der durch das Verb und seine Argumente ausgedrückten Verbalhandlung. Bei Verben ist Reduplikation im Sizilianischen frei verfügbar, d.h. nicht auf bestimmte Tempora oder Modi eingeschränkt . Reduplizierte Verben referieren nicht auf konkrete Ausführungen bestimmter Handlungen, sondern schaffen einen virtuellen Hintergrund für die im Hauptsatz ausgedrückte Figur. So wird durch ein morphosyntaktisch einfaches Verfahren semantische Komplexität ausgedrückt. Zwei Beiträge greifen das Form/ Funktionsgefüge von Diathesen auf, also die Kodierung semantischer Rollen im Satzbau und in Verbformen. Elisabeth Stark zeigt, was grammatische Kategorien in reziproken Ausdrücken „miteinander machen“: „L'expression de la réciprocité dans trois langues romanes“. Nach einer kurzen Einführung in das Konzept der Reziprozität und dessen Kodierung im modernen Französischen, Italienischen und Spanischen werden die Ergebnisse der Auswertung eines diachronen Korpus präsentiert. Reziprozität kann mithilfe spezialisierter Quantoren des Typs ‚un‘+‘autre‘ (einander) und/ oder mithilfe von Reflexivpronomina (Lat. SE) ausgedrückt werden. Die untersuchten romanischen Sprachen weisen beide Markierungen auf, allerdings mit unterschiedlicher Distribution und unterschiedlichem Grammatikalisierungsgrad des Typs ‚un‘+‘autre‘. Die diachronische Analyse von Korpora früherer Sprachstufen bezüglich der Kookkurrenz beider Kodierungstypen zeigt überraschende, bisherigen typologischen Ergebnissen z.T. zuwiderlaufende und in den drei Sprachen divergente Entwicklungen auf. Diese Divergenzen werden mit bestimmten einzelsprachlichen Gegebenheiten (z.B. der Tendenz zur Objektmarkierung im Spanischen) korreliert. Barbara Wehr thematisiert „Para-Diathesen im Italienischen“, also „passiv-ähnliche“ Konstruktionen, die es erlauben, eine andere semantische Rolle als den Agens (z.B. den Adressaten) als Subjekt zu kodieren, und die eine vom kanonischen Passiv unterschiedliche Morphologie aufweisen. Die Grammatikalisierung dieser Kodierungen ist im Ital. schwächer ausgeprägt als im Franz. In süditalienischen Dialekten gibt es mit VO- LEO+P.P.I und P.P.II und HABUI/ HABEO HABUTU + P.P. + NP weitere Festschrift für Ulrich Wandruszka 16 Verfahren, Adressaten als Subjekt zu kodieren; die diachronische Dokumentation zeigt, dass dies z.T. bereits im Lat. angelegt war. Der schwach ausgeprägte Grad dieser Para-Diathesen im Standarditalienischen wird mit dessen vergleichsweise freier Wortstellung in Verbindung gebracht, die es ermöglicht, Adressaten als Topic in Initialstellung zu bringen. Ebenfalls ein rekurrentes Thema in Ulrich Wandruszkas Arbeiten ist die Struktur subordinierter Sätze, mit der sich zwei Autoren jeweils aus diachronischer Perspektive befassen. In „Die Entstehung einer neuen Kategorie: Reduzierte parenthetische Teilsätze im Alt-, Mittel- und Neufranzösischen“ untersucht Stefan Schneider die Entstehung und Entwicklung von Ausdrücken, die im heutigen gesprochenen und geschriebenen Französisch ein alltägliches Phänomen darstellen, deren Benennung und kategorielle Bestimmung in der Sprachwissenschaft jedoch nicht unumstritten ist, d.h. um Einschübe oder Nachsätze wie „je crois“, „je pense“ und ähnliche. Dabei stellt sich die Frage, ob diese sich im Alt- und Mittelfranzösischen aus über-, neben- oder eventuell sogar untergeordneten Sätzen entwickelt haben. Die drei Hypothesen für den Kategorienwechsel: die Herabstufung vom Satz zu einem quasi-adverbiellen Status werden auf der Basis von umfangreichem diachronischem Material (mit Querverbindungen zum Englischen) gegeneinander abgewogen. Eine ganze Reihe von Interpretationsproblemen und damit auch die Grenzen der modernen Grammatikanalyse bei der Rekonstruktion früherer Sprachstufen zeigt Giampaolo Salvi In seinem Beitrag „forse cui: Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi“ anhand einer Passage aus Dantes „Inferno” auf. Weder kann dem Relativpronomen ein eindeutiges Antecedens zugeordnet werden (Virgilio oder Beatrice - Vernunft oder Theologie? ), noch kann der Skopus des Satzadverbs forse eindeutig bestimmt werden. Die Analysemethoden der modernen Linguistik ermöglichen es zwar, die alternativen Interpretationsmöglichkeiten exakt herauszuarbeiten und mit philologischem Wissen über Dantes Sprachgebrauch, seine Latinismen etc. zu verknüpfen. Eine gültige Entscheidung zwischen den Alternativen kann jedoch mangels Rekurs auf Grammatikalitätsurteile von Sprechern und mangels Information über Intonation grundsätzlich nicht getroffen werden. Schließlich gibt es auch Fälle, in denen die Pragmatik in Form soziopolitischer Faktoren über die Grammatik bestimmt: diese Situation thematisiert Georg Kremnitz in seinem Beitrag: „Zur Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken: Katalanisch, Baskisch und Galicisch im Vergleich“. In einer bestimmten historischen Situation, die den Übergang Vorwort 17 von nicht-normierten „Gebrauchssprachen“ zu politisch anerkannten Sprachen ermöglicht oder erzwingt, ist das Vorhandensein einer Referenzgrammatik von entscheidender Bedeutung. Für das Katalanische stand zum Zeitpunkt, als die Autonomie eingeführt wurde, eine linguistische professionell ausgearbeitete Referenzgrammatik zur Verfügung, für das Baskische war sie zumindest konsensuell eingeleitet, so dass die Umsetzung auf die Gesellschaft unmittelbar beginnen konnte, während für das Galicische beim Inkrafttreten des Autonomiestatuts noch ein massiver Dissens über die Referenzgrammatik bestand, mit entsprechend negativen Auswirkungen für die Implementierung. Die Perspektivierung der „grammatischen Kategorie“ spannt sich also von der Morphosyntax über Semantik bis zur Textlinguistik und Pragmatik, jeweils auch unter diachronischem Aspekt, womit sowohl dem Umfang als auch der philologischen Erudition Ulrich Wandruszkas Rechnung getragen wird. Zuletzt bleibt uns noch, allen Autorinnen und Autoren zu danken, die uns ihre Beiträge zeitgerecht übermittelt haben, so dass der Band nun kurz nach Ulrich Wandruszkas 70. Geburtstag (dem 2. Oktober 2011) erscheinen kann. Danken möchte wir auch dem Gunter Narr Verlag, der sich sofort bereit erklärt hat, die Veröffentlichung der Festschrift zu übernehmen, sowie der Vizerektorin der Universität Klagenfurt, Frau Prof. Dr. Friederike Wall und dem Forschungsrat der Universität Klagenfurt für ihre freundliche Unterstützung. Die Herausgeber Biographie Ulrich Wandruszka wurde am 2. Oktober 1941 in Tübingen geboren, wo er im März 1961 auch die Reifeprüfung ablegte; das Reifezeugnis weist als beste Noten Französisch, Deutsch und Sport aus, was belegt, dass er seine Interessen schon sehr früh ausgebildet hatte. Während des Studiums der Romanistik und Germanistik an den Universitäten Hamburg, Heidelberg und Tübingen absolvierte er Lehrveranstaltungen u.a. bei Baldinger, Gamillscheg, Coseriu, Rohlfs und seinem Vater Mario Wandruszka, unterbrochen durch eine einjährige Lehrtätigkeit als Assistant d‘allemand in Paris und legte 1967 in Tübingen das Staatsexamen ab. Studierende im gegenwärtigen Universitätsbetrieb würden bei der Durchsicht seines Studienbuchs erstaunt feststellen, dass es damals möglich war, neben den fachgebundenen Lehrveranstaltungen auch Vorlesungen wie: „Platon“, „die Antike im heutigen Stadtbild“, „Rembrandt“, „Schopenhauer“, „Jaspers“, „Geschmacksbildung“ zu hören. Nach dem Wechsel an die Universität München promovierte Ulrich Wandruszka im Februar 1971 bei Prof. Dr. Helmut Stimm mit dem Thema “Französische Nominalsyntagmen. Relationsadjektivkonstruktion, ‚Subst.+ Subst. -Kompositum, Präpositionalsyntagma. Von 1971 bis 1981 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Romanische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er im Juni 1979 mit seiner Arbeit „Studien zur italienischen Wortstellung“ habilitierte. Ab August 1979 lehrte er am Münchener Institut als Privatdozent und trat 1981 dort eine C2-Professur an. Von 1977 bis 1987 nahm er Lehrstuhlvertretungen an der TU Berlin sowie den Universitäten Würzburg, München und Wien wahr. Im Jahr 1986 trafen Rufe für Lehrstühle in Serie ein: nach Wien, Hamburg und Klagenfurt. Nachdem die Wahl auf die Universität Klagenfurt (jetzt: Alpen-Adria- Universität) gefallen war, erfolgte der Dienstantritt am Institut für Romanistik im Sommersemester 1987, wo er den Lehrstuhl für romanistische Linguistik bis zu seiner Emeritierung am 30. September 2010 innehatte; durch seine umfangreiche Forschungstätigkeit verhalf er der Klagenfurter romanistischen Linguistik zu internationalem Ruf. Im Zentrum von Ulrich Wandruszkas Forschungstätigkeit stand und steht die Grammatik mit all ihren Komponenten und die Frage der Darstellung grammatischer Strukturen mithilfe adäquater theoretischer Modelle. Die 1972 erschienene Dissertation „Französische Nominalsyntagmen. Relationsadjektivkonstruktion, ‚Subst.+Subst. -Kompositum, Präpositionalsyn- Festschrift für Ulrich Wandruszka 20 tagma“ thematisiert Bereiche wie Determinationsstrukturen und Abgrenzungen von Wortbildung vs. Syntax, die in der Monographie „Probleme der neufranzösischen Wortbildung“ (Romanistische Arbeitshefte 16, 1976) sowie in verschiedenen Aufsätzen („Post- oder Prädetermination in den romanischen Sprachen? “ (1980) „Wortbildung und Syntax (1982) weiter verfolgt werden. Das Programm der 1980er Jahre verlagert sich in Richtung auf Wortstellung und Informationsstrukturen im Satz; hier ist neben mehreren Aufsätzen vor allem die Monographie von 1982: „Studien zur italienischen Wortstellung. Wortstellung - Semantik - Informationsstruktur“ zu nennen. Daneben gibt es „Ausflüge“ in die Didaktik und die Standortbestimmung der Italianistik, um dann wieder zur „hard-core“- Linguistik zurückzukehren: die Untersuchungen zu Modus und Modalität im Romanischen und insbesondere zum Konjunktiv verdichten sich in dem zusammen mit Otto Gsell verfassten Band „Der romanische Konjunktiv“ (Romanistische Arbeitshefte 26, 1986), wo u.a. mit Einbeziehung markiertheitstheoretischer Aspekte vor allem der „thematische Konjunktiv“ neu interpretiert wird; diese Forschungen erhalten mit dem Beitrag: „Frasi subordinate al congiuntivo im 2. Band der Grande grammatica italiana di consultazione (1991, L. Renzi / G. Salvi (eds.)), sozusagen gültigen „Handbuchcharakter”. Nun treten (Flexions-)Morphologie und Morphosyntax wieder mehr ins Zentrum von Wandruszkas Arbeit, was im enzyklopädischen Artikel „Morphosyntax / Morphosyntaxe“ im von G. Holtus / M. Metzeltin / C. Schmitt herausgegebenen Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL). Bd. I,1.(2001) seinen Niederschlag findet. Nach und nach treten modelltheoretische Aspekte immer mehr in den Vordergrund, wobei sich die Kategorialgrammatik auf Grund ihres funktional-kombinatorischen Zugangs mit der Unterscheidung von Grund- und Funktor-Ausdrücken als bevorzugtes Deskriptionsinstrument sprachlicher Daten herauskristallisiert. In der Monographie von 1997: „Syntax und Morphosyntax. Eine kategorialgrammatische Darstellung anhand romanischer und deutscher Fakten“ wird die „Brauchbarkeit“ dieses Ansatzes demonstriert und der Stellenwert zentraler Kategorien und Operationen diskutiert. Nach verschiedenen Publikationen, die u.a auch den „Nutzen“ der Sprachwissenschaft thematisieren (1999, 2006) erscheint 2007 mit: „Grammatik: Form - Funktion - Darstellung“ sozusagen eine Fortsetzung der kategorialgrammatischen Diskussion, in der der Jubilar das Modell grundsätzlicher darstellt und metatheoretisch begründet. In Kontraposition zur Generativen Grammatik erhebt er den Anspruch, die Kate- Biographie Ulrich Wandruszka 21 gorialgrammatik stelle ein strukturelles Analogon für die Darstellung der grundlegenden allgemeinen Konstruktionsprinzipien der menschlichen Sprache zur Verfügung und sei daher auch in besonderem Maße geeignet, Erlernung und Verarbeitung sprachlicher Daten nachzuvollziehen. Die neuesten und die geplanten Arbeiten weisen einerseits in eine Zusammenführung bisheriger Themen (Kategorialgrammatik - Wortstellung - Wortbildung - Vorder/ Hintergrundierung), andererseits in eine Erweiterung in Richtung Intonation und Poetizität. Außerdem war Ulrich Wandruszka Mitherausgeber von Sammelbänden, hat am Lexikon der Sprachwissenschaft von Hadumod Bußmann, an Kindlers Literatur Lexikon sowie in der Redaktion zweier romanistischer Zeitschriften mitgearbeitet und ist Mitbegründer des Deutschen Italianistenverbandes. Ulrich Wandruszka gehört zu jenen Wissenschaftlern, für die Beruf und Hobby eins sind; die Betreuung kleinerer Studierendenzahlen und damit größere Zeitfenster für die Forschungsarbeit dürften für seine Wahl, den Lehrstuhl in Klagenfurt anzunehmen, eine Rolle gespielt haben. Ein weiterer Umstand dürfte diese Wahl noch erleichtert haben: dass sich für eine weitere seiner bevorzugten Freizeitbeschäftigungen, nämlich das Schifahren (wobei wir wieder bei der ausgezeichneten Note im Sport wären) Hamburg nicht gerade übermäßig und auch Wien nur bedingt eignen, wohingegen die Umgebung von Klagenfurt diesbezüglich als Dorado bezeichnet werden kann. Vielfältige wissenschaftliche Kontakte führen ihn zu Kongressbesuchen und Vortragsreisen in ganz Europa, was auch dem Klagenfurter Institut durch Einladungen namhafter Romanistinnen und Romanisten zu Gute kam. Der Diskurs am Institut selbst fand oft im Stehen im ominösen „corridoio buio“ statt und war trotz der ungemütlichen Umstände meist lang und intensiv. Der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft konnte nichts daran ändern, dass Ulrich Wandruszka an bestimmten schwäbischen Tugenden festhält. Das Kärntnerische „lei losn“ führt daher gelegentlich zu sehr nervösen Reaktionen; es wäre wohl auch für einen Lehrstuhlinhaber und „sein“ Institut nicht gar so günstig gewesen. Wir möchten diese Biographie mit dem Zitat aus einer E-Mail von Giampaolo Salvi beenden und Ulrich Wandruszka wünschen, dass er weiterhin in dem dort genannten Zustand verbleiben und seine Kraft seiner geliebten Linguistik (aber nicht ausschließlich dieser! ) widmen möge: Festschrift für Ulrich Wandruszka 22 „l'unica cosa che mi stupisce è ci apprestiamo a festeggiare i 70 anni di Ulrich, che a me continua a sembrare un giovanotto” Schriftenverzeichnis Ulrich Wandruszka 1 Bücher: 1972: Französische Nominalsyntagmen. Relationsadjektivkonstruktion, ‚Subst.+Subst.‘-Kompositum, Präpositionalsyntagma. München: Fink 1976: Probleme der neufranzösischen Wortbildung. (Romanistische Arbeitshefte 16). Tübingen: Niemeyer. 1982: Studien zur italienischen Wortstellung. Wortstellung - Semantik - Informationsstruktur. Tübingen: Narr. 1986: Der romanische Konjunktiv. (Romanistische Arbeitshefte 26, zusammen mit Otto Gsell). Tübingen: Niemeyer. 1997: Syntax und Morphosyntax. Eine kategorialgrammatische Darstellung anhand romanischer und deutscher Fakten. Tübingen: Narr. 2007: Grammatik: Form - Funktion - Darstellung. Tübingen: Narr. (in Arbeit): Prinzipien eines formalen Modells natürlicher Sprachen. 2 Aufsätze: 1973: „Zur Syntax der symmetrischen Prädikate“. Papiere zur Linguistik 5, 1-30. 1980: „Post- oder Prädetermination in den romanischen Sprachen? “. Romanistisches Jahrbuch 31, 56-72. 1981: „Typen romanischer Subjektinversion“. In: H. Geckeler et al. (eds.), Logos semantikos. Studia linguistica in honorem Eugenio Coseriu. Vol. IV. Berlin - New York / Madrid (de Gruyter / Gredos), 369-380. 1981: „Zur Serialisierung des Adverbials im Italienischen und Deutschen“. In: C. Schwarze (ed.), Italienische Sprachwissenschaft - Beiträge zu der Tagung ‚Romanistik Interdisziplinär . Saarbrücken (Narr), 1-16. 1982: „Wortbildung und Syntax“. In: O. Winkelmann / M. Braisch (eds.), Festschrift für Johannes Hubschmid zum 65. Geburtstag. Beiträge zur allgemeinen, indogermanischen und romanischen Sprachwissenschaft. Bern / München (Francke), 67-82. Schriftenverzeichnis Ulrich Wandruszka 24 1982: „Nochmals zum ‚thematischen‘ Konjunktiv“. In: S. Heinz / U. Wandruszka (eds.), Fakten und Theorien. Beiträge zur romanischen und allgemeinen Sprachwissenschaft. Festschrift für Helmut Stimm zum 65. Geburtstag. Tübingen (Narr), 343-351. 1984: „Subjekt und Mitteilungszentrum“. Romanistisches Jahrbuch 35, 14- 35. 1986: „Einige Gedanken zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik“. Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 58, 1-10. 1986: „Tema e soggetto in italiano”. In: H. Stammerjohann (ed.), Tema- Rema in Italiano. Theme-Rheme in Italian. Thema-Rhema im Italienischen. Tübingen (Narr), 15-24. 1988: „Bemerkungen zur sprachwissenschaftlichen Italianistik im deutschsprachigen Raum - eine Bilanz“. In: Forschungsstand und Perspektiven der Italianistik (Erlanger Forschungen, Reihe A, Bd. 45). Erlangen, 129-144. 1989: „KLASSEMISCH VERSUS LEXEMISCH. Zwei Grundtypen sprachlicher Strukturbildung“. Papiere zur Linguistik 41/ 2, 77-100. 1991: „Frasi subordinate al congiuntivo”. In: L. Renzi / G. Salvi (eds.), Grande grammatica italiana di consultazione. Vol. II. Bologna (il Mulino), 415-481. 1992: „Zur Suffixpräferenz. Prolegomena zu einer Theorie der morphologischen Abgeschlossenheit“. Papiere zur Linguistik 46/ 1, 3-27. 1993: „La preferenza della suffissazione. Prolegomini per una teoria della compiutezza morfologica”. (Italienische Variante der deutschen Fassung). In: G. Hilty (ed.), Actes du XXe Congrès International de Linguistique et Philologie Romanes. Band III. Tübingen (Francke), 431-445. 1994: „Zur Semiotik der Schlagzeile: Der Kommunikationsakt ‚Meldung‘“. In: A. Sabban / C. Schmitt (eds.), Sprachlicher Alltag. Linguistik - Rhetorik - Literaturwissenschaft. Festschrift für Wolf-Dieter Stempel. Tübingen (Niemeyer), 571-589. 1998: „Romanische Syntax und Kategorialgrammatik. Einführende Bemerkungen“. In: W. Dahmen et al. (eds.), Neuere Beschreibungsmethoden der Syntax romanischer Sprachen (Romanistisches Kolloquium XI). Tübingen (Narr), 397-406. Festschrift für Ulrich Wandruszka 25 1999: „Über den Nutzen formaler Modelle der natürlichen Sprache“. 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Tübingen: Narr. 2003: Syntaxtheorien: Modelle, Methoden, Motive (hrsg. zusammen mit Elisabeth Stark). Tübingen: Narr. Leitung der gleichnamigen Sektion des XXVII. Deutschen Romanistentages, München 2001. Mitarbeit am Lexikon der Sprachwissenschaft von Hadumod Bußmann. Stuttgart (Kröner) 1990 - 2008. Mitarbeit an Kindlers Literatur Lexikon. (Artikel zur altfranzösischen Literatur). München (dtv) 1974. Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Italienische Studien. Wien. Mitglied (bis 1995) des Comitato Scientifico der Zeitschrift Rivista di linguistica. Pisa. Mitbegründer und stellvertretender Vorsitzender (1991-95) des Deutschen Italianistenverbandes e. V. (DIV). Veranstalter der Internationalen Tagung des DIV, 2.-4. November 1995 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Claudia Pichler Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse Eine kategorialgrammatische Betrachtung Unter bestimmten Bedingungen (z.B. Einfluss phonetischer Faktoren, Analogiebildung etc.) kann es zu einer Umdeutung beziehungsweise zu einer Neuorganisation (Reinterpretation) der lexikalisch-morphologischen Struktur komplexer sprachlicher Ausdrücke kommen, und zwar bei gleichbleibender linearer Anordnung der einzelnen Morpheme auf der sprachlichen Oberfläche. Diese inneren Strukturverschiebungen werden im Allgemeinen mit Begriffen wie Reanalyse, Gliederungsverschiebung, Morphemgrenzenverschiebung oder Metanalyse in Verbindung gebracht. Besondere Beachtung finden im vorliegenden Beitrag also vor allem jene Prozesse, die eine Reorganisation der morphologischen Struktur bewirken und die somit unter dem Terminus der Morphologischen Reanalyse subsumiert werden können. Diesbezüglich stehen insbesondere die Kombination von Suffixen, das Entstehen neuer, produktiver Suffixe sowie der Einfluss phonetischer Faktoren auf die morphologische Struktur im Zentrum des Interesses. Den theoretischen Rahmen bildet die Kategorialgrammatik, ein syntaktisches Beschreibungsmodell, das hier auf den Bereich der Morphologie übertragen wird. Zunächst erfolgt eine, wenngleich auch sehr kurze Einführung in die grundlegenden Prinzipien der kategorialgrammatischen Beschreibung sprachlicher Strukturen. Der daran anschließende Abschnitt beschäftigt sich mit verschiedenen Typen von Suffixen (Flexion, Derivation), ihrer kumulativen semantischen Struktur, ihrer kategorialen Definition sowie mit den Möglichkeiten ihrer Verbindung untereinander oder mit anderen, nicht selbständigen Wortteilen (Stämmen). Morphologische Reanalyse wird - ebenso wie die kumulative Inhaltsstruktur gebundener Morpheme (Suffixe) - als eine Bündelung von Funktionen verstanden und daher auch formal als sogenannte Funktionskomposition im Rahmen der Kategorialgrammatik dargestellt. Claudia Pichler 32 1 Grundlegende Prinzipien der Kategorialgrammatik Das gemeinsame Merkmal aller Varianten von Kategorialgrammatik besteht im Prinzip der Kategorienbildung, das seinen Ursprung in einer von deskriptiver Psychologie, Sprachphilosophie und Logik hervorgebrachten Kategorienlehre hat. Hinsichtlich der Erforschung natürlicher Sprache haben vor allem Bar-Hillel, Lewis, Lambek sowie Montague zur Entwicklung des Modells beigetragen. Charakteristisch ist die Unterscheidung zwischen Grund- und Funktorkategorien. Während zu den Grundausdrücken (Grundkategorien) die nicht ergänzungsbedürftigen Elemente gehören, enthalten Funktoren (Funktorkategorien) eine oder mehrere Leerstellen, die durch entsprechende Komplemente zu besetzen sind. Funktoren stellen demnach die „sozusagen aktiv strukturbildenden Elemente der Syntax“ 1 dar. Zu den strukturell (kategorial) abgeschlossenen Grundausdrücken zählen Nomina (Nominalphrasen) und Sätze, die durch einen einfachen Index N (NP) beziehungsweise S repräsentiert werden. Aus den beiden Grundkategorien lassen sich im Prinzip alle weiteren Kategorien (Funktoren) ableiten. Letztere erhalten als kategorial nicht abgeschlossene Ausdrücke einen Index in Form einer Bruchstrichnotation. Dabei steht im Zähler die Kategorie des Gesamtausdrucks (= Ausdruck, den der Funktor samt seinen Argumenten bildet), während im Nenner das/ die jeweilige(n) Argument(e) angeführt sind. Die Kategorie des Gesamtausdrucks kann dann durch Kürzung (Exponentenableitung) ermittelt werden. Ein zweistelliges Verbum wie scrive ist demnach vom Typ (S/ NP)/ NP, das bedeutet, es bildet zunächst mit einer Nominalphrase (una lettera) ein Prädikat (scrive una lettera). Das Prädikat selbst stellt ein Element der Kategorie S/ NP dar: um einen Satz S zu konstituieren, fehlt ihm also noch eine Nominalphrase NP in der Funktion des Subjekts. Cfr.: Il ragazzo scrive una lettera S NP (Subjekt) S/ NP (Prädikat) (S/ NP)/ NP NP (direktes Objekt) Il ragazzo scrive una lettera 1 Wandruszka, „Romanische Syntax und Kategorialgrammatik. Einführende Bemerkungen“, p. 398. Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 33 Grundlegend für die kategoriale Definition eines sprachlichen Zeichens ist somit dessen Funktion (Kombinationsmöglichkeit mit anderen sprachlichen Elementen): In der Kategorialgrammatik werden die Funktoren mit sprechenden Symbolen wiedergegeben, die ihre Funktion bereits erkennen lassen, und zwar dergestalt, dass der jeweilige Vor- und Nachbereich explizit angegeben wird. Ein Funktor, der mit einem Ausdruck der Kategorie X einen Ausdruck der Kategorie Y macht, wird entsprechend als „X Y“ oder „Y/ X“ notiert, d.h. dieser Funktor ist von der Kategorie Y/ X. […] Bezogen auf die lineare Verkettung sprachlicher Zeichen (Konkatenation) bedeutet dies, dass eine aus einem Funktor Y/ X und einem Argument X bestehende Zeichenfolge einen korrekten Ausdruck der Kategorie Y ergibt 2 . Funktoren, die als Kopf (Funktorkopf) auftreten, bestimmten die syntaktische Funktion ihres/ r Komplements/ e (Rektion/ Rektionsrelation) sowie die funktionale Kategorie des Gesamtausdrucks (siehe oben: innerhalb des Prädikats ist das finite Verbum scrive der regierende Funktor (Funktorkopf) und legt die Kategorie des Gesamtausdrucks/ Prädikats scrive una lettera fest). Dort, wo das Dependens keine durch den Kopf eröffnete Leestelle besetzt, sondern diesem lediglich als modifizierendes, strukturerweiterndes Element (Attribut) hinzugefügt wird, liegt eine sogenannte Modifikationsrelation vor. Da Attribute keine inhärenten Strukturelemente des Kopfes sind, bewirkt ihr Hinzufügen auch keine Veränderung der jeweiligen syntaktischen Kategorie. Attribute stellen demnach Dependens- Funktoren dar und sind allgemein von der Kategorie X/ X, das heißt, sie „bilden mit einem Ausdruck der Kategorie X wieder einen (komplexen) Ausdruck der Kategorie X“ 3 . Ein inhaltlich und strukturell erweitertes Nomen wie (le) livre de Pierre weist daher folgende Struktur auf: (le) livre de Pierre N N (Kopf) N/ N (Dependens-Funktor/ Attribut) (N/ N)/ NP 4 NP livre de Pierre 2 P. 399 f. 3 P. 401. 4 Die Präposition de ist ein Element der Kategorie (N/ N)/ NP, das heißt, sie bildet mit einer Nominalphrase (Pierre) ein Attribut (de Pierre). Claudia Pichler 34 2 Verbalflexion: Gebundene Morpheme - Stämme und Suffixe Eine Verbform besteht bekanntlich aus einem Verbstamm und einer Endung, also aus zwei gebundenen Morphemen, die sowohl morphologisch als auch semantisch voneinander abhängig sind und die somit nur gemeinsam ein komplexes Zeichen mit einer Gesamtbedeutung konstituieren können. Während der Stamm die lexikalische Bedeutung trägt, wozu im Falle des Verbums auch dessen Valenz oder Stelligkeit gehört, sind in der Endung grammatische Kategorien (Person, Numerus, Tempus, Modus etc.) kodiert. Dennoch kann beispielsweise die finite Verbendung -e in ital. dorme nicht einfach mit dem entsprechenden Personalpronomen (lui/ lei) gleichgesetzt werden, auch wenn das Italienische als Pro-drop- Sprache gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass finite Verben anstelle eines ganzen Satzes stehen können (vorausgesetzt, das Subjekt(-Denotat) ist bereits bekannt). Zunächst einmal werden durch die Endung (im konkreten Fall -e) verbale Kategorien wie Tempus und Modus zum Ausdruck gebracht, also Bedeutungskomponenten, die am Verb und nicht am Subjekt festgemacht sind. Darüber hinaus stellt der Stamm dormals gebundenes lexikalisches Morphem kein Prädikat dar, das sich mit einem Subjekt zu einem Satz verknüpfen lässt. Die finite Verbendung versteht sich somit als ein Bündel von Merkmalen, deren gemeinsame Eigenschaft es ist, dem Verbum und folglich der Prädikation zugeordnet zu sein. Die Funktion des Verbums wird durch dessen Endung und nicht durch den Stamm bestimmt. Cfr.: a) [ricerc-a (la verità)] VP bzw. (S/ NP) b) [ricerc-ando (la verità)] Adv.P. c) [ricerc-ante (la verità)] Attr. d) [ricerc-are (la verità)] VNP (= Infinitivphrase) In a) bildet die finite Verbendung mit dem (komplexen) 5 Stamm eine Verbalphrase (VP) beziehungsweise ein Prädikat (S/ NP). In b) fungiert das Verbum (samt seiner Ergänzung la verità) als Adverbial, in c) als Attribut und in d) als Infinitivphrase zur Bezeichnung eines Vorgangs. Als funktionsbestimmende Elemente stellen Endungen (Suffixe) sogenannte Funktorköpfe dar, das heißt, sie repräsentierten die Gesamtkategorie eines morphologisch komplexen Ausdrucks 6 . In Pro-drop-Sprachen ver- 5 Cfr. dazu weiter unten. 6 Cfr. Wandruszka, Grammatik. Form - Funktion - Darstellung, p. 173 f. Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 35 weisen Personalendungen zwar auf das Subjekt, aber sie ersetzen es nicht. Vielmehr wird die Leerstelle für das Subjekt erst oder gerade durch die finite Verbendung eröffnet. Das Prädikat ist demnach ein „Satzmacher“ 7 , wie es bei Wandruszka auch bezeichnet wird. Oder anders formuliert: Das die morphosyntaktische Übereinstimmung von Subjekt und Prädikat tragende Merkmal der Finitheit gilt allgemein als verknüpfendes, satzstiftendes Zeichen. Finite Verbendungen wie -e in Carlo dorme können als Funktoren der Kategorie (S/ NP)/ Stv klassifiziert werden, das heißt, sie bilden mit einem Verbalstamm (Stv) eine Verbalphrase, sprich ein Prädikat (S/ NP). Der als lexikalischer Bedeutungsträger morphologisch unabgeschlossene Stamm fungiert dabei sozusagen als Komplement der Endung und wird auf diese Art und Weise „funktional formatiert“ (erst nach erfolgter Verbindung von Stamm und Endung wird deutlich, dass die erzeugte Wortform ein Prädikat ist). Was nun den Stamm als Ergänzung einer entsprechenden Endung von Komplementen im Allgemeinen unterscheidet, ist die Tatsache, dass in der freien Syntax im Prinzip nur abgeschlossene, nicht ergänzungsbedürftige Elemente (cfr. Grundausdrücke) als Komplemente auftreten. Cfr. Wandruszka: Stämme sind […] Träger nicht-abgeschlossener, unvollständiger und in gewissem Maß gebundener Bedeutungen und können daher nur in Kombination mit anderen gebundenen Morphemen verwendet werden, die den Teil der Bedeutung zum Ausdruck bringen, der ihnen fehlt. […] […] Insoweit entspricht also morphologischer Gebundenheit auch hier semantische Gebundenheit und eine daraus resultierende Interdependenz der Konstituenten 8 . In Carlo dorme stellt sich nun die morphosyntaktische Struktur folgendermaßen dar (die als Funktorkopf definierte Verbendung bestimmt die Kategorie und somit die Funktion des Gesamtausdrucks/ Prädikats): Carlo dorme S NP (Subjekt) S/ NP (Prädikat) Stv (S/ NP)/ Stv Carlo dorm- -e 7 Cfr. Wandruszka, Syntax und Morphosyntax, p. 38 ff. 8 Wandruszka, Grammatik. Form - Funktion - Darstellung, p. 179 f. Claudia Pichler 36 Bei transitiven Verben enthält das Kategoriesymbol des Stammes - in Abhängigkeit von der Verbvalenz, die ja im Stamm enthalten ist - eine oder mehrere Argumentstellen, die auf die jeweils geforderten Objekte verweisen. Cfr.: Pietro vede una ragazza S NP S/ NP (S/ NP)/ NP NP Stv/ NP (S/ NP)/ Stv Pietro ved- -e una ragazza Das Kategoriesymbol Stv/ NP repräsentiert den Verbalstamm ved-, wobei die im Nenner befindliche NP für das valenzbedingte direkte Objekt una ragazza steht. Das finite Verbum vede als Element der Kategorie (S/ NP)/ NP ergibt sich dann im Zuge einer einfachen Funktionskomposition. Das bedeutet, dass die Endung -e direkt auf den Verbalstamm vedbezogen wird, noch bevor dieser seine freie (Objekt-)Stelle abbinden kann: vede (S/ NP)/ NP (finites zweiwertiges Verbum) Stv (S/ NP) NP Stv ved- -e Die kategoriale Definition eines sprachlichen Ausdrucks in Form einer Bruchstrichnotation verweist auf dessen Relationalität. Als relational (und somit als Funktor) gilt ein Ausdruck (wie bereits erwähnt) dann, wenn er eine Leerstelle eröffnet, die von einem anderen Ausdruck besetzt wird. Dennoch stellen Verbalstämme wie ved- (Stv/ NP) keine Funktoren im eigentlichen Sinne dar, da Stämme gerade in ihrer Eigenschaft als gebundene Morpheme erst nach der Verknüpfung mit einer entsprechenden Endung in der Lage sind, syntaktische Leerstellen zu eröffnen. Das heißt nichts anderes, als dass die Einheit des Wortes (vede) generell Vorrang vor Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 37 der syntaktischen Korrektheit hat. Darauf basierend lässt sich nun die Ableitungsbedingung formulieren, dass Funktoren, deren Wert (Zähler) im Unterschied zu deren Komplement kein morphologisch abgeschlossener Ausdruck - also kein Wort - ist (so wie im Falle von ved-), ihre freie Stelle nicht abbinden können, bevor sie sich mit ihrem übergeordneten Funktor 9 zu einem Wort verbunden haben. Dies wird kategorialgrammatisch über eine Funktionskomposition „bewerkstelligt“. Die Anwendung von ved- (Stv/ NP) auf die NP una ragazza mit dem Ergebnis eines komplexen Stammes veduna ragazza (Stv komplex) 10 ist demnach blockiert zugunsten der Bildung des morphologisch abgeschlossenen Verbums vede. 3 Flexionssuffixe als Bindeglied zwischen Morphologie und Syntax Endungen übernehmen „alle semantischen (und grammatischen) Merkmale des Wortes, die über die Bedeutung des reinen Stammes hinausgehen und akkumulieren sie in sich (Polysemasie)“ 11 . Aufgrund ihrer morphologischen Unabgeschlossenheit und der kumulativen Inhaltsstruktur entspricht ihnen auch kein einheitlicher Referent beziehungsweise keine einheitliche Bedeutung 12 . Gerade im Zusammenhang mit der Frage der Bedeutung gebundener Morpheme erweist sich die kategorialgrammatische Beschreibung als besonders vorteilhaft, da sich die Bedeutung eines sprachlichen Elements aus dessen Funktion ergibt, die es in einem bestimmten sprachlichen Kontext erfüllt. Die funktionale (kategoriale) Definition des Ausdrucks ist wiederum von der (Nicht-)Kombinierbarkeit mit anderen sprachlichen Ausdrücken abhängig. Bereits durch die Bruchstrichnotation selbst wird das zwischen zwei gebundenen Morphemen (wie Stamm und Endung) bestehende und als Funktor- Komplement-Relation interpretierte Abhängigkeitsverhältnis (cfr. Interdependenz) formal zum Ausdruck gebracht. Im Folgenden soll nun die kumulative semantische Struktur gebundener Morpheme am Beispiel der italienischen Suffixe -ante und -ando/ -endo kategorial-grammatisch nachgezeichnet werden. Verbale Flexion versteht sich dabei als funktionskompositorischer Prozess, bei dem verschiedene Funktionen und Bedeu- 9 Der übergeordnete Funktor des Verbalstammes -ved ist die finite Verbendung -e. 10 Cfr. Wandruszka, Grammatik. Form - Funktion - Darstellung, p. 123-125. 11 P. 178. 12 Ebd. Claudia Pichler 38 tungsaspekte in einem Morphem (Suffix) verschmelzen (= Ausdruck des „Zusammenspiels“ von Morphologie und Syntax). In der Kategorialgrammatik werden die unterschiedlichen Typen von Verbendungen in Abhängigkeit von ihrer Funktion klassifiziert und mit entsprechenden Kategoriesymbolen versehen. Eine finite Verbendung ist generell vom Typ (S/ NP)/ Stv, das heißt, sie konstituiert mit einem Verbalstamm ein Prädikat (siehe oben). Im Falle der erweiterten Nominalphrase l’uomo ricercante la verità fungiert die infinite Verbform als Attribut zu uomo, weshalb die Endung -ante durch das Kategoriesymbol (N/ N)/ Stv repräsentiert wird; sie macht also mit einem (komplexen) Verbalstamm (s.o.) ein Element der Kategorie N/ N, sprich ein Attribut (ricercante), das mit einem Nomen N (uomo) ein inhaltlich erweitertes/ spezifiziertes Nomen N bildet. Cfr.: uomo ricercante la verità N N N/ N (N/ N)/ NP NP Stv/ NP (N/ N)/ Stv uomo ricerc- -ante la verità Ricercante la verità kann auf einen expliziten Relativsatz zurückgeführt werden, der in seiner Funktion als Attribut ebenfalls ein Element der Kategorie N/ N darstellt: uomo che ricerca la verità N N N/ N (N/ N)/ (S/ NP) S/ NP (S/ NP)/ NP NP Stv/ NP (S/ NP)/ Stv uomo che ricerc- -a la verità Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 39 Kopf des Relativsatzes ist das Relativpronomen che, das als Element der Kategorie (N/ N)/ (S/ NP) die Kategorie des Gesamtausdrucks bestimmt. Es nimmt ein Prädikat S/ NP (ricerca la verità) zu sich und macht damit ein Attribut N/ N (che ricerca la verità). Im Zuge einer einfachen Funktionskompositon kann nun der Funktorkopf che direkt auf die finite Verbendung -a bezogen werden: che -a [-ante] (N/ N) x (S/ NP) (N/ N) (S/ NP) Stv Stv Aus der Funktionskomposition resultiert nun genau jene Kategorie, die auch die Partizipialendung -ante funktional repräsentiert. Die Funktionskomposition versteht sich hier freilich nicht als morphologischer Prozess im eigentlichen Sinne, aber sie ermöglicht es, die kumulative Inhaltsstruktur eines gebundenen Morphems wie -ante durchsichtig zu machen. Bereits die Bezeichnung Partizip (lat. particeps ‚teilhabend‘) „ist darauf zurückzuführen, dass das Partizip sowohl an verbalen als auch an nominalen Eigenschaften partizipiert“ 13 . Diese „Doppelnatur“ zwischen Nomen und Verbum wird formal durch die Funktionskomposition selbst gekennzeichntet: Ein Relativpronomen und somit ein mit einem Antezedens in einer anaphorischen Beziehung stehendes Element (= nominale Bedeutungskomponente) wird auf den funktionalen Kopf eines finiten Verbums (= verbale Bedeutungskomponente) unmittelbar bezogen. Es kommt demnach zu einer Akkumulation von nominalen und verbalen Bedeutungsaspekten, die in dem Flexionssuffix -ante ihren Ausdruck findet. Auf die insgesamt nicht prädizierende, sondern attribuierende Funktion der Partizipialphrase deutet darüber hinaus die Kürzung des Kategoriesymbols S/ NP (Prädikat) im Zuge der Funktionskomposition. Akkumulation von Bedeutungsaspekten in der Partizipialendung: das Kind das weint das weinende Kind Auch die kumulative semantische Struktur des Gerundiums lässt sich mittels Funktionskomposition darstellen. Gerundialkonstruktionen die- 13 Metzler Lexikon Sprache, p. 496. Claudia Pichler 40 nen der Nebensatzverkürzung, wobei das Subjekt des Hauptsatzes und des Nebensatzes in der Regel übereinstimmen. Weist das Gerundium ein eigenes Subjekt auf, so wird letzteres nachgestellt (= „absolute Konstruktion des Gerundiums“ 14 ) Essendo io ammalato, hanno dovuto sostituirmi in ufficio 15 . S S/ S S (S/ S)/ (N/ N) N/ N Essendo io ammalato hanno dovuto sostituirmi in ufficio Als kausales Adverbial verhält sich die Gerundialkonstruktion gewissermaßen wie ein Attribut des übergeordneten Satzes. In dieser Funktion wird das Adverbial essendo io ammalato kategorial als S/ S definiert, das bedeutet, es konstituiert mit einem (übergeordneten) Satz wiederum ein Element der Kategorie S. Attribute sind generell (wie bereits besprochen) dadurch gekennzeichnet, dass sie keinen Einfluss auf die Kategorie des Gesamtausdrucks haben, weshalb sie durch das allgemeine Kategoriesymbol X/ X gekennzeichnet werden 16 . Kausalbestimmungen erscheinen mitunter auch in Form eines präpositionalen Infinitivs: Cieca e ria si dice la sorte ancora, non per sé, … ma per raggion de suggetti si dice ed è cieca, perché le rende ciechi al suo riguardo, per esser ella incertissima. (De gli eroici furori: 968) ‘Blind und hart wird auch das Schicksal nicht um seiner selbst willen genannt … Nur die von ihm Betroffenen sind der Grund dafür, dass man es blind nennt, denn sie sind blind dem stets ungewissen Schicksal gegenüber.’ 14 Reumuth/ Winkelmann, Praktische Grammatik der italienischen Sprache, p. 174. 15 P. 176. 16 Cfr. Wandruszka, Grammatik. Form - Funktion - Darstellung, p. 140-143. Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 41 per esser ella incertissima S/ S (S/ S)/ VNP VNP (= Infinitivphrase) 17 VNP/ (N/ N) N/ N per esser ella incertissima Funktionaler Kopf der gesamten Konstruktion ist die Präposition per; als Element der Kategorie (S/ S)/ VNP nimmt sie eine Infinitivphrase VNP zu sich, um mit dieser ein auf den übergeordneten Satz bezogenes Attribut S/ S zu bilden 18 . Kopf der Infinitivphrase ist die Nennform essere, die zusammen mit dem Infinitivsubjekt ella eine morphosyntaktische Einheit bildet. Oberflächensyntaktisch wird dies gerade durch die Nachstellung des Infinitivsubjekts signalisiert (cfr. flektierter Infinitiv) 19 . Der adverbiale Funktorkopf (die Präposition per) und der Kopf der Infinitivphrase (esser ella) können nun über eine Funktionskomposition ihre Bedeutungsaspekte in einem morphosyntaktischen Strukturelement (Gerundialform) akkumulieren: per esser ella [essendo ella] (S/ S) x VNP (S/ S) VNP (N/ N) (N/ N) Akkumulation von Bedeutungsaspekten in der Gerundialform: per esser ella incertissima essendo ella incertissima 17 Da der Infinitiv bekanntlich formal und funktional zwischen Nomen und Verbum steht, wird er durch das Kategoriesymbol VNP repräsentiert (VNP = Mischkategorie aus NP und VP). 18 Die semantische Funktion eines präpositionalen Infinitivs wird jeweils durch die Präposition bestimmt, die dem Infinitiv vorangeht. 19 Cfr. Pichler, Der Infinitiv als Kategorie zwischen Nomen und Verbum. Eine kategorialgrammatische Darstellung der Morphosyntax (alt-)italienischer Infinitivkonstruktionen, p. 150-161. Claudia Pichler 42 Wie die Beispiele gezeigt haben, wird die morphosyntaktische Funktion (Verwendung) eines sprachlichen Ausdrucks (in unserem Falle eines Verbums) jeweils durch dessen Endung (Funktorkopf) bestimmt. Als Element der Kategorie (N/ N)/ Stv stellt ein Suffix wie -ente in Kombination mit dem Verbalstamm (also nachdem es seine freie Stelle abgebunden hat) ein auf ein Nomen bezogenes Attribut N/ N dar. Die attribuierende Funktion des Verbums ist also bereits in der Verbendung kodiert: (la NP/ N (squadra N (perd Stv ente (N/ N)/ Stv ) N/ N ) N ) NP 4 Morphologische Reanalyse als funktionskompositorischer Prozess Die Strukturen komplexer sprachlicher Einheiten können unter bestimmten Bedingungen uminterpretiert werden, das heißt, es kommt zu einer „internen Umorganisation“ 20 einer hierarchischen Struktur, bei der die morphologischen und/ oder syntaktischen Grenzen neu gezogen werden. Solche Umstrukturierungsprozesse (Gliederungsverschiebungen) umfassen unter anderem die Kombination gebundener Morpheme (Suffixkombination) zu einem neuen Morphem (Suffix); „den Übergang syntaktischer Konstrukte in Wortbildungsprodukte“ 21 ; oder „den Wechsel der morphologischen Kategorie von Morphemen (zum Beispiel kommen Präfixe wie vizenicht mehr nur gebunden vor, [sondern] sie sind als freie Grundmorpheme reanalysiert: Vize)“ 22 . Gliederungsverschiebungen der genannten Art fasst man unter dem allgemeinen Terminus Reanalyse (engl. reanalysis, frz. restructuration) zusammen. In diesem Abschnitt sollen einzelne Beispiele morphologischer Reanalyse aufgezeigt und jeweils als funktionskompositorischer Prozess beschrieben werden. Da Strukturverschiebungen nicht nur innerhalb des Wortes zu finden sind, sondern insbesondere auch dort, wo es zur „Verzahnung“ von Kategorien (und folglich von Funktionen) kommt, die unterschiedlichen sprachlichen (Beschreibungs-)Ebenen angehören (also in den Schnittbereichen wie Morphosyntax und Morphonologie), er- 20 Metzler Lexikon Sprache, p. 550. 21 P. 551. 22 Ebd. Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 43 scheint es von vornherein zweckmäßig und sinnvoll, reanalysierte Strukturen als Ergebnis einer Funktionskomposition darzustellen. Nach Plank bezeichnet der Ausdruck Reanalyse „eine Art des Grammatikwandels, die aus einer Neusegmentierung, d.h. einer im Verhältnis zum vorgegebenen Modell zunächst fehlerhaften Segmentierung, von (Sequenzen von) Ausdruckseinheiten resultiert“ 23 . Diese Definition deckt sich weitgehend mit jener von Jespersen, der nicht von Reanalyse sondern von Metanalysis 24 spricht. Haspelmath definiert Reanalyse als „a new way in which speakers understand the structure of a word by relating it to other words in a different, novel way“ 25 . Cfr. dazu Costantini 26 : Da tale definizione [Haspelmath] emerge non solo la constatazione (di carattere diacronico) che la rianalisi consiste nella differenza nell’analisi morfologica di una parola in due stadi sincronici successivi, ma anche che tale differenza può essere in qualche modo legata a fattori (sincronici) di carattere paradigmatico. Già Paul (1920: 244), in effetti, osserva che la rianalisi è da porre in un rapporto di causalità con il cambiamento di relazioni paradigmatiche all’interno di serie derivative: Reanalyse (auch Reinterpretation oder Umdeutung) wird insgesamt „für verschiedene diachrone und synchrone […] Umstrukturierungsprozesse angenommen“ 27 , wozu auch die Bildung neuer Suffixe beziehungsweise das Phänomen der sogenannten „Suffix-Verschmelzung“ 28 (engl. „affix telescoping“) gehört. Cfr. diesbezüglich das folgende, aus der Wortbildung stammende Beispiel mittelhochdeutscher Verben, die von entsprechenden Adjektiven abgeleitet wurden, welche selbst das Derivat eines Substantivs darstellen: Huld > huldec > huldegen Leid > leidec > leidegen Nôt > nôtec > nôtegen 29 23 Plank, Morphologische (Ir-)Regularitäten, p. 67. 24 Cfr. Metanalyse (auch: Morphemgrenzenverschiebung): „Verschiebung der Grenze eines Morphems und damit Zerstörung seiner morpholog. Struktur bzw. Etablierung eines neuen Morphems“ (Metzler Lexikon Sprache, p. 424). 25 Haspelmath, “The Growth of Affixes in Morphological Reanalysis”, p. 1 (zitiert bei: Costantini, “Spunti per una classificazione dei casi di rianalisi morfologica”, p. 128). 26 Costantini, „Spunti per una classificazione dei casi di rianalisi morfologica”, p. 128. 27 Metzler Lexikon Sprache, p. 551. 28 Plank, Morphologische (Ir-)Regularitäten, p. 74. 29 Zitiert bei Costantini, „Spunti per una classificazione dei casi di rianalisi morfologica“, p. 129. Claudia Pichler 44 Aus der Reihe fallen nun Verben wie befehligen (von Befehl) oder vereidigen (von Eid), da ihre Ableitungsbasis nicht ein Adjektiv (*befehlig / *eidig), sondern ein Substantiv ist. Paul interpretiert dies „come prova di un mutamento dei rapporti derivativi all’interno delle serie paradigmatiche in esame: in esse i verbi sarebbero stati posti in rapporto di derivazione diretta con i sostantivi, base derivativa degli aggettivi“ 30 . Während also im Mittelhochdeutschen das Verbum huldegen noch ein sekundäres deadjektivales Derivat darstellt, wird es zu einem späteren Zeitpunkt „morphologisch reinterpretiert“ und als primäres denominales Derivat (mit der Endung -igen) verstanden: se così non fosse, infatti, un derivato come befehligen non sarebbe possibile. Le conseguenze sul repertorio morfologico sono che in medio alto tedesco / -igen/ è privo di un proprio valore funzionale (non è, infatti, un morfema autonomo, bensì la successione di due morfemi legati, il suffisso „interno” -ig e il suffisso „esterno” -en); il processo di rianalisi fa sì che esso sia reinterpretato funzionalmente come un segmento morfologico unitario ed acquisisca lo status di suffisso derivativo 31 . Die beschriebene morphologische Fusion - d.h. die formal-funktionale Verknüpfung der beiden Suffixe -ig und -en zu dem Derivationssuffix -igen - lässt sich nun kategorialgrammatisch mittels einer Funktionskomposition veranschaulichen: huldigen V Adj. V/ Adj. N Adj./ N Huld -ig -en Funktionskomposition: -ig -en -igen (Derivationssuffix) Adj. x V V N Adj. N 30 Ebd. 31 Ebd. Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 45 Im Zuge der Funktionskompositon werden die beiden Suffixe (Funktorköpfe) -ig (Adj./ N es „macht“ mit einem Nomen ein Adjektiv) und -en (V/ Adj. es „macht“ mit einem Adjektiv ein Verbum) direkt aufeinander bezogen und dadurch zur Endung -igen verbunden. Letztere hat als (produktives) Wortbildungselement der Kategorie V/ N die Funktion, mit einem Nomen ein Verbum zu bilden: befehligen V N V/ N Befehl -igen Wandruszka nennt im Zusammenhang mit der „Suffix-Verschmelzung“ das frz. Beispiel chevalerie (Ritterschaft), welches ursprünglich aus chevalier abgeleitet wurde und somit die folgende innere Struktur aufweist: ((cheval-(i)er)-ie) 32 . Cfr. dazu Wandruszka: Semantisch betrachtet bildet der Funktor -ier mit einer Objektbezeichnung die Bezeichnung einer Person, die mit diesem Objekt etwas zu schaffen hat, wie in cheval-ier. Das Suffix -ie bildet dann mit dieser Ableitung ein Nomen, das u.a. eine Gesamtheit solcher Personen bezeichnet. Mit der modernen binären Analyse cheval-erie indessen erhält man eine Ableitung mit der Bedeutung „Gesamtheit von Personen, die etwas mit Pferden zu tun haben“, wobei die kompositionelle Struktur nicht mehr wirklich transparent ist (vgl. cavalerie oder ital. cavalleria ‚Kavallerie‘, das nicht allein aus cavaliere abzuleiten ist, sondern mit cavallo gekreuzt sein muss) 33 . Auch in diesem Fall ist durch die Funktionskomposition wieder ein neues produktives Suffix (-erie) entstanden, „das nun auch mit Nomina verbunden werden kann, die nicht das Personalsuffix -ier enthalten, wie z.B. machinerie, crêperie […], imprimerie, brasserie […]“ 34 etc. Hinsichtlich der Verknüpfung einzelner Suffixe stellt sich die Frage nach der Existenz allgemeiner Prinzipien, welche die kombinatorischen Eigenschaften der Suffixe bestimmen. Häufig diskutiert wurden diesbezüglich zum Beispiel die Merkmale der folgenden englischen Suffixverbindungen: 32 Wandruszka, Grammatik. Form - Funktion - Darstellung, p. 80. 33 P. 80 f. 34 P. 81. Claudia Pichler 46 a) átom, atóm-ic, atomíc-ity b) átom, átom-less, átom-less-ness c) *atom-less-ity Cfr. dazu Gaeta 35 : Il suffisso -ic presenta la proprietà di spostare l’accento rispetto alla base; il suffisso -ity a sua volta determina la palatalizzazione della velare precedente. Entrambe queste proprietà sono estranee ai suffissi -less e -ness, che per altro si combinano liberamente tra loro. Il punto cruciale è evidentemente che il suffisso -ity, che determina una così pesante allomorfia, non può applicarsi ad una base già suffissata con il suffisso -less, che è invece estraneo all’allomorfia. Se il suffisso -ity viene derivato in uno strato di derivazione precedente rispetto a -less, allora l’agrammaticalità di c) risulta automaticamente dall’ordinamento in strati dei suffissi, cioè da una proprietà del componente morfologico. Das unterschiedliche Verhalten der Suffixe bezüglich Allomorphie wird demnach mitunter als Kriterium herangezogen, wenn es darum geht, Suffixe aufgrund morpho(phono-)logischer Eigenschaften bestimmten Suffix-Klassen/ Schichten (strati) zuzuweisen; die genannten Suffixbeziehungsweise Derivationsschichten (strati) seien reihenweise angeordnet: L’applicazione ciclica delle regole morfo(fono)logiche, che tiene presente il modello classico di Chomsky/ Halle (1968), prevede infatti che i suffissi si distribuiscono nel componente morfologico per strati ordinati serialmente, per cui suffissi ordinati in uno strato successivo non possono ricorrere prima di suffissi ordinati in uno strato precedente (Siegel 1974) 36 . Was nun die Beschreibung des kombinatorischen Potentials der Suffixe betrifft, so haben die o.g. Klassifizierungsversuche (strati di derivazione) insgesamt keine zufriedenstellende Lösung gebracht: Sembra pertanto che la via dell’ordinamento su livelli derivazionali diversi sia da abbandonare: non è possibile ricavare dalla struttura del componente morfologico una precisa determinazione delle restrizioni sulla combinabilità dei suffissi. […] In assenza di un meccanismo unitario in grado di dar conto delle proprietà combinatorie dei suffissi, si può invece immaginare che queste ultime siano individuali, proprie di ogni singolo morfema. Le proprietà fonologiche, morfologiche, semantiche e sintattiche […] sono responsabili delle com- 35 Gaeta, „Combinazioni di suffissi in italiano”, p. 229. 36 Gaeta, p. 229 f. Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 47 binazioni possibili o impossibili di un certo suffisso con altri, per cui non è necessario alcun apparato stratale 37 . Einen anderen Ansatz vertritt Plag 38 , wonach das Derivationssuffix von der jeweiligen Basis (die selbst bereits suffigiert sein kann) ausgewählt wird und nicht umgekehrt: Anche per Plag sono le restrizioni individuali dei singoli morfemi a demarcare i limiti della loro combinabilità, per cui non è necessario alcun apparato stratale. La differenza rispetto all’approccio di Fabb e Scalise è tuttavia connessa con l’idea che nella derivazione è la base (eventualmente suffissata) a selezionare il suffisso e non viceversa 39 . Gaeta 40 verweist diesbezüglich u.a. auf die drei Suffixe -ificare, -izzare und -eggiare, die im Italienischen als produktive Verbbildungselemente fungieren. Die genannten Suffixe sind ihrerseits mit den deverbalen Suffixen -(z)ione und -mento kombinierbar. Cfr.: unire unificare unificazione italiano italianizzare italianizzazione corte corteggiare corteggiamento Suffixkombinationen wie in *unificamento, *italianizzamento und *corteggiazione seien gerade deshalb ausgeschlossen, „perché è la base verbale (nel nostro caso, la base verbale con l’aggiunta del suffisso) a selezionare il suffisso deverbale, e non il suffisso deverbale a selezionare la base” 41 . Dass der Ansatz von Plag (das Suffix wird durch die jeweilige (suffigierte) Basis bestimmt) nicht völlig unproblematisch ist, zeigt sich nach Gaeta unter anderem an italienischen Ableitungen wie rappacificamento, significanza oder volgarizzamento („La forza predittiva del basedriven approach di Plag risulta decisamente indebolita dalla molteplicità di suffissi selezionati contemporaneamente da una base […]“ 42 .) Einen psycholinguistischen und somit gänzlich anderen Zugang weisen die Arbeiten von Hay 43 auf, wobei die mentale Repräsentation sprachlicher Einheiten beziehungsweise die Möglichkeiten der kognitiv-mentalen 37 P. 232. 38 Cfr. Plag 1999, p. 63 ff. und Plag 2002. 39 Gaeta, „Combinazioni di suffissi in italiano“, p. 233. 40 P. 234. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Cfr. Hay 2000; 2002. Claudia Pichler 48 Verarbeitung morphologisch komplexer Strukturen 44 von besonderem Interesse sind. Cfr.: La prospettiva nella quale si colloca Hay prevede che il parlante abbia sempre a disposizione una doppia modalità di accesso all’input lessicale complesso: il parlante può accedervi direttamente, oppure può procedere alla sua scomposizione in morfemi. Decisiva rispetto all’accesso lessicale diretto o alla scomposizione è la frequenza dell’input lessicale. Se una parola presenta una frequenza alta, sarà probabile l’accesso lessicale diretto, indipendentemente dallo statuto morfologico. […] […] Un altro elemento che Hay mostra essere essenziale nell’accesso lessicale a parole complesse è la fonotassi. In particolare, l’autrice mette l’accento sul fatto che sequenze fonematiche rare sono indicatori affidabili di complessità morfologica, e pertanto aumentano la probabilità del parsing morfologico 45 . Die Frage nach der mentalen Speicherung gebundener (v.a. grammatischer) Morpheme kann und soll hier nicht weiter behandelt werden. Es geht vielmehr darum, die Kombination gebundener Morpheme (Suffixe) als funktionskompositorischen Prozess zu beschreiben, welcher eine interne „Neuorganisation“ der jeweiligen morphologischen Struktur bewirkt. Man betrachte diesbezüglich noch einmal die Bildung sogenannter komplexer Suffixe wie -igen in befehligen oder -erie in frz. chevalerie, die das Ergebnis einer Funktionskomposition darstellen (siehe oben). Im Unterschied dazu weisen Formen wie unificazione, italianizzazione und corteggiamento keine komplexen, durch Funktionskomposition entstandenen Suffixe auf, sondern sie enthalten komplexe Stämme beziehungsweise eine bereits suffigierte Ableitungsbasis. Cfr.: N Stn N/ Stn Stv Stn/ Stv Sta Stv/ Sta Stn Sta/ Stn itali- -an- -izza- -zion- -e 44 Cfr. dazu auch Wandruszka, Grammatik. Form - Funktion - Darstellung, Kap. III.4.5. „Zur mentalen Speicherung und Verarbeitung gebundener Morpheme und morphologisch komplexer Ausdrücke“, p. 200-207. 45 Gaeta, „Combinazioni di suffissi in italiano“, p. 235. Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 49 Wie die Abbildung 46 zeigt, entsteht durch das Hinzufügen des Suffixes -an aus einem Nominalstamm (Stn) ein Adjektivstamm (Sta); dieser bildet mit einem weiteren Suffix (-izza-) einen Verbalstamm (Stv), welcher wiederum mit einem Suffix (-zion-) zu einem Nominalstamm verbunden wird; der auf diese Weise entstandene komplexe Nominalstamm (italianizzazion-) konstituiert letztendlich mit dem „wortformbildenden Flexiv -e“ 47 das komplexe Nomen italianizzazione. Wandruszka spricht diesbezüglich von „iterativen Strukturen“ (beziehungsweise von sogenannten „Zwiebel- oder Babuschka-Strukturen“), „weil durch die Anwendung eines weiteren Suffixes jedesmal wieder ein neues Wort bzw. ein neuer Wortstamm entsteht“ 48 . Suffixe sind Kopffunktoren und repräsentieren die jeweilige Wortart. Entscheidend ist insbesondere der Umstand, dass in der Wortbildung immer nur ein neues Wort mit einem Wort oder ein neuer Stamm mit einem Stamm produziert werden kann. Dort, wo sich ein tatsächlicher Kategorienwechsel vollzieht, nämlich bei der Anwendung von Flexiven, die mit einem Stamm ein abgeschlossenes Wort formen, ist auch keine Iteration möglich 49 . Eine Umorganisation (Reinterpretation) von morphologischer Struktur kann auch in dem Sinne erfolgen, „dass eine Komponente einem anderen Träger als zuvor zugewiesen wird“ 50 . Dadurch kommt es - so wie im Falle der desubstantivischen Adjektivierung im Lateinischen - zu einer Verschiebung der morphologischen Grenzen. Cfr.: Im archaischen Latein bestand desubstantivische Adjektivierung mithilfe eines Suffixes -no, wie in domu- „Haus“ - domi-no- „zum Hause gehörig“ (dominus „Hausherr“) oder f go- „Buche“ - f gi-no- „buchen [aus Buche]“. Während bei diesen Beispielen der Stammvokal der Basis zu / i/ geschwächt wird, wird er bei a-Stämmen gedehnt: R ma „Rom“ - R m no- „römisch“, silva „Wald“ - silv no- „waldbewohnend“. Hier wird nun folgende Proportion hergestellt: R m-am : R m- no- = urb-em : x; x = urb- no- (R mam „Rom: AKK“, urbem „Stadt: AKK“, urb no- „städtisch“). So wird ein neues Suffix - nogewonnen, das weitere Adjektive wie mont no- „bergbewohnend“ (von mont- „Berg“) bildet. Dieses Suffix entsteht durch falsche Abtrennung, denn in R m nolag ja eigentlich ein Suffix -novor 51 . 46 Cfr. Wandruszka, Grammatik. Form - Funktion - Darstellung, p. 191. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 „Reanalyse“, http: / / www.christianlehmann.eu/ ling/ wandel/ Reanalyse.html, p. 1 f. [09.05.2011]. 51 P. 2. Claudia Pichler 50 Die beschriebene morphologische Reanalyse stellt sich kategorialgrammatisch wieder als Funktionskomposition dar: Desubstantivische Adjektivierung: R ma R m no N Adj. Stn N/ Stn N Adj./ N R m- -a R ma -no Morphologische Reanalyse/ Funktionskomposition: -a -no - no N x Adj. Adj. Stn N Stn Morphologische Struktur des Adjektivs nach erfolgter Reanalyse: R m no Adj. Stn Adj./ Stn R m- - no In R ma 52 ist -a ein „wortformbildendes Flexiv“ 53 der Kategorie N/ Stn, das mit einem Nominalstamm ein Nomen (also ein abgeschlossenes Wort) bildet und das als Funktor mit Kopfstatus die Kategorie der Wortart (Nomen) repräsentiert. Das Suffix -no hatte ursprünglich die Funktion, aus Nomina entsprechende Adjektive abzuleiten (desubstantivische Adjektivierung), weshalb es das Kategoriesymbol Adj./ N erhält. Im Zuge 52 Cfr. Themavokal (auch: Kennlaut, Bindevokal. Engl. linking vowel) Bez. für vokalische Einschübe zwischen Stämmen und Flexiven, etwa die Kennlaute der lat. Deklinationsmuster ( , , i, u, ) oder der vokalische Einschub zwischen konsonant. endenden Stämmen und konsonant. anlautenden Flexiven (lat. leg-i-tis, leg-i-mus, legunt). (Metzler Lexikon Sprache, p. 709). 53 Cfr. Wandruszka, Grammatik. Form - Funktion - Darstellung, p. 191. Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 51 einer Funktionskomposition können nun beide Endungen direkt aufeinander bezogen werden, wodurch das neue Suffix -ano entsteht. Die morphologische Strukturverschiebung wird somit nicht nur als funktionskompositorischer Prozess ([-a] + [-no]) aufgefasst, sondern auch formal als solcher dargestellt. Hinsichtlich der Bildung neuer Suffixe („secretion“/ „extension of suffixes“ 54 ) nennt Costantini u.a. das franz. Derivationssuffix -tier, „il quale è l’esito di rianalisi di derivati in -ier“ 55 : Dabei wird - unter dem Einfluss phonetischer Faktoren - das ursprünglich zur Ableitungsbasis gehörige Element -t mit dem Derivationssuffix -ier zu einem neuen, produktiven Suffix -tier verbunden. Cfr.: lait > laitier / l / > / letje/ fruit > fruitier / fr i/ > / fr itje/ [ -t] > [[ -t] +ier] [ ] > [[ ] + tier] 56 Die produktive Verwendung des durch Reanalyse neu entstandenen Morphems -tier zeige sich etwa an Formen wie bijoutier, abgeleitet von bijou: Un […] processo di acquisizione di valore morfologico da parte di segmenti che in origine ne sono privi sem-brerebbe porsi all’origine delle estensioni di suffissi: in questo caso in una serie derivativa di due elementi muta l’elemento da essi condiviso a causa di un mutamento fonetico che investe la base A della derivazione. […] In seguito a tale passaggio, pur non presentandosi alcun mutamento nell’ordine lineare dei fonemi, la struttura morfologica del derivato si allinea alla base, risultando differente respetto alla struttura originaria 57 . Abschließend sei noch ein weiteres Beispiel aus dem Bereich des Französischen genannt, wo die Bildung von Satzfragen mitunter durch Subjektsinversion erfolgt. „Dabei wird das klitische Subjektspronomen, das sonst dem finiten Verb vorangeht, diesem enklitisch angehängt“ 58 . Cfr.: a) Votre père (il) part. „Ihr Vater bricht auf.“ b) Votre père part-il? „Bricht Ihr Vater auf? “ c) Y a-t-il des cérises? „Gibt es Kirschen? “ 59 54 Cfr. dazu Jespersen 1922. 55 Costantini, „Spunti per una classificazione dei casi di rianalisi morfologica“, p. 131. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 „Reanalyse“, http: / / www.christianlehmann.eu/ ling/ wandel/ Reanalyse.html, p. 3, [09.05.2011]. 59 Ebd. Claudia Pichler 52 Da bei den stammbetonten Verben die Endung nicht hörbar ist (a)), fungiert letztere nur mehr eingeschränkt als Kennzeichen der dritten Person. Die Verbendung wird jedoch - bedingt durch die Liaison - hörbar, sobald das Personalklitikum (Subjekt) hinter das Verbum tritt (b)). Diese phonetische Veränderung steht in Verbindung mit einer entsprechenden Umdeutung der morphologischen Struktur, und zwar in dem Sinne, dass / t/ „als Bestandteil des folgenden Klitikums interpretiert […] und das neue Morphem als Interrogativsuffix reanalysiert wird. Das interrogative / t/ existiert auch in der Standardsprache, wird dort allerdings, wie in c), in der Orthographie abgetrennt“ 60 . Die beschriebene Reanalyse kommt einer Funktionskomposition gleich und die morpho-phonologischen Grenzen werden neu gezogen. Cfr.: Intonationsfrage: (Votre père) il part? S S/ (S/ ProNP) 61 S/ ProNP Stv (S/ ProNP)/ Stv Morphologische Repräsentation: il par- -t Phonetische Repräsentation: [il] [par] [ ] Die Nachstellung des Subjekts bewirkt nun - in Verbindung mit phonetischen Faktoren (Liaison) - eine Interpretation der Verbendung / t/ als Bestandteil des nachfolgenden Personalklitikums (s.o.), wobei / t/ hörbar wird: Inversionsfrage: (Votre père) part-il? S interr. Stv S interr. / Stv Phonetische Repräsentation: [par-] [-til] 60 Ebd. 61 Das Subjekt wird hier nicht als Grundausdruck, sondern als Kopffunktor (Subjekt- Funktor) definiert. Man spricht diesbezüglich von einer „Typ-Anhebung“ des Subjekts (siehe dazu weiter unten). Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 53 Das als Interrogativsuffix reanalysierte Morphem [-til] ist das Ergebnis einer Funktionskomposition; dabei werden die finite Verbendung -t und das Subjektspronomen il direkt aufeinander bezogen. Letzteres wird im genannten Fall allerdings nicht, wie normalerweise üblich, als Grundausdruck (ProNP) wiedergegeben, sondern als Element der Kategorie S/ (S/ ProNP). Das Subjekt ist demnach ein Kopffunktor und wird „als Ausdruck definiert, der mit einer Verbalphrase S/ ProNP einen Satz macht […]“ 62 . Der Subjekt-Funktor entsteht als Folge einer sogenannten „Typ-Anhebung“ (type raising), bei der im Allgemeinen „ein Komplement zum Funktor seines ursprünglichen Funktors angehoben wird“ 63 . Die Typ-Anhebung des Subjekts (das „natürlich durch Kürzung wieder auf die einfache Grundkategorie zurückgeführt werden kann: S/ (S/ NP) = NP“ 64 ) ermöglicht im Rahmen der erwähnten Funktionskomposition eine direkte Anwendung der finiten Verbendung auf das Subjektspronomen. Cfr.: Funktionskomposition: -t il [-til] (Interrogativsuffix) (S/ ProNP) x S S Stv (S/ ProNP) Stv Die Kategorialgrammatik ist - wie der Jubilar betont - “für die Darstellung sprachlicher Fakten besonders geeignet, weil sie sich selbst als eine Art strukturelles Analogon der natürlichen Sprache versteht - und dies sowohl auf morpho-syntaktischer als auch auf semantischer Ebene“ (Wandruszka, Grammatik. Form - Funktion - Darstellung, 2007). Auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung hat sich das Modell bewährt. Sprachliche Strukturverschiebungen (reanalysierte Strukturen) sowie die kumulative Inhaltsstruktur gebundener Morpheme (Suffixe) wurden als funktionskompositorische Prozesse beschrieben und sind in diesem Sinne Ausdruck der Verzahnung von Morphologie und Syntax. 62 Wandruszka, Grammatik. Form - Funktion - Darstellung, p. 100. 63 Ebd. 64 P. 101. Claudia Pichler 54 Bibliographie Bruno, Giordano (Nolano), De gli eroici furori. In: id. Dialoghi italiani, vol. I u. II, Firenze: Sansoni, 1985 (Classici della filosofia, vol. II). Chomsky, Noam/ Halle, Morris (1968), The sound pattern of English. New York: Harper and Row. Costantini, Francesco, „Spunti per una classificazione dei casi di rianalisi morfologica”. In: Grossmann, Maria/ Thornton, Anna M. (a cura di) (2005), La formazione delle parole. Atti del XXXVII congresso internazionale di studi della società di linguistica italiana (SLI). Roma: Bulzoni, p. 127-135. 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Ph.D. Dissertation, MIT [veröffentlicht bei: Garland, New York, 1979]. Wandruszka, Ulrich (1997), Syntax und Morphosyntax. Eine kategorialgrammatische Darstellung anhand romanischer und deutscher Fakten. Tübingen: Narr (= Tübinger Beiträge zur Linguistik, 430). Gebundene Morpheme und morphologische Reanalyse 55 Wandruszka, Ulrich (1998), „Romanische Syntax und Kategorialgrammatik. Einführende Bemerkungen“. In: Dahmen, W./ Holtus, G./ Kramer, J. et al. (eds.), Neuere Beschreibungsmethoden der Syntax romanischer Sprachen. Tübingen: Narr, p. 397-406. Wandruszka, Ulrich (2007), Grammatik. Form - Funktion - Darstellung. Tübingen: Narr (= Tübinger Beiträge zur Linguistik, 503). Internetquelle „Reanalyse“, http: / / www.christianlehmann.eu/ ling/ wandel/ Reanalyse.html, p. 1-5, [09.05.2011]. Christoph Schwarze Wie syntaktisch ist die Morphologie? Der vierte Verbstamm des Italienischen in einem Schichtenmodell 1 Einleitung ∗ ∗∗ ∗ In seinem Buch Grammatik (Wandruszka 2007: 173-180) geht der Jubilar u.a. auf die Beziehung zwischen der (kategorialgrammatisch konzipierten) Syntax und der Flexionsmorphologie ein. Er vertritt Folgendes: Beide Komponenten der Grammatik haben einen „gemeinsamen Ursprung“, insofern als die Morphologie „,geronnene’ wortinterne Syntax“ ist (Wandruszka 2007: 173). In beiden Komponenten besteht die Grundstruktur komplexer Ausdrücke in der Verbindung eines Funktors mit einem Komplement. Dieser Gemeinsamkeit stehen, etwas vergröbert formuliert, die folgenden Unterschiede gegenüber: • Während in der „freien Syntax“ der Kopf dem komplexen Ausdruck seine Funktion zuweist, tut dies in der Morphologie die Endung. • Der syntaktische Begriff des Komplements hat in der Morphologie keine genaue Entsprechung: In der „freien Syntax“ sind Komplemente abgeschlossene, nullstellige Ausdrücke. Bei dem, was man in der Morphologie etwas ungenau als Komplemente bezeichnen kann, - das sind die „Stämme“ - handelt es sich um nicht-abgeschlossene Ausdrücke. • Die syntaktischen Komplemente sind hinsichtlich ihrer Kategorie eindeutig festgelegt, während die „Stämme“ kategorial neutral sind. Ein Stamm „als solcher ist kein Element irgendeiner Wortklasse“ (Wandruszka 2007: 175). Wandruszka schränkt diese Aussage allerdings sofort ein: Ein Stamm ist „aber doch insoweit einer Wortart ∗ Die in diesem Beitrag fomulierten Gedanken gehen auf ein Seminar zurück, das ich auf Einladung von Paola Benincà im Frühjahr 2007 an der Universität Padua gehalten habe. Das umfangreiche Manuskript dieses Seminars haben Françoise Kerleroux und Bernard Fradin im Rahmen meines Forschungsaufenhalts am Laboratoire de Linguistique Formelle der Universität Paris VII im Herbst 2008 freundlicherweise gelesen und mit mir diskutiert. Ich danke den Genannten für ihr Interesse und ihre Unterstützung. Christoph Schwarze 58 zuzurechnen, als er zunächst zur Erzeugung von Formen einer bestimmten Wortart dient“ (a.a.O.) • Auch semantisch unterscheiden sich Syntax und Morphologie. Die morphologischen Konstituenten haben im Unterschied zu den syntaktischen Konstituenten keine autonome, sondern eine nur relationale Bedeutung (Wandruszka 2007: 176f.) • Die Endungen der Flexionsmorphologie begründen „das Gerüst eines Flexionsparadigmas“ (Wandruszka 2007: 177). 1 Aus dieser Gegenüberstellung ist ersichtlich, dass der Autor die Morphologie grundsätzlich als eine besondere Art von Syntax versteht, und zwar offensichtlich deshalb, weil morphologisch komplexe Ausdrücke sich in Konstituenten analysieren lassen. Einem solchen Verständnis von Morphologie steht die Auffassung gegenüber, dass Wörter nur scheinbar eine Konstituentenstruktur haben. So hat Stump (2001) für die Flexionsmorphologie ein Modell vorgeschlagen, das die folgenden Eigenschaften hat: • Die Einheiten der Flexionsmorphologie sind Wurzeln, Stämme und Wörter (d.h. Wortformen). s. Stump (2001: 33). Es gibt keine Affixe. • Die Repräsentation einer morphologischen Einheit besteht aus einem Paar <W, σ >, wobei W eine Kette von Lauten und σ eine Menge von Merkmalen ist (Stump 2001: 33). • Der Zusammenhang zwischen Wurzel, Stamm und Wort wird jeweils innerhalb eines Paradigmas durch Funktionen dargestellt, die solche Paare auf einander abbilden. Die Ablehnung syntaxähnlicher Modelle der Flexionsmorphologie begründet Stump so: i. Ein gegebenes Merkmal kann in einem Wort mehrfach realisiert sein, wie in Dt. gesprochen, das durch zwei Affixe und den Stammvokal als Partizip Perfekt gezeichnet ist (Stump 2001: 4). ii. Ein gegebenes Merkmal kann unrealisiert bleiben. Stump (2001: 7f) gibt ein bulgarisches Beispiel; ein romanisches Beispiel sind Flexionsformen französischer Adjektive wie haut, petit, deren Merkmale [S UBJEKT _N UMERUS = S INGULAR , S UBJEKT _G ENUS = M ASKULINUM ] durch das Fehlen eines Affixes realisiert sind. 1 Hiermit sind offensichtlich geschlossene Paradigmen gemeint, im Unterschied zur „ paradigmatischen Unendlichkeit “ syntaktischer Muster, von der in dem Abschnitt über „ Erwerb und Verwendung der immanenten Grammatik “ die Rede ist (Wandruszka 2007: 22). Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen 59 iii. Syntaxähnliche Modelle postulieren überflüssige oder willkürliche Unterscheidungen, z.B. diejenige zwischen verkettender und nicht-verkettender Flexion (Stump 2001: 9-11), diejenige zwischen Inhalt und Kontextbedingungen von Affixen (Stump 2001: 10f) und diejenige zwischen der Konstituenz eines Wortes und seiner phonologischen Repräsentation (Stump 2001: 11f.). iv. Syntaxähnliche Modelle sind an der Schnittstelle zwischen Morphologie und Syntax unnötig kompliziert, z.B. im Hinblick auf Passivperiphrasen (Stump 2001: 12-17). v. Das Vorhandensein von Affixen ist ein vorübergehender Zustand in Grammatikalisierungsketten des Typs „Wort+Wort > Wort+Affix > lautlich modifiziertes Wort“. Da Affixe bereits durch die Grammatikalisierungstheorie erfasst werden, braucht man sie nicht zusätzlich in synchronischen Modellen zu erklären (Stump 2001: 18-27). Für wie haltbar und relevant man diese Begründungen im Einzelnen halten mag, so deuten sie doch darauf hin, dass ein vollkommen syntaxähnliches Modell der Flexionsmorphologie ein beachtliches Ausmaß an Unregelmäßigkeit annehmen muss. Insbesondere ist es wünschenswert, dass ein morphologisches Modell die Punkte i. und ii. von Stumps Kritik berücksichtig. Bei ihnen handelt es sich um deskriptive Regularitäten, die nicht aufgrund des Modells als Ausnahmen aufgefasst werden sollten. Ebenso ist Stumps Punkt iii. bedenkenswert: Syntaxähnliche Modelle der Morphologie haben tatsächlich Artefakte hervorgebracht, von denen das bekannteste wohl das Null-Morphem sein dürfte. Auf der anderen Seite jedoch beinhaltet das von Stump (2001) propagierte Modell den Verzicht darauf, in die Wortformen hineinzusehen. Dies bedeutet, dass nicht nur ein beträchtliches Maß an gesichertem Wissen als obsolet erklärt wird, sondern auch, dass allen morphologisch begründeten Typologien der von Wilhelm von Humboldt begründeten Forschungstradition der Boden entzogen wird. Auch die typologischen Aspekte von grammatischem Wandel bleiben unsichtbar. Ein Beispiel typologischen Wandels sind die Weiterentwicklungen des lateinischen Verbs im Romanischen: die Präsensformen des lateinischen Verbs zeigten praktisch keine Allomorphie der Wurzel, während eine solche Allomorphie im Romanischen, zunächst verursacht durch regelmäßigen Lautwandel, zu einem charakteristischen Strukturmerkmal der Verbflexion ausgebaut wurde (Maiden 1995: 133, 2003). Christoph Schwarze 60 Wünschenswert ist somit ein morphologisches, Modell, das die unterschiedlichen Verfahren ausdrücken kann, durch welche die einzelnen Sprachen in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung ihre Flexionsmerkmale realisieren. Im Folgenden möchte ich ein solches Modell in seinen Umrissen skizzieren. Illustrieren möchte ich es vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, anhand der Bildung der vierten Stämme des italienischen Verbs und der auf ihm beruhenden Wortformen. In Analogie zu der Terminologie von Aronoff (1994) bezeichne ich mit dem Terminus „vierter Stamm" diejenigen Stämme, die in den Partizipien Perfekt und Passiv auftreten und an die Nominalisierungssuffixe wie -or- oder -sionangefügt werden können; vgl. die folgenden Beispiele (der vierte Stamm ist jeweils durch einen Zwischenraum vom Rest abgetrennt; eckige Klammern signalisieren phonetische Transkriptionen): vierter Stamm Partizip Nomen agentis Nomen actionis lavoratlavorat o lavorat ore lavora[t s]ione 2 vendutvendut o vendit ore 3 <vendit a> speditspedit o spedit ore spedi[t s]ione scrittscritt o scritt ore 4 iscri[t s]ione Tabelle 1: Der vierte Stamm und auf ihm beruhende Formen 2 Ein Schichtenmodell der Morphologie Das Modell der Morphologie, das ich im Folgenden skizzieren möchte, ist ein Schichtenmodell. Es baut auf einem Wortbegriff auf, der das Wort als Schnittstelle verschiedener Komponenten der Grammatik modelliert und Wörter dem entsprechend als Einheiten sieht, die auf mehreren Schichten repräsentiert sind; s. hierzu z.B. Schwarze/ Wunderlich (1985: 13f). All- 2 Ich betrachte also die als z geschriebene Lautung hier nicht als Affrikate, sondern als eine Folge der Segmente [t] und [s]. Auf die Frage, ob das [t] eine Geminate ist, gehe ich hier nicht ein. 3 Bei den Stämmen auf -utbesteht eine systematische Variation zu -it-: venduto - venditore, bevuto - bevitore. 4 Der in der Wortbildung verwendete vierte Stamm ist nicht immer gleich dem Stamm, der im Partizip auftritt: (ho) difes-o und (la) difes-a aber (il) difens-sore, (sono) nat-o aber (la) nascit-a, (la) tradu[t-s]ione aber (ho) tradotto usw. Diese Variation ist, synchronisch betrachtet, unsystematisch und muss als lexikalisch kodiert aufgefasst werden. Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen 61 gemein gesprochen ist diesem Verständnis zufolge ein Wort repräsentiert als bestehend aus: • einer Lautkette (und ggfs. einer Schreibung) • einer syntaktischen Kategorie • einer lexikalischen Bedeutung • einer Konfiguration funktionaler Merkmale So lässt sich die Wortform Städte repräsentieren als (1): (1) [ t t ] Städte N λ x stadt (x) [ PRED = ' STADT ', GEN = FEM , NUM = PL ] 5 Aufbauend auf diesem Wortbegriff beruht das Schichtenmodell der Morphologie auf den folgenden Grundannahmen: • Die Wörter und Wortformen, soweit sie nicht im mentalen Lexikon gespeichert sind, werden durch geschichtete Regeln gebildet, die sowohl syntagmatische als auch nicht-syntagmatische Prozesse erfassen können. • Der jeweilige Anteil, den die syntagmatischen und die nichtsyntagmatischen Prozesse an der Bildung der Wörter und Wortformen haben, variiert von Sprache zu Sprache. Er gibt Aufschluss über typologische Gegebenheiten. • Zusätzlich zu den morphologischen Regeln kann es lexikalische Muster der Relationen zwischen den Stämmen geben. Die Regeln sind insofern geschichtet, als sie gleichzeitig Veränderungen auf mehreren Schichten der Repräsentation bewirken können. Diese Schichten sind: • die Schicht der Konstituenz (die k-Schicht); hier werden morphologische Konstituenten verkettet und lexikalische Kategorien geändert • die funktionale Schicht (die f-Schicht); hier werden Merkmale verarbeitet • die phonologische Schicht (die p-Schicht); hier werden phonologische Segmente verarbeitet • die semantische Schicht (die s-Schicht); hier werden semantische Repräsentationen verarbeitet. 5 Abkürzungen: N Nomen, P RED Prädikat, G EN Genus, F EM Femininum, N UM Numerus. Christoph Schwarze 62 Welche dieser Schichten jeweils an einem morphologischen Prozess beteiligt sind, ist in dem Modell nicht allgemein festgelegt. Im Folgenden sei die Analyse einiger morphologischer Prozesse im Schichtenmodell skizziert. Wohlgemerkt skizzieren wir hier nur Beispiele; die Regeln, auf denen die Prozesse beruhen, werden nur angedeutet. 2.1 Verkettende Prozesse An verkettenden Prozessen sind typischerweise die k-Schicht, die f- und oft auch die s-Schicht beteiligt. Sie bestehen in der Zusammenfügung von morphologischen Konstituenten, in der gleichzeitigen Unifikation der ihnen zugeordneten Merkmale und, soweit die Merkmale Bedeutungsträger sind, in deren semantischer Auswertung. Angenommen, die Form case bestehe aus den Konstituenten cas- und -e mit den Repräsentationen in (2) und (3): (2) k-Schicht: cas- f-Schicht: PRED = ' CASA , GEN = FEM s-Schicht: λ x casa (x) (3) k-Schicht: -e f-Schicht: NUM = PL , GEN = FEM s-Schicht: number_of (x, >1) Durch Verkettung und Unifikation ergibt sich (4): (4) k-Schicht: case f-Schicht: PRED = ' CASA ', GEN = FEM , NUM = PL s-Schicht: λ x casa (x) ∧ number_of (x, >1) In diesem Beispiel sind beide Konstituenten einfach. Im Falle der Partizipien ist eine solche binäre Verkettung nur der letzte Schritt nach einer Reihe vorausgehender Teilprozesse. Die nun folgende Analyse der Form vendute in ihrer Funktion als Partizip Passiv, wie in (5), stellen wir jedoch hier so dar, als ob die Konstituente vendutnicht komplex wäre; auf ihren inneren Aufbau kommen wir später zurück. (5) Le case sono state vendute. Die Konstituenten von vendute, so wie es in (5) auftritt, sind (6) und (7): Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen 63 (6) k-Schicht: vendut- f-Schicht: PRED = ' VENDERE ' < SUBJ >, PARTI = PASS 6 s-Schicht: λ x ∃ y ∃ z vendere (x,y,z) (7) k-Schicht: -e f-Schicht: SUBJ NUM = PL , SUBJ , GEN = FEM Die Endung -e ist hier lediglich kongruenzbedingt; sie bedingt keine Änderung der Bedeutung. Durch Verkettung und Unifikation ergibt sich (8): (8) k-Schicht: vendute f-Schicht: PRED = ' VENDERE ' < SUBJ >, PARTI = PASS , SUBJ NUM = PL , SUBJ GEN = FEM s-Schicht: λ x ∃ y ∃ z vendere (x,y,z) 2.2 Prozesse, an denen die p-Schicht beteiligt ist Prozesse, an denen die p-Schicht beteiligt ist, konstituieren die nichtverkettende Morphologie. Sie betreffen immer auch die f-Schicht und meist auch die s-Schicht. Beispiele solcher Prozesse sind der Umlaut des Dt., wie in Vogel Vögel, die Variation des Wortakzents wie in Engl. prodúce próduce, die Reduplikation wie in Lat. cadere cecidi, oder die Längung oder Einfügung phonologischer Segmente wie im klassischen Arabisch. Hier werden Verbstämme (sog. Binyanim), Diathesen und nominale Formen auf der p-Schicht aus konsonantischen Wurzeln gebildet; vgl. Tabelle 2; Flexionsendungen sind jeweils durch einen Zwischenraum abgetrennt: Wurzel qtl ,töten’ 1. Stamm Aktiv qatal a ,töten’ 1. Stamm Passiv qutil a ,getötet werden’ 2. Stamm qattal a ,ein Gemetzel anrichten’ 3. Stamm q tal a ,bekämpfen’ 8. Stamm aqtatal a ,mit einander kämpfen’ Nomen actionis qatl un ,Tötung’ Nomen qualitatis qat l un ,getötet’ Tabelle 2: Bildungen auf der p-Schicht (Auswahl) 6 Abkürzungen: S UBJ Subjekt, P ARTI Partizip, P ASS Passiv, S UBJ N UM Numerus des Subjekts, S UBJ G EN Genus des Subjekts. - - - Christoph Schwarze 64 Die Annahme morphologischer Prozesse auf der p-Schicht setzt wohlgemerkt voraus, dass Phonologie und Morphologie klar unterscheidbare Komponenten der Grammatik sind. Der Unterschied sei anhand einiger Beispiele angedeutet. Es handelt sich bei diesen um Lautvariation, die zwar in der Flexion auftritt, aber nicht morphologisch bedingt ist. Das erste Beispiel dieser Art ist die Anhebung von [ ] zu [o] in It. [tr vo ] trovo - [trovavo] trovavo oder von [ ] zu [e] in ['pr : .go] prego - [pre.'gja: .mo] preghiamo. Die Bedingung für diese Variation ist rein phonologisch: [ ] und [ ] können nur in betonter Silbe auftreten und werden angehoben, wenn die Silbe nicht betont ist. Auch der Unterschied in der Vokalquantität ist rein phonologisch bedingt: Die Vokalquantität ist nicht distinktiv; Vokale werden (etwas vergröbernd formuliert) in betonter, offener Silbe gelängt, in unbetonten Silben sind sie kurz. Ein zweites Beispiel ist die Variation von [e] und [ ] in Frz. [sede] céder - [s d] cède. Sie ist durch rein phonologische Regeln bedingt, d.h. sie ist gänzlich unabhängig davon, um welche Wortart es sich handelt und welche morphologisch-syntaktischen Merkmale die beiden Formen jeweils realisieren: Es gibt im Frz. grundsätzlich kein [e] in geschlossener Silbe; deshalb wird das [e] in cède abgesenkt. Als drittes Beispiel sei die Variation des Wurzelvokals beim Futur und Konditional desselben Verbs céder betrachtet. Diese Formen haben ebenfalls ein [ ] in der Wurzel, z.B. [s dre ] cèderai. Der Vokal steht hier in offener Silbe ([s .dre ]), so dass die Phonologie ein [e] zulassen würde; vgl. z.B. [se.dram] ces drames. Die Variation ist somit morphologischer Natur. Aus diesen Beispielen verallgemeinernd lässt sich nun die Unterscheidung zwischen rein phonologischen Prozessen und morphologischen Prozessen in der p-Schicht so formulieren: Eine rein phonologische Variation kann vollständig unter Verwendung phonologischer Begriffe wie Silbe, Betonung usw. beschrieben werden. Ein morphologischer Prozess in der p-Schicht hingegen ist nicht ausschließlich phonologisch bedingt, und seine Auswirkungen sind zugleich phonologisch und morphologisch. Morphologische Prozesse auf der p-Schicht können mit oder ohne Beteiligung der k-Schicht stattfinden. Ein Beispiel für Letzteres ist die im Deutschen häufige Kombination von Umlaut und Affix wie in Fall - Fälle, geben - gibst, sprechen - gesprochen. Hier sind alle morphologischen Schichten beteiligt. Diese Prozesse können prinzipiell frei sein, wie diejenigen, die den Diathesen des arabischen Verbs (s. Tabelle 2) zugrunde liegen; sie sind aber meist lexikalisch gebunden. So gilt z.B. die erwähnte deutsche Pluralbil- Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen 65 dung durch Umlaut und Suffix -e des Typs Fall - Fälle auch für Bach - Bäche, Baum - Bäume, Hand - Hände, Kahn - Kähne, Kopf - Köpfe, Maus - Mäuse, Raum - Räume, Saal - Säle, Schnur - Schnüre, Sohn - Söhne, Spahn - Spähne, Strand - Strände, Strom - Ströme, Stuhl - Stühle, Traum - Träume, Zahn - Zähne, Zoll - Zölle. Sie konkurriert jedoch mit weiteren Arten der Pluralbildung. Eine solche ist die Pluralbildung mit Umlaut und Suffix -er wie in Band - Bänder, Buch - Bücher, Dach - Dächer, Fach - Fächer, Glas - Gläser, Gras - Gräser, Haus - Häuser, Land - Länder, Loch - Löcher, Rand - Ränder; eine andere Pluralbildung ist diejenige ohne Umlaut und ohne Affix, wie in Eimer - Eimer, Samen - Samen, Rahmen - Rahmen, Riemen - Riemen und wieder eine andere diejenige ohne Umlaut, aber mit einem Suffix, wie in Boot - Boote, Brot - Brote, Pol - Pole, Schuh - Schuhe, Strahl - Strahlen, Uhr - Uhren - Wahl - Wahlen. Solche Gruppen bilden Flexionsklassen, und die Zugehörigkeit eines Wortes zu einer gegebenen Wortklasse muss, soweit sie nicht aus einer seiner Eigenschaften, wie lautliche Gestalt oder Genus, ersichtlich ist, lexikalisch kodiert sein. Morphologische Prozesse auf der p-Ebene spielen in den romanischen Dialekten Italiens eine große Rolle. Bei diesen Prozessen, die als Metaphonie bezeichnet werden, handelt es sich um die morphologisch bedingte Variation des Wurzelvokals. Beipiele sind [b ] - [ b o] ,Ochse’ - ,Ochsen’ (Dialekt von Montagne di Trento, Grassi 2008: 48; s. auch Rohlfs 1968: 48), oder [mese] - [misi] ,Monat’ - ,Monate’ (kampanischer Dialekt von Piedimonte Matese, Gaglia 2009: 136-144). Im Beispiel [b ] - [ b o] ist die k- Schicht inaktiv, im Beispiel [mese] [misi] ist sie beteiligt: -e und -i sind Flexionsendungen. Wir analysieren beide Beispiele anhand des Schichtenmodells. Wir nehmen an, dass alle Nomina eine Wurzel und einen Nominalstamm enthalten und dass diese phonologisch identisch sein können. Daraus folgt, dass [b ] (Singular) und [ b o] (Plural) auf einem gemeinsamen Stamm beruhen. Diesen identifizieren wir aus phonologischen Gründen, die hier nicht ausgeführt werden können, als [b ]. Seine Repräsentation ist (9): (9) p-Schicht: [b ] N-STEM f-Schicht: PRED = ' BOVE ', GEN = MAS 7 s-Schicht: λ x bove (x) 7 Abkürzungen: N-S TEM nominaler Stamm, N-S UFFIX nominales Suffix, M AS Maskulinum. - Christoph Schwarze 66 Die Bildung der aus diesem Stamm gebildeten flexivisch abgeschlossenen Nomina erfolgt, was den Singular angeht (10), durch die bloße Einführung des Merkmals [Numerus = Singular]. (10) p-Schicht: [b ] N f-Schickt: PRED = ' BOVE ', GEN = MAS , NUM = SG s-Schicht: λ x bove (x) ∧ number_of (x, 1) Was den Plural angeht (11), so wird der Vokal des Stammes angehoben; technischer formuliert: Auf der p-Schicht erfolgt eine Änderung der Merkmals-Repräsentation des [ ], und zwar wird das phonologische Merkmal [coronal] durch [dorsal] ersetzt. Gleichzeitig wird in der f- Schicht das Numerusmerkmal [N UMERUS = P LURAL ] eingeführt. (11) p-Schicht: [bo] N f-Schickt: PRED = ' BOVE ', GEN = MAS , NUM = PL s-Schicht: λ x bove (x) ∧ number_of (x, >1) Was kamp. [mese] und [misi] angeht, so ist (12) der Stamm: (12) k-Schicht: mes- N-STEM p-Schicht: [mes] f-Schicht: PRED = ' MESE ', GEN = MAS s-Schicht: λ x mese (x) Die beteiligten Suffixe sind (13) und (14): (13) k-Schicht: -e N-SUFFIX f-Schicht: GEN = MAS , NUM = SG (14) k-Schicht: -i N-SUFFIX f-Schicht: GEN = MAS , NUM = PL Die Bildung des Singulars ist rein verkettend; es ergibt sich (15): (15) k-Schicht: mese N p-Schicht: [mese] f-Schicht: PRED = ' MESE ', GEN = MAS , NUM = SG s-Schicht: λ x mese (x) ∧ number_of (x, 1) Bei der Bildung des Plurals wird zusätzlich der Wurzelvokal angehoben. Das Ergebnis ist (16): (16) k-Schicht: misi N p-Schicht: [misi] f-Schicht: PRED = ' MESE ', GEN = MAS , NUM = PL s-Schicht: λ x mese (x) ∧ number_of (x, >1) Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen 67 In der Flexion des Standard-Italienischen gibt es beachtliche Variation der phonologischen Form. Betroffen ist der Konsonanten am rechten Rand der Wurzel oder der Wurzelvokal; die Phänomene sind: • die Palatalisierung wie in dico - dici, esco - esci, volere - voglio • die Anfügung eines Velars an die Wurzel, wie in venire - vengo • die Längung des Endkonsonanten der Wurzel, wie in sapere - sappia • die Tilgung des Endkonsonanten der Wurzel, wie in sapere - sa • die Assimilation des Endkonsonanten der Wurzel, wie in venire - verrò • die Variation zwischen einfachem Vokal und Diphthong, wie in volere - vuole, venire - viene • die Variation zwischen einfachen Vokalen, wie in devo - dovere, esco - uscire Schließlich findet man auch eine komplexe Variation, von der sowohl der Vokal der Wurzel als auch der folgende Konsonant betroffen sind. Sie ist typisch für die unregelmäßigen vierten Stämme; Beispiele sind dico - detto, traduco - tradotto, difendere - difeso. Es erhebt sich freilich die Frage, ob die Variation in allen genannten Fällen tatsächlich auf synchronisch aktiven Prozessen beruht. Die Alternative besteht darin, dass es sich um bloße Allomorphie handelt, d.h. dass bereits das Lexikon mehrere Stämme für ein gegebenes Lexem zur Verfügung stellt. Dies ist offensichtlich bei suppletiven Paradigmen der Fall. So lässt sich im Paradigma von it. andare die Variation zwischen den Stämmen and- und va nicht sinnvoll als eine lautliche erfassen; es handelt sich um bloße, lexikalisch kodierte Allomorphie. Das Kriterium für die Unterscheidung zwischen regelbasierter Variation und bloßer Allomorphie ist die Vorhersagbarkeit. Dass der Stamm va im Paradigma von andare auftritt, ist offensichtlich nicht vorhersagbar. Die Palatalisierung der Sequenz [sk] bei Verben wie finisco - finisce, cresco - cresce und esco - esce zu [ ] hingegen ist vollständig vorhersagbar, und zwar aufgrund der folgenden, morphologisch und lexikalisch bedingten Regeln: (17) [sk] → [ ] / __ [vocalic, coronal] 8 wenn [sk] die Stammerweiterung -skist oder wenn [sk] der rechte Rand der Wurzeln esk- oder kreskist 8 Symbole und Abkürzungen: / bezeichnet einen Kontext, _ […] bezeichnet das betroffene Segment und die Merkmale des ihm folgenden Segments. P ERS Person, T EN- SE Tempus, P RES Präsens. Christoph Schwarze 68 (18) [sk] → [ ] wenn [sk] der rechte Rand der Wurzeln esk- oder kreskist und die f-Schicht die folgenden Merkmale enthält: [ PERS = 1, NUM = PL , TENSE = PRES ] oder [ PERS = 2, NUM = PL , TENSE = PRES , MOD = SUBJUNCTIVE ] 9 Regel (17) erfasst die Palatalisierung [sk] vor den hohen Vokalen [e] oder [i]. Die beiden alternativen Bedingungen in der zweiten und dritten Zeile schließen aus, dass jedes [sk] palatalisiert wird, so dass z.B. der Plural von casco ,Helm’ oder die 2. Singular von cascare ,fallen’ [kaski] caschi heißt, und nicht *[ka i] *casci. Zeile zwei bezieht sich auf die Verben des Typs finire, Zeile drei auf die Verben uscire und crescere. Die Regel erfasst jedoch nicht die Formen [u amo] usciamo, [u ate] usciate und [kre amo] cresciamo, [kre ate] cresciate. Diese Formen erfüllen nicht die in der ersten Zeile enthaltene phonologische Kontextbedingung: Es folgt nicht [e] oder [i], sondern [a]. Dies macht Regel (18) erforderlich. Hier enthält die erste Zeile keine Kontextbedingung; dafür wird die Palatalisierung auf diejenigen Zellen des Paradigmas von crescere und uscire beschränkt, die durch die angegebenen funktionalen Merkmale definiert sind. Was die morphologisch einfachen vierten Stämme wie dett- und scrittangeht, so sind sie Fälle von Allomorphie, und somit, wie bereits gesagt, im Lexikon kodiert. Trotzdem sind die Beziehungen zwischen den verschiedenen Stämmen eines Lexems nicht immer völlig unsystematisch. Hiervon soll weiter unten, in Abschnitt 3, die Rede sein. 2.3 Prozesse ohne Verkettung und ohne Änderung der phonologischen Repräsentation Die unter dem Terminus Konversion bekannten Prozesse gehören zu denjenigen, die ohne Verkettung und ohne Änderung der phonologischen Repräsentation ablaufen. Italienische Beispiele sind von Adjektivstämmen abgeleitete Nomina wie il caldo. Die betreffenden Adjektivstämme können auch ihrerseits durch Konversion vom vierten Stamm des Verbs gebildet sein, wie l’accaduto, l’accusato, il gelato, lo scritto usw. Diese Prozesse verändern nicht nur die f-Struktur und die semantische Repräsentation, sondern auch die lexikalische Kategorie. 9 Abkürzungen: M OD Modus, S UBJUNCTIVE Konjunktiv, A-S TEM adjektivischer Stamm, das ι in (20) ist der Jota-Operator. Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen 69 In der folgenden Analyse, (19) und (20), betrachten wir das Nomen l’accaduto in der Bedeutung ,das Geschehene’. Repräsentiert sind nur die Stämme, nicht die Flexionsendung. (19) Das Adjektiv accaduto k-Schicht [accadut-] A-STEM f-Schicht PRED = ' ACCADUTO 1' s-Schicht λ x P (x) ∧ accaduto (x) (20) Das Nomen accaduto k-Schicht [accadut-] N-STEM f-Schicht PRED = ' ACCADUTO 2', GEN = MAS s-Schicht ι x accaduto (x) Die semantische Analyse kann hier nur angedeutet werden: Die Variable P in (19) ist das Prädikat desjenigen Nomens, auf das sich das Adjektiv bezieht, also z.B. storie in delle storie realmente accadute. Die semantische Repräsentation in (20) soll Folgendes ausdrücken: Das Nomen (l’)accaduto ist semantisch eine Kennzeichnung. Es bedeutet ,das, was geschehen ist’. Seine Bedeutung besteht also aus der Bezeichnung einer sonst nicht weiter bestimmten Entität anhand einer für sie konstitutiven Eigenschaft. Solche auf Konversion beruhenden Kennzeichnungen können wohlgemerkt weitere semantische Veränderungen erleiden, durch die die zunächst nicht weiter bestimmte Entität durch ein weiteres Prädikat spezifiziert wird. So bezeichnet il caldo ,die Hitze’ ein Witterungsphänomen, il gelato eine Süßspeise, l’accusato eine Person usw. Durch diese Prozesse werden die Kennzeichnungen zu normalen Gattungsnamen. Sie sind nicht Teil des morphologischen Prozesses; sie setzen diesen vielmehr voraus. Ein weiterer Typ von Prozessen ohne Verkettung und ohne Änderung der phonologischen Repräsentation ist die Flexion von "invariablen" Nomina wie it. città, camion oder yogurt. Bei normal flektierenden Nomina wird durch die Anfügung einer Flexionsendung aus einem Nominalstamm, z.B. cas-, ein flexivisch abgeschlossenes Nomen mit einem Numerusmerkmal, in unserem Beispiel casa [N UMERUS = S INGULAR ] oder case [N UMERUS = P LURAL ]. Diese Numerusmerkmale unterliegen der Unifikation im Rahmen der Kongruenz, und sie werden semantisch ausgewertet. Bei Nomina wie città, camion oder yogurt hingegen wird das flexivisch abgeschlossene Nomen ohne Affigierung und ohne Festlegung eines Numerus gebildet. Letzteres können wir so ausdrücken, dass ein Numerusmerkmal als Attribut ohne Wert eingeführt wird und erst die Nomin- Christoph Schwarze 70 alphrase einen der beiden Werte dieses Attributs liefert, so dass die semantische Auswertung erst auf dieser Stufe beginnen kann. Città als Nominalstamm kann als (21) und als flexivisch abgeschlossenes Nomen als (22) repräsentiert werden: (21) k-Schicht: [città]N N-STEM f-Schicht: PRED = ' CITTÀ ( X ), GEN = FEM s-Schicht: λ x città (x) (22) k-Schicht: [città] N f-Schicht: PRED = ' CITTÀ ', GEN = FEM , NUM = s-Schicht: λ x città (x) ∧ number_of (x, n) 2.4 Prozesse, in denen die f-Schicht nicht aktiv ist Durch Prozesse, in denen die f-Schicht nicht aktiv ist, werden Morphome im Sinne von Arononoff (1994) gebildet. Morphome sind Konstituenten, die funktional und semantisch offen sind; die italienischen Themavokale, der Augment in Verbformen wie fini-sc-o und das -t-, mit dem die vierten Stämme des it. Verbs gebildet werden, sind typische Morphome. Die vierten Stämme sind komplex (lavorat-, spedit- und vendut-) oder einfach (divis-, mess-, scritt-). Die letzteren Stämme sind, wie gesagt, synchronisch nicht abgeleitet; d.h. das Lexikon muß die Information enthalten, dass z.B. der der Wurzel dividzugehörige vierte Stamm divislautet, und diese Information muss zur Folge haben, dass die morphologische Bildung des vierten Stammes blockiert ist. Wir betrachten demnach hier nur die komplexen Stämme. Ausgangspunkt ihrer Bildung sind die Wurzeln lavor-, sped- und vend-. Sie sind im Lexikon mit Konzepten verbunden, die eine Argumentstruktur haben und die sich in der s-Schicht als rudimentäre semantische Repräsentationen darstellen lassen. Außerdem ist im Lexikon vermerkt, welcher Themavokal gewählt werden muss, wenn ein solcher notwendig ist. Diese Information kann in unserem Modell in der f-Schicht als Merkmal angegeben werden. Es handelt sich dabei allerdings um rein Morphologieinterne Merkmale. Sie dienen ausschließlich der morphologischen Wohlgeformtheit und werden nach Anfügung des Themavokals nicht mehr gebraucht. Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen 71 Die Lexikoneinträge für lavor-, sped- und vendsind demnach: (23) k-Schicht: lavor- ROOT10 f-Schicht: TV = A s-Schicht: lavorare (x) (24) k-Schicht: sped- ROOT f-Schicht: TV = I s-Schicht: spedire (x, y) (25) k-Schicht: vend- ROOT f-Schicht: TV = { E , U } s-Schicht: vendere (x, y, z) Der nächste Schritt in der Bildung der komplexen vierten Stämme besteht in der Anfügung einer der Themavokale -a-, -i-, -e- oder -u-. Die Auswahl des jeweils passenden Themavokals können wir analog zur syntaktischen Kongruenz durch die Unifikation von Merkmalen ausdrücken. Diese Merkmale haben wir bereits eingeführt; sie bestehen aus dem Attribut TV und seinen Werten A , I , E und U . Sie sind wohlgemerkt rein Morphologieintern, d.h. sie dienen ausschließlich der morphologischen Wohlgeformtheit und werden nicht an die Syntax weitergegeben. Insofern tragen sie nicht zum Aufbau einer Merkmalsstruktur bei, und wir können vereinfachend sagen, dass die f-Struktur inaktiv bleibt. Durch die Anfügung eines Themavokals wird die Wurzel zu einem Verbstamm; wir nennen ihn den ersten Stamm (V-S TEM 1). Im Falle von vendere, das nach (25) zwei alternative Themavokale hat, sorgen in der weiteren Ableitung die entsprechenden Merkmale für die richtige Auswahl: e tritt nur in finiten Verbformen auf, u ist für den vierten Stamm reserviert. Die Ergebnisse dieser Verkettung werden in (26)-(29) angegeben: (26) k-Schicht: lavora V-STEM111 f-Schicht: TV = A s-Schicht: λ x lavorare (x) (27) k-Schicht: spedi V-STEM1 f-Schicht: TV = I s-Schicht: λ x λ y spedire (x, y) 10 Schreibkonventionen und Abkürzungen: R OOT Wurzel, TV Themavokal, A, I, E und U sind die für die Unifikation gebrauchten funktionalen Repräsentationen der Themavokale. 11 Abkürzungen; V-S TEM 1 Präsensstamm des Verbs, V-S TEM 4 vierter Stamm des Verbs. Christoph Schwarze 72 (28) k-Schicht: vende V-STEM1 f-Schicht: TV = E s-Schicht: λ x λ y λ z vendere (x, y, z) (29) k-Schicht: vendu V-STEM1 f-Schicht: TV = U s-Schicht: λ x λ y λ z vendere (x, y, z) Schließlich wird durch die Anfügung des Morphoms -tder vierte Stamm gebildet. Als Bedingung hierfür genügt bei lavorare und spedire die Angabe, dass die Basis ein erster Verbstamm ist; im Falle von vendere muss zusätzlich gesichert sein, dass u als Themavokal gewählt wurde. Mit der Verkettung ist ein phonologischer Teilprozess verbunden: Derjenigen Silbe, in der der Themavokal auftritt, wird ein virtueller Akzent zugewiesen. Eine italienische Silbe mit einem virtuellen Akzent bekommt den primären Wortakzent unter der Voraussetzung, dass der Akzent nicht auf eine der ihr folgenden Silben fällt; vgl. die phonologischen Repräsentationen von (30)-(33); den virtuellen Akzent notieren wir mit dem Zeichen " ", den primären Wortakzent, wie üblich, mit " ". (30) / la.vo.r at/ lavorat- (31) / la.vo. ra.to/ lavorato (32) / la.v o.ra.t o.re/ lavoratore (33) / la.vo.ra. to.re/ " In (30) trägt die Silbe, die den Themavokal enthält, einen solchen virtuellen Akzent. In (31) fällt der primäre Wortakzent auf die so gekennzeichnete Silbe, weil er nicht auf die (extrametrische) folgende Silbe fallen kann. In (32) bringt außer dem Themavokal auch das dem Themavokal folgende Wortbildungssuffix ore einen virtuellen Akzent mit, der der Silbe / t o/ zugeteilt wird. Diese muss den Wortakzent bekommen, weswegen der virtuelle Akzent auf der vorausgehenden Silbe / v o/ wirkungslos bleibt. Unter (34)-(36) geben wir die Repräsentationen der vierten Stämme lavorat-, spedit- und vendut-: (34) k-Schicht: lavorat V-STEM4 s-Schicht: λ x lavorare (x) (35) k-Schicht: spedit V-STEM4 s-Schicht: λ x λ y spedire (x, y) (36) k-Schicht: vendut V-STEM4 s-Schicht: λ x λ y λ z vendere (x, y, z) - Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen 73 3 Lexikalische Muster unregelmäßiger vierter Stämme Wir haben gesagt, dass die unregelmäßigen vierten Stämme des italienischen Verbs nicht durch morphologische Prozesse gebildet sondern im Lexikon gespeichert sind. Dieses enthält demnach nicht nur die Wurzeln mit den ihnen assoziierten Konzepten, sondern auch diejenigen ihrer Stämme, die nicht in der morphologischen Komponente der Grammatik definiert sind. So muss der Eintrag für das Lexem scrivere mit der Wurzel [skriv] scrivdie folgende Information enthalten: Auf der Basis von [skriv] scrivwird nur der Präsensstamm gebildet. Der Perfektstamm lautet [skriss] scriss-. Der vierte Stamm lautet [skritt] scritt-. Allerdings bilden die Beziehungen zwischen den drei unregelmäßigen Stämmen wiederkehrende Muster, s. Tabelle 3: Wurzel Präsensstamm Perfektstamm Vierter Stamm cing cinge vo cins i cint o coc coce vo coss i cott o cogli coglie vo cols i colt o disting distinge vo distins i distint o distrugg distrugge vo distruss i distrutt o giung giunge vo giuns i giunt o legg legge vo less i lett o mung munge vo muns i munt o piang piange vo pians i piant o porg porge vo pors i porto pung punge vo puns i punt o scegli sceglie vo scels i scelt o spegn spegne vo spens i spent o scriv scrive vo scriss i scritt o sporg sporge vo spors i sport o ting tinge vo tins i tint o vinc vince vo vins i vint o volg volge vo vols i volt o Tabelle 3: Ein allomorphisches Muster Christoph Schwarze 74 Dieses Muster lässt sich informell so beschreiben: i. Alle Verben sind Mitglieder der dritten Konjugationsklasse. ii. Der Perfektstamm ist die Wurzel plus ss. iii. Der vierte Stamm ist die Wurzel plus tt. iv. Der Endkonsonant der Wurzel fehlt im Perfektstamm und im vierten Stamm, außer wenn er ein Sonorant ist. v. Der Perfektstamm und der vierte Stamm zeigen phonotaktisch bedingte Änderungen: Palatale Sonoranten am rechten Rand der Wurzel sind vor s und t entpalatalisiert; langes ss und tt werden nach Konsonant gekürzt. Es ist natürlich „technisch“ möglich, die Relationen zwischen den drei Stämmen in Form von Regeln darzustellen. Die Anfügung des ss (ii.) bzw. tt (iii.) könnte man als einen Prozess auf der k-Ebene darstellen; es würde sich wie bei dem t der regelmäßigen vierten Stämme um Morphome handeln. Und die Streichung des Endkonsonanten der Wurzel ließe sich als ein Prozess auf der p-Ebene erfassen. Eine Analyse derartiger Muster in Form von Regeln hätte jedoch eine gravierende Schwäche. Sie besteht darin, dass man die Anzahl der Flexionsklassen erheblich erhöhen müsste. Zusätzlich zu den Flexionsklassen, die auf der Variation der Themavokale -a- (cantare), -e- (vedere) und -i- (dormire) und auf der Stammerweiterung -sc- (dormire vs. finire) beruhen, hätte man eine Reihe weiterer Flexionsklassen, und zwar allein aufgrund der Stamm-Allomorphie der Verben der dritten Konjugation. Ein Muster, das dem in Tabelle 3 dargestellten sehr ähnlich ist, zeigt im vierten Stamm eine Absenkung des Wurzelvokals; s. Tabelle 4: Wurzel Präsensstamm Perfektstamm Vierter Stamm dic dice vo diss i dett o string stringe vo strins i strett o (tra)duc traduce vo traduss i tradott o Tabelle 4: Stamm-Allomorphie mit Variation des Wurzelvokals Dieses Muster würde entweder eine eigene Flexionsklasse konstituieren, oder man müsste es als lexikalisch kodierte Ausnahme behandeln. Die entsprechende Regel hätte auch ihrerseits eine Ausnahme, die darin besteht, dass der Wurzelvokal nicht nur im vierten Stamm, sondern auch im Perfektstamm abgesenkt wird: dirigere - diressi - diretto. Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen 75 Eine weitere, relativ große Flexionsklasse müsste man für diejenigen Verben annehmen, deren vierter Stamm nicht mit tt, sondern mit s endet; in Tabelle 5 geben wir nur wenige Beispiele: Wurzel Präsensstamm Perfektstamm Vierter Stamm chiud chiude vo chius i chius o (de)terg deterge vo deters i deters o scend scende vo sces i sces o Tabelle 5: Stamm-Allomorphie mit Variation des Wurzelvokals Die entsprechende Regel hätte eine Variante, die nicht s, sondern ss anfügt, und zwar für Verben wie concedere - concessi - concesso. Sie hätte auch eine Ausnahme, bei der auch der Wurzelvokal variiert, nämlich fondere - fusi - fuso. Und eine weitere Regel wäre erforderlich für Verben, deren vierter Stamm mit st endet, wie chiedere - chiesi - chiesto, porre (Wurzel pon) - posi - posto, rispondere - risposi - risposto. Und nicht zuletzt würden auch diejenigen Verben eine Flexionsklasse bilden, die im Perfektstamm unregelmäßig und im vierten Stamm regelmäßig sind, wie bere (Wurzel bev) - bevvi - bevuto, conoscere - conobbi - conosciuto, piacere - piacqui - piaciuto, tacere - tacqui taciuto, wiederum mit einer Ausnahme oder Unterklasse für Verben mit variierendem Wurzelvokal wie sapere - seppi - saputo. Eine solche Vermehrung der Flexionsklassen, verbunden mit einer Zersplitterung des gesamten Regelsystems, ist offensichtlich ein Artefakt. Die hier erwähnten Daten sind typisch für lexikalisches Wissen, und die entsprechenden Muster sind Ähnlichkeitsrelationen zwischen lexikalischen Einheiten. 5 Konklusion und Ausblick Die verschiedenen, derzeit diskutierten morphologischen Modelle haben mit dem hier vorgeschlagenen Schichtenmodell gemeinsam, dass sie eine Mehrzahl von Repräsentationsschichten annehmen. Sie unterscheiden sich aber insofern von dem Schichtenmodell als sie annehmen, dass eine der Schichten dadurch ausgezeichnet ist, dass die anderen von ihr abgeleitet werden. Die in Abschnitt 3 skizzierten Analysen zeigen jedoch, dass keine der Schichten an allen morphologischen Prozessen beteiligt sein muss. Somit gibt es keine Schicht, die grundsätzlich vor den anderen Christoph Schwarze 76 ausgezeichnet ist. Wir nehmen deshalb an, dass die Repräsentationen auf den verschiedenen Schichten nicht voneinander abgeleitet, sondern nur aufeinander abgebildet werden. Einzig die s-Schicht ist hiervon ausgenommen: Die semantischen Repräsentationen werden nicht durch die morphologische Regel als solche, sondern durch Deutung ihres Outputs gewonnen. Wenn es zutrifft, dass keine der morphologischen Schichten grundsätzlich ausgezeichnet ist, kann die im Titel gestellte Frage, wie syntaktisch die Morphologie ist, nicht allgemein beantwortet werden. Eine andere Frage ist, welche Rolle die einzelnen Schichten in der Morphologie einer gegebenen Sprache spielen. Solche Fragen lassen sich durchaus beantworten, und zwar deshalb, weil die Proportion zwischen Prozessen auf der k-Schicht und solchen auf der p-Schicht variiert. So ist die Rolle der k-Schicht im Standard-Italienischen vergleichsweise bedeutend. Ein syntaxähnliches Modell kann wesentliche Züge der Morphologie dieser Sprache erfassen, weil die p-Schicht in diesem Falle marginal ist. In denjenigen romanischen Dialekten, die Flexionsmerkmale durch Metaphonie realisieren können, ist die p-Schicht von größerer Bedeutung. Das gilt auch für das Spanische, dessen Verb eine sehr systematische Variation des Wurzelvokals zeigt. Im Arabischen ist die Rolle der morphologischen p-Schicht noch wesentlich größer. In einer Kunstsprache wie dem Esperanto hingegen gibt es überhaupt keine morphologische p- Schicht; ihre Morphologie ist vollständig verkettend. Was die Rolle der f-Schicht im Sprachvergleich angeht, so wird sie von der Beantwortung zweier Fragen abhängen. Die erste betrifft den Umfang des Systems funktionaler Merkmale. Die einzelnen Sprachen unterscheiden sich offensichtlich darin, wie viele Tempus-, Modus- und Numerusmerkmale sie haben, ob sie Kasus haben, und wenn, wie viele es sind, usw. Die Rolle der f-Schicht in einer gegebenen Sprache ist umso bedeutender, je umfangreicher ihr Inventar solcher Merkmale ist. Die zweite Frage ist, inwieweit die Prozesse auf der k-Schicht morphomatisch sind, d.h. inwieweit sie ohne eine Aktivität auf der f-Schicht stattfinden. Im Italienischen mit seinen Flexionsklassen und der morphomatischen Bildung seiner vierten Stämme spielen morphologische Prozesse, bei denen die f-Schicht inaktiv bleibt, eine nicht unwesentliche Rolle. Es würde sich lohnen, sprachvergleichende Studien zur letzteren Frage in Angriff zu nehmen. Wie syntaktisch ist die Morphologie? - Der vierte Verbstamm des Italienischen 77 Zitierte Literatur Aronoff, Mark. 1994. Morphology by itself. Cambridge, Massachusetts, London, England: The MIT Press. Gaglia, Sascha. 2009. Metaphonie im kampanischen Dialekt von Piedimonte Matese. Eine Analyse an der Schnittstelle zwischen Phonologie, Morphologie und Lexikon. Universität Konstanz: http: / / pm2010.altervista.org/ Gaglia.pdf. Grassi, Corrado. 2009. Dizionario del dialetto di Montagne di Trento. San Michele all’Adige: Museo degli Usi e Costumi della Gente Trentina. Maiden, Martin. 1995. A Linguistic History of Italian. New York: Longman. Maiden, Martin 2003. Il verbo italoromanzo: verso una storia autenticamente morfologica. In: Mathée Giacomo-Marcellesi & Alvaro Rocchetti (eds.). Il verbo italiano. Studi diacronici, sincronici, didattici. Atti del XXXV Congresso Internazionale di Studi. Parigi (20-22 settembre 2001). Roma: Bulzoni. 3-21. Rohlfs, Gerhard. 1968. Grammatica storica della lingua italiana e dei suoi dialetti. Morfologia. Traduzione di Temistocle Franceschi. Torino: Giulio Einaudi. Schwarze, Christoph/ Dieter Wunderlich. 1985. Einleitung. In: Christoph Schwarze/ Dieter Wunderlich (Hrsg.) Handbuch der Lexikologie. Königstein/ Ts.: Athenäum. 7-23. Stump, Gregory, 2001. Inflectional Morphology: A Theory of Paradigm Structure. Cambridge University Press. Wandruszka, Ulrich. 2007. Grammatik. Form - Funktion - Darstellung. Tübingen: Gunter Narr Verlag. Sabine Laaha, Dominique Bassano, Isabelle Maillochon, Wolfgang U. Dressler Constructions synthétiques et analytiques dans l’acquisition de la flexion verbale en français et allemand autrichien 1 Introduction Dans plusieurs de ses travaux, le jubilaire a traité de la syntaxe, de la morphosyntaxe et de la morphologie françaises, notamment dans Wandruszka (2005) où ces dimensions sont mises en relation avec la morphologie naturelle. Dans cet article publié dans le volume en l’honneur du fondateur principal de la morphologie naturelle, Willi Mayerthaler (1977, 1981), Wandruszka a exprimé des réserves envers cette théorie. Voyons donc si nous pourrons le convaincre avec des arguments tirés de l’acquisition du langage… Dans notre contribution, nous étudierons l’interface entre morphologie et syntaxe dans les constructions morphologiques analytiques (vs. synthétiques) en français et en allemand, en adoptant une double perspective, la perspective développementale et celle de la morphologie naturelle. Le modèle de la morphologie naturelle, envisagé dans ses fondements cognitivistes et sémiotiques (Dressler et al. 1987, Kilani-Schoch 1988, Dressler 2000, Kilani-Schoch & Dressler 2005), consiste en trois sousthéories: 1) la sous-théorie de la naturalité morphologique universelle ou des préférences universelles, 2) la sous-théorie de la naturalité typologique, et 3) la sous-théorie spécifique d’une langue ou de l’adéquation systémique. Comme notre contribution est une étude contrastive de deux langues, elle relève surtout de la deuxième sous-théorie qui coordonne morphologie et syntaxe et les choix dans les paramètres des préférences universelles. Cependant, nous devons nous référer aussi à la troisième sous-théorie pour pouvoir analyser les spécificités des deux systèmes linguistiques et leur acquisition, notamment la richesse en patrons productifs et la complexité des patrons improductifs. Sabine Laaha, Dominique Bassano, Isabelle Maillochon, Wolfgang U. Dressler 80 2 Les constructions synthétiques et analytiques dans les deux langues Bien que les constructions analytiques relèvent de la morphosyntaxe et les constructions synthétiques de la morphologie, ces deux types de constructions peuvent être, dans nos deux langues, organisés dans un même paradigme (cf. Haspelmath 2000). Les constructions analytiques sont à l’interface entre syntaxe et morphologie et par conséquent plus complexes que les constructions synthétiques comparables (Teuber 2005). D’une manière générale, les systèmes des deux langues sont typologiquement semblables, puisque celles-ci appartiennent au type des langues flexionnelles-fusionnelles faibles. Toutefois, nous insisterons ici sur les différences entre le français et l’allemand autrichien. On peut distinguer trois relations temporelles principales, le présent (localisation temporelle associée au moment présent, temps de base), le passé (localisation temporelle antérieure au moment présent) et le futur (localisation temporelle postérieure au moment présent, moins saisissable, donc plus marquée que le passé). Les temps synthétiques sont dans les deux langues le présent et un temps du passé improductif dans la langue orale (passé simple en français et prétérit en allemand autrichien). Le passé composé, le plus-que-parfait et le futur (construit avec l’auxiliaire aller en français), ainsi que le rare futur antérieur, sont analytiques. En outre le français a un imparfait synthétique qui exprime l’opposition aspectuelle (de l’imperfectif) avec le passé simple et le passé composé (perfectif) et un futur synthétique moins utilisé que le futur analytique dans la langue orale. Le présent comme temps de base est donc, d’une manière iconique, moins marqué formellement. Ainsi, le système des temps est plus riche en français qu’en allemand. La hiérarchie des classes flexionnelles des deux langues consiste en deux macro-classes, dont la deuxième est totalement improductive. La première est dominée en allemand par l’unique micro-classe productive des verbes réguliers faibles, tandis qu’en français il existe trois microclasses productives (les types parler, acheter, céder). Le français présente donc plus de richesse, mais aussi plus d’ambiguïté morphologique. La deuxième macro-classe est assez complexe dans les deux langues. Le système français est plus iconique que le système allemand (Dressler & Kilani-Schoch 2005), car le singulier est toujours non-marqué par rapport au pluriel (le pluriel est marqué par les suffixes de la 1 ère et 2 ème personne, -ons et -ez, et la forme de base - qui est la 3 e personne (cf. Benveniste 1966) - est moins marquée que les deux autres. En revanche, en Constructions synthétiques et analytiques dans l’acquisition de la flexion verbale 81 allemand, les six personnes ont un suffixe, et leurs homophonies syncrétiques (3.sg. = 2.pl., 1.pl. = 3.pl. (= infinitif)) ne reflètent pas les relations de marque morphosémantique. La formation du participe du passé composé est plus transparente en français qu’en allemand, car le participe passé est formé en français par suffixation (parl-é, cour-u) ou avec la forme zéro (fini), tandis que, pour la grande majorité des verbes, l’allemand utilise une construction discontinue -donc moins transparenteformée par le préfixe geet le suffixe -t ou -en, par exemple ge-sag-t, ge-ruf-en. Enfin, la construction analytique du passé composé est plus transparente en français qu’en allemand, car la construction française est le plus souvent continue (par exemple, il a di-t cela hier), tandis que la construction allemande est très souvent discontinue (traduction er hat dies gestern gesag-t), avec le participe en position finale. La même différence se retrouve dans les constructions analytiques constituées d’un verbe modal et de l’infinitif d’un verbe lexical, par exemple, F. Elle veut aller chez elle vs. A. Sie will nach Hause gehen. Sur la base de cette comparaison morphologique et en nous fondant sur les théories acquisitionnistes cognitives et fonctionnelles (voir notamment Bassano 2007; Bassano et al. 2004), nous pouvons prédire que, dans l’opposition marqué/ non-marqué, le non-marqué doit être acquis avant le marqué, que des constructions plus iconiques et transparentes facilitent l’acquisition et que la richesse en patrons morphologiques productifs la stimule (cf. Laaha & Gillis 2007), tandis que la complexité des patterns improductifs rend l’acquisition plus difficile. 3 Données Notre étude porte sur quatre enfants. Les deux enfants autrichiens sont une fille, Katharina, et un garçon, Jan, tous deux vivant à Vienne; les deux enfants français sont une fille, Pauline, habitant Rouen et un garçon, Benjamin, habitant Paris. Les enfants ont été enregistrés en audio/ vidéo à leur domicile, dans des situations de jeux et de vie quotidienne en interaction avec leur famille (surtout avec la mère); les analyses présentées ici couvrent la période s’étendant du début de la production langagière jusqu’à l’âge de deux ans et demi (ou trois ans pour l’indice de grammaticalisation). Cependant, les enregistrements ne débutent pas tout à fait au même âge pour tous les enfants: ainsi, nous ne disposons pas d’enregistrements pour Benjamin avant l’âge de 1; 9. Sabine Laaha, Dominique Bassano, Isabelle Maillochon, Wolfgang U. Dressler 82 Pour les quatre enfants, la transcription des enregistrements a été effectuée et informatisée conformément aux normes proposées par le système du CHILDES (MacWhinney 2000). Elle fournit, pour chaque session, un compte rendu fidèle des productions de l’enfant (output) et de ses interlocuteurs (input), avec les indications et commentaires requis sur les situations, contextes, gestes ou mimiques qui permettent d’interpréter les énoncés. L’étude de la morphologie verbale repose sur un codage spécifique de tous les énoncés de l’échantillon comportant au moins un verbe. Sont ici définis comme verbes les mots considérés comme tels dans la langue adulte. Le codage morphologique est pour l’essentiel conforme à CHILDES (MacWhinney 2000). Il indique la nature et les propriétés morphologiques du sujet syntaxique, les caractéristiques morphologiques du verbe qui identifient la forme verbale (mode, temps, personne, par exemple indicatif présent 1sg), sa classe morphologique et homophonique et son entrée lexicale. Le lecteur trouvera plus d’information dans Laaha (2004) et Bassano et al. (2001, 2004). 4 Emergence des formes verbales Chez les quatre enfants, les catégories synthétiques émergent en premier et constituent la catégorie nettement prédominante. Les catégories analytiques n’atteignent au maximum que 20% des formes-occurrences. Chez les deux garçons, Jan et Benjamin, les premières occurrences de catégories analytiques apparaissent à 1; 10 (Jan: hüpfen kann ‘peux/ peut sautiller’; Benjamin : / e fini/ = est fini). Chez la fille française, Pauline, on en observe les premiers exemples, néanmoins incertains, à 1; 8 et à 1; 10. Chez la fille autrichienne, Katharina, le premier exemple certain apparaît à 2; 4, c’est-àdire 6 mois plus tard que chez les deux garçons (is umgefallen ‘est tombé’). L’émergence des différentes formes synthétiques des verbes lexicaux est exemplifiée avec les formes-types de Jan et de Benjamin dans les tableaux suivants (rappelons que 1; 9 est l’âge du premier enregistrement pour Benjamin): Constructions synthétiques et analytiques dans l’acquisition de la flexion verbale 83 Tableau 1. Répartition des catégories synthétiques chez Jan (analyse globale): nombre absolu de formes-types. Age PRES IMP INF PP Autres Total 1; 3 1 0 1 0 0 2 1; 4 0 0 8 0 0 8 1; 5 5 0 5 0 0 10 1; 6 5 0 12 0 0 17 1; 7 4 1 8 1 0 14 1; 8 6 2 30 6 0 44 1; 9 7 2 38 11 0 58 1; 10 16 0 38 15 0 69 1; 11 29 2 50 8 0 89 2; 0 37 3 64 20 1 125 2; 1 47 6 39 21 0 113 2; 2 61 4 37 7 2 111 2; 3 40 7 11 1 1 60 2; 4 58 4 19 3 2 86 2; 5 58 4 12 3 2 79 2; 6 65 7 10 2 1 85 Tableau 2. Répartition des catégories synthétiques chez Benjamin (analyse globale): nombre absolu de formes-types. Age PRES IMP INF PP Autres Total 1; 9 1 0 0 1 0 2 1; 10 7 1 2 2 0 12 1; 11 7 1 2 3 0 13 2; 0 18 5 4 4 0 31 2; 1 18 2 6 4 0 30 2; 2 43 4 22 6 0 75 2; 3 48 9 27 11 0 95 2; 4 28 5 11 5 2 51 2; 5 42 13 15 6 2 78 2; 6 36 9 22 5 0 72 Sabine Laaha, Dominique Bassano, Isabelle Maillochon, Wolfgang U. Dressler 84 Les premières catégories synthétiques chez le garçon autrichien Jan sont l’infinitif (1; 3: ett-en pour ess-en ‘manger’) et l’indicatif présent 3.Sg. (1; 5: lach-t ‘rit’). L’impératif et le participe passé émergent à 1; 7, les premières occurrences des autres catégories apparaissent à 2; 0. Jusqu’à l’âge de 2; 0, l’infinitif constitue la catégorie prédominante (55% du total des formesoccurrences), tandis que, à partir de 2; 1, c’est l’indicatif présent qui devient la catégorie prédominante (72% des formes-occurrences). Les premières catégories synthétiques chez la fille autrichienne Katharina sont l’indicatif présent et l’impératif. À 2; 3 apparaissent l’infinitif et le participe passé; les premières occurrences des autres catégories sont observées à 2; 5. Les premières catégories synthétiques chez la fille française Pauline sont l’indicatif présent et l’impératif. L’infinitif apparaît à 1; 7 (va-r pour voi-r); le participe passé apparaît à 1; 8, et les premiers exemples des autres catégories sont observés à partir de 2; 2. Chez le garçon français Benjamin, indicatif présent, impératif, infinitif et participe passé sont observés dès le début des enregistrements (1; 9-1; 10); les autres catégories apparaissent pour la première fois à 2; 4. Chez les deux enfants français, la catégorie du présent constitue, dès le début des enregistrements, la catégorie prédominante (63% des verbes-occurrences chez Pauline et 72% chez Benjamin). Avant l’âge de 2; 0, la proportion d’infinitifs est considérablement moins élevée chez les enfants français que chez le garçon autrichien Jan (Pauline: 15% des formes-occurrences, Benjamin: 10%; vs. Jan 55%). Une comparaison avec la fille autrichienne Katharina n’est pas possible, en raison de l’absence de verbes à cet âge. Les catégories synthétiques les plus précoces chez les enfants autrichiens sont donc l’infinitif et l’indicatif présent. Chez les enfants français, ce sont l’indicatif présent, l’impératif et l’infinitif. Les différences entre les deux langues concernant la distribution des infinitifs aux étapes précoces sont significatives. En ce qui concerne les catégories analytiques, on doit distinguer les trois types formels similaires dans les deux langues: 1) auxiliaire + participe passé (passé composé et passif), 2) auxiliaire + infinitif (futur), 3) verbe modal + infinitif. Les Figures 1 et 2 illustrent l’émergence des trois catégories dans les deux langues en termes de formes-occurrences chez Jan et Benjamin. Constructions synthétiques et analytiques dans l’acquisition de la flexion verbale 85 0% 20% 40% 60% 80% 100% 1; 2 1; 3 1; 4 1; 5 1; 6 1; 7 1; 8 1; 9 1; 10 1; 11 2; 0 2; 1 2; 2 2; 3 2,4 2; 5 2; 6 Age Pourcentage Mod + INF Aux + INF Aux + PP Figure 1. Répartition des catégories périphrastiques chez Jan (analyse globale): formes-occurrences 0% 2 0% 4 0% 6 0% 8 0% 10 0% 1; 2 1; 3 1; 4 1; 5 1 ; 6 1; 7 1; 8 1; 9 1; 10 1; 11 2; 0 2; 1 2; 2 2; 3 2,4 2 ; 5 2; 6 A g e Pourcentage M o d + IN F Au x + IN F Au x + P P Figure 2. Répartition des catégories périphrastiques chez Benjamin (analyse globale): formes-occurrences Sabine Laaha, Dominique Bassano, Isabelle Maillochon, Wolfgang U. Dressler 86 Bien que les constructions analytiques émergent au même âge chez les deux garçons, l’enfant français les utilise beaucoup plus que l’enfant autrichien, ce qui suggère une productivité plus précoce chez l’enfant français. Si l’on considère la répartition des trois types de constructions analytiques, on constate les différences suivantes: la construction modale émerge plus tôt que le passé composé chez Jan, plus tard chez Benjamin. En outre, le passé composé constitue la catégorie la plus fréquente chez les deux enfants français, tandis que la construction modale constitue la catégorie la plus fréquente chez les deux enfants autrichiens. Mais chez tous les enfants le futur périphrastique émerge plus tard que les deux autres types de construction, avec une différence de un et cinq mois. 5 Erreurs morphologiques Les erreurs de forme sont beaucoup moins fréquentes chez les enfants français que chez les enfants autrichiens. Le contraste le plus marquant concerne les formations analogiques. Chez les deux enfants français, nous n’avons trouvé dans toute la période analysée qu’un seul exemple: le participe cour-é (Pauline 2; 3) au lieu de cour-u, un cas de surrégularisation selon le modèle de la macro-classe I productive. En revanche, les deux enfants autrichiens ont produit 23 erreurs analogiques, surtout des régularisations de verbes de la macro-classe II selon la macroclasse I, par exemple deux fois (Jan 2; 2, 2; 5) fress-t au lieu de friss-t ‘il mange’ (inf. fress-en), runter-pring-t au lieu de (he)runter-ge-sprung-en ‘sauté en bas’ (inf. herunter-spring-en). L’omission du préfixe geest l’erreur la plus fréquente chez les deux enfants. 6 Indices de grammaticalisation Nous avons synthétisé ces analyses sur l’émergence des formes verbales dans les productions des enfants en calculant un indice spécifique de ‘grammaticalisation des verbes’. D’une manière générale, et conformément à un usage courant en acquisition, nous utilisons le terme de ‘grammaticalisation’ pour désigner les processus de mise en place des propriétés morphologiques et syntaxiques des catégories lexicales - principalement, noms et verbes - dans le langage de l’enfant (pour plus de détails, voir Bassano et al. 2004 et Bassano 2008). L’indice que nous présentons ici pour les verbes concerne les constructions analytiques : formes composées du passé, futur périphrastique, Constructions synthétiques et analytiques dans l’acquisition de la flexion verbale 87 constructions modales. Comme on le sait, les jeunes enfants, dans les phases initiales de l’acquisition, ont tendance à omettre dans leurs productions les morphèmes grammaticaux tels que verbes modaux ou auxiliaires, même si ces morphèmes sont obligatoires dans leur langue. L’indice mesure la capacité de l’enfant à produire des formes composées complètes, c’est-à-dire des formes dans lesquelles l’auxiliaire ou le modal (obligatoires) sont produits devant l’infinitif ou le participe passé du verbe lexical (comme dans vais faire ça, je veux pas manger, j’ai renversé ou wird kommen ‘va venir’, kann fahr(e)n ‘peut rouler’, is(t) umgefall(e)n ‘est tombé’) au lieu d’être omis (comme dans pas mettre ça, pas fini ou selber schaukeln ‘balancer (moi) même’, zu(ge)gangen ‘fermé’). Cet indice est calculé en faisant le rapport des formes composées complètes sur le nombre total des infinitifs et participes passés, y compris ceux où l’auxiliaire ou le modal requis sont omis (mais sans inclure les infinitifs ou participes passés employés seuls de manière correcte). Cet indice est présenté, pour les quatre enfants, dans la Figure 3. On notera que l’indice fourni ici est global: il regroupe les emplois du verbe grammatical dans les trois constructions (auxiliaire avec le participe passé, auxiliaire avec l’infinitif, et verbe modal avec l’infinitif). Il donne ainsi une indication sur la progression de chacun des enfants dans le processus d’intégration de la contrainte d’emploi du verbe grammatical devant le verbe lexical. 0,00 0,20 0,40 0,60 0,80 1,00 1,20 1; 2 1; 3 1; 4 1; 5 1; 6 1; 7 1; 8 1; 9 1; 10 1; 11 2; 0 2; 1 2; 2 2; 3 2; 4 2; 5 2; 6 2; 7 2; 8 2; 9 2; 10 2; 11 3; 0 Index value Pauline (Fr) Benjamin (Fr) Katharina (Aus) Jan (Aus) Figure 3. Développement de l’indice global de grammaticalisation des verbes chez les quatre enfants Sabine Laaha, Dominique Bassano, Isabelle Maillochon, Wolfgang U. Dressler 88 Comme on le voit dans la Figure 3, le résultat le plus frappant, quand on compare les quatre enfants, est que l’indice de grammaticalisation présente chez tous les quatre un phénomène d’explosion très comparable, bien que variant en amplitude et en timing. L’explosion est particulièrement nette chez les filles, Pauline et Katharina. Pour Pauline, l’indice garde une valeur très faible jusqu’à l’âge de 2; 4, puis augmente brutalement entre 2; 4 et 2; 5, passant de la valeur de 0,21 à 0,79 et atteignant la valeur maximale à 2; 9. Pour Katharina, l’indice a une valeur nulle ou très basse jusqu’à 2; 5 et augmente brutalement entre 2; 5 et 2; 7 (de 0,22 à 1, bien qu’il présente ensuite des fluctuations. Chez les garçons, Benjamin et Jan, l’explosion grammaticale paraît commencer plus tôt, mais s’étaler un peu plus dans le temps. Pour tous deux, l’augmentation de l’indice se produit entre 2; 1 et 2; 5, passant de 0,26 à 0,91 chez Benjamin, et de 0,19 à 0,92 chez Jan. Ainsi, cette mise en perspective synthétique nous a permis de mettre en évidence, dans cet aspect particulier de la grammaticalisation des verbes que nous avons examiné, un phénomène d’explosion grammaticale se produisant de façon analogue chez les quatre enfants, avec cependant des variations individuelles dans le rythme du développement. 7 Conclusion Les faits d’acquisition établis dans nos analyses sont compatibles avec les prédictions dérivées de la théorie de la morphologie naturelle. Dans les deux langues, les catégories non-marquées émergent avant les catégories marquées correspondantes: ce résultat a été obtenu s’agissant des formes verbales du singulier, qui apparaissent avant les formes du pluriel, et des formes du passé, qui apparaissent avant les formes du futur. La morphologie synthétique émerge et devient productive plus tôt chez les enfants français que chez les enfants autrichiens. Ce phénomène peut être expliqué par plusieurs raisons convergentes: le système verbal français est plus riche en patrons productifs, il est aussi plus iconique et transparent que le système allemand. Ces caractéristiques - notamment la formation discontinue du participe passé allemand - peuvent expliquer aussi le grand nombre d’erreurs analogiques produites par les enfants autrichiens, beaucoup plus élevé chez eux que chez les enfants français. Quant à la morphologie analytique, ses représentants émergent chez tous les enfants plus tard que les représentants de la morphologie synthé- Constructions synthétiques et analytiques dans l’acquisition de la flexion verbale 89 tique, ce que nous avions prédit au vu de la complexification due à l’interface entre syntaxe et morphologie dans les constructions analytiques. Les constructions discontinues, donc moins transparentes de l’allemand, rendent la tâche d’acquisition encore plus difficile. Ces résultats ne doivent pas être interprétés comme une confirmation du stéréotype qui voit l’allemand comme une langue difficile. La plus grande richesse morphologique de l’allemand favorise l’acquisition dans d’autres domaines: par exemple, dans la flexion nominale, dans la composition nominale et dans la formation des diminutifs (cf. Dressler 2008, Dressler et al. 2010, Korecky-Kröll & Dressler 2007). Enfin, un rôle important est sans doute joué par d’autres facteurs que nous n’avons pas pu présenter ici, les facteurs psycholinguistiques liés au traitement des propriétés de l’input, telles que pertinence ou utilité pragmatique et fréquence (cf. Laaha 2004, Laaha & Bassano in prep). Sabine Laaha, Dominique Bassano, Isabelle Maillochon, Wolfgang U. Dressler 90 Bibliographie Bassano, D. (2007). Emergence et développement du langage: enjeux et apports des nouvelles approches fonctionnalistes. In: E. Demont & MN. Metz-Lutz (eds.), L’acquisition du langage et ses troubles. Marseille: SOLAL Editeurs, Collection Psychologie. 13-46. Bassano, D. (2008). Acquisition du langage et grammaticalisation: quel développement pour les noms et les verbes en français? In: F. Labrell & G. Chasseigne (eds.), Aspects du développement conceptuel et langagier. Paris: Edition Publibook Université, Collection Psychologie Cognitive. 17-50. Bassano, D., Maillochon, I., Klampfer (= Laaha) & Dressler, W.U. (2001a). L'acquisition de la morphologie verbale à travers les langues: I. Les fondements théoriques. Enfance 2001, 1. 81-99. Bassano, D., Maillochon, I., Klampfer (= Laaha) & Dressler, W.U. (2001b). L'acquisition de la morphologie verbale à travers les langues: II. L'épreuve des faits. Enfance 2001, 2. 117-148. Bassano, D., Laaha, S. Maillochon, I. & Dressler, W.U. (2004). Early acquisition of verb grammar and lexical development: evidence from periphrastic constructions in French and Austrian German. First Language 24,1. 33-70. Benveniste, E. (1966). 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Laaha, S. & Gillis, S. (2007) (eds.), Typological perspectives on the acquisition of noun and verb morphology. Antwerp Papers in Linguistics 112. Laaha, S. & Bassano, D. (in prep). The role of input for Austrian and French children’s early production of root infinitives, ms. Mayerthaler, W. (1977). Studien zur theoretischen und zur französischen Morphologie. Tübingen: Niemeyer. Mayerthaler, W. (1981). Morphologische Natürlichkeit. Wiesbaden: Athenaion. MacWhinney, B. (2000). The CHILDES project: tools for analyzing talk. Vol. I: Transcription, format and programs. Mahwah, NJ: Erlbaum. Teuber, O. (2005). Analytische Verbformen im Deutschen: Syntax - Semantik - Grammatikalisierung. Hildesheim: Olms. Wandruszka, U. (2005). Natürlichkeit und formale Grammatik. In: G. Fenk-Oczlon & C. Winkler (eds.), Sprache und Natürlichkeit. Gedenkband für Willi Mayerthaler. Tübingen: Narr. 243-260. Hans Geisler Wie sinnlich sind grammatische Kategorien? „Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war“. Dieser erkenntnistheoretische Leitsatz aller Empiristen ist in der sprach- und kognitionswissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre unter dem Namen Embodiment bzw. Embodied Cognition wieder zu neuen Ehren gelangt. Hierbei wird im Gegensatz zu den vorherrschenden rationalistischen Erkenntnistheorien angenommen, dass alle höheren kognitiven Leistungen auf sensorischer und motorischer Erfahrung basieren. Entscheidende Impulse hat die Embodiment-Theorie durch den Einsatz bildgebender Verfahren bekommen, die ursprünglich für die Medizin entwickelt wurden. Mit Hilfe dieser Verfahren lassen sich Stoffwechselveränderungen im „arbeitenden“ Gehirn messen und daraus Abbildungen neuronaler Aktivierungsmuster mit hoher zeitlicher Auflösung erstellen. 1 Dies wird in neurowissenschaftlichen Untersuchungen genutzt, um mit Hilfe visueller oder sprachlicher Stimuli Gehirnaktivitäten anzuregen, die mit kognitiven Prozessen korreliert werden können. Damit lässt sich z.B. experimentell nachweisen, dass beim Lesen von Aktionsverben wie en. pick, kick und lick die motorischen somatotopischen Areale für Hand, Fuß und Zunge aktiviert werden (Hauk et al. 2004). In einer Reihe von Versuchen ließ sich bestätigen, dass Aktionsverben fest in motorischen Gehirnarealen verankert sind (Tettamanti et al. 2005, Pulvermüller et al. 2005, Kemmerer et al. 2008). Ferner hat sich gezeigt, dass Begriffe kategorienspezifisch unterschiedlichen Gehirnarealen zugeordnet werden (zu Tieren vs. Werkzeugen s. Martin 2007). Der vielleicht überraschendste Befund ist die multimodale Verarbeitung von Information: das Betrachten einer Handlung, das Ausführen dieser Handlung und das Hören des sprachlichen Korrelats dieser Handlung aktiviert identische oder zumindest partiell überlappende Gehirnareale (Taylor & Zwaan 2009). 2 Die entsprechenden neurowissenschaftliche Untersuchungen beschäftigen sich aber fast ausschließlich mit der mentalen Repräsentation kon- 1 Zu einzelnen Verfahren des neuroimaging, wie dem häufig verwendeten fMRI, s. ausführlich Roland 1997. 2 Dieser sogenannte Spiegelneuronen-Effekt stellt eine wichtige Stütze für Embodiment-Theorien dar (Rizzolatti & Craighero 2004). Hans Geisler 94 kreter Begriffe und beziehen nur selten Abstrakta mit ein (Pulvermüller 2010). Dies ist sicher kein Zufall, da für alle empiristischen Ansätze die Existenz abstrakter Begriffe, die keinen sensomotorischen Bezug aufweisen (wie z.B. Friede, Treue, Freiheit), nur schwer zu erklären ist. Die Annahme der Embodiment-Theorien, dass auch dieser Begriffstyp eine sensomotorische Fundierung hat, muss sich deshalb vornehmlich auf linguistische Evidenz stützen, die im Rahmen der Konzeptuellen Metapherntheorie erarbeitet wurde (Lakoff & Johnson 1980, Lakoff 1987, Johnson 1987). Nach dieser Theorie sind alle abstrakten Begriffe mit Hilfe kognitiver Prozesse, wie Metapher und Metonymie, aus konkreten, sensomotorisch basierten Begriffen abgeleitet. Die hierbei wirksamen universellen Prinzipien lassen sich synchron nachweisen anhand von radialen lexikalischen Kategorien, die konkrete und abstrakte Bedeutungen einschließen (s. en. to grasp an object und to grasp an idea) und werden durch diachrone Entwicklungen lexikalischer Kategorien bestätigt (s. dt. greifen zu Begriff, lt. prehendere ‚nehmen’ zu sp. comprender ‚verstehen’, lt. intendere ‚anspannen’ zu fr. entendre ‚hören’ und ‚verstehen’). 1 Grammatische Kategorien Die Frage nach dem neuronalen Substrat von Abstrakta stellt sich in besonderer Weise bei grammatischen Kategorien, da diese überwiegend formal-syntaktische und kommunikativ-pragmatische Funktionen haben und die semantische Basis in vielen Fällen nicht mehr zu erkennen ist. 3 Aus Sicht der Embodiment-Theorie ist anzunehmen, dass auch grammatische Kategorien im sensomotorischen Bereich verankert sind, und Grammatik nicht nur in Form eines abstrakten Regelsystems vorliegt (Chomsky 1965). Hilfestellung kann hier wieder die Linguistik geben, indem sie Grammatikalisierungsprozesse untersucht, bei denen lexikalische in grammatische Kategorien überführt werden. Wie die einschlägige Forschung der letzten 30 Jahre deutlich gemacht hat, sind von der Grammatikalisierung bevorzugt lexikalische Kategorien betroffen, deren sensomotorische Verankerung klar nachzuweisen ist (Heine et al. 1991, Heine & Kuteva 2002, 2007, Geisler 1994, Detges 1999). Dies gilt für: 3 In strukturalistischen und generativen Grammatikmodellen werden sie deshalb auch nicht inhaltlich bestimmt, sondern lediglich als Kategorien mit rein klassifikatorischen Eigenschaften angesehen (Anderson 1997, 2006). Wie sinnlich sind grammatische Kategorien? 95 a) Körperteile: lt. frons ‚Stirn’ > it. di fronte a ‚gegenüber’, vlt. *facia ‚Gesicht’ > fr. en face de ‚gegenüber’, lt. costa ‚Rippe’ > fr. à côté de ‚neben’ b) Aktionen: lt. venire ‚kommen’ > viene detto ‚es wird gesagt’ [Vorgangspassiv], lt. vadere ‚gehen’ > sp. voy a cantar ‚ich werde gehen’ [proximales Futur] c) Handlungen: lt. habere ‚haben’ > fr. j‘ai pris ‚ich habe genommen’ [proximales Perfekt] Daraus wird ersichtlich, dass grammatische Kategorien die gleiche sensomotorische Fundierung wie alle anderen abstrakten lexikalischen Kategorien haben und in ökonomischer Weise mit Hilfe derselben kognitiven Prozesse weiterentwickelt werden. 4 Wie bei abstrakten lexikalischen Kategorien kann die Grammatikalisierungsforschung aber auch bei grammatischen Kategorien nur jeweils rückwirkend die Verbindung zu einer sensomotorischen Basis aufzeigen, ohne Aussagen über die Verarbeitung und Speicherung dieser Kategorien während oder nach der Grammatikalisierung machen zu können. Dies scheint aus linguistischer Sicht aber möglich, wenn aufgezeigt werden kann, in welchem Ausmaß die zu untersuchende grammatische Kategorie noch von semantischen Merkmalen beeinflusst wird, die direkt auf den der Kategorie zugrundeliegenden semantischen Prototyp Bezug nehmen. Das Vorgehen soll im Folgenden exemplarisch anhand der grammatischen Kategorie der Transitivität erörtert werden. 2 Transitivität Die Transitivität stellt ein allgemeines Prinzip zur Überführung von gestalthaft wahrgenommenen, prototypischen Handlungen in syntaktisch gegliederte Aussagen dar. 5 Die zugrundeliegende Erfahrungsbasis wird ikonisch abgebildet: ein Agens (Subjekt) verursacht eine Handlung (Verb), die auf ein Patiens (Objekt) einwirkt. Durch Grammatikalisierung wird die Kategorie in der Weise verändert, dass sie zunehmend die kommunikativ-pragmatische Funktion der Gliederung von Aussagen mit 4 Dies wird auch von Lakoffs Generalization Commitment gefordert, das für alle Bereiche der Sprache einheitlich wirkende Prinzipien annimmt (Lakoff 1990). 5 Die Transitivität zählt damit zu den wenigen grammatischen Kategorien, die für die Konstruktion von Sätzen zuständig sind (s. Wandruszka 1997 zu allgemeinen Prinzipien der Satzkonstruktion). Hans Geisler 96 abdeckt: ein Thema (Subjekt) wird prädiziert durch ein Rhema (Objekt). Um diese Leistung erbringen zu können, muss es möglich sein, möglichst viele Typen von Aussagen formal transitiv darzustellen, d.h. die Transitivität wird zu einem formalen Ausdruckmittel nicht nur für Handlungen, sondern auch für Ereignisse und Sachverhalte, bei denen zwei klar unterschiedene Partizipanten miteinander in Bezug gesetzt und perspektiv präsentiert werden (Næss 2007). Der Grammatikalisierungsgrad der grammatischen Kategorie ergibt sich dabei aus Abweichungen von den semantischen Merkmalen, die den transitiven Prototyp konstituieren. Die weitergehende Parametrisierung der semantischen Merkmale erlaubt es zudem, genaue Abstufungen zum Prototyp anzugeben. Auf diese Weise kann gezeigt werden, in welchem Ausmaß auch noch stark grammatikalisierte Kategorien durch ihre semantische Fundierung geprägt sind. Im Folgenden werden zunächst prototypisch transitive Handlungen parametrisiert und dann anhand von Parameterabstufungen Übergänge zur Darstellung nicht-prototypischer Handlungen aufgezeigt, die jedoch weiterhin formal transitiv abgebildet werden. Die sprachökonomische Bündelung von Handlungen und Ereignissen in einer Ausdrucksform kann zu Kategorisierungsproblemen führen, die sich in einzelsprachspezifischen Kodierungsschwankungen manifestieren. Da diese Kodierungsschwankungen mit semantischen Parametern korreliert sind, können sie wichtige Aufschlüsse über die noch bestehende Rückbindung an den transitiven Prototyp geben. 2.1 Der transitive Prototyp Als begriffliche Grundlage der Transitivität sind gestalthaft erfasste Handlungen anzusetzen, bei denen zwei Partizipanten - Agens und Patiens 6 vermittelt über die Handlung kausal in Bezug gesetzt werden (Lakoff 1977, DeLancey 1987). Den drei Grundgrößen Agens, Handlung und Patiens lassen sich jeweils eine Reihe von Parametern zuordnen (Givón 1995: 76): Agent: The prototypical transitive clause involves a volitional, controlling, actively-initiating agent who is responsible for the event, thus its salient cause. 6 Im Folgenden wird für diese semantische Rolle auch bei unbelebten Partizipanten der Terminus Patiens verwendet, um störende Homonymien mit der semantischen Kategorie Objekt sowie der grammatischen Funktion Objekt zu vermeiden. Wie sinnlich sind grammatische Kategorien? 97 Patient: The prototypical transitive clause involves a non-volitional, inactive, non-controlling patient who registers the event’s changes-ofstate, thus its salient effect. Verbal modality: The verb of the prototypical transitive clause codes an event that is perfective (non-durative), sequential (non-perfect) and realis (non-hypothetical). The prototype transitive event is thus fastpaced, completed, real, and perceptually-cognitively salient. Die Transitivität ist von Hopper & Thompson anhand von Kodierungsunterschieden, die sich in typologisch unterschiedlichen Sprachen nachweisen lassen, parametrisiert worden. Anzunehmen sind folgende Merkmale, die in ihren jeweiligen kovariierenden Ausprägungen den Abstand zum semantischen Prototyp anzugeben erlauben (Hopper & Thompson 1980: 254): TRANSITIVITY HIGH LOW 1: PARTICIPANTS 2 or more participants, A and O 1 participant 2: KINESIS action non-action 3: ASPECT telic atelic 4: PUNCTUALITY punctual non-punctual 5: VOLITIONALITY action is volitional non-volitional 6: AFFIRMATION utterance expressing action is affirmative negative 7: MODE realis irrealis 8: AGENCY A argument is high in potency A low in potency 9: AFFECTEDNESS OF O argument O totally affected O not affected 10: INDIVIDU- ATION OF O O is highly individuated O not individuated Transitivität kann somit als multifaktorielle Kategorie aufgefasst werden, die sich aufbauend aus dem Erfahrungswissen, das mit prototypischen Handlungen verbunden ist, entwickelt. Die Kategorie wird demnach geprägt durch die mit den prototypischen Handlungen verbundenen semantischen Merkmale, welche die sensomotorische Verankerung von Aktionen in verteilten neuronalen Netzwerken widerspiegeln. Hans Geisler 98 2.2 Syntaktische Transitivität Beim transitiven Prototyp findet sich in den romanischen (und auch germanischen) Sprachen einheitliche formal-transitive Kodierung. Dies ist der Fall bei starker Agentivität, stark affiziertem Objekt und perfektivtelischer Handlung: 1) fr. Il prend le livre, mange la pomme, pousse le ballon - it. Prende il libro, mangia la mela, calcia il pallone - sp. Toma el libro, come la manzana, patea la pelota Die handelnde Person (Agens) hat in diesen Fällen die volle Kontrolle über ein Objekt (Patiens), indem er es in der Hand hält, es mit einem Instrument behandelt (schneiden, kratzen, ritzen) oder in irgendeiner Weise seine Form oder Beschaffenheit verändert (biegen, strecken, kochen, waschen, klopfen). 2) Il peint la maison - Dipinge la casa - Pinta la casa 3) Il lave la chemise - Lava la camicia - Lava la camisa Die volle Kontrolle liegt auch vor, wenn der Agens lediglich die Lage des Patiens verändert (drehen, werfen, rollen, tragen), auch wenn in einzelnen Fällen die Handlung nicht mehr punktuell und telisch ist (wie z.B. bei tragen): 4) Il porte la valise - Porta la valigia - Lleva la maleta 7 In einer Reihe von Fällen finden sich in den romanischen Sprachen auch transitive Ausdrucksweisen, obwohl einzelne der semantischen Parameter stark abgeschwächt sein können. Dies zeigt deutlich die fortgeschrittene Grammatikalisierung an, wodurch es möglich wird, auch schwach transitive und im eigentlichen Sinne intransitive Sachverhalte formal transitiv auszudrücken. In Sprachen mit weniger stark grammatikalisierter Transitivität finden sich in diesen Fällen auch nicht-transitive Kodierungen: 5) Il rédoute ses ennemis - Er fürchtet seine Feinde/ Er fürchtet sich vor seinen Feinden 6) Il perd beaucoup d’argent - Er verliert viel Geld/ Ihm geht viel Geld verloren 7 Hierher gehört auch die große Zahl von Transfer-Verben mit ditransitiver Konstruktion: Il lui donne, offre, prête, arrache, vole le livre, etc. Wie sinnlich sind grammatische Kategorien? 99 Kennzeichnend ist, dass der transitive Prototyp in unterschiedlicher Weise beeinträchtigt sein kann: sei es, dass der Patiens zum Subjekt wird und statt eines konkreten Objekts ein Zustand vorliegt (7, 8); sei es, dass unbelebte Agentes auftreten (9) oder lediglich zwei Objekte in Bezug zueinander gesetzt werden (10, 11). 8 7) Il subit une perte ‚Er erleidet einen Verlust’ (Experiencer in Subjektposition) 8) Il fait pitié ‚Er erweckt Mitleid’ (Experiencer in Subjektposition) 9) Un incendie détruit la maison („inanimate force“ in Subjektposition) 10) La boîte contient trois verres (Lokativ als Subjekt, eigentlich: Trois verres sont dans la boîte) 11) L’alliage contient du plomb et du zinc (Teil-Ganzes-Beziehung) Im Französischen ist die Ausweitung der formal-transitiven Konstruktion bereits so weit fortgeschritten, dass sie zu einer syntaktischen Basisstruktur geworden ist, an der sich alle anderen Satzkonstruktionsmuster auszurichten beginnen. So werden z.B. intransitive Vorgänge zunehmend als derivierte Transitiva dargestellt: la branche casse > la branche se casse ‚der Ast bricht’ (Geisler 1988: 31f., Waltereit 1998: 128f.). Aufgrund der Integration diskursfunktionaler Kategorien in den syntaktischen Rahmen verfestigt sich dabei die Abfolge Subjekt-Verb-Objekt vollständig. Dadurch wird es im Französischen notwendig, diskursfunktional markierte Satzgliedabfolgen durch Herausstellungen zu kennzeichnen: Mon ami, je l’ai vu ce matin à la gare. 9 2.3 Kodierungsschwankungen Trotz fortgeschrittener Grammatikalisierung der Transitivität in den romanischen Sprachen treten eine Reihe von Kodierungsschwankungen auf, die das Fortbestehen der prototypisch semantischen Parameter deutlich machen. Entscheidend dabei ist, dass der Wechsel zur nichttransitiven Transitivität keineswegs zufällig ist, sondern immer mit einer Abschwächung der Agentivität des Subjektreferenten, der Affiziertheit 8 Dies ist kennzeichnend für radiale Kategorien, bei denen die einzelnen Instanzen nur mehr durch Familienähnlichkeit miteinander verbunden sind. 9 Im Deutschen kann dies durch Wortstellungveränderungen ausgedrückt werden: Meinen Freund habe ich heute Morgen am Bahnhof gesehen. Hans Geisler 100 des Objektreferenten oder einer Abschwächung verbbezogener Parameter wie Dynamizität, Telizität und Perfektivität verbunden ist. 10 Kodierungsschwankungen zeigen vor allem polyseme Verben, die kontextuelle Lesarten zur Bezeichnung von Sachverhalten erlauben, bei denen z.B. die Kontrolleigenschaften des Agens in unterschiedlicher Weise eingeschränkt sind. Die betreffenden Lesarten bezeichnen dann Vorgänge und Ereignisse, die sich nicht mehr eindeutig als Handlungen kategorisieren lassen. Dies ist z.B. der Fall bei einer Gruppe von Verben, die ein lokales Nachfolgen bezeichnen. Hier tritt in den romanischen Sprachen transitive Kodierung auf, wenn die Nachfolge durch die Absicht des Agens bedingt ist (12). Auffällig ist, dass bei diesen Verben das Patiens generell nicht affiziert 11 und die Handlung weder punktuell noch telisch ist. Dies kann in anderen Sprachen bereits zu nicht-transitiver Kodierung führen (s. dt. er folgt dem Wagen). 12 Auch in den romanischen Sprachen kann die Kodierung wechseln, wenn der „Folgende“ das Geschehen nicht mehr kontrolliert (13), oder bei unbelebtem Subjekt und Objekt nur mehr die Reihenfolge ausgedrückt werden soll (14, 15). 12) Il suit la voiture - Segue la macchina - Sigue el coche ‚Er folgt dem Wagen’ 13) sp. Aznar le sigue lamiendo el culo a Bush ‚Aznar folgt/ gehorcht Bush speichelleckend’ 13 14) sp. Un suceso sigue a otro ‚Ein Erfolg folgt dem anderen’ 15) it. Spesso il pianto segue il riso und Spesso al riso segue il pianto Dies gilt entsprechend für Verben des Berührens, die zunächst Handlungen bezeichnen, bei der ein Agens mit den Fingern Kontakt mit einem Patiens hat. Normalerweise liegt transitive Kodierung vor, da der Agens willentlich handelt, wenngleich auch nur ein Teil des Patiens affiziert wird (16). Indirekt transitive Kodierung findet sich bei zusätzlicher Ab- 10 Der Umkehrschluss gilt jedoch nicht: aufgrund der starken Grammatikalisierung weisen nicht alle formal transitiven Konstruktionen in den romanischen Sprachen auch starke semantische Transitivität auf. 11 Das Nachfolgen kann so intensiv sein, dass ein Verfolgen daraus wird und der Patiens affiziert ist: s. dt. jmdn. verfolgen, jmdn. hetzen; fr. poursuivre qn, traquer qn; en. to track s.o., hunt s.o. 12 Im Griechischen und Lateinischen tritt mediale Kennzeichnung beim Verb auf: gr. epomai und lt. sequor. 13 Die Bedeutungsveränderung von ‚folgen‘ zu ‚gehorchen‘ findet sich entsprechend im Deutschen: er folgt ihm nach zu er folgt ihm aufs Wort. Wie sinnlich sind grammatische Kategorien? 101 schwächungen der Affiziertheit. So in Fällen, in denen das Patiens nicht mehr ausreichend individuiert ist und keine konkrete Handlung vorliegt (17, 18), nur mehr lokal relationiert wird (19) oder nur mehr ein Ereignis bewertet wird (20): 16) Il touche le ballon ‚Er berührt den Ball’ 17) L’enfant touche à tout ‚Das Kind fasst alles an’ 18) Touche pas à mon pote! ‚Rühr meinen Kumpel nicht an! ’ 19) La commune touche à la mer ‚Die Gemeinde grenzt an das Meer’ 20) La performance touche à la perfection ‚Die Vorstellung kommt der Perfektion nahe’ Die Beispiele machen deutlich, dass es nicht um die Rektion einzelner Verben geht, sondern um die Bewertung von Handlungen bzw. Ereignissen, die mit diesen Verben bezeichnet werden. Wenn also im Spanischen das Verb tocar andere intransitive Lesarten entwickelt als das vergleichbare französische Verb toucher, dann treten im Spanischen entsprechend andere Kodierungswechsel auf als im Französischen (s. sp. Me toca a mí ‚Ich bin dran’, Toca a la puerta ‚Es klopft’ vs. Toca la guitarra ‚Er spielt Guitarre’). Interessant ist in diesem Zusammenhang das Kodierungsverhalten von Verben, welche die komplexe Domäne des Helfens abdecken. Hilfe kann als aktives Handeln oder lediglich als hilfreiches Dabeisein aufgefasst werden (s. dt. er unterstützt ihn vs. er steht ihm bei). Abhängig von der Konzeptualisierung können die Verben dieser Gruppe deshalb von Sprache zu Sprache oder innerhalb verschiedener Sprachstufen Kodierungsschwankungen aufweisen (s. lt. adiuvare alqm, afr. aider à qn vs. nfr. aider qn, dt. jdm helfen, etc.). Falls synchron beide Kodierungen auftreten, so findet sich bei intransitivem Anschluss erwartungsgemäß wieder Abschwächung der Transitivität: 21) fr. Il assiste son ami ‚Er hilft seinem Freund‘ 22) fr. Il assiste à un match de football ‚Er ist bei einem Fußballspiel dabei‘ Ähnliche Wechsel zu indirekter Kodierung finden sich bei Abschwächung der Transitivitätsparameter bei einer Reihe anderer Verben, die Hans Geisler 102 Handlungen wie Nutzen, Brauchen, Fehlen, etc. bezeichnen (s. fr. user qc - user de qc, sp. gozar algo - gozar de algo, etc.). 14 Uneinheitliche Kodierung zeigt auch eine Gruppe von Verben, die perzeptive (sehen), emotive (lieben) oder kognitive Vorgänge (verstehen) bezeichnen. Bei perzeptiven Vorgängen löst normalerweise ein externer Stimulus eine Wahrnehmung aus. Dies kann als passive Wahrnehmung oder als aktive Hinwendung zum Stimulus verstanden werden (Krefeld 1998). Im ersten Fall würde der Mensch als Experiencer kodiert werden (mir fällt X auf) im zweiten Fall als Agens (ich sehe X). Dies gilt entsprechend für Emotionen (mir gefällt X vs. ich mag X) und kognitiven Prozessen (mich dünkt, dass X vs. ich denke, dass X): 23) fr. Cette foto me plaît - J’aime cette foto, it. Questa foto mi piace - Amo questa foto, sp. Esta película me gusta - Amo esta película Auffällig ist bei dieser Gruppe, dass der Typ mit Experiencer-Kodierung in den romanischen und germanischen Sprachen stark abnimmt und im Französischen und Englischen bis auf wenige idiomatische Reste bereits ganz aufgegeben wurde: 15 24) afr. me poise X fr. je regrette X 25) afr. me loist faire X fr. je peux faire X 26) afr. m’estuet faire X fr. je dois faire X Wechsel in der Kodierung findet sich in vielen Sprachen trotz starker Agentivität, wenn nur ein Teil des Patiens von der Handlung betroffen ist und keine punktuelle, telische Handlung vorliegt: Er dreht am Knopf (herum). Er tritt gegen den Tisch. Er kaut auf dem Apfel (herum). Der Kodierungswechsel zur indirekten Transitivität zeigt hier im Gegensatz zu den transitiven Fällen an, dass die Handlung weniger stark zielgerichtet ist und der Patiens nicht ausreichend individuiert ist (s. dagegen: Er dreht den Knopf (um). Er (zer)tritt den Tisch. Er zerkaut den Apfel. Er bemalt die (ganze) Wand (mit Farbe). Das Französische hat für diesen Bereich sogar einen speziellen partitiven Artikel entwickelt: Il mange du pain vs. Il mange le pain (Hopper & Thompson 1980: 276). 14 Die zugrundeliegenden Parameterabstufungen sind in traditionellen und strukturalistischen Grammatiken nicht erkannt worden, weshalb die Varianten meist in Rubriken wie „Schwankende Rektion“ in alphabetischer Form aufgelistet sind. 15 S. zum Französischen Geisler 1989, zum Spanischen Neumann-Holzschuh 1998. Wie sinnlich sind grammatische Kategorien? 103 2.4 Sonderfall: Besitzverhältnisse Ein für die romanischen Sprachen wichtiger Sonderfall ist der Ausdruck von Besitzverhältnissen in transitiver Form. Es handelt sich hier nicht um einen transitiven Prototyp, da das Agens zwar belebt ist, jedoch im eigentlichen Sinne nicht willentlich handelt. Zudem ist das Patiens nur sehr unklar affiziert und es liegt keine punktuelle Handlung vor. Dementsprechend werden in vielen Sprachen Besitzverhältnisse nicht transitiv ausgedrückt, sondern der Besitzer eher als Experiencer aufgefasst und als possessiver Dativ kodiert. Dies war auch in den älteren Stufen der indoeuropäischen Sprachen der Fall: lt. mihi est domus ‚ich besitze ein Haus’. Die Verfügungsgewalt über ein Sache wird konzeptualisiert als „besitzen“ (lt. possedere, eigentlich ‚mit Macht auf etw. sitzen’). Erst im Übergang zu den romanischen Sprachen löste die transitive Ausdrucksweise die ältere Ausdrucksweise ab und breitete sich immer mehr aus: lt. mihi est domus vlt. habeo domum und dann auch lt. mihi est spes vlt. habeo spem ‚ich habe Hoffnung’ (Geisler 1992). Der neuen Ausdrucksweise liegt etymologisch ein transitiver Prototyp zugrunde: „ich halte eine Sache fest und habe damit Verfügungsgewalt über sie“ (s. lt. pecuniam teneo ‚ich halte Vieh’ > sp. tengo dinero ‚ich habe Geld’). Die auffällige perspektivische Änderung in der Darstellung von Besitzverhältnissen ist als Ausdruck kultureller Veränderungen (Meillet 1923) und sogar als Veränderung in der menschlichen „Existenzweise“ interpretiert worden (Marcel 1935, Fromm 1976). Eine ältere „Empfindungsauffassung“ (mihi est X) weicht einer neuen, transitiven „Tatauffassung“ mit entsprechenden Auswirkungen auf die Konzeptualisierung von Besitzverhältnissen (habeo X). Wenngleich sich schwerlich eine derart direkte Verbindung zwischen Sprache und „Existenzweise“ herstellen lässt, so finden sich in einzelnen Sprachen doch verschiedene „Sehweisen“, also unterschiedliche Konzeptualisierungen der Wirklichkeit, die idioethnisch bedingt sind und vermittelt über Grammatikalisierungen zu Verzerrungen in der Darstellung von Sachverhalten führen können. Welchen Einfluss dies auf die mentale Repräsentation einer grammatischen Kategorie wie der Transitivität nehmen kann, bleibt unklar. 3 Sensomotorische Verankerung der Transitivtät? Es ist in diesem Zusammenhang noch einmal zu betonen, dass aufgrund der starken Grammatikalisierung der Transitivität in den romanischen Sprachen das Auftreten von „intransitiven“ Ereignissen und Relationie- Hans Geisler 104 rungen in transitiven Konstruktionen nicht auffällig ist. Signifikant ist nur der Wechsel zu nicht-transitiver Kodierung, der jeweils durch Abweichungen vom transitiven Prototyp, erkennbar an der Abschwächung der Transitivitätsparameter, zu motivieren ist. Wegen der starken Grammatikalisierung sind Kodierungswechsel auch nicht vorhersagbar, d.h. nicht jede Abschwächung in den Parametern wirkt sich notwendigerweise in der Kodierung aus. Umgekehrt trifft aber zu, dass ein in den romanischen Sprachen auftretender Kodierungswechsel immer als Abweichung vom transitiven Prototyp zu werten ist. Die Beispiele für Kodierungsschwankungen bei Parameterabschwächung zeigen ferner, dass die grammatische Kategorie trotz hohem Grammatikalisierungsgrad noch stark durch den semantischen Prototyp geprägt ist. Nur mit Annahme eines transitiven Prototyps ist auch zu erklären, weshalb die Transitivität als universelles Konstruktionsschema fungieren kann und demzufolge alle Sprachen eine spezielle Klasse semantisch transitiver Verben haben (Dixon 1979: 106). Diese sensomotorisch geprägte Ausgangsbasis kann jedoch sekundär von historischkontingenten Grammatikalisierungen überlagert werden. Die Störungen im Abbildungsverhältnis sind dabei als Folge kulturspezifischer Konzeptualisierungen zu werten, die Ähnlichkeiten von Ereignissen mit dem transitiven Prototyp in unterschiedlicher Weise perspektivieren (s. oben zu den Verben des Helfens, des Besitzes, der sinnlichen Wahrnehmung, etc.). 16 Wie die Kodierungsschwankungen weiter andeuten, gehen die semantischen Merkmale des transitiven Prototyps durch die Grammatikalisierung nicht verloren und werden wirksam, wenn Handlungen und Ereignisse sprecherabhängig als transitiv oder nicht transitiv bewertet werden können. Die Überlegungen im Zusammenhang mit der grammatischen Kategorie der Transitivität lassen auch einen Ausblick auf die Ergebnisse neurowissenschaftlicher Untersuchungen zur Morphologie und Syntax zu, die bisher zu stark unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der mentalen Repräsentation grammatischer Kategorien kommen (Glenberg et al. 2007, Longe et al. 2007, Bornkessel-Schlesewsky & Schlesewsky 2009, Pulvermüller 2010, Bergen & Wheeler 2010, Melzer et al. 2010). Aus linguistischer Perspektive fällt auf, dass die Ergebnisse aus punktuellen Unter- 16 Auf die interessanten entwicklungsgeschichtlichen und idioethnischen Aspekte kann hier leider nicht eingegangen werden. Wie Aktiv- und Ergativsprachen zeigen, ist eine semantisch fundierte Kodierung des transitiven Prototyps problemlos möglich, ohne dass diese von sekundären grammatischen Funktionen überlagert sein muss. Wie sinnlich sind grammatische Kategorien? 105 suchungen einzelsprachspezifischer grammatischer Phänomene sehr stark verallgemeinert werden. Dies dürfte auf den Einfluss vorherrschender Ideen zur Universalgrammatik zurückzuführen sein (Chomsky 1995). Wie die Überlegungen zur Transitivität gezeigt haben, scheint es aber sehr stark vom Grammatikalisierungsgrad der einzelnen grammatischen Kategorie abzuhängen, wie sie mental repräsentiert wird. Die Bandbreite könnte reichen von stark sensomotorisch geprägten Repräsentationen, die denjenigen konkreter lexikalischer Kategorien ähneln (woraus ja grammatische Kategorien entwickelt werden), bis hin zu separater Speicherung in neuronalen Netzwerken, die speziell syntaktischen Prozessen vorbehalten sind. Hans Geisler 106 Bibliography Anderson, John M. (1997): A notional theory of syntactic categories. Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press. Anderson, John M. (2006): Modern Grammars of Case. Oxford [u.a.]: Oxford University Press. 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Michael Metzeltin Referentielle Semantik als Verstehensinstrument Für Ulrich, eine Ergänzung zu seiner / Deiner Satzsemantik 1 Welt und Text Die Phänomene der Welt können wir erfassen, indem wir: • die Objekte als solche erkennen; • den Objekten Eigenschaften, Zustände, Prozesse, Handlungen zuweisen; • die Objekte mit ihren Zuweisungen in Deskriptionen, Narrationen und / oder Argumentationen einbetten. Diese Erkennungen, Zuweisungen und Einbettungen geschehen im Allgemeinen über Verprachlichung. Versprachlichung kommt in der Regel in Form von (mündlichen oder schriftlichen) Texten vor. Beobachten und untersuchen können wir Sprachen also im Prinzip nur in Textformen, die auf die Phänomene der Welt referieren. Als Menschen können wir in der Welt nur handeln, wenn wir die Textproduktion und die Textrezeption beherrschen. Diese Beherrschung ist nur möglich, wenn wir verstehen, auf welche Phänomene der Welt sich Texte (direkt oder indirekt) beziehen. 2 Traditionelle Untersuchungsfelder der Sprachwissenschaft Texte bestehen aus Wörtern, Wörter bestehen prinzipiell aus Lauten, mit Wörtern bildet man Sätze, aus Sätzen entstehen Texte. Aus einer derartigen Textperspektive ist vermutlich die Wortzentriertheit der herkömmlichen Sprachwissenschaft zu verstehen. Diese Wortzentriertheit führt zu den in den meisten wissenschaftlichen Beschreibungen einer Sprache als zentral betrachteten Teilen Phonetik / Phonologie, Morphologie, Syntax und Lexikologie / Semantik. In der Phonetik / Phonologie werden die Artikulation der Laute und deren distinktiver Gebrauch beschrieben, in der Morphologie und Syntax die Formen der Wörter und ihre Fähigkeit, Sätze zu bilden, und in der Lexikologie definitorische Bedeutungen und wortschatzmäßige Beziehungen (Synonymie, Antonymie) der isolierten Michael Metzeltin 110 Wörter untereinander. Diese Auf-Teilung unterbelichtet die Tatsache, dass konkrete Sprachen eigentlich dazu dienen, sinn-volle Kommunikation, also sinn-volle Texte zu produzieren. 3 Die Rolle der Semantik Eine sinn-volle Kommunikation kann nur dann stattfinden, wenn ein Bezug zwischen den Wörtern und den Sätzen eines Textes einerseits und bestimmten Phänomenen der Wirklichkeit andererseits hergestellt werden kann. Dieser Bezug, worin das Textverstehen besteht, wird durch die Semantik vermittelt. Die Grundlage der Semantik ist die Begriffsbildung. Der Mensch kann die Wirklichkeit ausschließlich über seine Sinnesorgane wahrnehmen. Die Wahrnehmungen werden durch das Nervensystem zum Gehirn weitergeleitet: an dieser Stelle hinterlassen sie Engramme (Spuren), nehmen die Form von mentalen Repräsentationen (globale Vorstellungen) an und werden durch Begriffe (auf ihre wesentlichen Züge reduzierte Vorstellungen) erfasst, von denen ein Teil nach Modulen, Klassen und Systemen geordnet und im Gedächtnis (im mentalen Lexikon) gespeichert wird. Die von uns immer wieder neu aktualisierten Begriffe bilden im Prinzip eine unbegrenzte Menge. Um solche Mengen in den Griff zu bekommen, steht dem Menschen die Operation der Kategorisierung zur Verfügung. Kategorisierungen können aufgrund von verschiedenen Kriterien vorgenommen werden. Unter den Begriffen scheinen die Vorstellungen von Gegenständen und ihren Eigenschaften vordergründig zu sein. Unter Berücksichtigung der Wortlehre und der kognitiven Entwicklung (z.B. Piaget, Rubinstein) können wir die unendliche Menge der verbal bedingten Begriffe in folgende Klassen einteilen: • Begriffe, die sich auf reale oder fiktive Objekte der Wirklichkeit beziehen lassen (‚Mensch’, ‚Baum’, ‚Haus’, ‚Einhorn’) • Begriffe, die sich auf Eigenschaften, Zustände, Prozesse und Handlungen beziehen lassen (‚rot’, ‚zufrieden’, ‚gehen’, ‚kaufen’) • Begriffe, die sich auf die Situierung der Objekte im Raum beziehen lassen (‚in <+ Haus>’, ‚auf <+ Haus>’) • Begriffe, die sich auf die Einbettung von Zuständen, Prozessen und Handlungen in die Zeit beziehen lassen (‚am Tag t’, ‚im Jahrhundert j’) • Begriffe der Quantifizierung, die sich auf Objekte (Anzahl), Eigenschaften (Ausmaß), Zustände (Intensität) und Prozesse / Referentielle Semantik als Verstehensinstrument 111 Handlungen (Wiederholung), auf Raumbegriffe (Distanz) und Zeitbegriffe (Dauer) beziehen lassen (‚zwei <+ Apfel>‘, ‚groß <+ Haus>‘, ‚sehr <+ sich freuen>’, ‚wieder <+ kommen>’, ‚zwei Kilometer weit’, ‚zwei Tage lang’) • Begriffe der Identifizierbarkeit von Objekten, Eigenschaften, Zuständen, Prozessen, Handlungen, Orten, Zeiten, Mengen (‚das / ein bestimmtes / irgendein <+ Haus>’) • Begriffe der Wahrscheinlichkeit der Zuweisung von Eigenschaften, Zuständen, Prozessen, Handlungen an einen Gegenstand (‚sicher / vielleicht / nicht <+ Peter/ kommen>’) • Begriffe der Konnexionsverhältnisse zwischen zwei oder mehreren Eigenschaften, Zuständen, Prozessen oder Handlungen (‚<essen> und <trinken>’) Alle diese Begriffstypen beziehen sich entweder auf Gegenstände an sich oder auf die Situation, in die die Gegenstände eingebettet sind. Sie sind also grundsätzlich referenzbedingt. Sie ermöglichen uns, eine begriffliche Metasprache zu entwickeln, um das im Alltag eher intuitive Verstehen von Kommunikaten explizit und systematisch zu gestalten. Die Explizitierung der Semantik geschieht durch Analyse, Paraphrase und Zusammenstellung von Grundstrukturen. Die analytische Zerlegung erlaubt, die verschiedenen größeren und kleineren Einheiten der Kommunikate zu erkennen; die synonymischen und explizitierenden Umschreibungen erlauben, die festgestellten Einheiten semantisch zu deuten und pragmatisch zu gewichten (Perspektivierung); die Zusammenstellung von Grundstrukturen erlaubt, das tragende Gerüst von Texten zu erkennen. 4 Semantische Analyseebenen Sprachwissenschaftliche Semantik beschäftigt sich mit der Bedeutung von lexikalischen Einheiten, von Satzstrukturen und von Textstrukturen, in denen die Lexeme vorkommen. Die vorgeschlagene Begriffskategorisierung und die Analyse ihrer Aktualisierung in der Kommunikation werden uns erlauben, die Semantik von Wörtern, Sätzen und Texten explizit zu erfassen. Den drei möglichen Analyseebenen entsprechend, kann man eine Wortsemantik, eine Satzsemantik und eine Textsemantik unterscheiden. Die Wortsemantik kann sich entweder mit der Analyse der Bedeutung von Einzelwörtern oder mit den nicht-propositionalen Kombinati- Michael Metzeltin 112 onsmöglichkeiten (z.B. Antonymien) von Begriffen befassen. Die Satzsemantik gründet auf der Propositionalanalyse. In der Textsemantik operiert man mit Propositionen, propositionalen Gerüsten (Textoiden) und Isosemien. 5 Wortsemantik Eine der traditionellen Arten, Wortbedeutungen zu analysieren, sind die Definitionen. In einer Definition wird das Wesen des Bedeuteten (Definiendum) dadurch festgelegt, dass die nächst höhere Gattung oder Klasse, zu der es gehört (genus proximum, Gattungsbegriff, Hyperonym, Oberbegriff), und die als typisch betrachteten Merkmale (differentiae specificae, spezifische Differenzen, bedeutungsspezifische Unterschiede, unterscheidende Merkmale) angegeben werden. So kann ein Parlament definiert werden als eine Versammlung von Personen (genus proximum), die vom Volk gewählt wird, das Volk vertritt, gesetzgebende Funktion für den Staat hat und die Regierung kontrolliert (differentiae specificae). Eine danse kann definiert werden als „Suite de mouvements du corps (genus proximum) volontaires, rythmés (le plus souvent au son de musique), ayant leur but en eux-mêmes et répondant à une esthétique (differentiae specificae)“ (Petit Robert). Dasselbe Wörterbuch definiert das Adverb ici durch die Paraphrase „le lieu (genus proximum) où se trouve la personne qui parle (differentiae specificae)“. In der Alltagssprache ist die Anzahl der bedeutungsspezifischen Merkmale im Gegensatz zu den Fachsprachen nicht prinzipiell festgelegt. Ähnlich wie die Suche nach Definitionen geht die Komponenten- oder Merkmalanalyse vor. Sie geht davon aus, dass der Inhalt eines Lexems in kleinste Bedeutungseinheiten (Seme, cf. die oben erwähnten differentiae specificae) unterteilt werden kann. Die Summe der Seme ergibt ein Semem. Z.B. stellt sich die Bedeutung des Wortes Stuhl aus fünf Semen zusammen, nämlich: s1 ‚hat Lehne’, s2 ‚hat Beine’, s3 ‚ist für eine Person’, s4 ‚ist zum Sitzen’, s5 ‚besteht aus einem harten Material’. Referentielle Semantik als Verstehensinstrument 113 Die Bildung von genus proximum und differentiae specificae geht deutlich auf die Beobachtung von tatsächlichen Gegenständen und deren Eigenschaften beziehungsweise auf die Beobachtung der jeweiligen Kommunikationssituation zurück, sie ist also referenzbedingt. 6 Satzsemantik Die Oberflächenstruktur eines Textes, bei der wir zuerst Wörter, Moneme, Satzglieder und Sätze als Bauelemente erkennen, dient der Vermittlung einer zugrundeliegenden Bedeutung. Ein Sender setzt grundsätzlich die in seiner Sprache zur Verfügung stehenden Wörter und Satzbaupläne so ein, dass ihr Zusammenspiel der von ihm intendierten semantischen und pragmatischen Bedeutung möglichst nahe kommt und vom Adressaten in der beabsichtigten Weise verstanden wird. Dabei werden die Bauelemente zueinander in teilweise hierarchische Beziehungen gesetzt, ihnen werden bestimmte Funktionen zugewiesen, die Bedeutungen von Lexemen werden dadurch mehr oder weniger deutlich modifiziert und präzisiert. Der sprachliche Ausdruck ist aber nicht nur auf die erwähnten, in der jeweiligen Sprache vorgegebenen Ausdrucksmittel angewiesen, er unterliegt notwendigerweise den Gesetzen einer Ökonomie der Mittel. Weitaus nicht alle Elemente der Bedeutung werden unmissverständlich wiedergegeben, vieles wird komprimiert, verkürzt, nicht ausgedrückt. Die Auflösung dadurch entstehender Mehrdeutigkeiten bleibt dem Vorwissen und der sprachlichen Erfahrung des Empfängers überlassen. Um die Semantik von Kommunikaten möglichst vollständig zu erfassen, muss man die Verkürzungen von Sätzen, alle irgendwie signalisierten Implizitierungen auflösen. Will man möglichst den ganzen semantischen Reichtum eines Textes erfassen, der an der Oberfläche auf vielfältige Weise schillernd entfaltet, konzentriert, variiert und ineinander verschachtelt wird, braucht man eine ausführliche, aber zugleich klar abgegrenzte und konstante semantische Konfiguration von Begriffen (Proposition), durch die dann die Sätze eines Textes systematisch immer auf die gleiche Weise explizitiert werden. Satzbaupläne können ikonisch propositionale Strukturen widerspiegeln, zwischen Satz und Proposition besteht aber keine Isomorphie. Eine propositionale Explizitierung ist ein gradueller Vorgang, der mehr oder weniger weit entwickelt werden kann. Michael Metzeltin 114 Wir haben in §3. gesehen, dass die unendliche Menge von Begriffen in acht Begriffstypen geordnet werden kann. Ein Sender, der in Sätzen kommuniziert, muss mit solchen Begriffen als elementaren Bausteinen der Bedeutung arbeiten. Ein Kommunikat kann aber als ungeordnete Summe der in ihm enthaltenen Begriffe nicht verstanden werden. Damit die Produkte der Kommunikation Bedeutung bekommen, also zu Kommunikaten, insbesondere zu Texten werden, müssen die zu kommunizierenden Begriffe zuerst in verschiedene gedankliche, semantische Kombinationsstrukturen gefasst werden, die sie miteinander in Beziehung setzen. Schon seit dem Altertum werden immer wieder Überlegungen angestellt, wie Gedanken mit abstrakten Konstrukten explizit erfasst werden können. Sowohl die klassischen Philosophen als auch die modernen Sprachwissenschaftler und Psychologen schlagen immer wieder ein propositionales Konstrukt vor. Dieses weist gewöhnlich eine binäre Struktur <Prädikat - Argument> auf, die direkt oder indirekt von der grammatischen Beziehung <Subjekt - Prädikat> ausgehen dürfte. Eine solche Zweierkombination dürfte zwar als Kern von Gedankenstrukturen stimmen, aber nicht ausreichen. Wir können aus Erfahrung postulieren, dass bei einem geordneten Denken grundsätzlich etwas über einen Gegenstand ausgesagt wird, d.h. einem Gegenstand an einem bestimmten Ort wird eine Eigenschaft, ein Zustand, ein Prozess oder eine Handlung zu einem bestimmten Zeitpunkt zugewiesen (elementare Prädikation, Dictum). Die Zuweisung einer Qualität (Eigenschaft, Zustand, Prozess, Handlung) an ein Objekt hat aus der Sicht des Senders in der von ihm intendierten Welt einen bestimmten Grad der Wahrscheinlichkeit. Damit ein Kommunikat richtig verstanden werden kann, muss der Empfänger auch informiert werden, von wem das Kommunikat kommt, was der Sender mit dem Kommunikat will und an wen er es richtet (Senderkomplex, Modus). Quantifizierungen und Identifizierbarkeit (von ‚nicht identifizierbar‘ bis ‚eindeutig identifizierbar‘) sind prinzipiell bei allen Objekt- , Qualitäts-, Raum- und Zeitbegriffen vorhanden und müssen deshalb wenigstens theoretisch ebenfalls überall angeführt werden, obwohl ihr Ausdruck in den verschiedenen Sprachen sehr vielfältig ist und Nullformen eine große Rolle spielen. Konnexionsverhältnisse kommen dagegen erst in Frage, wenn mehr als ein propositionales Konstrukt verwendet wird. Wenn nun die Begriffe, die in einer Grundeinheit enthalten sind, nicht einfach summiert werden, sondern in bestimmten Beziehungen stehen, stellt sich die Frage, welcher Art diese Beziehungen sein können. Die Beziehung der allgemeinsten Art neben der Addition dürfte die Bestim- Referentielle Semantik als Verstehensinstrument 115 mung des einen Elementes durch das andere sein. Wenden wir diese Art der Beziehung auf die Begriffe unseres Konstrukts an, so bietet sich der Objektbegriff, dem die übrigen Begriffe direkt oder indirekt zugeschrieben werden, als Kern an. Dies deshalb, weil die Objektvorstellungen die konkretesten und daher am leichtesten fassbaren sind. Der Objektbegriff wird zunächst durch einen Qualitätsbegriff determiniert, beide zusammen bilden den Kern der Prädikation. Dieser wird durch die Ortsbestimmung, die Zeitbestimmung und den Wahrscheinlichkeitswert determiniert. Ortsbestimmungen geben entweder den Ort an, wo sich etwas befindet, oder das Ziel eines gerichteten Prozesses. Dieses Ziel kann auch eine Person sein. Da Personen in Kommunikaten sehr oft eine strukturell relevante Rolle spielen, empfiehlt es sich, für die Person als Ziel eines Prozesses im Konstrukt eine eigene Stelle vorzusehen. Prädikation und Raum - Zeit - Wahrscheinlichkeit - Bestimmung der Prädikation werden von einem Modus dominiert. Es entsteht so eine geordnete Abfolge von funktionalen Begriffsstellen (Funkteme), in die die jeweils intendierten Begriffe einzusetzen sind, und zwar: • für die Angabe des Gegenstandes, dem der Sender eine Qualität, d.h. eine Eigenschaft, einen Zustand, einen Prozess oder eine Handlung zuschreibt (= Subjekt = S) • für die Angabe der oben erwähnten Qualität (= Prädikat = Qualitätszuweisung = Q) • für die Angabe der Person, zu deren Gunsten oder Ungunsten ein Prozess oder eine Handlung stattfindet (= Destinatär = D) • für die Angabe der Ortsbestimmung (= Lokalisierung = L) • für die Angabe der Zeitbestimmung der Qualität (= Zeit = T) • für die Angabe des Wahrscheinlichkeitsgrades der Zuschreibung der angegebenen Qualität (= %) • für die Angabe des Senders (= Emissor = E) • für die Angabe der Art der Sendung (= emittere = e) • für die Angabe des Empfängers (= Rezipient = R) Die Angaben der Quantifizierungen (= Maß = m) und der Grade der Identifizierbarkeit (= i) werden den durch sie bestimmten Stellen angefügt. Das gesamte Konstrukt können wir als explizit semantische Proposition (= P) bezeichnen. Wenn wir die engere Zusammengehörigkeit durch das Zeichen + und die Bestimmungsbeziehungen durch Klammern symbolisieren, wobei das Element außerhalb der Klammer das Element in- Michael Metzeltin 116 nerhalb der Klammer bestimmen soll, können wir eine Proposition durch folgende Formel darstellen: P = ((((Sm,i)Qm,i + Dm,i)Lm,i + Tm,i + %)Em,i + em,i + Rm,i) Satzmäßig ausgedrückt: Ein Sender teilt einem Empfänger mit, dass es eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, dass ein bestimmter Gegenstand für jemanden an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Eigenschaft hat. Die Gruppierung von <Subjekt, Prädikat, Destinatär, Ortsbestimmung und Wahrscheinlichkeit> nennen wir propositionalen Kern oder Dictum, die Gruppierung von <Sender, Sendeakt, Empfänger> nennen wir Senderkomplex oder Modus. Der Sendeakt besteht eigentlich aus einer Reihe von verschiedenen Momenten: jemand nimmt etwas wahr (perzeptives Moment) > erkennt etwas (epistemisches Moment) > wertet etwas (axiologisches Moment) > will etwas (volitives Moment) > teilt etwas mit (expressives Moment). Auf der Ausdrucksebene wird aus kommunikationsökonomischen Gründen meistens nur eines dieser Momente verbalisiert. Der Vergleich zwischen einem in Sätzen gefassten Text und dem in Propositionen explizitierten Inhalt (Textur) kann nicht nur die ganze semantische Fülle (semantische Dichte) eines Textes, sondern auch seine Artistizität aufzeigen, wie zum Beispiel eine Gegenüberstellung des Beginns (Titel und erster Absatz) von Guy de Maupassants Novelle L'inutile beauté (1890) deutlich macht: „L'INUTILE BEAUTÉ La victoria fort élégante, attelée de deux superbes chevaux noirs, attendait devant le perron de l’hôtel. C'était à la fin de juin, vers cinq heures et demie, et, entre les toits qui enfermaient la cour d’honneur, le ciel apparaissait plein de clarté, de chaleur, de gaieté. ” Dieses Textfragment lässt sich mit folgenden Propositionen explizitieren: P1 Äußeres von X1) vorteilhaft) für X2) -) -) 0 %) P2 Äußeres von X1) schön) -) -) -) 100 %) P3 Viktoria, def) elegant, viel) -) -) -) 100 %) P4 X3) anspannen) Pferd, 2) an Viktoria von P3) Vergangenheit, vor T von P7) 100 %) P5 Pferd, 2, von P4) schön, viel) -) -) -) 100 %) P6 Pferd, 2, von P4) schwarz) -) -) -) 100 %) Referentielle Semantik als Verstehensinstrument 117 P7 Viktoria von P3) bereit, imperfektiv) für X1) vor Freitreppe, Teil des Palais) Vergangenheit, Ende Juni, gegen 5 Uhr 30) 100 %) P8 Ehrenhof, def) liegen, imperfektiv) -) zwischen Dächern) Vergangenheit) 100 %) P9 Himmel, def) zum Vorschein kommen, imperfektiv) -) zwischen Dächern von P8) Vergangenheit) 100 %) P10 Himmel von P9) klar, viel) -) -) Vergangenheit) 100 %) P11 Himmel von P9) warm, viel) -) -) Vergangenheit) 100 %) P12 Himmel von P9) heiter, viel) -) -) Vergangenheit) 100 %) Diese Propositionen kann man auch durch einfache unmarkierte Sätze mit durchgehender Vordergrundperspektivierung ausdrücken: S1 L'aspect d'une certaine personne n'est pas utile. S2 Cette personne est belle. S3 La victoria est fort élégante. S4 Quelqu'un a attelé deux chevaux à la victoria. S5 Les chevaux sont superbes. S6 Les chevaux sont noirs. S7 La victoria attendait devant le perron de l'hôtel à la fin de juin vers cinq heures et demie. S8 La cour d'honneur se trouvait entre des toits. S9 Le ciel apparaissait entre les toits. S10 Le ciel était plein de clarté. S11 Le ciel était plein de chaleur. S12 Le ciel était plein de gaieté. Vergleicht man den Text mit seiner Dekonstruktion, so merkt man sofort, dass letztere unökomomisch, kommunikationsinadäquat und ästhetisch unangenehm ist. Wie schon gesagt, dürften Sprachökonomie, kommunikative Brauchbarkeit und Ästhetik die drei Hauptfaktoren sein, die für die Spannung zwischen der Inhaltsfülle und der Ausdrucksbeschränkung eines Textes verantwortlich sind. Alle Propositionen kann man sich referentiell vorstellen, auch wenn der Text fiktional ist. Die propositionale Unterscheidung von Modus (Perspektive eines Senders) und Dictum (das perspektivierte Phänomen) kann auch deutlich machen, wie der narrative Fluss von den Ereignissen auf die Einstellungen der Sender verschoben und dadurch verlangsamt wird, wie man an der bekannten Stelle von Marcel Prousts Roman Du côté de chez Swann Michael Metzeltin 118 über die Petites Madeleines (I, 1) beobachten kann (Modusausdrücke von mir kursiviert): „Il y avait déjà bien des années que, de Combray, tout ce qui n’était pas le théâtre et le drame de mon coucher, n’existait plus pour moi (Modus des Ich-Erzählers Proust), quand un jour d’hiver, comme je rentrais à la maison, ma mère, voyant (Modus von Prousts Mutter) que j’avais froid, me proposa (Modus von Prousts Mutter) de me faire prendre, contre mon habitude, un peu de thé. Je refusai (Modus des Ich-Erzählers Proust) d’abord et, je ne sais (Modus des Ich-Erzählers Proust) pourquoi, me ravisai (Modus des Ich-Erzählers Proust). Elle envoya (Modus von Prousts Mutter) chercher un de ces gâteaux courts et dodus appelés (Modus eines unbestimmenten Senders ‚die Leute‘) Petites Madeleines qui semblent avoir été moulés dans la valve rainurée d’une coquille de Saint-Jacques. Et bientôt, machinalement, accablé par la morne journée et la perspective (Modus des Ich-Erzählers Proust) d’un triste lendemain, je portai à mes lèvres une cuillérée du thé où j’avais laissé (Modus des Ich-Erzählers Proust) s’amollir un morceau de madeleine. Mais à l’instant même où la gorgée mêlée de miettes de gâteau toucha mon palais, je tressaillis, attentif (Modus des Ich-Erzählers Proust) à ce qui se passait d’extraordinaire en moi.” 7 Textsemantik Die ausführlicheren Kenntnisse über Gegenstände und Geschehnisse, die wir durch wiederholte Erfahrung erwerben, werden von uns häufig „schematisiert“. Diese Schemata können wir propositional explizitieren (cf. §6.). Um explizit logisch zu denken, können wir die jeweiligen zu verwendenden Begriffe in Ketten des Typs <Eigenschaft/ Zustand/ Prozess/ Handlung + Träger der Eigenschaft/ Zustand/ Prozess/ Handlung + Adressat der Handlung + Ort des Trägers + Zeit der Eigenschaft/ Zustand/ Prozess/ Handlung + der dieser Kombination von Begriffen zuzuweisende Wahrscheinlichkeitsgrad> verbinden. Um die Komplexität der Wirklichkeit, die uns umgibt, zu erfassen, genügt es aber nicht, isolierte Propositionen zu bilden, sondern diese müssen in Serien von Propositionen gebündelt werden. Diese Bündelungen können drei Grundgestaltungen annehmen: Referentielle Semantik als Verstehensinstrument 119 • Wenn wir vor allem eine Reihe von Eigenschaften eines Gegenstandes feststellen, dann machen wir eine Beschreibung. Anfang und Ende von Beschreibungen sind immer relativ willkürlich. Beschreibungen sind wichtig, um die Aktanten zu definieren. • Wenn wir versuchen, unsere Handlungen zu erfassen, machen wir eine Erzählung. Erzählungen kann man im Allgemeinen auf ein Schema von drei Momenten des Typs <ein Aktant befindet sich in einer Situation 1, die er verändern will> <der Aktant handelt dementsprechend> <der Aktant befindet sich in einer neuen Situation 2> reduzieren. Da die Menschen nur durch immer neues Handeln überleben können, dürften narrative Schemata die anthropologische Grundlage der Textualisierung sein. • Wenn wir versuchen, jemanden von etwas zu überzeugen, werden wir ihm die betreffenden Aktanten vorstellen (Beschreibungen), die aktuellen und die von uns erwünschten Situationen schildern (Narrationen) und ihn mittels Analogien und Verallgemeinerungen (Fabeln, Syllogismen) zu überreden versuchen, auf eine bestimmte Weise zu reagieren. So produzieren wir Argumentationen. Argumentationen setzen immer Beschreibungen und Erzählungen voraus. Beschreibungen, Erzählungen, Argumentationen bestehen aus einer Mindestanzahl von Propositionen, ohne die es keine Beschreibung, Erzählung, Argumentation geben kann. Diese Grundpropositionen werden immer wieder mindestens intuitiv und abstrakt mit bestimmten Konnexionsverhältnissen auf bestimmte Weisen gebündelt. Wir nennen diese Bündelungen Textoide (sie sind die Grundlage von Texten, selber aber noch keine Texte). Sie sind zwar abstrakte Gebilde, die aber auf die Beobachtung der referierten Welt zurückgehen. 8 Narrativität Narrationen gründen auf typische Handlungen, die der Mensch setzt, um leben und überleben zu können: er lernt mit Gegenständen und Geräten umzugehen; er sucht bestimmte Orte auf; er versucht, unangenehme Situationen zu überwinden; er schließt mit Anderen Verträge ab. Die Vorstellung des Verlaufs solcher Handlungen führt zur Entstehung von Narrationen. Diese bestehen daher aus einer Reihe von chronologisch und / oder kausal verbundenen Propositionen. Für ihre Bündelung dürfte es Michael Metzeltin 120 drei Grundschemata geben: Sukzessivität, Transformativität, Kompensation. Sukzession liegt vor, wenn die Propositionen in der Reihenfolge aufgelistet sind, in der die von ihnen ausgedrückten Ereignisse sich zugetragen haben. Eine besondere Kohärenz weisen sie auf, wenn die Propositionen sich auf vorwiegend dasselbe Subjekt beziehen und die erste und die letzte Proposition handlungslogisch einen Anfang und ein Ende darstellen. Transformative Vorstellung ist dann gegeben, wenn die Ereignisse als die Überführung von einem Zustand zu einem anderen durch willentliche menschliche Handlung dargestellt werden. Explizit kann das zugrundeliegende Denkschema (transformatives Textoid) wie folgt aussehen: P1 eine Person X befindet sich in einer angenehmen oder neutralen Situation (Ausgangssituation, Situation Null = S0) P2 ein Ereignis stört diese Situation (Causa = C) P3 X befindet sich in einer unangenehmen Situation (Situation 1 = S1) P4 X will die unangenehme Situation verändern, um eine angenehme Situation S2 zu erreichen (Intention = I) P5 X handelt, um S1 zu überwinden und S2 zu erreichen (Transformation = T) P6 eine Person Y hilft X bei ihrem Unternehmen (Hilfe, frz. aide = A) P7 eine Person Z hindert X bei ihrem Unternehmen (Schwierigkeit, frz. difficulté = D) P8 X erreicht die gewünschte angenehme Situation (Situation 2 = S2) Wenn die Person X ihre Absicht nicht erreicht, so ist die Endsituation entweder der S1 gleich oder X gerät in eine nicht intendierte Situation S3, die oft das Verschwinden der Figur mit sich bringt (wie Verbannung, Einsperrung in ein Kloster, Kerker, Tod). Es ist möglich, dass eine S2 oder S3 nur vorübergehend oder partiell erreicht wird; dies kann eine Wiederholung des Textoids nach sich ziehen. Eine andere Art, sich Handlung vorzustellen, ist der ausgleichende Austausch von Dienstleistungen (kompensatorisches Textoid). Hierhin gehören alle Vertragsformen wie auch Bitt- und Dankesrituale, also auch Gebete. Ein typisches Beispiel für eine transformative Erzählung, die den Handlungsmustern der Wirklichkeit entspricht, bietet Flauberts Roman Madame Bovary, dessen semantisches Gerüst aus vier transformativen Referentielle Semantik als Verstehensinstrument 121 Textoiden besteht (m1, m2, m3, m4 zeigen zunehmende, aber vorübergehende Mengen an; S2p zeigt eine partielle S2 an). Die Wiederholung der Grundstruktur hebt die Problematik der dargestellten Situation hervor: Textoid 1 S1 Emma) gelangweilt) auf Land) I Emma) glücklich m/ n) in Stadt) Emma) wollen) T Emma) heiraten) Charles) S2p Emma) glücklich/ m1) D Charles) langweilig) Textoid 2 S1 Emma) gelangweilt) auf Land) I Emma) glücklich m/ n) in Stadt) Emma) wollen) T Emma) lieben León I) S2p Emma)glücklich/ m2) D León) verlassen Emma) Textoid 3 S1 Emma) gelangweilt) auf Land) I Emma) glücklich m/ n) in Stadt) Emma) wollen) T Emma) lieben Rodolphe) S2p Emma)glücklich/ m3) D Rodolphe) verlassen Emma) Textoid 4 S1 Emma) gelangweilt) auf Land) I Emma) glücklich m/ n) in Stadt) Emma) wollen) T Emma) lieben León II) in Stadt) S2p Emma)glücklich/ m4) D León) verlassen Emma) S3 Emma) Selbstmord begehen) Die Vorstellungen von Sukzessivität, Transformativität und vertraglicher Kompensation entstehen durch Beobachtung der alltäglichen Wirklichkeit. Michael Metzeltin 122 9 Unreferentielle Semantik? Wir haben bisher gesehen, dass wir Wörter, Sätze und Texte explizit verständlich machen können, indem wir sie mit einer Semantik interpretieren, die unseren Wahrnehmungen der aktuellen oder einer zukünftigen Wirklichkeit entsprechen können. Es stellt sich aber die Frage, wie Texte zu verstehen sind, die etwas darstellen, was unserer üblichen Wahrnehmung der Wirklichkeit scheinbar nicht entspricht, die jedoch nicht als Nonsense-Literatur intendiert sind. Zu dieser Art Texten gehören zum Beispiel die Zaubermärchen. Im bekannten Märchen Aschenputtel in der Fassung von Charles Perrault (Cendrillon ou la petite pantoufle de verre) kommen folgende handelnde Personen vor: • ein gentilhomme und seine schöne Tochter Cendrillon • die Stiefmutter von Cendrillon und ihre zwei Töchter • Cendrillons Patin, die eine Fee ist • der Sohn des Königs • ein weiterer gentilhomme, der den verlorenen Schuh anprobieren lässt Das Märchen gründet auf folgenden narrativen Momenten: P1 Un gentilhomme épouse en secondes noces une femme hautaine avec deux filles. P2 La belle-mère ne peut souffrir les bonnes qualités de la fille du gentilhomme (Cendrillon). P3 La belle-mère charge Cendrillon des plus viles occupations de la maison. P4 Cendrillon souffre tout avec patience. P5 La femme du gentilhomme le gouverne entièrement. P6 Après son travail, Cendrillon s’assoit au coin de la cheminée dans les cendres. P7 Le fils du roi donne un bal et y invite toutes les personnes de qualité. P8 Le fils du roi invite les deux filles de la belle-mère. P9 Les filles de la belle-mère choisissent les habits et les coiffures appropriés. P10 Cendrillon repasse le linge des sœurs. P11 Cendrillon a de la peine. P12 Cendrillon conseille ses sœurs. P13 Cendrillon coiffe bien ses sœurs. Referentielle Semantik als Verstehensinstrument 123 P14 Les sœurs partent pour le bal. P15 Cendrillon pleure. P16 La marraine demande à Cendrillon ce qu’elle a. P17 Cendrillon veut aller au bal. P18 La marraine dote Cendrillon d’un carrosse, d’un attelage de six chevaux, d’un cocher, de six laquais, d’habits précieux et de pantoufles de verre. P19 La marraine demande à Cendrillon de rentrer avant minuit. P20 Cendrillon promet à la marraine de rentrer avant minuit. P21 Cendrillon part pour le bal. P22 Le fils du roi reçoit Cendrillon. P23 La cour admire la beauté de Cendrillon. P24 Le fils du roi danse avec Cendrillon. P25 Cendrillon fait beaucoup d’honnêtetés à ses sœurs. P26 Ses sœurs ne la reconnaissent pas. P27 À onze heures trois quarts Cendrillon rentre. P28 Cendrillon remercie sa marraine. P29 Le fils du roi prie Cendrillon de revenir le lendemain. P30 Cendrillon demande à sa marraine de pouvoir aller au bal le lendemain. P31 Les sœurs rentrent et racontent ce qu’elles ont vu. P32 Cendrillon est très contente. P33 Le jour aprés, ses sœurs vont de nouveau au bal. P34 Le jour aprés, Cendrillon va aussi au bal. P35 Le fils du roi est toujours auprés de Cendrillon. P36 Quand sonne le premier coup de minuit, Cendrillon s’enfuit. P37 Cendrillon perd une de ses pantoufles. P38 Le fils du roi suit Cendrillon sans la ratrapper. P39 Le fils du roi ramasse la pantoufle de Cendrillon. P40 Les sœurs rentrent et racontent ce qu’elles ont vu. P41 Le fils du roi fait publier qu’il épousera la personne à laquelle appatient la pantoufle. P42 Un gentilhomme fait essayer la pantoufle à toutes les filles. P43 Ce gentilhomme fait essayer la pantoufle à Cendrillon. P44 Ce gentilhomme voit que la pantoufle entre sans peine dans le pied de Cendrillon. P45 Cendrillon sort de sa poche l’autre pantoufle. P46 La marraine transforme les habits de Cendrillon. P47 Les sœurs reconnaissent la belle personne du bal. Michael Metzeltin 124 P48 Les sœurs demandent pardon à Cendrillon de leurs mauvais traitements. P49 Cendrillon pardonne à ses sœurs. P50 Le fils du roi épouse Cendrillon. P51 Cendrillon fait loger ses sœurs au palais. Die Untersuchung der Subjektpositionen zeigt, dass Cendrillon die Hauptfigur ist. Da sich ihre Situation verwandelt (S1 unverheiratet > S2 verheiratet) könnte man ein transformatives Textoid als semantisches Grundgerüst vermuten. Dagegen spricht aber, dass sie keine Heiratsintention hat, die einzige Intention, die sie ausdrückt, ist, dass sie gerne auf den Ball ginge wie ihre Stiefschwestern. Zudem unternimmt sie nichts, um dorthin gehen zu können, sondern sie wird eigentlich dorthin von ihrer Patin „gegangen“ („Hé bien, seras-tu bonne fille? dit sa Marraine, je t’y ferai aller.“) Auffallend ist die Gegenüberstellung der Hochmütigkeit der Stiefschwestern und der geduldigen Demut Cendrillons. Dies dürfte Perrault dazu veranlasst haben, dem Märchen zwei moralités hinzuzufügen, durch die sein Gesamttext ein induktiv argumentatives, durchaus realistisches Textoid (Exempel, Fabel) als Grundgerüst bekäme, wie etwa: P1 Wer bonne grâce hat / zeigt, kann alles. P2 Wer keine bonne grâce hat/ kann nichts. P3 Cendrillon hat / zeigt bonne grâce, sie heiratet den Sohn des Königs. P4 Die Stiefschwestern haben / zeigen keine bonne grâce, sie werden nicht vom Sohn des Königs ausgewählt. Damit kann man aber die wundersamen Erscheinungen des Märchens nicht begründen, wie die magischen Fähigkeiten der Marraine, die zum Beispiel einen Kürbis in eine Karosse verwandelt (“Cendrillon alla aussitôt cueillir la plus belle (citrouille) qu’elle put trouver, et la porta à sa Marraine, ne pouvant deviner comment cette citrouille la pourrait faire aller au bal. Sa Marraine la creusa, et n’ayant laissé que l’écorce, la frappa de sa baguette, et la citrouille fut aussitôt changée en un beau carrosse, tout doré.”) oder die Glasschuhe (mit Glas dürfte Kristall gemeint sein). Der Name Cendrillon verweist auf einen Umgang mit Asche. Es ist nun bekannt, dass bei Initiationen die Initianden mit Asche oder Kalk bedeckt wurden, um einen Tod zu simulieren, durch den sie das alte Leben hinter sich ließen, um dann zum neuen Leben des Initiierten aufzuerstehen. Kristall wurden besondere Eigenschaften bei Initiationsriten zugeschrie- Referentielle Semantik als Verstehensinstrument 125 ben, Initiierte erhielten auch besondere Erkennungszeichen. Alle diese und noch andere Zeichen lassen vermuten, dass das Märchen keine handlungslogische, sondern eine rituelle Transformation kodiert, und zwar eine sogenannte Jünglingsweihe. Die Jünglingsweihe, d.h. die Initiation von Nicht-Erwachsenen in das Erwachsenenleben, erstreckt sich über einen bestimmten Zeitraum, beinhaltet bestimmte Handlungen und Zustände und weist eine bestimmte Topographie auf. Sie kann als Sequenz von konstanten Handlungseinheiten folgendermaßen schematisiert werden: P1 Weggang oder Wegführung vom Elternhaus in einem bestimmten Alter P2 Überschreitung einer Grenze zu einem Ort, der nur für Initiierte und Initianden zugänglich ist (i.A. nicht für Kinder und nicht für Frauen) P3 Isolierung der Initianden an einem bestimmten Ort im Wald oder Dickicht (in der „anderen“ Welt) P4 Durchführung von Initiationsritualen an einem bestimmten Ort: Der Initiand muss Hunger, Durst, Schlafentzug, die Angst vor den bevorstehenden körperlichen Schmerzen ertragen und er wird körperlich durch Beschneidung oder andere Mutilationen markiert; dabei werden ihm häufig halluzinogene Stoffe verabreicht, die eine Art Trance bewirken; dadurch wird eine Art Metamorphose vollzogen, die den Übergang vom Kind zum Erwachsenen symbolisiert P5 Belehrung und Übung in der „anderen“ Welt über einen längeren Zeitraum hinweg, wobei ursprünglich das Erlernen der Jagd (der selbständigen Ernährungsfähigkeit) und die Bewältigung der Sexualität (der Zeugungsfähigkeit) im Zentrum stehen P6 Rücküberschreitung der Grenze und Rückkehr in den Familienverband als neuer Mensch P7 Festliche Aufnahme in die Gruppe P8 Eventuelle Heirat und Gründung einer neuen Familie Die schwierigsten Momente des Übergangs, die mit großer Angst und Schmerz verbunden sind, sind die Isolierung und die körperliche und geistige ‚Behandlung‘ zwecks Trennung vom alten Leben. Ihre Bedeutung wird von der Anwendung auf den Körper des Initianden von Erde, Kalk und Wasser als Symbol für die Umwandlung von einem Zustand in einen anderen unterstrichen, was zu den Vorstellungen der Verzauberung führt, denen wir z.B. so häufig in Tausendundeine Nacht begegnen. Schmerz entsteht, wenn man sich von etwas trennen und wenn man phy- Michael Metzeltin 126 sische Qualen ertragen muss. Wer den Schmerz beherrscht, überwindet, ist stark, befreit sich von Vorangegangenem, ist stärker als die Natur, hat die Selbstkontrolle gelernt, kann herrschen, kann sich für andere einsetzen. P1 Cendrillon hat eine neue Stiefmutter (Cendrillon wird vom Elternhaus weggeführt) P2 - P3 Cendrillon muss im Speicher schlafen (Cendrillon wird isoliert) P4 Cendrillon muss niedrige Arbeiten verrichten und sitzt in der Asche (Durchführung von Initiationsritualen) P5 Cendrillon kümmert sich um die Kleider und die Frisur der Stiefschwestern und berät sie; sie geht auf den Ball (Belehrung und Übung) P6 Cendrillon wird erkannt, bekommt neue Kleider und wird zum Hof geführt (Cendrillon kehrt in die normale Welt zurück) P7 - P8 Der junge Prinz heiratet Cendrillon (Heirat) Zieht man also alte Formen von reellen Initiationsriten heran, kann man auch Zaubermärchen auf ein reales Handlungsschema zurückführen. In seinem berühmten Aufsatz Introduction à l’analyse structurale des récits (p. 2) meinte Roland Barthes: “Où donc chercher la structure du récit? Dans les récits, sans doute.” Wir haben versucht, diese Meinung zu falsifizieren. Referentielle Semantik als Verstehensinstrument 127 Bibliographie Barthes, Roland, Introduction à l’analyse structurale des récits, Communications, 8, 1966, 1-27. Metzeltin, Michael / Jaksche, Harald, Textsemantik. Ein Modell zur Analyse von Texten, Tübingen: Narr, 1983 Metzeltin, Miguel / Thir, Margit, El arte de contar: una iniciación. Un ensayo metodológico y antropológico acerca de la textualidad, Murcia: Universidad, 2002 Metzeltin, Michele / Thir, Margit / Giovanella, Donata, Testualità. Teoría e pratica, Wien: Istituto Italiano di Cultura, 2005. Metzeltin Michael, Theoretische und angewandte Semantik. Vom Begriff zum Text, Wien Praesens, 2007. Propp, Vladimir, Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, München / Wien: Hanser, 1987. Daniel Jacob Was Wortarten miteinander machen: syntaktische Kategorien zwischen semantischer Funktion und struktureller Einbettung Der vorliegende Beitrag versteht sich als ein Gedankenspiel, insofern er von einem lange als selbstverständlich angesehenen, heute allerdings stark in Frage gestellten Syntaxkonzept ausgeht: dem einer kompositionellen Syntax, wonach ein Inventar abstrakter syntaktischer Kategorien und Kompositionsregeln es ermöglicht, aus einem ebenfalls begrenzten Inventar elementarer Entitäten (Lexemen, Morphemen) eine potentiell unbegrenzte Menge von Ausdrücken zu formen, deren Bedeutung aber aus der Bedeutung der Grundelemente und den semantischen Operationen der Kompositionsregeln abgeleitet ist. Wenn ich hier also einer Grammatikauffassung folge, die auch Ulrich Wandruszkas unermüdlicher Arbeit an einer konsequent kategorialgrammatischen Fassung der Syntax (und sogar der Morphologie) zugrundeliegt, ist es nicht meine Intention, die Errungenschaft des usage-based approach (Konstruktionsgrammatik, emergent grammar) 1 zu revozieren, der das Kompositionalitätsprinzip anzweifelt und bestenfalls als mögliches Epiphänomen eines Sprachgebrauchs betrachtet, der vor allem im Reproduzieren von gestaltartigen Mustern besteht, verstanden als Routinen zur Bewältigung bestimmter rekurrenter pragmatisch-kontextueller Zusammenhänge. Vielmehr geht es darum, vor dem Hintergrund einer solchen Auffassung die Syntax erneut darauf zu befragen, in welchen Teilbereichen die Emergenz von Grammatik aus dem Diskurs tatsächlich so weit geht, dass man eine solche kompositionelle Kombinatorik unterstellen kann. Auf der anderen Seite soll auch nicht in Abrede gestellt sein, dass es in der Grammatik solche Kombinations- und Bildungsregeln gibt, die weitestgehend autonom gegenüber der Semantik und Pragmatik der gebildeten Äußerungen sind, 2 d.h. allein einer abstrakten grammatischen Ratio folgen. Aber auch hier gilt: erst wenn man dieses Autonomieprinzip als Apriori in Frage gestellt hat, kann man sich sinnvoll danach fragen, inwieweit oder in welchen Teilbereichen Grammatik tatsächlich nach auto- 1 Vgl. u.v.a. Hopper (1989), Bybee (2006), Goldberg (2003), ... 2 Zum Problem der Autonomie vgl. Croft (1995), Anderson (2005), Jacob (2003). Daniel Jacob 130 nomen Prinzipien funktioniert. Genau diese Fragen sollen im vorliegenden Beitrag anhand der Kombinatorik von Wortarten diskutiert werden. Wortarten bilden die Schnittstelle zwischen der Syntax und dem Lexikon, 3 den beiden Bereichen des sprachlichen Stufenbaus, die sich einerseits durch ihre Bedeutungsbezogenheit auszeichnen (anders als die segmentale Lautung), andererseits noch im engeren Sinne für das stehen, was wir als den abstrakten Sprach-Code aufzufassen pflegen (im Gegensatz zu den stark kontextbezogenen Entitäten und Regeln der Diskurs- Ebene). Es ist somit kein Zufall, dass die Wortarten in der okzidentalen Sprachreflexion von Beginn an das Gerüst jeder umfassenden Syntaxbeschreibung darstellen. 4 3 In der gegenwärtigen Linguistik wird der Begriff der Schnittstelle gerne auf die Beziehungen zwischen der syntaktischen Struktur und deren Bedeutung angewandt (syntax semantics interface). In der funktionalistischen Sichtweise des vorliegenden Artikels ist das Verhältnis von syntaktischer und semantischer Struktur gerade keine Schnittstelle (wo der output eines Systems zum Input für ein anderes würde oder wo eine Strukturkopplung zwischen unterschiedlichen, autonomen Systemen stattfände), weil Satzstruktur und Semantik nicht als zwei voneinander unabhängige Systeme oder Regelmechanismen angesehen werden, sondern als zwei Aspekte eines semiotischen Systems Syntax, wo ein unmittelbares Abbildungsverhältnis angenommen wird: die Bedeutung sprachlicher Strukturen ist nicht etwas, das a posteriori nach Anwendung syntaktischer Regeln zu eruieren ist, sondern die Eingangsvoraussetzung zur Anwendung syntaktischer Regeln und Kategorien, die diese fast zu 100% steuert. Der Begriff der Schnittstelle ist in dieser Sichtweise tatsächlich für solche Situationen reserviert, wo sprachliche Teilsysteme, die nach sehr unterschiedlichen Prinzipien organisiert sind, in strukturelle Interaktion geraten (nämlich an den Übergängen des sprachlichen Stufenbaus: Lautung - Lexikon - Syntax - Text ...). Es sei zwar an die oben gemachte Konzession erinnert, dass vereinzelte Teilbereiche der Syntax tatsächlich Tendenz zur Entwicklung eines asemantisch-autonomen Systems aufweisen; allerdings zeigt sich dies gerade im Verlust jeglicher Berechenbarkeit des Verhältnisses von syntaktischer und semantischer Struktur, so dass auch hier der Begriff der Schnittstelle keinen Platz hat. 4 Dies gilt für die traditionelle europäische Grammatik seit ihren antiken Anfängen und wird erst in den konstituentenstrukturellen Ansätzen des 20. Jh. durchbrochen, wie z.B. der Kategorialgrammatik oder den ältesten Versionen der Generativen Grammatk, durch den mereologischen Grundansatz der Konstituentenstruktur, in der auch zusammengesetzte syntaktische Kategorien wie S oder VP auftauchen. Im Prinzipen und Parameter-Modell wird dies allerdings durch die Einführung des x-bar- Schemas, wo jede Phrase durch ihren Kopf, also eine elementare Kategorie definiert ist, in gewissem Sinne wieder rückgängig gemacht. Hingegen tut die affirmiert nicht-komponentielle Konstruktionsgrammatik, wo Wortarten zumindest im ersten Schritt eigentlich überhaupt keinen Platz haben sollten, sich schwer im Aufgeben der der traditionellen Denkweise: es überrascht, Was Wortarten miteinander machen 131 Dabei werden seit der Antike die Wortarten (traditionell als Redeteile - partes orationis bezeichnet, was die Gefahr der Verwechslung mit den Satzteilen bzw. syntaktischen Funktionen birgt) zumindest partiell über ihre Bedeutung definiert. Semantische Kriterien tauchen in den Definitionen der doktrinären Grammatikdarstellungen jeweils als ein Definitionselement neben anderen auf, 5 insbesondere neben den jeweiligen morphosemantischen Kategorien, die die flexionelle Paradigmatik der einzelnen Wortarten bestimmen (und damit natürlich indirekt ebenfalls einen Hinweis auf die semantische Funktion einer Wortart geben können). Für die modistischen artes grammaticae des 13. und 14. Jahrhunderts wird die Wortartenklassifikation gar zur Grundlage einer generellen philosophisch-erkenntnistheoretischen ,Spekulation‘. So unterstellt die gammatica speculativa unterschiedliche kognitive (modi intelligendi) oder ontische Kategorienbestände (modi essendi), die direkt mit den Wortarten (modi significandi) in Verbindung stehen. Auch wenn der Primat ganz klar den ontologischen modi essendi eingeräumt wird und die grammatica speculativa mit Blick auf den Universalienstreit dem realistischen Lager zugerechnet wird, scheint mir, wie schon bei den philosophischen Kategorienlehren (Fn. 5), die reine Tatsache, dass hier die Erkenntnistheorie von der Sprache her entwickelt wird, ein impliziter Hinweis darauf, dass Sprache in diesen Ansätzen letztlich doch mehr darstellt als einen einfachen Spiegel der Wirklichkeit. Für unser Thema ist festzuhalten, dass damit die Frage nach dem systematischen Bedeutungspotential der verschiedenen Wortarten in den Mittelpunkt der Reflexion rückt. Das heißt allerdings nicht, dass es eine mit welcher Selbstverständlichkeit Wortartenkategorien in die Beschreibung der eigentlich strukturell unhintergehbaren constructions eingehen. 5 „Verbum est pars orationis cum temporibus et modis, sine casu, agendi vel patiendi significans“ (Priscian apud Bossong 1990: 26), „proprium est nominis substantiam et qualitatem significare“ (ibd.), „Verbum est pars orationis cum tempore et persona sine casu, qua quid agatur vel actum agendumve sit indicatur“ (Sacerdos apud Swiggers/ Wouters 2002: 273), „Verbum est pars orationis cum tempore et persona sine casu aut agere aliquid aut pati aut neutrum significans“ (Donat, ibd.), „Nomen est pars orationis cum casu aut rem proprie communiterve significans“ (Donat apud Swiggers/ Wouters 2002: 259), ... Inwieweit philosophische Kategorienlehren von Aristoteles bis N. Hartmann, trotz ihrer ontologischen oder metaphysischen Zielsetzung, implizit an den Wortartenkategorien der europäischen Sprachen orientiert sind (immerhin verweist der Terminus Kategorie auf den prädikativen, also sprachlichen Charakter solcher Einteilungen ...), wäre ein lohnender Untersuchungsgegenstand. Daniel Jacob 132 apriorische Zuordnung zwischen einzelnen Wortarten und bestimmten Begriffen oder Klassen von Begriffen gäbe: vielmehr kann ein und dasselbe Konzept in verschiedenen modi auftreten (albus albedo, dolor dolere, cf. u.v.a. Bossong 1990: 28). Wortarten sind damit unterschiedliche Arten der Erfassung der Wirklichkeit und der Konzepte, die diese Wirklichkeit in den Blick nehmen. Dies wird für meine weitere Argumentation zentral sein. Auch die grammaire raisonnée des 18. Jh. und ihr berühmter Vorläufer von Port Royal [1662] insistieren, gemäß ihrem Programm, das kommunikative Potential der Grammatik aufzuzeigen, auf der funktional-semantischen Bestimmung der Wortarten. Bei Arnauld und Lancelot findet sich diesbezüglich eine interessante Zweigleisigkeit: während das Substantiv ganz traditionell mit den Eigenschaften der unter diese Klasse fallenden Konzepte definiert wird („ceux qui signifient des substances“ 6 ), argumentiert die Definition für das Verb völlig unabhängig vom prädikativen Gehalt der Lexeme, allein mit der pragmatischen Funktion, die das Verb im Diskurs einnimmt: „Et c’est proprement ce que c’est que le verbe, un mot dont le principal usage est de signifier l’affirmation“ (Port Royal ([1662] 1803: 332). In modernen funktionalistischen Bestimmungen der Wortarten lassen sich alle drei gesehenen Definitionsstrategien wieder finden: die semantische, auf die Qualitäten der Lexeme bezogene, die formelle und die pragmatische, wie in der folgenden, typologischen Definition von Verben: „Verbs (...) are primarily used for predication, and as predicates typically head the clause, determining its argument structure and case frame. Prototypically, verbs express actions, processes, and (somewhat more marginally) states. (...) As the head of the clause, verbs are usually the word class with the most complex morphological possibilities“ (Evans 2000: 712). Es lassen sich also zwei Tendenzen erkennen: eine, die die einzelnen Wortarten mit bestimmten begrifflichen Bereichen verknüpft, eine andere, die darauf insistiert, dass jede der lexikalischen Wortarten (Verb, Substantiv, Adjektiv, Adverb) im Prinzip jedes Konzept transportieren kann, wenn auch eben zu der Bedingung, dieses Konzept jeweils mit einem anderen „Modus“ zu versehen. Die salomonische Lösung liegt, wie 6 „C’est ce qui fait la principale différence entre les mots qui signifient les objets des pensées: car ceux qui signifient les substances ont été appelés noms substantifs; et ceux qui signifient les accidens, en marquant le sujet auquel ces accidens conviennent, noms adjectifs“ (Port Royal [1662] 1803: 273). - - Was Wortarten miteinander machen 133 immer in solchen Fällen, in der Anerkennung des prototypikalischen Charakters sprachlicher, auch grammatischer Entitäten: im Prinzip ist es möglich, jedes prädikative Konzept in jede Wortart zu kleiden, tatsächlich aber sind bestimmte Konstellationen „normaler“, häufiger, erwartbarer, „natürlicher“ als andere. Dies lässt sich an einem einfachen Beispiel zeigen: 7 (a) L’instabilité des fondements a provoqué l’écroulement de l’édifice. (b) L’édifice s’est écroulé à cause de l’instabilité des fondements. (c) L’édifice s’est écroulé parce que les fondements étaient tellement instables. (d) Les fondements étaient tellement instables que l’édifice s’est écroulé. Die Sätze (a) (d) benennen alle denselben Sachverhalt, enthalten also in etwa die selben Prädikatenkonstanten in derselben Disposition, kleiden dies aber in unterschiedliche syntaktische Kodierungen, wobei die verschiedenen Teilbedeutungen des realisierten propositionalen Gefüges auf unterschiedliche syntaktische Positionen und auch auf unterschiedliche Wortarten entfallen. Spontan würde man nun sagen, dass nicht alle Ausdrucksweisen gleich „natürlich“ sind: es gibt intuitiv ein Gefühl dafür, dass die Sätze (c) und (d) den Sachverhalt adäquater wiedergeben als etwa Satz (a). Die Kodierung in (a) wird gerne als Nominal- oder Papierstil kritisiert; andererseits gibt es offensichtlich bestimmte Motive, um auch Kodierungen vom Typ (a) zu produzieren. Es ist hier nicht der Rahmen, um solche intuitiven Urteile einer objektiven Untersuchung zuzuführen. Vielmehr will ich versuchen, die unterschiedliche Verwendbarkeit der verschiedenen Kodierungen auf die unterschiedlichen Bedeutungspotentiale und Möglichkeiten der verschiedenen Wortarten, auf die die einzelnen Komponenten des benannten Propositionsgefüges jeweils fallen, zu beschreiben, in der Hoffnung, dass auch dies schon einen Teil der Intuition von „Natürlichkeit“ erklären kann. Es handelt sich also um eine Frage der Kombinatorik oder Syntagmatik auf beiden Seiten der syntaktischen Struktur: ein komplexes propositionales Gefüge (beschreibbar als Hierarchie von Prädikationen) wird realisiert oder wiedergegeben durch ein ebenfalls hierarchisch organisiertes 7 Das vorliegende Bsp. findet schon Verwendung in Jacob i. Dr., wo es speziell zur Diskussion des Unterschieds zwischen nominaler und verbaler Referenz verwendet wird. Ganz ähnliche Beispiele (und viele weitere) verwendet Raible (2001) zur Demonstration verschiedener Grade der syntaktischen Integration bei der Junktion (clause linking) von Propositionen. - - - Daniel Jacob 134 Gefüge von syntaktischen Formen. Speziell geht es hierbei um die Frage, wie die einzelnen syntaktischen Kategorien sich untereinander kombinieren können, um aus der individuellen prädikativen Semantik der Lexeme und den generell-kategoriellen (d.h. Wortarten-)Eigenschaften durch Zusammenfügen die komplexe semantische Struktur zu erzeugen. 8 Zunächst sei das wiederzugebende Prädikationsgefüge beschrieben: 9 Der Satz drückt eine komplexe Prädikationshierarchie aus, in der zwei Propositionen in eine kausal-konsekutive Relation gesetzt werden. 10 Vereinfachend 11 kann man unterstellen, daß die beiden in Bezug gesetzten Propositionen jeweils aus einem einstelligen Prädikat bestehen ( EINSTÜRZ (x), i NSTABIL (x)), in deren Argumentstelle jeweils ein aktuell referierender Referenzterm eintritt, der, neben dem referenziellen Operator (anapho- 8 Angemerkt sei, dass die Prädikationshierarchie auf der semantischen Ebene nicht notwendig als isomorph mit der hierarchischen Anordnung der Lexeme in der syntaktischen Hierarchie zu beschreiben ist. Insbesondere bei Annahme einer lexical decomposition lässt sich auch innerhalb der Lexeme eine hierarchische Anordnung mehrerer Prädikate unterstellen (und selbst Individuenvariablen oder -konstanten können in der Bedeutung eines Verbs enthalten sein). Um dieses Problem kleinzuhalten und mich möglichst auf die Frage der Leistung der abstrakten Wortarten zu konzentrieren, ist das Beispiel so gewählt, daß die Ausdrucksvarianten (a) - (d) mit (fast) konstantem Lexembestand operieren (lediglich der Ausdruck der interpropositionalen Relation findet verschiedene lexikalische Realisierungen) und dass man je einem Lexem ein Prädikat zuordnen kann. Würde man unterschiedliche Lexeme heranziehen, ergäben sich natürlich unendlich viele weitere Paraphrasen für den referierten Sachverhalt. 9 Wünschenswert wäre hier eine formale Darstellung. Allerdings wäre ein einfacher Prädikatenkalkül hier nicht geeignet, weil dessen Wohlgeformtheitsregeln weniger auf die Darstellung der begrifflich-kognitiven Struktur zielen als auf die wahrheitstheoretische Berechenbarkeit. Ein geeigneter Formalismus wäre das Aktantenmodell von K. Heger (Heger/ Mudersbach 1984), dessen Verwendung allerdings eine hier nicht leistbare Einführung in den Formalismus voraussetzen würde. Zu betonen ist aber, dass K. Heger (1985) selbst auf der Basis seines Modells eine Definition der Wortarten gegeben hat, die die implizite Grundlage aller hier entwickelter Ideen darstellt. 10 K AUSALITÄT und K ONSEKUTIVITÄT werden hier als zwei Relationen beschrieben, die beide auf der K ONDITIONALITÄT beruhen und dies in komplementärer Weise mit der Assertion der Teilglieder kombinieren (siehe hierzu weiter unten). 11 Cf. Fn. 8. So ist hier z.B. auch vernachlässigt, dass das Prädikat INSTABIL ja selbst komplex ist, was sich ja sogar in der syntaktischen Struktur (Präfigierung von in-) ausgedrückt. Was Wortarten miteinander machen 135 risch identifiziert), auch noch einmal jeweils ein prädikatives Element ( GE - BÄUDE , FUNDAMENT ) enthält. 12 Es gibt nun also verschiedene Möglichkeiten, diese semantische Hierarchie durch eine syntaktische Hierarchie wiederzugeben. Die Möglichkeiten werden dabei durch die systematischen Eigenschaften der Wortarten beschränkt: zum einen muss die mögliche syntaktische Beziehbarkeit der Lexeme qua Wortarten berücksichtigt werden, also die Frage, welche Möglichkeiten im Rahmen jeder Wortart bestehen, um die kontigen Elemente des Prädikationsgefüges in der Syntax mit kontigen syntaktischen Kategorien anzuschließen. Zum anderen ergeben sich Einschränkungen durch die erwähnten generellen Funktionselemente, die jede Wortart mit sich bringt, wie etwa die referenziellen Spezifikationen, die der obligatorische Artikel jedem Nomen beifügt, oder die temporalen Spezifikationen, die jedem finiten Verb notwendig beigegeben sind. Wenn die obigen Beispiele eine gewisse Freiheit darin zeigen, wie die hierarchische Anordnung der propositionalen Prädikationen in eine hierarchisch-syntaktische Struktur umzusetzen ist (oder besser: wie die propositionale Hierarchie durch eine syntaktische abzubilden ist), so ist diese Freiheit äußerst relativ: die syntaktischen Aufbauregeln sind so eng gefasst, dass eine einmal getroffene Option, d.h. eine einmal ausgewählte syntaktische Kategorie die syntaktisch anschließbaren Kateogrien, und damit auch die syntaktische Realisierung der übrigen anzuschließenden Prädikationen nach rein formalen Kriterien zwingend nach sich zieht. Wenn ich z.B., wie in Variante (a), die interpropositionale Relation der Kausalität/ Konsekutivität mittels des finiten Verbs ausdrücken will, erlaubt dieses den Anschluss der relationierten Propositionen nur in Form von Ausdrücken, die formal nominalen Charakter haben und so in die Argumentstellen des Verbs eintreten können. In (a) sind dies deverbale Nomina; denkbar wären z.B. auch mit einem Komplementierer versehene finite Verben. Will man hingegen, wie in (c) und (d), die beiden Zustandsbeschreibungen mit finiten Verben ausdrücken, so muss der Junktor zwischen beiden Propositionen jeweils mithilfe eines konjunktionellen Ausdrucks (parce que, tellement ... que) realisiert werden. In (b) bedingen sich der Anschluss der Protasis 13 in nominaler Form (instabilité) und der 12 Nicht von Belang für uns ist hier der relationale Charakter von FUNDAMENT , der sich default-mäßig auf den anderen im Satz vorhandenen Referenzterm richtet, wodurch eine Teil-Ganzes-Relation zwischen den beiden Referenztermen inferiert wird. 13 NOTA: hier und im Folgenden wird mit Protasis nicht die jeweils vorangestellte Auftaktklausel des jeweiligen junktionalen Gefüges bezeichnet, sondern die Klausel, die Daniel Jacob 136 Ausdruck des Junktors in Form einer präpositionalen Wendung (à cause de) gegenseitig. Hier wird die eingangs angesprochene Autonomie der Syntax wirksam: die syntaktische Kombinatorik der Wortarten funktioniert nach formalen Bildungsregeln, die nicht unmittelbar abhängig von konkret auszudrückenden Inhalten sind. 14 Auf der anderen Seite ist in einem funktionalistischen Ansatz natürlich unterstellt, dass diese allgmeinen Bildungsregeln so organisiert sind, dass sie eine möglichst „natürliche“ (also strukturell ikonische und auch ökonomische) Darstellung komplexer Sachverhalte ermöglichen, vorausgesetzt, der Produzent eines Satzes hält sich an die „natürlichen“, d.h. prototypischen Zuordnungen und verwendet die Wortarten so, wie es ihre Semantik vorsieht. Dies heißt beispielsweise, den satzverknüpfenden Junktor eben nicht mittels eines finiten Verbs auszudrücken wie in (a), sondern mittels eines konjunktionalen Elementes wie in (c) und (d), und den finiten Verben die Benennung des prädikativen Teils der beiden verknüpften Sachverhalte zu überlassen, wofür sie sich offensichtlich besser eignen als für die Junktion, und wofür sie auch besser geeignet zu sein scheinen als es die Nominalisierungen in Bsp. (a), und der Protasis von (b) sind. Hierin scheint also die größere „Natürlichkeit“ der Lösungen (c) und (d) zu liegen. Nicht geklärt ist allerdings, warum sich Konjunktionen besser für das eine, Verben besser für das andere und Nomina für keines von beidem sehr gut eignen; ebensowenig ist klar, was der Grund dafür sein könnte, von solchen prototypischen Zuordnungen abzuweichen und Sätze wie (a) oder (b) zu produzieren. Zur Beantwortung der letzteren Frage wird häufig auf die höhere Informationsdichte des nominalen Stils (oder einer integrativen Syntax, cf. Raible 2001), wie er in (a) und (b) vorliegt, verwiesen. Tatsächlich ist festzustellen, dass in (a) und (b) formal einfache transitive Sätze vorliegen, in (c) und (d) hingegen hypotaktische Gefüge; dies wird allerdings ohne weiteres aufgewogen durch die komplexen derivationellen Prozesse, die in den Nominalisierungen der Sätze (a) und (b) stecken. Auch die Gesamtzahl der Morpheme - im vorliegenden Fall schwierig zu kalkulieren - jeweils die B EDINGUNG benennt (in den abgeleiteten Relationen also die U RSACHE ), während mit Apodosis die Proposition bezeichnet wird, die F OLGE benennt. 14 Was nicht heißt, dass man den Regeln nicht eine allgemeine funktionale Ratio entnehmen kann: gerade dann, wenn die prototypischen Zuordungen zwischen propositionalem Inhalt und formalen syntaktischen Kategorien gewahrt sind, erweist sich der Aufbau der syntaktischen Struktur als optimal zur Wiedergabe semantisch-propositionaler Strukturen. Was Wortarten miteinander machen 137 ist in allen vier Sätzen überschlagsmäßig fast identisch, das leichte graphische Übergewicht der Sätze (c) und (d) ergibt sich aus der Verwendung des langen Adverbs tellement, das seinerseits allerdings ein Hinweis auf eine größere Explizitheit des Verbalstils ist: der graduelle Charakter der Ursache-Wirkungs-Beziehung bleibt in den Versionen (a) und (b) unausgedrückt und kann dort bestenfalls inferiert werden. Hier ergibt sich also ein weiteres Element zur Erklärung der „Unnatürlichkeit“ des Nominalstils, das aber die Motive für dessen Verwendung noch rätselhafter macht, es sei denn, man betrachtet genau die größere Implizitheit und den größeren Aufwand an Inferenz als das erwünschte Ziel eines Stils, der ja auch an bestimmte diskursive Universen und Bildungsansprüche geknüpft ist. Gerade die größere Abstraktheit des Nominalstils wird häufig als Motiv für dessen Verwendung genannt; allerdings ist zu klären, was dies genau heißen soll, womit wir zur ersten Frage, der der besseren Eignung der verschiedenen Wortarten für verschiedene referenzielle Aufgaben zurückkommen: ein entscheidender Unterschied zwischen Konjunktionen, Verben und Nomina besteht darin, dass Konjunktionen die Relation zwischen zwei Propositionen zwar durchaus semantisch komplex benennen können (man denke z.B. an adversative Konjunktionen wie frz. neanmoins oder dt. wiewohl), dass sie aber allein die Relation benennen und nichts weiter. Finite Verben hingegen tragen temporale und modale Information, während Substantive über den sie begleitenden Artikel ebenfalls Information über den referenziellen Status der bezeichneten Entität (gegebenenfalls auch eines Sachverhaltes) tragen, die aber anders ausfällt, als das, was ein finites Verb leisten kann. 15 Damit aber sind wir zurück bei der oben aufgeworfenen und noch offenen Frage der unterschiedlichen generellen Funktionselemente, die jeder Wortart auf Systemebene beigegeben sind und somit bei der Wahl einer Wortart im Diskurs „mitgekauft“ werden. Wenn man grammatische Strukturen, und damit auch Wortarten, auffasst als Routinen zur Erfüllung bestimmter diskursiver Aufgaben, so ist geradezu erwartbar, dass die Wortarten jeweils bestimmte Funktionen gewissermaßen „fest eingebaut“ haben, so dass diese bei der Verwendung der Wortart kompulsiv erfüllt werden. Am flagrantesten ist dies im Fall des Verbs, das in seiner verb-typischen Verwendung, nämlich als finites Verb, in unseren Sprachen nicht nur syntagmatische Information über das Subjekt (Person, Numerus) mit sich bringt, sondern die Proposition, deren zentrales 15 Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen der verbalen und der nominalen Referenz cf. Rosemeyer (2008), Jacob (i. Dr.), mit weiteren Verweisen. Daniel Jacob 138 Prädikat sie ausdrückt, zeitlich (also in einem sprechaktbezogenen Referenzraum) und oft auch aspektuell (also in einer diskursbezogenen Relevanzhierarchie 16 ) situiert. Vor allem aber drückt das Verb durch seine modale Information den „Wahrheitsanspruch“ bzw. dessen Relativierung oder Ablehnung durch den Sprecher aus. Anders formuliert könnte man sagen, dass die Finitheit des Verbs uns - begrenzt - Information über den referenziellen Status des in der Proposition beschriebenen Sachverhalts in dem aktuell besprochenen Referenzraum gibt. Ähnlich funktioniert die Information, die dem Substantiv durch die Verwendung der verschiedenen Determinanten beigegeben ist: sie spezifiziert ebenfalls, ob, und gegebenenfalls in welchem der diskursiv aufgemachten Referenzbereiche die referierte Entität aufzufinden ist. Der wichtige Unterschied zwischen Verben und Nomina besteht somit zum einen darin, dass die zeitliche Situierung bei den Substantiven entfällt; er besteht aber vor allem auch darin, dass bei Verben der referenzielle Status des referierten Inhalts mitgeteilt wird, während der definite Artikel, der ja „Bekanntheit“ signalisiert, einen Appell an den Rezipienten darstellt, den Referenten (einen Sachverhalt oder andere Entitäten) im referenziellen Universum aufzufinden. 17 In der formalen Semantik bzw. der Logik wird dies als „Existenzpräsupposition“ beschrieben, die den „definiten Deskriptionen“ innewohne. Es sind diese Eigenschaften, die bewirken, dass sich Substantive vor allem zur Referenz auf Individuen, Kollektive oder andere nicht zeitunterworfene, in der Existenz stabile und somit voraussetzbare Entitäten eignen, Verben hingegen vor allem zeitlich dynamische und in der Existenz fragliche Entitäten, d.h. Sachverhalte benennen. So verhält es sich zunächst auch bei der lexikalischen Verteilung der verschiedenen Elemente unserer Proposition auf die Wortarten auf Systemebene: für das zeitlich dynamische, und in seinem referenziellen Status verhandlungsbedürftige (weil als Sachverhalt befürchtete) Prädikat EINSTÜRZ stellt die französische Sprache ein Verb zur Verfügung. Für das 16 Dieser Bestimmung liegt nicht ein Begriff zugrunde, der Aspekt als „internal temporal constitution“ (Comrie 1976) und damit als grammatische Version von Aktionsart auffasst, sondern ein diskursbezogener Aspektbegriff, wie ihn z.B. P. Hopper (1982) (cf. auch Ehrlich 1987) entwickelt. 17 Der indefinite Artikel, der ja „Unbekanntheit“ signalisiert, hat je nach syntagmatischer Einbettung verschiedene referenzielle Lesarten, zu denen neben der Nicht-Existenz („nicht-spezifischer Gebrauch“) auch die Funktion gehört, einen Referenten in den Diskurs einzuführen; darin entspricht er dann der assertiven Funktion eines finiten Verbs. Was Wortarten miteinander machen 139 eher zeitunabhängige und potentiell präsupponierbare Prädikat INSTABIL stellt das Frz. ein Adjektiv zur Verfügung, für die ebenfalls zeitstabilen, präsupponierbaren, materielle Entitäten benennenden Prädikate FUNDA - MENT und GEBÄUDE Substantive. 18 Für die - auf den ersten Blick - rein logische, also zeitunabhängige kausal/ konsekutive Relation gibt es die unveränderbaren, funktionell „nackten“ Konjunktionalausdrücke parce que bzw. tellement que. Diese pragmatisch sinnvolle, prototypische Zuordnung wird in den „natürlicheren“ Versionen (c) und (d) unseres Beispiels auch respektiert: der einzige Derivationsvorgang, der hier vorliegt ist der, das Adjektiv instable mittels einer - finitverbalen - Kopula vom präsupponierenden zum assertierenden Element zu befördern: damit bleibt die Zeitstabilität (in Grenzen) erhalten, während der referenzielle Status (also das Zutreffen oder die „Wahrheit“) des Prädikats zum verhandelten Gegenstand wird. In der Version (d) sind somit durch die finit-verbale Kodierung der Prädikate EINSTÜRZ und INSTABIL beide Propositionen eigenständig assertiert. Hierzu steht die Version (a) in interessantem Gegensatz: hier kodiert das finite Verb provoquer nicht die jungierten Sachverhalte, sondern die junktionale Relation selbst. Worauf richtet sich in diesem Fall die vom Verb transportierte Assertion? Ist es überhaupt möglich, junktionale Relationen wie K AUSALITÄT und K ONSEKUTIVITÄT zu assertieren? Dies scheint nicht unplausibel angesichts möglicher Äußerungen vom Typ Peter ist beliebt, obwohl - oder gerade WEIL - er so chaotisch ist, wo der Junktor sogar fokalisiert ist. Allerdings gibt uns eine Übersetzung des vorliegenden Verbs provoquer ins Deutsche - nämlich „hervorrufen“ - einen weiteren Hinweis: die Bedeutung des Lexems von provoquer erschöpft sich nicht in der Benennung der kausalen bzw. konsekutiven Relation, sondern sie hat auch eine ingressiv-existentielle Komponente: das finite Verb a provoqué in (a) assertiert somit nicht nur die Kausalität bzw. Konsekutivität, sondern auch die „Existenz“, d.h. das Zutreffen des in der Apodosis (die hier als Nomen kodiert ist) genannten Sachverhalts „Einsturz des Gebäudes“. Hingegen wird der in der (ebenfalls nominal kodierten) Protasis genannte Sachverhalt („Instabilität des Gebäudes“) nicht assertiert: wie oben dargelegt, hat das Nomen mit dem definiten Artikel (l’instabilité) die natürliche Funktion, den genannten Referenten zu präsupponieren, was mir in der 18 Dass sich die hier benannten Gegenstände „Gebäude“ und „Fundament“ in dem gewählten Beispiel als zeitlich und existenziell instabil erweisen, ist ein unglücklicher Zufall, der durch die Wahl eines anderen Beispiels zu beheben wäre ... Wichtig für unseren Zusammenhang ist der präsuppositionelle Charakter der Referenz auf die beiden Entitäten. Daniel Jacob 140 Version (a) tatsächlich gegeben zu sein scheint. Anders als in der Version (d), wo die beiden Teilklauseln unabhängig voneinander assertiert sind 19 , sind in (a) somit die Junktion und die Apodosis assertiert, während die Protasis präsupponiert ist. Dieser präsuppositive Charakter der Protasis wird noch verstärkt durch die Position des Nominalausdrucks an Subjektstelle, die ja im Normalfall eine topikalisierende Position darstellt. Genau dieser präsupponierende Charakter könnte ein mögliches Motiv für die Verwendung der Kodierungsvariante (a) sein; ist aber die Protasis erst einmal als satzeinleitendes Nomen kodiert, ergibt sich wie oben gesehen der Rest der Kodierung fast völlig obligatorisch. 20 Die Situation in (d) (explizite Assertion beider Teilklauseln) sollte formal auch für die Version (c) gelten, die ja eine analoge syntaktische Verteilung aufweist (verbale Teilklauseln, konjunktional ausgedrückte Junktion), wenn auch in umgekehrter linearer Anordnung. Schaut man sich jedoch die beiden Versionen einmal mit Blick auf die Frage Assertion/ Präsupposition genauer an, so erscheint als der natürlichste Kontext für (c) eine Situation, wo der Sachverhalt des Einsturzes vorher bereits bekannt, womöglich auch diskursiv thematisiert ist. 21 Hingegen sehe ich für (d) gerade keine Lesart, in der einer beiden Sachverhalte auch nicht der im voranstehenden Hauptsatz kodierte Sachverhalt der Instabilität der Fundamente bereits vorher thematisiert worden wäre. Das heißt: während in (d) die Nennung der Folge assertiert ist, scheint sie in (c) präsupponiert zu sein, und dies obwohl sie durch ein finites Verb ausgedrückt ist und obwohl dieses finite Verb im Hauptsatz steht. Noch paradoxer ist die Situation in (b): auch hier würde man intuitiv sagen, dass die Apodosis präsupponiert ist und die Assertion auf der Protasis liegt. Hier ist also nicht nur die finitverbal kodierte Klausel präsupponiert, sondern zudem die nominal kodierte Klausel assertiert. Unterstützt wird diese Intuition dadurch, dass es kaum möglich erscheint, die Apodosis, trotz ihrer finitverbalen Kodierung und ihrer syntaktischen 19 Die junktionale Relation ist in (d) formal als Adverb kodiert. Mit dem expressiven Adverb tellement, das zusammen mit que den konjunktionalen Ausdruck bildet, erscheint die Relation selbst als das im Satz fokalisierte, d.h. für die Assertion zentrale Element und kann somit auch als assertiert angesehen werden. 20 Es dürfte nicht schwerfallen zu begründen, warum die strukturell mögliche Alternative, nämlich eine Lösung mit nominaler Protasis und verbaler Apodosis (L’instabilité des fondements a provoqué que l’édifice s’écroule/ écroulât/ soit écroulé) eher dispräferiert ist. 21 So scheint es mir auch kaum möglich, den Nebensatz mit einem Komma abzutrennen und den Hauptsatz mit der Betonung eines autonomen Hauptsatzes zu lesen. Was Wortarten miteinander machen 141 „Gravität“, zu fokalisieren: Ausdrucksziel des Satzes (b) ist ganz klar die Benennung der Ursache, nicht die Mitteilung über das Eintreten der Folge. Es erscheint evident, dass dies in erster Linie mit der Voranstellung der Apodosis in den Fällen (b) und (c) zu tun hat: 22 dreht man die Reihenfolge der Teilklauseln um (bei gleicher syntaktischer Verteilung), lässt sich eine assertierende Lesart der Apodosis erzwingen: (b’) A cause de l’instabilité des fondements, l’édifice s’est écroulé (c’) Parce que les fondements étaient tellement instables, l’édifice s’est écroulé Es fällt allerdings auf, dass diese Sätze (b’) und (c’) nicht sehr idiomatisch wirken: so würde man in (b’) als Präpositionalausdruck eher dû à oder suite à erwarten, in (c’) eher puisque (die kanonische Konjunktion zur Einleitung von Kausalsätzen mit „bekanntem“ Inhalt). Es scheint, als hätten die beiden kanonischen Ausdrücke zur Benennung von Kausalität im Französischen, die Konjunktion parce que und die Präposition à cause de, eine starke Affinität zu solchen Kontexten, in denen die Apodosis präsupponiert und die Protasis assertiert ist. Hingegen würde man solche Fälle, in denen die Apodosis assertiert ist, eher als konsekutive Konstellation bezeichnen (wobei die Protasis assertiert oder präsupponiert sein kann). Man könnte diesen Unterschied sogar als den eigentlichen definitorischen Unterschied zwischen K AUSALITÄT und K ONSEKUTIVITÄT ansehen. 23 So gesehen wären es vor allem die kausalen Junktionsausdrücke parce que und à cause de, die in (b) und (c) die Protasis jeweils nicht als assertiert 22 Auch wenn in dem konsekutive Gefüge (d) der vorne stehende Teilsatz (in diesem Fall die Apodosis) durchaus eine assertive Lesart erlaubt. 23 Als logische Grundlage und gemeinsames semantisches Merkmal von K AUSALITÄT und K ONSEKUTIVITÄT kann die logische Relation der K ONDITIONALITÄT angesehen werden; K AUSALITÄT und K ONSEKUTIVITÄT wären dann auffassbar als die Kombination von K ONDITIONALITÄT mit unterschiedlichen Mustern der Assertion bzw. Präsupposition der Teilklauseln. Sprachliche Konditionalität ist die Benennung der reinen konditionalen Regel, was voraussetzt, dass keine der beiden Teilklauseln assertiert noch präsupponiert ist (womit bestenfalls die Relation als solche assertiert ist). Daniel Jacob 142 sondern als präsupponiert erscheinen lassen und damit den möglichen assertierenden Effekt des finiten Verbs überschreiben. 24 Damit kann man die Betrachtung der alternativen syntaktischen Kodierung eines Sachverhalts wie in (a) - (d) zu folgenden Ergebnissen zusammenfassen: - Wortarten als Schnittstelle zwischen Lexikon und Syntax sind zentral bei der kompositionellen Aufgabe der Syntax, mittels komplexer syntaktischer Ausdrücke komplexe propositionale Ausdrücke zu repräsentieren. - Die syntaktische Struktur gehorcht dabei nicht ausschließlich den Anforderungen der semantisch-propositionalen Struktur, sondern auch der autonomen Logik der syntaktischen Kompositionsregeln. Die Wahl einer bestimmten Wortart als Realisierung für ein bestimmtes Element der auszudrückenden propositionalen Struktur zieht fast obligatorisch die übrigen strukturellen Lösungen für den Rest des Satzes nach sich. - Die verschiedenen Lösungen der syntaktischen Kodierung eines komplexen propositionalen Inhaltes unterscheiden sich darin, welche zusätzliche Funktionalität mit bestimmten propositionalen Inhalten verknüpft wird. Dies wurde vor allem am referenziellen Status der Teilpropositionen (Assertion vs. Präsupposition) demonstriert. 24 Dies gilt nicht nur für den geschilderten Zusammenhang, sondern beispielsweise auch für fast alle Fälle von syntaktischer Unterordnung finiter Verben, in denen die assertierende oder assertionseinschränkende Kraft des finiten Verbs in Abhängigkeit von den übergeordneten Elementen (Matrixverb oder Junktor) außer Kraft gesetzt sein kann. Was Wortarten miteinander machen 143 Bibliographie Anderson, John M. 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Dies hängt mit Zweierlei zusammen: zum einen damit, dass das Begriffspaar nicht gut für klar abgegrenzte Distributionstests fassbar ist, zum anderen, dass die Begriffe in keiner der germanischen Sprachen - vor allem dem Englischen als Leitsprache der modernen Linguistik - morphologisch kodiert ist. Dagegen zieht die Romania Aspektpaare zur Unterscheidung heran. Im vorliegenden Aufsatz für Ulrich Wandruszka soll gezeigt werden, welche Bedeutung diesen Kategorien in einer solchen Textlinguistik beizumessen wäre, die von unten nach oben (d.h. aus der und mit klarem Bezug zur Satzgrammatik) zu entwickeln ist und wie andererseits auch frühere Stände des Germanischen (im speziellen Falle Altisländisch und Althochdeutsch) sehr wohl noch über formale Kodierungen für diese Textkategorien verfügten - Kodierungen, die allerdings in den aktuellen Sprachständen aufgegeben worden sind. Im Französischen besteht für die erzählerische Vergangenheit ein Zusammenspiel zwischen Tempora und Aspekten (vgl. etwa Fleischmann 1990: 19). Dabei dienen die Tempora der zeitlichen Bestimmung einer Handlung bzw. eines Geschehens, während Aspekte zur Ausbildung zweier paradigmatischer Tempora führen, die in einer laufenden Erzählung als Paare komplementär eingesetzt werden. Für vergangenes Geschehen werden im Schriftfranzösischen mehrere Tempuspaare mit unterschiedlichen Aspekten eingesetzt: imparfait/ passé simple und (seit Camus‘ L‘étranger) das Paar imparfait/ passé composé. Beide entsprechen unterschiedlichen Wiedergabemöglichkeiten einer Handlung bzw. eines 1 Hinweise eines anonymen Gutachters sowie Eva Mayerthalers seien dankbar vermeldet. Werner Abraham 146 Geschehens, einer schriftlichen und einer mündlichen (vgl. Hewson 1997: 99). Es wird auch zu zeigen sein, in welcher Funktionsdomäne die Entscheidung bei Camus, das konservative, elitäre Schrift-passé simple durch das der aktuellen Mündlichkeit verpflichtete Passé composé des Substandards im Französischen zu ersetzen, diese narrativen Kategorien der VG und HG verloren gingen. Es sollen in diesem Zusammenhang zuerst folgende Fragen gestellt und beantwortet werden: Welche Verbindungen bestehen im Französischen nun genau zwischen dem Zusammenspiel der beiden Vergangenheitstempora imparfait und passé simple und der Gliederung von Vorder- und Hintergrund? Inwieweit liefert Camus‘ Ersetzung des klassischen schriftfranzösischen passé simple durch das passé composé des gesprochenen Französischen tatsächlich eine ähnlich effiziente Erzählgliederung wie die alte schriftfranzösische Aspektopposition? Und als Begleitfrage, weil eben Camus in seiner Wahl des oralen Französisch der Mündlichkeit ebenbürtigen Erzählstatus verlieh: Was versteht man unter (Re)oralisierung? Welche Rolle spielt Camus‘ Reoralisierung in der Gliederung von Vorder- und Hintergrund? Im ersten Teil dieser Arbeit werden die für die Untersuchung zentralen Begriffe definiert. Danach wende ich mich dem narrativen Diskurs und der Rolle von Vorder- und Hintergrundierung zu. In einem dem Germanischen gewidmeten Kapitel wird auf grammatische Kodierungstechniken des Altisländischen und Althochdeutschen hingewiesen, die ganz anders als die im Romanischen aussehen, und es wird zu fragen sein, was an Gemeinsamkeit Aspektoppositionen, der Satzspitzenstellung des Prädikats und bestimmten Diskurspartikeln zukommt derart, dass sie dieselbe narrative Funktion erfüllen. Und letztlich wird die Rolle von (Re)Oralisierung im Zusammenhang mit den Vergangenheitstempora in der Schriftlichkeit beleuchtet. 2 Tempus, Aspekt und Aktionsart im Französischen Bevor die Aufmerksamkeit dem narrativen Diskurs mit der Analyse der Vergangenheitstempora gilt, definiere ich zuerst die zentralen grammatischen Begriffe. Tempus wird lässt sich als ,formal category of the grammar‘ (Fleischman 1990: 18) bezeichnen, was der inneren Abfolge und Ordnung einer Handlung bzw. eines Geschehens auf der Zeitachse dient (Fleischman 1990: 18). Tempora finden sich aus den unterschiedlichen Darstellungen Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 147 des Universe of Time herausgebildet (Hewson 1997: 51); es handelt sich um. ,Zeit[...]verhältnisse zueinander‘ (Abraham 2009: 287). Unter Aspekt dagegen versteht man die Art, wie ein Sprecher ein Geschehen darstellt, vergleichbar einer ,camera lens that can adjust the focus on an object so that it may be viewed from different perspectives‘ (Fleischman 1990: 19). Die Herausbildung der Aspekte ist offenbar den unterschiedlichen Darstellungen der Ereignisorganisation geschuldet. Und im Zusammenhang mit Zeitformen besteht eine wichtige aspektuelle Opposition: Opposition des perfektiven Aspekts zum imperfektiven Aspekt. Die imperfektivperfektiv-Opposition findet sich sowohl in der Komplementarität von Zeitformen wie der von imparfait und passé simple als auch in der Semantik der Verben (Aktionsart). Perfektive Verben zeichnen sich durch eine in der Zeit einmalig und punktuell verlaufende Handlung, eine Perspektive ,from the outside‘ (Fleischman 1990: 19) von dieser Handlung und Endpunkte aus (im Deutschen etwa ablaufen, befreien, frz. démarrer, s´asseoir), während sich imperfektive Verben durch eine Handlung auszeichnen, deren Entwicklung von innen aus verfolgt wird und bei der deshalb der Zeitablauf eine geringere Rolle spielt (dt. singen, laufen, frz. dormir, lire). Wird die imperfektiv-perfektiv-Opposition morphologisch realisiert, sprechen wir von Aspekt, wird sie dagegen lexikalisch realisiert, sprechen wir von Aktionsart. Aktionsart lässt sich mit Vendler in vier Geschehensorganisationen untergliedern: ,states, activities, accomplishments, and achievements‘ bzw. ,Zustände, [...] Handlungen, [...] andauerndes Zielgeschehen, [...] punktuelles Zielgeschehen‘ (Abraham 2009: 288). Vendler unterscheidet also zwischen telischen und atelischen Aktionsarten, das heißt Geschehensabläufen mit Endpunkten oder ohne solche. Zur Opposition von imperfektivem und perfektivem Aspekt lässt sich formal folgender Unterschied in (1) und (2) entwerfen. Die zur Analyse von Situationen verhelfenden Referenzpunkte sind (mit Reichenbach 1947) die Folgenden: S für Sprechaktzeitpunkt, E für Ereigniszeitpunkt und R für Relationszeitpunkt (Abraham 2009: 288f.). Werner Abraham 148 (1) (2) (3) (1) stellt imperfektiven Aspekt (nicht jedoch Tempus - siehe Fußnote 1) dar. Dieser besteht in einem in der Zeit nicht abgegrenzten Ereignis [~~~~~], das aus einem sich mitten in diesem Ereignis befindenden Referenzzeitpunkt R beobachtet wird. (2) und (3) stellen perfektiven Aspekt dar. Dieser besteht in der Beobachtung eines Ereignisses, dessen Emergenz durch einen Resultatzustand abgegrenzt wird und welches aus einer globalen Sicht R beobachtet wird. Der imperfektive Aspekt ist monophasisch, während der perfektive Aspekt biphasisch organisiert ist. 2 Auf zwei wichtige Punkte ist hinzuweisen. Erstens werden Tempus und Aspekte in den romanischen Sprachen zusammen unter einer und derselben morphologischen Form realisiert. Zweitens sind Tempus- 2 Hierzu ist zu beachten, dass die (hier mit Blick auf die narrativen Funktionen vorgenommene) aspektuelle Charakterisierung das E(reignis) in Bezug zum R(eferenzpunkt) setzt. Die temporale Charakterisierung dagegen würde den Bezug zwischen E und den S(prechaktzeitpunkt) herstellen. In der Romanistik gelten PS und Imp in der Regel als Tempora - die nicht wie hier auf ihre aspektuell-narrativern Funktionen abgefragt werden. Vgl. (20)-(21) unten. Der hier verwendete Phasenbegriff erschließt sich alleine aspektuell, nicht jedoch temporal. Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 149 Aspekt-Kategorien vor allem im narrativen Kontext von Bedeutung (Fleischman 1990: 19). Beide Daten führen uns zum nächstem Punkt, nämlich zum narrativen Diskurs und zur Unterscheidung von Vorder- und Hintergrundierung, insofern im Französischen paarige Vergangenheitstempora gebildet werden, in welchen je nach Bedürfnis nach narrativer VG oder HG das eine oder das andere Tempus eingeschaltet wird. Eine ähnliche textliche Organisationskodierung fehlt im Germanischen völlig. Es hat sie aber in früheren Stadien der germanischen Sprachen gegeben - und es wird zu sehen sein, dass dies dem mündlichen Vortrag der überlieferten Dokumente geschuldet war und dass diese Oralitätskodierung der moderneren Schriftlichkeit und dem zivilisatorischen Alphabetismus zum Opfer gefallen ist (Zeman 2010). 3 Narrativer Diskurs und Vorder- und Hintergrundierung 3.1 Vergangenheitstempora im Französischen Im heutigen Französischen existieren laut Gasper fünf Vergangenheitstempora: imparfait, passé simple, passé composé, plus-que-parfait und passé antérieur (Gasper 1961: 76-77). Das imparfait wird in fünf unterschiedlichen Fällen verwendet: 1. bei Gleichzeitigkeit eines vergangenen andauernden oder punktuellen Ereignisses mit einem anderen solchen Ereignis, 2. bei Wiederholung eines Ereignisses in der Vergangenheit, 3. bei Zustandsbeschreibung in der Vergangenheit, 4. bei andauernder vergangener Handlung, 5. bei vergangener Handlung, die eben kurz vor einem Abschluss stand. All diese Fälle können so dargestellt werden, wie folgt. z.B. Il chantait quand il était content. z.B. Il chantait quand sa soeur entra dans la pièce. Werner Abraham 150 Das passé simple wird für eine abgeschlossene in der Zeit abgegrenzte Handlung verwendet. z.B. Le voisin venait le voir tous les jours. z.B. Il était grand et beau. z.B. Il chantait. z.B. Un pas de plus et je tombais. z.B. Il courut pendant une heure. Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 151 Das passé composé wird für abgeschlossene Handlungen verwendet, die nicht lange her sind und in der Gegenwart noch aktuell sein können. Das plus-que-parfait bzw. das passé antérieur drücken die Vorzeitigkeit einer Handlung gegenüber einer anderen im imparfait bzw. passé simple aus, wobei das passé antérieur nur zur gehobenen schriftlichen Sprache gehört. Dies hat zur Folge, dass die Vorzeitigkeit zum passé simple auch im plus-que-parfait stehen kann. z.B. Il a chanté toute la journée. Elle est partie hier. z.B. Il avait fini (a) ses devoirs quand son ami venait (b) le voir. z.B. Quand il eut terminé / avait terminé (a), il partit (b). Werner Abraham 152 3.2 Die Tempora des narrativen Diskurses im Französischen Unter den Vergangenheitstempora werden für uns drei relevant sein: Imparfait/ Imperfekt, Passé simple/ Perfekt und Passé composé/ periphrastisches Perfekt. Präteritum und Imperfekt gelten im Gegensatz zum Perfekt als die üblichsten Vergangenheitstempora des narrativen Diskurses (Fleischman 1990: 24). Fleischman versteht unter Präteritum eine perfektive Vergangenheitsform, die als prototypisches Tempus des narrativen Diskurses gelte. Dieses Tempus sei auch das nicht markierte Tempus des narrativen Diskurses (im Gegensatz zum historischen Präsens) und werde an einem anderen Ereignis mit Blick auf deren VG- und HG-Funktion gespiegelt. Man hat sich in der Fachliteratur auf die Tatsache geeinigt, dass das Präteritum bzw. die perfektive Vergangenheitsform die Vordergrundfunktion eines Textes markiert, während das Imperfekt, welches eine imperfektive Vergangenheitsform definiert, die Texthintergrundfunktion markiert (Fleischman 1990: 24). Außerdem werde das Imperfekt vor allem dazu verwendet, um eine Gewohnheit und eine andauernde Handlung zu beschreiben. Die Vorliebe des Imperfekts für nicht wesentliche Textelemente (,commentary, explanation, and description‘ (Fleischman 1990: 25) liegt darin, dass mit seiner Hilfe eine Situation als unvollständig betrachtet werde, so dass nur ausgewählte Elemente, die nicht zur Weiterführung der Handlung beitragen, beschrieben werden können. Das Perfekt schließlich wird als resultative perfektive Vergangenheitsform definiert, somit als Form für eine vergangene, in der Gegenwart abgeschlossene Handlung und für eine vergangene Handlung mit Folgen in der Gegenwart (Fleischman 1990: 29). Die beiden perfektiven Vergangenheitsformen unterscheiden sich wie folgt (mit den reichenbachschen Zeitreferenzpunkten E(reignis), S(prechaktzeitpunkt) sowie R(eferenzzeitpunkt): (13) [Präteritum] R/ E>S (14) [Perfekt] E>R/ S In unserer Untersuchung dient also das Imparfait als imperfektives Vergangenheitstempus zur Hintergrundierung, das Passé simple als perfektives Vergangenheitstempus dagegen zur Vordergrundierung. Das Passé composé ist ebenfalls ein perfektives Vergangenheitstempus, zählt jedoch nicht zu den klassischen Erzähltempora der Schriftsprache. Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 153 3.3 Vorder- und Hintergrundierung eines Textes In diesem Absatz wird das Konzept von Vorder- und Hintergrund erklärt und in Verbindung mit den Erzähltempora gebracht. In ihrem Werk führt Fleischman die Definition von background (Hintergrund) und foreground (Vordergrund) unter Berufung auf Hopper & Thompson (1980) ein: In any communicative situation, narrative or non-narrative, some parts of what is stated are more relevant or central than others. That part of a discourse that does not immediately contribute to a speaker’s goal, but which merely assists, amplifies, or comments on it, is referred to as BACKGROUND. By contrast, that material which supplies the main points of the discourse is known as FOREGROUND…. The foregrounded portions together comprise the backbone or skeleton of the text, forming its basic structure; the backgrounded clauses put flesh on the skeleton, but are extraneous to its structural coherence. (Fleischman 1990: 168f) Die Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund hat neben anderen Mitteln (Abraham 2007) also als Ziel die Strukturierung eines Textes. Vorder- und Hintergrundierung eines Textes (im narrativen Diskurs) erfolgt im Französischen durch den Tempus-Aspekt-Kontrast. Die Vordergrundfunktion besteht aus einer Reihenfolge von Ereignissen, die die Handlung entscheidend weiterführen. Sie werden kanonisch mit perfektiven Verben des wiederholten und punktuellen Zielgeschehens und dementsprechend mit dem Passé simple markiert. Hintergrundierende Textteile dagegen gelten ereignisbegleitenden Erscheinungen der Erzählung, und sie werden mittels imperfektiver Zustands- und Handlungsverben und im Imparfait wiedergegeben (Fleischman 1990: 169f). Freilich kann auch mittels imperfektiver Verben vordergrundiert werden - vgl. (17) mit fut und demeura. Beispiele dieser Art sind sehr häufig (E. Mayerthaler persönlich). Es folgen zur Illustration ausgewählte Auszüge aus der französischen klassischen Literatur (A la recherche du temps perdu von Proust, Bel-ami von Maupassant und Rhinocéros von Ionesco). Sie finden sich hier kommentiert in der Absicht, die Mechanismen der Strukturierung eines Textes durch die Vorder- und Hintergrundierung erkennbar zu machen. [Abkürzungen: IMP = Imparfait, PS = Passé simple, PC = Passé composé, P-Q-P = Plus-que-parfait, PA = passé antérieur , PR = présent, PRÄT = dt. Präteritum.] Werner Abraham 154 (15a) [Ionesco] ,Nous discutions [IMP] tranquillement de choses et d’autres, à la terrasse d’un café, mon ami Jean et moi, lorsque nous aperçûmes [PS 1 ], sur le trottoir d’en face, énorme, puissant, soufflant bruyamment, fonçant droit devant lui, frôlant les étalages, un rhinocéros. A son passage, les promeneurs s’écartèrent [PS 2 ] vivement pour lui laisser le chemin libre. Une ménagère poussa [PS 3 ] un cri d’effroi, son panier lui échappa [PS 4 ] des mains, le vin d’une bouteille brisée se répandit [PS 5 ] sur le pavé, quelques promeneurs, dont un vieillard, entrèrent [PS 6 ] précipitamment dans les boutiques.’ [Ionesco] ,Wir plauderten [PRÄT] über dies und jenes auf der Terrasse des Cafés, mein Freund Jean und ich, als wir auf dem gegenüberlegenen Trottoir, riesig, mächtig, laut schnaufend, vorwärtsstürmend, die Warenstände umreißend, ein Nashorn erblickten [PRÄT]. Die Passanten stoben [PRÄT] heftig auseinander, um ihm den Weg freizugeben. Eine Frau stieß [PRÄT] einen Angstschrei aus, ihre Hände ließen [PRÄT] die Einkaufstasche fallen, und Wein ergoß sich [PRÄT] aus einer zerschellten Flasche über das Pflaster; einige Spaziergänger, unter ihnen ein Greis, traten [PRÄT] hastig in die Läden.‘ Textauszug (15a) kann als typisches Beispiel für die Verwendung von IMP und PS als textverschichtende (,reliefgebende‘; vgl. Hartmann 1984) Erzähltempora fungieren. Er beginnt mit dem Rahmen, in dem sich die Handlung entwickeln wird. Dieser Rahmen bzw. Hintergrund (‚Kulisse‘, dabei das Bild der Theaterbühne benutzend) wird kodiert mithilfe des das Geschehen auseinanderziehenden (nach (2) oben ,das Hauptgeschehen überflutenden‘) imperfektiven Handlungsverbs discuter ‚plaudern‘, also mittels des IMP. Diese andauernde Handlung wird durch ein punktuelles Zielgeschehen (perfektives Verb) apercevoir ‚erblicken‘ (PS 1 ) im PS unterbrochen, welches sich in einem subordinierenden, durch die Temporalkonjunktion lorsque (‚als‘) eingeleiteten Satz befindet. Zwischen dem Eintritt des Nashorns und der Handlung des perfektiven Verbs s’écarter ‚sich entfernen‘ (PS 2 ) besteht ein Ursache-Folge-Verhältnis; deshalb steht s’écarter im PS. Die weiteren punktuellen Handlungen PS 3-6 gehören zu einer Reihenfolge von Handlungen; deshalb stehen die entsprechenden Verben im PS. Mit Hilfe des PS zur VG-Kodierung kann der Autor den Text mit parataktischen Sätzen weiterführen (in einer Art von Topik- / Themakontinuierung), ohne dass es zu Missverständnissen - d.h. zum Wechsel zum HG - kommen kann. Das PS bildet das Ursache-Folge- Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 155 Verhältnis zwischen den Elementen. Dadurch wird auch ein Beschleunigungseffekt in der Handlungsführung herbeigeführt, der ja für sich alleine bereits die nötige Opposition zum HG und deren Kodierung herstellt und sichert. Siehe den graphischen Übersichtsversuch in (15b). (15b) [Die Pfeile weisen auf das Ursache-Folge-Verhältnis zwischen zwei Ereignissen hin.] (16) [Proust] ,Il était [IMP] bien différent de ce que je l’avais connu [P-Q- P].’ Werner Abraham 156 In Auszug (16) handelt es sich um einen Kommentar, in dessen Hauptsatz das Kopulaverb im IMP konjungiert wurde. (17) [Maupassant] ,Lorsqu’il fut [PS] sur le trottoir, il demeura [PS] un instant immobile, se demandant ce qu’il allait [IMP] faire. On était [IMP] au 28 juin, il lui restait [IMP] juste en poche trois francs quarante pour finir le mois. Cela représentait [IMP] deux dîners sans déjeuners, ou deux déjeuners sans dîners, au choix.’ [Maupassant] ,Als er auf der Straße war [PRÄT], stand [PRÄT] er einen Augenblick still und fragte sich [PRÄT], was er nun tun sollte [PRÄT]. Es war [PRÄT] der 28. Juni, und er hatte [PRÄT] gerade noch drei Francs vierzig in der Tasche bis zum Ersten. Das hieß [PRÄT] so viel wie zwei Mittagessen ohne Frühstück oder zwei Frühstück ohne Mittagessen, je nachdem.‘ Im Maupassantauszug (17) wird zuerst die Handlung vorgeführt die plötzlich durch die Überlegungen der Figur gestoppt erscheint. Die Handlung wird durch zwei aufeinander folgende Ereignisse im PS dargestellt. Die Überlegungen finden sich in der freien indirekten Rede wiedergegeben: D.h. die Verben werden im IMP kodiert. Durch den Wechsel zwischen PS und IMP gehen wir vom VG mit der Handlung zum HG über, in welchem die Figuren wie in einer Parenthese (= formal typische HG-Setzung) ihren Gedanken freien Lauf lassen. (18) [Maupassant] ,Quand Georges Duroy parvint [PS] au boulevard, il s’arrêta [PS] encore, indécis sur ce qu’il allait [IMP 1 ] faire. Il avait [IMP 2 ] envie maintenant de gagner les Champs-Élysées et l’avenue du bois de Boulogne […]. La poche vide et le sang bouillant, il s’allumait [IMP 3 ] au contact des rôdeuses qui murmurent [PR] à l’angle des rues […].’ [Maupassant] ,Als Georges Duroy auf den Boulevard kam [PRÄT], blieb [PRÄT] er abermals stehen, unschlüssig, was er anfangen sollte [PRÄT]. Er hatte [PRÄT] jetzt eigentlich Lust, die Champs-Élysées und die Avenue du Bois de Boulogne entlangzubummeln [...]. Mit leerer Tasche und mit kochendem Blut erregte [PRÄT] er sich an der Berührung mit den Strichmädchen, die an den Straßenecken herumlungerten [PRÄT] und flüsterten [PRÄT] [...].‘ Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 157 Auszug (18) beginnt wie (17) mit zwei aufeinander folgenden Ereignissen im PS: den perfektiven Verben des punktuellen Zielgeschehens parvenir und s’arrêter. Darauf folgen drei Verben im IMP mit drei unterschiedlichen Funktionen: allait (IMP 1 ) wird im narrativen Diskurs als Hilfsverb gebraucht, um das sogenannte futur du passé (‚Zukunft der Vergangenheit‘) zu bilden: ,aller im IMP + Verb im Infinitiv‘. Avait [envie] (IMP 2 ) ist ein imperfektives Verbgefüge und trägt nicht direkt zum Fortgang der gesamten Handlung bei, deshalb steht es im IMP. Kurz nach diesen zwei Geschehenskodierungen erscheint eine neue Handlung nicht im PS, wie man erwarten würde, sondern im IMP. s’allumer ist der Aktionsart nach wohl ein perfektives Verb, welches im narrativen Diskurs normalerweise im PS stehen sollte, sofern es eine neue Handlung bzw. eine Reaktion auf ein anderes Ereignis kodieren sollte: ein Imparfait de narration (Fleischman 1990: 28). Das Imparfait de narration kann als Verstoß oder Abweichung von der Regel gelten, da ja regelhaft Imparfait und Passé simple zur Kodierung von HG bzw. VG verwendet werden. Im Fall von (IMP 3 ) gehört diese punktuelle Handlung zum Vordergrund, wird aber im IMP geschrieben, so dass s’allumait hochmarkiert erscheint. Der punktuelle Aspekt von s’allumer wird also sozusagen gedehnt und mit einem offenen Ende versehen; es ist fast, als ob das Verb plötzlich teilbar wäre, und der Leser fragt sich in der Folge: Was folgt jetzt aus dieser hohen Erregung? 3 In den Auszügen (15), (17) und (18) wurde die deutsche Übersetzung des jeweiligen Texts hinzugefügt. Aus dem Vergleich zwischen beiden Fassungen können wir schließen, dass es im Deutschen keine kanonischen VG- und HG-Kodierungen gibt. PS und IMP werden ja beide mit dem Präteritum wiedergegeben. Das Deutsche kennt allerdings Aktionsarten, die dem Sprecher entsprechende Kodierungen erlauben sollten (siehe auch Abraham 2009: 296f). Die Ergebnisse aus 3.1, 3.2 und 3.3 werden im nächsten Absatz zusammengefasst und erweitert. 3.4 Zusammenfassung Wie gesehen sind die ,normalen‘ Erzähltempora im Französischen das Imparfait und das Passé simple. Im Tempussystem stehen noch das Plusque-parfait und das Passé antérieur zum Ausdruck der Vorzeitigkeit zur Verfügung. Imparfait und Passé simple bilden ein komplementäres Paar, für welche die morphologische Opposition von imperfektivem und per- 3 Hinweis von E. Mayerthaler. Werner Abraham 158 fektivem Aspekt steht. Beide Erzähltempora tragen aktiv zur Vorder- und Hintergrundierung des Textes bei. Nochmals zusammengefasst: Die Funktionen des imparfait: • IMP markiert den Erzählhintergrund. • IMP ist das imperfektive Erzähltempus. • IMP drückt die Gleichzeitigkeit eines vergangenen andauernden oder punktuellen Ereignisses zu einem anderen aus. • IMP weist auf die Wiederholung bzw. Iterativität eines Ereignisses in der Vergangenheit hin. • IMP wird für die Wiedergabe von Zuständen und Beschreibungen, Kommentare und Erklärungen in der Vergangenheit verwendet. • IMP wird für andauernde atelische Handlungen eingesetzt. • IMP kodiert vergangene Handlungen, die sich eben fast abgeschlossen hätten. • Mit dem IMP wird eine Situation von innen aus betrachtet (siehe auch Hewson 1997: 100). • IMP kann im Fall des imparfait de narration den Vordergrund hochmarkieren und das hat als Ergebnis ,a blurred flurry of movement‘ (Hewson 1997: 105). • Die Wirkung des narrativen Imperfekts wird von traditionellen Romanisten oft als Wechsel von der Außenzur Innenperspektive beschrieben, wodurch der Leser praktisch als Teilnehmer in die Handlung hineingezogen wird; dadurch wird ein Spannungseffekt (suspense) erzeugt: ,wie geht’s jetzt weiter? ‘ welche dem PS genau entgegengesetzt ist. Dieser Effekt entsteht offenbar genau durch die ,hochmarkierte‘ Kodierung (IMP für VG; imparfait de narration). 4 Die Funktionen des passé simple: • PS markiert den Erzählvordergrund. • PS ist das perfektive Erzähltempus. • PS wird für punktuelle, abgeschlossene und telische Handlungen eingesetzt. • PS bildet Ursache-Folge-Verhältnisse zwischen mehreren Ereignissen. • Mit dem PS werden Situationen von außen aus und objektiv betrachtet (zur Objektivität des PS siehe Fleischman 1990: 31). 4 Hinweis von E. Mayerthaler. Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 159 • PS ist der französische Aorist (siehe Caudal/ Vetters 2007: 143). • Die PS-Funktion ,objektiv‘ beinhaltet auch ,deiktisch‘, dies im Gegensatz zum Passé Composé (Hinweis von E. Mayerthaler). In 3.1. und 3.2. wurde kurz das zusammengesetzte Passé composé behandelt. Dieses Vergangenheitstempus verdient seinen eigenen Fokus. 4 (Re)Oralisierung und Erzähltempora Dieser Abschnitt sei mit einem Textauszug begonnen, in dem die kanonischen erzählaoristischen Setzungen durch das periphrastische Passé composé ersetzt sind. (19) [Camus] ,J’ai pris l’autobus à deux heures. Il faisait très chaud. J’ai mangé au restaurant, chez Céleste, comme d’habitude. Ils avaient tous beaucoup de peine pour moi et Céleste m’a dit: ‘On n’a qu’une mère.’ Quand je suis parti, ils m’ont accompagné à la porte. J’étais un peu étourdi parce qu’il a fallu que je monte chez Emmanuel pour lui emprunter une cravate noire et un brassard. Il a perdu son oncle, il y a quelques mois.’ Wie haben wir diesen Kodierungswechsel bei Camus vor dem Hintergrund der klassischen französischen Literaturschreibung (nach Proust, Maupassant, Ionesco) zu sehen? 4.1 Oralisierung und Reoralisierung Erzählungen jedweden Genres fanden in der frühesten Menschheitsgeschichte wohl in mündlicher Form statt: in der allgemeinsten Form vorgetragen durch Berufserzähler. Für die spätere Überlieferung fand nach Fleischman (1990: 85ff) historisch-sekundäre Oralisierung in der mittelalterlichen Literatur statt. Mündliche Konzeption ist die Konzeption von mündlicher Dichtung, auch oral poetry genannt (Wilpert 2001: 576). Diese wird als ,kulturelle[s] Phänomen der schriftlosen Sprachkunst (als Vorstufe literarischer Erzählkunst) zwischen Altertum und europäischem Mittelalter‘ (Brockhaus 1988: 657) definiert, vor allem in Form von Epen und Erzählliedern (Wilpert 2001: 576). Oralisierung betraf die Form der Syntax, den Rhythmus, die Satzmelodie, die Semantik und auch natürlich die Tempora. Nach Sutherland (1939) und Blanc (1964) war im narrativen Werner Abraham 160 Diskurs das Präsens bis ins 13. Jahrhundert vorherrschend. Zwischen 1100 und 1400 wurden imparfaiI und Passé simple, so Blanc, immer präsenter, während Présent und Passé composé zurückgedrängt wurden. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass oralisierte Erzählungen bis 1400 beherrschend waren. Nach Fleischman war dies die Periode mündlicher Konzeption in den schriftlichen Werken mit dem Präsens und dem periphrastischen Passé. Erst danach haben sich die Erzähltempora IMP und PS durchgesetzt. Eine Reoralisierung, eine sekundäre Oralisierung in der romanischen Literaturgeschichte fand im Nouveau réalisme mit Camus’ L’Étranger (1942) statt (Couty 2004: 647). Die Spuren der mündlichen Konzeption, die in den mittelalterlichen Epen sowie in den nouveaux romans (des 20. Jahrhunderts) zu finden sind, ähneln sich sehr. Hauptmerkmal dieser Spuren ist folgendes: ,to move the language of fiction in the direction of ordinary conversation’ (Fleischman 1990: 306). Diesen Wechsel vollzog Camus ganz bewusst gegen die elitäre Literatursprache der klassischen Überlieferung. 4.2 Das Phänomen der Reoralisierung in Camus’ L’Étranger Es ist jetzt adäquat, den Textauszug (19) wieder aufzugreifen und die entsprechende deutsche Übersetzung hinzuzufügen. [PERF für das deutsche Perfekt; SUBJ für subjonctif] (19) [Camus] ,J’ai pris [PC] l’autobus à deux heures. Il faisait [IMP] très chaud. J’ai mangé [PC] au restaurant, chez Céleste, comme d’habitude. Ils avaient [IMP] tous beaucoup de peine pour moi et Céleste m’a dit [PC]: ‘On n’a [PR] qu’une mère.’ Quand je suis parti [PC], ils m’ont accompagné [PC] à la porte. J’étais [IMP] un peu étourdi parce qu’il a fallu [PC] que je monte [PR SUBJ] chez Emmanuel pour lui emprunter une cravate noire et un brassard. Il a perdu [PC] son oncle, il y a [PR] quelques mois.’ [Camus] ,Ich habe den Bus um zwei genommen [PERF]. Es war [PRÄT] sehr heiß. Ich habe im Restaurant von Céleste gegessen [PERF], wie gewöhnlich. Sie hatten [PRÄT] alle viel Mitgefühl mit mir, und Céleste hat gesagt [PERF]: ‚Man hat [PR] nur eine Mutter.‘ Als ich gegangen bin [PERF], haben sie mich zu Tür begleitet [PERF]. Ich war [PRÄT] etwas abgelenkt, weil ich noch zu Emmanuel hinauf mußte [PRÄT], um mir einen schwarzen Schlips und ei- Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 161 ne Trauerbinde von ihm zu borgen. Er hat vor ein paar Monaten seinen Onkel verloren [PERF].‘ In der Originalfassung fällt sofort auf, dass die Erzähltempora nicht die gleichen sind wie in Maupassants Text. In Camus’ Text werden nicht Imparfait und Passé simple in funktionalem Wechsel miteinander kombiniert, sondern Imparfait und Passé composé. Bei der modernen deutschen Übersetzung fällt die Verwendung des analytischen Perfekts auf, sofern wir die Übersetzungen der früher behandelten Auszüge vergleichen. Die diachrone Entwicklung beider Erzähltempora war nach Caudal/ Vetters folgende: Während der Klassik war das Passé composé halb semantisch resultativ, halb perfektiv resultativ und wurde nur selten durch Zeitadverbiale unterstützt (Caudal/ Vetters 2007: 132). Erst ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erweiterten sich die Verwendungsmöglichkeiten des Passé composé: Das Passé composé wurde immer häufiger mit den Temporaladverbialen kompatibel (Caudal/ Vetters 2007: 133f). Auch heute ist, so Caudal/ Vetters, der Wandel des Passé composé von einem resultativen Tempus zum Aorist noch nicht beendet, da noch Merkmale eines resultativen Tempus vorliegen. Dafür gibt es folgende Nachweise: • sa capacité à générer des discours où les relations de causalité sont inversées […], y compris dans des narrations, ce dont le PS est incapable […] • sa facilité d’apparition dans des discours au présent, là où le PS ne se rencontre qu’avec des usages très marqués […] • […] une compatibilité très différentes [sic] de ces deux temps avec un grand nombre de phénomènes relevant peu ou prou du domaine de la force illocutoire et de l’intéraction inter-personnelle […] (Caudal/ Vetters 2007: 134f) Das Passé composé steht also in enger Verbindung zur Erzählgegenwart des Dialogs, die das Passé simple unmöglich erfüllen kann. Fleischman nennt das Passé composé sogar ,tense of an eyewitness narrator‘ (Fleischman 1990: 31), überlässt ihm somit die funktionale Kennzeichnung des ,discourse of a speaker-observer‘ (Fleischman 1990: 31). Die Beobachtungen von Caudal/ Vetters und von Fleischman spiegeln sich in (20)-(21) (Abraham 2009: 292). [S für Sprechzeit, r für Referenzzeitpunkt und ev für event/ Ereignis] Werner Abraham 162 (20) [passé composé] ev<r(,S) (21) [passé simple] ev,r<S Unter Bezug auf (19) lassen sich nun Funktion und praktischer Erzählzweck des Passé composé besser einschätzen. Wie gesehen ist das Passé composé eine ,Zwischenform‘ zwischen Resultativ und Aorist, kann aber nicht beide Funktionen vollständig absättigen. In (19) ersetzt das Passé composé zwar das Passé simple, aber es kann die erzählerischen Übergänge der parataktischen Erzählabfolge nicht übernehmen, so wie das PS es getan hat. Für diesen letzteren Zweck bietet das Passé composé kaum jene narrativen Kompensationsmöglichkeiten, die dem PS eignen. Allerdings vermögen Junktoren, Konjunktionen und Zeitadverbiale bei fehlendem PS, also bei PC Vordergegen Hintergrundiertes zu kodieren. Tatsächlich ist in Corpora gesprochener Sprache die Tokenfrequenz von alors und puis höher als normal (Hinweis von E. Mayerthaler). Im verwendeten Auszug wird gleich im ersten Satz der Kompatibilitätsversuch des PC über Temporaladverbiale (à deux heures) bestätigt. Der Effekt, der durch die Verwendung von Imparfait gegenüber Passé composé als Erzähltempora erzielt wird, ist der Eindruck eines Kohärenz- und Textkohäsionsdefizits. Dieser Effekt spiegelt die Gestalt dieser neuen, dem Diskurscharakter nahen Gattung und dieser neurealistischen Bewegung ,Récit plat, amorphe, dépouillé de tous effets autres que ceux qui peuvent gommer l’effet.‘ (Couty 2004: 646). Wir wenden uns nun kurz VG-HG-Gliedrungen in anderen Sprachen bzw. deren diachronen Sprachständen zu und prüfen, in welcher Kodierung sie auftauchen. 5 Zum Begriff der Vorder- und Hintergrundierung unter anderer Kodierung 5.1 Gestaltpsychologie und seine sprachliche Realisierung VG und HG sind feste gestaltpsychologische Begriffe. Ihre sprachliche Realität ist dem Diskurskategorienpaar <Thema> und <Rhema> verwandt; sie unterscheiden sich insofern, als TH/ RH auf Satzebene, VG/ HG dagegen auf Textebene anzusetzen sind. Jedwede sprachliche Realisierung ist offenbar über die vereinenden mereologischen Merkmale [±homogen, ±additiv, ±divisiv] hinsichtlich der Ereignispunkte erklärbar. TH/ HG haben danach im Einklang mit (1) oben die Merkmale Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 163 [+homogen, +additiv, +divisiv], RH/ VG zusammen mit (2) oben die entgegengesetzten, nämlich [-homogen, -additiv, -divisiv] (vgl. Leiss 2000, Abraham 2009). Die wesentliche Aspektopposition der (Im)Perfektivität sowie der referentiellen (In)Definitheit sind über dieselben Eigenschaftsbündel charakterisierbar. Hinterhölzl (2005) verwendet zwar bei seiner Diskussion althochdeutscher Textgliederung die Begriffe VG und HG nicht. Er stellt aber bestimmte Wortstellungen wie Prädikatssatzspitzenstellung (= V1) im Satz als kohärenzfördernde Diskursrelationen dar: V1 treibe den Diskurs auf dessen Hauptniveau und lenke den Fokus von der Nebenerzähllinie auf den Hauptdiskurs. In der hier verwendeten Terminologie sind dies genau die textgliedernden Begriffe ,Vorder- und Hintergrundierung‘. Wir haben oben gesehen, wie das Französische kanonisch VG gegen HG morphologisch kennzeichnet. Im Althochdeutschen dagegen finden sich andere Kodierungen: V1 sowie die Verwendung bestimmter Diskurspartikel. Zu V1 (= VG) vgl. man (22). (22) uuas aum siocher / lazarus fon bethaniu ‚Es war einmal ein kranker Mann, Lazarus von Bethanien.‘ (Tatian 228, 27 f.; nach Hinterhölzl et al. 2009: 151) Die V1-Fügung in (22) gleicht einer thetischen Satzstruktur, in der neuhochdeutsch ein expletives es an der Satzspitze steht und in der ausschließlich rhematisches Material in den Text eingeführt wird. Dagegen ist die Funktion des V2-Deklarativs gemünzt auf bekannte Situationen oder Diskursreferenten (HG) - eine subordinierende Diskursrelation: etwa nähere Beschreibung des Diskurses durch Einzelheiten und Erklärungen. Man vgl. den zweiten Satz in (23), der mit einer Themabzw. Subjektellipse beginnt: tuot sina sela … . (23) ih bin guot hirti. guot hirti/ tuot sina sela furi siniu scaph. ‚Ich bin ein guter Hirte. (Der gute Hirte) gibt seine Seele für seine Schafe.‘ (Tatian 225, 16-17; zitiert bei Hinterhölzl/ Petrova 2009: 2) (24) uuas In tagun herodes thes cuninges/ […] sumer biscof […]/ Inti quena Imo […]/ siu uuarun rehtiu beida for a gote ‚Es gab zu Zeiten des Königs Herodes […] einen gewissen Priester […] und seine Frau […] sie beide waren rechtsschaffend vor Gott.‘ (Tatian 26, 3; nach Hinterhölzl/ Petrova 2009: 2) Werner Abraham 164 Dazu lässt sich mit dem zweiten Satz in (24), siu uuarun rehtiu …, ein treffliches Minimalpaarelement setzen. V2 bei dient im Gegensatz zu V1 zur Einführung von Diskursreferenten, um eine Aussage über die soeben eingeführten Diskursreferenten zu treffen - soz. eine Erzählnebenlinie zu führen, die selbst den Geschehensablauf nicht fördert, sondern soz. im Geschehenslauf verharrt. Andere Mittel zur VG-Kodierung eines Satzes sind bestimmte Diskurspartikel wie ahd. tho - wohl in Entsprechung von nhd. da(nn), womit auf einer Textmetaebene jeweils neue Information (=VG) ankündigt wird (vgl. Axel 2005). 5.2. Versteckte Definitheits- und Perfektivitätseffekte für VG und HG: zwei verschiedene Ausdrucksmittel für ein und dieselbe Textgestaltungsfunktion Das Altisländische zeigt die folgenden zwei Satzbeginnmuster: V1 wie in (27) sowie Diskurspartikel wie in (25)-(26) (nach Leiss 2000, die auf Marez 1976 zurückgreift; vgl. auch Abraham 2011). (25) þa verþr hann varr viþ griþungenn … . da wird.Präs er gewahr Präp Stier.def griþungr snýr í mote … der Stier wendet.Präs Präp Zusammenstoß griþungr stakk horn onom í síþo der Stier stieß die Hörner in die Seite hestenom … konungs men drópo griþungenn des Pferdes … des Königs Männer töteten den Stier ,Da wird er des Stiers gewahr … der Stier wendet sich gegen ihn … der Stier stieß seine Hörner in des Hengsts Leib … des Königs Mannen töteten ihn.‘ (26) Nú liðr sumar, ok kemr vetr nun vergeht.Präs Sommer, und kommt Winter ok er snimma nauðamikill norðr um viðrbúningr lítill; und ist früh heftig nordens am Berg, aber Vorbereitung böse; fellr m nnum þungt. Ferr svá fram um jól; fällt Mannen schwer. Geht so weiter bis Jul; Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 165 ok er þorri kemr, þá ekr harð at m nnum, und als Monat kommt ergeht hart Präp Mannen, ok eru margir þá upp tefldir. und waren viele da am Ende. ,Der Sommer vergeht, und der Winter bricht herein, und es ist schwer früh im Norden am Berg, die Vorbereitungen zeigten sich als ungenügend; die Mannen werden hart getroffen. Das geht so weiter bis nach Jul, und als der 4. Monat beginnt, sind die Mannen hart getroffen, und viele von ihnen finden den Tod.‘ (27) Liðr stund ok kemr gói; Geht Weile und kommt.Präs Gói; Þá koma tveir landwetar hans ok […] da treffen zwei der Landpächter ein und […] ,Es geht eine Weile vorbei, und der letzte Wintermonat bricht an; da treffen zwei der Landpächter ein und …‘ Halten wir zuerst die 2 Typen von Satzanfängen fest: In (25)-(26) stehen nú und þa vor dem finiten Prädikat, während (27) mit dem finiten Verb, liðr, beginnt. Setzen wir nach dem Muster des Neuhochdeutschen: Reines DV1 wie in (27) stellt einen kurzen (nämlich TP-) Satz 5 dar; temporales nú sowie lokales þa in (25) und (26) sind nicht deutlich expletiv und damit ebenso wenig eindeutig thetisch, eventuell metakoordinativ reihend und temporal bzw. lokal referierend - sie setzen also entweder Vorfeldfüllung mittels SpezCP 6 oder mittels SpezTP (= Vorfeldbesetzung mit expletivem Es) voraus. Ferner nehmen wir von Leiss zur Kenntnis, dass genau dieses pradikatsfrühe Satzmuster vordergrundiert - also für den Leser/ Hörer stark aufmerksamkeitsheischend ist (etwa im Sinne des altgriechischen bzw. altkirchenslawischen Aorists). Fassen wir die formalen Eigenschaften der altisländischen Beispiele unter dem Kriterium der Vordergrundkodierung wie in Abschnitt 4 zusammen. Das Altisländische folgt zwei Strategien zur Auslösung von kohärenter Reihung bzw. Vordergrundierung: einer durch pronominale Anaphorik und Subjektvoranstellung wie in (25)-(26) und einer zweiten 5 Vergleichbar thetischem Satz, d.h. Hauptsatz ohne Vorfeldbesetzung bzw. mit Besezung durch expletives Es. 6 Hauptsatz mit volllexikalischer Vorfeldbesetzung Werner Abraham 166 durch Verbsatzspitzenstellung, deklarativem V1, illustriert in (27). Satzfrühes DP ist referentiell definit über Positionsmarkierung: griþungr im 2. Satz in (25) ohne sichtbaren Definitheitsmarker - das Definitheitssuffix enn/ -inn (wie im Satz davor griþungenn in satzfinaler, nämlich Rhemastellung) erübrigt sich satzinitial, weil diese Position - die unmarkierte Themaposition - die unmarkierte Definitheitsposition darstellt. (25)-(27) zeigen, dass das Altisländische eine diskursprominente Sprache ist, indem den linearen Positionen unmarkiert im Satz thematische Definitheit bzw. rhematisches Indefinitheit zukommt. Wenn nominale Elemente diese positionellen Definitheitsdomänen wechseln, sind sie wie im Deutschen (Abraham 1995/ 2 2000) durch kontrastiven Fokus markiert. (27) zeigt, dass aspektdefinites V1 einhergehen kann mit extra markiertem historischem Präsens. Dessen Zeitreferenz ist deutlich die erzählerische Vergangenheit, unterstützt durch Lexeme der Zeitspanne wie stund und gói. Das historische Präsens in (27) wechselt mit dem Erzählpräteritum ab. Wäre das Altisländische eine Aspektsprache, würde man hier den perfektiven Aorist oder ein Passé simple wie in den modernen romanischen Sprachen erwarten. 5.3 Der vereinende empirische Nachweis für verbal kodierte Deixis = VG/ HG. Der Zusammenhang zwischen den VG-HG-Kodierungen durch (Im)Perfektivität, (In)Definitheit bzw. Deixis und Wortstellung (V1 gegen V2) lässt sich wie folgt feststellen. V1 in altisländischen Sagas und im Ahd.: früher Verlust der morphologisch kodierten Aspektoppositionen - alle Verben in V1 werden perfektiviert (Leiss 2000) aus folgenden Gründen: (28) a V1 als Position definiert, die Verben, die formal nicht mehr aspektuell markiert und inhaltlich aspektuell ambig sind, perfektiviert. b mögliche Erklärung für typische Verwendungsweisen und Funktionen von V1, da perfektive Verben ähnliche Eigenschaften aufweisen wie V1. c Altisländisch und Althochdeutsch gehörten zu den germanischen Sprachen, bei denen weitgehender Abbau der perfektivierenden Verbpräfixe erfolgte (Leiss 2002). d Ersetzung der Perfektivierungsfunktion nach schwindenden Verbalpräfixen und -partikeln durch ikonisierende Wortstellung, um Aspektrealisierung zu erhalten: Dies führt zu deklarativem Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 167 V1/ DV1. Man beachte, dass diese Voraussetzungen für das Nhd. nicht vorliegen; d.h. dass orales DV1 nicht denselben Erklärungen folgen kann. Überschneidungen von DV1 und perfektiven Verben - Textgliederung und -kohärenz: (29) a perfektive Verben (vgl. das Passé simple des Französischen) drücken eine abgeschlossene Handlung aus, Aktualisierung der Grenzen derselben und Entstehung von Konturen der Handlung; b perfektive Verben kodieren Vordergrundierung der Verbalhandlung. Durch Abgeschlossenheit einer Handlung ist implizit Anreihung einer neuen Handlung möglich: (30) a Voraussetzung der Serialisierung mehrerer Handlungen b Beschleunigung der Abfolge der Ereignisse bzw. Handlungen Man vgl. zur Übersicht nochmals die perfektivierenden - aber nicht anaphorisch-definiten, sondern origo-deiktischen - Illustrationen zu DV1 in (31)-(33) unten. Man beachte die (unterstrichenen) perfektiven Übersetzungen in den DV1-Stellungen: brachte statt des imperfektiven fuhr, brachte statt hatte sowie erwies sich statt war. (31) Hennar fekk Úlfr; for hann þá ok til búa sinna ,Ulfr heiratete sie und führte/ brachte sie auf seine Farm’. (32) Hafði órólfr heim margu dýrgripi ok [… ] , órólfr brachte dann viel Geschmeide nachhause und…’ (33) Var órólfr manna vænstr ok gørviligastr; , órólfr erwies sich als imposanter und fähiger Mann’ Es würde der grammatischen und narrativ-vordergrundierenden Funktion des altisländischen DV1 nicht gerecht, in die deutschen Entsprechungen die sich plausibel anbietenden imperfektiven Verben einzusetzen. Werner Abraham 168 6 Schluss Mit dieser Arbeit ließ sich eine Verbindung zwischen den Erzähltempora Imparfait/ Passé simple und Imparfait/ Passé composé und der Vorder- und Hintergrundierung eines Textes durch die Konzeption des imperfektiven und perfektiven Aspekts herstellen. Die Verweise aufs Althochdeutsche und Altisländische haben gezeigt, dass auch andere Kodierungsmittel dazu einsetzbar sind, wofür aber allemal vereinnahmende Charakterisierungen auf mereologischer Basis herstellbar sind. Was Mündlichkeit bzw. Reoralisierung angeht, hat dieses Phänomen an der Gliederung von Vorder- und Hintergrund kaum etwas geändert. Passé simple und Passé composé sind jedoch in dieser textgliedernden Funktion nicht gleich zu setzen. Das Passé composé hat keine aoristische Erzählfunktion; sie tendiert bestenfalls dazu, vor allem in der Mündlichkeit. Wir können aus unseren Untersuchungen schließen, dass durch die Reoralisierung (durch Camus) sowohl Gewinn als auch Verlust zu melden sind: Dass Sprechsprache und mündliche Konzeption die Schriftsprache bereichern, mag von vielen als Vorteil erfahren werden. Dass es aber aus diesem Grund zu Kohärenzdefiziten in der Textgliederung kommt, ist zweifellos ein Verlust. Aspektopposition, V1, Definitheit sowie Partikelsetzung zur Gliederung 169 Bibliographische Nachweise Abraham, Werner 2007. Discourse binding: DP and pronouns in German, Dutch, and English. In: E. Stark, E. Leiss & W. Abraham (eds.) 2007. Nominal determination. Typology, context constraints, and historical emergence, 21-48. [Studies in Language Complementary Series 89]. Amsterdam: J. Benjamins. Abraham, Werner 2009. Tempus- und Aspektkodierung als Textverketter: Vordergrund und Hintergrund. Deutsche Sprache 36, 287-304. Abraham, Werner 2011 (eingereicht). Fremdbewusstseinsabgleich in Syntax und Semantik. Ms. München. Axel, Katrin 2009: The verb-second-property in Old High German. In: Hinterhölzl & Petrova (hg.), 17-44. Camus, Albert 1962.Théâtre, récits, nouvelles. Hg. Roger Quilliot. Paris: Gallimard. Camus, Albert 1994. Der Fremde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Caudal, Patrick & Carl Vetters 2007. Passé composé et passé simple: Sémantique diachronique et formelle. 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Thomas Krefeld Mi sbattissi a testa mura mura - Sizilianische Reduplikationsadverbiale 1 1 Paradigmatische Reduplikation Die Wiederholung (oder: Reduplikation) ein und derselben Einheit ist eine elementare semiotische Technik zur Kodierung komplexerer Information; sie steht allerdings in menschlicher Kommunikation in Konkurrenz zur perzeptiv offensichtlich prägnanteren Kombination unterschiedlicher Elemente: In den Sprachen dominiert daher, insbesondere auf der ,zweiten’, der phonologischen Gliederungsebene die Tendenz zur Maximierung des Kontrastes, wie vor allem die universal präferierte Silbenstruktur mit ihrer Abfolge von maximal verschiedenen Obstruenten und Vokalen zeigt. Aber auch auf der ,ersten’, aus bedeutungshaltigen Zeichen zusammengesetzten Gliederungsebene spielt die Wiederholung nur eine ganz marginale Rolle; dies gilt jedenfalls im Blick auf die europäischen Sprachen im Allgemeinen und hier auf die romanischen Sprachen im Besonderen. Abgesehen von mehr oder weniger fixierten Phraseologismen der mündlichen Alltagsrhetorik (vgl. dt. ja, ja; so, so; gut, gut; oh Gott, oh Gott usw.) dient Reduplikation im Sinne des konstruktionellen Ikonismus (vgl. Mayerthaler 1980) noch am ehesten der Kodierung elementarer ikonischer Relationen, etwa zum Ausdruck der Steigerung (it. pian piano) oder ganz verschiedener semantischer Modifikationen (vgl. it. un caffè caffè, per favore ,einen wirklich guten Kaffee, bitte’). Weithin übereinzelsprachlich verbreitet ist die Reduplikation als Wortbildungsverfahren in charakteristischen Ausdrücken der Kindersprache (vgl. Papa, Mama) und im affektiven Sprechen von Erwachsenen, z.B. bei der Bildung von Kosenamen aus Abkürzungen (dt. Lilli, ital. Totò, Ninni, Fefè usw.). Das Verfahren wird also in erster Linie diskursiv oder aber paradigmatisch genutzt, so dass die Wiederholung als solche keinen kategorialen Wechsel mit sich bringt: Ein redupliziertes Nomen in Objektfunktion bleibt Objekt, ein redupliziertes Adverb bleibt Adverb usw. 1 Für Beispiele und Hinweise danke ich: Sebastiana Amenta, Ornella Fendt und Alessandra Puglisi. Thomas Krefeld 172 2 Syntaktische Reduplikation Offenkundig syntaktisch funktionierende Reduplikationen sind dagegen im italienischen und romanischen Kontext selten und verdienen besonderes linguistisches Interesse. 2 Damit sind Fälle gemeint, in denen ein Ausdruck durch seine Wiederholung eine andere syntaktische Funktion erhält, so wie im folgenden sizilianischen Beispiel die Verbform curri 3 : fa na cosa curri curri (SicFloridia 4 ) ,fa una cosa di corsa’. Bemerkenswert ist jedoch vor allem die postverbale Reduplikation eines Substantivs, wie sie durch das sizilianische Beispiel im Titel dieses Beitrags emplarisch belegt wird: Mi sbattissi a testa mura 5 mura (SicEnna 6 ) ,sbatterei la testa da un muro all'altro’. Mit dieser Formulierung wird Verzweiflung ausgedrückt; sie bedeutet etwa soviel wie: ,Ich werde wahnsinnig’. Grundsätzlich finden sich zwar einzelne strukturelle Entsprechungen im Alttoskanischen und überall in Süditalien. 7 Alfonso Leone weist jedoch in seinem kurzen Profilo di sintassi siciliana nachdrücklich darauf hin, die Konstruktion sei „in Sicilia largamente attestata, al punto da farmi pensare ad una sua origine siciliana” (1995, 32 f.). Ihre Produktivität schlägt sich im übrigen auch in der Ver- 2 Problematisch ist dagegen die Definition der Reduplikation als genuin paradigmatisches Verfahren: „Definition: a reduplicative construction is a set of at least two linguistic forms F and F' in a paradigmatic, i.e. non-suppletive morphological relation in which F' contains a segment or a sequence of segments, which is derived from a nonrecursive repetition of (a part of) F. Reduplication exists if a specific grammatical form makes systematic use of reduplicative constructions.” (http: / / reduplication.unigraz.at/ ) 3 Diese Form ist morphologisch nicht eindeutig, da sie den Imperativ sowie die 2. und die 3. Person Präsens Singular von curriri ,correre’ kodiert. 4 SicFloridia steht für den sizilianischen Dialekt von Floridia bei Syrakus; die genaue Dialektzuweisung soll hier und bei den folgenden Beispielen die Herkunft der Quelle angeben; sie schließt jedoch keineswegs eine weite, wenn nicht pansizilianische Verbreitung aus. Beispiel (1) wurde für den Dialekt von Enna ausdrücklich nicht bestätigt. 5 Es handelt sich um die Pluralform von muru ,Mauer’. 6 ,SicEnna’ steht für den sizilianischen Dialekt von Enna. 7 Zur Verbreitung sagt Rohlfs: „Quanto più si procede verso mezzogiorno, tanto più frequente si fa quest’uso” ( Rohlfs 1968 § 411, 90); er weist aber im Blick auf die nicht sehr zahlreichen toskanischen Beispiele wie andammo terra terra da Livorno a Viareggio, navigammo riva riva usw. auf Folgendes hin: „E’ interessante notare che le espressioni citate sono circoscritte al concetto di costa” (§ 411, 90). Sizilianische Reduplikationsadverbiale 173 wendung im Regionalitalienischen Siziliens nieder. 8 Auf der Grundlage mehrerer Beispiele skizziert Leone weiterhin das folgende Profil: l’iterazione del nome sostantivo si lega solitamente a una sfumatura semantica di continuità sia nel tempo («Si ni vinni acqua acqua», ossia persistendo la pioggia) sia nello spazio («Caminari muru muru», sempre rasente il muro, senza mai scostarsene). (Alfonso Leone 1995, 32) Allerdings sagt diese Charakterisierung nichts über die Syntax und lässt die Semantik im vagen Bereich einer sfumatura. 2.1 Markierung kategorialen Wechsels Auch sonst wird die syntaktische Sonderstellung dieser Form der Reduplikation in der dialektologischen Literatur kaum thematisiert; Gerhard Rohlfs etwa diskutiert das Phänomen im Morphologie-Band seiner Grammatica storica und auch dort eigentlich nur vom semantischen Standpunkt aus. Die hervorstechendste Besonderheit besteht jedoch gerade darin, dass ein redupliziertes Nomen sozusagen automatisch, d.h. durch die Reduplikation selbst den Status eines Adverbials erhält, und keinesfalls eine Argumentstelle des Verbs besetzt (wie ein einfaches Nomen). Im bereits genannten Beispiel von Alfonso Leone si ni vinni acqua acqua kann das Nomen unmöglich als Subjekt interpretiert werden; es handelt sich vielmehr um ein modales Adverbial, das sowohl ? ? ? temporal, als gleichzeitig, oder konzessiv verstanden wird: ,er/ sie kam während/ trotz des Regens’. Auch andere Agumente, wie z.B. das lokale Komplement von arrivare können nicht redupliziert werden, so dass Ausdrücke wie *a navi arrivò portu portu ,la nave arrivò al porto’ ausgeschlossen sind. In diesem Sinn wird die Konstruktion, um die es hier geht, als ,Reduplikationsadverbial’ bezeichnet. In der Reihenfolge der Satzglieder ist seine unmarkierte Position, wie es scheint, unmittelbar hinter dem Verb und vor eventuell weiteren Adverbien: camina casa casa tuttu siddiatu (SicFloridia) ,va in giro per la casa tutto arrabbiato’. 8 Leone (1992, 32 f.) nennt camminare riva riva ,immer am Ufer entlang gehen’ und per dirla terra terra ,um es offen zu sagen’ (oder: ,auf gut deutsch’). Thomas Krefeld 174 Eine vom Verb durch andere Adverbien getrennte Stellung scheint nach Auskunft einer Informantin nicht ausgeschlossen, sie ist jedoch stark markiert und rückt das näher beim Verb positioniert Adverb in den Fokus: Camina tuttu siddiatu casa casa. Im Falle transitiver Verben wird das Reduplikationsadverbial genau wie andere Adverbiale hinter das direkte Objekt gesetzt: Maria sta circannu i chiavi casa casa (sicFloridia) ,Maria sta cercando le chiavi per la casa’. Wohl selten, aber nicht ausgeschlossen ist die Topikalisierung des Reduplikationsadverbials wie in: Casa casa Maria i sta circannu i chiavi. In kategorialgrammatischer Perspektive 9 lässt sich die syntaktische Funktion so beschreiben, dass ein Grundausdruck, nämlich ein Nomen, zu einem Funktor, nämlich einem Attribut (genauer: einem Verbalattribut) wird; in entsprechender Notation wäre S/ NP/ / S/ NP gemäß Wandruszka 1997 (30, 78) bzw. (S/ NP)/ (S/ NP) gemäß Wandruszka 2007 (39 ff.) zu schreiben. Im Unterschied zur funktional äquivalenten Präpositionalphrase (vinni sutta all'acqua/ sutta l'acqua) oder zu den mit -mente gebildeten Adverben haben Reduplikationsadverbiale wie acqua acqua in (3) also keinen Kopf, sondern der kategoriale Wechsel wird durch das einfachst mögliche rein syntaktische Verfahren markiert die schlichte Wiederholung des Ausdrucks. Diese Option ist auch im Blick auf die kognitive Fundierung der Syntax von grossem Interesse, denn es zeigt sich in exemplarischer Weise, wie schon durch die absolut basale syntagmatische Kumulation, die Verdopplung, etwas Drittes und kategorial Komplexeres entsteht, nämlich eine syntaktische Funktion, hier: eine ,nach oben’, d.h. auf ein Regens orientierte Leerstelle: Das „kategorial abgeschlossene“ Nomen (Wandruszka, 1997, 30) wird allein durch seine Wiederholung „aktiv strukturbildend“ (Wandruszka 1997, 29): In diesem Sinn kann man menschliche Sprache als selbstkonstruierend oder autokonstruktiv bezeichnen; alle Wörter und Wortformen sind integrierende Bestandteile von Sätzen. (Wandruszka 1997, 319) 9 Die Grundlagen der formalen und gleichzeitig oberflächennahen Kategorialgrammtik müssen hier nicht wiederholt werden; vgl. allgemein Wandruszka 1997 und 2007; zu den elementaren Kategorien vgl. Wandruszka 1997, 30 f. und 2007, 44 f. Sizilianische Reduplikationsadverbiale 175 In kategorialgrammatischer Darstellung ergibt sich nun für die Reduplikationsadverbiale, die Wandruszka nicht erwähnt, etwa das folgende Schema: Abbildung 1: Beispiel (7) in kategorialgrammatischem Schema Durch die syntaktische Reduplikation werden die syntaktischen Möglichkeiten des reduplizierten Nomen radikal eingeschränkt; insbesondere sind alle Formen der Determination und Attribution des reduplizierten Nomens blockiert; 10 Nomina in Reduplikationsadverbialen sind daher grundsätzlich indefinit und nicht referenziell. (Hier geben sich auffällige Parallelen zur ebenfalls nicht ganz seltenen Reduplikation des Verbs, auf die wir am Schluss noch zurückkommen.) 2.2 Markierung des semantischen Hintergrunds einer Verbalhandlung Wo die Reduplikationsadverbiale (wenn auch nicht unter diesem Namen) in der Literatur besprochen werden, steht die Semantik im Vordergrund. Gerhard Rohlfs identifiziert in seiner bereits erwähnten Darstellung zwei Gruppen; die erste mit einer spezifischeren Bedeutung entwickelt er aus alttoskanischen Beispielen (vgl. Anm. 3): navigammo riva riva, andate costa costa a quel monte, navigando marina marina giunsero a Napoli, andammo terra terra da Livorno a Viareggio, e così piaggia piaggia arrivammo a Livorno. Come gli esempi mostrano, non si tratta qui d’un accre- 10 Auch Formen anderer Inputkategorien können durch Reduplikation blockiert und dadurch in andere Funktionen übertragen werden; so die 3. Person Präsens Singular von parrari ,parlare’, die im folgenden Beispiel, so zu sagen in entaktualisierter Form, zum Prädikativum wird: è unu tuttu parra parra (SicFloridia) ,è un tipo che parla sempre, un chiacchierone’. Thomas Krefeld 176 scimento dei concetti riva, costa, piaggia, terra bensì dell’espressione di una continuità, di un’uniformità che si prolunga nel tempo : ,sempre presso alla costa’. In questo senso possiamo parlare di una sorta d’intensificazione. (Rohlfs, 1968, § 411, 89 f.) Aus der zweiten Gruppe, die im Wesentlichen solche süditalienischen, dominant sizilianischen Belege umfasst, die unseren Beispielen (1), (2), (3), (6) und (7) entsprechen, leitet Rohlfs eine allgemeinere Grundbedeutung der Konstruktion ab: Il raddoppiamento del sostantivo racchiude invece più o meno il concetto di accrescimento, intensificazione, estensione, pluralità, similmente a fresco fresco. (Rohlfs, 1968, § 411, 91) Einerseits greift diese semantische Einordnung ebenso wie die im ersten Abschnitt erwähnte Charakterisierung von Leone auf prozessbezogene und insofern verbaffine Begriffe zurück (,continuità’, ,accrescimento’); andererseits orientiert sie sich offensichtlich an den anderen Reduplikationstypen des Italienischen wie cammina cammina oder pian piano, die tendentiell in der Tat eine Tendenz zum Elativ bzw. zur Intensivierung erkennen lassen; diese Auffassung ist jedoch zu eng und kann der grundsätzlichen semantischen Unterspezifizierheit 11 der Konstruktion nicht gerecht werden. Beide Aspekte, sowohl der Prozessbezug wie die Parallelisierung mit anderen Typen der Reduplikation hängen wohl damit zusammen, dass die adverbiale Funktion der Konstruktion sozusagen geahnt, aber nicht explizit herausgearbeitet wird, denn von einem Adverbialmarker würde semantische Schärfe gar nicht erwartet. Die erste Feststellung lautet also: Es handelt sich nicht um eine sehr beschränkte Gruppe analoger Phraseologismen, sondern um ein syntaktisch funktionales Verfahren. Allerdings sind Reduplikationsadverbiale keineswegs ganz frei verfügbar, da sich durchaus bestimmte semantische Bedingungen abzeichnen. Die Bedeutung der reduplizierten Substantive ist räumlich, dinglich und nicht temporal: cantari / fari vusci (,gridare’) 11 Vgl. Christian Lehmann : „Eine sprachliche Einheit ist (auf einer abstrakten Repräsentationsebene) unterspezifiziert genau dann, wenn es Merkmale gibt, für die sie nicht spezifiziert ist, obwohl jegliches Vorkommen dieser Einheit in Sätzen tatsächlich für diese Merkmale spezifiziert ist.” (http: / / www.christianlehmann.eu/ termini/ Unterspezifikation.html) Sizilianische Reduplikationsadverbiale 177 akzeptabel: nicht akzeptabel: giardinu giardinu *sira sira (u)ortu (u)ortu *ura ura casa casa *notti notti cucina cucina *minutu minutu stanza stanza (Sg.) *mumentu mumentu stanzi stanzi (Pl.) *jurnu jurnu catuiu catuiu (SicEnna) (,cantina’) *simana simana campagna campagna *misi misi turrinu turrinu (SicFloridia) (,terreno’) *annu annu chiazza chiazza (,piazza‘) *stasciuni stasciuni strati strati (,strade’) ecc. paisi paisi spiaggia spiaggia ecc. Anders, nämlich als redupliziertes Adverb und nicht als redupliziertes Nomen zu beurteilen ist: Arrivò/ partì ora ora. Wenn die Reduplikationsadverbiale im Sinne von zeitlicher Dauer (,continuità’) verstanden werden, handelt es eher um die Übertragung einer semantischen Eigenschaft des jeweiligen Verbs; so im Fall von Verben der Verfügung aiu avutu manu manu finu a ora e ora un la truvu cchiù! (SicEnna) und nicht zielgerichteten Bewegungsverben bzw. Verben, die eine durative Position oder Bewegung implizieren: essiri/ iucari pidi pidi (SicEnna) bzw. p(i)eri p(i)eri, ,giocare / essere in giro’ u jattu camina tetta tetta (SicFloridia) ,il gatto cammina da un tetto all'altro/ tra i tetti’; circari casciola casciola (SicFloridia) bzw. circari casciuna casciuna (SicEnna) ,cercare nei cassetti’ oder circari gnuni gnuni (SicFloridia) ,in ogni angolo’. Allerdings ist die Dauer zweifellos sekundär, denn auch Verben mit punktueller Aktionsart, wie perdere, incontrare, cadere, nascere, morire u.a. schließen Reduplikationsadverbiale keineswegs aus; auch dazu einige Beispiele: u ’ncuntravo pidi pidi (SicEnna) ,l'ho incontrato in giro‘; Thomas Krefeld 178 i chiavi t’hanu cadutu campi campi (SicEnna) ,le chiavi ti saranno cadute sui campi’; u picciriddu nascì strata strata (SicEnna) ,il bambino è nato per strada (perché non hanno fatto in tempo ad arrivare in ospedale)’. Ähnliches wie für die Dauer gilt für die Iterativität, die mit Reduplikationsadverbialen oft verknüpft ist; sie ist der Konstruktion ebenfalls nicht inhärent, sondern wird durch die jeweilige Verbsemantik induziert, wie etwa in: stricari na cosa mussu mussu (Leone 1995, 33) ,sfregare sul muso’, ,jemandem etwas aufdrängen’. Weiterhin zeigt bereits die kleine Liste reduplizierbarer Substantive unter (9), dass auch die Pluralität der Bezugsgegenstände und ihrer Bezeichnungen keineswegs eine notwendige semantische Bedingung für die Reduplikation ist; vielmehr können singularische und pluralische Verwendungen desselben Nomens je nach ihrer Bedeutung differenziert verwandt werden (circari stanza stanza, d.h. in einem Zimmer vs. stanzi stanzi, d.h. in mehreren Zimmern). Analog zur Iterativität kann die Pluralität aber auch in der Verbbedeutung mehr oder weniger klar angelegt sein, wie etwa beim Konzept des Sammelns. Dazu gehören folgende Beispiele: i lapuna si ni vannu ciuri ciuri (SicFloridia) ,le api vanno di fiore in fiore’; va circannu i limiuna macchi macchi (SicFloridia) ,cerca i limoni da una pianta all'altra’; sta cugghiennu alivi cuoccia 12 cuoccia (SicFloridia) ,sta raccogliendo le olive una ad una’. Eine angemessene semantische Analyse der hier beschriebenen Technik muss über die Betrachtung des lexikalischen Inputs hinausgehen und den entstehenden Gesamtausdruck, den ”Nachbereich” mit Wandruszka (2007, 35) zu sprechen, berücksichtigen. Für dessen Verständis ist es wichtig, daran zu erinnern, dass reduplizierte Nomina grundsätzlich indefinit und nicht referenziell sind. Die Verbalhandlung wird also durch das Adverbial in keinem Fall explizit auf spezifische Referenten bezogen; daraus ergibt sich auf ganz selbstverständliche Weise die starke Affinität der 12 Es handelt sich um den Plural von cócciu ,chicco, seme, nocciolo tondeggiante e sodo’ (vgl. Varvaro 1986, 248 ff.). Sizilianische Reduplikationsadverbiale 179 Nomina zum unspezifischen Plural, der für eine beliebige Menge von Referenten steht. Zusammenfassend lassen sich Sätze mit einem nominalen Reduplikationsadverbial sehr gut als Gestaltphänomen beschreiben, nämlich als Profilierung einer Verbalhandlung, sozusagen als Figur vor einem Hintergrund, wobei zur Verbalhandlung das Verb und seine Argumente (einschließlich des Subjekts) zu rechnen sind. Die Reduplikation, die ja wie gezeigt wurde gerade nicht die Argumente erfassen kann, erscheint dagegen im Sizilianischen als spezifisches syntaktisches Mittel zur Versprachlichung des situativen und vorzugsweise räumlichen Hintergrunds. 3 Die semantisch analoge, aber paradigmatische Reduplikation des Verbs: comu u risci risci, sempre kissu è. Die Existenz von zwei Formen paradigmatischer Reduplikation, also von Wiederholungen ohne kategorialen Wechsel, liefert weitere gute Argumente dafür, in der Markierung des semantischen Hintergrunds die zentrale Funktion der Reduplikation im Sizilianischen zu sehen. Der erste Fall betrifft das Gerundium, das im Sizilianischen sowohl einfach (22) als auch redupliziert (23) gebraucht wird: parrannu cu n’amica mia e vinutu a sapiri ca... (SicFloridia) ,parlando con una mia amica sono venuto a sapere che....’; parrannu parrannu m'arricurdai ca... (SicFloridia) ,beim Sprechen habe ich mich erinnert, dass…’. Zwischen beiden Verwendungsweisen besteht jedoch insofern ein charakteristischer semantischer Unterschied, als die beiden Verbalhandlungen in (22) im Sinne einer Handlungskette logisch aufeinander bezogen sind: Das spezifische Gespräch mit der Freundin ist notwendige Bedingung für die Information. Im Fall von (23) steht das Sprechen, genauer: irgendeine nicht weiter spezifizierte Sprechtätigkeit für die okkasionellen Begleitumstände der (plötzlichen) Erinnerung. Gerade diese Konstellation wird von den Sprechern als basilektal und charakteristisch für das Sizilianische wahrgenommen; wird die Reduplikation hingegen durch ein einfaches Gerundium substituiert, wie in parrannu m'arricurdai ca..., Thomas Krefeld 180 stellt sich nach Auskunft einer Informantin der Eindruck einer italienisierenden Konstruktion ein. Die Reduplikation des Typs (23) schließt natürlich eine längere Dauer im Sinne der von Rohlfs genannten ,intensificazione’ und ,estensione’ der versprachlichten Handlung keineswegs aus, aber es handelt sich offenkundig um ein sekundäres Merkmal. Lexikalisiert ist die zeitliche Bedeutung in: jennu jennu mi ni fici na ragiuni (SicFloridia) ,mit der Zeit (lit. ital. andando andando) wurde mir klar’, denn die Grundbedeutung ,gehend’ wird hier nicht mehr verstanden. Beachtung verdient jedoch vor allem die Reduplikation des finiten Verbs in adverbialen Nebensätzen, wie in den folgenden Beispielen: Comu u risci risci, sempre kissu è (SicFloridia) ,wie du es auch sagst, es ist, wie es ist’; unni vai vai basta ca u fai (SicFloridia) ,wohin du auch gehst, du musst es nur tun’; comu a vuoti vuoti, sempri tuortu jai (SicFloridia) ,wie du es auch wenden magst, du hast in jedem Fall Unrecht’. Diese Konstruktion ist in Verbindung mit fare auch dem Italienischen geläufig: Come lo fai fai, il pesce è sempre troppo buono ,wie auch immer du ihn zubereitest, Fisch ist sehr gut‘. Aber im Sizilianischen ist sie frei verfügbar und nicht auf bestimmte Personen, Tempora oder Modi eingeschränkt, wie folgenden Beispiele in der dritten Person des passato remoto (29) und in der ersten Person des Konjunktivs der Vergangenheit (Potentialis [30]) zeigen: insomma, comu fici fici si spusò (SicFloridia) ,also, wie er es auch angestellt hat, er hat geheiratet’; comu u facissi facissi nun fussitu cuntentu o stissu (SicFloridia) ,wie auch immer ich es machen würde, du wärest auf keinen Fall zufrieden’. So wie die Reduplikation im Fall der Nomina die Definitheit und konkrete Referenz ausschließt, können die reduplizierten Verben nicht auf konkrete Ausführungen bestimmter Handlungen bezogen werden. Sie stehen vielmehr für alle möglichen Ausführungsarten und kodieren dadurch die Unbedingtheit des im Hauptsatz formulierten Sachverhalts (si spusò; tuortu jai), bzw. der dort formulierten Illokution (basta ca…). Durch ihre Sizilianische Reduplikationsadverbiale 181 explizite Beliebigkeit (,wo auch immer’, ,wie auch immer’ usw.) liefern sie so zu sagen einen virtuellen und gewissermaßen leeren Hintergrund, von dem die im Hauptsatz formulierte Figur in absolutem Kontrast abgesetzt wird. Thomas Krefeld 182 Bibliographie Leone, Alfonso (1995): Profilo di sintassi siciliana, Palermo: Centro di studi filologici e linguistici siciliani. Willi Mayerthaler (1980): ,Ikonismus in der Morphologie‘. In: Posner, Roland u.a. (Hrsg.), Ikonismus in den natürlichen Sprachen (Zeitschrift für Semiotik 2; 1/ 2), Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 19-37. Rohlfs, Gerhard (1968). Grammatica storica della lingu italiana e dei suoi dialetti. Morfologia, Turin: Einaudi. Varvaro, Alberto (1986). Vocabolario etimologico siciliano, vol. I (A-L), Palermo: Centro di studi filologici e linguistici siciliani. Wandruszka, Ulrich (1997): Syntax und Morphosyntax. Eine kategorialgrammatische Darstellung anhand romanischer und deutscher Fakten, Tübingen: Narr. Wandruszka, Ulrich (2007): Grammatik. Form - Funktion - Darstellung, Tübingen: Narr. URL: http: / / www.christianlehmann.eu/ termini/ Unterspezifikation.html (18.2.2011; 9: 40h) http: / / reduplication.uni-graz.at/ Elisabeth Stark L’expression de la réciprocité dans trois langues romanes 1 Introduction: L’expression de la réciprocité Pour comprendre la genèse de la variation dite ,macro-linguistique’ dans l’expression d’un concept comme celui de la réciprocité, il est utile voire des fois indispensable de retracer l’histoire des différents moyens morphologiques ou syntaxiques impliqués dans cette expression. Les changements linguistiques proprement dits, ceux qui concernent la structure grammaticale d’une langue spécifique, sont corrélés les uns avec les autres et donc en relation systématique et observable avec d’autres changements ou propriétés de la langue en question, et ces corrélations peuvent indiquer ou faire comprendre les motivations structurales, c’est-àdire internes, des changements linguistiques en question (cf. Roberts 2007 pour l’interaction de différents paramètres à la base de différents processus de grammaticalisation). Après une brève introduction au concept de la réciprocité et à son marquage linguistique, nous allons décrire les constructions réciproques en français, italien et espagnol standard modernes dans le chapitre 2, pour esquisser finalement les résultats (chapitre 3) et implications (chapitre 4) d’une petite recherche de corpus diachronique. 1.1 La réciprocité - concept et structures Il est indispensable d’introduire la distinction terminologique suivante: il faut distinguer entre une situation réciproque en tant que concept extralinguistique et son marquage par différents marqueurs de la réciprocité ou par différentes constructions réciproques en tant que structures linguistiques à analyser. Une situation réciproque consiste en une situation, relation et/ ou interaction symétrique entre deux ou plusieurs participants (il y a donc pluralité obligatoire d’au moins un argument verbal, voir plus bas), qui se trouvent dans une relation de „role reversal”, c’est-à-dire une relation d’inversion de rôles, simultanée ou séquentielle (cf. Kemmer 1993: 96 s.; Dalrymple et al. 1998; Frajzyngier 2000). Les marqueurs de réciprocité ou les constructions réciproques sont tous les moyens linguistiques ((morpho-) syntaxiques) qui encodent explicitement la relation symétrique entre au L’expression de la réciprocité dans trois langues romanes 184 moins deux participants, appartenant au même ensemble. Les constructions réciproques sont souvent des constructions à verbe transitif (bivalent), et leur sujet ou complément d’objet direct dénotent au moins deux participants qui se trouvent dans une situation symétrique et appartiennent au même ensemble. Ils possèdent à tour de rôle deux rôles sémantiques différents (p. ex. agent - patient, expérient - source etc.), comme dans l’exemple suivant: (1) Ils se sont rencontrés à la gare. Les constructions réciproques ont une forte affinité sémantique et/ ou structurelle à d’autres constructions, avant tout aux constructions réfléchies, avec lesquelles elles partagent le phénomène d’identité référentielle totale ou partielle entre le référent du sujet et celui du complément d’objet. Il existe cependant une différence sémantique importante entre ces deux types de constructions: tandis que les constructions réfléchies codent une action unidirectionnelle dont l’origine et la cible sont référentiellement identiques (cf. (2)), les constructions réciproques codent une relation symétrique entre deux participants différents appartenant au même ensemble de référents avec inversion de rôles (cf. (3)): (2) Les professeurs s’admirent. A A (3) Les professeurs s’admirent (mutuellement). A B En comparaison avec la structure sémantique des situations transitives prototypiques, il y a réduction du nombre des participants dans les situations réciproques (n-1 participants). A l’intérieur de l’ensemble des situations réciproques, il faut distinguer de plus, selon Kemmer 1993, entre des situations réciproques marquées explicitement (ce qu’on appellera dans ce qui suit réciprocité marquée, RM), qui comprennent souvent des actions orientées typiquement vers les autres (codés par des „other-oriented verbs”), et des situations réciproques naturelles (réciprocité inhérente, RI): (4) Luke and John watch the child. - Luc et Jean regardent l’enfant. (5) Luke and John watch each other. - Luc et Jean se regardent (l’unl’autre): RM (6) Luke and John meet (*each other). - Luc et Jean se rencontrent (*l’un l’autre): RI L’exemple (4) présente une action (faiblement) transitive, avec trois participants, deux expérients codés dans le sujet coordonné, et une source de la perception dans le complément d’objet direct. (5) présente une situation réciproque, du type de réciprocité marquée (explicitement), parce que le sujet coordonnée se réfère à deux participants qui sont à la fois les expé- Elisabeth Stark 185 rients et la source de la perception visuelle, une action normalement orientée vers une source extérieure au référent du sujet. (6) verbalise finalement une situation réciproque naturelle ou inhérente (et non marquée du tout, du moins en anglais) non analysable en deux actions coordonnées ou autre et qui implique nécessairement du moins deux participants également concernés par l’action dénotée par le verbe (cf. Wandruszka 1973: 5 et 28) - on ne peut rencontrer quelqu’un sans être rencontré par celui-ci et vice versa. Cette différence sémantique entre RI et RM, qui a aussi des répercussions morphosyntaxiques (voir en bas), est grosso modo comparable à la distinction très fine et bien argumentée que fait Ulrich Wandruszka (1973) entre les prédicats symétriques propremet dits (d’état ou d’action) et l’usage réciproque de verbes transitifs comme (s)’éviter etc. Nous ne pourrons pourtant par la suite offrir une analyse sémanticosyntaxique pareillement détaillée des différentes constructions dans nos exemples, et nous nous concentrerons par conséquent surtout et seulement à la morphosyntaxe et l’histoire des marqueurs réciproques. 1.2 Les marqueurs réciproques Leur fonction est claire: ils marquent de façon explicite les relations symétriques entre au moins deux participants appartenant au même ensemble. On peut les classifier selon deux critères fondamentaux: leur morphosyntaxe et leur signification. Il s’agit souvent d’expressions nominales (cf. Frajzyngier 2000), de noms, pronoms (clitiques) et/ ou de quantificateurs spécialisés, fréquemment dérivant d’une composition de ,un’ + ,autre’ (p. ex. en angl. each other). Ils peuvent avoir une signification unique avec variation contextuelle ou relever d’une polysémie, étant des marqueurs primairement associatifs, réfléchis, interactifs, comme se dans la version française de l’exemple (6). Toutes les langues du monde ont des prédicats simples symétriques (cf. Wandruszka 1973) comme angl. meet, fr. ressembler, all. Freund, gleich etc., qui ne nécessitent que peu ou pas de marquage explicite à l’aide de marqueurs réciproques spécialisés („predicational reciprocal constructions”). La majorité des langues possède aussi des marqueurs réciproques spécialisés, comme des adverbes signifiant MU- TUELLEMENT, et / ou des marqueurs réfléchis, collectifs etc. (cf. Frajzyngier 2000: „argumental reciprocal constructions”), qui peuvent servir à désambiguïser des constructions autrement ambigues (cf. Wandruszka 1973: 12s.). L’expression de la réciprocité dans trois langues romanes 186 Les langues du monde diffèrent finalement dans le nombre (minimal) des marqueurs explicites de réciprocité qu’elles possèdent: ce sont soit un (cf. angl.: each other) soit deux (cf. les langues romanes: SE + el uno…el otro 1 ). 1.3 Questions Le chemin de grammaticalisation pour les marqueurs de réciprocité est, semble-t-il, toujours plus ou moins le même dans les langues du monde (cf. Heine 2000): d’un nom lexical naît un marqueur emphatique et/ ou réfléchi, ensuite un marqueur réciproque, qui peut après aussi servir de marqueur de moyen et de marqueur de passif. Et pourtant, nous verrons dans le chapitre 2 qu’il existe des différences morphosyntaxiques considérables même à l’intérieur d’une famille de langues comme les langues romanes, d’où les deux questions suivantes: • Quel est le comportement morphosyntaxique précis des constructions réciproques en français, italien et espagnol (standard) quant à l’inventaire, la morphologie et la distribution des marqueurs réciproques? • Est-ce que nous pouvons trouver des explications basées sur des corrélations observables dans l’histoire des langues romanes respectives pour les différences interlinguistiques observables? 2 Les constructions réciproques en français, italien et espagnol modernes (langues standard) Les langues romanes sont considérées comme des langues ,à deux formes’ (”two-form languages”, cf. Kemmer 1993: 77) dans leurs systèmes de marquage de la réciprocité. Comme le latin, ils marquent la réciprocité par un pronom réfléchi plus un pronom ou plutôt une anaphore composée d’une expression pour UN et une deuxième pour AUTRE: 2 1 Nous mentionnons ici à titre illustratif la version espagnole de l’anaphore réciproque typique des langues romanes, dérivée de UN + AUTRE, voir en bas. 2 Il existe aussi d’autres possibilités de renforcer le marquage, p.ex. en espagnol par entre sí ou par des adverbes comme fr. mutuellement, mais nous allons concentrer la discussion suivante sur les éléments énumérés dans le tableau 1. Elisabeth Stark 187 ,light’ - RI ,heavy’ - RM Latin -r/ SE inter se Italien si (si)...l’uno… l’altro Français Se se…l’un (P) l’autre Espagnol Se se…el uno P el otro Tableau 1: Les marqueurs réciproques en latin, italien, français et espagnol Le tableau 1 présente les possibilités de marquage dans le cas de la réciprocité inhérente, marquage ,léger’, ,light’, et dans le cas de la réciprocité marquée, marquage ,lourd’ / ,heavy’, un double marquage en fait, par le pronom réfléchi et une anaphore coindicée avec celui-ci, ce qui est illustré dans les exemples suivants: 3 (7) ital. Gli amici si incontrano *l’un l’altro. fr. Les amis se rencontrent. esp. Los amigos se encuentran *el uno al otro. - RI (8) ital. Gli amici (si) guardano (l’un l’altro). fr. Les ami se regardent (l’un l’autre). esp. Los amigos se están mirando (el uno al otro) - RM Contrairement à la réciprocité, les langues romanes sont des ,langues à une forme’ („one-form languages”) dans le domaine du réfléchi. Nous pouvons observer de différences importantes entre les trois grandes langues romanes modernes dans le domaine de la réciprocité en regardant de plus près les exemples suivants: (9a) ital. Si ammirano (? *gli uni gli altri / ? l’un l’altro). fr. Ils s’admirent (les uns les autres / l’un l’autre). esp. Se admiran (los unos a los otros / el uno al otro). (9b) ital. Ammirano gli uni gli altri / (? *)l’un l’altro. fr. *Ils admirent les uns les autres / l’un l’autre. esp. *Admiran unos a otros/ los unos a los otros / el uno al otro. (10a) ital. Si parlano (*gli uni gli altri / l’un l’altro). fr. Ils se parlent (les uns aux/ les autres / l’un (à) l’autre). esp. Se hablan (los unos *(a) los otros / el uno *(al) otro). 3 L es parenthèses indiquent optionnalité, l’astérisque avant un élément agrammaticalité, l’astérisque avant une parenthèse agrammaticalité de l’expression sans les éléments entre parenthèses. L’expression de la réciprocité dans trois langues romanes 188 (10b) ital. (? Si) parlano gli uni agli altri (l’uno all’altro / *l’un l’altro). fr. Ils *(se) parlent les uns aux autres / l’un à l’autre. esp. *(Se) hablan los unos a los otros / el uno al otro. (11) ital. Rosa e Michele (*si) parlarono l’uno dell’altro. fr. Rose et Michel (*se) parlèrent l’un de l’autre. esp. Rosa y Miguel (*se) hablaron el uno del otro. (12) ital. Le mie amiche (*si) stavano sedute l’una vicina all’altra. fr. Mes amies (*se) étaient assises l’une à côté de l’autre. esp. Mis amigas (*se) estaban sentadas la una al lado de la otra. Il se trouve plusieurs points morphosyntaxiques importants dans ces exemples: D’abord, el uno…el otro est une anaphore variable quant au genre/ nombre dans les trois langues en question. Il s’agit ici d’une anaphore ,discontinue’ avec une préposition intermédiaire, surtout et obligatoirement en espagnol, avec la structure suivante: (ART) un-o/ a(s) P (ART) otr-o/ a(s), donc d’un syntagme prépositionnel dans cette langue (cf. Peregrín Otero 1999). Ses antécédents possibles sont le sujet ou le complément d’objet direct de la phrase, non pas le complément d’objet indirect, comme on peut voir dans les exemples suivants: (13) a. Les invités ont été présentés les uns aux autres. b. L’hôtesse a présenté les invités les uns aux autres. c. *L’hôtesse leur a présenté les uns aux autres. El uno…el otro peuvent figurer en tant que complément d’objet direct (cf. exemples (9a) et (9b)) ou indirect (,datif’ ; cf. exemples (10a) et (10b)) dans la phrase, aussi en tant que complément prépositionnel (d’un verbe ou adjectif ; cf. exemples sous (11) et (12)). La cooccurrence de l’anaphore réciproque avec SE suit les régularités de liage décrites dans la version ,classique’ de la Théorie du Gouvernement et Liage (« Government and Binding », cf. Chomsky 1981, Belletti 1982), avec quelques différences interlinguistiques intéressantes. Elle est obligatoire, en français et espagnol, si l’anaphore se trouve dans la fonction de complément d’objet direct ou indirect (,datif’ ; cf. les exemples sous (9) et (10)), mais seulement facultative ou même restreinte en italien (cf. les exemples italiens sous (9) et (10)) et dépend de la flexion nominale. Dans le cas de cooccurrence, un accord en genre et nombre avec le référent pluriel du sujet semble réduire la grammaticalité de la phrase (cf. (9a), (10a)) mais il l’augmente si le si est absent (ce qui est seulement possible pour le complément d’objet direct, cf. (9b)). Pour le complément Elisabeth Stark 189 d’objet indirect, nous observons cette alternance avec la présence de la préposition a dans l’anaphore réciproque (qui réduit les chances pour la cooccurrence avec si, cf. exemple (10b)) et l’absence de la préposition (qui augmente les chances pour la cooccurrence, surtout dans le cas de nonaccord, cf. exemple (10a)). Somme toute, l’italien semble opter pour un simple marquage soit du nombre soit du cas dans les marqueurs réciproques et semble ainsi refuser la cooccurrence avec si dans le cas où l’anaphore réciproque serait déjà marquée clairement pour le nombre et/ ou le cas. Nous retournerons à ce point. − Une cooccurrence avec SE pour les compléments prépositionnels est en général impossible, et ceci dû à l’impossibilité du liage à cause de la préposition, qui fonctionne comme ,barrière’ (cf. les exemples (11), (12) et le contraste structural entre (14) et (15) ci-dessous; cf. aussi Belletti 1982; Jones 1996: 289s.; Peregrín Otero 1999): (14) Les invités (*se/ *leur) parlent les uns des autres. [les invités i [ VP parlent [ PP de PRONOM i ]]] [les invités i [ VP *se i parlent [ PP de t i ]]] (15) Les invités se parlent (les uns aux autres) [les invités [ VP parlent PRONOM DAT ]] [les invités [ VP se DAT parlent t DAT ]] Finalement, nous pouvons observer une certaine tendance à un ,figement morphologique’ de l’anaphore réciproque, surtout en italien, moins en français et pas du tout en espagnol, dans le complément d’objet indirect (,datif’): tandis qu’en espagnol, el uno P el otro se montre toujours avec se + préposition + flexion nominale complète, le français permet l’un l’autre ou les uns les autres à condition de cooccurrence avec se sans préposition intermédiare (cf. les exemples français sous (10a) et (10b)). Dans ces mêmes conditions, mais seulement au singulier, l’italien semble posséder une expression quasi-adverbiale l’un l’altro sans flexion de genre/ nombre possible, pareil à l’allemand einander (cf. les exemples italiens sous (9a) et (10a)). Après cette brève présentation des faits dans les trois langues romanes modernes (standard), passons maintenant à une description historique des constructions réciproques, notamment du 12 ème au 15 ème siècle. L’expression de la réciprocité dans trois langues romanes 190 3 Les données historiques 3.1 Les corpus Nous avons analysé des extraits des corpus électroniques suivants: pour le français, la Base de Français Médiéval (cf. http: / / bfm.ens-lhs.fr), pour le castillan, le CORDE (cf.: http: / / www.rae.es), pour l’ancien toscan, l’OVI (cf. http: / / www.csovi.fi.cnr.it). Les textes du français et castillan analysés 4 sont les suivants: • 12 ème siècle: Chanson de Roland (1100): 29338; Roman de Thèbes (1150): 62698; Chrétien de Troyes: Cligès (1176): 40372; Fuero de Madrid (1141-1235): 8204. • 13 ème siècle: Jean de Meun: Roman de la rose (1269-1278): 105835; Fuero de Zorita de los Canes (1218-1250): 62410; Fuero Juzgo (1250-1260): 100883; Alfonso X: Siete Partidas (1256-1263): 802886; Gran Conquista de Ultramar (1293): 249112. • 14 ème siècle: Jean de Joinville: Mémoires ou Vie de saint Louis (1305- 1309): 75699; Jean Froissart: Chroniques (1369-1400): 216520; Libro del cavallero Cifar (1300-1305): 154710. • 15 ème siècle: Philippe de Commynes: Mémoires (1490-1505): 207149; Antoine de la Sale: Jean de Saintré (1456): 89892; Garci Rodríguez de Montalvo: Amadís de Gaula (1482-1492): 486425. Nous avons essayé de faire attention à une certaine comparabilité chronologique, quant au genre et aussi quantitative, tentative bien difficile à réaliser. Il a été encore plus difficile d’identifier des textes comparables pour l’ancien toscan, dû à la (non-)disponibilité actuelle des corpus électroniques italiens comparables a la BFM ou au CORDE - l’OVI comprend seulement des textes jusqu’au début du 16 ème siècle, de sorte que nous avons pris un petit échantillon à titre purement illustratif de seulement trois textes − mais des textes importants dans l’histoire de l’italien: • 1250-1350: Il Novellino (1280-1300): 27.029; Dante Alighieri: Il Convivio (1304-137): 73.236. • 1350-1450: Giovanni Boccaccio: Il Decameron (à partir de 1348): 269.588. 4 Après le nom du texte respectif sont indiqués la date plus ou moins précise de rédaction ainsi que le nombre de mots que chaque texte comprend. Elisabeth Stark 191 Il en résulte une comparabilité seulement très réduite pour les données statistiques que nous allons présenter, surtout pour les chiffres de l’ancien toscan, raison pour laquelle nous allons les compléter par une analyse qualitative de certains exemples clés des textes analysés. Dans ce qui suit, nous analyserons deux propriétés morphosyntaxiques des constructions réciproques dans les textes d’époques anciennes: 1. la cooccurrence de l’anaphore réciproque (ou de ses précurseurs) avec SE ; 2. la morphologie nominale et verbale et un potentiel ,figement morphologique’ de l’anaphore, prenant en compte aussi la question de la présence ou absence possible de la préposition entre el uno et el otro. Somme toute, nous avons trouvé seulement une occurrence d’une construction réciproque au 12 ème siècle en castillan, 8 dans les textes juridiques du 13 ème siècle et 11 dans la Gran Conquista de Ultramar; les textes du 14 ème montrent 12 occurrences dans le Libro del cavallero Cifar, et les textes du 15 ème siècle ont 41 occurrences, toutes dans le Amadís de Gaula. Dans les textes francais analysés, l’anaphore réciproque, est, depuis le début, un peu plus fréquente que dans les textes castillans. Le taux d’occurrence de constructions réciproques dans nos trois textes d’ancien toscan est tellement faible que nous renonçons ici à une analyse purement quantitative. Il ne se trouve aucune occurrence dans le Novellino, seulement deux cas douteux dans le Convivio, et seulement 22 occurrences dans un texte de taille importante comme le Decameron. Ces occurrences-là montrent en outre toutes déjà une structure morphosyntaxique ,moderne’ des constructions et du marqueur réciproque (l’un l’altro), comme dans l’exemple suivant , avec l’anaphore réciproque dans la position de complément d’objet direct: (16) Costoro rimaser tutti guatando l’ un l’ altro, e cominciarono a dire che egli era uno smemorato... (Decameron VI 9: 427) 3.2 Cooccurrence avec SE 3.2.1 Castillan A première vue, la distribution des constructions réciproques avec cooccurrence de el uno…el otro avec se dans les textes castillans du corpus est surprenante: s’il y a cooccurrence, elle se montre surtout dans les cas de réciprocité inhérente (= RI), ce qui semble contredire aux tendances observables dans la majorité des langues (cf. section 1.1 et tableau 1 pour les langues romanes): L’expression de la réciprocité dans trois langues romanes 192 Castillan RI RM [- SE] 0% 48% [+SE] 100% 52% Tableau 2: Cooccurrence de l’anaphore réciproque et SE dans les constructions réciproques dans les textes castillans Mais il y a aussi une augmentation chronologique nette des chiffres pour les constructions réciproques à cooccurrence dans le domaine de la réciprocité marquée (= RM), aussi bien dans les textes castillans narratifs que juridiques: Castillan RM 13 ème siècle [- SE] 78% [+SE] 22% 14 ème siècle [- SE] 42% [+SE] 58% 15 ème siècle [- SE] 28% [+SE] 72% Tableau 3: Cooccurrence de l’anaphore réciproque et SE dans les constructions réciproques dans les textes castillans à travers les siècles analysés Nous allons reprendre ces données partiellement déconcertantes dans la discussion (cf. section 4 en bas). 3.2.2 Français Les textes français montrent un très faible taux de cooccurrence de l’anaphore réciproque avec SE en général, qui se présente tout de même un peu plus fréquemment avec la reciprocité marquée qu’avec la réciprocité inhérente: Français RI RM [- SE] 87% 81% [+SE] 13% 19% Tableau 4: Cooccurrence de l’anaphore réciproque et SE dans les constructions réciproques dans les textes français Elisabeth Stark 193 Pour les textes français, pourtant, l’augmentation des cas de cooccurrence observable en castillan dans le domaine de la réciprocité marquée ne se montre pas , un point problématique et difficile à expliquer: Français RM 12 ème siècle [- SE] 89% [+SE] 11% 13 ème siècle [- SE] 80% [+SE] 20% 14 ème siècle [- SE] 78% [+SE] 22% 15 ème siècle [- SE] 83% [+SE] 17% Tableau 5: Cooccurrence de l’anaphore réciproque et SE dans les constructions réciproques dans les textes français à travers les siècles 3.2.3 Ancien toscan Les chiffres pour étudier la cooccurrence possible de l’anaphore réciproque avec SE an ancien toscan sont extrêmement bas, voire remontent à un seul exemple dans le Decameron, qui correspond dans sa forme morphosyntaxique à l’italian standard moderne: (17) […] pure erano de’ due mercatanti sì gli animi accesi, che, oltre al voler degli altri, per belle scritte di lormano s’ obligarono l’ uno all’ altro. (Decameron II 9: 158) 3.3 Morphologie - ,figement graduel’ et préposition obligatoire? 3.3.1 Castillan Les constructions réciproques attestées dans les textes castillans ont toujours le verbe principal au pluriel, et l’anaphore réciproque el uno …el otro se montre variable quant au genre/ nombre et toujours avec une préposition, dans le complément d’objet indirect (cf. exemple (18)) et le complément prépositionnel (cf. exemple (19)): (18) Assí bivían encubiertamente sin que de su hazienda ninguna cosa el uno al otro se dixessen. (Amadís de Gaula, 270) L’expression de la réciprocité dans trois langues romanes 194 (19) […] que ha en si estas dos cosas merced & castigamiento & no deuen seer el una sin el otra. (Siete Partidas, § 31) Ces exemples montrent déjà la structure ,moderne’. 3.4.2 Français Le nombre du verbe principal dans les textes français montre la particularité surprenante d’être, dans quelques cas et surtout dans les premiers siècles, au singulier, comme on peut voir dans le tableau suivant: Verbe non-conjugué Verbe au singulier Verbe au pluriel 12 ème siècle 0% 96% 4% 13 ème siècle 0% 38% 62% 14 ème siècle 10% 3% 87% 15 ème siècle 24% 15% 61% Tableau 6: Morphologie verbale dans les textes français à travers les siècles Le développement vers un marquage consistant du verbe au pluriel est démontré à l’aide des exemples suivants: (20) La mort se pardonnent et plorent et tant com pueent por elz orent; li uns baise l’ autre et embrace, ainsi se muerent en la place. (Thèbes, v.5733) (21) E lur chevals sunt curanz e aates. Brochent les bien, tutes les resnes lasquent, Par grant vertut vait ferir l’ uns li altre. (Roland, v. 3878) (22) Molt lor fet bien reison et droit car li uns l’ autre aimme et covoite. (Cligès, v.527) (23) A l’ endemain il furent en lor pais, si prissent congiet li un a l’autre et s’espardirent et se retraist casquns sus son lieu. (Froissart, p.163) (24) Lors prindrent congié l’ un de l’ autre et s’ en alerent en leurs loigeis desarmer et reposer tout le jour […] (Saintré, 133) (25) Le premier soir que furent arrivéz tous ses sei gneurs dessusdictz audict Estampes, se contèrent des nouvelles l’ un à l’ autre. (Commynes, 40) Les exemples (20) à (22) montrent le marquage casuel du sujet en -s pour le masculin singulier (li uns), tandis que le complément d’objet direct l’autre est marqué pour le cas oblique, sauf dans l’exemple (21) avec Elisabeth Stark 195 l’article li indiquant le cas sujet dans la flexion bicasuelle de l’article en ancien français. La préposition, si exigée par la rection verbale, (cf. exemples (23) à (25)), est toujours présente. 4 Discussion et conclusion L’anaphore réciproque se trouve en cooccurrence avec SE, de façon surprenante, toujours dans le cas de réciprocité inhérente (RI) en ancien castillan, et les chiffres pour cette cooccurrence montent aussi continuellement dans le cas de la réciprocité marquée en castillan. Contrairement à cela, on a pu noter une tendance au marquage simple, c’est-à-dire sans SE, en ancien français pour la réciprrocité inhérente. Seule cette dernière tendance correspond aux prédictions de la recherche typologique (cf. Kemmer 1993). Une explication corrélative, qui se base sur des faits internes, structuraux, peut maintenant résider dans le fait que nous assistons tout en général, et indépendamment de l’expression de la réciprocité, à la grammaticalisation du redoublement clitique en castillan, ce qui génère un marquage double de chaque argument non-sujet [humain] ou [animé] (cf. l’exemple (26) et Bossong 1998), comme les arguments prototypiques des constructions réciproques. Cette évolution de l’espagnol vers une ,conjugaison objective’ engendre probablement un ,surmarquage’ ou un marquage contre-iconique de la réciprocité inhérente à un certain moment donné, parce que la présence d’un clitique (SE dans notre cas) qui double un argument pronominal ou lexical [humain] ou [animé] (el uno…el otro dans notre cas) devient obligatoire, irrespectivement de la sémantique du verbe, dans toute construction transitive: (26) a. Le doy dos libros a Maria. b. A María le doy dos libros. c. Al padre lo/ le veo. d. Le doy dos libros a ella. e. Se los doy a ella. L’autre résultat surprenant, à savoir l’occurrence du verbe conjugué au singulier dans les premiers textes français, peut être partiellement expliqué par un autre développement morphosyntaxique clé dans l’histoire des langues romanes: la perte du marquage casuel morphologique en galloroman. L’un l’autre ne fonctionnent tout simplement pas encore comme anaphore réciproque ,figée’ dans les textes très anciens, mais comme deux pronoms/ anaphores autonomes jusqu’à la perte de la L’expression de la réciprocité dans trois langues romanes 196 flexion casuelle (13e/ 14e siècle). Ce marquage casuel peut être considéré l’obstacle principal à la réanalyse de li uns…li/ l’altre/ autre comme anaphore composée discontinue - un seul constituant syntaxique ne peut jamais porter deux marques de cas différentes. Uniquement li uns représente le sujet de la phrase, et l’accord verbal montre, par conséquent, un marquage au singulier. La situation change seulement avec Froissart, donc au 13 ème siècle, siècle qui marque la perte du système bicasuel à cause de changements phonétiques bien connus (perte du -s final dans le code phonique). A partir de ce moment, l’un…l’autre (avec un reste du marquage casuel dans l’exemple (23), li un) ne sont plus morphologiquement distincts, ce qui ouvre la voie à leur réanalyse en tant qu’anaphore réciproque complexe, sémantiquement au pluriel − ce qui engendra aussi le marquage au pluriel du verbe principal (cf. les exemples (23) à (25)). L’ordre des mots s’avère un facteur supplémentaire dans ce développement: Tandis que li uns…l’autre sont bien séparés au début par le verbe conjugué (exemple (20)), ils se trouvent en contiguïté et en position postverbale dans l’exemple (21) et en position préverbale dans l’exemple (22), tandis qu’ils restent en position postverbale après avec accord verbal au pluriel. C’est un indice additionnel à l’analyse de li un(s) et l’altre/ l’autre en deux éléments pronominaux bien séparés jusqu’au 13 ème siècle, puisque, dans le cas de non-accord quant au nombre, les sujets succèdent au verbe conjugué dans les langues du monde (cf. l’universel n° 33 selon Greenberg (1966 [1963]: 138). Quant aux constructions réciproques de l’italien moderne, remarquables pour leur tendance à un système à un seul marqueur de réciprocité et au figement morphologique radical de l’anaphore réciproque (cf. les exemples (9) à (12)), cette tendance s’avère encore plus nette dans certaines variétés très avancées de l’italien contemporain: (27) Nelle difficoltà i vicini di casa comunicarono con l’un l’altro. (28) Loro non possono arrivare vicini all’un l’altro. (cf. Vezzosi 2007) 5 Ici, nous pouvons observer très probablement l’achèvement d’un processus de grammaticalisation de l’anaphore réciproque dans un idiome, le toscan, qui n’a jamais connu de marquage casuel flexionnel, comme l’avait possédé l’ancien français, ni le développement vers un redoublement clitique obligatoire pour certains arguments, comme le connait l’espagnol moderne. L’italien standard naît d’un idiome sans flexion ca- 5 Ces exemples sont considérés agrammaticaux encore dans Belletti 1982. Elisabeth Stark 197 suelle et sans ,conjugaison objective’ ou marquage différentiel de l’objet direct et est donc la langue romane la plus avancée sur l’échelle du figement de l’anaphore réciproque. Somme toute, nous espérons que ces esquisses d’explications corrélatives historiques de la structure différente des constructions réciproques dans trois langues romanes auront pu montrer l’importance de l’approche comparative pour comprendre le(s) changement(s) linguistique(s). L’expression de la réciprocité dans trois langues romanes 198 Bibliographie 1 Corpus 1.1 Français URL: http: / / bfm.ens-lhs.fr *Anonyme (1969): Chanson de Roland (vers 1100), éd. par G. Moignet, Paris: Bordas. *Anonyme (1968): Roman de Thèbes (vers 1150), éd. par G. Raynaud de Lage, Paris: Champion. Commynes, Philippe de (1924-1925): Mémoires (vers 1490 et 1505), éd. par J. Calmette, Paris: Belles Lettres. Froissart, Jean (1972): Chroniques: Livre premier (entre 1369 et 1400), éd. par G.T. Diller, Genève: Droz. Joinville, Jean de (1998): Mémoires ou Vie de saint Louis (entre 1305 et 1309), éd. par J. Monfrin, Paris: Garnier Flammarion. Meun, Jean de (1965): Roman de la Rose (entre 1269 et 1278), éd. par F. Lecoy, Paris: Champion. Sale, Antoine de la (1965): Jean de Saintré (1456), éd. par J. Misrahi / C.A. Knudson, Genève: Droz. Troyes, Chrétien de (1957): Cligès (1176), éd. par A. Micha, Paris: Champion. 1.2 Castillan URL: http: / / www.rae.es 1.2.1 Textes juridiques *Anonyme (1963): Fuero de Madrid (1141-1235), éd. par Agustín Millares Carlo, Madrid: Ayuntamento de Madrid. *Anonyme (1911): Fuero de Zorita de los Canes (1218-1250), éd. par Rafael de Ureña y Smenjaud, Madrid: Imprenta Fortanet. *Anonyme (1995): Fuero Juzgo (1250-1260), éd. par Wilhelmina Jonxis Henkemans / Jerry R. Craddock, Madison: Hispanic Seminary of Medieval Studies. Alfonso X (1995): Siete Partidas (1256-1263), éd. par Lloyd A. Kasten / John J. Nitti, Madison: Hispanic Seminary of Medieval Studies. 1.2.2 Textes narratifs *Anonyme (1995): Gran Conquista de Ultramar (1293), éd. par Louis Cooper / Franklin M. Waltman, Madison: Hispanic Seminary of Medieval Studies. *Anonyme (2003): Libro del cavallero Cifar (1300-1305), éd. par Juan Manuel Cacho Blecua, Zaragoza: Universidad de Zaragoza. Rodríguez de Montalvo, Garci (1991): Amadís de Gaula (1482-1492), éd. par Juan Manuel Cacho Blecua, Madrid: Cátedra. Elisabeth Stark 199 1.3 Ancien Toscan URL: http: / / www.csovi.fi.cnr.it. *Anonyme (1970): Il Novellino. Cento novelle antiche (ca. 1280), éd. par Guido Favati, Genua: Fratelli Bozzi. Alighieri, Dante (1934/ 1937): Il Convivio (ca. 1304-1307), éd. par Giovanni Busnelli et Giuseppe Randelli (avec une introduction de Michele Barbi), 2 vols., Florence: Le Monnier. Boccaccio, Giovanni (1976): „Decameron” (à partir de 1348), Vittore Branca (éd.): Tutte le opere di Boccaccio, vol. 4, Florence: Sansoni. 2 Littérature scientifique Belletti, Adriana (1982): „On the Anaphoric Status of the Reciprocal Construction in Italian”, The Linguistic Review 2, 101-137. Bossong, Georg (1998): „Le marquage différentiel de l’objet dans les langues d’Europe”, Jack Feuillet (éd.): Actance et valence dans les langues de l’Europe, Berlin: Mouton de Gruyter, 193-258. 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Kemmer, Suzanne (1993): The Middle Voice, Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins. Peregrín Otero, Carlos (1999): „Pronombres reflexivos y recíprocos”, Ignacio Bosque / Violeta Demonte (éds.): Gramática descriptiva de la lengua española, Madrid: Espasa Calpe, 1427-1517. Roberts, Ian (2007): Diachronic Syntax, Oxford: Oxford University Press. Vezzosi, Letizia (2007): „A micro-process of grammaticalization: the rise of an uninflected reciprocal marker in Italian”. Conférence donnée lors du congrès „What’s new in grammaticalization? ”, FU Berlin, 11/ 12.05.2007. Wandruszka, Ulrich (1973): „Zur Syntax der ,symmetrischen Prädikate’“, Papiere zur Linguistik 5, 1-31. Barbara Wehr Para-Diathesen im Italienischen 1 Die Problemstellung Im Kontext dieses Bandes zu Ehren von Ulrich Wandruszka sollen italienische Konstruktionen diskutiert werden, die sozusagen „zwischen Aktiv und Passiv“ stehen. Es geht also weniger darum, „was die grammatischen Kategorien miteinander machen“, als vielmehr darum, wie man sie möglichst genau voneinander abgrenzt. Das Problem der Beschreibung ist unter anderem aus Bezeichnungen wie „pseudo-attivo“ (cf. Ambrosini 1982: 84) 1 oder „semipassivo“(Berretta 1998: 242) 2 ablesbar. Ulrich Wandruszkas akademischer Lehrer in München, Helmut Stimm, bei dem auch ich studierte, interessierte sich für syntaktische Probleme, die er auch in seinem Unterricht diskutierte. Eines dieser Themen waren die sog. „Para-Diathesen“ im Französischen, mittels derer eine semantische Rolle, die nicht Agens ist, mithilfe einer vom kanonischen Passiv unterschiedlichenVerbmorphologie als Subjekt eines „passivähnlichen“ Satzes erscheinen kann. Ein prägnantes Beispiel war (1) Tu sais, Odile, si tu n’es pas sage, tu auras ton chapeau retiré (Damourette/ Pichon IV, 66) „wird dir dein Hut weggenommen werden“ Hier entspricht das Subjekt einem indirekten Objekt im korrespondierenden Aktivsatz (retirer qch. à qn.), und die Konstruktion avoir + P.P. kann „Adressatenpassiv“ 3 genannt werden (andere Termini sind „empfängerbezogene Diathese“, „Dativpassiv“, „Rezipientenpassiv“, „indirektes Passiv“, engl. „dative passive“, „passive of indirect objects“ etc.). Den Terminus „Para-Diathese“ prägte H. Stimm in einem mündlichen Vortrag in München (1980). 4 Der folgende Beitrag soll auf zwei bisher wenig beachtete Konstruktionen in süditalienischen Dialekten aufmerksam machen, die es ermöglichen, einen Adressaten zum syntaktischen 1 Bezüglich der Konstruktion me lo sono sentito dire da Luigi. 2 Bezüglich der Konstruktionen Maria si è fatta curare (da un ottimo medico) und I gatti si lasciano accarezzare (dai padroni). 3 Die semantische Rolle ADRESSAT umfasst als „Hyperrolle“ auch den „Geschädigten“; Näheres dazu unter 1.2. 4 Zu den Para-Diathesen im Frz. cf. Stimm (1957) und Wehr (2005). Barbara Wehr 202 Subjekt eines passivähnlichen Satzes zu machen. Zuvor sind jedoch einige Bemerkungen zu den Diathesen im allgemeinen angebracht. 1.1 Vorüberlegung zu den Diathesen Es muss zunächst geklärt werden, was überhaupt als „Aktiv“ und was als „Passiv“ angesehen werden soll. Zu Beschreibung der Diathesen ist ein Drei-Ebenen-Modell bestens geeignet, das, ausgehend von Chafe (1976: 27) 5 und den „Leningrader Strukturtypologen“, 6 die drei Ebenen Syntax, Semantik und Pragmatik ansetzt, auf denen sich syntaktische Einheiten, semantische Rollen und pragmatische Funktionen befinden, die jeweils unterschiedliche Kombinationen miteinander eingehen können. Auf der Ebene der Syntax befinden sich die syntaktischen Funktionen Subjekt (S), direktes Objekt (DO), indirektes Objekt (IO) etc. Auf der Ebene der Semantik haben wir es mit den semantischen Rollen Agens (AG) 7 , Patiens (PAT), Adressat (ADRESS) etc. zu tun. Auf der Ebene der Pragmatik befinden sich die pragmatischen Funktionen („Pragmeme“) Topic (TOP) und Focus (FOC), von denen im vorliegenden Kontext aber nur die Funktion „Topic“ von Interesse ist. Darunter verstehe ich „das Konzept, über das i.a. eine Zeitlang gesprochen wird“, also eine Diskurskategorie. Subjekte sind in der Regel unmarkierte Topics. 8 Wenn bestimmte Korrespondenzen auf den drei Ebenen regelmäßig durch die Verbmorphologie bezeichnet werden, sprechen wir von „Diathese“. Im prototypischen Aktiv wird der Agens als Subjekt kodiert, weil er das Topic darstellt. Im kanonischen Passiv ist es der Patiens, der als Subjekt kodiert wird, weil er das Topic darstellt. Die Diathesen werden also grundsätzlich an der semantischen Besetzung der Subjektsposition festgemacht (dieser Vorschlag kommt von der „Leningrader Schule“). Die pragmatische Ebene beantwortet die Frage nach dem Warum der Kodierung. Sie kontrolliert nicht nur die Syntax (z.B. die Wortstellung), wie allgemein bekannt ist, sondern im Fall der Diathesen und Para-Diathesen auch die Verbmorphologie. 5 Chafe unterscheidet hier zwischen „grammatical subject“, „logical subject“ und „psychological subject“. 6 Die wichtigsten Vertreter der „Leningrader Schule“ sind A. A. Cholodovi , V. S. Chrakovskij und V. P. Nedjalkov, und, nicht zu vergessen, E. Geniušien (cf. dazu auch Wehr 1995: 57f.). Die Ebene der Pragmatik wird leider von ihnen vernachlässigt. Das gilt auch für wichtige germanistische Arbeiten wie z.B. Helbig (1977) und Leirbukt (1997). 7 In Sätzen mit einem intransitiven Verb spricht man besser von „Actor“ (diese Funktion kann im Folgenden vernachlässigt werden). 8 Cf. auch Wandruszka (1986: 15). Zu „Topic“ cf. Wehr (2000: 252-257). Para-Diathesen im Italienischen 203 Die Korrespondenzen des prototypischen Aktivs und Passivs auf den drei Ebenen sind damit wie folgt: AKTIV: TOP AG S PASSIV: TOP PAT S Für eine genauere Beschreibung des Aktivs benötigen wir allerdings noch weitere semantische Rollen: der Subjektreferent ist Possessor (POSS) bei avere (ho i capelli biondi), „Experiencer“ (EXP) bei vedere (lo vedo entrare), sentire ( lo sento cantare) und volere (voglio fare qc.), er ist „Causator“ (CAUS) bei fare (lo faccio entrare) und „Permissor“ (PERMISS) 9 bei lasciare (lo lascio entrare). Diese semantischen Rollen spielen bei der Beschreibung bestimmter Para-Diathesen eine Rolle, wie wir sehen werden. 1.2 Vorüberlegungen zu den Para-Diathesen Für die Beschreibung der Para-Diathesen muss auch noch die semantische Rolle des Adressaten präzisiert werden. Der ADRESS soll als „Hyperrolle“ die semantischen Rollen aller indirekten Objekte erfassen, die in Para-Diathesen als Subjekt erscheinen können; also auch die Person, zu deren Vorteil („Benefizient“, „Nutznießer“) oder Nachteil („Geschädigter“) etwas geschieht. Die Funktionen des Dativus commodi und des Dativus incommodi, die in germanistischen Arbeiten z.B. bei der Beschreibung des „bekommen-Passivs“ ins Spiel gebracht werden (cf. etwa bei Eroms 1978: 381f.) und sich nicht immer leicht von den Funktionen des „Nutznießers“ und des „Geschädigten“ abgrenzen lassen, können unter diese „weite Definition“ von ADRESS subsumiert werden. Dasselbe gilt für einen speziellen Typ von Adressaten, der in Kap. 3 eine wichtige Rolle spielen wird, nämlich einen Adressaten, auf den sich eine Verbalhandlung richtet, die einen Körperteil von ihm betrifft. Der Adressat ist also gleichzeitig auch „Besitzer“ seines Körperteils. Diese Funktion indirekter Objekte wird (v.a in älteren Arbeiten) „Dativus sympatheticus“ 10 genannt (im Folgenden bei uns: „ADRESS 1 “). Ein Beispiel: 9 Im Sinne von „eine Handlung zulassen“ (cf. Wehr 2005: 179). 10 Cf. dazu genauer Havers (1911), Sommer (1921: § 38, 1) und Löfstedt (1956). In germanistischen Arbeiten findet man für diese Funktion des indirekten Objekts auch den Terminus „Pertinenzdativ“. Barbara Wehr 204 (2) Er hieb der Schlange den Kopf ab Im Deutschen kann mittels der Umschreibung durch bekommen (umgangssprachlich auch: kriegen) ohne weiteres ein ADRESS als Subjekt erscheinen. Es liegt eine „reine“ Para-Diathese vor: (3) Die Schlange bekam den Kopf abgehauen (S = ADRESS 1 ) Hier sieht man gut das Ergebnis der Grammatikalisierung dieser Umschreibung: das Verbum finitum bekommen hat seine ursprüngliche Bedeutung aufgegeben und ist zum reinen Auxiliar geworden (die Schlange bekommt nichts, sondern es wird ihr etwas weggenommen). 11 Im Englischen existiert bekanntlich ein Adressatenpassiv („dative passive“) unter Beibehaltung der normalen Passivmorphologie: (4) he was given a book (S = ADRESS) Auch das Adressatenpassiv dient der Topikalisierung des Subjektreferenten. Das Diathesenschema sieht damit folgendermaßen aus: ADRESSATENPASSIV: TOP ADRESS S Neben diesen eindeutigen Para-Diathesen im Deutschen und Englischen gibt es nun auch kompliziertere Fälle, z.B. im Italienischen die Periphrasen mit vedersi + Inf., sentirsi + Inf. (in zwei Bedeutungen: 1. „hören“, 2. „fühlen”), farsi + Inf. und lasciarsi + Inf. Wie sind etwa die in Anm. 1 und 2 zitierten Beispiele adäquat zu beschreiben? (5) me lo sono sentito dire da Luigi (6) Maria si è fatta curare (da un ottimo medico) (7) I gatti si lasciano accarezzare (dai padroni) Handelt es sich hier um Aktiv- oder Passivkonstruktionen? Die in 1.1 vorgeschlagenen Definitionen von Aktiv und Passiv reichen nicht aus, denn der Subjektreferent ist gleichzeitig in (5) Experiencer und Adressat, in (6) Causator und Patiens und in (7) Permissor und Patiens. Mit anderen Worten, die Handlung „fällt auf den Subjektreferenten zurück“, denn er ist in sie als Adressat oder Patiens involviert. Die Aufgabe des Reflexivmorphems ist es, die Koreferenz der beiden semantischen Rollen anzu- 11 Man vergleiche auch Hier habe ich neulich meinen Mantel gestohlen bekommen. Zur Grammatikalisierung von bekommen cf. Heine (1993a). Para-Diathesen im Italienischen 205 zeigen. Derartige Fälle können als „Stufe I“ der Para-Diathese beschrieben werden. 12 Auf dieser Stufe bewahrt das Verbum finitum seinen semantischen Gehalt, und der Subjektreferent muss [+HUM] oder zumindest [+BEL] sein. Da die Konstruktion es dem Sprecher aber gleichzeitig ermöglicht, den Patiens oder Adressaten als Subjekt zu kodieren, kann man das Verbum finitum hier als „Semi-Auxiliar“ beschreiben. Wie zuvor wird der Patiens-Referent oder der Adressat als Subjekt kodiert, weil er Topic ist. Diese Funktion haben (unter Verwendung einer anderen Terminologie) schon Helmut Stimm in Bezug auf das Französische und Tatiana Alisova in Bezug auf das Italienische klar gesehen: Der zum Subjekt erhobene Dativ muss [...] auch psychologisches Subjekt [...] der Aussage sein (Stimm 1957: 609) la funzione di questa trasformazione [...] sta [...] nello stabilire la correspondenza tra il tema comunicativo [...] e il soggetto grammaticale (Alisova 1972: 129) Derartige Konstruktionen stehen „zwischen Aktiv und Passiv“. Die Diathesenschemata für die Beisp. (5)-(7) sehen folgendermaßen aus: PARA-DIATHESE „STUFE I“: me lo sono sentito dire da Luigi TOP EXP + ADRESS S Maria si è fatta curare (da un ottimo medico) TOP CAUS + PAT S I gatti si lasciano accarezzare (dai padroni) TOP PERMISS + PAT S Auch für ein Beipiel wie (8) si è visto aumentare le tasse (Reumuth/ Winkelmann 1996: § 288) von W. Reumuth/ O. Winkelmann mit „Ihm sind die Steuern erhöht worden” übersetzt, gilt, dass der Subjektreferent bei vedersi + Inf. immer so- 12 Cf. zum Frz. Wehr (2005). Barbara Wehr 206 zusagen „Augenzeuge“des Verbalgeschehens ist. Er ist also gleichzeitig EXP und ADRESS. Im Französischen ist nun aber auch die „Stufe II“ der Para-Diathese verwirklicht. Auf dieser Stufe der „reinen“ Para-Diathese fehlt auf der linken Seite des Diathesenschemas die semantische Rolle des EXP/ CAUS/ PERMISS, und der Subjektreferent, der auch [-BEL] sein kann, ist nur noch PAT oder ADRESS. Das finite Verb hat seine ursprüngliche Bedeutung verloren und ist reines Auxiliar. Ein Beispiel (fr. se voir + Inf.): (9) Les véhicules longs se voient interdire l’accès de tout le réseau routier le dimanche (Le Monde; Klein/ Kleineidam 1994: § 309) Hier ist der Subjektreferent [-BEL], was eine wörtliche Bedeutung von voir ausschließt (Lastwagen können nicht sehen). Das Diathesenschema ist dasjenige des Adressatenpassivs (cf. oben). Diese Stufe der Grammatikalisierung ist bei den periphrastisch gebildeten Para-Diathesen im Italienischen allerdings nicht erreicht. Die genannten Konstruktionen repräsentieren alle die „Stufe I“, soweit ich sehe. 13 Sie sind im Italienischen außerdem sehr selten (cf. auch Berretta 1998: 250 zu farsi/ lasciarsi + Inf.). Auf die möglichen Gründe dafür soll am Schluss eingegangen werden. Die Frage, ob das Italienische - abgesehen von den genannten Verbalperiphrasen - über andere Möglichkeiten verfügt, einen Adressaten zum Subjekt eines passivähnlichen Satzes zu machen, wird von Maiden/ Robustelli (2000: 280) verneint: „In Italian [...], only the direct object of a verb can be made into the subject of a passive sentence“. Diese Bemerkung ist in der Tat für das Standarditalienische richtig. In den süditalienischen Dialekten gibt es jedoch zwei Konstruktionstypen, hier symbolisiert durch VOLEO + P.P und HABUI/ HABEO HABUTU + P.P., 14 die es erlauben, einen Adressaten als Subjekt zu kodieren. Auf sie soll im Folgenden genauer eingegangen werden. 13 Cf. auch Alisova (1972: 128f.): der Subjektreferent bleibt immer „osservatore“ oder „iniziatore dell’azione“ und ist [+HUM]. 14 Ich übernehme die Anregung dazu von Ledgeway (2000: 304, Anm. 1): „Henceforth we adopt VOLERE and ESSERE as cover terms for the various Italo-Romance reflexes of VELLE > *VOLERE and ESSE > *ESSERE“. Für den zweiten Typus verwendet Ledgeway „HABERE + HABITU + participle“ (op. cit. S. 238). Para-Diathesen im Italienischen 207 2 Der Typus VOLEO + P.P.: voglio fatto Der Konstruktionstypus VOLEO + P.P. hat zwei unterschiedliche Bedeutungen, wie schon Salvioni (1911: 378, unter Hinweis auf Meyer-Lübke 1899: § 311) in seiner kurzen, scharfsinnigen Beschreibung festgestellt hat. Die erste Variante ist auch standarditalienisch, die zweite ausschließlich in Sizilien und Kalabrien zu finden. 2.1 VOLEO + P.P. I Der Typus voglio fatto qc. kann bedeuten „voglio que sia fatto qc.”, dt. „ich will, dass etwas gemacht wird”. 15 In diesem Fall handelt es sich um eine Aktivkonstruktion, denn der Subjektreferent von VOLERE ist semantisch der Experiencer und die Handlung „geht nach außen“, sie „fällt nicht auf ihn zurück“. In der korrespondierenden „ausbuchstabierten“ Konstruktion steht der Nebensatz, der von voglio abhängt, im Passiv: „che sia fatto qc.“. Das macht die Konstruktion aber noch nicht zu einer Para-Diathese. Sie ist auch im Standarditalienischen belegt, worauf Salvioni schon hinwies, und ist im Kontext der Para-Diathesen nur insofern von Interesse, als es gilt, sie von der homonymen Konstruktion VOLEO + P.P. II abzugrenzen. Das Partizip kongruiert mit dem direkten Objekt, da es ein Objektsprädikativ ist (cf. auch den Exkurs unter 2.1.1). Einige Beispiele: 16 (10) standardit. L’uovo, lo voglio poco cotto (Ambrosini 1982: 69) (11) standardit. Queste battute le desidero suonate più a tempo (Ambrosini loc. cit.) (12) siz. vosi chiamatu lu re (Pitrè; 17 Meyer-Lübke 1899: § 311) „er wollte, dass man den König rufe” (Üb. von Meyer-Lübke) (13) siz. ntra termini vintottu jorna vogghiu fabbricatu di tuttu puntu un palazzu [...] e lu vogghiu fattu n facci unni staju io (Pitrè; Meyer-Lübke loc. cit.) 18 15 Die äquivalente Konstruktion mit einem Nebensatz nach wollen wird im Folgenden „ausbuchstabiert“ genannt. 16 Das Beispiel voglio fatta giustizia, das bei Salvioni (1911: 378) und Rohlfs (1949: § 738) zitiert wird, ist in meinen Augen ambig: 1. „ich will, dass Gerechtigkeit geübt wird“, 2. „ich will, dass mir Gerechtigkeit zuteil wird“. Da es sich nach Salvioni und Rohlfs um einen standardsprachlichen Beleg handeln soll, kommt hier nur die erste Interpretation in Frage. 17 Die Ausgaben von Pitrè, die Meyer-Lübke heranzog, standen mir nicht zur Verfügung, sodass hier auf die genaue Stellenangabe verzichtet werden muss. 18 Weitere Beispiele aus südit. Dialekten finden sich bei Ledgeway (2000: 242 unter (12)). Barbara Wehr 208 (14) italiano regionale in Kalabrien: questi versi il professore li vuole imparati a memoria (Salvioni 1911: 378) (15) italiano regionale in Sizilien: [Montalbanos Mitarbeiter Fazio, der im Krankenhaus liegt, wird von einem Mafioso verfolgt; Augello fragt, ob er ihn überwachen lassen soll. Montalbano sagt: ] - No. Lo voglio portato in una nostra ‘nfermeria (A. Camilleri, La danza del gabbiano, Palermo 2009: 167) Dieser Typus ist marginal auch mit dem Auxiliar ESSERE belegt: (16) lo fienu lo ol’l’o esse rrentratu (Ascrea [Rieti, Latium]; Fanti 1939: 133) „voglio che il fieno sia ritirato” (Üb. von Fanti) Da es, wie es scheint, einen lateinischen Vorläufer gibt, soll in einem kurzen Exkurs darauf eingegangen werden. 2.1.1 Historischer Exkurs Meyer-Lübke (1899: § 388) wies darauf hin, dass es sich bei VOLEO + P.P. I um die Fortsetzung einer lateinischen „ganz üblichen“ Konstruktion handeln könne, nämlich solutum volo. Belege dafür finden sich bei Georges s.v. volo, , und Kühner/ Stegmann (1955: 713f.). Da fast immer ein direktes Objekt vorhanden ist, 19 können wir die Konstruktion durch HOC FACTUM VOLO symbolisieren. Das Partizip ist als Objektsprädikativ anzusehen und kongruiert mit dem direkten Objekt. Einige Beispiele: (17) [Wer ruft? ] - Qui te conventum cupit (Plaut. Curc. 304) „A man that craves to meet you“ 20 (18) ita subitost propere quod eum conventum volo (Plaut. Trin. 1175) „I want to see him at once, it’s most urgent! ” (19) Di me servatum cupiunt (Plaut. Rud. 1164) „Ah, this is help from Heaven! “ (wörtl. „Die Götter wollen mich gerettet“) (20) qua re oratos omnis vos volo ne... (Ter. Haut. 26) „I must appeal to you then...“ (21) quam vellem Menedemum invitatum ut nobiscum esset amplius (Ter. Haut. 185) „How I wish I had been more pressing in my invitation to Menedemus! ” Laut Kühner/ Stegmann steht bei volo (seltener malo, nolo, cupio, expeto) das Objekt im Akkusativ mit dem P.P.P. 21 „gewöhnlich ohne esse [...], 19 Eine Ausnahme ist z.B. Factum volo (Plaut. Bacch. 495) „I wish I might! “ 20 Die Übersetzungen entstammen den Loeb-Editionen und sind nur als Lesehilfe gedacht. Para-Diathesen im Italienischen 209 wenn man mit Nachdruck den Gegenstand des Wunsches als schon vollendet bezeichnen will“. Seltener tritt hier auch esse auf (Kühner/ Stegmann S. 714): (22) Est qui illam conventam esse volt (Plaut. Poen. 1119) „There’s someone wants to meet her“ Ob in den Beisp. (17)-(21) esse fehlt oder in Beisp. (22) hinzugefügt wurde, ist schwer zu sagen. 22 Dasselbe Problem konstatierte Meyer-Lübke für dialektale Beispiele aus Rieti (Latium) mit Auxiliar, 23 die er neben die sizilianischen Belege ohne Auxiliar stellte; 24 auch hier kann essiri nachträglich hinzugefügt worden sein. Wenn das Auxiliar fehlen würde, müsste sich die Beschreibung ändern, denn im Lateinischen ist die Konstruktion bei Vorhandensein von ESSE mit einem AcI identisch. Das direkte Objekt wäre dann Subjekt im AcI, und das Partizip Perfekt Passiv wäre nicht mehr Objektsprädikativ, sondern bildete zusammen mit ESSE einen Infinitiv Perfekt Passiv. 25 Auch in den süditalienischen Beispielen könnte das P.P. dann nicht mehr als Objektsprädikativ angesehen werden. 2.2 VOLEO + P.P. II Der Typus voglio fatto qc. kann auch bedeuten „voglio che mi sia fatto qc.”, dt. „ich will, dass etwas für mich gemacht wird”. 26 Dies ist von zentralem Interesse für unsere Suche nach einem Adressatenpassiv, denn hier ist der Subjektreferent semantisch gleichzeitig Experiencer und Adressat der Handlung, welche damit „auf den Subjektreferenten zurückfällt“. Es liegt also ein klarer Fall einer Para-Diathese der „Stufe I“ vor. Dieser Konstruktionstypus existiert nur in Sizilien und Kalabrien. Wie kommt es zu dieser Ausweitung des Gebrauchs von VOLEO + P.P. I? 27 Man kann annehmen, 21 In Bezug auf das klass. Lat. soll die Abkürzung „P.P.P.“ (Partizip Perfekt Passiv), in Bezug auf die romanischen Sprachen „P.P.“ (Partizip Perfekt) verwendet werden. 22 Für diese Auskunft (wie auch für den Hinweis auf Kühner/ Stegmann) danke ich Jürgen Blänsdorf (Mainz). 23 Ähnlich unserem Beisp. (16). 24 Cf. die Beisp. (12)f. und (26)f. 25 Die infinite Form des Perfekts Passiv hätte sich dann im Südit. zum Präsens hin verschoben (genau wie die finiten Formen des Perfekts Passiv). 26 Der deontische Passivtyp lu pesce ulia mangiatu stammane „il pesce doveva essere mangiato, si sarebbe dovuto mangiare stamane“ (Salvioni 1911: 379), der auch bei Ledgeway (2000: Kap. 7) behandelt wird, kann hier vernachlässigt werden. 27 Rohlfs (1949: § 738) bemerkt dazu: „Aus der Verkürzung eines konjunktionalen Satzes (‚voglio che sia fatto’) erklärt sich schriftitalienisches voglio fatta giustizia [...]. Barbara Wehr 210 dass bei bestimmten Verben wie dare, pagare, portare das Interesse des Subjektreferenten, dass ihm etwas „gegeben, bezahlt, gebracht“ wird, im Vordergrund steht, dass also aufgrund der Semantik bestimmter Verben der „Rückbezug“ auf den Subjektreferenten die naheliegende Interpretation darstellt. 28 Die Verben, die durch das P.P. repräsentiert werden, sind dreiwertig, d.h. sie haben sowohl ein direktes als auch ein indirektes Objekt, oder weisen in der korrespondierenden „ausbuchstabierten“ Konstruktion im Nebensatz einen Dativus commodi auf. Das Partizip kongruiert in den meisten mir vorliegenden Beispielen mit dem direkten Objekt, da es ursprünglich ein Objektsprädikativ ist (cf. 2.1.1); es gibt allerdings auch Dialektgebiete, in denen das P.P. mit dem Subjekt kongruiert 29 - offenbar eine Neuerung. Im Deutschen hätte man als Entsprechung entweder die Umschreibung mit bekommen oder - interessanterweise - haben. 30 Einige Beispiele (die meist aus Pitrès Sammlung sizilianischer Märchen stammen): (23) kalabr. me chiamàu e vose cuntate tante cose (Accattatis 1895: XXXIII; auch zit. bei Rohlfs 1949: § 738) „Mi chiamò e volle che io gli raccontassi tante cose“ (Üb. von Accattatis)/ „er wollte vieles erzählt haben” (Üb. von Rohlfs) (24) kalabr. [Eine Frau spricht: ] vuogghiu ‘mparata de vui cuomu aviti sumportatu tanti scuntri (Cortale, Provincia di Calabria Ulteriore II; Papanti 1875: 164; Salvioni 1911: 381) 31 (25) siz. vogghiu cchiù tosto ‘mparata la via di lu Paradisu (Pitrè III, 6; Salvioni op. cit. S. 378; auch zit. bei Rohlfs 1949: § 738) „voglio mi si insegni la via“ (Üb. von Salvioni) (26) siz. vuggyu impristatu lu porcu (Pitrè, Fiabe; Meyer-Lübke 1899: § 311) „ich will das Schwein geliehen bekommen“ (Üb. von Meyer-Lübke) (27) siz. chi vuliti purtatu (Pitrè, Fiabe; Meyer-Lübke loc. cit.) „was soll man euch bringen“ (Üb. von Meyer-Lübke) In Süditalien hat diese Konstruktion weiter um sich gegriffen, indem das Geschehen auf das Subjekt persönlich bezogen wird, vgl. siz. vogghiu 'mparata la via ‚voglio che mi sia insegnata la via’ (Pitrè )“. 28 Zum Phänomen des Sprachwandels aufgrund von ambigen Formulierungen, die der Hörer auf die eine oder andere Weise verstehen kann, cf. Heine (1993a: 28, 1993b: 49). 29 Cf. dazu Ledgeway (2000: 246ff.). 30 Haben ist eingeschränkt auf den Kontext nach einem Verb des Wünschens, cf. Leirbukt (1981: 129). 31 Hier kongruiert das P.P. mit dem Subjekt. Para-Diathesen im Italienischen 211 (28) siz. iu vogghiu fatta 'na grazia (Pitrè III, 23; Rohlfs 1949: § 738) (29) siz. vonnu fatta cridenza (Pitrè III, 164; Salvioni loc. cit.) „vogliono si faccia loro credenza“ (Üb. von Salvioni) Im folgenden Beispiel vertritt das Subjekt von VOLERE einen Dat. commodi in der korrespondierenden „ausbuchstabierten“ Konstruktion („sie will, dass ihr dieser Stoff gefärbt wird“ „sie will diesen Stoff gefärbt haben/ bekommen“): 32 (30) siz. Mi manna mè matri, e voli tinciuta sta tila (Pitrè III, 354; Rohlfs 1949: § 738) „Mich schickt meine Mutter, und sie will diesen Stoff gefärbt haben” Nach Varvaro (1988: 725) ist die Wendung eine Möglichkeit, das in Süditalien unbeliebte Passiv zu umgehen: (31) siz. vosi dittu tuttu „volle che gli fosse detto tutto“ (Üb. von Varvaro) (32) siz. vogghiu mannatu un paccu Die neuere Untersuchung von Ledgeway widmet der Konstruktion ein ganzes Kapitel (2000: 236ff., Kap. 7: „Want-Passives“), mit einer Sammlung wertvoller Beispiele, die der Verf. z.T. selbst bei Feldforschungen in Süditalien gesammelt hat. 33 Das zeigt (wie auch schon der Hinweis bei Varvaro), dass die Konstruktion immer noch vital ist. Auch im italiano regionale in Kalabrien und Sizilien lässt sie sich, wie zu erwarten, belegen: (33) kalabr. Achille volle raccontate le mie avventure (Salvioni 1911: 378) (34) kalabr. la mia padrona ha voluto pagato lo specchio (Salvioni loc. cit.) (35) meridionale: voglio spiegata meglio la lezione (Sobrero 1988: 735) Wieder weist die Konstruktion eine Variante mit dem Auxiliar ESSERE auf, wobei wie zuvor unklar ist, ob die Konstruktion ursprünglich ein Auxiliar besaß oder nicht (cf. 2.1.1). Einige Beispiele: (36) siz. Maria vosi essiri ccattata a casa (Leone 1995: § 85) „volle che le comprassero la casa“ (Üb. von Leone) 32 Das zeigt der vorausgehende Kontext, wo die Mutter zum Sohn sagt: „haju sta pezza di tila ca m’abbisugnassi di falla tinciri; va' nna lu tincituri [...] e cci la lassi pi tincirimilla“, mit mi als Dat. commodi („lass ihm den Stoff da, damit er ihn mir färbt“). 33 Cf. Ledgeway S. 242ff. unter (13); S. 247, (18); S. 248f., (20) und S. 257f., (43). Fälle mit und ohne ESSERE werden bei ihm nicht getrennt. Wenn ich ihn richtig verstehe, wird der Typus VOLEO + P.P. I bei ihm „ECM“ = „exceptional case marking“ genannt; der Typus VOLEO + P.P. II heißt bei ihm „OC“ = „subject control“ (cf. S. 240ff.; im Abkürzungsverzeichnis S. XIV erklärt sich das „O“ als „obligatory control“). Für uns ist nur „OC” von Interesse. Barbara Wehr 212 (37) siz. Vuogghiu éssiri spiegatu comu fu (Leone loc. cit.) „che mi si spieghi come fu” (Üb. von Leone) (38) lo rano lo ol’l’o esse pagatu addemá (Fanti 1939: 133; zit. bei Cennamo 1997: 151) „voglio che il grano mi sia pagato domani” (Üb. von Fanti) Auch im italiano regionale Siziliens findet sich, wie zu erwarten, die Entsprechung dieser dialektalen Konstruktion: (39) voglio essere mandata una copia del Suo libro (Leone 1982: § 106) (40) Voglio esser ripetuta la lezione (Leone loc. cit.) (41) Marco vuol essere comprato il trenino (Alfieri 1992: 848) „vuole che gli si compri” Im folgenden Beispiel ist der Subjektreferent nicht wie zuvor Adressat (auch im weiteren Sinne) im entsprechenden „ausbuchstabierten“ Nebensatz, sondern präpositionales Objekt (telefonare a qn.). Auch derartige Fälle können also in die Konstruktion eingehen: 34 (42) siz. [Montalbanos Mitarbeiter Catarella sagt, der „Questore“ habe angerufen: ] - Dici che voli esser filefonato 35 subitissimo uggentevole! (A. Camilleri, La caccia al tesoro, Palermo 2010: 34) Ebenso im italiano regionale Siziliens: (43) Francesca vuol essere telefonata (Alfieri 1992: 848) „vuole che le si telefoni” 2.3 Zusammenfassung Es wurde gezeigt, dass der Typus VOLEO + P.P. I eine Aktiv-Konstruktion darstellt, in der der Subjektreferent Experiencer von VOLEO ist. Die Erweiterung VOLEO + P.P. II, in der der Subjektreferent nicht nur Experiencer, sondern gleichzeitig auch Adressat ist, fällt nach unserer Definition unter die Para-Diathesen (cf. 1.2). Beide Typen können nicht 34 In Bezug auf solche Verben (parlare a qn., telefonare a qn., sparare a qn.) spricht Ledgeway von „indirect objects of monotransitive verbs“ (2000: 239). Bei ihnen kann das präpositionale Objekt des Aktivsatzes gelegentlich sogar mittels der normalen Passivmorphologie zum Subjekt gemacht werden („though often with somewhat marginal results“): kal. è stata parrata „she was spoken to“ (Cosenza; Ledgeway S. 30); kal. ancora un signu statu telefunatu „I haven’t been telephoned yet” (Cosenza; Ledgeway S. 31); im it. regionale Siziliens: Oggi sono stato parlato da questo Sig. Giudice Civile (Leone 1995: § 54). 35 = „telefonato“. Para-Diathesen im Italienischen 213 immer klar getrennt werden; man vergleiche etwa die Beispiele (16) und (38) aus Ascrea (Rieti), die formal identisch sind: 36 (16) lo fienu lo ol’l’o esse rrentratu „voglio che il fieno sia ritirato” (38) lo rano lo ol’l’o esse pagatu addemá „voglio che il grano mi sia pagato domani” Wie der Adressat in die Subjektsfunktion gerät, ist über Verben denkbar, deren Semantik als Adressaten sowohl eine externe (ungenannte) Person als auch den Sprecher selber erlaubt (cf. 2.2). Es soll kurz noch einmal auf die An- oder Abwesenheit des Auxiliars eingegangen werden, auch wenn das im vorliegenden Kontext von untergeordneter Bedeutung ist. Nach Alfieri (1992: 848) stellt der Typus ohne ESSERE im italiano regionale Siziliens (Marco vuole comprato qc.) eine Ellipse des Typus mit ESSERE (Marco vuole essere comprato qc.) dar. Das ist aber keineswegs sicher (cf. die Bemerkungen unter 2.1.1). Die auffällige Parallele, dass die Konstruktion sowohl im Lateinischen als auch in den süditalienischen Dialekten nur in Verbindung mit einem Verb des Wünschens auftritt, deutet auf Kontinuität in der gesprochenen Sprache Süditaliens. Falls sie (mit oder ohne ESSERE) in den süditalienischen Dialekten direkt auf das gesprochene Latein in Süditalien zurückgeht, liegt damit ein weiteres konservatives Merkmal dieser Dialekte vor. 37 3 Der Typus HABUI/ HABEO HABUTU + P.P.: ebbi/ ho avuto fatto In diesem Konstruktionstyp HABUI/ HABEO HABUTU + P.P. ist der Subjektreferent Adressat der Verbalhandlung (auch im weiteren Sinne); damit handelt es sich um eine „reine“ Para-Diathese, die der dt. bekommen-Periphrase zu vergleichen ist: ebbi/ ho avuto fatto qc. bedeutet „ich habe etw. gemacht bekommen, für mich wurde etw. gemacht“. 38 Es gibt einen externen Agens, der auch genannt werden kann (cf. Beisp. (44)). Dieser Typus, den Ambrosini (1982: 58) „passivo con avere“ nennt, wird nach 36 Man fragt sich, wie die beiden Typen überhaupt auseinandergehalten werden können. Zur Diskussion des Problems cf. Ledgeway (2000: 245ff.). 37 Cf. etwa die Bewahrung des Passato remoto. Zu anderen archaischen Merkmalen cf. Bigalke (1997: 81f.). 38 Ledgeway (2000: 238) beschreibt die Konstruktion allerdings als „an active periphrasis“. Barbara Wehr 214 ihm vorzugsweise in den „zusammengesetzten“ Tempusformen („nelle forme composte“) verwendet: (44) Il libro, l’ho avuto regalato/ l’avevo avuto regalato/ l’avrò avuto regalato da Piero (Ambrosini loc. cit.) 39 In den süditalienischen Dialekten, wo das Passato remoto vital ist und nicht durch das Passato prossimo ersetzt wurde, finden wir ebbi anstelle von ho avuto. Im Italienischen gibt es keine lexikalisierte Form „bekommen“ als dynamische Entsprechung von „haben“; 40 der perfektive Aspekt, der durch die Verwendung des Passato remoto ausgedrückt wird, enthält aber genau dieselbe Bedeutungsnuance: it. ebbi < HABUI. 41 Das Passato prossimo ho avuto < HABEO HABUTU ist in derartigen Fällen also als Ersatzform für ebbi anzusehen. Es wird dadurch genauso ein Vorgang ausgedrückt wie durch ebbi. Auf die Existenz dieser Konstruktion ebbi/ ho avuto + P.P. (die eine Entsprechung im Französischen hat, cf. Beisp. (1)), hat als erster Accattatis (1895) aufmerksam gemacht; 42 danach wird sie bei Meyer- Lübke (1899: § 299) und Rohlfs (1949: § 737) erwähnt. Sie ist in erster Linie im Süditalienischen (wie zuvor: Kalabrien und Sizilien) nachweisbar. Einige Beispiele (die wie zuvor meist aus Pitrès Sammlung sizilianischer Märchen stammen): (45) kalabr. Lu siervu a dui anni e nun aju avutu regalatu mancu ‘nu sordu (Accattatis 1895: XXXIII; zit. bei Rohlfs 1949: § 737, Anm. 1) „Non mi è stato regalato nemmeno un soldo“ (Üb. von Accattatis) (46) siz. lu pannieri appi tagghyata la testa (Pitrè; Meyer-Lübke 1899: § 299) „der Bäcker bekam den Kopf abgehauen“ (Üb. von Meyer-Lübke) (47) siz. Pinsau ca li dui armali ca avèvinu avutu libbràta la vita d’iddu (da lui) senza nudda obbligazioni, si avèvinu livatu l’obbligu ognunu a modu sò (Pitrè II, 287; Ledgeway 2000: 238) „die beiden Tiere, die ihr Leben von ihm gerettet bekommen hatten“ 39 Das „Left detachment“ (LD), das sich auch schon in den Beisp. (10)f., (14), (16) und (38) beobachten ließ, ist ein Mittel, einen Patiens zu topikalisieren, ohne auf das in Süditalien unbeliebte Passiv ausweichen zu müssen (cf. dazu Rohlfs 1949: § 737, Leone 1995: § 43 und Ledgeway 2000: 237f.). Derartige Konstruktionen haben zwei Topics: das Element im LD als markiertes Topic und das Subjekt als unmarkiertes Topic. 40 Das gilt auch für das Frz. und vielleicht für weitere romanische Sprachen. 41 Cf. auch Schwarze (1988: 633): ebbi paura „ich bekam Angst“. 42 Auch bei der Beschreibung von VOLEO + P.P. war Accattatis der erste, cf. Beisp. (23). Para-Diathesen im Italienischen 215 (48) siz. 'na nobbili signura di Guascogna [...] appi fatta da alcuni omini scilirati 'na vriugnusa offisa (Papanti 1875: 510; Rohlfs 1949: § 737, Anm. 1) „a una nobile signore fu fatta una vergognosa offesa” (Üb. von Rohlfs) (49) [Ein Mann hinterlässt, als er stirbt, seinen drei Söhnen einen Esel, einen Saumsattel und einen Gurt: ] chiddu chi appi lassatu lu sceccu si nni ji da un paisi pi vinniri lu sceccu (Pitrè I, 4) „der den Esel vererbt bekommen hatte“ (50) [Fortsetzung von (49): ] A stu discursu pigliammu a chiddi chi appi lassatu lu sidduni (Pitrè I, 4) „der den Saumsattel vererbt bekommen hatte“ Aus dem aktuellen Sizilianischen stammen die folgenden Belege: (51) Stu iocu, l’aiu avutu ‘nsignatu di me patri (La Fauci 1984: 124, Anm. 53) „Questo gioco, l’ho avuto insegnato da mio padre” (Üb. von La Fauci) (52) Stu libru, l’aiu avutu rialatu di me nonnu (La Fauci loc. cit) „Questo libro, l’ho avuto regalato da mio nonno” (Üb. wie zuvor) (53) Sta cosa, l’aiu avutu/ a ditta di iddu (La Fauci loc. cit.) „Questa cosa, l’ho avuto/ a detta da lui” (Üb. wie zuvor) 43 (54) [Der Commissario Montalbano denkt über einen Tatverdächtigen nach, dem er zuvor vertraut hatte: ] E per maggiori sicurizza aviva avuto il sangue friddo di farisi apprisintari a lui e di fari in modo d’aviri assignata la parti di consigliere (A. Camilleri, La caccia al tesoro, Palermo 2010: 244) „der es geschafft hatte, die Rolle des Beraters übertragen zu bekommen” (55) A ligna l’aju tagghiata di me frati (mdl.) „La legna me l’ha tagliata mio fratello” Die wörtlichen Übersetzungen in den Beisp. (51)-(53) entsprechen dem italiano regionale in Sizilien (cf. La Fauci loc. cit.). Aber auch im Standarditalienischen lässt sich die Konstruktion zumindest marginal belegen (cf. Ambrosini 1982: 58: „è forse inesatto che è solo dialettale, e meridionale in specie“): (56) una donna ha la testa schiacciata dall’ascensore (La Stampa; Rohlfs 1949: § 737) „einer Frau wird der Kopf zerquetscht“ (Üb. von Rohlfs) (57) Luigi ha avuto ancora rifiutata une recensione da una rivista (Ambrosini 1982: 76) (58) Quell’incidente, l’ebbe riconosciuto dalla assicurazione (Ambrosini 1982: 59; ein authentisches Beispiel, das Ambrosini gehört hat) 43 Zu den auffälligen „Left detachments“ cf. Anm. 39. Barbara Wehr 216 (59) Hai avuto difficoltà ad avere accettata la tua domanda? (Ambrosini op. cit. S. 60; ebenfalls authentisch) Die Konstruktion wird auch bei Holtus/ Pfister (1985: 60), La Fauci/ Loporcaro (1989: 180f.) und Ledgeway (2000: 238f.) erwähnt. 44 Sie lässt sich auch im Altitalienischen belegen: (60) et Numa Pompilius suso ne lo monte Aventino con Pitagora ademannaro lo Diabolo, se Roma devea perire. et quello dixe, ka deo avere taliato lo capo (Liber ystoriarum Romanorum, 13. Jh.; Kontzi 1958: 116) „Und jener sagte, dass ihm der Kopf abgeschnitten werden solle“ (Üb. von Kontzi) 45 (61) [Der Sohn hatte seinem toten Vater den Kopf abgeschnitten, um zu verhindern, dass er identifiziert werden könne: ] La mattina il savio [...] vide colui nella caldaia, e ch’egli avea tagliato il capo (Libro dei sette savi; C. Segre/ M. Marti, La prosa del Duecento, Milano-Napoli 1959: 515) In den Beispielen ist zu sehen, dass der Subjektreferent ein ADRESS im oben weiter definierten Sinne ist. Häufig handelt es sich dabei um die Funktion ADRESS 1 , den Besitzer eines Körperteils, der von der (für ihn unerfreulichen) Verbalhandlung betroffen ist, cf. etwa die Beisp. (46), (56) und (60)f. 46 3.1 Zum Tempus des Auxiliars HABERE und zu „Vorgang“ und „Zustand“ Wie bei dem kanonischen Passiv stellt sich auch bei der Para-Diathese mit avere das Problem der Unterscheidung zwischen „Vorgang“ und Zustand“. In Beisp. (60) haben wir es mit einem Vorgang zu tun, in (61) mit einem Zustand. Gehen wir kurz auf die Gründe für diese Ambiguität ein. Es gab sie schon im Lateinischen, wo das Perfekt Passiv bei telischen Verben 47 sowohl als Vorgang in der Vergangenheit als auch als Resultat in der Gegenwart aufgefasst werden kann: z.B. Gallia est omnis divisa in partes tres kann bedeuten 1. „Gallien ist eingeteilt worden“ und 2. (als Resultat 44 Auf die komplizierten Verhältnisse im Dialekt von Altamura (Bari), wo ein Adressatenpassiv mit unterschiedliche Auxiliaren (darunter HABERE) gebildet werden kann, soll hier nicht eingegangen werden (cf. dazu Loporcaro 1988: 292ff.). 45 Der Beleg wird durch den weiteren Kontext nicht klarer. Ist der Subjektreferent Roma? Die lat. Vorlage hat: iam dictus etiam Pompilius cum in nemore montis Aventini litaret diabolo dictum est ei. litandus [sic] est caput (Storie de Troja et de Roma altrimenti dette Liber ystoriarum Romanorum, ed. E. Monaci, Roma 1920: 94). 46 So auch im Frz., cf. etwa afrz. [il] ot la teste colpee (zit. bei Gamillscheg 1957: 418), nfrz. il eut la mâchoire fracassée etc. 47 D.h. bei Verben, in deren Bedeutung ein „Endpunkt eingebaut“ ist (cf. Comrie 1976: 44). Para-Diathesen im Italienischen 217 davon: ) „Gallien ist (jetzt) eingeteilt“. In den romanischen Sprachen ist daraus eine Ambiguität anderer Art entstanden: aus dem Vorgang in der Vergangenheit ist ein Vorgang in der Gegenwart geworden; die Bedeutung des Resultats in der Gegenwart ist hingegen geblieben: frz. la porte est ouverte/ it. la porta è aperta kann bedeuten 1. „die Tür wird geöffnet“, 48 2. „die Tür ist offen“. Dieselbe Ambiguität zwischen „Vorgang“ und „Zustand“ wie beim kanonischen Passiv gibt es auch bei der Para- Diathese mit avere im Präsens. In Beisp. (56) una donna ha la testa schiacciata dall’ascensore handelt es sich wohl um einen Vorgang. 49 Die folgenden Beispiele repräsentieren in meinen Augen jedoch, trotz der Angabe eines Agens, einen Zustand in der Gegenwart: (62) Ho la casa occupata dai parenti (63) Ho la casa invasa dalle mosche (64) Ho la casa distrutta dall’incendio (alle zit. bei Ambrosini 1982: 62) Ambrosini paraphrasiert diese Beispiele mit „,I parenti mi hanno occupato, Le mosche mi hanno invaso, L’incendio mi ha distrutto la casa’ ovvero, specificando il rapporto di possesso, ‘I parenti hanno occupato la mia casa’ ecc.”. In dieser Paraphrase bezeichnet das Passato prossimo (hanno occupato etc.) einen Vorgang in der Vergangenheit, der zu dem Resultat in der Gegenwart in (62)-(64) geführt hat. Die Para-Diathese mit avere hat den Vorteil, dass der Sprecher dasjenige Konzept, das ihm am nächsten steht, nämlich seine eigene Person, zum Subjekt und Topic machen kann. Aufgrund der Struktur der übrigen mir vorliegenden Beispiele, in denen es immer ein indirektes Objekt im korrespondierenden Aktivsatz ist, das zum Subjekt der Para-Diathese mit avere wird, kann man annehmen, dass in diesen Beispielen mi, zu verstehen als Dat. incommodi, zugrundeliegt (I parenti mi hanno occupato la casa). Die Ambiguität zwischen „Vorgang“ und „Zustand“, der wir bei avere als Para-Diathese im Präsens begegnen, 50 ist im Passato remoto aufgehoben: ebbi + P.P. gibt immer einen Vorgang wieder (cf. Beisp. (46)). Das 48 Bestimmte Angaben im Kontext, z.B. die Anwesenheit eines Agens, ermöglichen meistens eine eindeutige Interpretation als Vorgang. Das Italienische zieht zur eindeutigen Bezeichnung eines Vorgangs bekanntlich das Auxiliar venire vor (die Bemerkung bei Maiden/ Robustelli 2000: 282, la porta è aperta sei ambig, hat daher vielleicht nur theoretischen Status; cf. dazu auch Schwarze 1988: 158). 49 Cf. auch die Übersetzung von Rohlfs. Die Angabe eines Agens (dall’ascensore) ist jedoch kein sicheres Kriterium für einen Vorgang, cf. die Beisp. (62)-(64). 50 Im Frz. besteht dasselbe Problem; cf. die Beisp. bei Stimm (1957: 605). Barbara Wehr 218 könnte einer der Gründe dafür sein, dass die meisten mir vorliegenden Beispiele für avere in der Funktion einer Para-Diathese als Tempus das Passato remoto (ebbi) oder, als dessen Ersatz, das Passato prossimo (ho avuto) aufweisen. Gegenüber einer möglichen Verwechslung von avere + P.P. als Para- Diathese mit dem aktivischen Passato remoto können verschiedene Unterschiede geltend gemacht werden: • Die Wortstellung. Bei avere + P.P. als Para-Diathese steht die NP vor dem P.P. (Una donna ha la testa schiacciata), bei avere + P.P. als Passato remoto im Aktiv steht sie nach dem P.P. (Una donna ha schiacciato la testa a qn.) • Die Kongruenz: Bei avere + P.P. als Para-Diathese kongruiert das P.P. immer mit der NP (ha la testa schiacciata), bei avere + P.P. als Passato remoto im Aktiv weist das P.P. die Form mask. sg. auf (ha schiacciato la testa a qn.). 51 • Bei dreiwertigen Verben, für die die Para-Diathese mit avere prädestiniert ist, fehlt in der Para-Diathese der Adressat, da er ja im Subjekt enthalten ist (Una donna ha la testa schiacciata). Im Aktiv des Passato remoto würde hingegen der Adressat fehlen (*una donna ha schiacciato la testa). So könnten die beiden Konstruktionen (avere + P.P. als Para-Diathese und als Aktiv im Passato remoto) auch im Präsens der Para-Diathese eigentlich nicht verwechselt werden. Dennoch sind die Belege fast ausschließlich im Passato remoto oder Passato prossimo von HABERE zu finden. Dadurch wird einer möglichen Verwechslung vorgebeugt, und das Verbalgeschehen kann eindeutig als Vorgang gekennzeichnet werden. 3.2 Historischer Exkurs: die lateinischen Vorläufer Auf lateinische Vorläufer dieser Konstruktion hatte schon H. Stimm (1957: 600ff.) im Kontext der französischen Para-Diathese avoir + P.P. aufmerksam gemacht. 52 Die folgenden Belege bei Vitruv, die er Thielmann (1885: 515) entnahm, sind signifikant, denn in ihnen liegt die Para-Diathese schon grammatikalisiert vor: 51 Cf. Maiden/ Robustelli (2000: 270); Ausnahmen, d.h. Kongruenz mit einem folgenden direkten Objekt, finden sich in archaisierender literarischer Sprache. 52 Cf. dazu auch noch Thielmann (1885: 512-515), Jacob (1998: 374) und Wehr (i. Dr.). Para-Diathesen im Italienischen 219 (65) quae [serpentes], per calorem cum exhaustam habent umoris refrigerationem, tunc acerrime moventur (Vitr. 6, 1, 9; Fensterbusch 1981: 266) „[die Schlangen], die sich am heftigsten bewegen, wenn die Hitze ihnen die abkühlende Feuchtigkeit ausgesogen hat“, wörtl. „wenn sie die Feuchtigkeit [...] ausgesogen bekommen haben“ (66) [meridianae nationes: ] ut ad fortitudinem ingrediuntur, ibi succumbunt, quod habent exsuctas ab sole animorum virtutes (Vitr. 6, 1, 10; Fensterbusch 1981: 268) „[die Südvölker] versagen, sobald es auf Tapferkeit ankommt, weil die Sonne ihnen die Tugenden des Mutes ausgesogen hat“, wörtl. „weil sie [...] die Tugenden des Mutes ausgesogen bekommen haben“ Hier bezeichnen exhaustam habent und exsuctas habent ein „Nicht-mehrhaben“; HABERE stellt damit ein reines Auxiliar dar, ohne jede Spur der ursprünglichen Bedeutung. Es hat nur noch die Funktion, einen Adressaten zum syntaktischen Subjekt machen zu können. In den genannten Belegen ist es ein Dat. sympatheticus (ADRESS 1 ), der als Subjekt kodiert wird (den Schlangen wird die Feuchtigkeit ausgesogen, den südlichen Völkern der Mut). Einen noch früheren Beleg liefert Plautus, mit einem normalen Adressaten als Subjekt: (67) satis iam dictum habeo (Plaut. Pers. 214) „mir ist schon genug gesagt worden“, wörtl. „ich habe schon genug gesagt bekommen“ Schon im ältesten literarischen Latein lässt sich also die Para-Diathese mit HABERE nachweisen. Die Entwicklung, wie es dazu kommt, kann hier nur kurz skizziert werden. 53 Es ist bekannt, dass der Ausdruck für einen Besitz, lat. MIHI EST (mit einem Dat. possessivus) im Zuge einer früh in Erscheinung tretenden Subjektprominenz 54 durch HABEO ersetzt wurde: MIHI EST LIBER HABEO LIBRUM (mit dem Possessor als Subjekt). In Analogie dazu 55 wurde von dem Ersatz erstaunlicherweise auch das Perfekt Passiv mit einem Adressaten erfasst: MIHI DICTUM EST HABEO DICTUM, wobei das Subjekt von HABEO jetzt Adressat der Verbalhandlung ist: „Mir ist gesagt worden“ „Ich habe gesagt bekommen“. Diese Konstruktion ist in die romanischen Sprachen fortgesetzt; cf. zum Französischen Beisp. (1) und zum Süditalienischen noch 53 Zu Einzelheiten cf. Wehr (i. Dr.) 54 Cf. dazu Sasse (1982). 55 Kuryłowicz (1960: 105) spricht von einer „transformation mécanique“; bei ihm bezogen auf den Übergang von MIHI FACTUM EST mit einem Dat. auctoris HABEO FACTUM. Es handelt sich dabei um einen kaum beachteten Vorläufer des romanischen periphrastischen Perfekts. Barbara Wehr 220 (68) siz. l’avisti rittu (Leone 1980: 134, zit. bei Loporcaro 1988: 292) „l’hai avuto detto = sei stato avvisato” (Üb. von Leone) Beisp. (68), ins Lateinische rekonstruiert als HABUISTI DICTUM < TIBI DICTUM EST, entspricht genau dem Beisp. (67). Es muss also Kontinuität der Konstruktion im gesprochenen Latein Süditaliens gegeben haben. Dass die homonyme Konstruktion HABEO DICTUM (mit einem Agens als Subjekt) als Vorläufer des neuen romanischen periphrastischen Perfekt Aktiv alle Aufmerksamkeit der Linguisten auf sich gezogen hat, mag erklären, warum das Adressatenpassiv des Lateinischen (das allerdings nur selten belegt ist) vernachlässigt wurde. 4 Schlussbemerkung Wir haben festgestellt, dass es, in erster Linie in den Dialekten Kalabriens und Siziliens, zwei Verbalperiphrasen gibt, mittels derer ein Adressat als Subjekt kodiert werden kann: VOLEO + P.P. und HABUI/ HABEO HABUTU + P.P. Im Fall von VOLEO + P.P. kann eine Kontinuität der Konstruktion vom gesprochenen Latein bis zu den modernen Dialekten angenommen werden (mit einer unbelegten Zwischenstufe, in der der Subjektreferent als Adressat aufgefasst wird), im Fall von HABUI/ HA- BEO HABUTU + P.P. steht sie außer Zweifel. Man muss sich fragen, warum das Standarditalienische kaum über Para-Diathesen verfügt, während sie im Französischen einen viel wichtigeren Status besitzen (cf. 1.2). Nehmen wir das it. Beispiel eines kanonischen Passivs mit dem Patiens-Referenten in Subjektsposition und dem Adressaten im Satzinneren: 56 (69) questo favore mi veniva concesso (Fogazzaro; zit. in anderem Zusammenhang bei Rohlfs 1949: § 735) Wenn der Sprecher, der hier der Adressat der Verbalhandlung ist, sich selbst (als das „interessantere Konzept“) als Topic in Initialstellung bringen möchte, kann er ohne weiteres sagen (70) mi veniva concesso questo favore Man kann im Italienischen auch ohne weiteres sagen (71) mi è stato rubata la borsa 56 Sowohl questo favore als auch mi sind nach meiner Auffassung hier unmarkierte Topics im Satz. Para-Diathesen im Italienischen 221 (72) gli è stato consegnato il premio Strega Mit anderen Worten, das Italienische kann einen Adressaten zum Topic in Initialstellung machen, ohne ihn als Subjekt kodieren zu müssen. Diese Möglichkeit besteht im Französischen nicht (oder nur in eingeschränktem Maße). 57 In denselben Zusammenhang der flexiblen Wortstellung im Italienischen (Voranstellung einer Konstituente, die nicht Subjekt ist) gehört auch die Möglichkeit der Nachstellung eines Subjekts, das nicht Topic ist. 58 Auch sie ist im Französischen nur sehr eingeschränkt vorhanden. Beide Eigenschaften des Französischen sind Zeichen einer weit vorangeschrittenen Subjektprominenz des français écrit. 59 Das „typische Subjekt“ hat im Französischen „links“ vom Prädikat zu stehen und Topic zu sein. Im Sinne dieser Zielstruktur bildet sich ein reiches Spektrum an Para-Diathesen aus, durch die sich unterschiedliche semantische Funktionen in das Subjekt integrieren lassen. Hierin liegt ein wichtiger typologischer Unterschied zwischen dem Französischen und dem Italienischen: das Italienische ist in weitaus geringerem Maße subjektprominent und bedarf daher der Para-Diathesen eigentlich nicht. Nur die Dialekte des Südens scheren aus, indem sie Konstruktionen aufweisen, die es den Sprechern ermöglichen, das Topic als syntaktisches Subjekt zu kodieren, auch wenn der Referent Adressat ist. Quellen Papanti = G. Papanti (1875), I parlari italiani in Certaldo alla festa del V centenario di messer Giovanni Boccacci, Livorno (Nachdruck Bologna 1972). Pitrè = G. Pitrè, Fiabe novelle e racconti popolari siciliani, 4 vol., Palermo 1870- 1913 (Nachdruck Bologna 1982-1985). Plaut. = Plautus, with an English translation by P. Nixon, 5 vol., Cambridge/ Mass.-London 1916-1938 (Nachdr. 1952-1959) Ter. = Terence, with an an English translation by J. 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Ihre Benennung und genauere Bestimmung ist in der Sprachwissenschaft jedoch nicht unumstritten. Urmson (1952) beschrieb sie erstmals eingehender und bezeichnete sie als parenthetical verbs. Benveniste (1966 [1958]), dem die Funktion von je crois und je suppose als indicateurs de subjectivité ein stärkeres Anliegen war als deren syntaktische Stellung im Satz, behandelte sie ein paar Jahre später unter der Etikette verbes d’opération. In der französischsprachigen Linguistik findet man neben incises, der sicherlich verbreitetsten Benennung, noch incidentes (s. Dessaintes 1960; Mounin 1974: 171; Riegel, Pellat und Rioul 2002: 461), modalisateurs d’assertion (s. Borillo 1982), verbes parenthétiques (s. Cornulier 1978; Récanati 1984), verbes recteurs faibles (s. Blanche-Benveniste 1989; Blanche-Benveniste und Willems 2007), propositions parenthétiques (s. Andersen 1997), propositions incidentes à base de verbe épistémique (s. Borillo 2004: 33) und clauses parenthétiques réduites (s. Schneider 2007b). In anderen Sprachen ist die diesbezügliche linguistische Terminologie ähnlich vielfältig (s. Schneider 2007a: 20f.). * Ich danke Eva Mayerthaler sowie den Kollegen des Linguistischen Kolloquiums (Karl- Franzens-Universität Graz) für ihre Kommentare und Anregungen. Stefan Schneider 226 Die Vielzahl und Heterogenität der Bezeichnungen ist auf zumindest drei Gründe zurückzuführen. Erstens waren und sind sich auch heute viele Autoren unschlüssig bezüglich der syntaktischen Kategorisierung der Ausdrücke. Diese Unschlüssigkeit betrifft in erster Linie die syntaktische Einheit, also die Frage, ob es sich z. B. um Wörter (vgl. verbes d’opération), Phrasen (vgl. postposed main phrases bei Bolinger 1968) oder Teilsätze (vgl. propositions parenthétiques) handelt. In geringerem Maße betrifft diese Unschlüssigkeit auch die Wortklasse und syntaktische Klasse, also die Frage, ob wir es z. B. mit Verben oder mit adverbialen Ausdrücken (vgl. parenthetic adjuncts bei Corum 1975) zu tun haben. Zweitens ist die terminologische Heterogenität durch die ganz unterschiedlichen Blickwinkel bedingt, aus denen man die Ausdrücke betrachten kann. Während z. B. durch verbes recteurs faibles die verminderte Rektionsfähigkeit der in den Einschüben vorkommenden Verben unterstrichen wird, hebt modalisateurs d’assertion die pragmatische Funktion der Einschübe hervor. Drittens schließlich wird ,Parenthese’ unterschiedlich definiert. So stellt je crois im folgenden Beispiel für einige Autoren einen Fall von Parenthese dar, für andere hingegen nicht: (1) C: Ah ben c’est plus libre maintenant, je crois (Beeching 2002, Text Nr. 16) Für Bloomfield (1935: 171, 186) besteht der Unterschied zwischen Parenthese und Parataxe allein in der Position: Im Fall der Parenthese unterbricht eine Form die andere, im Fall der Parataxe folgt eine auf die andere. Es ist nicht meine Absicht, hier eine weitere Benennung vorzuschlagen oder eine möglichst ,wasserdichte’ Definition der betreffenden Ausdrücke zu entwickeln. Das wurde schon andernorts versucht (s. Schneider 2007a: 73-78). Bei der Thematik des vorliegenden Aufsatzes wäre es auch nicht sinnvoll. Da die Form solcher Ausdrücke Veränderungen unterworfen ist, kann sich eine auf formalen Kriterien beruhende enge Definition als hinderlich erweisen. Es soll also ganz allgemein um Teilsätze gehen, die im heutigen Französisch zumindest aus einem finiten Verb bestehen, den syntaktischen Zusammenhalt des Trägersatzes unterbrechen können, ohne explizite syntaktische Verbindung in einen Trägersatz eingeschoben werden und in der Regel ein fehlendes Argument aufweisen. Das heißt, es wird in diesem Beitrag hauptsächlich um reduzierte parenthetische Teilsätze gehen. Das Fehlen eines Arguments bezieht sich selbstverständlich nur auf den eingeschobenen Teilsatz; im Rahmen des Gesamtsatzes wird dieses Argument durch den Trägersatz dargestellt. Die Entstehung einer neuen Kategorie: Reduzierte parenthetische Teilsätze 227 2 Semantische Klassen und pragmatische Funktionen Wenn man die reduzierten parenthetischen Teilsätze des geschriebenen und gesprochenen Neufranzösisch betrachtet, kann man eine Reihe von semantischen Verbklassen und pragmatischen Funktionen feststellen (s. Schneider 2007a: 140). Die am häufigsten vorkommende semantische Klasse ist sicherlich diejenige der Äußerungsverben, vertreten durch dire und andere Verben. Die primäre pragmatische Funktion von dit-il, dit-elle, me fit-il und ähnlichen Teilsätzen ist die Redewiedergabe. Für viele französische Grammatiken stellt sie die einzige Funktion der incise dar: „Les propositions incises sont liées au discours rapporté [...]“ (Riegel, Pellat und Rioul 2002: 460; vgl. auch Grevisse 1993: 614f.). Parenthetische Teilsätze mit dieser Funktion sind schon im Altfranzösischen fest etabliert (s. Buridant 2000: 674f.). Daneben kann das Äußerungsverb dire noch weitere pragmatische Funktionen innehaben, wie z. B. die vor allem in geschriebenen Texten anzutreffende Wiederaufnahme eines vorhergehenden Textelementes (Wort, Phrase) durch dis-je (s. Grevisse 1993: 605) und die Selbstreparatur (oder manchmal auch Reformulierung) durch disons (in älteren Texten disons plustost). Urmson (1952) und Benveniste (1966 [1958]) beschäftigten sich in erster Linie mit Verben des Glaubens, d. h. mit doxastischen Verben, also im Französischen z. B. croire, espérer und penser, und mit Verben, die Inferenzen und andere mentale Operationen bezeichnen, also im Französischen z. B. supposer und imaginer. Ihre pragmatische Funktion besteht in der in Beispiel (1) erkennbaren Distanzierung vom Äußerungsinhalt und teilweisen Rücknahme der kommunikativen Verantwortung. Diese pragmatische Funktion kann auch von in weitesten Sinn perzeptiven Verben, im Französischen z. B. von paraître, und sembler, übernommen werden. Diese wirken allerdings ,indirekt’, da die Distanzierung vom Äußerungsinhalt durch die Spezifikation der Art und Qualität der Wahrnehmung erfolgt. Das epistemische Verb savoir kommt als Einschub vor allem in der gesprochenen Sprache als verneintes (je) (ne) sais pas vor - wodurch es fast doxastischen Charakter annimmt - und kann ebenfalls die Distanzierung vom Äußerungsinhalt anzeigen. Die hier besprochenen semantischen Klassen und pragmatischen Funktionen gehören sicherlich zu den bedeutendsten und sind im Französischen schon seit langem in Gebrauch, erschöpfen jedoch nicht das Anwendungsspektrum der reduzierten parenthetischen Teilsätze. Vor allem in der gesprochenen Sprache werden einige davon, im Französischen z. B. tu vois? , savez-vouz? und tu sais? , als an den Hörer gerichtete Stefan Schneider 228 phatische Signale verwendet. Weitere Klassen und Funktionen werden in Schneider (2007a: 109-143) erwähnt. Im vorliegenden Beitrag soll es in erster Linie um die Entstehung und Entwicklung derjenigen Teilsätze gehen, die aus doxastischen Verben bestehen und zur Distanzierung vom Äußerungsinhalt dienen. 3 Drei theoretische Lösungen Für das Englische liegen zur Entstehung und Entwicklung reduzierter parenthetischer Teilsätze schon einige vertiefte Arbeiten vor (vor allem Brinton 1996, 2008; Bromhead 2009; Fischer 2007). Im Bezug auf das Französische gibt es keine Studie, die sich spezifisch mit dieser Frage beschäftigt. Man findet jedoch einige Arbeiten, die diese zumindest aufwerfen (z. B. Buridant 2000; Féron 2005; Glikman 2009). Für andere romanische Sprachen findet man dazu nicht allzu viel (aber siehe Company Company 2006; Waltereit 2006). In den Abschnitten 4-6 werden Ansätze und Hypothesen besprochen, die sich mit der Herleitung der reduzierten parenthetischen Teilsätze auseinandersetzen. Zum Großteil wurden diese im Bezug auf das Englische entwickelt, sie können jedoch auch als Denkanstöße für das Französische dienen. Obwohl es sich manchmal nicht um spezifisch diachrone Ansätze handelt, legen sie jeweils eine bestimmte historische Entwicklung nahe. Das prinzipielle Problem der Herleitung reduzierter parenthetischer Teilsätze allerdings aus rein synchroner Perspektive stand zwischen 1970 und 1980 innerhalb der generativen Linguistik im Zentrum von Überlegungen. Die Diskussion drehte sich hauptsächlich um die Frage der Tiefenstruktur von Sätzen mit Parenthesen und um die für die Oberflächenstruktur nötigen Transformationen. Zumindest drei Hypothesen wurden in diesem Zusammenhang diskutiert. Die von Ross (1973) vorgeschlagene complement-fronting-hypothesis führt den parenthetischen Teilsatz auf einen übergeordneten, den Trägersatz regierenden Satz in der Tiefenstruktur zurück. Die Oberflächenstruktur entsteht durch eine slifting (= sentence lifting) genannte Transformation. Durch diese wird der Komplementierer getilgt und der Argumentsatz vor den Hauptsatz ,angehoben’ (bei nachgestellten Teilsätzen). In der von Emonds (1976) aufgestellten pro-form deletion hypothesis enthält die Tiefenstruktur zwei parataktisch verbundene Sätze, wie z. B. John came later than Sue; I think so. Die im zweiten Satz enthaltene Anapher so verweist auf den ersten Satz. Die parenthetische Oberflächenstruktur entsteht durch Tilgung der Ana- - - Die Entstehung einer neuen Kategorie: Reduzierte parenthetische Teilsätze 229 pher. Aufgrund der syntaktischen und semantischen Ähnlichkeit zu Satzadverbien wie z. B. engl. truthfully, honestly und sincerely wird in Jackendoffs (1972: 95ff.) Ansatz der parenthetische Teilsatz in der Tiefenstruktur direkt als Satzadverbial generiert, d. h. er entsteht aus einer untergeordneten (aber nicht regierten) Konstituente. Entscheidend an dieser Diskussion sind nicht die überholten technischen Details sondern die drei grundsätzlichen Lösungen: Entwicklung aus übergeordneten Sätzen, aus beigeordneten Sätzen oder aus untergeordneten Sätzen. Die oftmals aufgeworfene Frage (s. Harris und Campbell 1995: 25-27), welche Struktur historisch gesehen älter ist, die parataktische oder die hypotaktische, und ob die eine aus der anderen entstanden ist, kann und muss an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Die Präzisierung der beiden Strukturen ist jedoch für das Verständnis der weiteren Diskussion nützlich. Unter ,Parataxe’ wird hier die Aneinanderreihung mit oder ohne Konjunktion satzwertiger Strukturen mit finitem Verb ohne Einbindung der einen Struktur in den funktionalen Rahmen der anderen und unter ,Hypotaxe’ ausschließlich die Einbindung bzw. Unterordnung einer satzähnlichen Struktur mit finitem Verb und Konjunktion in den von einem anderen Satz vorgegebenen funktionalen Rahmen verstanden. Charakteristisch für die Hypotaxe sind der syndetische Anschluss und die Tatsache, dass die eingebundene Struktur satzähnlich aber nicht satzwertig ist, d. h. eine eingeschränkte Autonomie besitzt. Die hypotaktische Verbindung im hier beschriebenen Sinne ist recht speziell und entstand, allgemein sprachgeschichtlich gesehen, wahrscheinlich nach der Parataxe. Das bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass hypotaktische Strukturen aus parataktischen entstanden sind. Prinzipiell ist die Einbindung bzw. Unterordnung ein sehr altes syntaktisches Verfahren (s. Matthiessen 2002: 311) und es ist eher anzunehmen, dass sich untergeordnete Strukturen mit finitem Verb und Konjunktion durch Reanalyse aus untergeordneten Strukturen mit nicht-finitem Verb entwickelten (s. Harris und Campbell 1995: 310-313). ,Parataxe’ und ,Hypotaxe’ sind selbstverständlich nicht als komplementäre Antonyme aufzufassen, sondern stellen zwei herausragende Punkte auf einem Kontinuum mit einigen Abstufungen und Zwischenlösungen dar. Ein reduzierter parenthetischer Teilsatz ist ebenfalls eine Zwischenlösung und sozusagen eine ,Kategorie für sich’: Er wird asyndetisch in einen Satz eingebunden, der für ihn höchstens den funktionalen Rahmen eines Attributs vorsieht, ist aber trotzdem nicht satzwertig. Stefan Schneider 230 4 Entwicklung aus übergeordneten Sätzen Thompson und Mulac (1991a, 1991b) stützen ihre Theorie nicht auf die Analyse älterer Sprachstufen des Englischen sondern auf Erhebungen des heutigen mündlichen Sprachgebrauchs. Laut Thompson und Mulac (1991b: 313f.) entstanden Konstruktionen mit reduzierten parenthetischen Teilsätzen aus komplexen Sätzen über die Zwischenstufe komplementiererloser Sätze: (2) I think that we’re definitely moving towards being more technological. (3) I think 0 exercise is really beneficial, to anybody. (4) It’s just your point of view you know what you like to do in your own spare time I think. Die beiden Fälle von I think in (3) und (4) sind bezüglich ihrer Funktion in etwa mit engl. maybe vergleichbar und stellen grammatikalisierte 1 Versionen von I think in (2) dar. Die Argumente für ihre Hypothese sind quantitativer und semantischer Natur. Die Frequenz von Verben ohne Komplementierer wie in (3) ist direkt proportional zur Frequenz von parenthetischen Verben wie in (4): Diejenigen Subjekte (hauptsächlich das Personalpronomen I) und Verben (hauptsächlich think und guess), die am häufigsten ohne Komplementierer gebraucht werden, kommen auch am häufigsten als Einschübe oder Nachsätze vor. Die mit Abstand gebräuchlichste Form, I think, tritt fast ausschließlich ohne Komplementierer auf, unabhängig von ihrer Stellung. Semantisch gesehen sind diejenigen Verben, die sowohl in Konstruktionen ohne Komplementierer als auch in parenthetischen Konstruktionen vorkommen, in der Mehrzahl doxastische Verben. Insbesondere beim Verb think ist eine Bedeutungsverschiebung mit pragmatischen Konsequenzen feststellbar: Während es in allen anderen Personalformen den Vorgang des Denkens bezeichnet, drückt es in der ersten Person die Einstellung des Sprechers oder der Sprecherin zum Gesagten aus 2 . Im Laufe des Grammatikalisierungsprozesses erfolgte ein schrittweiser kate- 1 Thompson und Mulac (1991b: 318) unterstreichen ihr breites Verständnis von ,Grammatikalisierung’: „ [...] this research broadly involves category shifts from more ,lexical’ to more ,grammatical’, including such processes as the bleaching and narrowing of free verbs to free markers of mood and free prepositions“. 2 Im Sinne von Waltereit (1999: 25-27) könnte man hier von einem dem metonymischen Bedeutungswandel ähnlichen semantischen Prozess sprechen, der auf einer „ Kontiguität von Sachverhaltstypen“ beruht. Die Entstehung einer neuen Kategorie: Reduzierte parenthetische Teilsätze 231 gorialer Wandel, zuerst von einem Hauptsatz mit Subjekt und Verb zu einer Konstruktion ohne Komplementierer am Satzanfang und schließlich zu einer Konstruktion mit freier Stellung im Trägersatz. Am Ende des Prozesses stimmt die Distribution der Konstruktion nicht mehr mit derjenigen der Ausgangskonstruktion überein. Der Grund für den Prozess liegt einerseits in der Häufigkeit und formelhaften Verwendung von I think und I guess, andererseits in der erwähnten Bedeutungsverschiebung. Es stellt sich die Frage, welcher der beiden Gründe gewichtiger ist (s. Fischer 2007: 299). Thompson und Mulac (1991b: 314, 319) verweisen ausdrücklich auf das Prinzip, dass rekurrierende Muster in der gesprochenen Sprache Druck auf Sprachstrukturen ausüben, weshalb man annehmen kann, dass sie den Faktor Frequenz als ausschlaggebend erachten (s. auch Thompson und Mulac 1991a: 249). Eine Schlüsselrolle fällt im Verlauf dieses kategorialen Übergangs Sätzen ohne that wie (3) zu. Aufgrund der möglichen Reanalyse sind diese syntaktisch doppeldeutig (vgl. Waltereit 1999: 21). Thompson und Mulac (1991a) weisen nach, dass die Verwendung bzw. Nichtverwendung von that keineswegs optional ist, sondern mit der Bedeutung des Verbs im Hauptsatz und der pragmatischen Struktur des Gesamtsatzes zusammenhängt. Deshalb sind Thompson und Mulac (1991a: 241) der Ansicht, dass die Verwendung von that mit dem „degree of ,embeddedness’ of the complement clause“ korreliert, d. h. „when there is no that, the main clause subject and verb function as an epistemic phrase, not as a main clause introducing a complement“. Insbesondere von I think eingeleitete Sätze ohne Komplementierer wie (3) lassen eine Erosion des Hauptsatz- Nebensatz-Gefüges erkennen, die zu einer Reanalyse des übergeordneten Satzes als doxastische Adverbialkonstruktion führt. Im Unterschied zu der von Ross (1973) vorgeschlagenen syntaktischen ,Anhebung’ des Komplementsatzes handelt es sich hier also um eine ,Absenkung’ des Hauptsatzes. Der Übergang von der hypotaktischen zur parenthetischen Struktur beinhaltet eine Umpolung des Subordinationsgefüges (s. Brinton 2008: 35), an dessen Ende zwar wieder eine Struktur mit Unterordnung, aber keine Hypotaxe gemäß der Definition in Abschnitt 3 steht. Im Ansatz von Thompson und Mulac (1991a, 1991b) erfolgt der Übergang bzw. die Umpolung nicht über die Zwischenstufe der Parataxe. Die beiden Autoren sprechen zwar von einer Erosion des Subordinationsgefüges, meinen aber, „these bleached-out main verbs and their subjects behave very much like single epistemic morphemes in other languages“ (Thompson und Mulac 1991a: 239). Stefan Schneider 232 Wie Thompson und Mulac (1991b: 324) unterstreichen, sind ihre Daten rein synchron, weshalb sie die Frage, ob der von ihnen festgestellte Prozess auch diachron nachweisbar ist, nicht wirklich beantworten können. Brinton (1996: 246-248, 2008: 44f.) beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung von englischen Diskursmarkern und stellt u. a. bei Chaucer, d. h. in mittelenglischen Texten, Sätze wie (2) - (4) und satzinterne parenthetische Teilsätze fest. Allerdings sind im Mittelenglischen nicht die im heutigen Englisch bestehenden quantitativen Korrelationen erkennbar: Die häufigsten parenthetischen Verben, gesse ,schätzen, vermuten’, leve ,glauben’ und undertake ,annehmen’, kommen selten in asyndetischen Konstruktionen wie in (3) vor. Brinton (1996) verwirft deshalb die Hypothese von Thompson und Mulac (1991a, 1991b) und nimmt eine andere syntaktische Entwicklung an, auf die ich weiter unten zu sprechen komme. Auf Thompson und Mulacs (1991a, 1991b) Erklärungsansatz wird auch in der französischen Linguistik oft verwiesen (z. B. bei Blanche- Benveniste und Willems 2007; Glikman 2009: 149), weshalb er hier im Detail erläutert wurde. Im heutigen Französisch besitzt allerdings das Stadium, das im beschriebenen kategorialen Wandel eine Brückenfunktion inne hat, einen geringen Stellenwert. Natürlich sind Sätze wie die folgenden im gesprochenen Französisch nicht ausgeschlossen (s. Grevisse 1993: 1601; Schneider 2007a: 174): (5) B: Ah je crois à la longue échéance il faut faire attention. (Beeching 2002, Text Nr. 23) Wie Cedergren und Sankoff (1974: 347-350) und Martineau (1988) zeigen, sind im kanadischen Französisch Komplementsätze ohne que verbreitet. Blanche-Benveniste (1989: 64) und Dostie (2004: 58) meinen, dass im gesprochenen Französisch nach bestimmten Prädikaten, z. B. je crois, j’ai l’impression, on dirait, der Komplementierer que phonetisch reduziert und an das vorhergehende Wort klitisch affigiert wird (je crois-k). Aus diesem Grund sprechen Blanche-Benveniste (1989) und Blanche-Benveniste und Willems (2007) von verbes recteurs faibles. Trotzdem ist das heutige Französisch diesbezüglich nicht mit dem heutigen Englisch vergleichbar, denn dort stellt der asyndetische Anschluss nach bestimmten Verben in der ersten Person fast die Regel dar (s. Kärkkäinen 2003; vgl. zum Deutschen Wandruszka 2000: 67). In altfranzösischen Texten hingegen ist der asyndetische Anschluss nach doxastischen Verben unabhängig vom Modus des Komplementsatzes durchaus anzutreffen (s. Buridant 2000: 571, 575f.; Gamillscheg Die Entstehung einer neuen Kategorie: Reduzierte parenthetische Teilsätze 233 1957: 622f.; Sergijewskij 1979 [1947]: 84) 3 . Glikman (2009: 158-162, 183ff.) führt eine Reihe von diesbezüglichen Beispielen mit croire, cuidier (oder cuider) und penser an und geht sogar davon aus, dass alle Verben, die Komplementsätze regieren, die Alternanz que/ Ø aufweisen. In der Tat kann sie in ihrem altfranzösischen Referenzkorpus zahlreiche asyndetische Komplementsätze sowie andere Typen asyndetischer Subordination ausfindig machen (die Übersetzung des folgenden Beispiels übernehme ich von Glikman): (6) « Ha! rois Pepins », fait ele, « je croi mar vous vi né, / « Quant on me veut murdrir delez vostre costé ». (Adenet le Roi, Berte aus grans piés, V. 425-426 [Henry 1963]) ,Ah! roi Pépin, fait elle, je crois que je vous vis né pour mon malheur, quand on veut me tuer à vos côtés’ Auch einige von ihr untersuchte mittelfranzösische Texte weisen dieses Phänomen auf. Wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, gab es im Altfranzösischen, so wie im heutigen Französisch, auch schon parenthetische Teilsätze mit doxastischen Verben. Ohne genaue quantitative Korrelationen zu kennen, kann man zumindest sagen, dass im Altfranzösischen die theoretischen Bedingungen für die Hypothese von Thompson und Mulac (1991a, 1991b) bestanden. 5 Entwicklung aus beigeordneten Sätzen Im schon erwähnten parataktischen Ansatz 4 von Emonds (1976) werden zwei aneinandergereihte Sätze, von denen der zweite eine auf den ersten verweisende Anapher enthält, nach Tilgung der Anapher in ein parenthetisches Gefüge umgeformt. Interessanterweise wird dieser Ansatz jedoch kaum vertreten. Brintons (2008: 27-47) Übersicht der syntaktischen Quellen von englischen Diskursmarkern erwähnt ihn überhaupt nicht. Charakteristisch für eine parataktische Analyse ist, dass als Ausgangsbasis zwei aufeinander folgende Sätze angenommen werden, die zueinander in keinem (eindeutigen) syntaktischen Abhängigkeitsverhält- 3 Stempel (1964: 442) meint allerdings, dass die Nichtsetzung von que im Altfranzösischen fast gänzlich auf die epische Dichtung beschränkt bleibt. 4 Der hier besprochene Ansatz betrifft nicht unmittelbar die in der Sprachphilosophie diskutierte paratactic analysis von satzinitialen Verben der indirekten Rede und der propositionalen Einstellung (cf. Davidson 1968; Lepore und Loewer 1989), da es dort um die Herleitung von hypotaktischen Strukturen aus parataktischen geht. Stefan Schneider 234 nis stehen. Ob einer der beiden eine auf den anderen Satz verweisende Katapher oder Anapher enthält, ist keine unbedingt notwendige Voraussetzung. Wenn der zweite Satz kurz und formelhaft ist und ein doxastisches Verb enthält, dauert es nicht lang, so die Annahme, bis er auch inmitten des ersten Satzes auftaucht. Wie wir im ersten Abschnitt gesehen haben, stellen Nachsätze wie je crois in Beispiel (1) einen Graubereich (und darum auch einen Übergangsbereich) dar. Für einige sind sie schon Parenthesen, für andere noch nicht. Deshalb ist der parataktische Ansatz bis zu einem bestimmten Grad mit der Auffassung vereinbar, parenthetische Teilsätze seien Grundformen, also direkt als solche entstandene Formen. Eine solche Auffassung legt in der Tat die in einem ganz anderen Kontext entstandene Studie von Diessel und Tomasello (2001) nahe, in der die Beziehung zwischen Haupt- und Argumentsatz in der englischen Kindersprache untersucht wird. Diessel und Tomasello (2001: 105-108) stellen in der Sprache von Kindern im Alter zwischen 1; 2 und 5; 2 drei Hauptsatztypen fest: 1. Sätze, die die wichtigste Proposition eines komplexen Sachverhalts ausdrücken („assertive use“); 2. performative Sätze („performative use“); 3. formelhafte Satzoperatoren mit Verben in der ersten oder zweiten Person Singular Präsens Indikativ („formulaic use“). Diessel und Tomasello (2001: 108f.) bezeichnen letzteren Typ als „propositionally empty“ und unterstreichen seine freie Stellung: „[...] may precede or follow the COMP-clause or may even be inserted into it“. Interessanterweise dominiert genau dieser Typ in der frühen Kindersprache, erst später werden performative Sätze erworben und zuletzt die vollwertigen Hauptsätze. Diessel und Tomasello (2001: 135) sehen sich deshalb zum Schluss veranlasst, dass im Falle des Erwerbs von reduzierten parenthetischen Teilsätzen die ontogenetische Entwicklung konträr zur diachronen Entwicklung verlaufe. Obwohl sie grundsätzlich mit Diessel und Tomasello (2001) übereinstimmt, äußert sich Fischer (2007: 311) bezüglich deren Schlussfolgerung skeptisch und nimmt an, dass reduzierte parenthetische Teilsätze eine frühe, schon im Altenglischen bestehende Erscheinung seien. Es sei davon auszugehen, dass I think und ähnliche Ausdrücke formelhaft verwendet wurden, also dem Prozess der Lexikalisierung nicht demjenigen der Grammatikalisierung unterworfen waren. Sie seien ursprünglich nicht Teil eines komplexen Satzes gewesen, weder als übergeordnete Konstituenten, wie von Thompson und Mulac (1991b) angenommen, noch als untergeordnete Konstituenten, wie von Brinton (1996, 2008) vorgeschlagen: Die Entstehung einer neuen Kategorie: Reduzierte parenthetische Teilsätze 235 They probably occurred both in independent clauses and with complement clauses from the very beginning, the former being most frequent in spoken, the latter in written discourse (Fischer 2007: 311). Das bedeutet, dass die beiden Verwendungen von Anfang an koexistierten und keine Entwicklung der einen Verwendung aus der anderen stattgefunden hat. Es ist allerdings vollkommen unklar, ob es im Altenglischen Einschübe der Art wie das heutige I think gegeben hat. Brinton (1996: 239-242) ist der Ansicht, dass die wenigen Beispiele mit satzinitialen doxastischen Verben ohne Komplementierer keine Rückschlüsse auf die Existenz von reduzierten parenthetischen Teilsätzen mit doxastischen Verben zulassen. Fischer (2007: 311) äußert, wie wir gesehen haben, den Verdacht, dass diese schon im Altenglischen existierten. Beide Autorinnen beziehen sich auf Daten von Gorrell (1895), die keine eindeutige Interpretation erlauben. Klar ist hingegen, dass das Altenglische, wie auch das Altfranzösische, schon reduzierte parenthetische Teilsätze der Redewiedergabe kannte (s. Brinton 1996: 360). Bezüglich des Altfranzösischen besteht hingegen kein Zweifel, dass solche Einschübe schon existierten. Féron (2005) äußert sich nicht direkt zur Frage des parataktischen Ansatzes, ihre Schlussfolgerungen deuten jedoch genau in diese Richtung. In Texten in Vers aus der Zeit vor und nach 1200 scheinen doxastische parenthetische Teilsätze der Form je+Verb gelegentlich auf (s. Féron 2005: 19); interessanterweise nicht jedoch in Prosatexten. Doch sind die Einschübe der Form je+Verb zumindest anfangs gegenüber einer anderen Form von Einschub, und zwar derjenigen mit dem präverbalen Pronomen ço oder ce, in der Minderheit (s. auch Zink 1997: 87-92; Buridant 2000: 756; Glikman 2009: 118, 122, 158, 166). Die folgenden Beispiele stammen von Glikman (2009: 158), von der ich auch die Übersetzungen übernehme: (7) E si n avrez, ço quid, de plus gentilz. (La Chanson de Roland, V. 150 [Segre 2003]) ,Et vous en aurez, je crois, de plus nobles’ (8) Iert i sis niés, li quens Rollant, ço crei, / E Oliver, li proz e li curteis. (La Chanson de Roland, V. 575-576 [Segre 2003]) ,il y avait son neveu, le comte Roland, je crois, et Olivier, le preux et le courtois’ Die von Féron (2005: 19) untersuchten Verstexte aus der Zeit vor 1200 in der Base textuelle de l’ancien français enthalten 64 Beispiele mit ce cuit und ce croi gegenüber 7 Beispielen mit je cuit und je croi (BTAF; s. Stefan Schneider 236 <http: / / atilf.atilf.fr/ marchello.htm>). In den Texten nach 1200 nimmt der Anteil der Parenthesen der Form je+Verb zu. Die Texte aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts enthalten 17 Beispiele mit ce cuit und ce croi und 24 mit je cuit (je croi kommt nicht vor). Dieser Tatbestand führt Féron (2005: 19) zu dem Schluss, dass die doxastischen parenthetischen Teilsätze der Form je+Verb des Mittelfranzösischen und modernen Französisch aus ce+Verb entstanden seien und nicht aus je+Verb+que+Teilsatz. Der Übergang von ce+Verb zu je+Verb erkläre sich aus der Tendenz hin zur Wortstellung Subjekt-Verb. Ce+Verb, füge ich hinzu, war ursprünglich ein beigeordneter Satz mit einer auf den vorangehenden oder folgenden Satz verweisenden Anapher oder Katapher. 6 Entwicklung aus untergeordneten Sätzen Eine weitere Erklärungsmöglichkeit besteht darin, wie Jackendoff (1972: 95ff.) als Quelle für reduzierte parenthetische Teilsätze untergeordnete Konstituenten oder Sätze anzunehmen. Brinton (1996, 2008) kann, wie wir gesehen haben, in ihren Daten aus dem Alt- und Mittelenglischen keine eindeutige Bestätigung der These von Thompson und Mulac (1991a, 1991b) finden. Sie schlägt vielmehr als Ausgangspunkt altenglische Sätze mit þæs vor (s. Brinton 1996: 239-253, 2008: 44f.; s. auch Fischer 2007: 300- 305). Diese Partikel, in etwa mit dem heutigem so oder thus paraphrasierbar, leitet Sätze adverbialen Typs ein. Brinton (2008: 45) zitiert u. a. folgendes Beispiel (die Übersetzung ins moderne Englisch übernehme ich von ihr): (9) Habbað we to þæm mæran micel ærende, / Deniga frean, ne sceal þær dyrne sum / wesan, þæs ic wene (Beowulf, V. 270-272 [Krapp und Dobbie 1931- 1952]) ,we have for the famous lord of the Danes a great message; nor shall anything there be secret, so (of this) I think’ Adverbialsätze nach diesem Muster gibt es auch im Mittelenglischen; gelegentlich fällt jedoch die einleitende Konjunktion weg, was eine Reanalyse als reduzierter parenthetischer Teilsatz mit größerer Mobilität und Autonomie ermöglicht (Brinton 2008: 45): (10) Thee were nede of hennes, as I wene / Ya, moo than seven tymes seven tene (Chaucer, The Canterbury Tales, B. NP 3453-3454 [Benson 1987]) ,you have need of hens, as I think, yes more than seven times seventeen’ Die Entstehung einer neuen Kategorie: Reduzierte parenthetische Teilsätze 237 (11) I wol with lusty herte, fressh and grene, / Seyn you a song to glade you, I wene (Chaucer, The Canterbury Tales, E. Cl. 1173-1174 [Benson 1987]) ,I will with lusty heart, fresh and green / say to you a song to gladden you, I think’ Im Altenglischen werden diese Adverbialsätze von þæs eingeleitet, im Mittelenglischen vor allem von as, gelegentlich auch von so. Es handelt sich also um Konjunktionen ganz unterschiedlichen Ursprungs. Entscheidend für Brinton (1996, 2008) ist offenbar nicht die Entsprechung hinsichtlich der Konjunktionen sondern hinsichtlich des syntaktischen Musters. Auch im Frühneuenglischen, also ab ca. 1450, ist dieses Muster verbreitet. Bromhead (2009: 193, 225, 248, 265) stellt zahlreiche von as eingeleitete Einschübe fest (z. B. as I thinke, as me thinks, as I weene, as I trowe) und charakterisiert das Muster als „often found with first-person epistemic verb phrases used in 16th and 17th century English“. Bazzanella (2003: 253) weist die gleiche parenthetische Konstruktion (mit sì com’io credo) im Altitalienischen nach. Spezifische Untersuchungen zu einer vergleichbaren Konstruktion mit doxastischen Verben im Altfranzösischen liegen nicht vor. Buridant (2000), Féron (2005) und Glikman (2009) weisen jedoch auf die Existenz eines ähnlichen syntaktischen Musters hin. Buridant (2000: 643) erwähnt im Kapitel „La comparaison“ u. a. die Konstruktion si com+cuidier / croire / penser / estre a viaire / estre avis / entendre / sembler und führt folgendes Beispiel an (die Übersetzung ins moderne Französisch übernehme ich bis auf den parenthetischen Einschub von Buridant): (12) Car il en est molt poi, si com je croi et cuit, / Qui de vraie matere a cesti ci s’apuit (Adenet le Roi, Berte aus grans piés, V. 901-902 [Henry 1963]) ,Car il est bien peu de conteurs, je crois, qui, quant à l’authenticité de la matière traitée, puisse s’approcher de celle-ci’ Féron (2005: 15, 19f.) kann in den von ihr untersuchten Prosatexten des 13. Jahrhunderts (La Queste del Saint Graal, La Mort Artu, Tristan en prose) einige Fälle der „construction comparative“ mit si com je croi, si com je cuit, si com je pens und si com il me semble feststellen: (13) Or pensons de lui honorer et servir tant come il sera avec nos; car çaiens ne demorra il pas longuement, ce sai je bien, por la grant Queste dou Graal, qui prochienement comencera si com je croi. (La Queste del Saint Graal, S. 11 [Pauphilet 1923]) Féron (2005: 20) meint allerdings, dass in keinem der Fälle eindeutig eine Rücknahme der kommunikativen Verantwortung zu erkennen sei. In (13) Stefan Schneider 238 sei eine solche Interpretation aufgrund des Kontextes sogar ausgeschlossen. Der Tag der Queste dou Graal stehe schon im Vorhinein fest. Auch Glikman (2009: 165) führt ein altfranzösisches Beispiel mit si con je cuit an und definiert es als „construction clairement parenthétique“. In mittelfranzösischen Texten des 14. Jahrhunderts taucht die Konstruktion ebenfalls auf. Zink (1997: 179) erwähnt Beispiele mit si com m’est avis und si com me semble. In Texten französischer Entdecker, Reisender und Missionare, die sich im 17. und 18. Jahrhundert in Nordamerika (Nouvelle-France) aufhielten, tritt ebenfalls die dominante Rolle der Konstruktion mit comme+croire / dire / espérer / penser / remarquer / savoir / sembler / voir zu Tage (s. Schneider, im Druck). Diese Dominanz ist besonders eindeutig im Falle von croire: Die Parenthesen mit comme je crois sind dreimal so häufig wie diejenigen mit je crois. 7 Schluss Ich fasse nun die drei Erklärungsansätze zusammen und diskutiere sie im Hinblick auf die Entwicklung im Französischen. Auf den ersten Blick scheinen sie alle in Frage zu kommen. Für eine Entwicklung aus übergeordneten Sätzen spricht der Umstand, dass im Altfranzösischen der Anschluss von Komplementsätzen auch ohne Komplementierer durchaus üblich war. Ebenfalls für diesen Ansatz spricht, dass im Altfranzösischen das präverbale Pronomen ço oder ce sowohl im Hauptsatz (mit und ohne que) als auch im parenthetischen Einschub oder enklitischer Nachsatz möglich war (s. Glikman 2009: 105-107), d. h. eine Form wie z. B. ce cuit (oder ço quid, je nach Schreibweise) konnte, wie in Thompson und Mulac (1991b: 313f.) beschrieben, auf drei verschiedene syntaktische Weisen (vgl. Beispiele 2-4) eingesetzt werden. Dies gilt nur für das Altfranzösische (und teilweise noch für das Mittelfranzösische), denn im Neufranzösischen kommen asyndetische Komplementsätze kaum noch vor, wodurch die für den kategorialen Wandel notwendige Zwischenstufe fehlt. Gegen die Hypothese von Thompson und Mulac (1991a, 1991b) spricht der Umstand, dass das am meisten gebrauchte doxastische Verb cuidier ab dem 13. Jahrhundert an Bedeutung verliert und bald danach aus dem Gebrauch verschwindet (s. Féron 2005: 15, 19). Anders gesagt, die Form ce cuit, die aufgrund ihrer hohen Frequenz am ehesten für einen kategorialen Wandel in Frage kommt, ist im Mittelfranzösischen kaum verbreitet. Bei croire hingegen Die Entstehung einer neuen Kategorie: Reduzierte parenthetische Teilsätze 239 verliert das für die Hypothese von Thompson und Mulac (1991a, 1991b) entscheidende Argument der Häufigkeit an Wirkung. Wir erinnern uns: Féron (2005: 19) zählt in den Texten aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (neben 17 Fällen von ce cuit und ce croi) 24 Beispiele mit parenthetischem je cuit, aber kein einziges mit je croi. Es gibt noch weitere Aspekte, die dieser Hypothese Schwierigkeiten bereiten. Besonders in der Frühphase des Französischen waren Argumentsätze mit que höchstwahrscheinlich ein primär schriftsprachliches Phänomen, während satzfinale oder satzinterne doxastische Teilsätze in der Schriftsprache zwar vorkamen, wie wir gesehen haben, aber sicher charakteristischer für die gesprochene Sprache waren. Es stellt sich deshalb die Frage, ob man das eine Phänomen überhaupt als Ausgangspunkt für das andere annehmen kann. Zusätzlich stellt sich die Frage bezüglich der Chronologie der Ereignisse, denn die Hypothese von Thompson und Mulac (1991a, 1991b) geht von schon voll etablierten Argumentsätzen mit Komplementierer aus, während komplementiererlose Argumentsätze und parenthetische Sätze eine nachfolgende Phase darstellen. Die Erklärung über den ,Umweg’ der Argumentsätze mit Komplementierer erscheint fast kontraintuitiv. Für die Entwicklung aus beigeordneten Sätzen spricht, dass solche Teilsätze in der Tat schon in altfranzösischen Texten zu finden sind, allerdings hauptsächlich in Verstexten, was auf eine Nutzung zu rhetorischen Zwecken hinweisen könnte. Dass die bis 1200 häufigsten Formen ce cuit und ce croi ein präverbales Pronomen enthalten, ist sicherlich durch die altfranzösische Verb-Zweit-Stellung bedingt, kann aber gleichzeitig auch als Indiz für einen Ursprung als beigeordnete Sätze mit Katapher oder Anapher gewertet werden. D. h. ce cuit oder ce croi wurden anfangs einem Satz vorangestellt oder nachgestellt (vgl. Sergijewskij 1979 [1947]: 62). Ob man den Satz mit vorangestelltem ce cuit oder ce croi nun als Hauptsatz oder als beigeordneten Satz wertet, ist nicht wirklich ausschlaggebend und mehr eine Frage der Definition. Diese Sicht der Entwicklung deckt sich in etwa mit derjenigen von Fischer (2007: 311), nach der Hauptsätze und unabhängige Sätze der gleichen Form von Anfang an koexistierten, erstere besonders in der Schriftsprache, letztere verstärkt in der gesprochenen Sprache. Die unabhängigen und, wie ich hinzufügen möchte, wahrscheinlich meistens voran- oder nachgestellten Sätze sind gemäß dieser Hypothese aufgrund ihrer formelhaften Verwendung der Lexikalisierung unterworfen. Wir können annehmen, dass dadurch die darin enthaltenen Verben ihre Rektionsfähigkeit einbüßen und nicht mehr den ursprünglichen Distributionsbeschränkungen unterworfen sind (vgl. Stefan Schneider 240 Company Company 2006: 98; Waltereit 2006: 71). Wahrscheinlich betrifft dieser Prozess besonders kurze Sätze in nachgestellter Position. Ab diesem Zeitpunkt können Sätze wie z. B. ce cuit gelegentlich inmitten eines Satzes erscheinen. Teilweise ungelöst bleibt allerdings die Frage des späteren Übergangs von ce croi zu je croi. Zweifelsohne spielt hier die Tatsache eine Rolle, dass ab Anfang des 13. Jahrhundert die Verwendung des Subjektpronomens langsam zur Norm wird (s. Gamillscheg 1957: 116; Sergijewskij 1979 [1947]: 61). Féron (2005: 19) scheint eine direkte Substitution von ce mit je anzunehmen. Für Glikman (2009: 167) hingegen erfolgte der Übergang über eine Zwischenstufe: ce croi ce croi je je crois. In der Tat sind Formen wie ce croi je und ce pense je im Französischen des 15. und 16. Jahrhunderts verbreitet (vgl. auch Schneider, im Druck): (14) C’est feu gregeois, ce croy je, qui ne cesse / D’ardre, s’il n’est estaint par bon avis. (Charles d’Orléans, Poésies, S. 45 [Champion 1966]) Hier sind genauere Untersuchungen mit Daten vor allem aus mittelfranzösischen Texten notwendig, bevor ein endgültiges Urteil abgegeben werden kann. Die Herleitung aus untergeordneten Sätzen bietet sich als Erklärung in erster Linie deshalb an, weil satzinterne oder satzfinale Attributsätze nach dem Muster comme je crois im Mittelfranzösischen und im Französischen des 16.-18. Jahrhunderts äußerst verbreitet waren. Allerdings bereitet der Übergang comme je crois je crois Schwierigkeiten hinsichtlich der Chronologie. Die Datenlage ist hier noch sehr dürftig, aber es scheint doch so zu sein, dass im Altfranzösischen die Parenthesen mit je crois und (si) comme je crois erstens noch selten waren und zweitens ungefähr um die gleiche Zeit auftauchten. Die Konstruktion mit comme je crois könnte jedoch als eine Art Vorbild hinsichtlich der Voranstellung des Subjektpronomens gewirkt und auf diese Weise den Übergang ce croi ce croi je je crois begünstigt haben. Die Entstehung einer neuen Kategorie: Reduzierte parenthetische Teilsätze 241 Literatur Adenet le Roi. Berte aus grans piés. In Albert Henry (Hg.). 1963. Les œuvres d’Adenet le Roi. Vol. 4. Bruxelles: Université Libre de Bruxelles. Andersen, Hanne Leth 1997. Propositions parenthétiques et subordination en français parlé. Dissertation, Universität Kopenhagen. Bazzanella, Carla 2003. Discourse markers and politeness in Old Italian. In: Gudrun Held (Hg.). Partikeln und Höflichkeit. Frankfurt am Main: Peter Lang, 247- 268. Beeching, Kate 2002. 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Giampaolo Salvi forse cui Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi ∗ La frase relativa che troviamo al v. 63 del canto X dell’Inferno: (1) «Se per questo cieco / carcere vai per altezza d’ingegno, / mio figlio ov’è? e perché non è teco? ». / E io a lui: «Da me stesso non vegno: / colui ch’attende là per qui mi mena / forse cui Guido vostro ebbe a disdegno». (Dante, Inferno, 10, vv. 58-63) è stata interpretata in due modi diversi: (1) secondo l’interpretazione tradizionale si tratterebbe di una frase relativa estraposta che ha il suo antecedente in colui ch’attende là (cioè Virgilio) - i vv. 62-63 sarebbero quindi da interpretare: „mi conduce attraverso questi luoghi (l’Inferno) colui che attende là, che il vostro Guido disdegnò”; (2) secondo un’interpretazione proposta per la prima volta nella seconda metà del XIX sec., si tratterebbe invece di una frase relativa libera - l’interpretazione sarebbe: „colui che attende là mi conduce attraverso questi luoghi da qualcuno che il vostro Guido disdegnò”, dove la persona a cui si farebbe riferimento viene normalmente individuata con Beatrice (per altre possibilità, meno probabili e/ o inessenziali per il nostro argomento, v. il riassunto di Malato 2006). A questa doppia interpretazione se ne sovrappone un’altra, che riguarda l’ambito dell’avverbio forse: se accettiamo l’interpretazione (1), ∗ Nonostante le considerazioni prudenti formulate nella conclusione, le osservazioni che presento qui sono tutte dettate dalla convinzione che un approccio formale sia imprescindibile nello studio dei fatti linguistici, indipendentemente dalla loro origine (che provengano cioè dal linguaggio corrente o da un’opera letteraria, come nel caso studiato qui). Questo non dovrebbe dipiacere a Ulrich, che nei suoi lavori ha sempre difeso questo tipo di approccio ai fatti linguistici. Ringrazio Paola Benincà, Diego Dotto e Lorenzo Renzi per le loro preziose osservazioni su una stesura peliminare di questo lavoro. Gli esempi che non sono stati presi dalla Grammatica dell’italiano antico, provengono dalla banca dati del Tesoro della Lingua Italiana delle Origini (versione Italnet: http: / / www.lib.uchicago.edu/ efts/ ARTFL/ projects/ OVI/ ). Giampaolo Salvi 246 forse non può che riferirsi al contenuto della relativa („che forse il vostro Guido disdegnò”) - non potrebbe infatti riferirsi alla principale perché Dante non può avere dubbi sul fatto che la sua guida sia Virgilio (*„mi conduce forse… colui che attende là”); se accettiamo l’interpretazione (2), non si avrebbero difficoltà a riferire forse alla principale, sia che Dante esprima un dubbio sulla persona verso cui è diretto („mi conduce, credo, da qualcuno che…”), sia che il dubbio riguardi il raggiungimento della meta („mi conduce, se tutto va bene, da qualcuno che…”); ma anche nel caso della relativa libera è stato proposto di interpretare forse come riferito al contenuto della relativa: „mi conduce da qualcuno che forse il vostro Guido disdegnò”. 1 In un importante articolo molto documentato, Mirko Tavoni (2002) ha recentemente riaffrontato la questione da un punto di vista strettamente linguistico, cercando di dimostrare che, se si tiene conto delle restrizioni universali sulle grammatiche delle lingue particolari, è impossibile che forse possa riferirsi al contenuto della relativa: l’unica interpretazione possibile sarebbe quindi quella in cui la relativa è una relativa libera e in cui forse si riferisce alla frase principale: „…mi conduce forse da qualcuno che…”. In quanto segue vorremmo riesaminare anche noi la questione dal punto di vista linguistico, anche alla luce delle analisi offerte per la lingua del XIII sec. e dell’inizio del XIV sec. dalla Grammatica dell’italiano antico (Salvi-Renzi 2010). In particolare, nel par. 1 prenderemo in considerazione la struttura grammaticale che sottostà all’interpretazione (1) (relativa estraposta riferita a Virgilio); nel par. 2 quella che sottostà all’interpretazione (2) (relativa libera riferibile a Beatrice); nel par. 3, infine, affronteremo il problema dell’ambito di forse. Non toccheremo invece i problemi interpretativi più generali relativi alla struttura narrativa e concettuale dell’opera che possono aiutare a scegliere tra le due interpretazioni principali. 1 cui = Virgilio Prima di affrontare i problemi più strettamente grammaticali, notiamo che l’interpretazione tradizionale è quella che si inserisce meglio nel contesto discorsivo immediato (cfr. anche Malato 2006): Dante ha appena 1 Invece di un valore propriamente dubitativo, forse potrebbe avere anche un valore attenuativo, di cortesia (‘se così posso dire’), in tutte le interpretazioni proposte. Forse cui - Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi 247 detto: Da me stesso non vegno, cioè „non vengo di mia iniziativa”, e con la frase che segue individua chi lo conduce attraverso le plaghe infernali: „mi guida colui che attende là” (colui ch’attende là è il fuoco della frase; v. sotto 1.2) - dopo aver detto quale non è la causa del suo viaggio, ci dice quale è questa causa (il motore, come dice l’Ottimo); nell’interpretazione come relativa libera, invece, la relazione tra le due frasi sarebbe meno stretta: dopo aver precisato quale non è la causa del suo andare, Dante ci direbbe quale è il fine del suo viaggio: „Virgilio mi conduce da qualcuno che…” (qui il fuoco sarebbe piuttosto la relativa libera). 1.1 La frase relativa L’estraposizione della frase relativa era normale in italiano antico, come mostra l’es. (2) (Benincà-Cinque 2010, 5.2); anche l’accumulo di due relative su uno stesso antecedente era possibile, come in (3), dove abbiamo due relative restrittive (Benincà-Cinque 2010, 5.4), mentre nell’es. dantesco avremmo una relativa restrittiva (ch’attende là) e una relativa appositiva estraposta; infine, in it. ant. il pronome relativo obliquo cui poteva svolgere la funzione di oggetto diretto, come mostra (4) (Benincà-Cinque 2010, 2.2.3.1), mentre in it. mod. per questa funzione si usa che: (2) Di colui dé essere il danno di cui è ’l pro’. (Fiori e vita di filosafi, cap. 24, r. 155) (3) …e così credette che quella fosse persona che avesse vita, che istesse nell’acqua… (Novellino, 46, rr. 7-8) (4) …così avea ella conceputo d’uccidere me e le mie sorelle, cui ella avea ingenerate di suo corpo… (Brunetto Latini, Rettorica, p. 137, rr. 8-10) 1.2 La posizione del fuoco Come abbiamo notato sopra, l’interpretazione (1) richiede che il fuoco della frase sia l’espressione colui ch’attende là (il fuoco non può essere per qui perché per gli interlocutori è evidente che Dante sta attraversando l’Inferno, e non può essere la relativa estraposta, che ha valore appositivo e rappresenta quindi informazione parentetica). In genere però il fuoco di una frase, se è preverbale, deve precedere immediatamente il verbo, come negli ess. (5) (Benincà 2010a, 1.3.3), mentre nell’es. dantesco è separato dal verbo dal costituente (tematico) per qui: Giampaolo Salvi 248 (5) a. …quelle donne aiutino il mio verso / ch’aiutaro Anfïone a chiuder Tebe… (Dante, Inferno, 32, vv. 11-12) b. …non sanza diletto ti fier note… (Dante, Purgatorio, 7, v. 48) Ma nonostante la regola generale sia rappresentata effettivamente da ess. come (5), nella Commedia non sono infrequenti casi in cui il fuoco non precede immediatamente il verbo. In (6) diamo alcuni ess. (presi dai canti XXXI-XXXIII dell’Inferno) in cui il costituente in corsivo può con diversa probabilità essere considerato il fuoco della frase: 2 esso è separato dal verbo (che si trova in tutti gli ess., come anche in (1), in fine di verso) da un costituente o da due (nel secondo caso di (6b)): (6) a. Perché cotanto in noi ti specchi? (Dante, Inferno, 32, v. 54) b. …lunga vita ancor aspetta / se ’nnanzi tempo grazia a sé nol chiama. (Dante, Inferno, 31, vv. 128-129) c. …non sanza tema a dicer mi conduco… (Dante, Inferno, 32, v. 6) d. Perché tu mi dischiomi, / né ti dirò ch'io sia, né mosterrolti / se mille fiate in sul capo mi tomi. (Dante, Inferno, 32, vv. 100-102) e. …come ’l pan per fame si manduca… (Dante, Inferno, 32, v. 127) f. …se non piangi, di che pianger suoli? (Dante, Inferno, 33, v. 42) g. …ambo le man per lo dolor mi morsi… (Dante, Inferno, 33, v. 58) h. …al fondo de la ghiaccia ir mi convegna. (Dante, Inferno, 33, v. 117) Dante adotta anche in altri casi nella Commedia ordini delle parole „irregolari”, come si può vedere dal confronto tra (7a), in cui il clitico mi precede regolarmente il verbo flesso perché il verbo è preceduto da un costituente rematico (Benincà 2010a, 1.5), e (7b), in cui il clitico, nella stessa situazione sintattica, inaspettatamente segue il verbo: (7) a. …giunto mi vidi… (Dante, Paradiso, 2, v. 25) b. …dicere udi’mi… (Dante, Inferno, 32, v. 19) 2 È sicuro che sia da considerare fuoco (6f), con un pronome interrogativo, ed è molto probabile che lo stesso valga per (6a,d,g), con quantificatori, e per (6b), con un costituente negato. Forse cui - Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi 249 Se prescindiamo dal problema di forse, che tratteremo nel par. 3, possiamo concludere che l’interpretazione tradizionale dei vv. 62-63 non presenta problemi grammaticali particolari: la frase relativa estraposta corrisponde all’uso linguistico dell’it. ant., mentre l’ordine delle parole della frase principale, se si stacca da quello normale, è però consistente con l’uso dantesco nella Commedia. 2 cui = Beatrice Cercheremo di mostrare che la relativa libera prevista dall’interpretazione (2) non corrisponde perfettamente a quello che ci si aspetta in simili casi in it. ant., in particolare per quello che riguarda la sua connessione con il verbo reggente. Per fare questo, descriveremo prima gli aspetti rilevanti della sintassi della relativa libera in it. ant. (2.1) e la sintassi del verbo reggente menare (2.2), poi mostreremo come l’esempio si stacchi dagli esempi attestati di struttura simile (2.3). 2.1 La sintassi della relativa libera Le caratteristiche di una relativa libera sono così descritte da Benincà- Cinque (2010, 493; cfr. anche Benincà 2010b; in stampa): „La relativa senza antecedente manca di un elemento lessicale visibile che svolga la funzione di antecedente…; l’antecedente deve essere supposto in forma astratta, mentre il relativo è sempre un pronome lessicale… Il caso che appare sul pronome lessicalmente realizzato è sempre quello richiesto dal verbo della frase relativa, e può essere diverso da quello attribuito all’antecedente (non visibile) nella frase reggente…”. Gli autori non specificano quali combinazioni della funzione dell’elemento relativizzato e di quella dell’antecedente siano possibili e quali meno, anche se dai loro ess. si possono dedurre le linee generali di queste possibilità; Benincà (2010b) offre una tipologia più estesa utilizzando ess. tratti dai volgari centro-settentrionali. In quanto segue cercheremo di fornire un inventario il più possibile completo di queste combinazioni, utilizzando gli ess. di Benincà-Cinque e completandoli quando necessario con altri ess. 3 a) L’antecedente astratto di una relativa libera può sempre essere il soggetto della frase matrice, indipendentemente dalla funzione svolta dal 3 Tralasceremo il caso dell’uso possessivo di cui e degli avverbi relativi, per il quale cfr. le opere citate. Per l’it. mod. cfr. Cinque (2001, 1.2.1). Giampaolo Salvi 250 relativo all’interno della subordinata, sia esso soggetto, realizzato con chi (8a), oggetto diretto, realizzato con cui (8b), oggetto indiretto, realizzato con cui (8c) o con a cui (8c’), o complemento preposizionale, realizzato con P cui (8d): (8) a. Chi da lunga è da occhi, da lunga è da cuore. (Sommetta, par. 77 [fior.>tosc. occ.]) b. Beati cui alluma / tanto di grazia, che… (Dante, Purgatorio, 24, vv. 151- 152) c. …cui l’ira dà di piglio, / perde senno e consiglio. (Brunetto Latini, Tesoretto, vv. 2681-2682) c’. …a cui porge la man, più non fa pressa… (Dante, Purgatorio, 6, v. 8) d. Donna, invano labora / in cui non è dirittura… (Monte Andrea, Rime (ed. Contini), 2, vv. 25-26) b) Lo stesso vale per l’oggetto diretto della frase matrice: nella subordinata il sintagma relativo può essere soggetto, realizzato con chi (9a), oggetto diretto, realizzato con cui (9b), oggetto indiretto, realizzato con cui (9c) o con a cui (9c’), o complemento preposizionale, realizzato con P cui (9d): (9) a. Così va amore caëndo chi ’l vole… (Chiaro Davanzati, Rime, son. 1, v. 12) b. …quei che leva quando e cui li piace… (Dante, Purgatorio, 2, v. 95) c. …Ruberto non ha cui lasciarlo… (A. Pucci, Centiloquio, canto 83, v. 51) c’. …che l’uomo abbia a cui egli possa dire sue private parole… (Tesoro volgarizzato (ed. Gaiter), vol. 3, libro 7, cap. 43, p. 380, rr. 11-12) d. Amate da cui male aveste. (Dante, Purgatorio, 13, v. 36) c) Le possibilità sono più ristrette nel caso di un complemento preposizionale della frase matrice: nella subordinata il sintagma relativo può essere soggetto, realizzato con chi (10a), od oggetto diretto, realizzato con cui (10b). In queste strutture la preposizione che precede il pronome Forse cui - Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi 251 relativo (da chi (10a), di cui (10b)), non regge il pronome relativo, ma l’antecedente astratto (la struttura è cioè [P Ø [chi/ cui… ]]): 4 (10) a. Poi ch’io feci partenza / da chi tene il mio core im presgione… (Monte Andrea, Rime (ed. Minetti), canz. 2, vv. 79-80) b. …a guisa di cui vino o sonno piega… (Dante, Purgatorio, 15, v. 123) Ma, quando l’antecedente astratto è un complemento preposizionale, il sintagma relativo non può essere un complemento preposizionale: non abbiamo cioè strutture del tipo *[P Ø [P cui… ]], con due preposizioni, e non è possibile neanche cancellare una delle due preposizioni (*[P Ø [P cui… ]] o *[P Ø [P cui… ]]), se le due preposizioni sono diverse. 5 Questo 4 Non entriamo qui nel merito della struttura precisa da assegnare alle frasi relative libere, accontentandoci di strutture semplificate. Per una breve discussione cfr. Benincà (in stampa). 5 Alcuni degli ess. citati da Benincà-Cinque (2010) e da Benincà (2010b) sembrano mettere in questione questa generalizzazione, per cui li discutiamo brevemente qui di seguito. L’es. (i) può essere interpretato come un caso di Tema Sospeso (,colui da cui riceviamo offesa, gli sarà ripagato il doppio’) o forse di soggetto (,colui da cui riceviamo offesa, sarà ripagato il doppio’), una delle interpretazioni proposte da Benincà-Cinque (2010, 493), con la struttura: [Ø [di cui… ]], invece che come un caso di cancellazione della prima preposizione (,a colui da cui riceviamo offesa, sarà ripagato il doppio’, con la struttura [a Ø [di cui… ]]): (i) Di cui avem danno, fia pagato a doppio… (Schiatta Pallavillani, Tenzone con Monte Andrea, 73, v. 27) (Si noti che anche in (8a,c,c’) l’antecedente astratto potrebbe essere un Tema Sospeso, ma qui la grammaticalità di (8b,d) ci assicura che poteva essere anche un soggetto.) Per (ii) ci sembra più appropriata l’interpretazione di Contini, secondo cui omo che cade in mare è il soggetto prolettico della relativa libera che segue, con l’interpretazione: ‘non è da biasimare ciò a cui s’aggrappa un uomo che cade in mare’ - l’antecedente astratto della relativa avrebbe quindi funzione di soggetto, come in (8d); Benincà (2010b) interpreta invece ‘non è da biasimare un uomo che cade in mare per ciò a cui si aggrappa’, per cui si dovrebbe supporre [per Ø [a cui… ]]: (ii) non è da blasmare / omo che cade in mare a che s'aprende. (Giacomo da Lentini, Rime, 1, vv. 47-48 [tosc.]) Giampaolo Salvi 252 tipo di cancellazione è invece possibile, per la recuperabilità della cancellazione, se le due preposizioni sono uguali, come in (11), probabilmente con la struttura [P Ø [P cui… ]]: 6 (11)…non la muove contra cui si conviene… (Brunetto Latini, Rettorica, p. 89, r. 10) Non abbiamo trovato casi in cui l’elemento relativizzato abbia la funzione di oggetto indiretto, anche se ci aspettiamo che doveva essere possibile se realizzato con cui (come nel caso dell’oggetto diretto (10b)), ma impossibile se realizzato con a cui (come nel caso del complemento preposizionale: *[P Ø [a cui… ]]). d) Infine, l’antecedente astratto della relativa può essere un oggetto indiretto: in tal caso nella subordinata il sintagma relativo può avere la funzione di soggetto, realizzato da chi e sempre preceduto dalla preposizione a (con la struttura [a Ø [chi… ]] - (12a)), di oggetto diretto, realizzato da cui e preceduto dalla preposizione a (con la struttura [a Ø [cui… ]] - (12b)) oppure anche senza preposizione (12b’), probabilmente a causa del fatto che cui può fungere sia da oggetto diretto che da oggetto indiretto, è cioè portatore di caso accusativo-dativo, per cui la cancellazione della preposizione a, indicatrice di caso dativo (v. 2.2), è recuperabile in base al caso del pronome. Può inoltre avere la funzione di oggetto indiretto, sia preceduto da a (con la struttura [a Ø [cui… ]] o [a Ø [a cui… ]] In (iii) l’antecedente della relativa libera sarà il soggetto dell’infinito (‘non è cosa assennata che colui a cui è mandata tardi ad aprire una lettera’); infatti, in costruzioni simili il soggetto poteva anche essere espresso, come mostra l’es. (iv), dallo stesso testo (da Egerland 2010b, 2.5.2.2); non si dovrà quindi supporre una struttura del tipo [da parte di Ø [a cui… ]]: (iii) …nonn è senno tardare d’aprire lettera a cui è mandata. (Fiori e vita di filosafi, cap. 19, r. 15) (iv) Diritta cosa èe l’uomo essere prima buono e amare sé per sé medesimo e poscia trovare un altro simigliante di sé… (Fiori e vita di filosafi, cap. 20, rr. 103-104) 6 È probabile che fosse richiesta non solo l’identità della preposizione, ma anche, come in it. mod., quella della funzione. Forse cui - Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi 253 - (12c)), sia senza a (12c’). 7 Non può invece essere un complemento preposizionale, per la restrizione, vista più sopra, sulle doppie preposizioni (*[a Ø [P cui… ]]): (12) a. …e perdona a chi l’offende… (Bono Giamboni, Fiore di rettorica (red. beta), cap. 81, par. 48) b. …e a cui fu bisogno medicare, tosto fur fatti medici trovare. (Boccaccio, Teseida, libro 9, ott. 61) b’. …cui saluta fa tremar lo core… (Dante, Vita nuova, cap. 21, par. 2, v. 4) c. …però l’essemplo basti / a cui esperïenza grazia serba. (Dante, Paradiso, 1, vv. 71-72) c’. …daría cortesia cui à mistiere… (Dino Compagni, Se mia laude scusasse te sovente, v. 20) 2.2 La reggenza di menare Come abbiamo visto nel par. precedente, la sintassi delle relative libere dipende in gran parte dalle funzioni svolte dal relativo e dall’antecedente astratto. Nell’es. di Dante cui è oggetto diretto del verbo ebbe (a disdegno). L’antecedente sarebbe invece il complemento del verbo menare. Ma di che complemento si tratta? Il verbo menare regge un complemento di luogo, come in genere i verbi di movimento. Si tratta di un sottotipo di quelli che in 2.1 abbiamo chiamato complementi preposizionali, e può avere diverse realizzazioni sintattiche, che esemplifichiamo di seguito, aggiungendo agli ess. di menare (sotto (a)) anche ess. con andare (sotto (b)), un rappresentante caratteristico della categoria dei verbi di moto. Il complemento di menare può essere un sintagma preposizionale la cui testa è una preposizione di luogo (qui esemplificheremo solo con a) e il cui complemento è un sintagma nominale lessicale (13), un pronome libero in caso obliquo (14), un pronome interrogativo o relativo in caso obliquo (15) o 7 In realtà si potrebbe leggere anche daría cortesi’ a cui à mistiere, per cui l’es. non è strettamente probante, ma non ne abbiamo trovati altri, e l’analogia di (12b’) mostra che questo tipo doveva essere possibile. Cfr. anche (v), in cui l’antecedente astratto potrebbe essere un oggetto indiretto dislocato a sinistra, ma è più probabilmente un Tema Sospeso: (v) Ma, cui piacesse, tal amonizione / sì gli sarebbe ben per me renduta. (Fiore, 46, vv. 7-8) Giampaolo Salvi 254 un’infinitiva (16); al posto del complemento preposizionale possiamo avere anche un avverbio di luogo di vario tipo (17). Il complemento non può mai essere un clitico dativo o un pronome obliquo: 8 (13) a. …sovente mena / le lagrime dogliose a li occhi tristi. (Dante, Vita nuova, cap. 34, par. 10, vv. 10-11) a’. …a Dio mi menava… (Dante, Paradiso, 18, v. 4) b. …andarono a Luccha… (Registro di S.M. di Cafaggio, p. 270, r. 21) b’. Ma voi andaste a Pompeo… (Brunetto Latini, Pro Ligario, p. 179, r. 30-p. 180, r. 1) (14) a. …quelli, che veniavano o erano menati a lui… (Domenico Cavalca, Vita di Ilarione, cap. 6, p. 173, r. 7 [pis.]) b. …andai a lui… (Conto delle mercanzie di Pisa tenuto da Stefano Soderini, p. 468, r. 11) (15) a. …non sappiendo a che io fossi menato… (Dante, Vita nuova, cap. 14, par. 2) a’. Io ti scongiuro, fratello mio, che tu mi dichi a cui tu mi dei menare. (Leggenda aurea, cap. 164, p. 1457, rr. 15-17) b. …colui a cui andava questa donna… (Milione, cap. 18, p. 24, r. 13 [tosc.]) (16) a. Né morte ’l giunse ancor, né colpa ’l mena / (…) a tormentarlo… (Dante, Inferno, 28, vv. 46-47) b. …uno sindaco co· lloro andasse a giurare le comandamenta della Fede Cristiana… (Bono Giamboni, Libro, cap. 41, par. 12) (17) a. …in quanto mi menava là ove tante donne mostravano le loro bellezze. (Dante, Vita nuova, cap. 14, par. 1) a’. …il pensier che la vi mena. (Dante, Rime, 53, v. 18) 8 Nel seguente es. si dovrà leggere piuttosto salut’ a cui tu vai (cfr. (9c’,d), sopra): (vi) Saluta cui tu vai… (Finfo, Se long’uso mi mena, v. 67) Forse cui - Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi 255 a”. …vada là ove si vuole menare… (Bono Giamboni, Vegezio, libro 4, cap. 15, p. 160, r. 19) b. …per andar là… (Brunetto Latini, Tesoretto, v. 2176) b’. …quando v’andai… (Libro di Lapo Riccomanni, p. 533, r. 23) b”. …domanda’lo ove andava… (Novellino, 3, rr. 48-49) Il complemento di luogo, anche quando introdotto dalla preposizione a, è diverso dall’oggetto indiretto (Salvi 2010, 1.3). Esemplifichiamo con due verbi che tipicamente reggono un oggetto indiretto: convenire (ess. (a)) e dire (ess. (b)). L’oggetto indiretto può essere un sintagma preposizionale la cui testa è la preposizione a e il cui complemento è un sintagma nominale lessicale (18), un pronome libero in caso obliquo (19) o un pronome interrogativo o relativo in caso obliquo (20); può inoltre essere costituito da un pronome libero (21) o da un pronome interrogativo o relativo (22) in caso obliquo, senza preposizione; può essere infine un clitico in caso dativo (23): (18) a. Et perciò conviene a buon parliere mettere rimedi di parole incontra ciascuno caso contrario… (Brunetto Latini, Rettorica, p. 195, rr. 19-20) b. …disse a’ compagni… (Dante, Inferno, 12, v. 80) (19) a. A spegner questo foco / conviene a me trovare e tempo e loco. (Boccaccio, Filostrato, parte 2, ott. 115, vv. 7-8) b. E ’l duca disse a me… (Dante, Inferno, 6, v. 94) (20) a. …Filocolo a cui giucare conveniva… (Boccaccio, Filocolo, libro 4, cap. 96, p. 482, r. 33) b. …colui, a cui lo disse… (Dino Compagni, Cronica, libro 1, cap. 17, p. 145, r. 22) (21) a. …che me convenia fare tutti li suoi piaceri compiutamente. (Dante, Vita nuova, cap. 2, par. 7) b. …dicendo io lui che… (Dante, Vita nuova, cap. 33, par. 3) (22) a. …quelli cui conviene udire… (Brunetto Latini, Rettorica, p. 193, rr. 18- 19) Giampaolo Salvi 256 b. …già non è nessuno / cui non posse di botto / dicere u· laido motto. (Brunetto Latini, Tesoretto, vv. 1630-1632) (23) a. …perché gli conviene in molti modi di boci favellare. (Bono Giamboni, Fiore di rettorica (red. beta), cap. 69, p. 77, rr. 17-18) b. E Cristo gli disse… (Giordano da Pisa, Quaresimale fiorentino, 39, p. 204, r. 17 [pis.>fior.]) Si può pensare che mentre la preposizione che introduce il complemento di luogo è una vera preposizione testa di un sintagma preposizionale (e in alternanza con altre preposizioni), quella che introduce l’oggetto indiretto sia una specie di segna-caso, e in quanto tale omissibile se il suo complemento porti già in sé una marca esplicita di caso (come succede con i pronomi; cfr. Jaeggli 1982: 1.3.2). In ogni caso il complemento di luogo introdotto da a e l’oggetto indiretto rappesentano due funzioni sintattiche distinte. Dobbiamo aggiungere che anche con menare è possibile l’uso dell’oggetto indiretto quando si vuole indicare non semplicemente la meta del movimento, ma a favore di chi viene effettuata l’azione, come nei seguenti ess., dove l’uso di un clitico dativo mostra che si tratta effettivamente di un oggetto indiretto (questa interpretazione è particolarmente evidente in (24b,c)): 9 (24) a. Di sotto a monte Oliveto si è Beffage, lo luogo quando comandoe alli discepoli suoi che lli menassero l’asinella collo pulledro lo giorno di Pasqua fiorita. (Itinerario ai luoghi santi, p. 167, rr. 35-37 [fior.>lucch.]) b. …io v’òe menata Braguina, la quale io vi promisi, sana e ssalva e allegra. (Tristano Riccardiano, cap. 70, p. 132, rr. 1-2 [tosc. or./ umbro]) c. A tanto venne messer T. dinanzi da llui e menali lo suo cavallo e disse: «Montate a cavallo»… (Tristano Panciatichiano, p. 375, rr. 1-3 [tosc.]) Nonostante la distinzione sia sottile, nell’es. dantesco non può trattarsi di questa interpretazione (Dante non viene condotto da Beatrice per il bene 9 In (24a) si potrebbe anche leggere ch’elli, senza oggetto indiretto. Nei due ess. seguenti il testo è frutto di congettura da parte dell’editore: (vii)a. …e Dio vi mena l’inverno, e egli lo caccia. (Tesoro volgarizzato (ed. Gaiter), vol. 3, libro 7, cap. 36, p. 351, r. 4) b. Menaglile. (Novellino, 76, r. 21) Forse cui - Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi 257 di Beatrice, ma per quello di Dante stesso), e il complemento di menare deve essere un complemento di luogo. 10 2.3 Cui può essere complemento di luogo? Nell’es. dantesco all’inizio della relativa abbiamo cui senza preposizione. Nella descrizione in 2.1 abbiamo visto che un cui senza preposizione in una frase relativa libera è possibile se a) all’interno della relativa svolge la funzione di oggetto diretto (8b)/ (9b)/ (12b’) o di oggetto indiretto (8c)/ (9c)/ (12c’), e b) l’antecedente astratto ha la funzione di soggetto (8b,c), di oggetto diretto (9b,c) o di oggetto indiretto (12b’,c’). Le combinazioni possibili sono cioè: antecedente astratto: soggetto / relativo: oggetto diretto - es. (8b) soggetto / oggetto indiretto (8c) oggetto diretto / oggetto diretto (9b) oggetto diretto / oggetto indiretto (9c) oggetto indiretto / oggetto diretto (12b’) oggetto indiretto / oggetto indiretto (12c’) Nessuna di queste combinazioni corrisponde a quella dell’es. dantesco, dove il relativo è sì oggetto diretto, ma, come abbiamo visto in 2.2, l’antecedente astratto è complemento preposizionale. La forma che assume questa combinazione, sempre in base alla descrizione di 2.1, è P + cui, come nell’es. (10b); più precisamente ci aspetteremmo a cui (in it. ant. andare/ condurre da qn si diceva andare/ menare a qn, come si vede da (13a’,b’); cfr. Andreose 2010: 637). 11 Aggiungiamo che nell’unico es. dantesco in cui il complemento di menare è rappresentato da una frase relativa libera, questa è introdotta, come atteso, da un avverbio di luogo: (25)Menocci ove la roccia era tagliata… (Dante, Purgatorio, 12, v. 97) A questo punto ci possiamo chiedere come mai nel testo di Dante non troviamo mi mena forse a cui Guido vostro ebbe a disdegno, che è quello che ci aspetteremmo, in base alla nostra descrizione in 2.1-2, se la relativa in questione è una relativa libera. Possiamo prevedere almeno tre possibilità: 10 Ci stacchiamo qui dall’interpretazione di Benincà (2010b) che classifica il complemento di menare come oggetto indiretto. 11 Non abbiamo trovato, per il momento, ess. strutturalmente paralleli in cui la preposizione a compaia effettivamente. Giampaolo Salvi 258 1) non si tratta in realtà di una relativa libera, per questo la sua sintassi non corrisponde a quella delle relative libere; questa soluzione escluderebbe l’interpretazione (2), indirizzandoci verso l’interpretazione (1); 2) c’è stato un errore nella trasmissione del testo; non siamo in grado di affrontare questa questione, ma possiamo notare quanto segue: 12 nonostante le scelte degli editori critici per questo punto siano costanti (non c’è mai a), il problema non è però mai stato posto nei termini grammaticali che abbiamo esplicitato sopra, per cui neanche gli editori critici che accettano l’interpretazione (2) (come Petrocchi) si saranno posti il problema della presenza/ assenza della preposizione a. In effetti l’interpretazione (2) presuppporrebbe che si debba intervenire nel testo e ipotizzare che ci sia stata una corruttela nei piani alti della tradizione, con la conseguente sparizione della lezione originaria; a favore di questa soluzione starebbe il fatto che l’interpretazione (1) sia tendenzialmente facilior (tanto che nessuno l’ha messa in discussione per secoli), e quindi la caduta di a sarebbe tutto sommato giustificabile; 13 3) Dante si stacca qui dall’uso corrente e usa una forma senza preposizione, invece di quella attesa con preposizione, forse per una scelta di tipo latinizzante che lo spinge a preferire forme sintetiche a quelle analitiche (scelta favorita dal fatto che in certi casi cui alterna effettivamente con a cui). Una scelta latinizzante non ci dovrebbe sorprendere in base a quello che diremo sotto in 3.2, ma non possiamo per il momento addurre ess. paralleli a questo. 3 forse cui 3.1 Estrazione o anteposizione? Come abbiamo notato nel par. introduttivo, nell’interpretazione (1) forse può essere interpretato solo con ambito sulla relativa. A questo fa difficoltà la sua posizione prima del relativo, che per questo è stata oggetto di 12 Ringrazio Diego Dotto per avermi chiarito questi problemi. 13 Dall’apparato dell’ed. Petrocchi risulta che il codice Madrileno ha forsa cui, che in teoria potremmo leggere fors’ a cui; la lezione è però isolata, e trattandosi di un codice ligure potrebbe essere semplicemente la forma ligure forsa per forse. Anche nei manoscritti più rappresentativi della tradizione settentrionale, che nella concezione di Paolo Trovato (cfr. Trovato 2007) dovrebbero essere più vicini all’archetipo, si ha costantemente forse cui, come mi comunica Elisabetta Tonello, che ha avuto la gentilezza di controllare questo dato. Forse cui - Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi 259 discussione tra gli interpreti moderni. In particolare Mirko Tavoni (2002) nota che in casi simili a questo in it. mod. forse potrebbe essere interpretato solo con ambito sulla principale, e infatti frasi come (a), dove forse si trova nella principale, non sono sinonime di frasi come (b), dove forse si trova nella relativa: 14 (a) Giulia forse ti porterà a vedere il film di cui Piero ti ha parlato (b) Giulia ti porterà a vedere il film di cui Piero forse ti ha parlato Tavoni attribuisce questo fatto a una restrizione che impedisce l’estrazione di materiale dalle frasi relative, un caso particolare della restrizione sull’estrazione dalle „isole” proposta da Ross (1986), restrizione che, avendo valore universale, doveva valere anche per la lingua di Dante. Esiste tuttavia un’altra possibilità, che Tavoni non prende in considerazione, e cioè che forse nel nostro es. non sia stato estratto dalla relativa, ma che sia la prima parola della subordinata relativa stessa; dobbiamo cioè considerare la possibilità che in it. ant. il sintagma relativo potesse occupare una posizione diversa dalla prima nell’ordine lineare dei costituenti all’interno della relativa. Anche questa possibilità sembrerebbe però esclusa in generale: riportiamo qui lo schema della periferia sinistra della frase stabilito per l’it. ant. da Paola Benincà (2010a, 1.1.1): 4 sintagma relativo cheT 4 3 Cornice / Tema Sospeso T 3 2 Topic T 2 1 Operatore/ Focus che/ VT 1 # 0 soggetto V FLESSO T 0 Come si vede, il sintagma relativo occupa la prima posizione assoluta nella frase e precede qualsiasi altro costituente della subordinata. Esiste però un certo numero di ess., in Dante e in altri autori, in cui davanti al sintagma relativo troviamo un altro costituente: 14 Tavoni distingue ess. come questi da altri in cui l’evento della principale è dato come presupposto e un forse della principale può avere ambito sulla relativa. In ess. di quest’ultimo tipo non abbiamo estrazione di forse, ma l’ambito dell’avverbio si estende su tutta la frase complessa. Questa interpretazione non è possibile per l’es. dantesco. Giampaolo Salvi 260 a) esiste almeno un altro es. dantesco in cui il relativo è preceduto da forse (in una relativa con antecedente) e in cui forse deve essere interpetato all’interno della relativa (‘di cui forse voi intendete’): 15 (26) Madonne, lo fine del mio amore fue già lo saluto di questa donna, forse di cui voi intendete… (Dante, Vita nuova, cap. 18, par. 4) b) abbiamo inoltre la costruzione con doppia dipendenza (o concorrenza) del relativo, in cui il pronome relativo è anteposto a una frase subordinata da cui dipende e dalla quale non potrebbe essere normalmente estratto (Benincà-Cinque 2010, 5.3). Si consideri (27a), in cui il sintagma relativo è anteposto alla frase gerundiva da cui dipende, e (27b), in cui il sintagma relativo precede la frase condizionale da cui dipende: (27) a. Platone fece più libri, tra i quali ne fece uno de la immortalità dell’anima; el quale libro legendo un altro filosafo, sì si gittò a terra d’un muro, vogliendo morire per desiderio d’avere megliore vita. (Fiori e vita di filosafi, cap. 8, rr. 28-31) b. Et questo appare manifestamente in alcuno savio che non sia parlatore, dal quale se noi domandassimo uno consiglio certo nollo darebbe tosto cosìe come se fosse bene parlante. (Brunetto Latini, Rettorica, p. 15, rr. 13-16) Il relativo non potrebbe essere estratto da una frase gerundiva (*el quale libro un altro filosafo si gittò a terra d’un muro legendo) o da una frase condizionale (*dal quale certo non darebbe tosto uno consiglio se noi lo domandassimo; cfr. per l’it. mod. Cinque 2001, 1.1.13); ma in questi ess., dove la subordinata si trova in inizio di frase, il relativo può essere anteposto alla subordinata stessa (prima del subordinatore se in (27b)). 16 In it. ant., a differenza dell’it. mod. (Cinque 2001, 1.1.11), la doppia dipendenza del relativo era possibile anche a partire da una relativa libera, come nei seguenti ess., dove un sintagma relativo che dipende dalla relativa libera (ne la quale, sanza la qual), precede il sintagma relativo introduttore della relativa libera stessa (chi): (28) a. Non ti ponere in casa troppo alta, ne la quale chi vi sta il convegna temere… (Fiori e vita di filosafi, cap. 24, rr. 59-60) 15 Tavoni è di parere contrario, ma non vediamo come forse possa essere interpretato nella principale. Il seguente es. petrarchesco in teoria permette le due possibilità: (viii) I’ non son forse chi tu credi. (Petrarca, Canzoniere, 23, v. 83) 16 In it. mod. in questi casi il relativo resta piuttosto all’interno della frase gerundiva: avendo letto il quale, un filosofo si gettò a terra da un muro (Cinque 2001, 1.1.7). Forse cui - Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi 261 b. …seggendo in piuma, / in fama non si vien, né sotto coltre; / sanza la qual chi sua vita consuma, / cotal vestigio in terra di sé lascia, / qual fummo in aere e in acqua la schiuma. (Dante, Inferno, 24, vv. 48-51) c) Nel seguente es., con relativa libera in funzione di interrogativa (Munaro 2010, 3.4; Benincà-Cinque 2010, 4.11), un complemento infinitivale compare anteposto al relativo: 17 (29) A cigner lui qual che fosse ’l maestro, / non so io dir… (Dante, Inferno, 31, vv. 85-86) Crediamo che in tutti questi ess. fosse presente in Dante il modello del latino, che, specialmente in poesia, permetteva che il pronome relativo comparisse non solo in prima posizione assoluta nella relativa, ma anche in seconda (e, più raramente, in posizioni più interne), come mostrano i seguenti ess. tratti dall’Eneide: 18 (30) a. O Regina, novam cui condere Iuppiter urbem / iustitiaque dedit gentis frenare superbas, / Troes te miseri, ventis maria omnia vecti, / oramus, prohibe infandos a navibus ignis, / parce pio generi, et propius res aspice nostras. (Verg., Aen. I.522-526) b. Unus abest, medio in fluctu quem vidimus ipsi / submersum (Verg., Aen. I.584-585) c. Cithara crinitus Iopas / personat aurata, docuit quem maximus Atlas. (Verg., Aen. I.740-741) d. qualis ubi in lucem coluber mala gramina pastus, / frigida sub terra tumidum quem bruma tegebat, / nunc, positis nouus exuuiis nitidusque iuuenta, / lubrica conuoluit sublato pectore terga / arduus ad solem, et linguis micat ore trisulcis. (Verg., Aen. II.471-475) Non abbiamo trovato ess. latini in cui l’elemento anteposto al relativo sia un avverbio con il significato di ‘forse’, ma nonostante questo ci sembra che l’anteposizione di forse in (26) e (se si accetta l’interpretazione (1)) 17 Cfr. anche l’es. (ii) della n. 5, nell’interpretazione che accettiamo. Nel seguente es. i SN in inizio di frase saranno piuttosto Temi Sospesi all’inizio della principale, indipendenti dalla relativa (i Temi Sospesi non obbediscono alle restrizioni di isola, possono quindi riferirsi a un costituente interno (qui il soggetto) di una relativa libera; cfr. Cinque 1991): (ix) Lëaltade, in cui si truova, / di fin pregio si rinnuova. (…) Villania, in cui regna, / cortesia lo disdegna. (Garzo, Proverbi, dist. 117 e 221) 18 Per il tipo esemplificato in (28), cfr. anche 3.2.1, sotto. Giampaolo Salvi 262 anche in (1), si possa attribuire a questo schema strutturale, e questo per almeno due ragioni: a) il latino rappresenta per Dante un modello costante che lo porta ad adottare soluzioni sintattiche divergenti rispetto alla norma del suo tempo, come esemplificheremo in 3.2; e b) come vedremo in 3.3, indipendente dal modello latino, esiste in it. ant. una tendenza all’anteposizione degli avverbi di frase nella periferia sinistra che può aver favorito l’anteposizione di forse in (1). 3.2 Latinismi sintattici in Dante Diamo qui alcuni altri ess. di costruzioni sintattiche usate da Dante che riproducono modelli latini e si staccano dalla norma corrente dell’it. ant. 3.2.1. Doppia dipendenza del relativo con relative libere Calcato sul latino è il tipo esemplificato sopra in (28), che compare, oltre che nella Commedia, solo in opere tradotte o imitate dal latino. Cfr. il seguente es.: (31) …magna vis conscientiae, quam qui neglegunt (…), se ipsi indicabunt. (Cic., Cat. 3.27) 3.2.2 Costruzione fattitiva Come in it. mod., se il verbo all’infinito di una costruzione fattitiva è transitivo, il soggetto lessicale dell’infinito può essere espresso con un oggetto indiretto (32a) o con un complemento d’agente (32b) (Cennamo 2010, 2.4.2.1.1); nella Commedia (e in Petrarca) troviamo però anche casi in cui è espresso da un oggetto diretto (33) (Cennamo 2010, 2.4.2.1.2), probabilmente come imitazione della costruzione latina dell’accusativo con l’infinito, possibile (perlopiù in poesia) anche con il verbo facio (34) (Traina-Bernardi Perini 1972, 168-169): (32) a. …e fanno all’uomo dimenticare lo bene… (Tesoro volgarizzato (ed. Gaiter), vol. 3, libro 6, cap. 38, p. 125, rr. 2-3) b. Qualunque persona de la città di Firenze (…) vorrà venire a questa compagnia, debbiasi fare scrivere per lo notaio de la compagnia ne’ libri intra gli altri de la compagnia… (Compagnia della Madonna d’Orsammichele, p. 668, r. 33-p. 669, r. 1) (33) …el cominciò a far sentir la terra / de la sua gran virtute alcun conforto… (Dante, Paradiso, 11, vv. 56-57) Forse cui - Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi 263 (34) …nati coram me cernere letum / fecisti… (Verg., Aen. II.538-539) 3.2.3 Uso del riflessivo Come in it. mod., un riflessivo cliticizzato a un infinito può riferirsi solo al soggetto (non espresso) dell’infinito: in (35a), per es., si riferisce al soggetto dell’infinito, che è coreferenziale con l’oggetto diretto di sentia, cioè il relativo che ha come antecedente le ombre. Un clitico che si riferisca al soggetto della frase matrice non può essere riflessivo se il soggetto della frase matrice non è coreferenziale con il soggetto dell’infinito: così in (35b), dove il soggetto dell’infinito è Atis, il clitico che si riferisce al soggetto del verbo matrice Creso, è gli (e non si): (35) a. …(l’ombre,) ch’i’ sentia / pietosamente piangere e lagnarsi… (Dante, Purgatorio, 20, vv. 17-18) b. …Creso, re di Lidia, vide in sogno essergli tolto Atis, suo figliuolo, da ferro… (Boccaccio, Esposizioni, 1373-74, c. VII (i), par. 68) Ma nella Commedia troviamo anche casi in cui un clitico riflessivo è coreferenziale con un soggetto della frase matrice diverso dal soggetto dell’infinito (Egerland 2010a, 455): in (36) il soggetto dell’infinito è ‘noi’ (= ci), diverso da ella, e quindi ci aspetteremmo ella ci vide passarle davante / passare davante a lei: (36) …ella ci vide passarsi davante. (Dante, Inferno, 6, v. 39) Anche qui si tratta di imitazione del latino, in cui i riflessivi potevano avere come antecedente un elemento saliente in una frase sovraordinata: (37) Ubii (…) magnopere orabant ut sibi auxilium ferret… (Caes., Gall. IV.16) 3.3 Avverbi nella periferia sinistra Siccome il loro ambito si estende su tutta la frase, una delle posizioni preferite degli avverbi di frase è la periferia sinistra della frase. Nelle frasi subordinate si trovano normalmente dopo il complementatore che (38), ma possono anche precederlo (39): 19 (38) Pazientemente sostiene la fatta ingiuria quegli che piatosamente si ricorda che forse anche ha egli in sé cosa onde debbia essere sostenuto… (Bartolomeo da San Concordio, Ammaestramenti, dist. 30, cap. 5, par. 7 [pis.>fior.]) 19 Anche per questo es. ci stacchiamo dall’interpretazione di Tavoni, ma cfr. Medici 1984. Giampaolo Salvi 264 (39) Se qui per dimandar gente s’aspetta, / (…) io temo forse / che troppo avrà d'indugio nostra eletta. (Dante, Purgatorio, 13, vv. 10-12) Particolarmente interessanti sono quegli ess. in cui abbiamo un subordinatore complesso, composto con che, dove forse precede che e si trova quindi inserito nel mezzo del subodinatore: 20 (40) a. Messere, cavalca, per Dio, per la via di Missina infino a L miglia per ciò forse che il re Carlo si levarà dalla terra… (Leggenda di messer Gianni di Procida, p. 64, rr. 20-22 [tosc.]) b. … tra noi dico, avvegna forse che tra altra gente addivenisse, e addivegna ancora, sì come in Grecia, non volgari ma litterati poete queste cose trattavano… (Dante, Vita nuova, cap. 25, par. 3) Classificheremmo qui anche gli ess. seguenti, con doppio complementatore (Meszler-Samu 2010, 2.1), che normalmente vengono classificati come casi della forma forse che / forseché (Medici 1984) - ma il fatto stesso che la forma forseché sia potuta nascere richiede l’esistenza di costruzioni in cui forse precedeva che: (41) a. …sono apparito alli occhi a molti che forse che per alcuna fama in altra forma m’aveano imaginato… (Dante, Convivio, libro 1, cap. 3, par. 5) b. Se tu se’ offeso, ché lo figliuolo tuo sia morto u per altro modo, tu non puoi sapere se però tu se’ offeso, che forse che quelli fece lo facto tuo et lo bene tuo. (Giordano da Pisa, Prediche, p. 154, rr. 18-20 [pis.]) L’anteposizione nella periferia sinistra, in una posizione che precedeva che, riguardava naturalmente anche altri avverbi frasali: (42) a. …se quelli del castello possono émpiere ei fossi d'acqua, sì dovemo sapere che somigliantemente che ’l castello n’è meno leggiermente cavato. (Reggimento de’ principi volgarizzato, libro 3, part. 3, cap. 21, p. 310, rr. 23- 25 [sen.]) b. …basti che solamente che nella detta carta si contenga che… (Capitoli della Compagnia dei Disciplinati della città di Firenze, p. 8, rr. 22-23) 20 Cfr. con la soluzione più corrente: (x) E avvegna che forse piacerebbe a presente trattare alquanto de la sua partita da noi, non è lo mio intendimento di trattarne qui per tre ragioni… (Dante, Vita nuova, cap. 28, par. 2) Forse cui - Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi 265 Questa tendenza a situare l’avverbio forse in una posizione che precedeva il complementatore può aver contribuito a rendere più accettabile all’orecchio di Dante e dei suoi lettori il latinismo sintattico del v. 63 del canto X dell’Inferno. 4 Conclusione L’esame delle strutture linguistiche che sottostanno alle due interpretazioni correnti dei vv. 62-63 del canto X dell’Inferno non ci permette di giungere a conclusioni definitive riguardo al problema filologicointerpretativo, non ci permette cioè, da solo, di decidere quale sia la struttura e, in ultima analisi, quale sia il significato della frase (chi è l’oggetto del disdegno di Guido: Virgilio o Beatrice? la ragione o la teologia? ). Questo esame ha però contribuito a una migliore comprensione della lingua di Dante e, in particolare, a definire meglio quali problemi solleva questa frase dal punto di vista grammaticale: qualsiasi interpretazione si accetti, la struttura sintattica della frase si stacca da quello che doveva essere l’uso corrente della lingua al tempo di Dante: 1) nel caso dell’interpretazione (1) per quello che riguarda la posizione del fuoco (1.2) e la posizione dell’avverbio di frase forse (par. 3); 2) nel caso dell’interpretazione (2) per la mancanza della preposizione a richiesta dal verbo di moto (par. 2). Abbiamo mostrato che, delle due difficoltà sintattiche all’interpretazione (1), la prima (posizione del fuoco) corrisponde all’uso linguistico di Dante nella Commedia, e non rappresenta quindi un ostacolo; la seconda rappresenterebbe invece uno dei tanti latinismi sintattici di Dante (e di altri autori). Anche la difficoltà sintattica che si oppone all’interpretazione (2) rimanda probabilmente a un latinismo, ma non abbiamo potuto approfondire qui questa idea. Dobbiamo in ogni caso accettare che la lingua di un autore possa staccarsi da quello che era l’uso corrente del suo tempo, anche se i limiti entro cui possono muoversi queste „infrazioni“, devono essere stabiliti con precisione. Da un punto di vista più generale, il problema studiato mette in luce una difficoltà e un limite inerente allo studio delle fasi passate di una lingua: non abbiamo accesso diretto al significato degli enunciati. Si tratta di uno degli aspetti del problema più generale che riguarda la mancanza di tutti quei dati linguistici che, nel caso delle lingue vive, possono essere attinti facendo appello direttamente alla competenza dei parlanti, e che comprendono i giudizi di grammaticalità (quello che si poteva dire e, soprattutto, quello che non si poteva dire), le informazioni fonologico- Giampaolo Salvi 266 intonative e, appunto, informazioni precise sul significato degli enunciati, un aspetto messo in luce più raramente (ma cfr. Fortson 2003). A causa di queste restrizioni, la ricostruzione delle strutture grammaticali di una fase passata potrà sempre essere solo parziale. Da una parte questo significa, più banalmente, che ci saranno sempre esempi concreti per i quali non potremo fornire una analisi grammaticale completa e/ o definitiva (come forse nel caso studiato qui), dall’altra che anche la profondità e il dettaglio ai quali potrà spingersi la ricostruzione dei sistemi grammaticali passati, saranno sempre di gran lunga minori che nel caso delle lingue vive. Per tornare al nostro esempio, se sapessimo che cosa aveva in mente Dante, potremmo, oltre che decidere che cosa significa precisamente forse (dubbio o semplice attenuazione? ) e disdegno (‘disprezzo, rifiuto’, ‘disinteresse, indifferenza’, ‘irritazione, rabbia, indignazione’? ), 21 non solo sapere come classificare la frase relativa del v. 63, ma anche stabilire con più precisione quali sono i limiti dei latinismi sintattici da lui usati o, più in generale, ammissibili per la competenza linguistica del tempo. 21 Cfr. Valente 1984 e Camboni 2005. Forse cui - Il contributo della linguistica all’interpretazione dei testi antichi 267 Bibliografia Andreose, Alvise 2010. Il sintagma preposizionale. In: Salvi, G. - Renzi, L. (a cura di). Grammatica dell’italiano antico. Bologna, il Mulino, 617-714. Benincà, Paola 2010a. La periferia sinistra. In: Salvi, G. - Renzi, L. (a cura di). Grammatica dell’italiano antico. Bologna, il Mulino, 27-59. Benincà, Paola 2010b. Headless relatives in some Old Italian varieties. In: D’Alessandro, R.A. - Ledgeway, A. - Roberts, I. (eds.). Syntactic variation. The dialects of Italy. Cambridge, Cambridge University Press, 55-70. Benincà, Paola (in stampa). Lexical complementizers and headless relatives. In: Brugè, L. et al. (eds.). Functional Heads. New York, Oxford University Press. Benincà, Paola - Cinque, Guglielmo 2010. La frase relativa. In: Salvi, G. - Renzi, L. (a cura di). Grammatica dell’italiano antico. Bologna, il Mulino, 469-507. Camboni, Maria Clotilde 2005. Voce disdegno. In: Beltrami, P.G. 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Georg Kremnitz Zur Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken Katalanisch, Baskisch und Galicisch im Vergleich Was tut der Soziolinguist oder Sprachsoziologe, wenn formale Sprachwissenschaftler ihn um einen Beitrag für eine Festschrift bitten? Wenn er klug ist, lehnt er ab. Wenn er sich aber mit dem zu Ehrenden seit Jahrzehnten persönlich verbunden fühlt, dann sucht er mit aller Kraft nach einem Berührungspunkt. Ob er ihn gefunden hat, müssen die Leser entscheiden. Ich möchte mit den folgenden Seiten meiner Verbundenheit mit Ulrich Wandruszka Ausdruck geben, die seit einem gemeinsamen Semester vor vielen Jahren hier in Wien andauert. Vielleicht kann er meine Überlegungen mit der Nachsicht lesen, die die formale Sprachwissenschaft manchmal für das hat, was vor fünfundzwanzig Jahren in der verblichenen DDR etwas spöttisch als „Pop-Linguistik“ bezeichnet wurde. „Es kommt auf die Sekunde an …“ Referentielle Sprachformen werden in großer Zahl geschaffen; nur manche von ihnen haben schließlich in den Gesellschaften Erfolg, die die entsprechenden Sprachen verwenden. Für den Misserfolg oder die zögerliche Durchsetzung einer Referenzform gibt es viele Gründe: sie können mit der Qualität des Vorschlages zu tun haben, sie können aufgrund ideologischer Ausrichtungen scheitern, die in einer Gesellschaft nicht mehrheitsfähig sind, sie können - vor allem bei dominierten Sprachen - in persönlichen Animositäten liegen, usw. Die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Bislang wurden nur selten Überlegungen über die Frage angestellt, ob der Zeitpunkt, zu dem ein bestimmter Vorschlag einer Referenzform gemacht wird, nicht auch von Bedeutung sein könnte. Eine stringente Antwort auf die Frage würde ein vergleichendes Vorgehen über viele Sprachen, Gesellschaften und Augenblicke notwendig machen, das weit über den Umfang eines Aufsatzes von wenigen Seiten hinausgehen müsste. Dabei wären die unterschiedlichen Faktoren zu gewichten und auf ihre Bedeutung zu überprüfen. Es ist allerdings möglich, dass ein solcher multilateraler Vergleich für potentielle Schöpfer von Referenzformen einige wichtige Aufschlüsse brächte und daher ein sinnvolles Forschungsprojekt für die Zukunft sein könnte. Hier möchte ich das Be- Georg Kremnitz 270 obachtungsfeld auf die drei wichtigsten dominierten Sprachen in Spanien begrenzen, sozusagen als explorative Studie zu einem größeren Vorhaben. Es wird vielleicht sinnvoll sein, zunächst kurz die jeweilige Genese der Referenzform zu referieren, dabei die wichtigsten Variablen zu diskutieren um dann zu vorsichtigen Folgerungen zu kommen, und schließlich, chronologisch vorzugehen. 1 Katalanisch Wie bekannt, wird der Beginn der katalanischen Renaixença konventionell auf das Jahr 1833 gelegt, in dem Bonaventura Carles Aribau sein als Oda a la Pàtria bekanntgewordenes Gedicht publizierte 1 . Allerdings wären auch etliche andere Daten als Kandidaten in Frage gekommen; seit dem Beginn des Jahrhunderts kann man erste Äußerungen der Wiederbelebung des Katalanischen finden, so etwa die Publikation der ersten modernen Grammatik 1814 oder 1815 2 . Sicher ist indes, dass die Bewegung ab dem vierten Jahrzehnt des Jahrhunderts rasch an Intensität gewinnt und 1859, mit der Wiedererrichtung der Jocs Florals von Barcelona, auch gesellschaftliche Bedeutung bekommt. Mit dieser Wiedergründung beginnen auch die ersten Auseinandersetzungen um die zu verwendende sprachliche Referenzform. Zunächst stehen sich in erster Linie zwei Gruppen gegenüber: die vor allem gelehrten Vertreter des Rückgriffs auf die Traditionen der mittelalterlichen Texte (das Katalanische wurde seit dem 12. Jahrhundert als Sprache für administrative Texte verwendet und entwickelte seit dem Wirken Ramon Llulls eine große eigenständige Literaturtradition) und die volkstümlicheren (? ) Verfechter des „català que ara es parla“ mit allen kastilischen Einflüssen. Schon 1891 macht der damals dreiundzwanzigjährige Pompeu Fabra in der Zeitschrift Avenç einen Vorschlag für eine referentielle Sprachform. Erst mit der Gründung des Institut d’Estudis Catalans (IEC) 1907 (als 1 Die grandiose Rezeption dieses Gedichts kann man als ein frühes gelungenes PR- Unternehmen bezeichnen. Das ändert wenig an der emblematischen Bedeutung, die es schließlich gewonnen hat. Vgl. zum Ganzen Antoni-Lluc Ferrer, 1987. La patrie imaginaire. La projection de ‚La pàtria’ de B.C. Aribau (1832) dans la mentalité catalane contemporaine. Aix : Université de Provence, 2 vols. 2 Josep Pau Ballot [i Torres], Gramatica y apologia de la llengua cathalana. Edició a cura de Mila Segarra. Barcelona: Alta Fulla, 1987. Die Herausgeberin Mila Segarra meint, die erste Auflage sei am Ende des Jahres 1814 oder Anfang 1815 erschienen. Eine zweite Auflage erschien kurz nach dem Tod des Autors (1821), das genaue Jahr ist umstritten. Zur Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken 271 Folge des ersten internationalen Kongresses der katalanischen Sprache, der 1906 in Barcelona mit über 3000 Teilnehmern abgehalten wird - und das zu einer Zeit, in der sich die kompetenten Sprachwissenschaftler im katalanischen Sprachgebiet an den Fingern einer Hand abzählen ließen, wie Antoni Maria Badia i Margarit immer wieder betont 3 ) kommt die Jahrzehnte andauernde Diskussion, mit vielen sich widersprechenden Plänen zu einem vergleichsweise raschen Abschluss: 1913 werden die weitestgehend auf Fabra zurückgehenden Normes ortogràfiques veröffentlicht, 1917 der Dicionari ortogràfic, 1918 die Gramàtica catalana und 1932 der Diccionari General de la Llengua Catalana. In dieser Zeitspanne, zwischen 1913 und 1932, kann sich die von Fabra vorgeschlagene Referenzform in Katalonien durchsetzen, seine Biographin Mila Segarra vermerkt lakonisch „1934 [Fabra] presideix els Jocs Florals de Barcelona: s‘acaba la batalla de les Normes“ 4 . 1932 schließt sich València in den Normes de Castelló de la Plana an 5 , und noch im Vorfeld des Bürgerkrieges findet die Reform Fabras auch auf den Balearen Akzeptanz. Natürlich verliefen die Entwicklungen nicht ganz so problemlos: es gab Gegnerschaft mit teilweise recht unterschiedlichen Vorstellungen, auch mit unterschiedlichen Sprachkonzeptionen (so gab es eine - nicht sehr große - Fraktion des Katalanismus, die das Katalanische und das Okzitanische als Varietäten einer einzigen Sprache interpretierten und daher eine weitgehend einheitliche Referenzsprache haben wollten), es gab Traditionalisten, es gab Neuerer und es gab natürlich die unvermeidlichen Sonderlinge 6 . Fabras Erfolg lässt sich wohl auf ein ganzes Bündel von Ursachen zurückführen: zunächst auf die professionelle Qualität seines Vor-schlages, dann auf den Rückhalt des IEC, das als (wenn auch nichtstaatliche) Institution Bedeutung hatte. Die damalige gesellschaftliche und politische Bedeutung des Katalanismus war ein wertvoller Rückhalt: bei den Wah- 3 Vgl. etwa Antoni M. Badia i Margarit, 1977.Ciència i passió dins la cultura catalana. Montserrat: Abadia de Montserrat, p. 21/ 22. 4 Mila Segarra, 1998. Pompeu Fabra. L‘enginy al servei de la llengua. Barcelona: Empúries, p. 271. 5 Vgl. etwa Vicent Pitarch, 2006. „L’experiència valenciana en el procés normativitzador: les normes del 32”, in: Antoni Ferrando/ Miquel Nicolás (a cura de), La configuració social de la norma lingüística a l’Europa llatina, Alacant: Institut Interuniversitari de Filologia Valenciana, 253-266. 6 Erstaunlicherweise gibt es - zumindest meines Wissens - keine Synthese dieser Referenzdebatte; waren die Auseinandersetzungen vielleicht zunächst tabuisiert, so wäre eine solche Gesamtdarstellung mittlerweile in meinen Augen ein Desiderat. Georg Kremnitz 272 len zum spanischen Parlament im Jahre 1907 errangen die Kandidaten der Solidaritat Catalana (einer Sammelorganisation, die verschiedene katalanistische Strömungen umfasste) 41 der 44 Sitze Kataloniens. Auch die unmittelbare Übernahme seiner Vorschläge durch die 1914-25 bestehende Mancomunitat, das erste, noch bescheidene Selbstverwaltungsorgan, spielte eine Rolle. Sein persönliches Ansehen war hoch, sein unermüdliches Eintreten für die Referenzform in der Presse und in der Öffentlichkeit machte Eindruck. Sicher spielte auch die vergleichsweise geringe Kohärenz der Gegenentwürfe eine Rolle, die Zahl der gut ausgebildeten Sprachwissenschaftler hatte sich nur in bescheidenem Maße erhöht. Die Diktatur Primo de Riveras (1923-30) machte ein größere öffentliche Diskussion unmöglich, zugleich trat die Frage nach dem Gewand des Katalanischen in den Hintergrund hinter dem Problem, sich überhaupt in dieser Sprache schriftlich und öffentlich ausdrücken zu können. Eine (noch) stärker von autoritären und weniger von demokratischen Strömungen durchzogene Gesellschaft begrenzte die Diskussionslust, und als 1931 die Zweite Republik verkündet wurde, war das meiste schon geschehen. Der unmittelbare Bedarf an einer Referenzform für die soeben verkündete Kooffizialität führte zur sofortigen Annahme der bekannten Version Fabras, hinter der das IEC mit seinem mittlerweile erworbenen Prestige stand. Die Referenzform stand als fertiges Produkt in dem Moment zur Verfügung, in dem sie dringend benötigt wurde. Bekanntlich existierte die Zweite Republik nur wenige Jahre und wurde von einer Diktatur abgelöst, die zunächst jede selbständige Regung der Peripherien zu unterbinden suchte. Vermutlich hat das vorläufige Ende der Öffentlichkeit des Katalanischen paradoxerweise mit zur Festigung und Annahme von Fabras Referenzform geführt: da jede öffentliche Diskussion unmöglich war, er selbst zudem im letzten Moment nach Frankreich ins Exil geflüchtet war (er verbrachte seine letzten Lebensjahre in Montpellier und dann in Prades-de-Conflent), konnte das Bestehende nicht in Frage gestellt werden. Es war ja sozusagen gerettetes intellektuelles Gut. Die lange Dauer der Diktatur trug dazu bei, dass diese Referenzform als einzig existierende und damit mögliche angesehen wurde. Zumal die Franquisten sie explizit verboten hatten: als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die ersten katalanischen Publikationen die Zensur passieren durften, waren alle Texte in der Referenzform zunächst ausgeschlossen, billige Ausgaben verboten. Erst nach und nach und mit List Zur Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken 273 konnten diese Hindernisse überwunden werden 7 . Wenn während der Diktatur Diskussionen um das Katalanische möglich waren, so ging es vor allem um seinen soziologischen Platz, den die dem Regime nahe Stehenden als den einer dominierten Haus- und Heimsprache sprachen, die möglicherweise gar keiner Normativierung bedürfe 8 ; der Zentralismus wollte mithin wenigstens eine Diglossie-Situation festzurren, nachdem die vollständige Unterdrückung nicht gelungen war. Diese Haltung brachte die wieder erstarkenden Katalanisten in Harnisch. Als mit der Verfassung von 1878 die Autonomie und die sprachliche Kooffizialität wieder eingeführt wurden, stand die grundsätzliche Akzeptanz der bestehenden Referenzform nicht zur Debatte. Immerhin war in der Jahrzehnten dazwischen nach und nach ein bedeutendes Textkorpus geschaffen worden, das diese Entscheidung stützte. Und das IEC und andere wieder entstandene Institutionen legten zunächst großen Wert auf die Wiederaneignung des Verlorenen, weniger auf seine Revision. Mittlerweile wurden auch eine Reihe von Neuerungen und (in meinen Augen nicht immer notwendigen) Änderungen vorgenommen, am „Gesicht“ der katalanischen Referenzsprache hat sich nichts geändert. Allerdings gibt es an den „Rändern“ eine gewisse Erosion. In den Gebieten, in den die Renaissance rein kulturell blieb und wenig politische Zielsetzungen bekam, konnte der diglossische Diskurs gewisse Erfolge erzielen. Er stützte sich dabei (teilweise) auf die Ablehnung der Referenzform. Bekannt geworden sind auf Mallorca vor allem die Auseinandersetzungen um „Pep Gonella“. Unter diesem Pseudonym wurden 1972 eine Reihe von polemischen Texten im Diario de Mallorca veröffentlicht, die die Referenzform als zu stark an Barcelona orientiert angriffen und für eine stärker am balearischen Sprachgebrauch orientierte Schriftsprache eintraten, mit anderen Worten ebenfalls eine Diglossie vertraten 9 und das Balearische vom Katalanischen trennen wollten. Solche Äußerungen sind zwar nicht völlig verschwunden, sie haben aber nach fast dreißig Jahren Kooffizialität stark an Bedeutung verloren (mit Recht verweist Hans-Ingo 7 Ich erinnere mich mit Vergnügen, wie Aina Moll i Marquès, die Tochter des großen Philologen Francesc de B. Moll, oft erzählte, dass zu Beginn Editionen in der Referenzform der Zensur auf Mallorca (und nicht in Barcelona! ) vorgelegt wurden, mit der Erklärung, es handle sich dabei um die originale Graphie (gewöhnlich ging es um die Graphie, nicht die Sprache als solche). Die der Details unkundigen Zensoren ließen diese Texte passieren, danach war der Weg für anderes frei(er). 8 Ein typisches Beispiel für diese Positionen: Julián Marías, 1966. Consideración de Cataluña. Barcelona: Aymá. 9 Francesc de B. Moll (ed.), 1972. Polèmica d’en Pep Gonella. Palma de Mallorca: Ed. Moll. Georg Kremnitz 274 Radatz darauf, dass vor dem Autonomiestatut von 1983 das Katalanische auf den Balearen noch nie in der Moderne eine irgendwie geartete offizielle Anerkennung genossen hat, es daher zu seiner Festigung einige Zeit brauchte 10 ). Sehr viel massiver ist die Opposition in València, wo ein Teil der öffentlichen Meinung seit dem Ende der Diktatur die Zugehörigkeit des Valencianischen zum Katalanischen überhaupt in Frage stellt und es als eigene Sprache ansieht (erstaunlicherweise rekrutieren sich die Anhänger dieser Positionen vor allem aus dem Umfeld des ehemaligen valencianischen Franquismus; deshalb vollzieht sich die Verteidigung dieser Positionen oft auf Kastilisch). Rein wissenschaftlich gesehen entbehrt die Auseinandersetzung nicht einer gewissen (unfreiwilligen) Komik, den die vertretenen Argumente sind zum Teil wissenschaftlich wenig konsistent 11 , politisch allerdings hat sie einen gewissen Erfolg, denn seit fast zwei Jahrzehnten hat sich der seit 1994 dort an der Macht befindliche Partido Popular diese Argumentation zu eigen gemacht. Die mittlerweile erarbeitete Referenzform kann allerdings trotz aller Bemühungen zur Differenzierung den Einfluss Pompeu Fabras nicht ganz verbergen. 2 Baskisch Im Gegensatz zum Katalanischen setzt die schriftsprachliche Verwendung des Baskischen erst spät und zögerlich ein. Zwar enthalten schon die Glosas Emilianenses (um das Jahr 1000), eines des frühesten kastilischen Textdenkmäler, zwei Notizen in baskischer Sprache, aber wirkliche Texte bleiben selten, bis 1545 in Bordeaux das erste Buch auf Baskisch gedruckt wird, nämlich Linguae Vasconum Primitiae von Bernat Etxepare (oft auch Dechepare oder Detxepare geschrieben). Auch eine 1571 von Joannes Leizarraga in La Rochelle veröffentlichte (reformierte) Übersetzung des Neuen Testaments kann einen verbreiteten schriftlichen Gebrauch des Baskischen nicht einleiten 12 . Zwar entstehen etliche literari- 10 Hans-Ingo Radatz, 2010. Das Mallorquinische: gesprochenes Katalanisch auf Mallorca. Deskriptive, typologische und soziolinguistische Aspekte. Aachen: Shaker, p. 71. 11 Vgl. etwa Maria Teresa Puerto Ferre/ Joan Ignaci Culla, [2007]. Cronologia historica de la llengua valenciana. València: Diputació de València. Der opulente und reich illustrierte Band von 514 Seiten, der offensichtlich mit erheblichen Subventionen produziert wurde, versucht, die valencianistischen Thesen zu vertreten, hat allerdings dabei mitunter einige argumentative Mühe. 12 Vgl. Luis Michelena, 1960. Historia de la literatura vasca. Madrid: Minotauro; Luis Villasante [Kortabitarte], ²1979. Historia de la literaturavasca. Aránzazu: Ed. Aránzazu. Seither existieren natürlich weitere moderne Geschichten der baskischen Literatur, Zur Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken 275 sche Texte, man kann sogar von einer bescheidenen Herausbildung literatursprachlicher Traditionen sprechen (vor allem das Navarro-Labourdinische spielt eine Rolle 13 , daneben das Gipuzkoanische), aber das Korpus bleibt insgesamt klein, eine Normativierung im modernen Sinne findet auch nicht annähernd statt 14 . So fehlt der baskischen Renaissance (Eusko Pizkundea) seit dem späten 19. Jahrhundert ein Beispiel, an dem sie sich ausrichten oder von dem sie sich abgrenzen kann. Ein zusätzliches Problem bildet die starke dialektale Zersplitterung der Sprache, die eine Einigung auf eine Referenzform (zumal über zwei Staaten hinweg) erschwert. Zwar versucht Sabino de Arana Goiri (1865-1903), der Vater des politischen Baskismus, die Schaffung einer völlig neuen Referenzsprache, kann sich aber nicht durchsetzen. Als 1918 die Akademie der Baskischen Sprache (Euskaltzaindia) unter dem Vorsitz von Resurrección María de Azkue entsteht, ist die Frage einer Referenzsprache von Anfang an ein wichtiges Ziel. Azkues Vorschlag einer Referenzform auf der Grundlage des Guipuzkoanischen findet allerdings wenig Anklang. Auch in der Zeit der Zweiten Republik, in der die Autonomie (und damit Kooffizialität) in Reichweite war, kam es zu keinen größeren Fortschritten. Zwar gibt es eine lebhafte Diskussion, vor allem innerhalb der Akademie (sie wird in Teilen bei Villasante, 1970, referiert), allerdings sind die Standpunkte noch weit voneinander entfernt. Immerhin gibt es Annäherungen. Auf der anderen Seite kommt es erst bei Ausbruch des Bürgerkrieges zur Verabschiedung eines Autonomiestatus, eine Statusveränderung bleibt damit virtuell. Danach stehen zunächst andere Prioritäten im Vordergrund … In der Zeit der Unterdrückung des Baskischen kommt es immerhin allmählich zu orthographischen Annäherungen. Der entscheidende Schritt erfolgt im Jahre 1968, als auf der feierlichen Sitzung aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages der Gründung von Euskaltzaindia in Arantzazu (kast. diesen beiden kommt jedoch aufgrund ihrer Entstehungszeit und -umstände besondere symbolische Bedeutung zu. 13 Noch 1978 erscheint die Grammatik des chanoine Pierre Lafitte, die das Navarro- Labourdinische als Referenzsprache propagiert, in einem Reprint; allerdings distanziert sich der Autor im Vorwort selbst von den einst formulierten referenzsprachlichen Ansprüchen; als Mitglied von Euskaltzaindia identifiziert er sich mit der damals neuen Referenzform. Das Werk stammt ursprünglich aus dem Jahr 1944. Pierre Lafitte, ³1978. Grammaire basque (navarro-labourdinlittéraire). Donostia [San Sebastián]: Elkar. 14 Vgl.: Luis Villasante, 1970. Hacia la lengua literaria común. Oñate: Editorial Franciscana Aránzazu, v. a. 39-45. Georg Kremnitz 276 Aránzazu), ursprünglich auf Antrag des Dichters Gabriel Aresti, die Bildung einer Kommission unter Federführung des Sprachwissenschaftlers Koldo Mitxelena (1915-1987) beschlossen wird, die die Grundlagen für eine einheitliche Schriftsprache schaffen soll. Mitxelena legt sofort ein Projekt vor, das die Umrisse der künftigen Referenzsprache Euskerabatua (vor allem auf der Grundlage des Guipuzkoanischen und des Navarresischen) skizziert 15 . Mit der Umsetzung des Programms wird unmittelbar begonnen. Inzwischen ist der akute Bedarf sichtbar geworden: vor allem hatten die ersten Ikastolak (baskische Privatschulen) nach dem Bürgerkrieg Anfang der sechziger Jahre ihre Tore geöffnet; damit war das Problem der zu lehrenden Sprache dringend geworden. Die Arbeit macht rasche Fortschritte, aber als Franco stirbt und infolge der staatlichen Neuordnung in Spanien Ende 1979 das baskische Autonomiestatut in Kraft tritt, ist die Normativierungsarbeit noch nicht vollständig abgeschlossen. Die Umsetzung der kooffiziellen Sprachenpolitik muss sich zunächst teilweise noch auf vorläufige Entscheidungen stützen. Zwar gibt es zu Beginn der Autonomiezeit, vor allem in Bizkaia, dessen Varietät nur geringe Berücksichtigung fand, heftige Polemiken, mittlerweile hat sich das Batua als Referenzsprache durchgesetzt. Die wichtigsten Hilfsmittel wurden noch vor der Jahrtausendwende veröffentlicht; die Verwendung der Referenzsprache ist heute kein Problem mehr. Zwar geht die Arbeit an ihr noch immer weiter, sie ist jedoch für den alltäglichen Gebrauch in Schule, Medien und Verwaltung längst hinreichend fixiert, um problemlos verwendet werden zu können 16 . Inzwischen funktioniert das baskische Schulwesen seit fast dreißig Jahren, d. h. eine Generation von Bürgern hat eine formale Sprachausbildung erhalten (dabei haben sich die Curricula, die das Baskische stark berücksichtigen, immer stärker durchgesetzt, so dass es sich nicht nur um ein Minderheitenprogrammhandelt). Vor allem die zunehmende öffentliche Verwendung des Batua hat dafür gesorgt, dass die anfänglichen Auseinandersetzungen stark an Bedeutung verloren haben. 15 Vgl. Villasante, 1970, op.cit., pp. 66-67; Henrike Knörr [Borràs], 2006. “Unitat i diversitat a l’espai lingüístic basc”, in: Ferrando/ Nicolás (a cura de), op. cit., 343-351. 16 Die wichtigste Grammatik ist die seit 1985 von Euskaltzaindia herausgegebene mehrbändige, vor allem deskriptive Euskalgramatika. Lehen urrutsak. Sie soll die Grundlage für eine definitive normative Grammatik bilden. Wichtigstes Wörterbuch ist das ebenfalls von Euskaltzaindia herausgegebene, noch von Mitxelena initiierte deskriptive, historische und diatopische OrotarikoEuskalHiztegia, das seit 1987 erscheint. Zur Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken 277 Auch das Batua ist bis zu einem gewissen Grad zum rechten Zeitpunkt gekommen: der Beschluss der Akademie erfolgte, als eine Statusveränderung vorstellbar war. Als sie zum Tragen kam, waren die Arbeiten so weit fortgeschritten, dass sie unmittelbar umsetzbar waren. Die starke symbolische Bedeutung, die der Sprache vor allem im heutigen baskischen Nationalismus beigelegt wird, machte die Bedeutsamkeit der Frage unmittelbar einsichtig. Auch der Schöpfer des Konzepts war eine Person von besonderem Gewicht: Koldo Mitxelena hatte viele Jahre seines Lebens in franquistischen Gefängnissen zugebracht (er pflegte später zu sagen, dass er sich dort seine wissenschaftliche Kompetenz habe erarbeiten können), neben seiner fachlichen Kompetenz hatte er ein hohes persönliches Prestige. Viele hervorragende baskische Intellektuelle akzeptierten das Modell sofort und konnten durch ihr Gewicht den Erfolg des Modells stützen. Eine mit höchstem Ansehen ausgestattete Person erarbeitete das Modell im Auftrag einer Institution, die innerhalb der baskischen Gemeinschaft von niemandem in Frage gestellt wurde und wird. Eine neue Regionalregierung stützte das Modell mit ihrer Sprachenpolitik (Navarra zog später nach, und das französische Baskenland übernahm das Modell ebenfalls für den öffentlichen Gebrauch, soweit möglich). Es gab keinen ernsthaften Gegenentwurf, das Batua hatte praktisch ein Monopol („das oder nichts“). Als es sich einmal in der Öffentlichkeit etabliert hatte, hatte ein Gegenmodell keine größeren Aussichten mehr. Der größte Erfolg besteht wohl darin, dass mithilfe dieser Referenzsprache die Sprachkompetenz deutlich gesteigert werden konnte: bezeichneten sich 1981 noch 21,9 % der Sprecher als „zweisprachig“ und 12,2, % gaben an, das Baskische nur zu verstehen (casi-euskaldunes), so stieg der Anteil bis 2006 auf 37,5 % für die Zweisprachigen und17,3 % für die nur Verstehenden (die ursprünglich noch mit weniger als 1 % vertretene Kategorie der nur Baskisch Sprechenden ist mittlerweile aus den Statistiken verschwunden) 17 . Für die allermeisten der „neuen“ Sprecher ist die Referenzsprache die vertrauteste Sprachform. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass die zunehmende Kompetenz nicht in gleichem Maße in steigende Performanz mündet; laut denselben Quellen verwenden nur 13 % der Befragten das Baskische auch als hauptsächliche Sprache zu Hause. 17 Vgl. Miquel Gros i Lladós, 2009. El euskera en la Comunidad Autónoma Vasca (2009). Una apuesta por la diversidad lingüística. Bilbo/ Bilbao: Euskaltzaindia; Eusko Jaurlaritza/ Gobierno Vasco, 2009. IV mapa sociolingüístico. [Vitoria-Gasteiz: ] Kultura Saila/ Departamento de Cultura. Georg Kremnitz 278 Immerhin hat auch das Baskische inzwischen ein unverwechselbares Aussehen. Seine referentielle Sprachform wurde international zur Kenntnis genommen. Man wird sehen, welche Einfluss auf Kompetenz und Praxis der Sprache die Politik der sozialistischen Regierung seit 2009 hat, die auch die Sprachen- und Kulturpolitik ihrer nationalistischen Vorgängerinnen teilweise revidieren will, insgesamt sind so viele Fundamente gelegt worden, dass sie praktisch nicht mehr rückgängig gemacht werden können 18 . 3 Galicisch Seit dem 13. Jahrhundert war das Galicische eine viel verwendete Schriftsprache; vor allem in der Lyrik spielte es eine große Rolle, teilweise in der Nachfolge und Ablöse des Altokzitanischen. Aber es wurde auch als Verwaltungssprache verwendet. Aufgrund der politischen Grenzen, die zwischen Galicien und Portugal entstehen, entwickeln sich allmählich auch die sprachlichen Traditionen auseinander. Nach der Eroberung durch Kastilien beginnt die sogenannte Dekadenz, das Galicische verschwindet seit dem späten 15. Jahrhundert fast völlig aus dem schriftlichen Gebrauch. Erst im 19. Jahrhundert kommt es, im Zuge der Romantik und der kritischen Situation des Spanischen Staates, zu einem Umschwung. Das symbolische Datum für den Beginn des Rexurdimento ist das Jahr 1863, in dem die Cantares Gallegos der Dichterin Rosalía de Castro (1837-1885) veröffentlicht werden. Ab diesem Zeitpunkt beginnt eine verstärkte literarische Produktion, daher beschäftigen bald auch Fragen der Referenzsprache die Vertreter der Sprache. Allerdings bleiben diese Diskussionen auf relativ enge Kreise von Fachleuten beschränkt, die öffentliche Diskussion lässt sich in ihrem Umfang nicht mit der in Katalonien vergleichen. Die Gründe dafür lassen sich vor allem in dem Umstand suchen, dass es zu einer wirtschaftlichen Expansion und Modernisierung kaum gekommen ist; Galicien bleibt ein vorwiegend landwirtschaftliches Auswanderungsgebiet, es kommt zu keiner nennenswerten Industrialisierung, eine kapitalkräftige Bourgeoisie kann sich nicht entwickeln, daher kann auch der politische Galegismus sich nicht mit den anderen regionalen Bewegungen vergleichen lassen. Sein politi- 18 Allerdings kann die Verminderung der Aufmerksamkeit für die Sprache natürlich vor allem an den „Rändern“ (geographisch wie soziologisch verstanden) zu Einbrüchen führen, vor allem, was die zukünftige Kompetenz betrifft. Zur Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken 279 scher Einfluss bleibt vergleichsweise gering. Daher wird die führende Rolle des Kastilischen kaum in Frage gestellt. Ein zweites kommt hinzu: die Erneuerer sind sich nicht über das sprachliche Modell einig, das ausgearbeitet werden soll 19 . Manche vertreten eine schlichte Eingliederung in das Portugiesische, andere zwar eine Ausrichtung am portugiesischen Vorbild, allerdings mit Erarbeitung einer eigenen Referenzform, und die dritte Gruppe schließlich die Erarbeitung einer neuen Referenzsprache, die sich sowohl vom Portugiesischen als auch vom Kastilischen unabhängig machen soll (de facto damit aber die Jahrhunderte der kastilischen Suprematie in der Referenzsprache aufnimmt). Die erste Option fällt praktisch mit der zweiten zusammen, die wirklichen Auseinandersetzungen spielen sich zwischen den beiden letzten Ausrichtungen ab. Diese Auseinandersetzungen setzen sich über alle politischen Veränderungen in Spanien fort und können auch heute noch als nicht definitiv geklärt angesehen werden 20 . Bereits 1906 wird die Real Academia Galega gegründet, ab 1916 entstehen die lusistisch orientierten Irmandades da Fala und 1923 das Seminario de Estudos Galegos. Durch sie werden zwar die literarischen und wissenschaftlichen Aktivitäten gefördert, auch soll die Sprache, die in vielen Registern noch auf dem kommunikativen Stand des späten Mittelalters geblieben ist, modernisiert werden, zu konsequenten referenzsprachlichen Bemühungen kommt es indes nicht. Zwar entstehen im Umkreis des Seminario in den frühen dreißiger Jahren einige interessante Vorschläge, wird noch im Juni 1936 auch ein Autonomiestatut verabschiedet, aber wenige Wochen später kann der Putsch der Generale sich ganz rasch in Galicien durchsetzen. Die Repression gegen die galicische Sprache und Kultur setzt ein. Erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg kann eine gewisse Kulturarbeit wieder aufgenommen werden. Die in den Städten allmählich deutlicher werdende Kastilisierung lässt die Frage der Sprache umgekehrt eine immer größere emblematische Bedeutung gewinnen 21 . 1971 wird im Rahmen der Universität Santiago de Composteladas Instituto da Lingua Galega gegründet, aus dessen Umkreis u.a. die ersten Sprachlehrwerke des Galicischen hervorgehen. 19 Vgl. u. A. Carme Hermida, 1992. Os precursores da normalización. Defensa e reivindicación da lingua galega no Rexurdimento (1840-1891). Vigo: Xerais. 20 Vgl. etwa Henrique Monteagudo, 2006. „Precondicións sociais do proceso de conformación da norma do galego contemporáneo”, in: Ferrando/ Nicolás (a cura de), op. cit., 301-341. 21 Eine wichtige Rolle als Katalysator spielte dabei das Werk von Xesús Alonso Montero, 1973. Informe - dramático - sobre la lengua galega. Madrid: Akan. Georg Kremnitz 280 Als die Diktatur nach Francos Tod allmählich implodiert, ist das Problem der Referenzsprache nicht gelöst, Reintegrationisten (die für die Verwendung des Portugiesischen oder einer stark vom Portugiesischen beeinflussten Norm eintreten) stehen Autonomisten gegenüber, die für die Fortführung einer eigenständigen Sprachpolitik eintreten. Allerdings handelt es sich nun nicht mehr um bloß akademische Auseinandersetzungen, denn Anfang 1981 tritt das neue galicische Autonomiestatut in Kraft, in dem (Art. 5) die Kooffizialität des Galicischen festgelegt wird. Zwar werden die ersten Regierungen Galiciens von der politischen Rechten gebildet, den Vorläufern des heutigen Partido Popular, für die der autonomen Sprachenpolitik keine besondere Priorität zukommt, aber auf der einen Seite muss das Statut erfüllt werden, dafür gibt es auch einen deutlichen Druck aus der Bevölkerung, auf der anderen wird 1983 ein Gesetz zur Normalisierung der Sprache verabschiedet, das natürlich die Existenz einer Referenzform voraussetzt. Deshalb werden im Vorfeld 1982, nach langen Auseinandersetzungen, Normas ortográficas e morfolóxicas do idioma galego von einer gemeinsamen Kommission der Real Academia und des Instituto verabschiedet, die sowohl von der (damals immer noch einzigen) Universität wie von der autonomen Regierung unterstützt werden und damit offiziell anerkannt sind. 1995 werden sie in einigen Details geändert. Es fällt auf, dass es sich dabei nicht um die Vision einer Referenzsprache handelt, sondern dass nur die dringendsten Probleme geregelt werden, eben Orthographie und Morphologie (ohne sie wäre eine konsequente Einführung in den Schulen nicht denkbar gewesen). Allerdings war damit die eigentliche normative Arbeit noch nicht getan. Sie erfolgt erst in den folgenden Jahren, wobei der normative Dissens sich nicht günstig auswirkt. Zwar existieren heute normative Grammatiken und Wörterbücher, sie spiegeln allerdings bisweilen noch gewisse Schwankungen wider, die der Durchsetzung der Referenzformen nicht günstig sind. Zwar beherrschen Inschriften gemäß der offiziellen Norm das Straßenbild der Städte, auch gibt es galicischen Rundfunk und Fernsehen, aber es fehlt etwa an gedruckter Presse auf Galicisch, auch die kulturelle Produktion könnte umfangreicher sein. Außerdem wird von galeguistischer Seite oft die Qualität der Sprache der Medien heftig kritisiert. Die Sprache wird zwar in den Schulen meist als Unterrichtssprache, teilweise nur als Fach, gelehrt, sie ist jedoch nicht in vergleichbarer Weise gefördert worden wie in Katalonien oder in Euskadi. Die neue konservative autonome Regierung (seit 2007) hat, im Zuge der neonationalistischen (hispanistischen) Ausrichtung des PartidoPopular, die Möglich- Zur Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken 281 keiten der Förderung des Galicischen sogar durch Verwaltungsmaßnahmen wieder verringert. Natürlich kommt einem unwillkürlich das Problem der Henne und des Eis in Erinnerung: die Mobilisierung der Bevölkerung für das Galicische lässt sich nicht mit der in den beiden anderen Autonomien vergleichen. Es ist auch nicht gelungen, das Bewusstsein der Sprecher gänzlich zu emanzipieren: diglossische Vorstellungen spielen noch immer eine große Rolle und bekommen eine gewisse Bestätigung durch die zwar geringer gewordene, aber immer noch notwendige Arbeitsmigration. Kastilisch wird auch von vielen, die für das Galicische Sympathien haben, als die kommunikativ wichtigere Sprache angesehen. Natürlich spielt auch die geringe innerlinguistische Distanz zwischen beiden Sprachen eine Rolle, sowie der Umstand, dass das Kastilische seit dem 16. Jahrhundert das Reservoir ist, aus dem das Galicische gewöhnlich seine Innovationen schöpft (allerdings gelten beide Argumente in ähnlicher Weise für das Katalanische, ohne dass dort eine vergleichbare Abhängigkeit - mindestens im Bewusstsein - entstanden wäre). Auch das Fehlen einer tatkräftigen Bourgeoisie, die auf das Galicische setzt, ist ein negativer Faktor. All diese Faktoren haben dazu beigetragen, dass die Verteidiger des Galicischen sich weder auf ein normatives Modell, und damit auf ein Vorbild, dem sie folgen wollten (während die Lusistas oder Reintegracionistas nach Portugal schauten, blickten die Autonomistas - in den Augen ihrer Gegner zu sehr - nach Madrid) einigen konnten, noch zum richtigen Zeitpunkt bereit waren, ein vorhandenes Modell, das weithin anerkannt war, in der Gesellschaft durchzusetzen. Das durchzusetzende Modell entstand, auch in grundlegenden Optionen, erst im Moment seiner Durchsetzung und konnte daher von der Bevölkerung nicht wirklich als „andere Option“ wahrgenommen werden. Das hat dann auch, zusammen mit den anderen erwähnten Argumenten, dazu geführt, dass die Zahl derer, die ihre sprachliche Kompetenz (sie liegt 2001 bei 99 % für das Verstehen und 96 % für das Sprechen 22 ) in habituelle Performanz umwandeln, geringer wird. Zwar sollen nach derselben Quelle fast 57 % der Bevölkerung das Galicische ständig verwenden, aber einige neuere Untersuchungen kommen angeblich zu deutlich schlechteren Ergebnissen 23 . Nun wird man die weitere Entwicklung der Sprachenpolitik in Spanien 22 http: / / www.as-pg.com/ php/ upload/ lin-1plandenormalizacionlinguagalega.pdf. 23 Sie wurden auf dem Seminario sobre Política Lingüística des Consello da Cultura Galega am 29. Juni 2010 in Santiago de Compostela erwähnt, scheinen aber noch nicht zugänglich zu sein. Georg Kremnitz 282 abwarten müssen, deren neuestes Kapitel mit dem Ende Juni 2010 gefällten Urteil des Verfassungsgerichtshofes über das (zweite) katalanische Autonomiestatut aufgeschlagen wurde - dieses Urteil hat den Kompromiss der Verfassung von 1978 praktisch aufgehoben -, im Augenblick jedoch liest man die Bilanz - auch und gerade als Sympathisant der galicischen Renaissance - mit gemischten Gefühlen. 4 Vorsichtiger Versuch eines Vergleichs Als die derzeitige spanische Verfassung mit der darauf folgenden (wenn auch ursprünglich nicht beabsichtigten) Veränderung der politischen Struktur des Staates in Kraft trat, verfügte das Katalanische über eine voll ausgebaute Referenzsprache, die nur aufgrund der Diktatur einige der neuesten Veränderungen der kommunikativen Bedingungen (etwa die Rolle des Fernsehens) noch nicht vollständig nachvollzogen hatte. Allerdings konnte diese referentielle Sprachform unmittelbar verwendet und die fehlenden Register in vergleichsweise kurzer Zeit operational gemacht werden. Die Erarbeitung der Referenzform des Baskischen war seit über einem Jahrzehnt konsensuell in die Wege geleitet worden, die wichtigsten Grundsteine waren gelegt, auch hier konnte die Umsetzung auf die Gesellschaft unmittelbar beginnen. Zwar gab es noch einige nicht definitiv geregelte Punkte, sie stellten jedoch keine wirklichen Hindernisse dar. Ein, allerdings bezeichnendes, Indiz: Euskal Telebista, das baskische Fernsehen, begann seine Sendungen 1982 kurze Zeit vor dem Katalanischen Fernsehen. Es gab zwar eine Opposition gegen diese Referenzsprache und ihre kommunikativen Funktionen, sie war indes weder sehr stark noch hatte sie einen langen Atem. In beiden Fällen konnte der Kairòs, der günstige Augenblick der griechischen Antike, genutzt werden. Das Galicische war in der schwierigen Situation, dass die Durchsetzung der Referenzform parallel zu ihrer Schaffung stattfinden sollte, wobei unter den Verteidigern der Sprache ein massiver Dissens über die Ausrichtung der Norm bestand. Auch die Unterstützung durch die Politik, die sich für eine Referenzform entschied, konnte die Debatten und ihre für die soziale Durchsetzung der Sprache störenden Aspekte nicht verhindern. Das Problem ist bis heute nicht vollständig gelöst. Blickt man auf andere Sprachreformversuche bei europäischen Sprachen in jüngster Vergangenheit, so fällt auf, dass deren Durchsetzung in letzter Zeit immer schwerer wird. So hat der wahrlich nicht ehrgeizige Versuch einer Rechtschreibreform in Frankreich durch die Regierung Zur Frage des Zeitpunkts der Erarbeitung von Referenzgrammatiken 283 Rocard Anfang der neunziger Jahre mit einer vollständigen Niederlage der Reformatoren geendet 24 , und auch die deutsche Orthographiedebatte ist mittlerweile durch ein weitgehendes Scheitern aller grundlegenderen Reformansätze gekennzeichnet (dass die Gründe teilweise in einer mangelnden inneren Kohäsion der Reformvorschläge liegen könnten, sei nur am Rande bemerkt). Dabei war die letzte große Orthographiereform des Deutschen 1901 noch relativ schnell und ohne großen Widerstand durchgesetzt worden. Sicher hat die immer stärker gestiegene Zunahme der Alphabetisierung der Bevölkerung einen Anteil an der veränderten Lage: diese versteht die Beherrschung einer Referenzsprachform als ein Kapital, das nicht durch eine Reform teilweise entwertet werden soll. Die Sprache wird damit als ein Gut aller gesehen, an das niemand rühren darf (dass alle am Kommunikationsprozess Beteiligten allein durch ihr kommunikatives Verhalten täglich daran rühren, wird außer Acht gelassen). In einer solchen Situation können mächtige Multiplikatoren, die durch eine Reform möglicherweise materielles (Verlage, Periodika) oder symbolisches (Akademien, Lehrer) Kapital verlieren würden, zu den Wortführern jener werden, für die die oberste Regel für eine Referenzsprache ist: nihil innovetur quam quod traditum est! 25 Genau damit wird man jedoch jede Referenzsprache relativ rasch in zunehmende Funktionsunfähigkeit führen, sie mit anderen Worten zugrunde richten. Das Argument gewinnt an Bedeutung in einer Zeit, in der sich die globalen Bedingungen der Kommunikation so nachhaltig verändern, wie das derzeit vor unseren Augen der Fall ist. Aufgrund der spezifischen historischen Situation sind das Katalanische und das Baskische diesem Dilemma weitgehend entkommen, das Galicische jedoch nicht. Damit soll nicht alles begründet werden, ich habe genügend andere Aspekte für positive und weniger positive Entwicklungen erwähnt, eines dürfte allerdings klar werden: der Faktor Zeit und die mit ihm verbundenen kommunikativen Haltungen und Bedingungen einer Gesellschaft spielen eine nicht unwichtige, wenn auch im Voraus schwer einzuschätzende Rolle für den Erfolg oder das Scheitern von Renaissance- oder auch nur Sprachreformbestrebungen. Die formale Demokratisierung einer Gesellschaft - vor allem ohne entsprechende Bildung 24 Vgl. etwa die Darstellung bei Monika Keller, 1991. Ein Jahrhundert Reformen der französischen Orthographie. Geschichte eines Scheiterns. Tübingen: Stauffenburg. 25 Das war das Motto des chanoine Roux, als er die Referenzsprache Mistrals für das Okzitanische in Frage stellte: Joseph Roux, 1895. Grammaire limousine. Brive: Editions de Lemouzi. Georg Kremnitz 284 ihrer Angehörigen, die ihnen einen Überblick über die gesellschaftlichen Zusammenhänge vermittelt - kann Entscheidungs-prozesse diffuser und schwieriger werden lassen. Vielleicht sollten zukünftige Reformer das Argument nicht ganz aus dem Blick verlieren 26 . 26 Vgl. zu dem Gesagten auch die entsprechenden Einträge in Nina Janich/ Albert Greule (Hg.), 2002. Sprachkulturen in Europa. Ein internationales Handbuch. Tübingen: Narr (Birte Uhlig zum Baskischen, Ramón Lorenzo zum Galicischen und Franz Lebsanft zum Katalanischen). E-Mail-Adressen der Autorinnen und Autoren em. o. Univ.-Prof. Dr. Werner Abraham, Hon.Prof. Univ. -Wien werner_abraham@t-online.de Prof. Dr. Dominique Bassano dominique.bassano@sfl.cnrs.fr O.Prof. Mag. Dr. Dr. h. c. Wolfgang U. Dressler wolfgang.dressler@univie.ac.at Univ.-Prof. Dr. Hans Geisler geisler@phil-fak.uni-duesseldorf.de Prof. Dr. Daniel Jacob daniel.jacob@romanistik.uni-freiburg.de Prof. Dr. phil. Thomas Krefeld Thomas.krefeld@romanistik.uni-muenchen.de O. Univ.-Prof. Dr. Georg Kremnitz georg.kremnitz@univie.ac.at Mag. a Dr. Sabine Laaha Sabine.Laaha@oeaw.ac.at Dr. Isabelle Maillochon isa.mendes@wanadoo.fr O. Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Metzeltin michael.metzeltin@univie.ac.at Dr. Claudia Pichler Claudia.Pichler@uni-klu.ac.at Professore ordinario dott. Giampaolo Salvi salvi.giampaolo@btk.elte.hu Festschrift für Ulrich Wandruszka 286 Ao.Univ.-Prof.Dr. Stefan Schneider stefan.schneider@uni-graz.at Prof. Dr. phil. Christoph Schwarze (emeritiert) christoph.schwarze@uni-konstanz.de Prof. Dr. Elisabeth Stark estark@rom.uzh.ch Univ. Prof. Dr. Barbara Wehr wehr@uni-mainz.de Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Ulrich Wandruszka Grammatik Form - Funktion - Darstellung Gunter Narr Verlag Tübingen In diesem Buch werden sehr spezielle und sehr allgemeine Fragen zur Grammatik der menschlichen Sprache und ihrer linguistischen Darstellung erörtert. Insbesondere geht es um die Frage der Angemessenheit mehr oder weniger formalisierter Modelle natürlichsprachlicher Strukturen und Prozesse. Angemessenheit oder Tauglichkeit einerseits im Hinblick auf die sprachlichen Gegebenheiten selbst und andererseits auch im Hinblick auf den Zweck, dem das Modell dienen soll. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, wofür und ganz konkret auch für wen wir formale linguistische Theorien und Modelle produzieren. Die Diskussion über diese Aspekte, mit denen sich gängige zeitgenössische Theorien nicht immer ernsthaft auseinandersetzen, soll durch dieses Buch befördert werden. Die Fragen werden im Rahmen des Modells der Kategorialgrammatik diskutiert, die für die Darstellung sprachlicher Fakten besonders geeignet ist, weil sie sich selbst als eine Art strukturelles Analogon der natürlichen Sprache versteht - und dies sowohl auf morpho-syntaktischer als auch auf semantischer Ebene. Ulrich Wandruszka Grammatik Form - Funktion - Darstellung Tübinger Beiträge zur Linguistik, Band 503 2007, VIII, 213 Seiten, €[D] 39,90/ Sfr 63,00 ISBN 978-3-8233-6366-8