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Sprachwissenschaft für Skandinavisten

2014
978-3-8233-7810-5
Gunter Narr Verlag 
Michael Schäfer
Werner Schäfke

Dieses Studienbuch behandelt in sechs Kapiteln zu Semiotik, Phonetik, Phonologie, Morphologie, Semantik und Syntax die klassischen Teilbereiche der Linguistik. Durch die Verwendung von Beispielen und Übungsaufgaben zu den skandinavischen Sprachen (Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Isländisch und Färöisch) werden die Leserinnen und Leser mit der Terminologie und den Methoden dieser sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen vertraut gemacht. Jedem Kapitel geht eine Checkliste der zu erwerbenden Terminologie voraus. Die erläuterten Methoden umfassen die grundlegenden Analysemethoden der strukturalen Linguistik. Sie werden ergänzt durch neuere Ansätze der betreffenden Teilbereiche, um die Leserinnen und Leser an die jüngere Forschung und weiterführende Literatur heranzuführen. Darauf folgen Übungsaufgaben, die die Terminologie des jeweiligen Kapitels wiederholen und die Möglichkeit bieten, die erworbenen Methoden anhand von Beispielen aus den skandinavischen Sprachen zur Anwendung zu bringen. Die Kapitel werden jeweils durch eine Bibliographie der weiterführenden Literatur und Handbücher ergänzt.

Michael Schäfer/ Werner Schäfke Sprachwissenschaft für Skandinavisten Eine Einführung Michael Schäfer / Werner Schäfke Sprachwissenschaft für Skandinavisten Eine Einführung Michael Schäfer und Werner Schäfke lehren am Skandinavischen Seminar der Universität Freibur g. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 ∙ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 ∙ D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Printed in EU ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-6810-6 Inhalt Abkürzungen und Notationshinweise ..................................... vii Vorwort....................................................................................... ix 1 Semiotik und Sprache als System ..................................... 1 1.1 Semiotik ............................................................................... 1 1.1.1 Zeichenbestandteile ................................................................... 2 1.1.2 Zeichentypen ............................................................................. 4 1.1.3 Eigenschaften sprachlicher Zeichen .......................................... 5 1.1.4 Zeichen- und Kommunikationsmodelle ..................................... 6 1.2 Sprache als System............................................................ 11 1.2.1 Sprachsystem (langue) und Sprachwirklichkeit (parole) .......... 1 1.2.2 System ..................................................................................... 13 1.2.3 Subsysteme .............................................................................. 16 2 Phonetik ........................................................................... 23 2.1 Gegenstand und Teilbereiche der Phonetik ................... 23 2.2 Phonetische Merkmale ..................................................... 24 2.2.1 Konsonanten ............................................................................ 25 2.2.2 Vokale...................................................................................... 37 3 Phonologie ....................................................................... 47 3.1 Gegenstand und Teilbereiche .......................................... 47 3.2 Segmentale Phonologie .................................................... 48 3.2.1 Phoneme.................................................................................. 48 3.2.2 Allophonie ............................................................................... 50 3.3 Phonologische Prozesse.................................................... 53 3.4 Suprasegmentale Phonologie .......................................... 56 3.4.1 Silbe......................................................................................... 57 3.4.2 Betonung und Toneme ............................................................ 60 4 Semantik........................................................................... 65 4.1 Gegenstand und Teilbereiche .......................................... 65 4.2 Bedeutung vs. Begriff ....................................................... 66 4.3 Bedeutungsrelationen....................................................... 70 4.3.1 Syntagmatische Bedeutungsrelationen .................................... 70 4.3.2 Paradigmatische Bedeutungsrelationen................................... 71 2 4.4 Merkmalssemantik ............................................................75 4.5 Wörter mit mehreren Bedeutungen.................................77 4.5.1 Polysemie ................................................................................ 78 4.5.2 Homonymie ............................................................................. 79 4.6 Kognitive Semantik: Prototypensemantik ......................81 4.7 Sprachliches Relativitätsprinzip ......................................83 5 Morphologie...................................................................... 91 5.1 Gegenstand und Teilbereiche...........................................91 5.2 Die Kategorie „Wort“ ........................................................92 5.3 Morpheme ..........................................................................94 5.4 Flexion und grammatische Kategorien .........................100 5.4.1 Nominale Kategorien ............................................................. 100 5.4.2 Verbale Kategorien ................................................................ 103 5.5 Wortbildung .....................................................................105 5.5.1 Komposition .......................................................................... 106 5.5.2 Derivation.............................................................................. 108 5.5.3 Konversion............................................................................. 110 5.5.4 Kurzwortbildung.................................................................... 111 5.6 Konstruktionsbasierte Morphologie ..............................111 6 Syntax .............................................................................. 117 6.1 Gegenstand und Teilbereiche.........................................117 6.2 Satz und Grammatikalität...............................................118 6.3 Valenz ...............................................................................119 6.4 Syntaktische Phrasen ......................................................122 6.5 Syntaktische Tests ...........................................................125 6.6 Immediate-Constituents-Analyse ...................................128 6.7 Generative Grammatik und X-Bar-Schema ...................131 6.8 Konstruktionsgrammatik................................................133 7 Literaturverzeichnis ....................................................... 139 vi Inhalt Abkürzungen und Notationshinweise Marginaliensymbole Defintion Weiterführende Informationen Literaturhinweise Übungsaufgaben Exkurs Sprachkürzel agr. Altgriechisch da. Dänisch dt. Deutsch en. Englisch fi. Finnisch fo. Färöisch is. Isländisch nb. Norwegisch (Bokmål) nn. Norwegisch (Nynorsk) no. Norwegisch (Bokmål) sje. Pite-Saamisch se. Schwedisch ypk. Yupik Weitere Abkürzungen A Adjektiv ADJ Adjektiv dass. Dasselbe DET Determinierer IP Inflektionsphrase V Verb VP Verbalphrase N Substantiv (nicht Nomen! ) NP Nominalphrase S Satz Abkürzungen und Notationshinweise viii SUBJ Subjekt OBJ Objekt P Präposition PP Präpositionalphrase Notationshinweise Beispiel Einheit Verwendete Notation <x> Schriftzeichen (=Graph) Spitze Klammern / x/ Phonem Schrägstriche [x] Allophon und Phon Eckige Klammern VOGEL Kategorie semantischer Bedeutung Großbuchstaben PLURAL Kategorie grammatischer Bedeutung Großbuchstaben dt. Vogel Lexem Kursivierung dt. Vogel, Vögel Wortform Kursivierung ‘Vogel’ Lexikalische Bedeutung Einfache Anführungszeichen oben en. bird ‘Vogel’ Übersetzung Einfache Anführungszeichen oben W EIBLICH Sem Kapitälchen S INGULAR Grammatikalische Bedeutung Kapitälchen {-e} Morphem 1 Geschweifte Klammern häst-, -ar Allomorph 2 Kursivierung 1 Das Morphem {-e} besteht aus der Ausdrucksseite -/ e/ und der Inhaltsseite ‘D ATIV .S INGULAR ’. Das Morphem {-e} würde in schulgrammatischer Terminologie auch als „Endung -e“ bezeichnet. 2 Die Wortform se. hästar besteht aus den Allomorphen häst- und -ar. Vorwort Das vorliegende Werk ist eine Einführung in die Sprachwissenschaft für Studierende der Skandinavistik. Zwar existiert bereits eine Reihe von Linguistik- Einführungen. Jedoch ist keine von diesen auf Studierende der Skandinavistik ausgerichtet. Dies ist insofern problematisch, dass die in linguistischen Einführungskursen erarbeiteten Konzepte oft nur mühsam auf Phänomene in den skandinavischen Sprachen übertragen werden können. Diese Einführung soll dazu beitragen, diese Lücke im Angebot von Einführungsbüchern zu schließen. Dazu werden in diesem Buch linguistische Grundkonzepte anhand von Beispielen aus den nordgermanischen Sprachen erläutert sowie anhand von Sprachen aus anderen Sprachfamilien, die in angrenzenden Regionen gesprochen werden. Um die Zugänglichkeit zu gewährleisten, sind alle fremdsprachlichen Beispiele mit deutschen Übersetzungen versehen. Thematisch bietet die vorliegende Einführung einen Überblick über die „klassischen“ Teilbereiche der Linguistik: Phonetik, Phonologie, Morphologie, Semantik und Syntax. Diesen Bereichen wird jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet. Den genannten Kapiteln ist ein Kapitel zu Semiotik und Sprache als System vorgeschaltet. Dies ist dem strukturalistisch-semiotischen Ansatz geschuldet, dem die Einführung folgt, der Sprache als System aus Zeichen begreift. Die einzelnen Kapitel führen jeweils die Grundeinheiten des betreffenden sprachlichen Bereichs ein und die Methoden, die zu ihrer Etablierung führen. In einem zweiten Schritt wird erläutert, anhand welcher Parameter sich diese Grundeinheiten beschreiben lassen. Soweit möglich schließen die Kapitel mit einem Abschnitt zu neueren Forschungsansätzen, seien es konstruktionsgrammatische Ansätze in Morphologie und Syntax oder prototypentheoretische in der Semantik. Jedes Kapitel wird von Übungen begleitet, die die eingeführten Analyse- und Beschreibungsmethoden wiederholen. Dazu werden Hinweise zu weiterführender Literatur gegeben. Die Lösungen für die Übungen finden sich im Internet unter www.narr.de/ narr-studienbuecher. Auch wenn dieses Buch ein Gemeinschaftswerk darstellt, zeichnet jeweils einer der beiden Autoren für einzelne Kapitel hauptverantwortlich. Werner Schäfke ist Hauptautor der Kapitel Semiotik, Phonetik und Semantik. Michael Schäfer ist Hauptautor der Kapitel zu Phonologie, Morphologie und Syntax. Wir hoffen, dass dieses Werk ein stimmiges Ganzes ergibt. Die aufmerksame Leserin wird bemerken, dass Personenbezeichnungen in den einzelnen Kapiteln unterschiedlich gehandhabt werden. In den Kapiteln eins, zwei und vier wird das generische Maskulinum verwendet, in den Kapiteln drei, fünf und sechs das generische Femininum. Auf diese Weise wollen wir Doppelformen vermeiden, die den Lesefluss beeinträchtigen. Vertreterinnen und Vertreter des jeweils anderen Geschlechts sind selbstverständlich immer mitgemeint. Bedanken möchten wir uns beim Verlag Gunter Narr und unserem Lektor Tilmann Bub für dreierlei: Zum einen für die Aufnahme unseres Buches in das Verlagsprogramm, zum anderen für ihre Geduld bei der Fertigstellung des Manuskriptes und zum Dritten für die hilfreichen Kommentare während Vorwort x der unterschiedlichen Stadien des Manuskripts. Ebenfalls zu Dank verpflichtet sind wir den skandinavischen Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern, die unsere Beispiele gegengelesen haben: Mads Julius Elf, Lotta Karlsson, Hafdís Sigurðardóttir und Ida Maria Brennhaugen. Joshua Wilbur danken wir für die Bereitstellung seiner Grammatik des Pite-Samischen vor Veröffentlichung und für die Durchsicht der Pite-Sami-Beispiele. Für sämtliche verbleibenden Fehler tragen wir selbst die Verantwortung. Wir hoffen, dass dieses Buch in den Einführungskursen zur skandinavistischen Linguistik Verwendung findet. Über Anregungen, Kommentare, Verbesserungsvorschläge und Korrekturhinweise freuen wir uns sehr! Freiburg im Juni 2014 Michael Schäfer Werner Schäfke 1 Semiotik und Sprache als System Stichwörter • Zeichenbestandteile Ausdruck vs. Inhalt vs. Zeichenträger (=Realisierung) • Zeichentypen Index vs. Ikon vs. Symbol • Eigenschaften sprachlicher Zeichen Arbitrarität - Konventionalität - Assoziativität - Linearität • Zeichen- und Kommunikationsmodelle Bilaterales Zeichenmodell - semiotisches Dreieck - Organon-Modell - funktionales Kommunikationsmodell • System Langue vs. parole - type vs. token - syntagmatische vs. paradigmatische Relation - Wert - Struktur - offene vs. geschlossene Systeme - statische vs. dynamische Systeme • Subsysteme (=diastratische Variation) Varietäten - sprachliche Wirklichkeit 1.1 Semiotik Wenn Menschen miteinander kommunizieren, tun sie das durch Sprechen, Gestik, Mimik, Schrift, durch Symbole auf Hinweisschildern oder Signaltöne wie Autohupen. All diese Arten der Kommunikation haben eine Gemeinsamkeit: Worte, Gesten, Gesichtsausdrücke, Geschriebenes, Verkehrsschilder und Gehupe bedeuten allesamt etwas. Sie stehen nicht für sich, sondern verweisen auf etwas anderes. Sie teilen einem Empfänger der Kommunikation Informationen mit, wie ein Hinweisschild, in welcher Richtung man den Ausgang eines Gebäudes findet, und fordern ihn vielleicht zu einer bestimmten Handlung auf, wie beispielsweise ein Stopp-Schild. Die gesprochene Sprache ist in dieser Weise nur eine von mehreren Formen, in der Menschen miteinander durch den Gebrauch von Zeichen kommunizieren können. Zwar hat die gesprochene menschliche Sprache grundlegende Unterschiede zur Kommunikation durch Schrift oder Beschilderung. Einige grundlegende Prinzipien sind jedoch gleich. Die Grundlagen der Sprachwissenschaft liegen deswegen in der Grundlage der Wissenschaft der Zeichen und Zeichenbenutzung, der Semiotik. Da natürliche, gesprochene Sprachen, die die Sprachwissenschaft untersucht, aus Zeichen bestehen, fußen alle Aspekte der Sprachwissenschaft auf semiotischen Begriffen und Modellen. Diese erste Hälfte des Kapitels behandelt daher, wie Zeichen aufgebaut sind, welche Arten von Zeichen es gibt und wie sie in der Kommunikation verwendet werden. Die zweite Hälfte dieses Kapitels erläutert das Funktionieren von Sprachen als Systemen von Zeichen. Dabei wird zunächst auf die grundlegende Unterscheidung zwischen Kommunikation als Zeichenbenutzung Zeichen und Zeichensysteme Semiotik und Sprache als System 2 Sprachsystem (langue) und Sprachverwendung (parole) eingegangen und anschließend verschiedene Arten von sprachlichen Subsystemen vorgestellt. Das Funktionieren von Sprache als System wird in den strukturalistischen und kognitiven Schulen der Sprachwissenschaft untersucht, die der Gegenstand dieser Einführung sind. Als Zeichen im Sinne der Semiotik und der Sprachwissenschaft zählt dabei etwas, das auf etwas anderes Verweist, also etwa das norwegische Wort melk, das auf den Begriff MILCH im Norwegischen verweist. Als Zeichen im semiotischen Sinn zählt auch Rauch, der nach unserem Wissen darauf verweist, dass irgendwo ein Feuer sein muss. Ein weiteres Beispiel für Zeichen sind Straßenschilder. Die Semiotik erforscht allerdings nicht nur Zeichen für sich selbst, sondern das Verhältnis von Zeichen untereinander, Zeichenausdruck und Zeicheninhalt, Zeichen und Zeichenbenutzern sowie auch Zeichen und den Dingen in der wirklichen Welt, auf die sie verweisen. Zeichentheorien gibt es seit der Antike, so wie es ausgefeilte Sprachbeschreibung seit den Grammatikern des Sanskrit gibt. Die Begründer der modernen Semiotik sind Ferdinand de Saussure (1857-1913) und Charles Sanders Peirce (1839-1914, wie en. purse). Saussure begründete gleichzeitig die moderne Linguistik, die er auf seinen Zeichen- und Kommunikationsmodellen aufbaute. Fachgeschichtlich einschneidend war an Saussures Betrachtung der Sprache vor allem, dass er deren sprachgeschichtlicher Erforschung eine synchrone Betrachtung bestimmter Sprachzustände entgegensetzte, um Sprache als System, das Sprecher zu einer bestimmten Zeitpunkt verwenden, greifbar zu machen. In Abgrenzung zur synchronen, auf einen Zeitpunkt bezogenen Betrachtungsweise von Sprache bezeichnet man die Sprachgeschichte auch als diachrone Sprachwissenschaft, die die Entwicklungen von Sprachen über Zeiträume hinweg beschreibt. Prinzipiell können aber auch historische Zustände von Sprachen zu einem Zeitpunkt (bzw. innerhalb eines enger gefassten Zeitraums von einigen Generationen) als synchrone Zustände beschrieben werden. 1.1.1 Zeichenbestandteile Grundlegend für alle Zeichenmodelle ist die Beschreibung von Zeichen als aus zwei Teilen bestehend: einem Zeichenausdruck und einem Zeicheninhalt. Der Zeichenausdruck verweist auf den Zeicheninhalt, steht also nicht für sich selbst. Gegenstand der Semiotik Entstehung Synchronie vs. Diachronie Bestandteile 3 Semiotik Abbildung 1: Bilaterales Zeichenmodell (nach Saussure 1931, 78). Bevor konkrete Beispiele genannt werden, muss aber klargestellt werden, dass der Zeichenausdruck nichts Konkretes ist, das es in der realen Welt gibt. Der Zeichenausdruck ist ein mentales Konzept im Denken und Wissen von Zeichenbenutzern - im Falle von verbalen Sprachen von Sprechern. Diese Zeichenbenutzer realisieren einen Zeichenausdruck. Dieser Ausdruck wird von den Kommunikationspartnern als Ausdruck verstanden, der auf einen Zeicheninhalt verweist. Nun das Beispiel: Ein Stopp-Schild ist eine Realisierung eines Zeichens. Verkehrsteilnehmer verfügen (gemeinhin) über ein gedankliches Konzept von Stopp-Schildern. Sie wissen, wie Stopp-Schilder aussehen, und wenn sie ein konkretes Stopp-Schild sehen, erkennen sie es als ein solches und verstehen es als Hinweis auf bestimmte Verkehrsregeln, die es vor diesem Schild zu beachten gilt. Der Inhalt des Zeichens wäre demnach die Handlungsaufforderung, die entsprechenden Verkehrsregeln zu befolgen. Realisierungen von Zeichen werden auch Zeichenträger genannt. Im Fall von verbalen Sprachen ist die Luft, die in Schwingungen oder Turbulenzen versetzt wird, der Zeichenträger. Handlungsaufforderungen sind ein eher komplexer Zeicheninhalt. Dieses Beispiel zeigt aber direkt, dass Zeichen nicht einfach materialistisch auf Gegenstände der wirklichen Welt verweisen. Ein Bild von einem Schaf wäre ein Zeichen, das auf Schafe verweist. Wenn man „Ein Schaf.“ sagt, verweist das Wort dt. Schaf auf das gedankliche Konzept SCHAF. Das ist aber nur der geringste Teil von dem, was Zeichen beinhalten, und sie stehen nie isoliert, sondern werden immer in einem kommunikativen Zusammenhang realisiert - wie Stopp-Schilder auf einer Straße. Zeicheninhalte können also nur in ihrer Verwendung in konkreter Kommunikation erforscht werden. Darüber hinaus ist eine wesentliche Funktion von Sprache eben nicht, auf die Umwelt von Sprechern zu verweisen (referenzielle Funktion), wie der Blick auf Zeichenausdruck und Zeicheninhalt zunächst suggerieren könnte. Sprache dient vor allem als Instrument des Handelns und der Abstimmung des Handelns von Sprechern untereinander (appellative Funktion). Ausdruck vs. Realisierung Inhalt vs. Funktion Semiotik und Sprache als System 4 Natürliche, verbale Sprachen sind allerdings so konstruiert, dass sprachliches Handeln auf der Ebene von Sätzen umgesetzt wird. Auf der Wort-Ebene ist durchaus die Funktion vorherrschend, auf Begriffe von Gegenständen und Sachverhalten zu verweisen. Auf die verschiedenen Sprachfunktionen wird unter Punkt 0 eingegangen. Zunächst stellt sich noch eine andere Frage: Inwiefern können Straßenschilder, Wörter und Bilder als Zeichen gelten? Das Verhältnis zwischen Ausdruck und Inhalt ist hier ja sehr unterschiedlich. 1.1.2 Zeichentypen Da Zeichen durchaus unterschiedlich funktionieren in der Weise, in der der Zeichenausdruck auf den Zeicheninhalt verweist, werden Zeichen in verschiedene Zeichentypen unterteilt. Die Art und Weise des Verweises des Ausdrucks auf den Inhalt nennt man Relation. Entsprechend der Arten der Relation zwischen Ausdruck und Inhalt eines Zeichens unterscheidet man in der Terminologie von Charles Sanders Peirce drei Zeichentypen: 1. Index, 2. Ikon, 3. Symbol. Bei einem Index (Pl. Indices) stehen Ausdruck und Inhalt in einem kausalen Zusammenhang. Rauch (als Ausdruck) lässt auf ein Feuer (den Inhalt) schließen. Rauch ist also ein Index bzw. ein Anzeichen für Feuer. Rauch als kausale Folge eines Feuers anzusehen, beruht auf Erfahrungswissen. In diesem Sinne können auch soziale Zeichen Indizes sein. Trauerkleidung ist ein Anzeichen für Trauer und ein Partyhut für den situativen Kontext der Party. Bei ikonischen Zeichen besteht zwischen Ausdruck und Inhalt eine direkte visuelle oder akustische Ähnlichkeitsrelation. Verbale Ikone finden sich in der Lautmalerei (Onomatopoesie), etwa in Interjektionen wie dt. huch, die Erstaunen oder andere Emotionen ausdrücken, oder Verben wie dt. rauschen, die Geräusche erzeugende Vorgänge beschreiben. Besonders viele Onomatopoetika (Sg. Onomatopoetikon) finden sich in den Lautmalereien von Comics (dt. peng, zäng, grrr). Das gleiche lautliche Vorbild kann in verschiedenen Sprachen in unterschiedlicher Weise nachgeahmt werden: (1) dt. kikeriki vs. en. cock-a-doodle-doo vs. se. kukeliku vs. nl. kukeleku. Den Grad der Ähnlichkeit zwischen Ausdruck und Inhalt eines Zeichens nennt man Ikonizität. Das Konterfei von Che Guevara besitzt beispielsweise große Ikonizität, da es dem, was es bezeichnet, sehr ähnelt. Eine im Vergleich dazu geringere Ikonizität besitzen beispielsweise Piktogramme auf Verkehrsschildern. Schließlich gibt es auch Zeichen, bei denen Ausdruck und Inhalt nur durch Konvention in einen Zusammenhang gebracht werden. Weder Ähnlichkeit noch kausale Zusammenhänge spielen dabei eine Rolle. Sprachliche Zeichen, also Wörter, Phrasen und Sätze, sind allesamt Symbole, mit Ausnahme von lautmalerischen sprachlichen Zeichen, die ikonischen Charakter besitzen. Relation Index Ikon Symbol 5 Semiotik 1.1.3 Eigenschaften sprachlicher Zeichen Sprachliche Zeichen, also Symbole, besitzen vier Eigenschaften: 1. Arbitrarität, 2. Konventionalität, 3. Assoziativität, 4. Linearität. Der wichtigste Unterschied zwischen Symbolen und den beiden anderen Zeichentypen, Indizes und Ikonen, ist der Unterschied der Relation zwischen Ausdruck und Inhalt. Während bei Indizes ein kausaler Zusammenhang zwischen Zeichenausdruck und Zeicheninhalt besteht (bzw. von Zeichenbenutzern angenommen wird) und bei Ikonen eine Ähnlichkeitsrelation vorhanden ist, gibt es keine derartige Verbindung zwischen Ausdruck und Inhalt bei Symbolen. Ihre Relation ist vollkomen arbiträr. Ausdruck und Inhalt werden lediglich per Konvention miteinander in Beziehung gesetzt. Das klassische Beispiel für Arbitrarität ist, dass Begriffe verschiedene Bezeichnungen in unterschiedlichen Sprachen haben: (2) dt. Baum vs. (3) en. tree ‘Baum’ vs. (4) da. træ ‘Baum, Holz’. Abgesehen vom Problem der nicht vollkommen identischen Bedeutungen von Wörtern in verschiedenen Sprachen, sind Bezeichnungen nur in den seltensten Fällen zwischen mehreren Sprachen identisch, etwa im Fall von Fremdwörtern und Internationalismen (z.B. ticket, bank, credit, zickzack). Die Unterschiedlichkeit der Bezeichnung gilt überraschenderweise auch für Onomatopoetika. Es bestehen zwar gewisse Ähnlichkeiten zwischen en. cock-a-doodle-doo und se. kukeliku, jedoch sind sie nicht annähernd identisch. Ihre Relation ist bis zu einem gewissen Grad von Arbitrarität geprägt sowie von den Lautstrukturen der betreffenden Sprachen (zu Lautstrukturen von Sprachen siehe das Kapitel zur Phonologie). Die Konventionalisierung von Symbolen geschieht durch den wiederkehrenden Gebrauch eines Zeichenausdrucks durch einen Zeichenbenutzer mit der Intention, damit auf einen bestimmten Zeicheninhalt zu verweisen. Dieser Gebrauch muss von einem anderen Zeichenbenutzer erfolgreich so verstanden werden und weiter in dieser Weise gebraucht werden, damit sich der Zusammenhang zwischen Ausdruck und Inhalt in einer Sprechergemeinschaft verfestigt, also konventionalisiert wird. Die Konventionalität ist aber auch ein Charakteristikum vieler lautmalerischer Zeichen. Onomatopoetika wie kikeriki oder bumms sind stark gebräuchlich, also konventionalisiert. Diese Klasse von Wörtern ist zwar offen für Neuschöpfungen. Onomatopoetika durchlaufen aber dennoch den Prozess der Konventionalisierung. Ausdruck und Inhalt von sprachlichen Zeichen sind nicht sozial durch Konvention miteinander verknüpft. Die Konventionalisierung bedingt auf psychischer Ebene, dass Sprecher Ausdruck und Inhalt unweigerlich assoziativ miteinander verknüpfen. Denkt ein Sprecher an einen STUHL, denkt er auch laut der strukturalistischen Sprachwissenschaft nach Saussure an die Arbitrarität Konventionalität Assoziativität Semiotik und Sprache als System 6 Lautkette / ʃtuːl/ und umgekehrt. Während die Konventionalität von Zeichen also eine Eigenschaft von Zeichen auf der Ebene der Gemeinschaft von Zeichenbenutzern beschreibt, liegt die Eigenschaft der Assoziativität auf der Ebene des Denkens des einzelnen Sprechers, also auf der Ebene der Kognition. Im Kapitel zur Bedeutung sprachlicher Zeichen, der Semantik, wird auf die kognitive Perspektive auf Sprache weiter eingegangen. Wenngleich die traditionelle Linguistik den Fokus stärker auf Sprache als ein abstraktes System legt, über das Sprechergemeinschaften verfügen, ist die kognitive Perspektive in ihr dennoch angelegt. Beide Perspektiven schließen einander nicht aus, sondern gehören zu einer vollständigen Betrachtung von Sprache dazu. Die Linearität bezeichnet eine Eigenschaft von sprachlichen Zeichen, die nicht im Denken von Sprechern oder auf der Ebene der Sprechergemeinschaft liegt, sondern eine Eigenschaft, die das Sprechen betrifft. Sprachliche Zeichen werden nacheinander artikuliert und nicht parallel. Vereinfacht ausgedrückt: Man kann nur ein Wort auf einmal sprechen, dann erst das nächste. Im Falle des Schreibens gilt dies Ebenfalls. Beim Lesen wiederum kann man vor- und zurückspringen. Dieses Nacheinander der Zeichenabfolge beim Sprechen, wird als linear begriffen. Mit Bezug auf das Hören bzw. präziser gesagt auf das Sprachverstehen, endet jedoch die Linearität von Zeichen. Da sprachliche Äußerungen oft mehrere Deutungen durch Hörende zulassen, also mehrdeutig (ambig) sind, arbeitet das menschliche Hirn im Prozess des Sprachverstehens mit mehreren Deutungen parallel, die im Verlauf des Verstehensprozesses vereindeutigt (disambiguiert) werden. Sprachliche Äußerungen werden dabei im Arbeitsgedächtnis zwischengespeichert, während sie sprachlich verstanden (geparst) werden. Der Vorgang der Analyse und Interpretation von sprachlichen Äußerungen wird als Parsing bezeichnet. 1.1.4 Zeichen- und Kommunikationsmodelle Das einfachste Zeichenmodell beschreibt nur das Zeichen selbst, ohne seinen Bezug zu Gegenständen oder Sachverhalten außerhalb des Denkens von Zeichenbenutzern und ohne sein Verhältnis zu Zeichenbenutzern. Es zeigt nur das Verhältnis von Ausdruck und Inhalt. Dieses Zeichenmodell wird als bilaterales Zeichenmodell bezeichnet (vgl. Abbildung 1) und wurde von Saussure aufgestellt, wenngleich es Vorläufer dieses Modells (und der folgenden komplexeren Modelle) schon in der antiken Philosophie gab. Der Zeichenausdruck (Signifikant) und der Zeicheninhalt (Signifikat) stehen in den im vorherigen Abschnitt beschrieben Relationen der Konventionalität, Arbitrarität und Assoziativität zueinander und sie werden linear geäußert. Zeichenausdruck und Zeicheninhalt sind ferner in ihrer Assoziativität deckungsgleich: Alles, was ein Zeichen ausdrückt, steckt in seinem Zeicheninhalt. Alles vom Zeicheninhalt wird vom Zeichenausdruck ausgedrückt. Dieses Verhältnis wird auch quantitative Konsubstantialitätsrelation genannt. Es lässt sich allerdings differenzierter betrachten, wenn man das Verhalten der Zeichenbenutzer mit einbezieht und situative und emotio- Linearität bilaterales Zeichenmodell quantitative Konsubstantialitätsrelation 7 Semiotik nale Bedeutungen in der Kommunikationssituation berücksichtigt. Dies wird genauer im Kapitel zur Semantik unter den Stichworten Denotat und Konnotat erläutert. Mit einem weiteren Fokus als im bilateralen Zeichenmodell wird im semiotischen Dreieck (vgl. Abbildung 2) neben dem Zeichen als psychischer Einheit auch der Gegenstand oder Sachverhalt der physischen oder sozialen Realität mit einbezogen, auf den das Zeichen referiert. Gegenstände oder Sachverhalte, auf die Zeichen referieren, werden Referenten (Sg. Referent) genannt. Während das bilaterale Zeichenmodell nach Saussure auf Zeichenausdruck und Zeicheninhalt beschränkt bleibt, erweitert das semiotische Dreieck die Betrachtung des Zeichens um die die Untersuchung der Relation von Zeichen und den Gegenständen und Sachverhalten der menschlichen Umwelt. Die entscheidende Aussage des semiotischen Dreiecks ist die fehlende Unmittelbarkeit zwischen Zeichenausdruck und Referenten. Die Verbindung zwischen Referent und Zeichenausdruck wird hergestellt durch die Zeichenbenutzer, die einen Gegenstand oder einen Sachverhalt der physischen oder sozialen Wirklichkeit einem gedanklichen Konzept (Begriff) zuordnen. Das gedankliche Konzept ist hierbei gleichbedeutend mit dem Zeicheninhalt - unter der Voraussetzung, dass es einen Zeichenausdruck für dieses Konzept in einer der Sprachen gibt, die ein Zeichenbenutzer verwendet. Abbildung 2: Semiotisches Dreieck (nach Ogden/ Richards 1923). Karl Bühler (1879-1963) entwickelte 1934 in seinem Buch Sprachtheorie ein weiteres Zeichenmodell. Dieses berücksichtigt die Rolle des Zeichens in der Kommunikation stärker als Saussures bilaterales Zeichenmodell. Bühler nannte sein Modell das Organonmodell der Sprache (vgl. Abbildung 3), in Anlehnung an Platons Bezeichnung von Sprache als agr. organon ‘Werkzeug’. Bühler geht mit seinem Modell über die Betrachtung von Zeichen als Werkzeuge zur Wiedergabe bzw. Darstellung von Wirklichkeit hinaus und blickt eingehender auf seine Rolle in der Kommunikation zwischen Zeichenbenutzern. semiotisches Dreieck Ausdruck vs. Referent Organon-Modell Semiotik und Sprache als System 8 Das Organon-Modell beinhaltet vier Bestandteile der Kommunikation: 1. Einen Sender, der sprachliche Zeichen produziert. 2. Einen Empfänger, der sie interpretiert. 3. Gegenstände und Sachverhalte, über die kommuniziert wird. 4. Sprachliche Zeichen, die der Inhalt der Kommunikation sind. Bühler unterscheidet drei Sprachfunktionen des Zeichens, je nach dem Bestandteil der Kommunikation, auf den es sich inhaltlich bezieht: 1. Die Ausdrucksfunktion: Das sprachliche Zeichen vermittelt Informationen über den Sender. 2. Die Appellfunktion: Das sprachliche Zeichen soll das Handeln des Empfängers beeinflussen. 3. Die Darstellungsfunktion: Das sprachliche Zeichen beinhaltet Informationen über einen Gegenstand oder einen Sachverhalt. Entsprechend der Sprachfunktionen eines Zeichens bestimmt Bühler auch drei Typen sprachlicher Zeichen. Sprachliche Zeichen, die oben mit Peirce als Symbole klassifiziert wurden, werden so weiter unterteilt in: 1. Symptome (=Ausdrücke), 2. Signale (=Appelle), 3. Symbole (=Darstellungen). Abbildung 3: Das Organonmodell nach Bühler (1999, 28) In Bühlers Organonmodell wird wiedergegeben, dass der Zeichenausdruck und die Realisierung des Zeichenausdrucks in Äußerungen von Sprechern nicht deckungsgleich sind. Im Diagramm wird der Zeichenausdruck (Z) als Dreieck wiedergegeben. Der gepunktete Kreis um das Zeichen herum symbolisiert das Schallereignis, mit dem das Zeichen in verbalen, natürlichen Spra- Bestandteile Sprachfunktionen Zeichentypen Ausdruck vs. Realisierung 9 Semiotik chen geäußert wird, also die Realisierung des Zeichenausdrucks. Beide Formen sind nicht deckungsgleich, womit Bühler zwei Phänomene im Diagramm festhält: 1. die abstraktive Relevanz, 2. die apperzeptive Ergänzung. Die abstraktive Relevanz bedeutet, dass nicht alle Eigenschaften des Schallereignisses relevant sind für seine Erkennung als sprachliches Zeichen durch den Hörenden. Der Kreis, der das Schallereignis symbolisiert, ragt daher über das Dreieck hinaus, das für das Zeichen steht. Dieses Prinzip lässt sich auf akustischer Ebene durchaus beschreiben, es ist jedoch verständlicher, es an einem gegenständlicheren Beispiel zu erläutern. Hier bieten sich erneut Verkehrsschilder an. Man kann zunächst meinen, dass ein Verkehrsschild unbedingt auf einem metallenen Zeichenträger angebracht sein müsste. Auf Autobahnen werden sie jedoch auch auf Leuchttafeln eingeblendet (was den praktischen Vorteil hat, dass beispielsweise flexibel Geschwindigkeitsbegrenzungen angezeigt werden können, je nach Verkehrsfluss). Das Material des Zeichenträgers ist in diesem Fall nicht relevant für die Erkennung des Zeichens. Gleichsam sind im Schallereignis nicht unbedingt alle relevanten Informationen enthalten, etwa durch Versprecher oder zu laute Hintergrundgeräusche. Hier ist der Empfänger durch apperzeptive Ergänzung in der Lage, das Fehlende in seinem Denken zu ergänzen, also das, was gehört wird, konstruktiv zu ergänzen, so dass das Geäußerte Sinn ergibt. Bühlers Organon-Modell beeinflusste die Prager Schule des Strukturalismus, die die psychologische Ebene des Funktionierens von Sprache betonte, weswegen diese Denkschule auch als Funktionalismus bezeichnet wird. Der Funktionalismus stand im Gegensatz zur behavioristisch geprägten Schule des amerikanischen Strukturalismus, der jeglichen Aspekt von Bedeutung von Sprache ausklammerte. Aufbauend auf Bühlers Organon-Modell entwickelte Roman Jakobson (1896-1982), dessen bewegtes Leben ihn von Moskau über Prag zu einer Professur an der Universität Harvard führte, ein Kommunikationsmodell (vgl. Abbildung 4). Entsprechend der funktionalistischen Ausrichtung des Prager Strukturalismus nimmt dieses Kommunikationsmodell die Funktionen von Sprache in den Blick. Es berücksichtigt außerdem weitere Aspekte des Verhältnisses zwischen Zeichen, Zeichenbenutzern und den Dingen in der wirklichen Welt, auf die Zeichen verweisen. Das funktionale Kommunikationsmodell unterscheidet sechs Bestandteile sprachlicher Kommunikation: 1. einen Sender, der eine Nachricht äußert, 2. einen Empfänger, der die Nachricht hört und interpretiert, 3. eine Nachricht, also die geäußerten sprachlichen Zeichen, 4. einen Gegenstand (nach Pelz 2005), über den gesprochen wird, also ein physisches Objekt oder einen Sachverhalt, 5. einen Kode, in dem die Nachricht geäußert wird, also eine natürliche Sprache, 6. ein Kanal, über den diese Nachricht übermittelt wird. funktionales Kommunikationsmodell Bestandteile Semiotik und Sprache als System 10 Im Fall natürlicher, verbaler Sprachen ist der Kanal die Luft, die beim Sprechen in Schwingungen und Turbulenzen versetzt wird. Nach heutigem Kenntnisstand weiß man allerdings, dass auch optische Reize zusätzlich verarbeitet werden, so sie denn verfügbar sind. Bei anderen natürlichen Sprachen, wie Gebärdensprachen, werden optische Reize statt akustischen übermittelt. Der Kanal ist hier also das Licht. Abbildung 4: Funktionales Kommunikationsmodell (nach Jakobson 1960, 353) Das funktionalistische Kommunikationsmodell geht davon aus, dass nicht nur über den Gegenstand von Kommunikation kommuniziert wird, sondern gleichzeitig auch über andere Bestandteile einer Kommunikationssituation. Das Modell benennt sechs Sprachfunktionen nach den Bestandteilen von Kommunikationssituationen, bezüglich derer Informationen in der Kommunikation enthalten sind: 1. Expressiv-emotiv: Der Sender der Nachricht äußert sich über sein emotionales Verhältnis zum Gegenstand der Nachricht. Bsp.: no. Æsj! ‘Pfui! ’ 2. Appellativ-konativ: Der Sender versucht, das Handeln oder Fühlen des Empfängers zu beeinflussen. Bsp.: da. Hold op! ‘Hör auf! ’ 3. Poetisch: Der Sender nutzt Stilmittel, um seiner Nachricht einen stärkeren Ausdruck zu verleihen. Bsp.: en. I like Ike! (Wahlkampfslogan für Dwight „Ike“ D. Eisenhower) 4. Referenziell: Der Sender teilt Informationen über den Gegenstand mit, über den er spricht. Bsp.: da. Træet er grønt. ‘Der Baum ist grün.’ 5. Metasprachlich: Äußerungen, die den Kode thematisieren, also mitunter alle sprachwissenschaftlichen Äußerungen. Bsp.: se. Det här ordet er neutrum. ‘Dieses Wort ist ein Neutrum.’ Sprachfunktionen 11 Sprache als System 6. Phatisch: die Äußerung des Sprechers dient dazu, zu prüfen, ob der Kanal, über den die Nachricht übermittelt wird, offen ist. Unter diese Funktion wird gemeinhin auch die Funktion des Kontakthaltens subsumiert. Bsp.: is. Jæja. ‘So! ’ In dieser ersten Hälfte des Kapitels haben wir in einem ersten Schritt sprachliche Zeichen und ihre Struktur betrachtet. Dazu kam in einem zweiten Schritt eine Analyse der Verwendung sprachlicher Zeichen in der Kommunikation, woraus Funktionen der Zeichenverwendung abgeleitet wurden. In der nun folgenden Hälfte dieses Kapitels richtet sich unser Blick auf die Systeme, die Zeichen bilden. 1.2 Sprache als System Sprachen können als System von Zeichen angesehen werden. Unter Sprachen werden hier Einzelsprachen verstanden wie Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Isländisch, Färöisch, Deutsch und Englisch. Natürlich sind diese Systeme nicht so gleichmäßig wie ein Blick in ein Sprachlehrbuch oder eine Grammatik wie der Duden zunächst suggeriert. Sprecher des Norwegischen reden unterschiedlich in Trondheim und in Oslo, sie reden anders in Oslo- Ost als in Oslo-West und Sprecher des Schwedischen reden anders in Finnland als in Schweden. Nicht nur der Wohnort oder die Herkunft, auch die Situation, in der man spricht, sorgt für Unterschiede: Ein Tagesschau- Sprecher spricht vor der Kamera anders als mit seinen alten Schulfreunden, eine Lehrerin mit ihren Schülern anders als mit deren Eltern. Was all diese Varianz bedeutet für die Betrachtung von Sprache als System, analysiert die zweite Hälfte dieses Kapitels. Die in diesem Kapitel vorgestellte strukturalistische Sprachwissenschaft, die auf der Semiotik basiert, begreift Sprache als ein abstraktes System, das über-individuell besteht, jenseits der konkreten Sprachkompetenzen einzelner Sprecher einer Sprache. Es ist so gesehen die Summe aller Regeln, nach denen Sprecher einer Einzelsprache sprechen. Diese strukturale Perspektive wurde in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ergänzt durch eine kognitive Perspektive, die untersucht, wie Sprache im Denken individueller Sprecher funktioniert. Diese kognitive Perspektive abstrahiert ebenfalls, um nicht nur Aussagen über Individuen zu formulieren, sondern auch über die Sprachkompetenz und die Regeln von Sprachproduktion von Sprechergruppen (etwa aller Sprecher einer Einzelsprache, z.B. des Schwedischen). Beide Perspektiven haben das gleiche Ziel, Sprache als System zu beschreiben. Bei der in späteren Kapiteln vorgestellten kognitiven Perspektive auf Sprache muss daher bedacht werden, dass die Begrifflichkeiten und Analyse-Methoden, die denen der hier vorgestellten strukturalistischen Perspektive gleichen, nicht dazu verleiten dürfen, anzunehmen, dass die Systeme, die die Sprachwissenschaft rekonstruiert, genau so im Denken von Sprechern funktionieren müssen. strukturale vs. kognitive Perspektive Wirklichkeitsstatus von Systemen Semiotik und Sprache als System 12 1.2.1 Sprachsystem ( langue ) und Sprachwirklichkeit ( parole ) Sprecher einer Sprache - etwa des Dänischen - können die sprachlichen Äußerungen anderer Sprecher dieser Sprache verstehen, weil sie sich ein Sprachsystem teilen, also Äußerungen aufgrund einander gleichender Regeln produzieren und interpretieren. Diese Regeln wurden in den Kommunikationsmodellen oben Kode genannt. Wie dieser Kode, also das Sprachsystem, aussieht, den Sprecher zum Produzieren sprachlicher Äußerungen verwenden, erschließt die Sprachwissenschaft auf der Grundlage konkreter sprachlicher Äußerungen. Daraus ergibt sich eine Unterscheidung, die unter verschiedenen Termini in unterschiedlichen Schulen der Linguistik bekannt ist. In der theoretischen Grundlegung der modernen Linguistik wurden sprachliche Äußerungen von Saussure als parole bezeichnet, das gemeinsame System, über das Sprecher verfügen, als langue. Die langue ist damit ein Abstraktum wie „das Deutsche“ oder „das Dänische“. Die parole umfasst hingegen konkrete Äußerungen wie die Neujahrsansprache von Angela Merkel im Jahre 2014 oder genau diesen Satz hier. Die langue wird als System konstruiert auf der Basis der parole. Die langue ist nicht die individuelle Sprachkompetenz eines einzelnen Sprechers, sondern ein abstraktes, über-individuelles Konstrukt. Selbstverständlich existiert empirisch keine transzendente Grammatik einer Sprache, die alle Sprecher durchdringt. Vielmehr erlernen Sprecher im Laufe ihres Lebens eine Sprache so weit, wie sie diese für die erfolgreiche Kommunikation mit ihrem sprachlichen Umfeld benötigen. Die Sprachkompetenz von Sprechern unterscheidet sich daher danach, wo und mit wem Sprecher erfolgreich kommunizieren müssen. Die Sprachkompetenz entwickelt sich in Abhängigkeit vom sprachlichen Umfeld und dem benötigten Sprachverhalten. Man unterscheidet das konkrete Sprachverhalten eines Sprechers in einer bestimmten Sprechsituation als Performanz von seiner allgemeinen (Sprach-)Kompetenz. Kompetenz und Performanz entsprechen daher langue und parole auf individueller Ebene. Das sprachliche Umfeld wird definiert durch den geographischen Ort des Sprechers (also das oder die Dialektgebiete, in denen er sich aufhält), die soziale Schicht, zu der er gehört, der Berufsgruppe, dem Alter und dem Geschlecht. Nicht alle Faktoren müssen bei allen Einzelsprachen zu größerer Variation führen. Und einzelne Sprecher können über ein differenziertes Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten verfügen, etwa zwischen Dialekt und Standardsprache wechseln, wenn sie sich außerhalb ihres Heimatdorfs bewegen oder statt mit Familienmitgliedern im Dialekt etwa mit Schulfreunden jugendsprachliche Ausdrücke verwenden. Die Differenzierung von individuellem Sprachgebrauch nach Faktoren wie Alter, Region, sozialer Schicht, Beruf, Geschlecht legt den Rückschluss nahe, dass „die langue“ eine starke Vereinfachung von Systemen von Einzelsprachen ist. Man untersucht deswegen Sprachen auch in ihrer Differenzierung in Subsysteme, die Varietäten genannt werden. Die sprachwissenschaftlichen Disziplinen, die sich damit befassen sind die Varietätenlinguistik, Soziolinguistik, Dialektologie und Soziodialektologie. Neben der Differenzierungen von Sprachsystemen in Subsysteme wird deutlich, dass Sprachsysteme wissenschaftlich nur auf der Grundlage von langue vs. parole langue vs. Sprachkompetenz Kompetenz vs. Performanz Sprachkompetenz und sprachliches Umfeld Subsysteme Modell vs. Wirklichkeit 13 Sprache als System sprachlichen Äußerungen rekonstruiert werden können und die sprachliche Realität so komplex ist, dass die auf Grundlage von Äußerungen konstruierten Systeme diese Komplexität nicht wiedergeben können. Die Systeme, die in sprachwissenschaftlichen Arbeiten rekonstruiert werden, sind also nicht gleichbedeutend mit der langue, die ein rein theoretisches Konzept darstellt. Die langue ist vielmehr ein Hilfskonstrukt, das Sprache als überindividuelles System begreift und nicht, wie sich Sprache in der Wirklichkeit verhält, nämlich als eine Anzahl von individuellen Sprachkompetenzen von Sprechern, die untereinander zu gewissen Graden ähneln. 1.2.2 System Wenn von Sprache als System gesprochen wird, gilt als grundlegende Definition, dass ein System aus einer Anzahl von Elementen (Einheiten) besteht, die in Relation zueinander stehen. Das Verhältnis eines Elements zu allen anderen Elementen bestimmt seinen Wert im System. Beispielsweise bedeutet die Note ‘5’ im System einer Notenskala von 1 bis 6, wie sie in Deutschland verwendet wird, etwas anderes als auf einer Notenskala von 1 bis 10, die in vielen anderen Ländern existiert. Der Wert der Note ‘5’ ist im Notensystem mit Noten von 1 bis 6 schlechter als der in Notensystem von 1 bis 10. Die Note ‘2’ hat keine Bedeutung für sich, sondern nur in ihrer Relation zu allen anderen Noten der Notenskala. Die Notenskala ist in diesem Fall das System und die Noten sind die Elemente dieses Systems. Die hierarchische Gliederung von ‘1’ als bester Note zur schlechtesten Note ‘6’ in der 6er- Notenskala bzw. ‘10’ in der 10er-Notenskala sind die Relationen zwischen den Elementen des Systems. Aus diesen Relationen aller Elemente zueinander ergibt sich der Wert der Noten. Auf Sprachen bezogen ist Wert eines Elements die Bedeutung eines Zeichens. Die Bedeutung ergibt sich aus all dem, was das Element im System nicht ist. Gemäß dieser Theorie wird also angenommen, dass Begriffe sich in Abgrenzung zueinander und nicht in Ähnlichkeit zueinander differenzieren. Alle Relationen aller Elemente sind die Struktur des Systems. Die Relationen zwischen Elementen eines Systems werden in grundsätzlich zwei Arten unterteilt: 1. syntagmatische Relation, 2. paradigmatische Relation. Die syntagmatische Relation bezieht sich auf die Linearität sprachlicher Äußerungen. Eine Sprachliche Äußerung als Kette sprachlicher Zeichen, wird Syntagma genannt. Bestimmte Zeichen bzw. sprachliche Einheiten können in einem Syntagma in bestimmten Kontexten anderer Zeichen auftreten oder nicht. Beispielsweise kann der angehängte Artikel in den festlandskandinavischen Sprachen Norwegisch, Dänisch und Schwedisch nur an Substantive angehängt werden, nicht etwa an Verben oder Pronomen. Würde man einen Artikel an eine andere Wortart als ein Substantiv anhängen, erhielte man einen agrammatischen, „falschen“ Satz. (5) da. Jeg sidder ved bordet. ‘Ich sitze am Tisch.’ (6) da. *Jeget sidder ved bord. Bestandteile Arten von Relationen Syntagma Semiotik und Sprache als System 14 (7) da. *Jeg sidderet ved bord. (8) da. *Jeg sidder vedet bord. Als Paradigma bezeichnet man eine Austauschklasse. Beispielsweise können in einem bestimmten Satz (also einem Syntagma) Wörter untereinander ausgetauscht werden, ohne das der Satz agrammatisch würde, also kein „richtiger“ Satz der Sprache wäre. (9) no. Jeg snakker. ‘Ich spreche’; (10) no. Du snakker. ‘Du sprichst’; (11) no. Mannen snakker. ‘Der Mann spricht’. In den Beispielsätzen oben bilden die Wörter no. jeg, du, mannen ein Paradigma. Erweitert man diese Art von Austausch-Text (Substitutionstest), erschließt man Elemente des Paradigmas Substantiv. Systeme werden wie erwähnt anhand von Äußerungen rekonstruiert. Eine konkrete Äußerung wird als token bezeichnet. Der sprachlichen Kategorie im System, der sie zugeordnet wird, bezeichnet man als type. Beispielsweise sind no. han und hun in folgenden Sätzen verschieden token desselben type, denn bei beiden handelt es sich um Pronomen. (12) no. Han er trist. ‘Er ist traurig’; (13) no. Hun er glad. ‘Sie ist fröhlich’. Der type Pronomen ist in diesem Fall eine Wortart. Die beiden token sind zwei konkrete Wortformen in zwei konkreten Sätzen. So wie auf der Basis von tokens auf types geschlossen wird, wird auf der Grundlage der parole die langue rekonstruiert. Dieser Unterschied zwischen einer Einheit auf der abstrakten Ebene des Systems und der Realisierung dieser Einheit in einer konkreten Sprachäußerung wird auf den verschiedenen Beschreibungsebenen der Linguistik stets eingehalten und äußert sich in der Phonologie und der Morphologie auch in paarigen Termini (vgl. Tabelle 1). Einheiten auf der Ebene des Systems werden auch als emische Einheiten zusammengefasst, Realisierung dieser Einheiten als etische Einheiten. Beschreibungsebene Emisch Etisch Allgemein type token Phonologie Phonem (Allo-)Phon Morphologie Morphem (Allo-)Morph Tabelle 1: Begriffspaare emischer und etischer Einheiten auf verschiedenen Beschreibungsebenen von Sprache Die Systemtheorie unterscheidet vier Typen von Systemen entsprechend ihrer Ausprägung in Bezug auf zwei Eigenschaften: 1. dem Verhältnis zwischen einem System und seiner Umwelt (offen vs. geschlossen); 2. der Veränderlichkeit eines Systems (dynamisch vs. statisch). Paradigma type vs. token emische vs. etische Einheiten Typen 15 Sprache als System Mit der Umwelt eines Systems ist alles gemeint, was nicht Teil des Systems ist. Aus allgemein semiotischer Sicht ist beispielsweise die Welt, so wie sie Menschen mit ihren Sinnen wahrnehmen können, die Umwelt des menschlichen Denkens. Die Umwelten von Zeichensystemen wiederum sind, je nach Schule des Strukturalismus, entweder das menschliche Denken oder die Referenten, auf die sprachliche Zeichen verweisen. Referenten werden daher auch Umweltreferenten genannt. Systeme, die im Austausch mit ihrer Umwelt stehen, werden offene Systeme genannt. Geschlossene Systeme sind solche, die in keinerlei Austausch mit ihrer Umwelt stehen, und damit aus ihrer Perspektive heraus auch keine Umwelt haben. Das Standard-Beispiel für ein offenes System ist ein Thermostat, das die Temperatur einer Heizanlage in Abstimmung mit der Umgebungstemperatur reguliert. Der Temperaturfühler des Thermostats ist sein Wahrnehmungsorgan, das seine (auf Temperatur beschränkte) Umwelt wahrnimmt. Sprechergemeinschaften stellen, so hält es die soziologische Systemtheorie fest, als soziale Gruppen offene Systeme dar. Neue Mitglieder werden Teil der sozialen Gruppe (also des sozialen Systems) durch Geburt oder Migration; andere Mitglieder verlassen die soziale Gruppe ebenfalls durch Migration oder durch ihren Tod. Sprachen sind ebenfalls offene Systeme. Egal ob man nun als Umwelt das nicht-sprachliche menschliche Denken oder die direkte sinnlich wahrgenommene Umwelt des Menschen ansetzt, steht Sprache in einem Austausch mit dem (Wissen über) die Umwelt ihrer Sprecher. Am einfachsten ist dies beim Aufkommen neuer Wörter in Sprachen zu beobachten. Diese können neu entstehen durch Entlehnung (quasi Migration) oder Erfindung (quasi Geburt; etwa bei Onomatopoetika). Wörter sterben ebenso aus (verschwinden jedoch nicht infolge von Entlehnung in eine andere Sprache aus der Herkunftssprache). Wörter (oder besser Lexeme), werden in der Linguistik als offenes Paradigma bezeichnet, weil beständig neue hinzukommen können. Flexionsendungen wiederum (die ja so gesehen auch Teile von Wörtern sind), bilden ein geschlossenes Paradigma: Sie verändern sich nicht - oder zumindest nicht so schnell. Im Standard-Deutschen gerät beispielsweise die Endung {-e} für D ATIV .S INGULAR immer weiter außer Gebrauch. So ist die Form dem Manne nur noch in poetischer Sprache gebräuchlich. Ein Beispiel aus den festlandskandinavischen Sprachen für eine Flexionsendung, die über die Zeit hinzugekommen ist, ist das sogenannte „s-Passiv“ wie in no. ses ‘sich sehen, gesehen werden’, das aus der weit weniger regelmäßigen und produktiven Mediopassivendung im Altnordischen hervorgegangen ist. Die Formulierungen „außer Gebrauch geraten“ und „sterben“ offenbaren eine zeitliche Dimension in Bezug auf die Struktur von Systemen, die ihre Veränderlichkeit ermöglicht. Systeme, die ihre Struktur ändern, sind dynamisch. Systeme, die eine unveränderliche, starre Struktur besitzen, sind statisch. An diese Unterscheidung schließt ein zentrales Begriffspaar der Linguistik an: synchron und diachron. Synchron betrachtet man eine Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt (an einem bestimmten Ort und eine bestimmte Gruppe von Sprechern umfassend). Diachron wird eine Sprache in ihrer Umwelt offen vs. geschlossen offene vs. geschlossene Paradigmen statisch vs. dynamisch Synchronie vs. Diachronie Semiotik und Sprache als System 16 Veränderung über die Zeit hinweg betrachtet. Dies geschieht aufgrund der einfacheren Handhabbarkeit der Beschreibungsmodelle in einer Anzahl diskreter Einzelschritte (also z.B. das Schwedische in den Jahren 1970, 1980 und 1990), nicht als kontinuierlicher Prozess, den diese Entwicklung in der Sprachwirklichkeit darstellt. Diese Einzelschritte sind für sich genommen synchrone Momentaufnahmen eines Sprachsystems. 1.2.3 Subsysteme Systeme können in Teilsysteme unterteilt werden, die auch Subsysteme genannt werden. Man unterteilt Systeme dann in Teilsysteme, wenn sich bestimmte Regelmäßigkeiten nur mit einem bestimmten Gültigkeitsbereich formulieren lassen. Bei der Beschreibung von Sprache als System werden solche Unterteilungen vorgenommen, wenn eine Gruppe von Sprechern unter bestimmten Faktoren (Herkunft, soziale Schicht etc.) ein anderes Sprechverhalten zeigt als die gleiche oder eine andere Sprechergruppe unter anderen Faktoren. Durch Faktor Herkunft lassen sich Dialekte einteilen (z.B. Plattdeutsch, Bairisch, Rheinisch, Kölsch). Durch den Faktor der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht Soziolekte. Es kommen freilich weitere Faktoren hinzu, da Varietäten nicht in allen Kommunikationssituationen verwendet werden. In den meisten Teilen Deutschlands werden Dialekte beispielsweise nicht im Unterricht gesprochen. In Norwegen verhält es sich ganz anders. Dort werden Dialekte in möglichst allen Situationen des Lebens verwendet. Die interne Variation von Sprachsystemen, also ihre graduelle Verschiedenheit nach beispielsweise Dialekten und Soziolekten, wird als diastratische Variation bezeichnet. Subsysteme einer Sprache werden als Varietäten bezeichnet. Wie individuelle Sprecher sprechen, hängt von diversen Faktoren ab. Gemeinhin unterscheidet man folgende Eigenschaften eines Sprechers bzw. seiner Kommunikationssituation, die sein Sprechen beeinflussen: 1. geographische Herkunft, 2. soziale Schicht, 3. soziales Geschlecht (gender), 4. Alter, 5. das Medium, in dem er sich äußert (mündlich vs. schriftlich), 6. die Interaktivität der Sprechsituation (dialogisch, monologisch etc.), 7. die Textsorte (z.B. Predigt, Liebesbrief), 8. Sprechweisen für verschiedene Textsorten. In der Sprachwirklichkeit kommen die oben genannten Faktoren stets zusammen, weswegen die aufgezählten Varietäten sich überlappen (vgl. Abbildung 5). Ein Sprecher einer Sprache kommt immer aus einer bestimmten Region, spricht also einen bestimmten Dialekt (oder nicht), gehört einer sozialen Schicht an, äußert sich in einem bestimmten Medium (also mündlicher oder schriftlich) und hat auch immer ein Alter. Je nach dem Faktor oder den Faktoren, die man untersucht, betrachtet man einen Teil der Sprachwirklichkeit, den man entsprechend benennt. Die anderen Faktoren sind aber unweigerlich immer präsent. Faktoren Varietäten- Überlappung 17 Sprache als System Entsprechend der oben genannten Faktoren benennt man acht Arten von Varietäten, je nach dem das Sprechverhalten und die Sprachkompetenz beeinflussenden Faktor, der herausgegriffen wird: 1. Dialekte, 2. Soziolekte, 3. Sexlekte, 4. Alterssprachen, 5. Mediolekte, 6. Situolekte, 7. Stile bzw. Register und 8. Funktiolekte. Obschon mehrere Faktoren bzw. Varietäten in Kombination oder auch kontrastiv untersucht werden können (etwa ein Dialekt bei Sprechern verschiedener Altersgruppen), gibt es für diese Überschneidungen keine gesonderten Bezeichnungen. Die Kombination und die Ausprägung von Varietäten in einem Individuum sowie sein Sprechverhalten werden als Idiolekt bezeichnet. Abbildung 5: Überschneidungen von sprachlichen Subsystemen im Sprachwirklichkeitsmodell (Löffler 1994, 86) Arten Semiotik und Sprache als System 18 Dialekte sind Varietäten, die in einem bestimmten, enger umgrenzten geographischen Raum gesprochen werden, etwa in bestimmten Landstrichen oder in Großstädten. So unterscheiden sich die Stadtdialekte Hamburgs, Kölns oder Oslos deutlich von den Dialekten, die im jeweils angrenzenden Umland gesprochen werden. Dialekte sind dort besonders stark, wo die Bevölkerung in vergangenen Generationen wenig geographisch mobil war, also keine größeren Wanderungsbewegungen stattfanden. In dieser Weise begünstigt eine abgeschiedene geographische Lage die Beibehaltung von Dialekten. In Norwegen beispielsweise lassen sich Dialekte gut nach Landstrichen wie z.B. Fjorden und Tälern gliedern. Durch die geringe geographische Mobilität treffen Dialekte dort hauptsächlich an Orten mit Hochschulen und in den größeren Städten aufeinander. Durch gestiegene Mobilität und den Zugang zu standardsprachlicher Bildung hat sich die Dialektlandschaft in weiten Teilen Deutschlands verändert. Da durch höhere Mobilität viele Dialektsprecher verschiedener Gebiete aufeinandertrafen, sind in einigen Regionen Dialekte in flächenmäßig größere und näher an der Standardsprache orientierte Regiolekte übergegangen. Die größere geographische Mobilität sorgt vor allen in Großstädten für eine starke Stellung des Standarddeutschen als gemeinsamer Varietät. Als Soziolekte ordnet man sprachliche Varietäten ein, die auf bestimmte soziale Gruppen beschränkt sind, also neben sozialen Schichten (Schichtensprachen) auch Gemeinschaften oder Cliquen (Gruppensprachen). Als Soziolekte betrachtet man sowohl Fach- und Berufssprachen wie Sprachen von Bevölkerungsgruppen wie etwa Jugendsprache. In letzterem Fall ist die Grenze zu Alterssprachen fließend. Alterssprachen differenzieren die Sprachwirklichkeit nach dem Alter von Sprechern. Dabei kommen nicht das genaue Alter in Jahren, sondern Altersgruppen zum tragen. Gemeinhin differenziert man Kinder-, Erwachsenen und Seniorensprachen. Sexlekte, auch Genderlekte genannt, differenzieren Männer- und Frauensprachen. Mit dem englischen Terminus gender wird das soziale Geschlecht eines Individuums bezeichnet unabhängig vom jeweiligen biologischen Geschlecht. Das Sprechverhalten von Männern und Frauen wird unter anderem von der Gender-Linguistik untersucht. Im Wesentlichen werden nur zwei Mediolekte unterschieden, gesprochene und geschriebene Sprache. Mediolekte sind eng verknüpft mit der Handlungsfunktion der Texte, die dabei hervorgebracht werden. Typisch schriftliche Textsorten sind etwa Urkunden und Zeugnisse, die man sich in der westlichen Welt unmöglich mündlich vermittelt vorstellen kann. Zur Weiteren Differenzierung von Mediolekten werden Interaktionstypen hinzugezogen, anhand derer Situolekte differenziert werden. Man unterscheidet zur Abgrenzung von Situolekten unter anderem die Interaktionstypen monologisch, dialogisch, symmetrisch und asymmetrisch, präsentisch und a-präsentisch. Monologischer Interaktionstyp bedeutet, dass die Rollen von Sender und Empfänger in der Kommunikationssituation konstant sind und nicht ständig wechseln wie in einer gewöhnlichen Unterhaltung, die einen dialogischen Interaktionstyp darstellt. Dialekt Regiolekt Soziolekt Alterssprache Sexlekt Mediolekt Situolekt 19 Sprache als System Die Symmetrie von Situolekten bezieht sich auf den Informationsaustausch: Unterhaltungen sind symmetrisch, da prinzipiell alle Kommunikationsteilnehmer Informationen erhalten. Befragungen sind asymmetrisch, da nur der Fragende, nicht der Befragte, Informationen erhält. (Streng genommen erhält natürlich auch der Befragte eine ganze Reihe von impliziten Informationen im Laufe einer Befragung.) Mit dem Begriffspaar präsentisch vs. a-präsentisch wird die physische Präsenz der Gesprächspartner charakterisiert, wobei in Zeiten von Bildtelefonie hier eine Benennung feinerer Abstufungen sinnvoll sein kann. Das Register beschreibt den situationsspezifischen Sprech- und Schreibstil von Sprechern. Das Register ist abhängig von bestimmten Konstellationen von Kommunikationsteilnehmern, z.B.: • Elter und Kind • Pfarrer und Gemeinde • Polizist und Bürger Das Register bezieht sich damit gleichzeitig auf bestimmte Textsorten: • Elter und Kind: z.B. Standpauke oder Lob, • Pfarrer und Gemeinde: z.B. Predigt oder Friedenssegen, • Polizist und Bürger: z.B. Belehrung oder Verweis. Die Einteilung von Funktiolekten entspricht eher einer Generalisierung von Sprechweisen für bestimmte Texttypen wie sie oben bestimmt wurden. Sie ist eng angelehnt an die Sprachfunktionen etwa nach Bühler und Jakobson. Dennoch ist diese Einteilung nicht überflüssig. Fachsprachen lassen sich als Funktiolekte beschreiben; das Gleiche gilt für religiösen Sprachgebrauch (Hagiolekte), der sprachlich meist wesentlich konservativer ist als andere Varietäten. In den skandinavischen Sprachen finden sich in solchen Funktiolekten besonders viele hoch- und niederdeutsche Fremdwörter, da hier der Kontakt mit Sprechern des Deutschen während der Hansezeit und der Reformationszeit besonders intensiv war. An diesen diversen Faktoren, anhand derer das Sprachverhalten von Sprechern eingeordnet werden kann, wird deutlich, dass jede Kommunikationssituation als Beispiel für mehrere Varietäten dienen kann. Die Sprachwirklichkeit lässt sich also nicht sauber in einzelne Varietäten zergliedern. Dennoch kann im Sprachvergleich ein Blick auf die Rolle bestimmter Varietäten erhellend sein. Denn Sprachen als Ganzes können tendenziell unterschiedlich stark nach bestimmten Faktoren gegliedert sein. Das individuelle Sprechverhalten variiert in Norwegen noch stärker als in Dänemark nach Dialekten. In Schweden, wo die Standardsprache eine stärkere Stellung besitzt als in Dänemark und Norwegen, kann eher von Regiolekten gesprochen werden (also Dialekten mit verhältnismäßig größerer Ausdehnung als Dialekte im Allgemeinen) und Soziolekte machen sich stärker bemerkbar. In Norwegen existieren zwei Schriftsprachen (Bokmål und Nynorsk), also zwei geschriebene Mediolekte, die nicht identisch sind mit den in Norwegen im Wesentlichen nur gesprochenen Dialekten. Register Funktiolekt Unterschiede zwischen Sprechergemeinschaften Semiotik und Sprache als System 20 Zum Weiterlesen Eine gut lesbare englischsprachige Einführung in die Semiotik ist Chandler (2009). Die vorhergehende, erste Auflage dieses Buchs ist (mit Korrekturen) auch online verfügbar (Chandler, ohne Jahr). Eine knappe und ebenfalls sehr verständliche Einführung in die Semiotik in deutscher Sprache bietet Trabant (1996). Eine ausführliche Darstellung der Semiotik, ihrer verschiedenen Disziplinen und ihrer Modelle ist Nöth (2000). Ein umfassendes Handbuch zur Semiotik, das auch ihre Entwicklung in verschiedenen Wissenschaften betrachtet, ist Posner (1997-2003). Ein Handbuch zur kognitiven Perspektive auf Sprechen und Sprachverstehen ist Rickheit et al. (2003). Chandler, Daniel (2009): Semiotics. 2. Auflage. London: Routledge. Chandler, Daniel (ohne Jahr): Semiotics for Beginners. Aberystwyth University. Aberystwyth. http: / / users.aber.ac.uk/ dgc/ Documents/ S4B/ , zuletzt geprüft am 21.01.2014. Nöth, Winfried (2000): Handbuch der Semiotik. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler. Posner, Roland et al. (Hgg.) (1997-2003): Semiotik/ Semiotics. 3 Bände. Berlin u.a.: de Gruyter. Rickheit, Gert et al. (Hgg.) (2003): Psycholinguistik/ Psycholinguistics. Berlin u.a.: de Gruyter. Trabant, Jürgen (1996): Elemente der Semiotik. Tübingen: Francke. Übungen Dieses Kapitel hat die wesentlichen Termini zur Beschreibung Zeichenbestandteilen und Zeichentypen vermittelt sowie der Beschreibung von Kommunikationssituationen und der Strukturierung der Sprachwirklichkeit. Mit diesen Termini kannst Du nun Zeichen und Kommunikationssituationen genau beschreiben und verstehst, auf welchen Teil der Sprachwirklichkeit sich sprachwissenschaftliche Fachliteratur bezieht. Mit den folgenden Aufgaben kannst Du Dein passives und aktives Verständnis dieser Termini überprüfen und weiter üben. 1) Teure Autos, Uhren und Schmuck sind „Statussymbole“. Als welche Symboltypen lassen sie sich nach Peirce und nach Bühler beschreiben? Mehre Symboltypen sind denkbar, begründe die Antworten daher in ganzen Sätzen. 2) Benenne die Faktoren, die bei folgenden Kommunikationssituationen gegeben sind, und welche Funktiolekte mit den in diesen Situationen produzierten Äußerungen dementsprechend untersucht werden könnten: a) Ein männlicher Teenager schreibt einer Klassenkameradin eine Kurznachricht. b) Eine Großmutter gibt ihrem Enkel Nachhilfe. 21 Sprache als System c) Ein Klavierlehrer unterrichtet eine Frau Mitte dreißig. d) Die Bundeskanzlerin ruft den amerikanischen Präsidenten über ihr privates Mobiltelefon an. 3) Nenne drei Beispiele für Indizes und begründe ihre Zuordnung zu diesem Zeichentyp. 4) Nenne drei Beispiele für Ikone und begründe ihre Zuordnung zu diesem Zeichentyp. 5) Erfinde ein Onomatopoetikon und trage es der Dozentin oder dem Dozenten in einem unerwarteten Moment vor. 2 Phonetik Stichwörter • Teilbereiche akustische vs. artikulatorische vs. auditive Phonetik - phonetische Transkription - Internationales phonetisches Alphabet (IPA) • Phonetische Merkmale - Konsonanten Artikulationsort - Artikulationsart - Stimmhaftigkeit - Vokale Öffnung - Lage - Lippenstellung - Länge - Monophthong vs. Diphthong 2.1 Gegenstand und Teilbereiche der Phonetik Sprache besteht - vereinfacht ausgedrückt - aus Sätzen und Wörtern. Diese Sätze und Wörter lassen sich freilich in noch weitere Einheiten unterteilen wie in den Kapiteln zur Morphologie und zur Syntax beschrieben wird. Allen diesen Einheiten ist jedoch gemein, dass sie aus einer Ausdrucksseite bestehen, also ihrer lautlichen oder schriftlichen Gestalt, wenn man sie ausspricht oder schreibt, und aus einer Inhaltsseite, ihrer Bedeutung. Die Inhaltsseite von sprachlichen Äußerungen, insbesondere von Wörtern, wird im Kapitel zur Semantik behandelt. Die Phonetik, die der Gegenstand dieses Kapitels ist, beschreibt die Ausdrucksseite von Wörtern, wenn man sie ausspricht, nicht wenn man sie schreibt. Diese wäre Gegenstand der Schriftlinguistik. Die Phonetik beschreibt genauer gesagt die Laute, aus denen Wörter zusammengesetzt sind, wie Menschen diese Laute bilden und wie sie in der Lage sind, diese zu hören und das Gehörte mental zu verarbeiten. Entsprechend dieser drei Perspektiven - die Laute selbst - ihre Artikulation - und ihre Wahrnehmung durch Hörer - unterscheidet man drei Teilbereiche der Phonetik: 1. Die artikulatorische Phonetik untersucht, wie der Mensch Laute mit seinen Artikulationsorganen bildet. 2. Die akustische Phonetik untersucht die physikalischen Eigenschaften des Sprachschalls, also der vom Menschen geäußerten Sprachlaute. 3. Die auditive Phonetik schließlich untersucht, wie Sprache vom menschlichen Gehör wahrgenommen und verschiedene Laute unterschieden werden. Alle drei Bereiche sind miteinander verbunden, da grundlegende Bedingungen im einen Bereich Vorgänge im anderen Bereich beeinflussen. So ist das menschliche Gehör besonders empfindlich für die Frequenzen, in denen die linguistisch relevante Information im Sprachschall transportiert wird. Gleichzeitig beeinflusst die generelle Größe und Gestalt der Artikulationsor- Gegenstand Teilbereiche Phonetik 24 gane, etwa die Länge und Gestalt des Ansatzrohres, also des Bereichs von den Stimmlippen im Kehlkopf bis zu den Lippen, in welchen Frequenzbereichen überhaupt der Sprachschall so modifiziert werden kann, dass er unterschiedlich klingt. Dieses Kapitel geht nur auf den Bereich der artikulatorischen Phonetik ein, wobei die anderen Bereiche nicht weniger spannend sind und noch deutlicher die Verbindung zwischen Linguistik und verschiedenen Naturwissenschaften hervortreten lassen. Die artikulatorische Phonetik ist jedoch für den Einstieg in die Linguistik am wichtigsten, denn in dem linguistischen Teilbereich der Phonologie, der auf dem Teilbereich der Phonetik aufbaut, werden Laute anhand ihrer artikulatorischen Eigenschaften klassifiziert. Diese artikulatorischen Eigenschaften von Lauten werden auch als ihre phonetischen Merkmale bezeichnet. Um Laute nicht nur anhand einer Auflistung ihrer phonetischen Merkmale bezeichnen zu können, sondern sie handlich durch ein einfaches Zeichen wiederzugeben, gibt es ein vereinheitlichtes Internationales Phonetisches Alphabet (IPA). Dieses Alphabet bietet für möglichst jeden Laut, den es in einer Sprache gibt, ein eigenes Zeichen. Diese Zeichen werden in eckige Klammern gesetzt: […]. Das IPA wird nicht nur verwendet, um über einzelne Laute zu sprechen, sondern auch um sprachliche Äußerungen, die aus mehreren Lauten bestehen, zu notieren in Form von phonetischen Transkriptionen. Auf der phonetischen Beschreibung von Sprachlauten baut die Phonologie als weiterer Teilbereich der Linguistik auf, die die Funktionsweise von Systemen von Sprachlauten innerhalb einer Sprache untersucht. Einfach formuliert untersucht die Phonologie, wie durch unterschiedliche Sprachlaute verschiedene Wörter auseinandergehalten werden, z.B. dass die Lautfolge Raum im Deutschen eine andere Bedeutung hat als Baum, also durch die Laute „R“ und „B“ (deren genauer phonetischer Wert später erläutert wird) differenziert werden. Die Phonetik hingegen beschreibt nur, wie diese Laute für sich eigentlich beschaffen sind, nicht in welchem Zusammenhang sie in bestimmten Sprachsystemen stehen. Diese Unterscheidung ist in der Praxis manchmal etwas erzwungen, weswegen an wenigen Stellen auf „strenggenommen“ phonologische Merkmale von Lauten eingegangen wird. 2.2 Phonetische Merkmale Die artikulatorische Phonetik beschreibt Sprachlaute anhand der Beteiligung, Stellung und Bewegung der beim Sprechen aktiven Organe. Die Artikulation beginnt in der Lunge, aus der Atemluft gepresst wird, die durch die Luftröhre und den Kehlkopf strömt. Im Kehlkopf befinden sich die Stimmlippen, die den Luftstrom modifizieren können, um ihm bestimmte artikulatorische Merkmale zu verleihen (vgl. auch Abbildung 6). Sie können sich schließen und damit den Luftstrom blockieren, oder schnell im Luftstrom schwingen und ihm so Klang verleihen, oder ganz offen stehen, damit die Luft ungehindert durchfließen kann. Diese Vorgänge im Kehlkopf werden als Phonation zusammengefasst. artikulatorische Phonetik phonetische Transkription Phonetik vs. Phonologie Artikulation 25 Phonetische Merkmale Nachdem die Luft den Kehlkopf passiert hat, fließt sie durch die Mundhöhle oder auch den Nasenraum, je nachdem wie das Gaumensegel steht. Das Gaumensegel ist der weiche Teil des oberen Gaumens, an dem das Zäpfchen hängt. Hängt das Gaumensegel schlaff herunter, entströmt Luft auch durch den Nasenraum. Wird es angespannt, fließt die Luft nur durch den Mundraum. Während die Nasenflügel in natürlichen Sprachen nicht dazu verwendet werden, den Luftstrom weiter zu modifizieren, können im Mundraum die Zunge und die Lippen, die die Mundöffnung formen, den Luftstrom so beeinflussen, dass sich der Schall verändert, den die Atemluft transportiert. 2.2.1 Konsonanten Konsonanten sind Laute, bei denen die Atemluft beim Fluss durch den Mundraum gehindert wird durch eine kritische Enge oder einen Verschluss. Eine kritische Enge bedeutet, dass im Mundraum an einer Stelle zwischen Zunge und Gaumen oder zwischen den Lippen der Strom der Atemluft ins Wirbeln gerät. Dadurch entsteht ein rauschendes Geräusch, das als Reibung oder auch Friktion bezeichnet wird. Falls Zunge und Gaumen oder die Lippen einen Verschluss bilden, kann man das als Teil einer einmal schließenden und wieder öffnenden Artikulationsgeste gesehen, etwa bei den Lauten [p], [t], [k], [b], [d], [g], oder einer mehrmals schließenden und öffnenden Bewegung wie beim „Zungenspitzen-R“ [r]. Der Verschluss kann auch die gesamte Artikulation des Lautes über andauern, wie bei [m] und [n]. Laute, bei denen die Stellung von Zunge und Lippen nicht eng genug sind, um Turbulenzen im Luftstrom zu erzeugen, die als Reibegeräusch zu hören wären, sind Vokale. Konsonant Ein Konsonant ist ein Laut, bei dessen Artikulation der Fluss der Atemluft im Mundraum gehindert wird entweder in Form einer kritischen Enge, die den Luftstrom in Turbulenzen versetzt, oder eines Verschlusses, der den Luftstrom blockiert. Konsonanten werden anhand von vier Parametern beschrieben: 1. der Aktivität der Stimmlippen im Kehlkopf (Phonation), 2. dem Ort der Enge- oder Verschlussbildung (Artikulationsort), 3. der Art der Enge- oder Verschlussbildung (Artikulationsart), 4. der Dauer der Artikulation (Länge). Die Länge von Konsonanten ist strenggenommen kein phonetisches Merkmal, sondern ein phonologisches, da die Länge von Konsonanten nur innerhalb des jeweiligen Sprachsystems eine Rolle spielt und nur wenige Sprachen zwischen kurzen und langen Konsonanten unterscheiden. Da in allen skandinavischen Sprachen außer dem Dänischen dieser Parameter eine Rolle spielt, wird er unter Punkt 0 erläutert. Verschluss vs. Enge Parameter Phonetik 26 Für jeden dieser Parameter wird eine Reihe von Fachbegriffen verwendet, die genau beschreiben, was bei der Bildung des entsprechenden Lautes passiert. Das Verständnis dieser Vorgänge und ein wenig Übung ermöglichen es, sprachliche Äußerungen anhand von genauen phonetischen Transkriptionen sehr genau zu reproduzieren. Damit lässt sich auch die eigene Aussprache im Fremdsprachenerwerb perfektionieren. Vollständige Bezeichnungen von Konsonanten nennen in fester Reihenfolge Phonation, Artikulationsort und Artikulationsart. • stimmloser labiodentaler Frikativ [f], z.B. in no. far [fɑːr] ‘Vater’, • stimmhafter apiko-alveolarer Nasal [n] , z.B. in da. næse [næːsə] ‘Nase’, • stimmloser alveolarer Plosiv [t], z.B. in is. ætla [aɪ ̯ htla] ‘beabsichtigen’. 2.2.1.1 Phonation Die erste Station der Artikulation durchläuft die aus der Lunge strömende Atemluft im Kehlkopf. Dort sind zwischen dem Knorpelschild des Kehlkopfes zwei Stimmlippen gespannt, die anhand von Stellknörpelchen unterschiedlich positioniert werden können. Der Freiraum zwischen den Stimmlippen wird als Stimmritze bezeichnet und heißt fachsprachlich Glottis. Stehen die Stimmlippen in geöffneter Position, kann die Luft ungehindert hindurchströmen und die Stimmlippen werden nicht in Bewegung versetzt. Der entsprechende Laut wird dann als stimmlos bezeichnet. In einer weiteren Position werden die Stimmlippen einander so weit angenähert, dass sie in Schwingung versetzt werden, wodurch Klang entsteht. Laute, bei deren Artikulation die Stimmlippen schwingen, werden als stimmhaft bezeichnet. Man unterscheidet dementsprechend zwei Arten der Phonation: 1. stimmlos, 2. stimmhaft. In ihrer Stimmhaftigkeit unterscheiden sich beispielsweise die jeweils ersten Laute in dt. fahren [faːrən] und waren [vaːrən]. Besonderheit in den skandinavischen Sprachen Es gibt noch weitere Arten der Phonation, die aber nicht der Beschreibungsebene des einzelnen Lauts zugerechnet werden, sondern der Beschreibungsebene der Silbe. Unter den skandinavischen Sprachen findet sich eine weitere Art der Phonation im Dänischen. Der sogenannte Stød dort wird als Eigenschaft einsilbiger Wörter beschrieben. Beim Stød spannen sich die Stimmlippen immer stärker an, sodass die im Luftstrom schwingenden Lippen sich immer langsamer öffnen und schließen und optional schließlich verschlossen bleiben. Akustisch resultiert dieser Vorgang in einem fortlaufenden Abfallen der Tonhöhe des Stimmtons während der Artikulation des entsprechenden einsilbigen Wortes. Es gibt Laute, bei denen weiter oberhalb der Glottis keine Artikulation mehr stattfindet. Sie zählen auch zu den Konsonanten, obwohl keine Enge- oder Verschlussbildung im Mundraum stattfindet. In den skandinavischen vollständige Bezeichnung glottale Laute 27 Phonetische Merkmale Sprachen, Deutsch und Englisch sind dies der stimmlose glottale Plosiv [ ʔ ] und der stimmlose glottale Frikativ [h]. Der stimmlose glottale Plosiv [ ʔ ] kommt in den skandinavischen Sprachen und im Deutschen am Wortanfang vor Vokalen vor: • stimmloser glottaler Plosiv [ ʔ ], z.B. in dt. Affe [ ʔ afə], no. ape [ ʔ aːpe] ‘Dass.’. Im Dänischen ist er dort aber nicht obligatorisch: • da. abe [ ʔ æːbe] = [æːbe] ‘Affe’. Der stimmlose glottale Frikativ [h] kommt er überall dort vor, wo in der Orthographie ein einfaches <h> geschrieben wird, also nicht in Konsonantenkombinationen wie z.B. dt. <ch> und <sch> oder etwa no. <hv> und <hj> oder is. <hn> und <hl>, sondern: • stimmloser glottaler Frikativ [h], z.B. in dt. Hals [hals], se. hals [hals] ‘Dass.’. 2.2.1.2 Artikulationsort Der Artikulationsort beschreibt den Punkt im Bereich vom Kehlkopf über die Mundhöhle bis hin zur Mundöffnung, an dem eine Engebildung oder ein Verschluss stattfindet. Bei der Enge- oder Verschlussbildung sind immer ein oberer und ein unterer Artikulator beteiligt. Der obere Artikulator ist entweder ein Bereich des Gaumens vom Zäpfchen bis zum Zahndamm, die Zähne oder die Oberlippe. Der untere Artikulator ist entweder ein Teil der Zunge, die untere Zahnreihe oder die Unterlippe (siehe Abbildung 6 auf der folgenden Seite). Die folgenden Tabellen geben eine Übersicht über die unteren und oberen Artikulatoren, die für skandinavische Sprachen sowie das Deutsche und Englische relevant sind, mit ihren anatomischen Bezeichnungen sowie den für sie verwendeten Adjektiven. Artikulator Anatomische Bezeichnung Adjektiv Gruppenbezeichnung Unterlippe Labium inferior labial Labiale Zungenspitze Apex apikal Koronale Zungenblatt Lamina laminal Koronale Zungenrücken Dorsum dorsal Dorsale Tabelle 2: Untere Artikulatoren Phonetik 28 Abbildung 6: Querschnitt der Artikulationsorgane (nach Bußmann 2008, s.v. Artikulatorische Phonetik) Laute werden sowohl nach ihrem unteren als auch nach ihrem oberen Artikulator in Gruppen eingeteilt. Die Gruppenbezeichnungen entsprechen dem Adjektiv der anatomischen Bezeichnung der entsprechenden Artikulatoren. Apikale und laminale Laute werden als Koronale zusammengefasst. Artikulator Anatomische Bezeichnung Adjektiv Gruppenbezeichnung Oberlippe Labium superior labial Labiale Zähne Dentes dental Dentale Zahndamm Alveolen alveolar Alveolare Gaumen direkt hinter dem Zahndamm (keine) postalveolar Postalveolare Harter Gaumen Palatum palatal Palatale Weicher Gaumen Velum velar Velare 29 Phonetische Merkmale Artikulator Anatomische Bezeichnung Adjektiv Gruppenbezeichnung Zäpfchen Uvula uvular Uvulare Stimmritze Glottis glottal Glottale Tabelle 3: Obere Artikulatoren Die Bezeichnung des Artikulationsortes setzt sich aus den anatomischen Bezeichnungen der beteiligten Artikulationsorgane zusammen. Der erste Teil bezeichnet den unteren Artikulator, der zweite Teil den oberen. Eine Ausnahme bildet die Stimmritze, die den Freiraum zwischen den Stimmlippen im Kehlkopf bezeichnet. Wird dort eine Enge gebildet, wird einfach nur die Stimmritze und nicht die beteiligten Organe aufgezählt, obwohl sie technisch gesehen ja nur eine Lücke zwischen den beiden Stimmlippen ist und kein Gewebe. Artikulationsort Unterer Artikulator Oberer Artikulator Beispiele Bilabial Unterlippe Oberlippe [b] in dt. Baum Labio-dental Unterlippe Obere Zahnreihe [v] in dt. warm Apiko-dental Zungenspitze Obere Zahnreihe [θ] in en. thing Lamino-dental Zungenblatt Obere Zahnreihe [θ] in en. thing Apiko-alveolar Zungenspitze Zahndamm [d] in dt. Ding Apikopalatoalveolar Zungenspitze Gaumen direkt hinter dem Zahndamm [ʃ] in dt. Schal Retroflex (apiko-palatal) Zungenspitze Harter Gaumen [ɖ] in se. nord Dorso-palatal Zungenrücken Harter Gaumen [ç] in dt. ich (Dorso-)velar Zungenrücken Weicher Gaumen [x] in dt. Nacht (Dorso-)uvular Zungenrücken Zäpfchen [ʁ] in dt. Rinde Glottal Stimmritze (eigtl. Stimmlippen) [h] in dt. Humpen Tabelle 4: Artikulationsorte und die daran beteiligten Artikulatoren Im Folgenden wird kurz auf die einzelnen Artikulationsorte näher eingegangen. Dabei ist es hilfreich, Abbildung 6 vor Augen zu haben, um sich die Lage der Artikulationsorte und ihre Namen einzuprägen. Labiale sind Laute, bei denen die Unterlippe an der Enge- oder Verschlussbildung beteiligt sind. Bildet die Unterlippe den Verschluss mit der Oberlippe, heißt der Artikulationsort bilabial. Bilabiale Laute in den skandinavischen Sprachen sind: Bezeichnung des Artikulationsortes Bilabiale Phonetik 30 • stimmloser bilabialer Plosiv [p], z.B. in no. spor [spuːr] ‘Gleis, Spur’, • stimmhafter bilabialer Plosiv [b], z.B. in da. bror [bʁ̞ oːɐ] ‘Bruder’, • stimmhafter bilabialer Nasal [m], z.B. in se. moder [muːdɛr] ‘Mutter’. Als labialisiert hingegen werden Laute bezeichnet, bei denen - unabhängig vom primären Artikulationsort - die Lippen gerundet sind. Das „double u“ [w] im Englischen ist solch ein Laut. Der Laut ist primär ein stimmhafter dorso-velarer Approximant, jedoch mit deutlich gerundeten Lippen. Bildet die Unterlippe die kritische Enge oder den Verschluss nicht mit der Oberlippe, sondern mit der oberen Zahnreihe, wird der Artikulationsort labio-dental genannt. Labio-Dentale in den skandinavischen Sprachen sind: • stimmloser labio-dentaler Frikativ [f], z.B. in no. far [fɑːr] ‘Vater’, • stimmhafter labio-dentaler Frikativ [v], z.B. in da. var [vɑːr] ‘(er/ sie/ es) war’. Dentale sind Laute, bei denen die obere Zahnreihe und die Zungenspitze an der Artikulation beteiligt sind. Die skandinavischen Sprachen kennen keine Dentale, ein gängiges Beispiel ist aber das „Th“ im Englischen, das in zwei Varianten auftritt: • stimmhafter dentaler Frikativ [ð], z.B. in en. then [ðɛn] ‘dann’, • stimmloser dentaler Frikativ [θ], z.B. in en. thing [θɪŋ] ‘Sache, Ding’. Da sich in keiner Sprache zwei Laute nur darin unterscheiden, ob sie mit der Zungenspitze oder dem Zungenblatt artikuliert werden, werden diese Artikulatoren oft nicht unterschieden und die entsprechenden Laute werden dann nur mit dem oberen Artikulator bezeichnet. Man spricht also häufig von Dentalen und nicht Apiko- oder Lamino-Dentalen. In diesem Kontext bezieht die Bezeichnung „Dentale“ übrigens Labio-Dentale nicht mit ein. Zwar ist bei Labio-Dentalen auch die obere Zahnreihe an der Artikulation beteiligt, jedoch als unterer Artikulator nicht die Zungenspitze, sondern die Unterlippe. Die Unterscheidung hat phonologische Gründe, denn Labiodentale verhalten sich innerhalb der einzelnen Sprachsysteme eher wie Labiale und nicht wie Dentale. Bildet die Zunge am Zahndamm direkt hinter den Zähnen eine Enge oder einen Verschluss, ist der Artikulationsort alveolar. Alveolare in den skandinavischen Sprachen sind, z.B.: • stimmloser alveolarer Plosiv [t], z.B. in se. stämma [stɛmːa] ‘stimmen’, • stimmhafter alveolarer Plosiv [d], z.B. in da. dreng [drɛŋ] ‘Junge’, • stimmhafter alveolarer Nasal [n], z.B. in no. nese [nɛːsə] ‘Nase’, • stimmloser alveolarer Frikativ [s] z.B. in no. synge [sʏŋə] ‘singen’. Die stimmhafte Variante [z], die es im Deutschen und Englischen gibt, kennen die skandinavischen Sprachen nicht: • stimmhafter alveolarer Frikativ [z], z.B. in dt. Sahne [zaːnə], en. zero [ziɹoʊ] ‘Null’. Labio-Dentale Dentale Alveolare 31 Phonetische Merkmale Besonderheit in den skandinavischen Sprachen Wie bei Dentalen wird bei Alveolaren oft nicht zwischen apikaler und laminaler Artikulation unterschieden. Der Unterschied ist aber nicht ganz zu vernachlässigen, denn Muttersprachler bemerken (zumindest unterbewusst), dass man mit Akzent spricht, wenn man im Dänischen das „S“ mit einem stimmlosen apiko-alveolaren Frikativ [s] artikuliert statt einem stimmlosen lamino-alveolar bildet [s ̻ ]. Ähnlich verhält es sich mit dem noch ein bisschen weiter Richtung hartem Gaumen artikulierten, stimmlosen lamino-postalveolaren [s ̻ ̄ ] im Isländischen. Postalveolare Laute werden in dem Bereich gebildet, in dem der Zahn in den harten Gaumen übergeht, also auf oder hinter dem Knick des Zahndamms. • stimmloser apiko-palatoalveolarer Frikativ [ʃ], z.B. in dt. Schule [ʃuːlɘ]. Während bei der Beschreibung des Deutschen und des Englischen diese Kategorie nicht weiter unterteilt wird, tut man dies bei den skandinavischen Sprachen, da hier auf geringem Raum mehrere Laute unterschieden werden. Man unterscheidet palatoalveolare und alveolopalatale Laute. Palatoalveolare werden etwas weiter vorne im postalveolaren Bereich gebildet, Alveolopalatale etwas weiter hinten, in Richtung des harten Gaumens (Palatum). Im Norwegischen gibt es einen einzigen palatoalveolaren Laut: • stimmloser apiko-palatoalveolarer Frikativ [ʃ], z.B. in no. ski [ʃiː] ‘Schi’. Im Englischen und in Fremdwörtern im Deutschen gibt es zusätzlich zur stimmlosen Variante noch die stimmhafte: • stimmhafter apiko-palatoalverolarer Frikativ [ʒ], z.B. in en. measure [mɛʒə] ‘Maß’. Das Dänische und Isländische kennen keine palatoalveolaren Laute und der Akzent von Muttersprachlern dieser Sprachen beinhaltet häufig, dass dieser Laut durch die charakteristischen „S“-Laute der jeweiligen Sprache ersetzt wird. Im Schwedischen gibt es statt einem stimmlosen palatoalveolaren Frikativ einen stimmlosen alveolopalatalen Frikativ. Alveolopalatale Laute werden nicht nur etwas weiter Richtung hartem Gaumen (Palatum) artikuliert als palatoalveolare. Sie werden außerdem immer mit dem Zungenblatt (Lamina) statt der Zungenspitze gebildet: • stimmloser lamino-alveolopalataler Frikativ [ɕ], z.B. in se. tjuv [ɕʉːv] ‘Dieb’. Retroflexe, die mit der Zungenspitze am harten Gaumen gebildet werden, gibt es in zahlreichen Dialekten des Norwegischen und im Schwedischen. Sie treten überall dort auf, wo in der Orthographie <rn> oder <rt> steht. Sie tun dies allerdings überwiegend nur in den Dialekten, in denen das „R“ auch gerollt wird. Postalveolare Retroflexe Phonetik 32 • stimmloser retroflexer Plosiv [ʈ], z.B. in no. svart [sʋaʈ] ‘schwarz’, • stimmhafter retroflexer Plosiv [ɖ], z.B. in no. lørdag [løːɖa] ‘Samstag’, • stimmhafter retroflexer Lateral [ɭ], z.B. in no. dårlig [doːɭi] ‘schlecht’, • stimmhafter retroflexer Nasal [ɳ], z.B. in no. bjørn [bjœɳ] ‘Bär’, In einigen östlichen und nördlichen Dialekten des Norwegischen gibt es noch einen weiteren retroflexen Laut, dessen Auftreten orthographisch nicht ganz so einfach vorherzusagen ist. Er wird weiter unten bei der Artikulationsart Flap beschrieben. Als Palatale werden Laute bezeichnet, die mit dem Zungenrücken und nicht mit der Zungenspitze am harten Gaumen gebildet werden. Retroflexe (s.o.) zählen deswegen nicht zu den Palatalen, da der obere Artikulator zwar der harte Gaumen ist, der untere Artikulator aber die Zungenspitze und nicht der Zungenrücken. Es gibt nur vergleichsweise wenige Palatale in den germanischen Sprachen. Im Deutschen ist das der „Ich-Laut“ [ç], den es auch in allen Skandinavischen Sprachen gibt. Einige Dialekte des Norwegischen zeigen einen großen Reichtum an Palatalen Konsonanten, und diese Eigenschaft wird von Sprechern anderer Dialekte als besonders charakteristisch für diese betrachtet. Bei Velaren nähert sich der Zungenrücken (Dorsum) dem weichen Gaumen (Velum) an und bildet dort eine kritische Enge oder einen Verschluss. Velare Laute gibt es in allen skandinavischen Sprachen sowie dem Deutschen und Englischen: • stimmloser velarer Plosiv [k], z.B. in se. skoj [skɔj] ‘Spaß’, • stimmhafter velarer Plosiv [ɡ], z.B. in no. sorg [sɔrg] ‘Trauer’, • stimmhafter velarer Nasal [ŋ], z.B. in se. sång [sɔŋ] ‘Lied’, • stimmloser velarer Frikativ [x], z.B. in dt. Macht [maxt], • stimmhafter velarer Frikativ [ɣ], z.B. in is. saga [saːɣa] ‘Erzählung’. Uvulare werden ähnlich wie Velare gebildet, allerdings mit dem Zäpfchen (Uvula), einem Fortsatz des weichen Gaumens, als oberen Artikulator. Der untere Artikulator ist auch hier immer der Zungenrücken. Sitzt der Artikulationsort beim weichen Gaumen (Velum) oder beim Zäpfchen (Uvula), wird der untere Artikulator, der Zungenrücken (Dorsum), gewöhnlich nicht mitgenannt, weil er der einzige mögliche untere Artikulator ist. Statt von einem dorso-palatalen oder dorso-uvularen Laut ist dann von einem palatalen oder uvularen Laut die Rede. Es gibt nur im Deutschen und im Dänischen jeweils einen uvularen Laut: • stimmloser dorsouvularer Frikativ [ʁ], z.B. in dt. Recht [ʁɛxt], • stimmhafter dorsouvularer Vibrant [ʀ], z.B. in dt. Recht [ʀɛxt], • stimmhafter dorso-uvularer Approximant [ʁ̞ ], z.B. in da. røv [ʁ̞ ɶw] ‘Arsch’. Palatale Velare Uvulare 33 Phonetische Merkmale 2.2.1.3 Artikulationsart Die Artikulationsart bezeichnet die Art der Verschluss- oder Engebildung. Tabelle 5 gibt eine Übersicht über die Artikulationsarten, die in den skandinavischen Sprachen, dem Deutschen und dem Englischen vertreten sind. Artikulationsart Verschlussbildung Schallereignisse Frikativ Kritische Enge Rauschen Plosiv Verschluss Plosion Affrikate Verschluss, der in kritische Enge übergeht Ohne Plosion mit folgendem Rauschen Nasal Oraler Verschluss, Luft entströmt durch die Nase Deutlicher Stimmton Vibrant Wiederholte Verschlussbildung Ohne Plosion Flap Verschluss Ohne Plosion Approximant Zentrale Enge Ohne Rauschen Lateraler Approximant Seitliche Enge Stimmhaft: ohne Rauschen Stimmlos: mit Rauschen Laterale Affrikate Seitlicher Verschluss, der in Enge übergeht Rauschen Tabelle 5: Artikulationsarten Frikative sind Laute, bei denen im Mundraum eine Enge gebildet wird, die den Luftstrom in solche Turbulenzen versetzt, dass ein deutliches Rauschen zu hören ist. • stimmloser labiodentaler Frikativ[f], z.B. in se. fira [fiːra] ‘feiern’, • stimmhafter labiodentaler Frikativ[v], z.B. in se. väsnas [vɛsnas] ‘herumtollen’, • stimmhafter labiodentaler Approximant [ʋ], z.B. in no. fortvilelse [fɔʈʋiːlɛlsə] ‘Verzweiflung’, • stimmloser apiko-alveolarer Frikativ [s], z.B. in se. sen [seːn] ‘spät’, • stimmhafter apiko-alveolarer Frikativ [z], z.B. in dt. Sülze [zʏltsə], • stimmloser palatalalveolarer Frikativ[ʃ], z.B. in no. shorts [ʃɔʈʃ] ‘kurze Hosen’. • stimmloser alveolopalataler Frikativ [ɕ], z.B. in se. tjej [ɕɛj] ‘Mädchen’, • stimmloser dorso-palataler Frikativ [ç], z.B. in no. kjedelig [çeːdɛli] ‘langweilig’, • stimmhafter dorso-palataler Frikativ [ʝ], z.B. in dt. Ja-Sager [ʝaːzaːɡɐ]. In den germanischen Sprachen gibt es jeweils im Vergleich zu anderen Sprachen viele Frikative. Wie die Übersicht zeigt, sind Frikative in diesen Spra- Frikative Phonetik 34 chen tendenziell stimmlos. Die stimmhafte Variante gibt es wenn überhaupt nur dann, wenn auch die dazugehörige stimmlose Variante vorhanden ist (mit Ausnahme von Approximanten, die immer stimmhaft sind). Plosive sind Laute, bei denen mittels eines oberen und eines unteren Artikulators ein vollständiger Verschluss gebildet wird. • stimmloser bilabialer Plosiv[p], z.B. in da. prale [pʁ̞ alə] ‘prahlen’, • stimmhafter bilabialer Plosiv [b], z.B. in se. blomstra [blɔmstra] ‘blühen’, • stimmloser apiko-alveolarer Plosiv [t], z.B. in no. treg [trɛːg] ‘träge’, • stimmhafter apiko-alveolarer Plosiv [d], z.B. in se. dansa [dansa] ‘tanzen’, • stimmloser dorso-velarer Plosiv [k], z.B. in no. skrike [skriːkə] ‘schreien’, • stimmloser dorso-velarer Plosiv [ɡ], z.B. in no. grine [griːnə] ‘weinen’. Man unterscheidet drei Phasen der Artikulation eines Plosivs: 1. Anglitt (en. onset): Der untere Artikulator bewegt sich auf den oberen Artikulator zu. 2. Okklusion (en. occlusion): Der Verschluss wird gehalten und die aus der Lunge strömende Luft staut sich auf. 3. Verschlusslösung (en. release): Der untere Artikulator bewegt sich wieder vom oberen Artikulator weg, wobei eine Plosion zu hören ist, wenn die aufgestaute Luft entweicht. Ein für die skandinavischen Sprachen wichtiger, weiterer Vorgang bei der Artikulation von Plosiven ist zusätzlich, wann der Stimmton während der Artikulation aufhört und wieder einsetzt. Man unterscheidet demnach insgesamt vier Arten von Plosiven, nämlich neben stimmhaften und stimmlosen Plosiven auch präaspirierte und (post-)aspirierte Plosive. Prä- und postaspirierte Plosive sind immer auch stimmlos. Präaspiration findet sich im Isländischen, Färöischen sowie in samischen Sprachen. 1. Stimmhaft: Der Stimmton setzt während des Anglitts bis spätestens während der Okklusion ein, wenn der vorhergehende Laut stimmlos ist. Ist der vorhergehende Laut stimmhaft, läuft der Stimmton einfach fort: • no. bo [buː] ‘wohnen’. 2. Stimmlos: Der Stimmton setzt während der Okklusion aus. Er setzt mit der Verschlusslösung wieder ein, falls ein stimmhafter Laut folgt. Folgt kein stimmhafter Laut, dauert die Plosion weniger als 20- 30 Millisekunden an: • se. stänga [stɛnga] ‘schließen’ 3. Aspiriert: Aspirierte Laute verhalten sich wie stimmlose Laute, aber der Stimmton setzt erst 20-30 Millisekunden nach der Verschlusslösung wieder ein, falls ein stimmhafter Laut folgt. Folgt kein stimmhafter Laut, dauert die Plosion 15-30 ms an: • da. pige [pʰiːə] ‘Mädchen’. 4. Präaspiriert: Der Stimmton hört schon während des Anglitts auf, anstatt erst mit der Okklusion, wie bei anderen stimmlosen Plosiven. Präaspiration kann nur auftreten, wenn der Plosiv auf einen stimmhaften Laut, insbesondere einen Vokal, folgt: • is. kreppa [krɛʰpa] ‘Krise’. Plosive Plosiv-Phasen Aspiration von Plosiven 35 Phonetische Merkmale Eine Affrikate ist ein Laut, bei dem ein Plosiv in einen an gleicher Artikulationsstelle gebildeten (d.h. homorganen) Frikativ übergeht. • stimmlose apiko-dentale Affrikate [t͜s], z.B. in dt. Katze [kat͜sə]. Bei einem Nasal wird im Mundraum ein Verschluss gebildet und die Luft entströmt nicht durch den Mundraum, sondern durch die Nase. Der Luftstrom wird durch den Nasenraum gelenkt, indem das Velum nicht wie bei oralen Konsonanten gehoben wird, sondern gesenkt bleibt, und gleichzeitig im Mundraum ein vollständiger Verschluss gebildet wird. Die Artikulationsstelle, also der genaue Platz des Verschlusses, verändert den Klang des Nasals, da der unterschiedlich geformte Mundraum weiterhin mit als Resonanzkörper dient. In den skandinavischen Sprachen gibt es eine Vielzahl an Nasalen, mehr als im Deutschen oder Englischen, die mit [m], [n] und [ ŋ ] auch keine geringe Zahl kennen: • stimmhafter bilabialer Nasal [m], z.B. in se. möbel [møːbɛl] ‘Möbelstück’, • stimmloser bilabialer Nasal [m̥ ], z.B. in is. prump [prʏm̥ p] ‘Furz’, • stimmhafter alveolarer Nasal [n], z.B. in se. snäll [snɛlː] ‘nett’, • stimmloser alveolarer Nasal [n̥], z.B. in is. hnjask [n̥jask] ‘raue Behandlung’, • stimmhafter retroflexer Nasal [ɳ], z.B. in no. regne [reːɳə] ‘regnen’, • stimmloser retroflexer Nasal [ɳ̊ ], z.B. in no. regn [reːɳ̊] ‘Regen’, • stimmhafter palataler Nasal [ɲ], z.B. in no. polarnatt [pulaːɲatː] ‘Polarnacht’, • stimmloser palataler Nasal [ɲ̥], z.B. in no. valthorn [ʋaɫdhoɲ̥] ‘Waldhorn’, • stimmhafter velarer Nasal [ŋ], z.B. in se. dingla [dɪŋla] ‘baumeln, schlenkern’, • stimmloser velarer Nasal [ŋ̊], z.B. in no. kåting [koːtɪŋ̊] ‘geiler Bock’. Das „gerollte R“ bzw. „Zungenspitzen-R“, das man unter anderem in der schwedischen Standardsprache findet, stellt wohl den bekanntesten Vibranten dar, an dem sich auch das Prinzip der Artikulation gut verdeutlichen lässt. Die Artikulatoren, in diesem Fall Zungenspitze und Zahndamm, stehen so weit auseinander, dass keine kritische Enge mehr gebildet wird, bei der Turbulenzen im Luftstrom entstehen würden. Sie stehen jedoch so eng, dass der Luftstrom den elastischen aktiven Artikulator (die Zungenspitze) in Schwingung versetzt. In schneller Folge schwingt die Zungenspitze gegen den Zahndamm, sodass eine Reihe von kurzen Verschlüssen gebildet wird. Die Anzahl der „Schläge“ liegt normalerweise bei zwei bis dreien. Das „Zungenspitzen-R“ findet man in Dialekten des Schwedischen und Norwegischen: • stimmhafter apiko-dentaler Vibrant [r], z.B. in se. tralla [tral: a] ‘trällern’. Eine Aussprache-Variante des „Rachen-R“ im Deutschen ist vibrantisch (die andere wäre ein Frikativ): • stimmhafter uvularer Vibrant [ʀ], z.B. in dt. Rundschreiben [ʀʊntʃʀaɪ ̯ bm] Flaps oder „geschlagene Konsonanten“ können als Plosive charakterisiert werden, bei denen sich kein Luftdruck aufbaut, weil die Okklusion so kurz ist. Es fehlt also die Plosion bei der Verschlusslösung. Gleichzeitig werden Affrikaten Nasale Vibranten Flaps Phonetik 36 Flaps oft als „einmal geschlagene Vibranten“ charakterisiert, was es allerdings nicht ganz trifft. Flaps entstehen durch die ballistische Bewegung, also buchstäblich das Schlagen, des aktiven Artikulators gegen einen passiven. Flaps sind im Allgemeinen stimmhaft. Eine andere Bezeichnung für Flaps ist auch Taps. Das „R“ im Norwegischen ist ein apiko-alveolarer Flap [ɾ], während es im Schwedischen hingegen ein apiko-alveolarer Vibrant [r] ist. Besonders deutlich ist der „ballistische“ Charakter des Schlags beim stimmhaften retroflexen Flap [ɽ], den es in einigen östlichen und nördlichen Dialekten des Norwegischen gibt: (1) no. bord [buːɽ] ‘Tisch’, (2) no. sol [suːɽ] ‘Sonne’, (3) no. blå [bɽoː] ‘blau’. Halbvokale (Approximanten) bilden den Grenzfall zwischen Vokalen und Konsonanten: Bei Vokalen wird im Gegensatz zu Konsonanten keine kritische Enge gebildet, sondern der Strom durch den Öffnungsgrad des Mundes und die Form der Lippen nur so weit beeinflusst (moduliert), dass kein Reibegeräusch entsteht. Bei Approximanten ist die Enge jedoch gerade eng genug, dass bei ihnen ein Reibegeräusch zu hören wäre, wenn sie stimmlos wären. Sie sind jedoch immer stimmhaft, weswegen dieses Merkmal in der Bezeichnung nicht eigens mit erwähnt wird: • palataler Approximant [j], z.B. in no. jo ‘doch’. Das „weiche D“ im Dänischen ist ein stimmhafter apiko-dentaler Approximant, der meistens als [ð] wiedergegeben wird, was eigentlich das Zeichen für den stimmhaften dentalen Frikativ ist. Das liegt daran, dass der stimmhafte apiko-dentale Approximant kein eigenes Zeichen hat. Seine ganz genaue Notation ist [ð ̞ ]. Das kleine Zusatzzeichen (Diakritikum) kennzeichnet die geöffnetere Artikulation des Lautes [ð ̞ ] im Vergleich zum Laut, der durch das Grundzeichen [ð] bezeichnet wird. Folgender (hier in der Transkription etwas vereinfachter) bekannter Zungenbrecher beinhaltet diesen Laut: (4) [ʁ̞œð ̞ ɡʁ̞ œð ̞ m ɛ flø ː ð ̞ː ] Rødgrød med fløde. ‘Rote Grütze mit Sahne.‘ Das kleine Diakritikum unterhalb des Zeichens bedeutet, dass dieser Laut mit einer weniger engen Verschlussbildung artikuliert wird als der Laut, der mit dem Grundzeichen wiedergegeben wird. Mit [ð] bezeichnet man einen stimmhaften Frikativ; ein wenig weiter offen artikuliert ergibt das einen entsprechenden Approximanten. Laterale Approximanten sind Laute, bei denen die Luft nicht über die Zunge hinweg strömt, sondern seitlich an der Zunge vorbei. Die Luft fließt also nicht zentral wie bei allen anderen Konsonanten und Vokalen, sondern lateral. Wenn eine Sprache einen Lateral hat, dann ist es meistens der stimmhafte apiko-dentale Lateral [l], wie der erste Laut in dt. Land. Laterale sind gemeinhin immer stimmhaft. Das Isländische ist hier für europäische Verhältnisse exotisch, da es stimmlose apiko-dentale laterale Approximanten hat und stimmlose apiko-dentale laterale Affrikaten: Approximanten Laterale 37 Phonetische Merkmale • stimmloser apiko-dentaler lateraler Approximant: is. hjálpa [çaːu̯ɬpa] ‘helfen’. • stimmloser apiko-dentaler lateraler Affrikate: is. ull [ʏt͜ɬ] ‘Wolle’. D stimmlose Variante von [l] wird oft auch als [l ̥ ] wiedergegeben. Vibranten und Laterale werden zusammenfassend als Liquide bezeichnet. Um Halbvokale (Approximanten) besser von lateralen Approximanten zu unterscheiden, werden sie auch als zentrale Approximanten bezeichnet. Die Beschreibung als „zentrale“ bezieht sich auf den Luftstrom, der wie oben beschrieben bei nicht lateralen Lauten zentral über die Zunge fließt und nicht seitlich wie bei Lateralen. 2.2.1.4 Länge Wie eingangs bemerkt ist die Länge von Konsonanten streng genommen ein phonologisches Merkmal und kein phonetisches, weil die Beschreibung der Dauer der Artikulation nur dort eine Rolle spielt, wo dem Unterschied in der Dauer innerhalb eines Sprachsystems eine Funktion zukommt. Es werden allerdings nur zwei Längen unterschieden: 1. kurz, 2. lang. In der vollständigen Beschreibung eines Konsonanten kommt die Länge an erster Stelle, also: 1. kurzer stimmhafter apiko-alveolarer Nasal [n], z.B. in is. fínn [fitn] ‘elegant’, 2. langer stimmhafter apiko-alveolarer Nasal [nː], z.B. in is. finna [fɪnːa] ‘finden’. Im Norwegischen und Schwedischen gibt es ebenfalls wie im Isländischen lange und kurze Konsonanten. Genauso wie auch im Isländischen sind sie lang, wenn sie auf einen kurzen Vokal folgen und kurz, wenn sie auf einen langen Vokal folgen: (5) se. tak ‘Decke’ vs. tack ‘Dank’ - [tʰɑːk] vs. [tʰakː], (6) no. tak ‘Decke’ vs. takk ‘Dank’ - [tʰɑːk] vs. [tʰɑkː]. 2.2.2 Vokale Im Gegensatz zu Konsonanten sind Vokale Laute, bei denen keine Enge gebildet wird, sondern der Luftstrom quasi „ungehindert“ durch den Mundraum fließt. Der Luftstrom wird durch den Öffnungsgrad des Mundes und die Form der Lippen nur so weit beeinflusst (moduliert), dass noch kein Reibegeräusch entsteht. Vokale sind immer stimmhaft. Den Grenzfall zwischen beiden Kategorien sind die Halbvokale (Approximanten), die auch Gleitlaute genannt werden. Das Reibegeräusch wäre bei ihnen nur zu hören, wenn sie stimmlos wären. Halbvokale sind jedoch, genau wie Vokale, immer stimmhaft. Liquide Modulation Grenzfälle Phonetik 38 Vokal Ein Vokal ist ein Laut, bei dessen Artikulation der Luftstrom nur moduliert und nicht in Form eines Verschlusses oder einer kritischen Enge behindert wird. Vokale werden anhand von vier Parametern beschrieben, die jedoch verschieden sind von den drei Parametern, anhand derer Konsonanten beschrieben werden. Da Vokale immer stimmhaft sind, braucht der Parameter Phonation (stimmhaft vs. stimmlos) nicht beschrieben zu werden. Durch die fehlende Enge- oder Verschlussbildung gibt es ebenfalls keine Variation in der Artikulationsart und der Artikulationsort lässt sich nicht so genau in Relation zu bestimmten Teilen des Ober- und Unterkiefers festlegen wie bei Konsonanten. Vokale werden in ihrer Quantität und Qualität beschrieben. Dies geschieht anhand von vier Parametern, die teilweise mehrere Zwischenstufen erlauben. Die Vokalquantität wird anhand des Parameters der Länge beschrieben, die Vokalqualität anhand der Parameter Öffnung, Lage und Rundung: A. Vokalquantität 1. die Länge des Vokals (kurz vs. lang), B. Vokalqualität 2. Grad der Öffnung des Kiefers (von offen bis geschlossen), 3. die horizontale Lage der Zunge im Mundraum (von hinten bis vorne), 4. die Rundung der Lippen (gerundet vs. ungerundet). Die Länge von Vokalen wird unterschieden in: 1. kurz, 2. lang. Die Länge von Vokalen wird gemeinhin nur dann beschrieben, wenn eine Sprache zwischen kurzen und langen Vokalen unterscheidet. Im Prinzip handelt es sich also um einen phonologischen und keinen phonetischen Parameter, da er nur in Bezug auf die Rolle des Lauts im betreffenden Sprachsystem beschrieben werden kann (siehe das Kapitel „Phonologie“). Im Deutschen und den skandinavischen Sprachen werden kurze und lange Vokale unterschieden. Das [a] in dt. backen ist kurz. In dt. Lage ist das [aː] lang. Es werden vier Grade der Öffnung des Kiefers unterschieden: 1. geschlossen, 2. halbgeschlossen, 3. halboffen, 4. offen. Da der Grad der Öffnung des Kiefers mit der Höhe des Zungenrückens korreliert, wird alternativ auch von der Höhe eines Vokals gesprochen. Die Höhe meint also nicht die Tonhöhe, sondern die Höhe des Zungenrückens. Die Grade der Vokal-Höhe reichen dann von hoch bis tief. Länge Öffnung 39 Phonetische Merkmale Ferner werden drei horizontale Lagen der Zunge unterschieden: 1. vorne, 2. zentral, 3. hinten. Dazu werden zwei Grade der Rundung unterschieden: 1. ungerundet, 2. gerundet. Es gibt noch feinere Möglichkeiten, die Lippenstellungen zu beschreiben, doch sie werden sehr selten verwendet und dann meistens extra erklärt. Die oben bei Konsonanten erläuterte Labialisierung, also die zusätzlich bei der Artikulation gerundeten Lippen, beschreibt gleichermaßen gerundete Lippen wie der Parameter gerundet dies bei Vokalen tut. Es gibt Vokale, die im Verlauf ihrer Artikulation ihre Qualität ändern, also ihre Höhe, Lage oder Rundung. Sie werden Diphthonge genannt. (7) dt. Heu [hoɪ ̯ ], (8) no. øy [œʏ] ‘Insel’. Vokale, deren Qualität gleich bleibt, heißen Monophthonge. Diphthonge werden auf der Grundlage von Monophthongen beschrieben und verfügen über ein paar zusätzliche Kriterien. Betrachten wir also zuerst die Monophthonge. Monophthong vs. Diphthong Monophthonge sind Vokale, deren Qualität im Verlauf der Artikulation gleich bleibt. Diphthonge sind Vokale, deren Qualität sich im Verlauf ihrer Artikulation verändert. Diphthonge sind also nicht zwei einzelne Vokale, sondern für sich ein einzelner Vokal. Die Begründung für diese Analyse wird im Kapitel zur Phonologie geliefert. 2.2.2.1 Monophthonge Die Vokale, die anhand der drei Parameter der Vokal-Qualität beschrieben werden können, sind die Kardinalvokale (KV). Sie werden im Vokaltrapez dargestellt (Abbildung 7). Die KV 1-4 und 13-16 sind ungerundet, die KV 5-6 und 9-12 sind gerundet. Die KV 1-4 und 9-12 sind vordere Vokale. Die KV 5-8 und 13-16 sind hintere Vokale. Die KV 1, 8, 9 und 16 sind geschlossene Vokale, die KV 2, 7, 10 und 15 sind halbgeschlossen, die KV 3, 6, 11 und 14 halboffen und die KV 4, 5, 12 und 13 offen. Komplette Bezeichnungen für einen Vokal umfassen alle drei Parameter der Vokal-Qualität. Gibt man auch die Vokallänge mit an, steht sie an erster Stelle: • (kurzer) geschlossener vorderer ungerundeter Vokal [i], z.B. in dt. Biene [biːnə], Lage Rundung Kardinalvokale Phonetik 40 • (kurzer) halboffener vorderer gerundeter Vokal [œ], z.B. in dt. öffnen [ʔœfnən], • (kurzer) offener hinterer gerundeter Vokal [ɑ], z.B. in no. far [fɑr] ‘Vater’. Abbildung 7: Vokaltrapeze mit Kardinalvokalen Die Positionen von Vokalen in Einzelsprachen stimmen nur sehr selten mit denen der Kardinalvokale überein. Die Kardinalvokale dienen vor allem der Orientierung. Eine genaue Beschreibung von Vokalen einer Einzelsprache erfordert daher eine große Zahl von Diakritika, um die Abweichung eines Vokals von der Position des Kardinalvokals anzugeben. Diakritika Diakritika sind Zusatzzeichen, die über oder unter ein Zeichen gesetzt werden können. Beispielsweise bezeichnet das phonetische Transkript [o̝ ] einen Vokal mit einer ähnlichen Position im Vokaltrapez wie der KV 7, der mit [o] transkribiert wird. Das diakritische Zeichen ̝ zeigt an, dass der Vokal [o̝] geschlossener artikuliert wird als [o]. Auch solche Angaben sind nur Näherungswerte. Abbildung 8 zeigt zwei Vokaltrapeze, links für die Monophthonge des Schwedischen und rechts für die des Dänischen. Die Vokale des Schwedischen sind ohne Diakritika angegeben, so wie es in vielen Handbüchern und Vokale in den Einzelsprachen 41 Phonetische Merkmale Untersuchungen der Einfachheit halber meistens geschieht. Die des Schwedischen sind mit Diakritika angegeben. Abbildung 8: Monophthonge des Schwedischen (oben; nach Engstrand 2011, 140) und Dänischen (unten; in enger phonetischer Transkription mit eigenen Modifikationen nach Basbøll 2005, 44-48). Die Punkte markieren die genaue Lage im Vokaltrapez. Ausgefüllte Punkte bedeuten ungerundete Vokale, Kreise bedeuten gerundete Vokale. Neben den Kardinalvokalen gibt es im Vokaltrapez noch weitere standardisierte Positionen für Vokale, die sich weiter innen im Vokaltrapez finden (Abbildung 9). Zunächst gibt es angrenzend an KV 1 [i] und 2 [e] vorne und KV 7 [u] hinten drei etwas tiefer und etwas weiter innen artikulierte Vokale. Dazu kommt ein vierter Vokal, der etwas geschlossener ist als KV 4 [a]: 1. fast geschlossener vorderer ungerundeter Vokal [ɪ], z.B. in dt. bitten [bɪtn], 2. fast geschlossener vorderer gerundeter Vokal [ʏ], z.B. in dt. füllen [fʏln], 3. fast geschlossener hinterer Vokal [ʊ], z.B. in dt. muss [mʊs], 4. fast offener vorderer ungerundeter Vokal [æ], z.B. in no. kjær [çæ: r] ‘lieb’. ungespannte Vokale Phonetik 42 Abbildung 9: ungespannte Vokale Die Zeichen für diese Vokale werden bei der Transkription des Standarddeutschen verwendet, um Kurzvokale wiederzugeben im Gegensatz zu benachbarten Langvokalen. (9) dt. bieten vs. bitten - [biːtn] vs. [bɪtn], (10) dt. fühlen vs. Füllen - [fyːln] vs. [fʏln], (11) dt. Mus vs. muss - [muːs] vs. [mʊs]. Den weiteren Langvokalen des Deutschen werden ebenfalls Kurzvokale zugeordnet, die mit Symbolen für im Verhältnis zu diesen weiter geöffnete Vokale bezeichnet werden. Das IPA verfügt für sie aber über keine eigenen Symbole, stattdessen werden andere Vokalsymbole umfunktioniert, in diesem Fall [ɔ] vs. [oː], [œ] vs. [øː] und ein zweites Mal [ɛ] nun im Gegensatz zu [eː]. Die äußeren und inneren Vokale werden einander wie im Deutschen gerne paarig zugeordnet, wobei die äußeren Vokale dann als gespannte Vokale und die inneren als ungespannte Vokale bezeichnet werden. Sie müssen aber nicht paarig in einer Sprache funktionieren. Im Isländischen gibt es sowohl [i] und [iː] als auch [ɪ] und [ɪː]. (12) is. víti ‘Hölle’ vs. viti ‘Leuchtturm’ - [viːtɪ] vs. [vɪːtɪ], (13) is. fínn ‘toll, elegant’ vs. finn ‘(ich) finde’ - [fitn] vs. [fɪnː]. Neben diesen ungespannten Vokalen gibt es noch zentrale Vokale, die sich im Zentrum des Vokaltrapezes befinden (Abbildung 10). Das IPA bietet acht Symbole. zentrale Vokale 43 Phonetische Merkmale Abbildung 10: Zentrale Vokale. Stehen zwei Symbole nebeneinander, bezeichnet das Linke einen ungerundeten Vokal und das rechte einen gerundeten. Die häufigsten beiden sind [ə] und [ɐ]. [ə] wird auch Schwa genannt und [ɐ] in Anlehnung daran auch A-Schwa, woraufhin man den ersteren Laut dann auch E-Schwa nennt. Diese beiden zentralen Vokale kommen in den germanischen Sprachen immer nur in unbetonten Silben, also am Wortende vor. Das Deutsche und Dänische kennen [ə] und [ɐ], das Norwegische und Isländische nur [ə]. Das Färöische kennt das e-Schwa nur in Dialekten. • mittlerer zentraler Vokal [ə], z.B. in dt. Kanne [kanə], • fast offener zentraler Vokal [ɐ], z.B. in dt. Hammer [hamɐ]. Das Norwegische und das Schwedische kennen noch weitere zentrale Vokale, die auch in betonten Silben, also am Wortanfang, vorkommen. In beiden Sprachen gibt es noch [ʉ]. Im Schwedischen dazu noch [ɵ]. • gerundeter geschlossener zentraler Vokal [ʉ], z.B. in no. dyster [dʉstɛr] ‘düster’, • gerundeter halbgeschlossener zentraler Vokal [ɵ], z.B. in se. full [fɵl] ‘betrunken’. 2.2.2.2 Diphthonge Diphthonge sind Vokale, die im Verlauf ihrer Artikulation ihre Qualität ändern, also ihre Lage, Höhe oder Rundung. Meistens ändern sich mindestens zwei dieser Parameter, nicht selten alle drei. Diphthonge ändern ihre Qualität einmal und können daher wie zwei aufeinanderfolgende Monophthonge beschrieben werden. Diphthonge sind nicht nur zu unterscheiden von Monophthongen auf der einen Seite, sondern auch von Triphthongen auf der anderen. Dazu kommt der Unterschied zwischen Diphthongen und Sequenzen von Monophthongen. Ändert ein Vokal seine Qualität zweimal und nicht einmal, ist er ein Triphthong. Triphthonge gibt es beispielsweise im Thai. Die Beschreibung von Diphthongen analog zu zwei Monophthongen schlägt sich auch in ihrer Transkription nieder: Sie werden mit zwei Vokal-Zeichen wiedergegeben. E-Schwa und A-Schwa Abgrenzung Diphthonge vs. Triphthonge Phonetik 44 Um in der Transkription anzuzeigen, dass die beiden Teile zusammen einen Vokal bilden, wird zum Teil unter den zweiten Teil ein sogenanntes umgedrehtes Brevis gesetzt: (14) no. stein [stɛɪ ̯ n] ‘Stein’, (15) dt. Stein [ʃtaɪ ̯ n], (16) no. øy [øɪ ̯ ] ‘Insel’, (17) is. bátur [pau̯ ːtʏr] ‘Boot’, (18) fo. bátur [bɔa̯ ːtʊɹ] ‘Boot’. Es gibt auch den Fall von aufeinander folgenden Monophthongen, also Monophthong-Sequenzen, die keine Diphthonge sind, etwa im Finnischen und Schwedischen. Hier ist die Artikulation hörbar „zweigeteilt“, der gleitende Übergang von der Artikulation einer Vokalqualität zur anderen ist nicht so fließend wie in anderen Sprachen. Ein weiteres Unterscheidungskriterium zwischen echten Diphthongen und zwei aufeinander folgenden Monophthongen ist, dass Diphthonge den Kern einer Silbe bilden, während aufeinanderfolgende Monophthonge sich auf zwei Silben verteilen. (19) se. paus [pa.ʊs] ‘Pause’, (20) fi. tauko [tɑ.ʊko] ‘Pause’. Diphthonge werden wie Monophthonge in Untergruppen unterteilt nach ihrer Qualität und ihrer Quantität. Neben diesen Parametern gibt es noch den Unterschied zwischen primären und sekundären Diphthongen, abhängig davon, ob ein Diphthong nur als Aussprache-Variante vorkommt von einer Sequenz, die aus einem R-Laut und einem Vokal besteht. Entsprechend dieser Unterscheidung von primären und sekundären Diphthongen gibt es auch die Unterscheidung von primären und sekundären Triphthongen. Alle diese Unterscheidungen finden sich auch im Deutschen und den Skandinavischen Sprachen. Nach der Art der Änderung ihrer Qualität unterscheidet man Untergruppen von Diphthongen. Dabei wird jedoch nur der Parameter der Höhe berücksichtigt. Man unterscheidet vier Arten von Diphthongen: 1. öffnende, 2. schließende, 3. schwebende, 4. zentrierende. Bei öffnenden Diphthongen hat die zweite Vokal-Qualität des Diphthongs eine niedrigere Zungenhöhe als die erste Qualität, bei schließenden Diphthongen eine höhere. Bei schwebenden Diphthongen bleibt die Höhe konstant und es ändern sich lediglich andere Parameter, etwa in dt. Pfui [pfuɪ ̯ ]. Diphthonge, deren zweite Qualität der eines zentralen Vokals entspricht, werden auch als zentrierende Diphthonge bezeichnet. Häufig handelt es sich dabei um Diphthonge, die als Varianten möglicher Artikulationsformen auftreten, etwa bei Kombinationen von Vokalen und R-Lauten in germanischen Sprachen. Im Standarddeutschen, und in Varianten des Norwegischen mit „Rachen-R“ wird das „R“ oft nicht als R-Laut, also als Konsonant, ausgesprochen, sondern als zentraler, fast-offener Vokal [ɐ]. Diphthonge vs. Monphthong- Sequenzen Untergruppen Qualität 45 Phonetische Merkmale Da Linguisten lange Zeit von der geschriebenen Sprache ausgehend über Sprache nachdachten, dem sogenannten „written language bias“ folgend, werden solche Diphthonge, die als Aussprache-Varianten vorkommen, als sekundäre Diphthonge bezeichnet, gegenüber den primären „echten“ Diphthongen. Im Dänischen wird das „R“ regulär nach Vokal vokalisiert und die daraus eventuell entstehenden Diphthonge werden nicht als sekundäre Diphthonge aufgefasst: (21) dt. Pferd [pfɛɐ̯t], (22) da. fjern [[fjæɐ̯n] ‘fern’. Durch die Artikulation von „R“ als Vokal können im Standarddeutschen und im Dänischen auch Triphthonge vorkommen, die dann analog zu den entsprechenden Diphthongen mitunter als sekundäre Triphthonge bezeichnet werden. (23) dt. Bauer [baʊ̯ɐ], (24) da. love [lɔːʊ̯ə] ‘versprechen’. Während sie bei der Beschreibung des dänischen Lautsystems gewöhnlich mit behandelt werden, fallen sie bei Beschreibungen des Deutschen zuweilen unter den Tisch. Äußerst selten unterscheiden Sprachen zwischen langen und kurzen Diphthongen. Dies ist beim Isländischen und im Färöischen der Fall. Die langen Diphthonge hören sich an wie „normale“ Diphthonge im Deutschen, die kurzen sind von kurzen Monophthongen kaum zu unterscheiden. Die kurzen Diphthonge treten vor allem in geschlossenen Silben auf, wenn ein langer Konsonant oder mehrere Konsonanten auf den Diphthong folgen: (25) is. hás ‘heiser’ vs. hálfur ‘halb’ [ha ʊ ̯ ː s] vs. [ha ʊ ̯lvʏr]. Zum Weiterlesen Übersichtliche Darstellungen der Phonetik der skandinavischen Sprachen finden sich in Barnes et al. (2005). Eine bewährte und umfassende Einführung in alle Teilbereiche der Phonetik bietet Pompino-Marschall (2003). Für Fortgeschrittene eignet sich Ladefoged/ Madiesson (2004). Online-Skripten zur Einführung in die Phonetik mit Audio-Beispielen sind Hess (2005), Machelett (2001-2003), Mayer (2006) und Wagner (o. J.). Barnes, Michael et al. (2005): Introduction to Scandinavian Phonetics. Kopenhagen: Alfabeta. Hess, Wolfgang (2005): Grundlagen der Phonetik. Universität Bonn. http: / / www.sk.uni-bonn.de/ lehre/ informationen-materialien/ informationenund-materialien-kopho/ materialien-1/ hess/ grundlagen-der-phonetik/ (abgerufen am 29.09.2013). Ladefoged, Peter/ Maddieson, Ian (2004): The Sounds of the World’s Languages. Oxford u.a.: Blackwell. primäre vs. sekundäre Diphthonge sekundäre Triphthonge Quantität Phonetik 46 Machelett, Kirsten (2001-2003): Phonetische Transkription. 2 Teile. Universität München. http: / / www.bas.uni-muenchen.de/ studium/ skripten/ TRANS1/ TRANS1Home.html (abgerufen am 29.09.2013); http: / / www.bas.unimuenchen.de/ studium/ skripten/ TRANS2/ TRANS2Home.html (abgerufen am 29.09.2013). Mayer, Jörg (2006): Linguistische Phonetik. Universität Potsdam. http: / / www.ling.uni-potsdam.de/ ~mayer/ teaching/ phonetik/ Phonetik.pdf (abgerufen am 29.09.2013). Pompino-Marschall, Bernd (2003): Einführung in die Phonetik. 2. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter. Wagner, Karl Heinz (o. J.): Phonetik und Phonologie. Universität Bremen. http: / / www.fb10.uni-bremen.de/ khwagner/ phonetik/ kapitel1.aspx (abgerufen am 29.09.2013). Übungen Dieses Kapitel hat die wesentlichen Termini zur Beschreibung von Lauten vorgestellt. Mit diesen Termini kannst Du nun Laute gemäß des internationalen Standards des IPA beschreiben und Beschreibungen dieser Laute in sprachwissenschaftlicher Fachliteratur verstehen. Mit den folgenden Aufgaben kannst Du Dein passives und aktives Verständnis dieser Termini überprüfen und weiter üben. 1) Nenne die vollständigen Bezeichnungen für folgende Laute mit der korrekten Reihenfolge der Parameter: a) [k] - b) [f] - c) [h] - d) [b] - e) [a] - f) [ɑ] - g) [ø] - h) [œ] - i) [u] - j) [ʊ]. 2) Transkribiere folgende drei Wörter phonetisch: a) se. tjäna - b) no. barn - c) da. barn. 3) Hinsichtlich welches Parameters unterscheiden sich die beiden Laute [k] und [ç]? 4) Betrachte das Vokaltrapez für die Monophthonge des Dänischen in Abbildung 8. Könnte man in der Darstellung andere Vokalsymbole verwenden, sodass auf einige oder gar alle Diakritika verzichtet werden könnte? 5) Gib die IPA-Zeichen für folgende Laute an: a) stimmloser bilabialer Plosiv, b) stimmhafter velarer Nasal, c) kurzer geschlossener vorderer ungerundeter Vokal, d) langer fast offener vorderer ungerundeter Vokal, e) kurzer halboffener zentraler gerundeter Vokal, f) stimmhafter palataler Frikativ, g) palataler Approximant. 3 Phonologie Stichwörter • Minimalpaarbildung • Phonem - Opposition - Kontrast Allophonie - komplementäre Distribution vs. freie Variation - Notation [...] vs. / .../ • Phonologische Prozesse Neutralisierung - Assimilation - Koaleszenz - Tilgung - Epenthese • Silbe Onset - Reim - Nukleus - Koda • Betonung - Pitch - Intonation - Töne 3.1 Gegenstand und Teilbereiche Die Phonologie beschäftigt sich wie die Phonetik mit der Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens, genauer gesagt mit den Lauten einer Sprache. Dabei nimmt die Phonologie jedoch eine andere Perspektive ein als die Phonetik. Im vorherigen Kapitel wurde bereits erläutert, dass sich die Phonetik mit Lauten als physikalischer Gegebenheit befasst. Dies beinhaltet die akustischen Eigenschaften von Lauten, wie sie artikuliert und wie sie wahrgenommen werden. Dabei wurde unter anderem gezeigt, wie die Phonetik Laute mithilfe von artikulatorischen Merkmalen beschreibt. So wird der Laut [n] phonetisch als „stimmhafter alveolarer Nasal“ klassifiziert. Die Phonologie betrachtet Laute aus einer anderen Perspektive, nämlich der Perspektive des Sprachsystems und nicht der physikalischen Eigenschaften von Lauten. Die Phonologie untersucht, welche Funktion Laute innerhalb des Sprachsystems haben. Dabei werden sowohl einzelne Laute als auch größere lautliche Einheiten wie Silben oder andere prosodische Einheiten betrachtet. Was bedeutet die „Funktion“ von Lauten in Sprachsystemen und wie untersucht man sie? Was ist der Unterschied zwischen einer phonetischen und einer phonologischen Betrachtung der Laute einer Sprache? Diese Fragen sind Gegenstand dieses Kapitels. Zunächst wird erläutert, wie man mit Hilfe der Minimalpaarbildung die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten eines Sprachsystems, die Phoneme, ermittelt und wie sich Phoneme zu ihren Realisierungsvarianten, den Allophonen, verhalten. Anschließend wird auf Prozesse eingegangen, die die phonologische Struktur von Wörtern ändern. Zum Abschluss wird auf die Suprasegmentalia eingegangen, das sind Phänomene, die Einzellaute überschreiten. Als erstes dieser Phänomene wird die Einheit der Silbe vorgestellt, anschließend die Phänomene von Betonung und Tonhöhen-Akzent. Phonetik vs. Phonologie Phonologie 48 3.2 Segmentale Phonologie Die segmentale Phonologie beschäftigt sich mit einzelnen Sprachlauten, d.h. einzelnen Lautsegmenten. Im Fokus steht dabei die Ermittlung der kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten eines Sprachsystems, der Phoneme, und ihrer Realisierungsvarianten, der Allophone. Dies wird in den folgenden Abschnitten erläutert. 3.2.1 Phoneme In der Einleitung wurde die Frage aufgeworfen, was der Unterschied zwischen einer phonetischen und einer phonologischen Beschreibung von Sprachlauten ist. Schauen wir uns dazu die beiden folgenden norwegischen Wörter an, die hier in phonetischer Transkription auf Basis des Oslo-Dialekts wiedergegeben werden: (1) no. hus [hʉːs] ‘Haus’, (2) no. mus [mʉːs] ‘Maus’. Beide Wörter unterscheiden sich, wie an den phonetischen Umschriften zu erkennen ist, nur in einem Laut in der wortinitialen Position: [h] vs. [m]. Die anderen Bestandteile der Wörter sind identisch. Anhand dieses Wortpaares lässt sich der Unterschied zwischen einer phonetischen und einer phonologischen Herangehensweise demonstrieren. Eine phonetische Betrachtung des Unterschieds zwischen hus und mus beschäftigt sich z.B. damit, wie sich die beiden Laute artikulatorisch unterscheiden. So ist [h] ein stimmloser glottaler Frikativ, [m] ein stimmhafter bilabialer Nasal. Ebenfalls interessant wäre phonetisch, wie sich die beiden Laute auf die Artikulation des darauffolgenden [ʉːs] auswirken, zu welchen koartikulatorischen Phänomenen es also kommt. Aus einer phonologischen Perspektive ist der Unterschied zwischen hus und mus auf eine andere Art relevant. Bei den beiden Wörtern handelt es sich um ein Minimalpaar. Phonologische Minimalpaare sind Wortpaare, die sich in nur in genau einem Laut an der gleichen Stelle unterscheiden und eine unterschiedliche Bedeutung haben. Die Wörter hus und mus unterscheiden sich lautlich nur durch [h] und [m] und bedeuten jeweils etwas anderes. Minimalpaare gibt es auch auf anderen sprachlichen Ebenen, z.B. in der Untersuchung von Schriftsystemen („graphemische Minimalpaare“). Der Kürze wegen wird im Folgenden unter „Minimalpaar“ ein phonologisches Minimalpaar verstanden. An dem vorliegenden Minimalpaar lässt sich somit ablesen, dass [h] und [m] im Norwegischen nicht nur phonetisch unterschiedlich sind, sondern dass sie auch eine andere Stellung im Sprachsystem des Norwegischen haben: Sie haben bedeutungsunterscheidende Funktion. Die Laute selbst tragen zwar eigene Bedeutung, wenn sie jedoch in den betreffenden Wörtern gegeneinander ausgetauscht werden, ändert sich die Bedeutung des Wortes als Ganzes: hus bedeutet etwas anderes als mus. Laute, die bedeutungsunterscheidende Funktion haben, gehören zu unterschiedlichen Phonemen. phonetische Betrachtung Minimalpaar bedeutungsunterscheidende Funktion 49 Segmentale Phonologie Phoneme sind die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten eines Sprachsystems. Sie gehören zur abstrakten Ebene der langue (zum Begriff der langue siehe Kapitel 0) und werden zwischen Schrägstrichen notiert. Durch das obige Minimalpaar haben wir zwei unterschiedliche Phoneme des Norwegischen ermittelt: / h/ und / m/ . Bei Lauten, die zu unterschiedlichen Phonemen gehören, spricht man davon, dass sie zueinander in Opposition stehen bzw. miteinander bezüglich eines oder mehrerer Merkmale kontrastieren. Die Phonologie interessiert sich in den genannten Beispielen nicht für die genauen phonetischen Unterschiede zwischen den beiden Lauten, sondern nur dafür, dass sie eine bedeutungsunterscheidende Funktion innerhalb des Sprachsystems des Norwegischen haben: Beide gehören zu unterschiedlichen Phonemen als den kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten des Sprachsystems. Um herauszufinden, welche Phoneme in einer Sprache existieren, und damit das Phoneminventar einer Sprache zu erstellen, müssen drei Schritte erfolgen: 1. Als erstes werden die Wörter einer Sprache so segmentiert, dass ein phonetisches Inventar aller Laute erstellt werden kann. 2. Dann werden die Wörter phonetisch transkribiert. 3. Schließlich werden auf der Grundlage dieser Transkriptionen Minimalpaare erstellt, anhand derer ermittelt werden kann, welche Laute in der betreffenden Sprache bedeutungsunterscheidend sind. Um als Minimalpaar gelten können, müssen zwei Wörter folgende beiden Kriterien erfüllen: 1. Sie müssen sich in genau einem Laut unterscheiden und 2. voneinander verschiedene Bedeutungen haben. Idealerweise handelt es sich bei Minimalpaaren nicht um Fremdwörter oder Eigennamen. Weitere Beispiele für Minimalpaare bieten die folgenden Wortpaare aus dem Deutschen: (3) dt. Kuchen [kuːxn] vs. suchen [zuːxn], (4) dt. Boote [boːtə] vs. Beete [beːtə]. Diese Wortpaare unterscheiden sich wie oben verlangt in nur einem einzigen Laut und die einander gegenübergestellten Wörter haben voneinander verschiedene Bedeutungen. Im Wortpaar Kuchen vs. suchen sind nur die jeweils ersten Laute unterschiedlich: [k] vs. [z]. Beim Wortpaar Boote vs. Beete hingegen sind es die Vokale in der jeweils ersten Silbe, die sich unterscheiden: [oː] vs. [eː]. Bei der Minimalpaarbildung ist auf zwei Punkte zu achten. Erstens muss man sich an der Lautebene, also der phonetischen Transkription, orientieren und nicht an der Schriftebene. Betrachten wir die folgenden beiden norwegischen Beispiele: (5) no. sjel [ʃeːl] ‘Seele’, (6) no. hel [heːl] ‘voll, ganz’. Phonem Minimalpaar- Bildung Bedingungen weitere Hinweise Phonologie 50 Die beiden Wörter unterscheiden sich in der Schrift durch mehr als ein Graphem (Buchstaben). Das Wort sjel hat vier Grapheme, das Wort hel nur drei. Es handelt sich dennoch um ein Minimalpaar, da die Graphemkombination <sj> im Norwegischen nur einem Laut entspricht. Damit unterscheiden sich die zwei Wörter nur in einem Laut: [ʃ] vs. [h]. Zweitens muss beachtet werden, dass bei Minimalpaaren immer zwei Laute gegeneinander ausgetauscht werden und nicht ein Laut durch „nichts“ ersetzt wird. Die folgenden beiden isländischen Wörter illustrieren dieses Problem: (7) is. á [auː] ‘Fluss’, (8) is. fá [fauː] ‘bekommen’. Beim Wortpaar á und fá handelt es sich nicht um ein Minimalpaar, da das [f] im Wort fá zwar nicht im Wort á vorkommt, dort jedoch an der gleichen Stelle kein Laut erscheint: fá hat zwei Laute, á jedoch nur einen. Somit ist das Kriterium, dass zwei Laute gegeneinander austauschbar sein müssen, nicht erfüllt. 3.2.2 Allophonie Es kann vorkommen, dass für zwei phonetisch eindeutig verschiedene Laute kein Minimalpaar in einer Sprache auffindbar ist. Ein klassisches Beispiel dafür sind die beiden phonetischen Realisierungen der Graphemkombination <ch> im Deutschen. Diese beiden Realisierungen werden als „ich-Laut“ und „ach-Laut“ bezeichnet. Die folgenden beiden Wörter beinhalten diese zwei Laute: (9) dt. (sie) lacht [laxt], (10) dt. Licht [lɪçt]. In der Schriftform sieht dieses Wortpaar aus wie ein Minimalpaar. Jedoch zeigt sich anhand der phonetischen Transkription, dass dem nicht so ist. In lacht wird <ch> als [x] realisiert. Bei diesem Laut handelt es sich um einen stimmlosen velaren Frikativ. Im Wort Licht hingegen wird <ch> als [ç] ausgesprochen, also als stimmloser palataler Frikativ. Beim Wortpaar lacht vs. Licht handelt es sich somit nicht um Minimalpaar, da sich die beiden Wörter außer in den beiden Frikativen auch noch im vorangehenden Vokal unterscheiden. Versucht man nun ein Minimalpaar für die Laute [ç] und [x] im Deutschen zu finden, wird man nicht erfolgreich sein, denn es existiert keines (zumindest nicht in Simplizia, siehe das Kapitel zur Morphologie). Einem Minimalpaar am nächsten kommt noch das Wortpaar oben. Lässt sich für zwei phonetisch ähnliche Laute kein Minimalpaar finden, betrachtet man sie als Allophone eines Phonems sind. Allophone sind Realisierungsvarianten ein und desselben Phonems. Während das Phonem zur abstrakten Ebene der langue gehört, sind Allophone auf der konkreten Ebene der parole angesiedelt. [ç] und [x] sind somit Allophone ein und desselben Phonems / x/ . Welches der beiden Lautzeichen als Zeichen für das Phonem verwendet wird, ist Minimalpaar- Bedingung Allophon 51 Segmentale Phonologie im Grunde arbiträr, da es sich ja um eine abstrakte Einheit handelt. Das Phonem könnte also genauso gut mit / ç/ notiert werden. Das Verhältnis von Phonem und Allophon ließe sich auch anders herum ausdrücken: Das Phonem / x/ hat zwei Realisierungsvarianten [ç] und [x]. Phoneme können eine unterschiedliche Anzahl an Allophonen, also Realisierungsvarianten haben. Während das deutsche Phonem / x/ in unserer etwas vereinfachten Analyse zwei Allophone hat, hat das Phonem / l/ im Deutschen nur ein Allophon, nämlich [l] (vgl. Abbildung 11). Abbildung 11: Das Verhältnis von Phonemen und Allophonen Um zwei Laute als Allophone eines Phonems zu analysieren, ist nicht nur entscheidend, dass sich kein Minimalpaar für sie findet. Zudem müssen die beiden Laute eine gewisse phonetische Ähnlichkeit aufweisen. Der Grad an Ähnlichkeit ist natürliches ein weiches, nicht eindeutig quantifizierbares Kriterium, lässt sich aber sehr einfach am folgenden Beispiel verdeutlichen, das sowohl für das Deutsche als auch für die skandinavischen Sprachen Gültigkeit hat. Im Schwedischen existieren die zwei Laute [h] und [ŋ]. Die beiden Laute sind phonetisch sehr verschieden und unterscheiden sich in mehreren Parametern, nämlich sowohl Artikulationsort, Artikulationsart und Stimmhaftigkeit. [h] ist ein stimmloser glottaler Frikativ, [ŋ] hingegen ein stimmhafter velarer Nasal. Folgende beiden Wörter können exemplarisch für das Auftreten der beiden Wörter im Schwedischen stehen: (11) se. höst [hœst] ‘Herbst’, (12) se. sjunga [ɧɵŋa] ‘singen’. [h] tritt nur am Anfang von Wörtern auf wie in höst. [ŋ] hingegen tritt nur im Wortinneren auf wie in sjunga. Aufgrund dieser Verteilung lässt sich kein Minimalpaar für die beiden Laute finden. Trotzdem wäre es kontraintuitiv, die beiden Laute als Allophone ein und desselben Phonems zu klassifizieren. Hier greift das zweite Kriterium für Allophonie, das Kriterium der phonetischen Ähnlichkeit. Auch wenn sich kein Minimalpaar für [h] und [ŋ] im Schwedischen findet, werden sie nicht als Allophone klassifiziert, da sie phonetisch zu unterschiedlich sind. Wenden wir uns wieder Fällen zu, bei denen zwei oder mehrere Laute tatsächlich Allophone eines Phonems sind. Es existieren zwei unterschiedli- Ähnlichkeitsbedingung komplementäre Distribution Phonologie 52 che Arten von Allophonie: Allophone können zum einen in komplementärere Distribution (Verteilung) stehen oder zum andern in freier Verteilung. Schauen wir uns dazu erneut die Allophone [ç] und [x] im Deutschen an. Die folgenden Beispiele zeigen alle Verteilungsmöglichkeiten dieser beiden Allophone: (13) dt. Licht [lɪçt], Hecht [hɛçt]; (14) dt. Chemie [çemiː], China [çiːna]; (15) dt. lacht [laxt], sucht [zuːxt]. Betrachtet man die Verteilung der beiden Allophone, lässt sich feststellen, dass [ç] wie in den Beispielen in (13) immer nach vorderen Vokalen vorkommt oder am Wortanfang wie in Chemie [çemi: ] in (14). (Bei dieser Analyse sehen wir der Einfachheit halber davon ab, dass wortinitiales <ch> regionalsprachlich auch als [k] oder [ʃ] realisiert werden kann.) Das Allophon [x] hingegen kommt immer nach nicht-vorderen Vokalen vor wie dem [a] in lacht oder dem [uː] in sucht und niemals am Wortanfang. Es ist also genau gegensätzlich verteilt zum Allophon [ç], dass statt nach nichtvorderen Vokalen nach vorderen Vokalen vorkommt und am Wortanfang gefunden werden kann. Welches der beiden Allophone auftritt, hängt also von der lautlichen Umgebung ab. Allophone, deren Verteilung von der lautlichen Umgebung abhängt, stehen in komplementärer Distribution. Ein weiteres Beispiel für eine komplementäre Distribution von Allophonen ist das der beiden Laute [n] und [ŋ] im Isländischen. Die zwei Laute sind einander phonetisch ähnlich, handelt es sich doch in beiden Fällen um stimmhafte Nasale. Sie unterscheiden sich nur in ihrem Artikulationsort: [n] ist ein palataler Laut und [ŋ] ein velarer. Die folgenden drei isländischen Wörter, die die Laute [n] und [ŋ] beinhalten, sind repräsentativ für die Verteilung der beiden Laute: (16) is. nál [nauːl] ‘Nadel’, (17) is. binda [bɪnta] ‘binden’, (18) is. springa [spriŋka] ‘explodieren’. Es zeigt sich, dass [n] am Wortanfang vorkommt wie in nál und im Wortinnern vor [t] (aus orthographisch <d>) wie in binda. (Zusätzlich erscheint [n] noch an anderen Stellen, die hier nicht weiter ausgeführt werden brauchen.) [ŋ] hingegen tritt im Isländischen nur vor [k] auf (basierend auf orthographischem <g>). Dies ist phonetisch einleuchtend, da [k] und [ŋ] beide velare Laute sind. Die Verteilung der beiden Nasale lässt sich nun so analysieren, dass [n] und [ŋ] Allophone ein und desselben Phonems / n/ sind. Das Allophon [ŋ] tritt dann vor velaren Lauten auf, [n] hingegen an allen anderen Stellen. Da das Auftreten von [ŋ] somit von der lautlichen Umgebung abhängig ist, handelt es sich auch hier wie bei [x]~[ç] im Deutschen um einen Fall von komplementärer Distribution. Der zweite Typus von Allophonie ist die freie Distribution. In vielen Sprachen liegt sie bei den Allophonen der jeweiligen / r/ -Phoneme vor. Im Norwegischen hat dieses Phonem vereinfacht gesagt zwei Allophone, das „Zungenspitzen-r“ [r] und das „Rachen-r“ [ʁ]. Die beiden Laute sind im Norwegischen eindeutig Allophone ein und desselben Phonems, da sich kein freie Distribution 53 Phonologische Prozesse Wortpaar findet, dass sich nur in diesen Lauten unterscheidet. Ihre Distribution ist ferner nicht vom lautlichen Kontext abhängig. Wenn die Allophon- Verteilung nicht von der lautlichen Umgebung abhängt, spricht man von freier Distribution. In diesem Fall hängt die Wahl des Allophons bei Sprecherinnen des Norwegischen stattdessen von anderen Faktoren ab. Der stärkste Faktor ist der der geographischen Herkunft der Sprecherinnen. Auch wenn sich andere Faktoren bestimmen lassen, die die Wahl von Allophonen bestimmen, spricht man trotzdem von freier Distribution. Ein anderes Beispiel für eine freie Distribution von Allophonen ist der „sj“-Laut im Schwedischen. Die orthographische Einheit <sj> wie in sjunga ‘singen’ oder själ ‘Seele’ kann im Schwedischen auf unterschiedliche Weise realisiert werden, als [ɧ], [ʂ] oder [ɕ]. Die sind zum Teil hochkomplexe Laute, auf deren genauen phonetischen Wert hier nicht näher eingegangen werden kann. Alle Varianten sind eindeutig Allophone ein und desselben Phonems, da sich kein Wortpaar findet, das sich nur durch einen dieser Laute an der gleichen Stelle unterscheidet und eine unterschiedliche Bedeutung hat. Die Allophone stehen jedoch nicht in komplementärer Distribution, da ihr Auftreten nicht vom lautlichen Kontext bedingt ist. Die meisten Sprecherinnen haben eine Präferenz für eine der Varianten, manche variieren aber auch in ihrer Aussprache von <sj> zwischen mehr als einer Variante. Wie im obigen norwegischen Beispiel ist die Variation vielmehr geographisch bedingt. So wird etwa in Nordschweden die Variante [ʂ] bevorzugt. Es wurden aber auch Alter und soziales Geschlecht als weitere Faktoren ausgemacht. Es handelt sich bei den Varianten des „sj“-Lautes also um einen Fall von Allophonie mit freier Variation. In diesem ersten Abschnitt wurden die grundlegenden Einheiten der Phonologie eingeführt (Phoneme und Allophone) und die Methode zu ihrer Bestimmung innerhalb einer Sprache (Minimalpaarbildung). Bei Phonemen handelt es sich um die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten einer Sprache. Als solche sind sie abstrakte, systemische Einheiten. Allophone sind die Realisierungsvarianten eines Phonems. Ein Phonem kann ein oder mehrere Allophone haben. Ob zwei Laute zum selben Phonem gehören, wird durch Minimalpaaranalyse ermittelt. Finden sich zwei Wörter, die sich nur durch einen Laut an derselben Stelle unterscheiden und eine unterschiedliche Bedeutung haben, gehören die betreffenden Laute zu unterschiedlichen Phonemen. Ansonsten sind sie (bei ausreichender phonetischer Ähnlichkeit) Allophone desselben Phonems. 3.3 Phonologische Prozesse Im vorherigen Kapitel wurde dargestellt, wie die Phoneme einer Sprache und ihre Allophone ermittelt werden. Es gibt jedoch auch noch lautliche Strukturen, die über diese auf einzelne Segmente bezogene Analyse hinausgehen. Dabei handelt es sich zum einen um Strukturen, die über die Ebene des Segmentes hinausgehen. Diese suprasegmentalen Strukturen werden im nächsten Abschnitt eingeführt. Zum anderen gibt es phonologische Prozesse, bei denen die Lautstruktur von lexikalisch zusammenhängenden Wortformen Zusammenfassung Phonologie 54 verändert wird. Man unterscheidet dabei obligatorische Prozesse, die immer eintreten, und optionale Prozesse, deren Eintreten von bestimmten Faktoren abhängt. Im Folgenden wird auf eine Auswahl von vier Prozessen eingegangen: 1. Neutralisierung, 2. Assimilation, 3. Tilgung, 4. Epenthese. Darüber hinaus gibt es allerdings noch weitere Prozesse. Beim Prozess der Neutralisierung wird der Unterschied zwischen zwei Phonemen an einer bestimmten Position aufgehoben (neutralisiert). Das bedeutet, die Realisierungen der beiden betroffenen Phoneme können in der Position nicht mehr voneinander unterschieden werden. Ein klassisches Beispiel für Neutralisierung ist die Auslautverhärtung, wie sie sich etwa im Deutschen oder Russischen, aber auch in anderer Form in skandinavischen Sprachen findet. Bei der Auslautverhärtung werden Plosive und Frikative am Silben- und Wortende stimmlos realisiert, die in anderen Positionen stimmhaft sind und dann auch in Opposition zu stimmlosen Plosiven und Frikativen stehen. Im Kontext dieser und ähnlicher phonologischer Prozesse werden Plosive und Frikative als Obstruenten zusammengefasst. Im Deutschen kontrastieren stimmhafte und stimmlose Obstruenten. Anhand der Opposition zwischen dem stimmhaften alveolaren Plosiv [d] und dem stimmlosen alveolaren Plosiv [t] sei dies hier aufgezeigt: Für die beiden Laute finden sich Minimalpaare wie (die) Boten vs. (der) Boden. Nun ist es allerdings aufgrund der Auslautverhärtung so, dass am Ende von Silben (in der sogenannten Koda, wie im folgenden Abschnitt erläutert wird) nur stimmlose Plosive und Frikative auftreten: (19) dt. Rad [raːt], Räder [rɛːdɐ], (20) dt. Rat [raːt], Räte [rɛːtə]. Die Wortformen Rat und Rad werden beide mit einem stimmlosen Plosiv [t] am Wortende realisiert, auch wenn die Schriftform hier anderes suggeriert. In der Pluralform Räder zeigt sich, dass das Lexem „eigentlich“ ein / d/ enthält. Dieses wird jedoch durch den neutralisierenden Prozess der Auslautverhärtung am Wortende als stimmloses [t] realisiert. Auch wenn in anderen Positionen eine Opposition zwischen stimmlosen und stimmhaften Plosiven und Frikativen besteht, ist diese Opposition am Silben- und Wortende aufgehoben, also neutralisiert. Der zweite hier vorgestellte Prozess ist die Assimilation. Unter Assimilation versteht man die Angleichung eines Lautes an seine Umgebung hinsichtlich eines oder mehrerer phonetischer Merkmale. Man unterscheidet vollständige Assimilation, bei der sich zwei Laute komplett einander angleichen, von partieller Assimilation, bei der ein oder mehrere Merkmale übernommen werden, die Angleichung aber nicht vollständig ist. Ein klassisches Beispiel für partielle Assimilation ist die Ortsassimilation bei Nasalen, wie sie in vielen Sprachen zu finden ist. In nicht-zusammengesetzten Wörtern erscheinen im Dänischen und den anderen skandina- Neutralisierung Assimilation 55 Phonologische Prozesse vischen Sprachen vor den Plosiven [p] und [k] nur bestimmte Arten von Nasalen: (21) da. lampe [lampə] ‘Lampe’, (22) da. tanke [tankə] ‘Gedanke’. Vor dem bilabialen Plosiv [p] erscheint nur der bilabiale Nasal [m] wie in lampe. Der Nasal passt sich also dem folgenden Segment hinsichtlich seines Artikulationsorts an. Ähnlich verhält es sich mit Nasalen vor dem velaren Plosiv [k]: Hier treten im Wortinneren nur velare Nasale auf, auch wenn dies orthographisch nicht angezeigt wird. Der Nasal in tanke wird als velarer Nasal [ŋ] realisiert. Der Prozess der Ortsassimilation ist bei Nasalen auch bei zusammengesetzten Wörtern und sogar über Wortgrenzen hinweg aktiv. In diesen beiden Fällen ist sie allerdings optional, d.h. sie wird nicht immer durchgeführt: (23) dt. eingeben [aɪngeːbm] oder [aɪŋgeːbm]; (24) se. han kommer [hankɔmːɛr] oder [haŋkɔmːɛr] ‘er kommt’. Beim deutschen Wort eingeben kann der erste Nasal als alveolares [n] oder als velares [ŋ] realisiert werden. In letzterem Fall liegt eine Ortsassimilation an den folgenden velaren Plosiv vor. Ein analoger Fall liegt bei der schwedischen Wortfolge han kommer ‘er kommt’ vor. Hier kann das wortfinale / n/ in han entweder alveolar oder velar realisiert werden. Je nach Blickwinkel eine Unterkategorie des Prozesses der Assimilation oder ein distinktiver Prozess ist die Koaleszenz. Bei der Koaleszenz werden zwei Phoneme mit einem Laut realisiert. Aus zwei phonemischen Segmenten auf der abstrakten Ebene des Sprachsystems wird in ihrer Realisierung in einer Sprachäußerung ein einziges Segment. Der durch Koaleszenz entstandene Laut liegt artikulatorisch meistens - aber nicht immer - zwischen den beiden ursprünglichen Lauten. Koaleszenzen sind im Schwedischen und Norwegischen prominent, wenn ein / r/ auf einen folgenden alveolaren Laut trifft. Das Ergebnis ist dabei jeweils ein retroflexer Laut, weswegen der Prozess in den beiden Sprachen auch Retroflexion genannt wird: (25) no. bord [buːɖ] ‘Tisch’, (26) se. var [vɑːr] ‘war’, det [deː] ‘das, es’, var det [vɑːɖeː] ‘war das’. Im norwegischen Beispiel (25) treffen / r/ und / d/ aufeinander und fallen in den stimmhaften retroflexen Plosiv [ɖ] zusammen. Dass Retroflexion auch über Wortgrenzen hinweg aktiv ist, zeigt das schwedische Beispiel in (26). Einzelstehend (in Isolation) realisiert endet das Wort var auf den Vibranten [r] und das Wort det beginnt mit dem stimmhaften alveolaren Plosiv [d]. Werden beide Wörter jedoch direkt nacheinander geäußert, fallen das finale Segment von var und das initiale Segment von det in einen retroflexen Plosiv [ɖ] zusammen. Bei Tilgungen werden Segmente unter bestimmten Bedingungen nicht realisiert. Tilgungen treten oft am Wortende auf, wie in den folgenden Beispielen aus dem Deutschen: Koaleszenz Tilgung Phonologie 56 (27) dt. (ich) gebe > (ich) geb’, (28) dt. jetzt > jetz’. In diesen Beispielen wird jeweils das letzte Segment getilgt, in Beispiel (27) das Schwa, in Beispiel (28) das [t]. Das zweite Beispiel zeigt die in den germanischen Sprachen deutlich vorliegende Tendenz, Konsonantencluster, also Verbindungen aus mehreren Konsonanten, zu vereinfachen. Aber auch im Wortinneren findet Tilgung statt, wie das folgende färöische Beispiel zeigt: (29) fo. hestur ‘Pferd’ [hɛstʊɹ], hesturin ‘Pferd-D EFINIT ’ [hɛstɹən]. Die Wortform hestur ‘Pferd’ ist zweisilbig mit einem Vokal in der zweiten Silbe, der oft als [ʊ] realisiert wird. Wird an diese Form noch der bestimmte Artikel angehängt, wird dieser Vokal getilgt. Die Wortform mit bestimmtem Artikel ist daher ebenfalls zweisilbig. Das Gegenteil von Tilgungen ist die Epenthese. Hier wird ein Laut eingefügt: (30) is. varla ‘kaum’ [vartla], (31) dt. eigentlich. Im Isländischen werden Konsonantengruppen, die in der Schrift als <rl> wiedergegeben werden, mit einem [t] zwischen den beiden Liquiden realisiert, wie in Beispiel (30) zu sehen ist. Historisch gesehen handelt es sich hier um eine Epenthese, da das [t] aus artikulatorischen Gründen eingefügt wurde. Ähnlich verhält es sich mit dem [t] im deutschen Wort eigentlich, das ursprünglich aus den beiden Bestandteilen eigen und lich zusammengesetzt war. In diesem Abschnitt wurden vier ausgewählte phonologische Prozesse erläutert. Bei phonologischen Prozessen wird die Lautstruktur von Wörtern verändert. Dies geschieht entweder optional oder immer. Bei optionalen Prozessen kann eine Abhängigkeit von der Lautumgebung bestehen, bei obligatorischen Prozessen ist sie immer gegeben. Bei Neutralisierungen werden bestehende Phonem-Oppositionen in bestimmten Positionen aufgehoben, so dass die Realisierungen der Phoneme nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Bei Assimilationen gleicht sich ein Segment in einem oder mehreren Merkmalen an ein benachbartes Segment an. Bei Koaleszenzen fallen zwei Segmente in eines zusammen. Tilgungen beinhalten die Nicht- Realisierung eines Segments, bei Epenthesen hingegen wird ein Laut eingefügt. 3.4 Suprasegmentale Phonologie Unter Suprasegmentalia werden Phänomene und Einheiten verstanden, die über die Ebene des Segments hinausgehen, da sie entweder mehrere Segmente umfassen oder von der Segmentstruktur unabhängig sind. Die suprasegmentale Ebene wird auch Prosodie genannt. Suprasegmentale Einheiten heißen dementsprechend auch prosodische Einheiten. 57 Suprasegmentale Phonologie 3.4.1 Silbe Die Silbe ist eine phonologische Einheit, die auf den ersten Blick auch Laien intuitiv zugänglich ist. Schon Kinder können oft feststellen, dass beispielsweise das Wort Banane drei Silben hat. Nicht nur die Anzahl der Silben, sondern auch ihre Grenzen scheinen oftmals klar zu sein: Ba.na.ne. Die Punkte verdeutlichen in diesem Fall (und auch in den folgenden phonetischen Transkriptionen) die Silbengrenzen. Allgemein kann die Silbe als eine prosodische Einheit definiert werden, die aus einem oder mehreren Segmenten besteht. Es stellt sich nun die Frage, ob die Segmente, aus denen eine Silbe besteht, dieser Silbe hierarchisch gleichwertig zugeordnet werden oder ob bestimmte Segmente Gruppen bilden. Im ersten Fall hätte die Silbe eine flache Struktur, im zweiten Fall hätte die Silbe eine komplexe hierarchische Struktur mit Untereinheiten. Ein Modell einer flachen Silbenstruktur wird durch Abbildung 12 verdeutlicht, die die einzige Silbe im dänischen Wort hus ‘Haus’ repräsentiert. Die Einheit Silbe wird hier und im Folgenden mit dem griechischen Buchstaben Sigma (σ) bezeichnet. Abbildung 12: Einfache Silbenstruktur Bei einer solchen Struktur würden sich die einzelnen Laute in einer Silbe gleichberechtigt direkt der Silbe als Ganzem unterordnen. Es gibt jedoch Evidenz dafür, dass Silben in Untereinheiten unterteilt werden können, d.h. dass bestimmte Laute einer Silbe enger zueinander gehören als zu anderen Lauten derselben Silbe. Abbildung 13 auf der folgenden Seite zeigt eine in der Linguistik gängige Unterteilung der Silbe anhand von drei Beispielwörtern. Laut der dort abgebildeten Struktur lässt sich die Silbe zunächst in zwei weitere Untereinheiten unterteilen, zum einen in den Onset (bzw. Anfangsrand) und zum anderen den Reim. Der Reim wiederum lässt sich aufteilen in den Nukleus (bzw. Kern) und die Koda (bzw. Endrand) Onset und Koda wiederum bilden zusammen die äußere Hülle der Silbe, die Silbenschale. Wie ist nun diese Unterteilung zu begründen? Evidenz für die Existenz eines Onsets und eines Reims kommt z.B. aus der Versprecheranalyse. Bei Versprechern kann es vorkommen, dass der gesamte Onset vertauscht wird, d.h. wenn z.B. graue Blenze statt blaue Grenze realisiert wird. Der Reim (und daher kommt natürlich auch sein Name) ist der Teil, der bei Endreimen identisch bleibt, während der Onset als Ganzes ausgetauscht wird. Im Wortpaar Hund [hʊnt] und rund [rʊnt] ist in beiden Formen der Reim identisch: [ʊnt]. Der Onset hingegen unterscheidet sich, zum einen [h], zum anderen [r]. Der Onset lässt sich nur in Abgrenzung zum Nukleus definieren, nämlich als alle Segmente die vor dem Silbenkern stehen. flache Silbenstruktur komplexe Silbenstruktur Onset und Reim Phonologie 58 Abbildung 13: Komplexe Silbenstruktur Der Reim lässt sich wie erwähnt aufteilen in Nukleus und Koda. Der Nukleus ist der Kern der Silbe und stellt ihren einzigen obligatorischen Teil dar: Jede Silbe hat einen Nukleus, aber sie muss nicht zwingend einen Onset oder eine Koda haben. Im Nukleus einer Silbe steht typischerweise ein Vokal. Umgekehrt formuliert: Wenn eine Silbe einen Vokal beinhaltet, so bildet dieser immer den Nukleus. So bildet im Beispielwort dafuld [ful] ‘voll’ der Vokal [u] den Nukleus der einzigen Silbe des Wortes, während sich die Konsonanten um den Nukleus herum gruppieren. Ähnlich verhält es sich mit dem deutschen Wort Banane [ba.naː.nə]: Die Nuklei der drei Silben sind die drei Vokale [a], [aː] und [ə]. Es gibt jedoch auch Sprachen, wo Konsonanten im Nukleus stehen können. Dabei handelt es sich zumeist um Sonoranten, also Nasale wie [n] oder [m] und Liquide wie [l] oder [r]. Solche silbischen Konsonanten finden sich unter anderem im Deutschen und den festlandskandinavischen Sprachen: (32) no. spaden [spaːdn̩] ‘der Spaten’. Bei der norwegischen Wortform spaden ‘der Spaten’ erscheint das <e> nur in der Schrift und hat keine lautliche Entsprechung, auch nicht bei deutlicher Aussprache. Dies hat zur Folge, dass in der zweiten Silbe der Wortform kein Vokal vorhanden ist. Stattdessen bildet der Sonorant [n] den Nukleus der zweiten Silbe. Um zu markieren, dass das [n] silbisch ist, wird das Diakritikum [ ̩ ̩ ̩] verwendet: [spa.dn̩]. Ähnliche Fälle gibt es auch im Deutschen: (33) dt. Segel [zeːgl ̩ ], (34) dt. geben [geːbm̩ ]. In den obigen Beispielen entspricht dem <e> der zweiten orthographischen Silbe ebenfalls kein eigenes Segment in der Lautung. Bei der Wortform Segel bildet damit das [l] den Nukleus der zweiten Silbe: [zeː.gl ̩ ̩ ]. Silben werden in Typen unterteilt nach dem Vorhandensein von Onset und Koda. Onset und Koda sind keine obligatorischen Bestandteile einer Silbe. Silben können keinen von beiden Bestandteilen, einen von beiden oder Nukleus und Koda silbische Konsonanten Typen von Silben 59 Suprasegmentale Phonologie beide haben. Die Unterscheidung von Silbentypen ist einerseits im Sprachvergleich interessant, da nicht in allen Sprachen alle Typen von Silben vorkommen. Andererseits können phonologische Prozesse auf bestimmte Silbentypen oder Silbenbestandteile beschränkt sein. Beispielsweise ist die Auslautverhärtung auf Silben mit Koda beschränkt, da sie nur Segmente am Silbenendrand betrifft. Silben ohne Onset werden nackte Silben genannt, solche mit Onset bedeckte Silben. Ein Beispiel für eine nackte Silbe ist die einzige Silbe des schwedischen Wortes om [ɔm] ‘ob; um’. Hier geht dem Nukleus [ɔ] kein Konsonant voraus, der den Onset bilden könnte. Zwei bedeckte Silbe finden sich z.B. im norwegischen Wort lese [le.sə] ‘lesen’ oder im deutschen Wort graben [graː.bn̩ ̩]. Die Koda ist ebenfalls optionaler Bestandteil einer Silbe. Silben mit Koda heißen geschlossene Silben, solche ohne Koda werden offene Silben genannt. Allgemein gilt, dass in den Sprachen der Welt eine Tendenz zu offenen Silben besteht, so dass diese zumeist eine höhere Typ-Frequenz haben als geschlossene und als „natürlicher“ oder „unmarkierter“ gelten. Ein Beispiel für eine offene Silbe ist die einzige Silbe im deutschen Wort Klee [kleː]. Eine geschlossene Silbe findet sich in da. glas [glɛs] ‘Glas’. Die folgende Tabelle zeigt eine Übersicht über die verschiedenen Typen von Silben. Die Silbentypen werden hier der Verständlichkeit halber durch einsilbige Wörter exemplifiziert, sie kommen aber natürlich auch in mehrsilbigen Wörtern vor: offen geschlossen nackt se. i ‘in’, is. á ‘Fluss’. da. and ‘Ente’, se. eld ‘Feuer’. bedeckt no. kø ‘Schlange’, dt. Floh. is. strik ‘Strich’, da. tom ‘leer’. Tabelle 6: Typen von Silben Anhand der Typen von Silben, die in einer Sprache existieren, lässt sich das Silbenstrukturmuster einer Sprache erstellen. Beispielsweise wird für das Schwedische gemeinhin folgendes Silbenstrukturmuster angenommen: Abbildung 14: Silbenstrukturmuster des Schwedischen Die Graphik lässt sich folgendermaßen lesen: Jede Silbe im Schwedischen besteht obligatorisch aus einem Nukleus, der typischerweise mit einem Vokal besetzt ist (V). Der Nukleus kann jedoch im Schwedischen auch durch silbische Sonoranten besetzt sein. Dem Nukleus können null bis drei Konsonanten (C) vorangehen, die den Onset bilden. Ebenso können null bis drei Konsonanten auf den Silbenkern folgen, die die Koda der Silbe bilden. nackt vs. bedeckt offen vs. geschlossen Silbenstrukturmuster (C)(C)(C)V(C)(C)(C) Phonologie 60 In diesem Abschnitt haben wir uns mit der Struktur der Silbe, einer wichtigen phonologischen Einheit beschäftigt. Die Silbe lässt sich unterteilen in Onset und Reim. Der Reim wiederum besteht aus Nukleus und Koda. Der Nukleus ist der einzige obligatorische Bestandteil einer Silbe und wird zumeist mit Vokalen besetzt. Es gibt jedoch auch silbische Konsonanten. Silben ohne Koda heißen offen, solche mit Koda geschlossen. 3.4.2 Betonung und Toneme Silben sind auch deshalb für die Phonetik und Phonologie wichtige Einheiten, weil sie Träger der Betonung (en. stress) von Wörtern sind. Die Hauptbetonung eines Wortes wird in Transkriptionen mit [ˈ] vor der betonten Silbe markiert, die Nebenbetonung mit [ˌ]. Das dänische Wort kaste ‘werfen’ hat nur eine einzige Betonung auf der ersten Silbe: ˈkaste. Im Wort hovudforhandling ‘Hauptverhandlung (bei einer Rechtssache)’ im Nynorsk, einer der beiden norwegischen Schriftsprachen, gibt es eine Haupt- und eine Nebenbetonung: ˈhovudforˌhandling. Wie Betonung in einer Silbe phonetisch realisiert wird, variiert von Sprache zu Sprache. Mögliche phonetische Korrelate von Betonung sind Veränderungen in Lautstärke (Amplitude) und Länge (meist Vokallänge). So können betonte Silben länger sein als unbetonte und/ oder sie können lauter realisiert werden. Ebenfalls möglich sind Veränderungen in der Tonhöhe (Frequenz, en. pitch), also der Grundfrequenz der Stimme. Im Deutschen wird Betonung durch eine Kombination von größerer Lautstärke und höherer Frequenz realisiert. Im Dänischen ist die Amplitude stärker und die Frequenz niedriger. Bei betonten Silben kann die Tonhöhe im Laufe der Silbe auch abfallen, d.h. eine betonte Silbe kann mit einer hohen Tonlage beginnen und endet mit einer niedrigen. Wie die Tonhöhenveränderung auf der betonten Silbe genau ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter der Stellung des Wortes im Satz, der Satzbedeutung, der Informationsstruktur und auch dialektalen Faktoren. Veränderungen der Tonhöhe in Abhängigkeit von der Satzstruktur und der pragmatischen Funktion einer Äußerung werden unter dem Terminus Intonation zusammengefasst. (35) nb. Hun spiser frokost. ‘Sie frühstückt’. Der obige Beispielsatz kann je nach Tonhöhenverlauf eine unterschiedliche pragmatische Funktion haben. Mit zum Satzende hin fallender Intonation handelt es sich um eine Feststellung. Steigt die Tonhöhe zur letzten Silbe hin an, handelt es sich um eine Frage. Auch andere diskurspragmatische Funktionen lassen sich über die Veränderung der Tonhöhe ausdrücken. Tonhöhen und Tonhöhenveränderungen können phonologisch auch genutzt werden, um Bedeutungen zu unterscheiden. Solche phonologischen Töne (Toneme) können eine bestimmte Tonhöhe in einem Register von Tonhöhen sein (Registerton), oder einen Verlauf von einer Tonhöhe zu einer anderen umfassen (Konturton). Tonregister können beispielsweise die Registertöne hoch vs. tief umfassen oder hoch vs. mittel vs. tief. Konturtöne umfassen beispielsweise fallende, steigende und steigend-fallende Töne. Zusammenfassung Betonung Intonation Toneme 61 Suprasegmentale Phonologie Unter den festlandskandinavischen Sprachen nutzen Norwegisch, Schwedisch und Dialekte des Dänischen Veränderungen in der Tonhöhe, um Bedeutungsunterschiede zwischen Wörtern anzuzeigen. Man unterscheidet „echte“ Ton-Sprachen wie die chinesischen Sprachen oder Vietnamesisch von sogenannten Tonhöhenakzent-Sprachen wie dem Norwegischen und Schwedischen. In Ton-Sprachen trägt jede Silbe einen Ton. In Tonhöhen-Akzent-Sprachen hingegen operieren Töne auf Wort- Ebene. Im Norwegischen und Schwedischen kann fast jedem Wort ein bestimmter Tonhöhenverlauf zugeordnet werden. In beiden Sprachen existieren dabei zwei unterschiedliche Töne, die meist mit „Akzent 1“ und „Akzent 2“ bezeichnet werden. (36) no. laget / 1 laːgə/ ‘die Mannschaft, das Team’ vs. lage / 2 laːgə/ ‘machen, zubereiten’; (37) se. anden / 1 aːnn̩/ ‘die Ente’ vs. anden / 2 aːnn̩/ ‘der Geist’. Die obigen Beispiele zeigen, dass Töne im Norwegischen und Schwedischen bedeutungsunterscheidend sein können: Die norwegischen Worte laget ‘das Lied’ und lage ‘machen, zubereiten’ unterscheiden sich nicht auf der segmentalen Ebene, da ihre einzelnen Laute identisch sind. Hingegen unterscheiden sich die beiden Wörter darin, welchen der beiden Akzente sie tragen, d.h. wie der Tonhöhenverlauf über das Wort hinweg ist. Dadurch dass Akzent 1 und Akzent 2 bedeutungsunterscheidend wirken können, handelt es sich bei ihnen um Toneme. Dies ist analog zu sehen zu den bedeutungsunterscheidenden Einheiten auf segmentaler Ebene, den Phonemen. Welche genaue phonetische Realisierung die Akzente 1 und 2 haben, hängt in beiden Sprachen vom jeweiligen Dialekt ab. Im Südostnorwegischen beispielsweise wird Akzent 1 mit steigender Kontur realisiert und Akzent 2 mit fallendsteigender Kontur: Abbildung 15: Akzent 1 und Akzent 2 im Südostnorwegischen (nach Kristofferson 2000) Im Dänischen funktioniert der Stød, der im Kapitel zur Phonetik kurz besprochen wurde, ebenfalls als Tonem. Er tritt sowohl bei einsilbigen Wörtern als auch bei zweisilbigen auf im Gegensatz zu den Akzenten im Norwegischen und Schwedischen, die nur bei zweisilbigen Wörtern auftreten. Die Wörter, die im Norwegischen und Schwedischen Akzent 2 tragen, haben im Dänischen immer auch Stød. Der Stød ist ein fallender Ton, bei dem die Frequenz so stark absinkt, dass er in einem glottalen Plosiv ([ʔ]) enden kann. Der Stød Tonhöhenakzentvs. Ton-Sprachen Phonologie 62 wird in Transkriptionen nicht wie andere Betonungen vor der entsprechenden Silbe transkribiert, sondern mit dem Zeichen des glottalen Plosivs, [ʔ]: (38) da. mor / 'moʌ̯/ ‘Mutter’ vs. mord / 'moʌ̯ʔ/ ‘Mord’; (39) da. tanken / 'taŋ.gən/ ‘der Gedanke’ vs. tanken / 'taŋʔ.gən/ ‘der Tank’. In diesem Abschnitt wurde auf Betonung und Toneme eingegangen. Träger der Betonung ist die Silbe. Betonung kann realisiert werden als Veränderung in Lautstärke, Länge und Tonhöhe. Die Veränderung der Tonhöhe in Abhängigkeit von Satzstruktur und pragmatischer Funktion wird Intonation genannt. Sprachen, bei denen die Tonhöhe Wortbedeutungen unterscheiden kann, werden Ton-Sprachen genannt. Im Norwegischen, Schwedischen und Dänischen existieren je zwei Töne, die bedeutungsunterscheidende Funktion haben können. Zum Weiterlesen Einen Überblick über Phonetik und Phonologie der skandinavischen Sprachen mit weiterführender Literatur bieten Braunmüller (1999) und Lundskær-Nielsen et al. (2005). Kursorische Darstellungen der Lautsysteme der skandinavischen Sprachen finden sich in Bandle (2005). Ausführliche Einleitungen in die Phonologie sind Ternes (1999) und Odden (2005), wobei Ternes sich auf die Erstellung von Phonem-Inventaren konzentriert und Odden phonologische Prozesse eingehend erklärt. Etwas griffiger, in einem einzigen Buch und auf Deutsch ist Hall (2000). Einen Rundumschlag über die Phonetik und eine Übersicht der verschiedenen phonologischen Ansätze bieten Clark et al. (2007), die einen internationalen Klassiker unter den Einführungsbüchern darstellen. Online-Skripten zur Einführung in die Phonetik und Grundzüge der Phonologie mit Audio-Beispielen sind Hess (2005), Machelett (2001-2003), Mayer (2006) und Wagner (o. J.). Bandle, Oskar (Hg.) (2002/ 2005): The Nordic Languages. 2 Bände. Berlin u.a.: de Gruyter. Lundskær-Nielsen, Tom et al. (2005): Introduction to Scandinavian Phonetics. Kopenhagen: Alfabeta. Braunmüller, Kurt (1999): Die skandinavischen Sprachen im Überblick. 2. Auflage. Tübingen u.a.: Francke. Clark, John et al. (2007): An Introduction to Phonetics and Phonology. 3. Auflage. Oxford u.a.: Blackwell. Hall, T. Alan (2000): Phonologie. Berlin u.a.: de Gruyter. Hess, Wolfgang (2005): Grundlagen der Phonetik. Universität Bonn. http: / / www.sk.uni-bonn.de/ lehre/ informationen-materialien/ informationenund-materialien-kopho/ materialien-1/ hess/ grundlagen-der-phonetik/ (abgerufen am 29.09.2013). Machelett, Kirsten (2001-2003): Phonetische Transkription. 2 Teile. Universität München. http: / / www.bas.uni-muenchen.de/ studium/ skripten/ TRANS1/ TRANS1Home.html (abgerufen am 29.09.2013); http: / / www.bas.unimuenchen.de/ studium/ skripten/ TRANS2/ TRANS2Home.html (abgerufen am 29.09.2013). Zusammenfassung 63 Suprasegmentale Phonologie Mayer, Jörg (2006): Linguistische Phonetik. Universität Potsdam. http: / / www.ling.uni-potsdam.de/ ~mayer/ teaching/ phonetik/ Phonetik.pdf (abgerufen am 29.09.2013). Odden, David (2005): Introducing Phonology. Cambridge u.a.: Cambridge University Press. Ternes, Elmar (1999): Einführung in die Phonologie. 2. Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Wagner, Karl Heinz (o. J.): Phonetik und Phonologie. Universität Bremen. http: / / www.fb10.uni-bremen.de/ khwagner/ phonetik/ kapitel1.aspx (abgerufen am 29.09.2013). Übungen Dieses Kapitel hat die wesentlichen Analysemethoden zur Ermittlung von Lautsystemen von Sprachen vorgestellt. Mit diesen Methoden kannst Du nun Lautsysteme von Sprachen ermitteln und darstellen und Beschreibungen solcher einzelsprachlicher Lautsysteme in sprachwissenschaftlicher Fachliteratur verstehen. Mit den folgenden Aufgaben kannst Du Dein passives und aktives Verständnis dieser Termini überprüfen und weiter üben. 1) Bei welchen der folgenden Wortpaare handelt es sich um phonologische Minimalpaare? Begründe Deine Antwort. a) is. hnífur [n̥iːvʏr] ‘Messer’ - stífur [stiːvʏr] ‘steif’, b) no. kaste [kɑstə] ‘werfen’ - faste [fɑstə] ‘fasten’, c) dt. schön - Föhn, d) se. sju [ʂʉ] ‘sieben’ - sju [ɧʉ] ‘sieben’, e) da. hvile [viːlə] ‘ausruhen’ - ville [vilə] ‘wollen’. 2) Ermittle mithilfe von Minimalpaarbildung anhand der folgenden Wörter der fiktiven Sprache Gorm das Phoneminventar dieser Sprache. Alle angegeben Wörter haben eine unterschiedliche Bedeutung. Welche Phoneme haben nur ein Allophon und welche mehrere? bim [bɪmː], bam [bamː], pam [pamː], bil [bɪlː], pum [pʊmː], pump [pʊmp], bilp [bɪlp], pamp [pamp]. 3) Um welche phonologischen Prozesse handelt es sich in den folgenden Beispielen? a) dt. Weg [veːk] - Wege [veːgə], b) no. tann [tɑnː] ‘Zahn’ - tannkrem [tɑŋːkreːm] ‘Zahnpasta’, c) se. kurs [kʉʂː] ‘Kurs’, d) is. geta [ceːta] ‘können’ - geta ekki [ceːtɛcːɪ] ‘können nicht’. 4) Analysiere die Silbenstruktur der folgenden Wörter. Erstelle dazu für jedes Wort einen Silbenstrukturbaum. a) fo. vísti [vʊistɪ] ‘zeigen-Präteritum-Singular’, b) dt. kleben [kleːbm], c) da. ile [iːlə] ‘eilen’, d) no. forskning [fɔʂknɪŋ] ‘Forschung’, e) is. vermsl [vɛrmstl ̥ ] ‘warme Quelle’. Phonologie 64 5) Erläutere anhand des dänischen Wortes ballade [ba.læ.ð̩] ‘Ballade’, was silbische Konsonanten sind. Stelle eine Hypothese auf, wie silbische Konsonanten historisch entstehen. 4 Semantik Stichwörter • Gegenstand und Teilbereiche Lexikalische Semantik vs. Satzsemantik vs. Textsemantik - strukturale vs. kognitive Semantik • Bedeutung vs. Begriff Lexikalische vs. grammatische Bedeutung - sprachliches Wissen vs. enzyklopädisches Wissen - Intension vs. Extension - Denotation vs. Konnotation - Wortsemantik vs. Satzsemantik • Bedeutungsrelationen Syntagma vs. Paradigma - Kompatibilität - Synonymie vs. Antonymie vs. Komplementarität/ Kontradiktion • Merkmalssemantik Wortfeld - semantisches Merkmal (=Sem) - Semem - Polysemie vs. Homonymie • Prototypensemantik Klasse - Typikalität - Prototyp - Vagheit (=Unschärfe) • Sprachliches Relativitätsprinzip Sapir-Whorf-Hypothese - sprachliches Weltbild - sprachlicher Relativismus vs. sprachlicher Universalismus 4.1 Gegenstand und Teilbereiche Der Gegenstand der Semantik ist die Inhaltsseite sprachlicher Zeichen, also ihre Bedeutung. Sie bildet damit das Pendant zur Phonetik und Phonologie, die sich mit der Ausdrucksseite sprachlicher Zeichen befassen. Zwar befasst sich auch die Morphologie mit sprachlicher Bedeutung. Dort stehen jedoch die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten im Fokus der Betrachtung, die Morpheme. In der Morphologie ist es also nicht nur eine der beiden Seiten sprachlicher Zeichen, Ausdruck oder Inhalt, die untersucht werden, sondern es werden Einheiten untersucht, die selbst sprachliche Zeichen sind, also aus Ausdrucks- und Inhaltsseite bestehen. Die Semantik hingegen untersucht die Struktur der Inhaltsseite selbst, sowie die Relationen von Bedeutungen untereinander innerhalb einzelner Sprachsysteme. Inhaltsseiten sprachlicher Zeichen können auf verschiedenen Ebenen untersucht werden: Wort, Satz und Text. Der Teilbereich der Semantik, der sich mit der Bedeutung von Wörtern und Teilen von Wörtern wie Flexionssilben und Präfixen befasst, ist die lexikalische Semantik. Die Terminologie zur Beschreibung von Bedeutungsstrukturen und Relationen von Bedeutungen untereinander, die in der lexikalischen Semantik verwendet werden, sind Ausgangspunkt für die anderen Teilbereiche der Semantik, die sich mit Sätzen und Texten befassen. Das folgende Kapitel behandelt daher diesen Teilbereich. Die Satzsemantik untersucht die Bedeutung von Sätzen und Satzbe- Gegenstand Teilbereiche Semantik 66 standteilen wie Phrasen und Satzgliedern. Die Textsemantik untersucht inhaltliche Verweisstrukturen innerhalb von Texten und die Entfaltung von Bedeutungsstrukturen im Verlauf von Texten. Auf diese beiden Teilbereiche der Semantik wird hier nicht weiter eingegangen. In diesem Kapitel wird zunächst geklärt was unter Bedeutung zu verstehen ist und wie sich die Bedeutung zum Wissen von Sprechern und Sprechergemeinschaften über die sie umgebende Welt verhält (Bedeutung vs. Begriff). Dann wird darauf eingegangen, wie mehrere Bedeutungen zusammen Systeme bilden und welche Relationen zwischen Bedeutungen bestehen können. Darauf aufbauend wird genauer auf die Bestandteile von einzelnen Bedeutungen geblickt, also aus welchen Komponenten einzelne Bedeutungen zusammengesetzt sind und wie man diese Komponenten ermitteln kann (Merkmalssemantik). Mit diesem Rüstzeug ausgestattet können wir schließlich verstehen, wie sich mehrdeutige Wörter beschreiben lassen. Mit den gerade erwähnten Begriffen sind die Grundbegriffe der strukturalen Semantik eingeführt worden. Es ist dann auch möglich, eine andere Perspektive auf Bedeutung einzunehmen, die auf der strukturalen Semantik aufbaut: die Perspektive auf die Organisation von Bedeutung im Denken von Menschen, welches die Perspektive der kognitiven Semantik ist. Ein Modell der kognitiven Semantik aus der Ebene der lexikalischen Semantik, das in diesem Kapitel vorgestellt wird, ist die Prototypentheorie. Den Abschluss bildet ein Exkurs zum sprachlichen Relativitätsprinzip, das Aussagen über die Abhängigkeit des menschlichen Denkens von der Sprache macht in Bezug auf die Weltwahrnehmung. 4.2 Bedeutung vs. Begriff Sprachliche Ausdrücke (Wörter, Phrasen und Sätze) sind bedeutungstragend, weil sie auf Begriffe verweisen. Das durch ein Bezeichnendes Bezeichnete ist seine Bedeutung. Das deutsche Wort Hase bezeichnet den Begriff HASE. (Begriffe werden in Großbuchstaben notiert.) Ebenso bezeichnen Lohnsteuererklärung, Kopfbahnhof, laufen, schief, nesteln, Rebstock, Klabautermann und Hochschulrektorenkonferenz Begriffe. Diese Begriffe sind die Bedeutungen dieser Wörter. Wichtig ist dabei, dass ein Begriff etwas anderes ist als ein konkretes Objekt in der Welt. Die Bedeutung des Wortes Hase ist also nicht ein konkreter Hase, sondern ein gedankliches Konzept. Aber auch Wörter, Phrasen und Sätze, die auf grammatische Kategorien verweisen, sind bedeutungstragend. Nimmt man das Wort Lohnsteuererklärung und das Wort Lohnsteuererklärungen, unterscheiden sich die beiden Wörter durch die Endung -en und ihren Numerus. Das eine Wort bezeichnet eine Einzahl (=Singular) des bezeichneten Begriffs, das andere Wort eine Mehrzahl (=Plural). Die Endung -en trägt damit die rein grammatische Bedeutung ‘P LURAL ’, da sie auf die grammatische Kategorie PLURAL verweist. Während jede grammatische Kategorie einer Sprache durch mindestens ein Wort oder eine Endung ausgedrückt wird, muss nicht zu jedem Begriff, den sich Sprecher einer Sprache gebildet haben, ein Wort vorhanden sein. Dementsprechend entstehen ständig neue Wörter, die neue Begriffe bezeichnen. Sehr unterhaltsam wird dieses Konzept im Buch „Der tiefere Sinn des Kapitelstruktur Bedeutung grammatische vs. lexikalische Bedeutung 67 Bedeutung vs. Begriff Labenz“ (Adams/ Lloyd 2004) vorgeführt. Dort werden in Form eines Lexikons Ortsnamen mit fiktiven Bedeutungen versehen. Bei diesen fiktiven Bedeutungen handelt es sich um Konzepte, die man aus der Alltagserfahrung kennt, aber nicht benennt; etwa der Abstand zwischen dem durch das Autofenster ausgestreckten Zeigefinger und dem Knopf für einen Parkschein am Parkscheinautomaten im Parkhaus (ein „Unna“) oder das Gesicht, das man macht, wenn man an Leuten, die man kennt, im Flur auf der Arbeit vorbeiläuft. Im Gegensatz zu neuen Wörtern mit lexikalischer Bedeutung, bilden sich neue grammatische Kategorien in einer Sprache hingegen seltener neu heraus und es kommen nicht so schnell neue Endungen hinzu. Zu diesen Strukturprinzipien und den daran beteiligten Prozessen mehr im Kapitel zur Semiotik unter dem Stichwort offenes versus geschlossenes Paradigma. Anhand der Differenzierung zwischen Wörtern, die sich auf grammatische Kategorien beziehen, und solchen, die sich auf Begriffe beziehen, unterscheidet man zwei Arten der Bedeutung von Wörtern: 1. grammatische Bedeutung und 2. lexikalische Bedeutung. Flexionsendungen von Wörtern tragen grammatische Bedeutung, Prä- und Suffixe (an-, be-, -heit) grammatische und lexikalische Bedeutung, der Rest (die Lexeme) lexikalische Bedeutung. Subjunktionen (als, wenn, bevor) tragen sowohl lexikalische als auch grammatische Bedeutung. Auf Wörter und Wortteile mit grammatischer Bedeutung kommt das Kapitel zur Morphologie eingehender zu sprechen, da man über diese Wörter schlecht reden kann, ohne sich die Veränderung von Wörtern (ihre Flexion) im Sprachgebrauch anzuschauen, also ihre Morphologie zu berücksichtigen. Dieses Kapitel beschäftigt sich vornehmlich mit Wörtern mit lexikalischer Bedeutung, da dafür ein Verständnis der Morphologie nicht notwendig ist. Lexikalische Bedeutung wurde oben beschrieben als der Verweis eines Wortes auf einen Begriff und nicht auf eine grammatische Kategorie. Aber was ist nun ein Begriff? Ein Begriff (en. concept, notion) wird definiert als ein gedankliches Konzept, mit dem Gegenstände oder Sachverhalte aufgrund bestimmter Eigenschaften und Beziehungen klassifiziert werden. Ein Begriff umfasst eine Anzahl Merkmale. Diese Merkmale sind 1. Abstraktionen von Eigenschaften einer Gruppe (Klasse) von physischen Objekten oder Sachverhalten oder 2. Abstraktionen von Beziehungen dieser Klasse zu anderen Klassen. Begriffe werden in der Linguistik in Großbuchstaben notiert, etwa der Begriff VOGEL. Entsprechend der Definition ist der Begriff VOGEL erst einmal ein rein gedankliches Konzept. Er ist nicht eine Summe konkreter Vögel, die es gegenwärtig gibt oder zu irgendeinem Zeitraum gegeben hat. Begriffe haben die Funktion, physische Objekte oder Sachverhalte anhand bestimmter Merkmale einer Klasse zuzuordnen, also zu klassifizieren. Die durch den Begriff VOGEL bestimmte Klasse von physischen Objekten haben also bestimmte Merkmale gemeinsam, die sie der Klasse VOGEL zuordnen. So teilen sich alle Vögel beispielsweise die Eigenschaften, dass sie belebt sind, Flügel Begriff Merkmale Klassen Semantik 68 haben, Eier legen und einen Schnabel haben. Diese Merkmale sind also konstitutiv für die Klasse VOGEL. In der Notation unterscheidet man nicht zwischen Begriffen und Klassen, beide werden durch Großbuchstaben gekennzeichnet. Mitglieder einer Klasse nennt man Elemente dieser Klasse. Ein Storch ist ein Element der Klasse VOGEL, die bestimmt wird durch den Begriff VOGEL. Die durch den Begriff VOGEL bestimmte Klasse von physischen Objekten unterscheidet sich von anderen Klassen von physischen Objekten - beispielsweise der durch den Begriff KIESEL gebildeten Klasse - dadurch, dass sie Augen haben. Diese Eigenschaft unterscheidet Vögel aber nicht von der durch den Begriff KATZE gebildeten Klasse. Hier sind aber Federn und Fell ein Unterschied. Welche Merkmale für eine Klasse besonders wichtig sind, hängt also immer davon ab, mit welcher anderen Klasse man sie vergleicht. Übrigens hat die durch den Begriff VOGEL gebildete Klasse die Gemeinsamkeit mit der durch HUND gebildeten Klasse, dass beide bei Hitze hecheln. Diese Relation wird aber nicht abstrahiert, um sie zur Bildung der Klasse VOGEL zu verwenden. Sie ist begrifflich nicht relevant - und im allgemeinen Wissen dementsprechend nicht verankert. Hingegen ist Hecheln eine allgemein bekannte Verhaltensweise von Hunden. Während nur ein Teil der Sprecher des Deutschen weiß, dass Vögel hecheln, weiß dies bei Hunden sozusagen jeder. Begrifflich relevant, also Teil der Bedeutung, ist dies nur bei Hunden, nicht jedoch bei Vögeln. Dass Vögel hecheln, kann zwar als Teil des enzyklopädischen Wissens einer Sprechergruppe gelten (wenn es sich dabei auch eher um Fachwissen handelt). Unter enzyklopädischem Wissen versteht man allgemein alles Wissen eines Sprechers oder einer Sprechergemeinschaft unabhängig davon, ob es dafür ein Wort in einer Sprache gibt oder es sonst irgendwie versprachlicht ist. Als sprachliches Wissen aber, dass für die Relation Begriffen untereinander relevant ist, kann es nicht gelten. Bei Hunden ist die Fähigkeit zu hecheln sowohl Teil des enzyklopädischen als auch des sprachlichen Wissens. Mit dem Unterschied zwischen Allgemeinwissen und Fachwissen wird ein weiterer, wichtiger Punkt angeschnitten: Die Bedeutungsstruktur von Wörtern, also mit welchem Wissen Begriffe gefüllt sind, ist stark unterschiedlich, abhängig davon, was Gruppen von Sprechern oder auch einzelne Sprecher wissen und womit sie sich den Tag über so beschäftigen. Bleiben wir bei dem Beispiel VOGEL, so wissen Ornithologen und Vogelfans sicher mehr über Vögel als der Durchschnitt der Sprecher des Deutschen. Es macht also einen wichtigen Unterschied, für welche Gruppe von Sprechern man einen Begriff linguistisch untersucht. So kann man einerseits den Begriff VOGEL in der deutschen Sprache anhand eines repräsentativen Korpus aus sprachlichen Äußerungen von Sprechern des Deutschen untersuchen. Damit findet man heraus, wie der durchschnittliche oder allgemeine Begriff VOGEL im Deutschen strukturiert wird. Andererseits lässt sich untersuchen, wie der Begriff bei einem bestimmten Sprecher strukturiert ist: Etwa zu unterschiedlichen Zeiten im Laufe seines kindlichen Spracherwerbs, oder bei Schülern, bevor sie etwas über Vögel im Unterricht gelernt haben, eine halbe Stunde, nachdem sie etwas darüber gelernt haben, kurz vor der Klassenarbeit darüber oder zwei Jahre danach. Relationen zwischen Klassen sprachliches vs. enzyklopädisches Wissen Untergliederung enzyklopädischen Wissens 69 Bedeutung vs. Begriff Aber wie beschreibt man Begriffe? Zählt man, wie es das obige nahe legt, einfach ihre Eigenschaften auf? „Ein VOGEL hat Federn, kann fliegen, …? Im Gegensatz zu Katzen haben Vögel kein Fell; im Gegensatz zu Steinen haben Vögel Augen? “ Oder zählt man besser alle Arten von Vögeln auf? Storche, Amseln, Elstern, Pinguine, …? Beide Möglichkeiten sind nutzbar, aber die erste wird in der Wissenschaft bevorzugt, da sie analytischer ist, also das untersuchte Objekt (den Begriff) in seinen Bestandteilen untersucht. Diese Möglichkeit, alle Eigenschaften (Merkmale) eines Begriffs aufzuzählen, nennt man intensional und sie beschreibt die Begriffs-Intension. Eine intensionale Beschreibung eines Begriffs zählt die Merkmale auf, mit denen anhand eines Begriffs eine Klasse von Elementen gebildet wird. Die zweite gerade erwähnte Möglichkeit, Elemente einer durch einen Begriff gebildeten Klasse zu nennen, beschreibt die Begriffs-Extension. Auch diese hat ihren Wert, da sie sehr illustrativ ist und Kommunikationspartnern einen Begriff intuitiver verständlich macht als eine intensionale Erklärung. Begriffe bringen aber mehr mit sich als die Merkmale, anhand derer sie Klassen bilden. Dies wird bei der Gegenüberstellung von Wortpaaren, die die gleichen physischen Objekte oder Sachverhalte bezeichnen können, deutlich: (1) Hund vs. Köter, (2) Passant vs. Typ, (3) Lehrer vs. Pauker, (4) Gattin vs. Olle. Nicht in allen Situationen und schon gar nicht im Beisein der bezeichneten Mitmenschen (bzw. des Hundebesitzenden), ist es möglich, ohne Sanktionen das jeweils zweite Glied der Wortpaare zu verwenden. Zwar ist die Denotation der einzelnen Wörter der Wortpaare jeweils dieselbe, die Konnotation ist aber immer eine andere, nämlich eine negative. Die Denotation bezeichnet den Teil eines Begriffs, der für die Klassifizierung eines physischen Objektes oder eines Sachverhalts relevant ist. Die Konnotation bezeichnet, was darüber hinaus mitschwingt, besonders an positiver oder negativer Wertung, aber auch an anderen Parametern. Die Konnotation, die z.B. das Wort Virtuose im Verhältnis zu Musiker trägt, ist eine positive. Die Konnotation von Arschloch im Verhältnis zu Mitmensch hingegen ist eine negative. Denotation Die Denotation eines Wortes ist seine Grundbedeutung, die unabhängig von Kontext und Kommunikationssituation ist. Konnotation Die Konnotation stellt die zusätzliche Bedeutung eines Wortes gegenüber seiner konstanten, generellen Bedeutung (der Denotation) dar. Die Konnotation beinhaltet den regionalen, individuellen, stilistischen, affektiven oder emotionalen Bestandteil der Bedeutung. intensional vs. extensional Denotation vs. Konnotation Semantik 70 Eine Konnotation bezüglich des Registers hat Gesäß (höflich distanziert) versus Glutealregion (anatomisch) versus Arsch (nicht höflich, nicht distanziert). Mit Register wird ein bestimmter kommunikativer Bereich auf lexikalischer Ebene und allen anderen Ebenen des Sprachgebrauchs bezeichnet (siehe Kapitel 1.2.3). 4.3 Bedeutungsrelationen Die Beziehungen zwischen den Bedeutungen von Wörtern werden als Bedeutungsrelationen bezeichnet. Man unterscheidet syntagmatische und paradigmatische Bedeutungsrelationen. 4.3.1 Syntagmatische Bedeutungsrelationen Eine lineare Reihe von Wörtern in Phrasen und Sätzen bezeichnet man als Syntagma. Syntagmatische Bedeutungsrelationen untersuchen, welche Wörter gemeinsam in einem Satz oder einer Phrase vorkommen können. Beispielsweise können Verben wie träumen, die innere Vorgänge ausdrücken, im Allgemeinen nicht mit einem unbelebten Subjekt wie Stein auftreten: (5) $Der Stein träumt. (6) Der Mann träumt. (7) $Ein Stuhl denkt nach. (8) Eine Frau denkt nach. In den Beispielsätzen (5) bis (8) sind die Sätze (5) und (7) semantisch unzulässig. Das bedeutet, Sprecher einer Sprache empfinden sie als „falsch“ oder unverständlich. Zwar hat das Wort Stein in Beispiel (5) die richtige grammatische Form (Nominativ Singular), aber seine Bedeutung ist nicht kompatibel mit der von träumt. Semantische unzulässige Sätze werden durch Dollar- Zeichen gekennzeichnet. Der Grund dafür, warum diese beiden Sätze als „falsch“ empfunden werden, liegt an den syntagmatischen Bedeutungsrelationen zwischen den Verben träumen und nachdenken und den verwendeten Substantiven Stein, Mann, Stuhl und Frau. Die Wörter Stein und Stuhl sind ausdrucksseitig Substantive genau wie Mann und Frau. Trotzdem sind Stein und träumen und Stuhl und nachdenken semantisch inkompatibel. Mann und träumen und Frau und nachdenken hingegen sind semantisch kompatibel. Der Grund liegt darin, dass Verben, die innere Vorgänge ausdrücken, eine Selektionsbeschränkung haben. Das heißt, sie können nicht jedes Substantiv als Subjekt selegieren, sondern nur solche, die das Merkmal [ BELEBT ] besitzen. Die Substantive Stein und Stuhl besitzen auf der Inhaltsseite jedoch nicht dieses Merkmal, sondern das entgegengesetzte Merkmal [ UNBELEBT ]. Da solche Einschränkungen die Bedeutungsebene von Wörtern betreffen, sind sie semantisch. Da sie die Abfolge von Wörtern in Sätzen, also im Syntagma, betreffen, sind sie gleichzeitig syntagmatisch. Im Prinzip gibt es also nur zwei syntagmatische Bedeutungsrelationen, die der Inkompatibilität und die der Kompatibilität. Sich dieser Relation im Register Syntagma Inkompatibilität Zusammenfassung 71 Bedeutungsrelationen Klaren zu sein, hat für Fremdsprachenphilologen auch einen ganz praktischen Nutzen: Beim Verfassen und auch beim Übersetzen von Texten trifft oft der Fall ein, dass man Wörter in einem Satz kombiniert, die zwar für sich Sinn machen, semantisch aber nicht recht zueinander passen, also tendenziell inkompatibel sind. Ein Text, der gezielt auf semantische Kompatibilität hin redigiert wurde, ist einfacher zu lesen und wirkt klarer verständlich. 4.3.2 Paradigmatische Bedeutungsrelationen Wenn man Wörter in einem bestimmten Satz-Kontext miteinander austauschen kann - wobei der Sinn des Satzes sich dabei verändern darf - bilden sie ein Paradigma. Ein Paradigma ist nicht anders als eine „Austauschklasse“, also eine Gruppe von Wörtern, die man in irgendeinem gegebenen Kontext untereinander ersetzen kann, ohne dass der betreffende Satz dadurch agrammatisch würde. In den Beispielen (5) und (6) oben stellt die Konstruktion X träumt (jeweils ohne Substantiv) einen (recht beliebig gewählten) Kontext dar. Mann und Frau bilden in diesem Kontext ein Paradigma, da man im Satz X träumt jeweils den Platzhalter X durch Mann und Frau ersetzen kann. Kein Element dieses Paradigmas sind Stein und Stuhl, da die beiden Beispielsätze agrammatisch werden, wenn man diese Wörter einsetzt. Mann und Frau hingegen sind in diesem aus zwei Sätzen bestehenden Kontext einsetzbar und miteinander austauschbar. Sie bilden also eine „Austauschklasse“ (=Paradigma). Wie oben erläutert, bilden Mann und Frau in diesem Kontext Elemente des Paradigmas von Substantiven, deren Denotate nicht nur als belebt gelten, sondern denen auch ein Bewusstsein zugeschrieben wird, weswegen sie zum Denken und Träumen fähig sind. Zu diesen Substantiven gehören selbstverständlich noch zahlreiche weitere Substantive, etwa Kalb, Papagei, Peter, Oberstudienrat und Binnenschiffer. Wie an dieser Liste zu sehen ist, können Elemente eines Paradigmas gemeinsam in anderen Kontexten andere Paradigmen bilden. Oberstudienrat und Binnenschiffer sind Berufsbezeichnungen und haben daher andere semantische Kompatibilitäten als Eigennamen (Peter) oder Tiernahmen (Kalb und Papagei). Die Grenzziehung von Paradigmen ist nach Kontext variabel und was in einem Kontext ein gemeinsames Paradigma ausmacht, kann in anderen Kontexten in zwei oder mehr Paradigmen zerfallen oder weitere Elemente einbeziehen. Im folgenden Beispiel ist das Paradigma von Substantiven, die das Subjekt des Satzes X nimmt Nahrung zu sich bilden können, größer als das oben beschriebene Paradigma: (9) Ein Mann nimmt Nahrung zu sich. (10) Eine Frau nimmt Nahrung zu sich. (11) Ein Kalb nimmt Nahrung zu sich. (12) Ein Pantoffeltierchen nimmt Nahrung zu sich. Im Gegensatz zu den Verben nachdenken und träumen, ist das Prädikat Nahrung zu sich nehmen nicht nur mit Substantiven kompatibel, die Denotate besitzen, die belebt sind und zu einem Bewusstsein fähig sind. Das Merkmal [ ZU EINEM B EWUSSTSEIN FÄHIG ] wird vom Prädikat Nahrung zu sich nehmen Paradigma Kontext Element Semantik 72 nicht beim Subjekt verlangt. Während der Satz Ein Pantoffeltierchen denkt in einigen situativen Kontexten als semantisch einwandfreier Satz durchgehen kann, ist der Satz Ein Pantoffeltierchen träumt nur noch in poetischen Kontexten möglich, in denen mit den Regeln semantischer Kompatibilität gespielt wird. Das Austauschen von Wörtern in Kontexten eines oder mehrerer Sätze nennt man Substitutionstest. Substitutionstests werden auch in den anderen Teilbereichen der Sprachwissenschaft verwendet, so z.B. in der Syntax, wie im entsprechenden Kapitel näher erläutert wird. Es handelt sich dabei immer um den Austausch von sprachlichen Einheiten (hier Wörtern) in einem Kontext (hier ein oder mehrere Sätze). In den Beispielen (5) bis (8) war der Kontext wie erwähnt X träumt und die sprachlichen Einheiten, die ausgetauscht wurden, die Substantive Mann, Frau, Stein und Stuhl. Ergebnis des Substitutionstests war, dass Mann und Frau in diesem Kontext ein Paradigma bilden. Möglich sind bei Substitutionstests neben dem Austauschen von Wörtern in Sätzen wie in den obigen Beispielen auch etwa das Austauschen von Phrasen in Sätzen, Wortendungen in Wörtern oder Lauten in Wörtern. Stellt man Wörter eines (am besten möglichst kleinen) Paradigmas in Satz-Kontexte, lassen sich bestimmte Bedeutungsrelationen ausmachen, die im Folgenden näher beschrieben werden. Nimmt man die Wörter Lift, Aufzug und Fahrstuhl als Paradigma und setzt sie in beliebige grammatische Sätze ein, fällt auf, dass das Austauschen dieser Wörter die Bedeutung der Sätze nicht ändert: (13) Der fußlahme Werner fährt mit dem Lift in den zweiten Stock. (14) Der fußlahme Werner fährt mit dem Aufzug in den zweiten Stock. (15) Der fußlahme Werner fährt mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock. Da sich die Bedeutung der Sätze (13) bis (15) nicht verändert, kann man schließen, dass Lift, Aufzug, und Fahrstuhl bedeutungsgleich sind oder zumindest sehr bedeutungsähnlich (synonym). Die drei Wörter sind also Synonyme. Synonymie bezeichnet eine Relation zwischen der Bedeutung zweier oder mehr Wörter, bei der sich die Bedeutung vollständig oder zumindest fast vollständig gleicht. Synonymie wird zwar gemeinhin als Bedeutungsgleichheit verstanden, doch können Wörter, die das gleiche bedeuten, zu unterschiedlichen Registern gehören und z.B. nur in informellen oder formellen Situationen verwendet werden (Euros vs. Tacken). Andere Synonyme haben das gleiche Denotat, drücken aber gleichzeitig eine unterschiedliche Haltung (Konnotation) des Sprechenden zum Denotat und/ oder dem Referenten aus (Hund vs. Töle). Setzt man einen sehr engen Begriff von Synonymie an, sind solche Wörter, die unterschiedlichen Registern angehören oder unterschiedliche Konnotationen tragen, nur partiell synonym und nicht total synonym. Wörter hingegen, deren Denotate ausschließen, dass ein Referent durch beide Wörter bezeichnet werden könnte, sind Antonyme. Hengst und Stute sind antonym, da kein geschlechtsreifes Pferd sowohl als Hengst (also ein männliches Pferd) als auch als Stute (also ein weibliches Pferd) bezeichnet werden kann. Wenn ein Referent, der mit einem Wort aus dem Paradigma der geschlechtsreifen Pferde bezeichnet werden kann, als Hengst bezeichnet werden kann, kann er nicht auch als Stute bezeichnet werden. Substitutionstest Synonymie partielle Synonymie Antonymie 73 Bedeutungsrelationen Das Paradigma geschlechtsreifer Pferde ist darüber hinaus komplett aufgeteilt auf zwei Begriffe. Das heißt: wenn der Referent kein Hengst ist, ist er automatisch eine Stute. Diese Art von Bedeutungsrelation heißt Komplementarität oder auch Kontradiktion. Ist ein Paradigma komplementär strukturiert, kann ein Referent eines der beiden Elemente des Paradigmas nur durch genau dieses Element des Paradigmas beschrieben werden, nicht durch das andere. Denkt man genauer über das Beispiel mit Stute und Hengst nach, fällt auf, dass bei dieser Analyse der Kategorie die Intersexualität, also eine nicht eindeutige Ausprägung des biologischen Geschlechts, nicht berücksichtigt ist. Diese Darstellung der Kategorie liegt nicht zwangsläufig an der Ignoranz von Semantikern, sondern beruht darauf, wie eine Sprechergemeinschaft diese Kategorie konzeptualisiert. Aber auch Sprechergemeinschaften können divergierende Konzepte aufweisen. Besonders deutlich wird dies im Bereich von Fachsprachen oder dort, wo Fachsprachen Begriffe verwenden, die auch außerhalb der Fachsprache frequent verwendet werden, etwa Wort, Satz, Kultur oder Literatur. Während es für Sprachwissenschaftler einfach ist, ein Allomorph zu definieren, gibt es sehr viele Definitionen davon, was ein Satz ist. Bei der semantischen Analyse von Begriffen ist es wichtig, Fachwissen als Spezialwissen vom Allgemeinwissen einer Sprechergemeinschaft (oder einer Gruppe dieser Gemeinschaft) zu unterscheiden. Wenn Untersuchungen zur Semantik damit ringen, die Ähnlichkeit zwischen Wal und Fisch zu erklären, die ihre Gewährspersonen konstatiert haben, dann ist jeder Gedanke an biologische Taxa fehl am Platze. Bei Adjektiven trifft die komplette Aufteilung eines Paradigmas wie das geschlechtsreifer Pferde bei Stute und Hengst selten zu. Bei Wortpaaren wie heiß und kalt oder glücklich und unglücklich können Zwischenstufen in einem Wort ausgedrückt werden (z.B. warm und zufrieden). Das heißt zwar immer noch, dass ein Referent (etwa eine Tasse Kaffee), der heiß ist, nicht auch kalt sein kann. Allerdings ist nicht jeder Referent, der nicht heiß ist, unbedingt kalt, im Gegensatz zur Relation bei geschlechtsreifen Pferden, wo jedes Pferd das kein Hengst ist, eine Stute sein muss. Eine Tasse Kaffee, die nicht heiß ist, muss eben nicht kalt sein, sondern kann warm sein. Solche konträren Wörter, die im Verhältnis der Kontrarietät zueinander stehen, sind steigerbar (gradierbar): (16) no. varm - varmere - varmest ‘heiß - heißer - am heißesten’; (17) no. kald - kaldere - kaldest ‘kalt - kälter - am kältesten’. Eine solche Steigerung ist nur bei konträren Wörtern möglich und natürlich nicht bei komplementären Wörtern. Eng mit der Kontrarietät verbunden ist die Konversion. Zwei Wörter sind dann konvers, wenn bei einer Umkehrung der Perspektive einer Aussage statt dem einen Wort das andere verwendet wird: (18) Justin ist jünger als Wilhelmine vs. Wilhelmine ist älter als Justin. Komplementarität Kontrarietät Konversion Semantik 74 Gerade Adjektive im Komparativ, die zur selben semantischen Dimension gehören (ALTER, TEMPERATUR etc.), sind konvers. Aber auch Verben, die Handlungen bezeichnen, können perspektiviert sein und dann in konversem Verhältnis zueinander stehen, etwa: (19) da. købe vs. sælge ‘kaufen’ vs. ‘verkaufen’; (20) is. gefa vs. fá ‘geben’ vs. ‘erhalten’. Betrachtet man anhand von Beispiel (19) den Akt des Verkaufens gewissermaßen von der anderen Seite, so erhält man einen Akt des Kaufens. Ebenfalls konvers sind die Bedeutungen der Wörter is. gefa ‘geben’ und fá ‘erhalten’. Elemente eines Paradigmas können ferner in hierarchischer Relation zueinander stehen, in Form eines Oberbegriffes mit mehreren Unterbegriffen, z.B. (21) da. fugl - høne, ørn, drossel etc. ‘Vogel - Huhn, Adler, Drossel’; (22) no. drikke - slurpe, nippe, supe etc. ‘trinken - schlürfen, nippen, saufen’. So sind høne, drossel und ørn Unterbegriffe (Hyponyme) zu fugl. Aus der umgekehrten Perspektive ist fugl der Oberbegriff (Hyperonym) zu drossel, høne und ørn. Die drei Wörter drossel, høne und ørn sind untereinander betrachtet Ko-Hyponyme, da sie demselben Hyperonym zugeordnet sind. Besonders häufig in Fachsprachen wie der Grammatik-Terminologie, finden sich Hyperonyme, bei denen ein Hyponym homonym (also gleichbedeutend) mit dem Hyperonym ist. So besitzt der Oberbegriff Konjunktion zwei Unterbegriffe Subjunktion (eine Konjunktion, die Nebensätze einleitet) und, irritierenderweise, Konjunktion (eine Konjunktion, die Hauptsätze einleitet), weswegen letztere auch als „echte Konjunktionen“ bezeichnet werden. Für die Beschreibung von Bedeutungsrelationen haben wir den Substitutionstest eingeführt. Dazu benötigt man ein Syntagma bestehend aus einer Phrase oder einem Satz. In diesem Syntagma tauscht man ein Element durch ein anderes aus - im Fall von semantischen Untersuchungen wie Bedeutungsrelationen ist diese Einheit ein Wort. Der Rest des Syntagmas bildet den Kontext zu diesem Wort. Die syntagmatische Bedeutungsrelation der Kompatibilität ergibt sich aus der Kombinierbarkeit des eingesetzten Wortes mit dem Kontext auf semantischer Ebene. Wörter, die in einem Kontext miteinander austauschbar sind, ohne dass das Syntagma semantisch unzulässig wird, bilden gemeinsam ein Paradigma. Sie sind die Elemente dieses gemeinsamen Paradigmas. Die verschiedenen oben besprochenen paradigmatischen Bedeutungsrelationen ergeben sich aus der Bedeutungsveränderung des Syntagmas beim Austausch verschiedener Wörter eines Paradigmas. Nach der Art, wie sich die Bedeutung und die Referenz verändert, benennt man diese Relationen. Wir haben folgende sieben Relationen eingeführt: 1. (Partielle) Synonymie: Bei der Substitution bleibt die Bedeutung (fast) gleich und die Referenz dieselbe. (Ich fahre mit dem Aufzug/ Lift). 2. Antonymie: Durch die Substitution kann nicht mehr derselbe Referent bezeichnet werden. (Einen Hengst kann man nur Hengst, nicht aber Stute nennen, obwohl beide Bezeichnungen zum Paradigma der Bezeichnungen für Pferde gehören.) Hyponymie und Hyperonymie Zusammenfassung 75 Merkmalssemantik 3. Komplementarität ist Antonymie, bei der das Paradigma aus nur genau zwei Elementen besteht. 4. Kontrarietät ist Antonymie, bei der das Paradigma über mehr als zwei Elemente verfügt. 5. Konversion: Bei der Substitution wird die Perspektive umgedreht. Die Bedeutung ist verschieden und die Referenz kann nicht die gleiche sein. (Peter kauft/ verkauft Michaels Fahrrad). 6. Hyponymie und Hyperonymie: Bei der Substitution eines Wortes durch seinen Oberbegriff wird die Bedeutung allgemeiner und weniger spezifisch, da der Oberbegriff eine größere Klasse von Referenten bezeichnen kann. (Ich sehe Papageien/ Vögel). Bei der Ersetzung durch einen Unterbegriff verhält es sich genau umgekehrt. Unterbegriffe eines Oberbegriffs können Antonyme sein, müssen es aber nicht. 4.4 Merkmalssemantik Durch die Betrachtung von Bedeutungsrelationen wird deutlich, dass sich Wortbedeutungen oft ähneln. Wortbedeutungen zeigen also Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Die Merkmalssemantik baut auf dieser Beobachtung auf und geht weiter davon aus, dass Wortbedeutungen aus Einzelteilen zusammengesetzte Strukturen darstellen. Anhand dieser einzelnen Bedeu tungsbestandteile können zum einen Wortbedeutungen präzise beschrieben werden. So lässt sich die Bedeutung des Wortes Vogel etwa der Merkmalssemantik zufolge genau beschreiben mit Hilfe einer Reihe von einzelnen Bedeutungsmerkmalen. Darüber hinaus lassen sich zum anderen anhand der Aufgliederung von Bedeutungen in einzelne Bedeutungsmerkmale Ähnlichkeiten und Unterschiede von Wörtern präzise beschreiben. Diese kleinsten Bedeutungsbestandteile werden semantische Merkmale oder auch Seme genannt. Semantisches Merkmal (=Sem) Semantische Merkmale sind die kleinsten Bedeutungs-Komponenten einer Sprache, anhand derer lexikalische Bedeutungen von Wörtern beschrieben werden. Sie werden durch die Merkmalsanalyse der paradigmatischen und syntagmatischen Bedeutungsrelationen von Wörtern untereinander bestimmt. Sie werden in eckigen Klammern notiert. Wortbedeutungen werden aus Semen konstruiert verstanden und im Kontext der Theorie der Merkmalssemantik Sememe genannt. Semem Die lexikalische Bedeutung eines Wortes ist sein Semem und besteht aus einer Anzahl von semantischen Merkmalen. Wenn ein Wort mehrere Bedeutungen hat, verfügt es über ebenso viele entsprechende Sememe. - Semantik 76 Vergleicht man Wörter eine Paradigmas miteinander, können ihre Bedeutungsbestandteile anhand der Bedeutungsunterschiede zwischen den gewählten Wörtern, die fast dasselbe bedeuten, ermittelt werden. Der Vorgang gleicht logisch gesehen der Minimalpaar-Analyse der Merkmalsphonologie und wird im Folgenden näher erläutert. Ein klassisches Beispiel für Merkmalsanalyse in der Semantik ist die Analyse aller Wörter des Deutschen für Rinder (Tabelle 7). Dazu werden alle Wörter des Wortfelds „Rind“ aufgelistet und einander gegenübergestellt. Durch die Gegenüberstellung der Wörter werden dann die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihren Bedeutungen bestimmt. Alle diese Wörter teilen sich einen bestimmten Bedeutungsbestandteil, nämlich den, der die Gattung Rind bezeichnet. Dieses semantische Merkmal wird in der Tabelle unten mit dem Terminus Noem bezeichnet und in diesem Fall mit dem biologischen Gattungsnamen Bos taurus beschrieben. Das darf aber nicht zu der Verwechslung verleiten, dass sprachliche Klassifikationen mit biologischen identisch wären. (Biologisch gesehen umfasst Bos die Gattung der „Eigentlichen Rinder“ und Bos taurus die Unterart der „Hausrinder“. Die sprachliche Konzeption von Rind im Deutschen ist mit der biologischen also nicht deckungsgleich.) Ein Paradigma von Wörtern, die sich einen Bedeutungsbestandteil teilen, ist ein Wortfeld. Ein Wortfeld ist dabei nicht das gleiche wie die oben beschriebene „Klasse“. Eine Klasse bezieht sich auf eine Gruppe von Begriffen, die sich ein oder mehrere Merkmale teilen. Ein Wortfeld hingegen bezeichnet (wie der Name schon sagt) eine Gruppe von Wörtern. Neben dem gemeinsamen Bedeutungsbestandteil zeigen die verschiedenen Wortbedeutungen, die verschiedenen Sememe, weitere semantische Merkmale, hinsichtlich derer sich mindestens zwei Wortbedeutungen des Wortfeldes unterscheiden. Die Bedeutungen der Wörter Stier und Ochse unterscheiden sich nur hinsichtlich der Kastration. Ochsen sind [ KASTRIERT ], Stiere sind das genau nicht. Zur Unterscheidung der positiven und negativen Besetzung eines Merkmals notiert man gewöhnlich [+ KASTRIERT ] bzw. [- KASTRIERT ]. Semantische Merkmale werden in dieser Weise der Gegenüberstellung von Wörtern gewonnen, die sich nur in einem Merkmal unterscheiden. Die Vorgehensweise ist insofern identisch mit der Minimalpaar- Analyse in der Phonologie, wo Phoneme identifiziert werden, indem Wörter gegenübergestellt werden, die sich nur in einem Laut unterscheiden. Nur die Begriffe Sem und Semem entsprechen in ihrer Verteilung nicht den Begriffen Phon und Phonem. Seme sind Elemente auf der Ebene der Langue, nicht auf der Ebene der Parole, wie Phone dies sind. Im in Tabelle 7 unten dargestellten Wortfeld befinden sich etwa drei Merkmale zum Alter des Rindes, [ ERWACHSEN ], [ HALB ERWACHSEN ] und [ JUNG ]. Diese Merkmale stehen in einer konträren Bedeutungsrelation zueinander, da kein Referent über mehr als eines dieser Merkmale verfügen kann. Genauso verhält es sich mit den anderen Merkmalen bezüglich der anderen beiden semantischen Dimensionen „Geschlecht“ und „Kastration“. Einige Sememe des Wortfeldes verhalten sich gar nicht zu den betreffenden semantischen Dimensionen. Sie sind für die Wortbedeutung nicht relevant. So kann das Wort Rind für Referenten jedes Alters oder im Plural für Gruppen von Rindern gemischten Alters verwendet werden. Merkmalsanalyse Wortfeld Minimalpaar- Bildung semantische Dimensionen 77 Wörter mit mehreren Bedeutungen Tabelle 7: Merkmalsanalyse von Wörtern für Rind (Bos taurus) nach Reichmann (1976, 25) Die Versprachlichung von Konzepten spiegelt sehr deutlich wieder, wofür Referenten in einem bestimmten Bereich der Kultur relevant sind. Die Bezeichnungen für Rinder stammen aus dem landwirtschaftlichen Bereich, da Rinder Nutztiere sind und keine Schoßtiere. Ihr Alter, ihre Zeugungsfähigkeit und ihr Geschlecht sind relevante Eigenschaften, für die es sich sprachökonomisch für die entsprechenden Spezialisten (Viehzüchter) lohnt, ein diversifiziertes Vokabular zu verwenden, um sich eindeutig verständigen zu können. Auch gibt es keine Bezeichnungen für Tiere, die in einem bestimmten Zustand gewöhnlich nicht vorkommen, gerade weil sie für die Kultur in diesem Zustand keinen Nutzen haben. Es gibt in diesem Sinne keine Bezeichnung für kastrierte weibliche Rinder. Man beachte aber, dass sich Bedeutungsdifferenzierung im Vokabular nicht zwingend entwickeln muss. Für Katzenbesitzer mag es relevant sein, ob ihr Tier kastriert bzw. sterilisiert ist, oder nicht. Trotzdem geht die sprachliche Differenzierung des Wortfeldes nicht über die des Geschlechts und des Alters hinaus (Katze, Kater, Katzenjunges). Wenn also für eine bestimmte Kombination von semantischen Merkmalen kein Wort in einer Sprache existier, spricht man von einer semantischen Lücke. 4.5 Wörter mit mehreren Bedeutungen Nicht alle Wörter verfügen über nur eine Bedeutung. Manche Wörter, wie etwa dt. Bank verfügen über mehrere, klar verschiedene Bedeutungen: die Bedeutungsdifferenzierung semantische Lücke Semantik 78 Bank zum darauf sitzen und die Bank, auf der man sein Geld anlegen kann. Andere Wörter verfügen über unterschiedliche Bedeutungen, die aber Ähnlichkeiten in ihren Bedeutungen aufweisen, wie etwa is. fé: (23) is. Ég innheimti fé. ‘Ich treibe Geld ein.’ (24) is. Féið mitt deyr. ‘Mein Vieh verendet.’ Die beiden Bedeutungen von fé, ‘Geld’ und ‘Vieh’, in den Beispielen oben sind nicht vollkommen voneinander getrennt, wie die Übersetzungen der Beispiele oder Umschreibungen dieses Wortes in Wörterbüchern zunächst suggerieren mögen, sondern beide Bedeutungen haben gleiche Bedeutungsanteile, wie weiter unten noch näher erläutert wird. Man unterscheidet entsprechend zwei Arten von Mehrdeutigkeit: 1. Polysemie bei mehreren einander ähnelnden Bedeutungen eines Wortes und 2. Homonymie bei mehreren vollständig verschiedenen Bedeutungen eines Wortes. 4.5.1 Polysemie Unter Polysemie versteht man, dass ein Wort nicht nur mehrere Bedeutungen hat, sondern dass diese Bedeutungen einander auch ähneln. Die Grenze zwischen einer weniger bestimmten, weiten Bedeutung und mehreren Bedeutungen ist dabei auf den ersten Blick nicht immer eindeutig zu klären. Von Polysemie spricht man jedoch nur dann, wenn es sich um mehrere voneinander unterscheidbare ähnliche Bedeutungen handelt, nicht wenn ein Begriff einfach nur eine weite Bedeutung hat wie etwa en. to set, was viele Arten des Platzierens von Dingen bezeichnen kann, ohne dass diese genauer in der Wortbedeutung spezifiziert sind. Wenn man bei einem Wort nun von mehreren teilähnlichen Bedeutungen ausgeht, bleibt eine Gemeinsamkeit an Bedeutung, die sich alle Bedeutungen eines Wortes teilen. Diese Schnittmenge verweist auf die Kategorie, der das entsprechende Wort zugeordnet werden kann. Im Fall von is. fé ‘Zuchtvieh, Geld’ ist dies VERMÖGEN. Polyseme zeigen, wie in der Konzeptualisierung von Begriffen sprachspezifische Verknüpfungen vorgenommen werden. Im sprachlichen Weltbild, das die isländische Sprache hier andeutet, sind Geld und Zuchtvieh zwei relevante und möglicherweise eng miteinander assoziierte Ausprägungen von VERMÖGEN. Dieses sprachliche Weltbild kann natürlich der Lebenswirklichkeit entsprechen oder auch nicht. Man mag meinen, dass die enge Verbindung von Zuchtvieh und Geld bei is. fé vor allem für das mittelalterliche Island galt, wo Vieh nicht nur eine Ware, sondern auch ein Zahlungsmittel war. Allerdings spielt Viehzucht auch heutzutage auf Island eine bedeutende wirtschaftliche Rolle. Diese kulturgeschichtlich bedingte, aber immer noch bestehende enge konzeptuelle Verknüpfung von Vieh und Besitz zeigt sich auch, wenn man andere Wörter der Kategorie VERMÖGEN betrachtet. Die Umschreibung für is. peningur in Wörterbüchern ist ‘Geld, Münze, Zuchtvieh’. In den festlandskandinavischen Sprachen bedeutet das etymologisch verwandte Wort (da. penge, no. penger, se. pänger) lediglich ‘Geld, Bargeld’. Bei Mehrdeutigkeit vs. weite Bedeutung Konzeptualisierung 79 Wörter mit mehreren Bedeutungen den festlandskandinavischen Wörtern ist die Bedeutung nur unbestimmt hinsichtlich des Besitzes als Bargeld oder als abstraktes Guthaben (die Wörter können beides bedeuten). Es umfasst aber nicht auch noch Besitz in Form von Zuchtvieh wie das entsprechende isländische Wort. Durch die sozioökonomischen Veränderungen Islands im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert hat sich allerdings der systemische Druck auf die isländischen Wörter fé und peningur erhöht, da eine einfachere Differenzierung notwendig wurde. So sind inzwischen außerhalb des hochsprachlichen Sprachgebrauchs die Wörter búfé und búpeningur für ‘Zuchtvieh’ gebräuchlich gegenüber fé und peningur, die vor allem in der Bedeutung ‘Geld’ verwendet werden. Es gibt zwei verschiedenen Auffassungen von Polysemie. Zum einen können mehrere ähnliche Sememe, also Mengen von semantischen Merkmalen, angenommen werden, über die das Wort verfügt. Zum anderen kann von nur einem weniger bestimmten Semem ausgegangen werden, das in verschiedenen Kontexten eine verschiedene spezifischere Bedeutung annimmt; also ein Semem mit weniger semantischen Merkmalen, das in verschiedenen Verwendungskontexten durch diese Kontexte weitere semantische Merkmale erhält. 4.5.2 Homonymie Beim anderen oben angeführten Beispiel, dt. Bank, teilen sich die beiden Bedeutungen wie erwähnt keine semantischen Merkmale. Wörter wie Bank werden als Homonyme bezeichnet. Man spricht dann von zwei Wörtern mit unterschiedlicher Bedeutung, die eine gleichlautende lautliche Ausdrucksseite haben, in diesem Fall / baŋk/ . Man betrachtet Bank also nicht als ein polysemes Wort mit zwei vollständig verschiedenen Bedeutungen, sondern als zwei homonyme Wörter, die sich in ihrer lautlichen Struktur vollständig gleichen. Ein weiteres Kriterium, um homonyme von polysemen Wörtern zu unterscheiden, ist, ob die verschiedenen Bedeutungen etymologisch auf dieselbe Form zurückgehen. Bei Homonymen wie Bank waren die Ausdrucksseiten in einem vergangenen, historischen Zustand einer Sprache, verschieden. Sie sind also erst durch Sprachwandel identisch geworden. Bei Polysemen muss gemäß dieses Kriteriums im Gegenzug die Ausdrucksseite schon immer dieselbe gewesen sein. Bei is. fé haben sich die verschiedenen Bedeutungen aus ein und derselben Ausdrucksseite („aus demselben Wort“) heraus entwickelt. Die verschiedenen Bedeutungen haben sich dann erst mit der Zeit herausgebildet. So relevant dieses Kriterium für die diachronische Betrachtung von Sprachen ist, bringt diese Unterscheidung allerdings die synchrone Beschreibung von Sprachsystemen nicht voran, da sie für das zu einem synchronen Zeitpunkt bestehende Sprachsystem keine Relevanz hat. Im Fall von Bank ist das Wort für Sitzgelegenheit ein gemeingermanisches Erbwort, also ein Wort, das es in jeder germanischen Sprache seit vorhistorischer Zeit gegeben hat. Die Bezeichnung für die Bank als Geldinstitut ist aus it. banco/ banca entlehnt. Die beiden Bedeutungen waren also ursprünglich mit unterschiedlichen Ausdrucksseiten verknüpft. Aus Sicht der Sprachkontaktforschung handelt es sich damit um eine Lehnbedeutung, bei Kontext vs. Konventionalisierung Polysemie vs. Homonymie historisches Kriterium Semantik 80 der ein Wort durch Sprachkontakt eine (in diesem Fall zusätzliche) Bedeutung annimmt für ein Konzept aus einer anderen Sprechergemeinschaft. Für die synchrone Beschreibung von Bedeutungsstrukturen ist dies allerdings unerheblich. Bank hat genauso mehrere Sememe wie fé. Dt. der Kiefer und die Kiefer haben gänzlich unterschiedliche Bedeutungen, haben die identische lautliche Struktur / ki ː fɐ/ und werden gleich geschrieben, so dass man zunächst meinen könnte, dass es sich um ein einziges, polysemes Wort handelt. Die Bedeutungen treten allerdings nur in Verbindung mit der Verwendung eines bestimmten grammatischen Geschlechts auf - einmal in der Verwendung als Maskulinum und einmal als Femininum. Es ist also viel naheliegender, von zwei Wörtern mit unterschiedlichem grammatischen Geschlecht zu sprechen, die lautlich und schriftlich identisch sind und nicht von zwei homonymen Wörtern oder einem einzigen polysemen Wort. Das dritte Unterscheidungskriterium von Polysemie und Homonymie beruht auf morphologischen Eigenschaften der Wörter. Morphologische Unterscheidungskriterien sind beispielsweise: • Genus: der Kiefer versus die Kiefer, • Pluralbildung: die Mütter versus die Muttern, • Zählbarkeit: mehrere Schimmel ‘weiße Pferde’ versus mehr Schimmel ‘mehr Schimmelpilz’. Da natürliche Sprachen nicht nur gesprochen, sondern auch geschrieben werden, gibt es den Fall, dass Homonyme für jede Bedeutung eine andere Schreibweise haben, ein Beispiel dafür ist das folgende deutsche Wortpaar: (25) dt. Seite/ Saite / saɪ ̯ tə/ . Die beiden Wörter Seite und Saite werden lautlich gleich realisiert, in der Graphie jedoch unterschieden. Bezieht man neben der Lautebene die Schriftebene mit ein, kann man bei diesem Beispiel von zwei homophonen Wörtern sprechen, die aber nicht auch homograph sind. Homograph, aber nicht homophon, sind folgende zwei Wörter: (26) dt. Band / bant/ ‘schmales Stück Stoff’, (27) dt. Band / bɛːnt/ ‘Musikgruppe’. Hier handelt es sich zweifellos um zwei verschiedene Wörter, da sie nicht homophon sind. Es liegt also auch keine Homonymie-Relation zwischen ihnen vor, da die Homonymie über die lautliche Gleichheit definiert ist. Das Verhältnis von Polysemie und Homonymie lässt sich zusammenfassend so beschreiben, dass man gleichlautende Wörter mit denselben morphologischen Kriterien (wie etwa demselben Genus) und ein Wort mit mehreren Bedeutungen daran unterscheiden kann, ob sich die verschiedenen Bedeutungen semantische Merkmale teilen. Teilen sie sich Bedeutungsmerkmale, handelt es sich um ein polysemes Wort. Teilen sie sich keine Bedeutungsmerkmale, handelt es sich um zwei homonyme Wörter. morphologisches Kriterium Homophonie und Homographie Zusammenfassung 81 Kognitive Semantik: Prototypensemantik 4.6 Kognitive Semantik: Prototypensemantik Im bisherigen Verlauf des Kapitels wurde von einer strukturalen Perspektive auf die Struktur von Bedeutung und den Systemen, die einzelne Bedeutungen zusammen bilden, ausgegangen. Daneben gibt es noch eine zweite Perspektive auf Bedeutung. Diese untersucht, wie Bedeutungsstrukturen auf kognitiver Ebene im Denken und im Gedächtnis von Sprechern funktionieren. Aus der oben beschriebenen strukturalen Perspektive heraus begreift man Bedeutungen und ihre Relationen untereinander als ein abstraktes System, das die Sprecher einer Sprachgemeinschaft beherrschen. Aus der kognitiven Perspektive heraus liegt der Fokus auf der Struktur und Organisation von Bedeutung im Wissen und Denken von Sprechern, also in ihrem Geist (en. mind). Da auch diese Perspektive Bedeutung als System begreift, baut sie begrifflich auf der strukturalen Perspektive auf. Der Hauptunterschied zwischen der strukturalen und der kognitiven Perspektive liegt in dem Status, der den vorgefunden Strukturen zugeschrieben wird: Geben diese Strukturen ein abstraktes System wieder, das nur als theoretisches Konstrukt existiert, so wie es „die Deutsche Sprache“ nur als Abstraktum gibt? Oder sind die vorgefunden Strukturen welche, über die Sprecher einer Sprache tatsächlich „in ihren Köpfen“ verfügen, so wie die Millionen von Sprecher der deutschen Sprache, die deren Regeln und Strukturen beherrschen? Man unterscheidet entsprechend dieser beiden Perspektiven 1. strukturale Semantik und 2. kognitive Semantik. Die kognitive Semantik untersucht ähnlich wie die strukturale Semantik Bedeutung auf den Ebenen von Wort, Satz und Text. Der Anspruch liegt jedoch darauf, zu verstehen, wie Bedeutungen im Wissen und Denken von Sprechern strukturiert und organisiert werden. Auf den Ebenen von Satz- und Textsemantik untersucht die kognitive Semantik besonders Vorgänge des Verstehens und Interpretierens von Sätzen und Texten. Der Teilbereich der kognitiven Semantik, der Wortbedeutungen untersucht, ist die sogenannte Prototypensemantik. Wie eingangs in diesem Abschnitt erläutert wurde, wird aus der kognitiven Perspektive heraus Sprache nicht als über-individuelles System rekonstruiert, sondern als im Individuum angelegt betrachtet. Die Prototypensemantik rekonstruiert Wortbedeutungen damit nicht als abstrakte Einheiten eines Sprachsystems, an dem die Sprecher dieser Sprache teilhaben. Sie erforscht stattdessen, wie sprachliches Wissen im Denken von Sprechern angelegt und organisiert ist. Die Prototypensemantik arbeitet dazu mit Befragungen von Sprechern, besonders unter Verwendung psychologischer Forschungsmethoden wie Fragebögen und Reaktions- und Erinnerungstests. Die Prototypentheorie beschreibt anhand dieser Ergebnisse, wie Sprecher einer Sprache Objekte nach ihrer Ähnlichkeit zueinander einzelnen Kategorien oder auch mehrere Kategorien auf einmal zuordnen. In der Prototypensemantik werden also Wortbedeutungen in ihrer Ähnlichkeit untereinander beschrieben. Der Ansatz ist damit umgekehrt zu dem in der Merkmalssemanstrukturale vs. kognitive Semantik sprachliches Wissen Ähnlichkeit statt Unterschied n Semantik 82 tik, die statt der Ähnlichkeiten die Unterschiede zwischen den Bedeutungen verschiedener Wörter zueinander beschreibt. Ein Hauptforschungsbereich der Prototypensemantik ist die Organisation der Bedeutungen von solchen Wörtern, die Unterbegriffe eines gemeinsamen Oberbegriffs bilden. Ein Beispiel für einen solchen Oberbegriff sind alle Wörter für eine Tierart, etwa Vögel, die es in einer Sprache gibt. Die Unterbegriffe, in diesem Fall Spatz, Elster, Sperling usw. werden dann in ihrer Ähnlichkeitsrelation zueinander beschrieben. Der Oberbegriff bildet dann eine mentale Kategorie oder mentale Klasse, die in der Notation stets in Großbuchstaben gesetzt ist. Der Oberbegriff zu Spatz, Elster, Sperling usw. ist VOGEL. Die einzelnen Wörter für Vögel sind Elemente dieser Kategorie. Die deutschen Wörter Spatz, Elster und Sperling sind drei Elemente der Kategorie VOGEL. Die Bezeichnung einer solchen Klasse ist in diesem Fall nicht zwingend als Wort oder Wortbedeutung, sondern als abstraktes Begriffsfeld zu verstehen, selbst wenn in der entsprechenden Sprache ein Wort dafür existiert, so wie das Wort Vogel im Deutschen, dessen Bedeutung mit der des Oberbegriffs dieser Klasse identisch ist. Die Elemente einer Kategorie verfügen über gemeinsame Eigenschaften, aufgrund derer sie einer Kategorie zugeordnet werden. Im Falle der Kategorie sind das unter anderem [ KANN FLIEGEN ], [ KANN ZWITSCHERN ], [ LEGT E IER ], [ HAT F EDERN ], [ HAT EINEN S CHNABEL ]. Bis hierhin entspricht die prototypensemantische Beschreibung noch der strukturalen, wie sie im Abschnitt zu Begriffen und Klassen dargelegt wurde. Nicht alle Elemente einer Kategorie müssen jedoch alle Eigenschaften erfüllen. So kann ein Strauß nicht fliegen und zwitschert nicht, wird aber dennoch von Sprechern der deutschen Sprache als Vertreter der Kategorie VOGEL in der deutschen Sprache bewertet, wenngleich er ein untypischerer Vertreter ist als eine Amsel oder ein Specht. Wie man sieht, sind aus einer prototypensemantischen Perspektive nicht alle Eigenschaften gleich relevant für die Zuordnung zu einer Kategorie. Eigenschaften haben eine unterschiedliche Gewichtung. Beispielsweise kann ein Strauß nicht fliegen und zwitschern, legt aber Eier und hat Federn. Die Eigenschaft [ KANN FLIEGEN ] ist in der Kategorie VOGEL also weniger stark gewichtet als die Eigenschaften [ LEGT E IER ] und [ KANN ZWITSCHERN ]. Ein Schnabeltier wiederum legt zwar Eier und hat einen Schnabel, besitzt aber sonst keine Eigenschaft, die ein Element der Kategorie VOGEL auszeichnet. Die Eigenschaft [ HAT F EDERN ] ist also stärker gewichtet als die Eigenschaften [ LEGT E IER ] und [ HAT EINEN S CHNABEL ]. Man kann auf Grundlage dieser kurzen Analyse folgende, sehr grobe Gewichtung der Eigenschaften der Kategorie VOGEL angeben: 1. [ HAT F EDERN ], 2. [ LEGT E IER ], 3. [ KANN ZWITSCHERN ] und [ KANN FLIEGEN ] und [ HAT EINEN S CHNABEL ]. Die drei Eigenschaften, die auf dem dritten Platz rangieren, können in ihrer relativen Gewichtung zueinander noch nicht differenziert werden. Dafür wären weitere Gegenüberstellungen von Elementen der Kategorie notwen- Klassen und Elemente Eigenschaften Gewichtung 83 Sprachliches Relativitätsprinzip dig. Außerdem müssen sich nicht alle Eigenschaften einer Kategorie klar hierarchisieren lassen. Der Prototyp einer Kategorie ist das Element einer Kategorie, das die meisten und am stärksten gewichteten Eigenschaften besitzt. Für die Kategorie VOGEL in der deutschen Sprache sind mögliche Kandidaten für einen Prototypen Spatz oder Amsel, weil sie über alle Eigenschaften dieser Klasse verfügen, insbesondere über die am stärksten gewichteten. Die Ähnlichkeitsrelation zwischen den Mitgliedern einer Klasse in Bezug zum Prototyp dieser Klasse wird als Typikalität bezeichnet. Man unterscheidet hohe und geringe Typikalität. Hohe Typikalität besitzt ein Element einer Klasse, das besonders große Ähnlichkeit mit dem Prototyp besitzt. Geringe Typikalität besitzt ein Element, das geringe Ähnlichkeit mit dem Prototyp hat. Für die Klasse VOGEL der deutschen Sprache ist Spatz typischer als Pfau. Spatz besitzt also eine höhere Typikalität als Pfau. Pfau und Spatz wiederum sind typischer als Strauß, weswegen ihre Typikalität wiederum höher ist als die von Strauß. Ein Phänomen, das im Kontext der Prototypensemantik untersucht worden ist, ist, dass Objekte von Sprechern je nach Kontext unterschiedlich benannt und damit als Referenten unterschiedlicher Kategorien gesehen werden. Dieses Phänomen wird Vagheit genannt. Vagheitsphänomene treten auch dann auf, wenn die jeweiligen Bezeichnungen Antonyme sind. Ein und dasselbe Gefäß kann beispielsweise Referent der Wörter en. bowl und cup sein, je nach Verwendungskontext: Aus einer bowl isst man, während man aus einer cup trinkt - dies kann jedoch bei ein und demselben Gefäß geschehen. Dies zeigt, dass Kategorien einander überlappen können, also die Kategorien BOWL und CUP viele Merkmale miteinander teilen oder wesentliche Merkmale miteinander teilen wie [G EFÄß , AUS DEM N AHRUNG VERZEHRT WERDEN KANN ]. Zu bedenken ist weiterhin, dass in der Analyse unterschiedliche Kategorien angenommen werden können. Man kann bowl und cup auch einer gemeinsamen Kategorie unterordnen, etwa GEFÄSS, AUS DEM NAH- RUNG VERZEHRT WERDEN KANN. Man könnte nun argumentieren, dass die Annahme einer gemeinsamen Kategorie deswegen nicht zulässig ist, weil es für die genannte Bedeutung im Englischen kein Wort gibt, hier also eine semantische Lücke vorliegt. Ob das der Repräsentation von Bedeutung im Denken der Sprecher englischsprachiger Sprechergemeinschaften entspricht oder nicht, ist aber eine andere Frage. 4.7 Sprachliches Relativitätsprinzip Ein weiteres Feld der kognitiven Semantik ist der Zusammenhang zwischen Sprache und Bedeutung einerseits und dem Denken bzw. dem Weltbild andererseits. Hierbei ist besonders das sprachliche Relativitätsprinzip bekannt geworden. Das sprachliche Relativitätsprinzip besagt, dass sich für Menschen ein unterschiedliches Weltbild ergibt in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Sprachen, die sie sprechen. Laut dieser Hypothese beeinflusst also die Sprache, die wir sprechen, unsere Weltwahrnehmung. Obschon diese Hypothese bereits in der europäischen Sprachphilosophie des 19. Jahrhunderts zu einem zentraleren Thema wurde, fand sie im Jahr 1940 ihre be- Prototyp Typikalität Vagheit Semantik 84 kannteste Ausformulierung durch den amerikanischen Linguisten Benjamin Lee Whorf (1896-1941): […] all observers are not led by the same physical evidence to the same picture of the universe, unless their linguistic backgrounds are similar. (Whorf 1956, 214) Nicht alle Beobachter werden durch die gleichen physikalischen Sachverhalte zu einem gleichen Weltbild geführt, es sei denn, ihre sprachlichen Hintergründe ähneln einander. (Eigene Übersetzung; vgl. Werlen 2002, 1; Whorf 1997, 12) Da sich Whorf auf den amerikanischen Ethnolinguisten Edward Sapir (1884- 1939) berief, ist diese Hypothese als Sapir-Whorf-Hypothese bekannt. In der weiteren Erforschung dieser Hypothese wurde und wird nicht nur der Einfluss der Sprache auf die Wahrnehmung der Welt untersucht, sondern auch ihr allgemeiner Einfluss auf das Denken von Menschen. Diesem sprachlichen Relativismus steht der sprachliche Universalismus entgegen. Im Gegensatz zum Relativismus nimmt der sprachliche Universalismus an, dass die Sprachen, die ein Mensch spricht, keinen Einfluss auf seine Wahrnehmung der Welt bzw. sein Denken haben. Die aktuelle linguistische Forschung findet jedoch immer mehr Hinweise darauf, dass die Sprachen, die ein Mensch spricht, einen Einfluss auf seine kognitiven Fähigkeiten haben und ihn in seiner Wahrnehmung der Welt beeinflussen - so wie es der sprachliche Relativismus nahe legt. Diese Beeinflussung findet in Bezug auf die kategoriale Wahrnehmung statt. Effekte sprachlicher Relativität lassen sich experimentell nachweisen. So können Sprecher, deren Sprachen über mehr Farbwörter verfügen (so problematisch deren Zählung auch ist) sich präziser an Farben erinnern, die ihnen in Tests präsentiert werden. Die Art und Weise, wie die Sprachkompetenz von Menschen ihre kategoriale Wahrnehmung beeinflusst, wird sprachliches Weltbild genannt. Der Terminus sprachliches „Weltbild“ hinkt dabei der Entwicklung der Forschung zum sprachlichen Relativitätsprinzip ein wenig hinterher. Genauer genommen ist nämlich nicht ein konkretes Weltbild gemeint, das einem Sprecher zum Beispiel durch seine Muttersprache aufgezwungen wird. Man geht stattdessen inzwischen von Denkmustern aus, die naheliegender und gewohnter sind als andere Denkweisen, da die Sprache oder die Sprachen, die ein Sprecher nutzt, bestimmte Denkweisen und kategoriale Einordnungen von Referenten präferieren. In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff der Habitualisierung verwendet, also der Aneignung von Verhaltensweisen und Werten einer Gesellschaft durch Gewohnheit. In diesem Fall ist das die Habitualisierung von Denkweisen und Kategorien, die durch den Gebrauch von bestimmten versprachlichten Kategorien beeinflusst wird. Oben wurde erwähnt, dass die Sprache, die Menschen sprechen, ihre Wahrnehmung der Umwelt beeinflusst. Dass der Bezug zwischen Sprache und Wahrnehmung oder Denken jedoch alles andere als simpel ist, zeigt ein bekannter Allgemeinplatz, der sich als falsch herausgestellt hat: Oft wird behauptet, die Inuit hätten eine größere Anzahl von Wörtern für SCHNEE als Sprecher europäischer Sprachen. Damit verbunden ist das Vorurteil, dass der urbane Mensch eine begrenztere Wahrnehmung seiner natürlichen Umwelt Sapir-Whorf- Hypothese sprachlicher Universalismus sprachliches Weltbild Wörter für Schnee 85 Sprachliches Relativitätsprinzip habe als ein Angehöriger einer Ethnie, der zugeschrieben wird, noch vormoderne Traditionen zu pflegen. Diese Behauptung hat empirischer Überprüfung nicht standgehalten und auch dieser Sachverhalt dringt immer mehr ins Allgemeinwissen durch. Ein erstes Problem dieser Behauptung ist, dass keine konkrete Inuit-Sprache genannt wird. Die entsprechende Sprachfamilie der eskimo-aleutischen Sprachen umfasst je nach Differenzierung fünf bis sechs Sprachen (was eine Sprache von einem Dialekt unterscheidet, ist abhängig von der verwendeten Definition). Das zweite Problem des behaupteten Zusammenhangs der Anzahl von Wörtern für Schnee und Wahrnehmung von physischem Schnee liegt darin, dass die von den Inuit gesprochenen Sprachen schlichtweg nicht mehr Wörter für Schnee haben als europäische Sprachen. Dazu wird hier eine Liste der Wörter zweier eskimo-aleutischer Sprachen für SCHNEE gegeben im Vergleich zu einer Liste der Wörter für SCHNEE im Deutschen und Englischen: Kalaallisut (West-Grönländisch): 1. qanik ‘fallender Schnee’, 2. aput ‘liegender Schnee’. Yupik: 1. qanuk ‘Schneeflocke’, 2. natquik ‘Schneeverwehung’, 3. qanikcaq ‘liegender Schnee’, 4. muruaneq ‘weicher Tiefschnee’, 5. qanisqineq ‘auf Wasser treibender Schnee’, 6. utvak ‘Schneeblock’, 7. pirta ‘Schneesturm’. Deutsch: 1. Schnee, 2. Harsch, 3. Bruchharsch, 4. Firn, 5. Sulz, 5. Schneefegen, 6. Schneetreiben, 7. Schneewechten, 8. Griesel, 9. Graupel, 10. Hagel. Englisch: 1. snow ‘Schnee’, 2. slush ‘Schneematsch’, 3. firn ‘Altschnee, Firn’, 3. sleet ‘Graupel, Griesel’, 4. hail ‘Hagel’, 5. blizzard ‘Schneesturm’. Semantik 86 Neben der allgemein geringeren Anzahl an Wörtern für das Wortfeld ist das dritte Problem der Behauptung die Frage, was eigentlich als „Wort für Schnee“ gelten kann. Bemerkenswert im West-Grönländischen ist, dass zwar fallender und liegender Schnee unterschieden werden, es aber eine semantische Lücke gibt bei einem Lexem für SCHNEE im Allgemeinen. Für die Kategorie SCHNEE gibt es also strikt gesehen im West-Grönländischen null Wörter, nur für Hyponyme von SCHNEE gibt es zwei Wörter. Wenn man die Wörter für Schnee katalogisieren will, zählt man dann also nur Hyponyme oder nur Hyperonyme oder beides? Die Liste im Yupik kann je nach Zählweise länger ausfallen. Nimmt man neben Substantiv-Lexemen auf die entsprechenden Verb-Lexeme mit auf? • ypk. qanuk ‘Schneeflocke’ - qanir- ‘schneien’; • ypk. kanevvluk ‘feiner Schnee’ - kanevcir- ‘schneien (von feinem Schnee)’. Und wie vergleicht man eine solche Zählweise mit dem Deutschen, in dem aus jedem Verb ein Substantiv gebildet werden kann (dt. Schneien - das Schneien) und dem Englischen, in dem aus jedem Substantiv ein Verb gebildet werden kann (en. slush ‘Schneematsch’ - to slush ‘Eis in Matsch zerrühren’)? Das vierte Problem dieser Behauptung stellt die Größe „Wörter für SCHNEE“ dar. Da die traditionellen Sprachen der Inuit polysynthetisch sind, entsprechen die Wörter in dieser Sprache, wenn sie in die meisten europäischen Sprachen übersetzten werden, die zum Typus der synthetischen Sprachen gehören, eher ganzen Sätzen. Man könnte hier also lediglich lexikalische Morpheme vergleichen (siehe auch das Kapitel zur Morphologie). Ein Problem, das sowohl beim Allgemeinplatz über Wörter der Inuit und der Europäer für SCHNEE und EIS vorhanden bleibt, ist die Beschränkung auf simple, nicht-zusammengesetzte Lexeme. Das bedeutet, das zusammengesetzt Wörter wie dt. Neuschnee nicht in eine solche Liste aufgenommen würden, da sich die Bedeutung von Neuschnee aus seinen Teilen erklären lässt, also der SCHNEE-Bestandteil der Bedeutung nur im Lexem -schnee, nicht aber in Neuvorkommt. (Mehr dazu im Abschnitt über Komposita im Kapitel zur Morphologie.) Nicht uninteressant ist aber der Faktor, den spontane Bildungen und Paraphrasen bei Untersuchungen zur kategorialen Wahrnehmung und den mit ihnen verbundenen kognitiven Fähigkeiten spielen. Auch hier bieten verschiedene Sprachen unterschiedliche Spielräume, etwa bei der Bildung von Komposita oder der Gestaltung von Nominalphrasen (vergleiche Kapitel 6.4). Sprachliche Relativität weist also über die linguistischen Teilbereiche der Semantik (und Morphologie) hinaus und ist ein spannendes Arbeitsfeld für die vergleichende und experimentelle Sprachwissenschaft. Ein weiteres Problem des behaupteten Zusammenhangs von Wörtern für Schnee und Wahrnehmung von physischem Schnee ist die Abgrenzung der Kategorie. Oft wird SCHNEE angegeben, manchmal beinhaltet die Behauptung sowohl SCHNEE als auch EIS. Wie im Abschnitt zur Merkmalsanalyse erwähnt wurde, ist die Abgrenzung einer Kategorie bzw. eines Wortfeldes stark kontextabhängig. Einfacher ist dies bei der Analyse von Lebewesen, wo eine Tierart eine vergleichsweise konstante Größe aus der natürlichen Welt Hyperonymie und Hyponymie Wortarten- Unterschiede Was ist ein „Wort“? Paraphrasen Abgrenzbarkeit von Kategorien 87 Sprachliches Relativitätsprinzip bietet, anhand derer man die Begriffsbildungen einer Sprechergemeinschaft und ihren dafür verwendeten Wortschatz analysieren kann. Reflektiert man nun über SCHNEE, wird deutlich, dass es sich bei den Referenten dieser Kategorie um eine spezifische Erscheinungsform von EIS handelt. Wie ist nun zu argumentieren, dass gerade die Kategorie SCHNEE angesetzt werden soll und nicht die Kategorie EIS, die SCHNEE mit einschließen würde? Und wie verhält es sich mit Wörtern für Wetterphänomene, bei denen es auch schneit, wie einem Schneesturm? Lässt sich bei Wortbedeutungen, die Vorgänge und nicht Gegenstände beschreiben, die Bedeutung ‘Schnee’ wiederfinden? Wie im Abschnitt zur Prototypensemantik erwähnt, lassen sich Kategorien eben nicht klar voneinander abgrenzen, was es methodisch nicht einfacher macht, einzelne semantische Kategorien verschiedener Sprachen heranzuziehen und die Wörter zu zählen, die es für diese Kategorie gibt, oder Unterbegriffe dieser Kategorie zu zählen, also Wörter für liegenden Schnee und fallenden Schnee. Der Sprachvergleich wird auch nicht dadurch erleichtert, dass die unscharfen Grenzen zwischen Kategorien in den verglichenen Sprachen unterschiedlich verlaufen können. Die empirische Forschung zur sprachlichen Relativität geht deswegen von grundlegenden Wahrnehmungskategorien des Menschen aus in Bezug zu deren sprachlicher Kategorisierung wie beispielsweise Farbsehen und Farbterminologie oder Raumwahrnehmung und der lexikalischen und grammatischen Versprachlichung von Raum. Es gibt also laut dieser Annahme bestimmte Überkategorien in der Weltwahrnehmung, die in allen Sprachen versprachlicht, also durch Wörter ausgedrückt, werden. Weiter oben in diesem Kapitel wurde außerdem angesprochen, dass es innerhalb einer Sprechergemeinschaft Gruppen geben kann, die über ein größeres Wissen in bestimmten Bereichen besitzen als andere. Ein Beispiel dafür wären unterschiedliche Berufsgruppen. Ein Tischler weiß beispielsweise mehr über Holz, ein Designer mehr über Farben, ein Theologe mehr über Sünden als die meisten anderen Sprecher dieser Gemeinschaft. Dies kann sich auch im Vokabular niederschlagen. Solche Sub-Systeme eines einzelsprachigen Systems bezeichnet man als Fachsprachen. Und auch diese können potenziell sprachliche Relativität bedingen: Im Durschnitt werden Designer Farben mit einem größeren Vokabular und anderen Paraphrasen beschreiben als Bankangestellte. Sind „die Inuit“ und „die Europäer“ also ausreichend differenzierte Vergleichsgrößen? Dies zeigt ein weiteres Problem auf, mit denen sprachvergleichende Untersuchungen konfrontiert sind: die Binnendifferenzierung von Sprechergemeinschaften und die damit einhergehende Binnendifferenzierung von Sprachkompetenz von Sprechergruppen und die gleichsame Binnendifferenzierung des Sprachsystems einer Sprache, das man davon ableitet muss. Die unterschiedliche Versprachlichung der Wahrnehmung unserer Umwelt in verschiedenen Sprachen auf der einen Seite und dessen Einfluss auf das Denken von Sprechern entsprechender Sprachen sind prinzipiell zwei verschiedene Aussagen. Die eine Aussage lässt sich im Sprachvergleich recht einfach belegen: Es gibt unterschiedlich viele Termini für verschiedene natürliche Phänomene oder Sachverhalte in verschiedenen Sprachen. Und auch innerhalb von einzelnen Sprachen bieten Fachsprachen (z.B. von verschiedenen Berufsgruppen) ausdifferenzierte Vokabulare für Sachverhalte und Obgrundlegende Wahrnehmungskategorien Sprachenvergleich und Binnendifferenzierung sprachliches Weltbild vs. sprachliche Relativität Semantik 88 jekte, die außerhalb dieser Fachsprache in diesem Grad nicht vorkommen. Der Terminus sprachliches Weltbild bezeichnet daher zuweilen nur diesen ersten Aspekt der unterschiedlichen Versprachlichung von Wirklichkeit in verschiedenen Sprachen. Demgegenüber wird dann nur der Einfluss des sprachlichen Weltbildes auf das Denken von Sprechern als sprachliche Relativität bezeichnet. Blickt man noch einmal auf die deutschen Wörter für SCHNEE, so wird man zugeben müssen, Altschnee (Firn) von Neuschnee zwar unterscheiden zu können, aber das Wort nicht unbedingt im aktiven Wortschatz zu haben, wenn man nicht öfter in verschneiten Gegenden wandern war oder dort wohnte oder aktuell wohnt. Das Verfügen über dieses Vokabular geht mit größerem Wissen über diese Phänomene einher, das sich in diesem Fall besonders deutlich aus einer Relevanz für den Alltag oder Freizeitsport herleitet. Die Umwelt, in der sich Sprecher aufhalten, verlangt eine entsprechende kognitive Auseinandersetzung mit ihr, die in entsprechendem gesammeltem kulturellem Wissen und den dazugehörigen Lexemen resultiert. Sprachen werden also selten über ein ausdifferenziertes Vokabular verfügen, wenn dieses nicht auch irgendeine Relevanz besitzt. Andersherum ist eine Relevanz eines Umweltphänomens (etwa von Schnee) kein zwingender Grund, ein ausdifferenziertes Vokabular zu entwickeln. In Westgrönland sind Schnee und Eis und entsprechend damit verbundene Wetterphänomene ebenso alltäglich wie in den traditionellen Siedlungsräumen der Yupik-Sprecher. Ein ebenso differenziertes Vokabular hat sich aber nicht entwickelt. Ein beeindruckendes Beispiel für den Zusammenhang zwischen Expertenwissen und Vokabular ist die Dokumentation des Wissens über Schnee und Eis des pitesamischen Rentierjägers Johan Rassa (*1921) durch den Ethnologen Yngve Ryd (1952-2012), die 2001 unter dem Titel Snö erschien. Auch über die samischen Sprachen hält sich die Meinung, viele Wörter für SCHNEE zu haben. Viel interessanter als eine schlichte Anzahl an Wörtern ist jedoch der Zusammenhang zwischen Wissen und Vokabular. Über Schnee im Winter heißt es etwa: Lättaste tänkbara nysnö kallas habllek (n.). Flingorna är stora och viktlösa, ibland vill de nästan inte fall ner utan mer svävar och blir kvar i luften. [...] Habllek är farlig snö för djur om den ligger ovanpå annan tjock mjuk snö. Då en ren springer så yr habllek och dras in i näsan och lungorna. Renen kan kvävas, det heter snäráskuvvat (v). [...] Slievar (n) är ungefär lika lätt som habllek. Men ordet habllek används mest när snön faller och strax efteråt, senare talar man mer om slievar. Lössnö som skidorna sjunker djupt i kallas slievar, inte habllek. För att få vatten tinar man gammal tung snö som finns nära marken. Men ibland på höstvintern kanske det inte finns just någon annan snö än slievar. Om man fyller en panna med den snön och låter den tina blir det nästan inget vatten, bara några droppar. Slievar är mest luft. Der leichteste Neuschnee, den man sich vorstellen kann, heißt habllek (n.). Die Flocken sind groß und wiegen nichts. Zuweilen wollen sie nicht so richtig herunterfallen, sondern schweben eher und bleiben in der Luft. […] Habllek ist Schnee, der für Tiere gefährlich ist, wenn er auf anderem, dicken und feuchten Schnee liegt. Wenn ein Ren dann darin rennt, wirbelt der habllek auf kein Zwang zur Ausdifferenzierung 89 Sprachliches Relativitätsprinzip und wird in die Nase und die Lunge eingeatmet. Das Ren kann daran ersticken, was dann snäráskuvvat (v) heißt. […] Slievar (n) ist ungefähr genauso leicht wie habllek. Aber das Wort habllek wird in der Regel nur gebraucht, während der Schnee noch fällt oder kurz danach. Später spricht man eher von slievar. Pulverschnee, in den die Schier tief einsinken, nennt man slievar, nicht habllek. Um Wasser zu gewinnen, schmilzt man alten, schweren Schnee, den man nahe am Boden findet. Während des frühen Winters findet man aber manchmal keinen anderen Schnee als slievar. Wenn man mit diesem Schnee eine Pfanne füllt und ihn schmelzen lässt, erhält man daraus kaum Wasser, nur ein paar Tropfen. Slievar besteht fast nur aus Luft. (Rassa/ Ryd 2007, 74- 75; Hervorhebungen im Original; eigene Übersetzung) Zum Weiterlesen Allgemeine Einführungen in die Semantik sind Löbner (2003) und Schwarz- Friesel/ Chur (2007). Löbner (2003) ist sehr umfangreich und kann auch gut zur Vertiefung bestimmter Teilbereiche der Semantik genutzt werden. Eine eigenständige Einführung in die Prototypensemantik bietet Kleiber (1998). Eine ausführliche Behandlung des sprachlichen Relativitätsprinzips und seiner Forschungsgeschichte bietet Werlen (2002). Everett (2013) präsentiert Auswertungen des jeweils aktuellen Forschungsstands zu den verschiedenen Problemfeldern, in denen sprachliche Relativität untersucht wird, wie etwa Farben, Gender und Raum. Everett, Caleb (Hg.) (2013): Linguistic Relativity. Berlin u.a.: de Gruyter (Applications of cognitive linguistics, 25). Kleiber, Georges (1998): Prototypensemantik. 2., überarbeitete Auflage. Tübingen: Narr. Löbner, Sebastian (2003): Semantik. Berlin u.a.: de Gruyter. Schwarz-Friesel, Monika/ Chur, Jeannette (2007): Semantik. 5. Auflage. Tübingen: Narr. Werlen, Iwar (2002): Sprachliche Relativität. Tübingen u.a.: Francke etc. Übungen Dieses Kapitel hat die wesentlichen Termini zur Beschreibung Bedeutungen und Bedeutungsrelationen vermittelt. Mit diesen Termini kannst Du nun Wortbedeutungen genauer beschreiben und Analysen von Wortbedeutungen in sprachwissenschaftlicher Fachliteratur verstehen. Mit den folgenden Aufgaben kannst Du Dein passives und aktives Verständnis dieser Termini überprüfen und weiter üben. Für einige der Aufgaben wird dabei je nach Sprachkenntnis ein einsprachiges Wörterbuch der jeweiligen Sprache benötigt. 1) Ordne die Wörter in den Beispielen in (21) und (22) nach Ober- und Unterbegriffen und kennzeichne die folgenden Relationen durch Pfeile: Hyponym, Hyperonym und Ko-Hyponym. Semantik 90 2) Führe eine Merkmalsanalyse für das Wortfeld zum Noem Bos taurus durch für eine skandinavische Sprache deiner Wahl. Liste dazu alle Wörter, die in der gewählten Sprache für dieses Wortfeld existieren, auf und vergleiche ihre Bedeutungen. 3) Erstelle eine Wortfeldanalyse zu no. elv, bekk und dam mit semantischen Merkmalen und semantischen Dimensionen analog zu Tabelle 7. 4) In welcher semantischen Relation stehen folgende Wortpaare zueinander? a) da. varm vs. kold - b) no. fange vs. vakt - c) se. hoppa vs. skutta - d) is. kúgast vs. gleypa - e) no. sorg vs. følelse 5) Inwiefern sind folgende zwei Wörter partiell synonym: da. gris vs. da. svin? 5 Morphologie Stichwörter • Wort Lexem vs. Wortform - orthographisches vs. syntaktisches vs. phonologisches Wort • Morphem lexikalisches vs. grammatisches Morphem - freies vs. gebundenes Morphem - Affix - allomorphe vs. homonyme Morphe • Morphologische Kategorien Kasus - Numerus - Genus - Person - Tempus - Modus • Wortbildung - Derivation Präfixvs. Suffixvs. Zirkumfix-Ableitung - Affixoid - Komposition Determinativvs. Kopulativ-Kompositum - Konversion - Kurzwortbildung - Produktivität 5.1 Gegenstand und Teilbereiche In den vorangegangen beiden Kapiteln haben wir uns mit einzelnen Sprachlauten beschäftigt und diese von unterschiedlichen Seiten beleuchtet. Während die Phonetik sprachliche Laute aus einer physiologischen (und in unserm Fall vor allem artikulatorischen) Perspektive untersucht, interessiert sich die Phonologie für die Stellung von Lauten im Sprachsystem. Dabei wurden unter anderem die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten - Phoneme - identifiziert. Wenn Sprecherinnen und Hörerinnen sprachlich miteinander kommunizieren, ist es natürlich so, dass sie nicht in einzelnen Lauten, wie z.B. [a] oder [t], sprechen, sondern sich größerer Einheiten bedienen, mithilfe derer Bedeutung transportiert und eine bestimmte Aussage gemacht werden soll. Wie im Kapitel zur Semiotik erläutert, können Sprachen als ein System aus Zeichen angesehen werden, also als ein System aus bedeutungstragenden Einheiten. In diesem Kapitel geht es daher nicht mehr allein um bedeutungsunterscheidende sprachliche Einheiten wie in der Phonologie, sondern um bedeutungstragende Einheiten und damit um Zeichen. Denkt man an sprachliche Einheiten, die eine Bedeutung tragen, fällt einem wahrscheinlich zuerst die Kategorie „Wort“ ein. Worte haben eine Bedeutung - das scheint intuitiv einleuchtend zu sein: „Das Wort Baum bezeichnet einen Baum. Das Wort Hund bezeichnet einen Hund.“ Doch ist es nicht ganz so einfach. Zum einen ließe sich fragen, was es eigentlich heißt, wenn Wörter eine „Bedeutung“ haben und welche Arten von Bedeutung Gegenstand die sprachwissenschaftliche Kategorie „Wort“ Morphologie 92 Wörter haben können. Diese Fragen fallen in den Teilbereich der Semantik, der im vorangegangenen Kapitel behandelt wurde. Zum anderen ist die Kategorie „Wort“ längst nicht so leicht zu definieren, wie man denkt. Wo lassen sich z.B. die Grenzen ziehen zwischen verschiedenen Wörtern: Wenn da. hund ‘Hund’ ein Wort ist, ist dann der Plural hunde ‘Hunde’ ein anderes Wort, oder immer noch das gleiche? Und inwiefern ist die Kategorie „Wort“ sprachabhängig: Wenn im Deutschen die Phrase der Hund zwei Worte sind, ist dann im Dänischen hunden ‘der Hund’ mit suffigiertem bestimmen Artikel nur ein Wort? Und welchen Status hat dann das „angehängte“ -en? Solche und andere Fragen zu untersuchen, ist Aufgabe des sprachwissenschaftlichen Teilbereichs der Morphologie. Die Morphologie analysiert den Aufbau und die Struktur von Wörtern. In diesem Kapitel werden wir uns mit dieser Teildisziplin der Sprachwissenschaft beschäftigen. Zuerst wenden wir uns dabei wieder der Kategorie des Wortes zu und werden sie von verschiedenen Blickwinkeln aus definieren. Dann werden wir sehen, wie sich Wörter in noch kleinere Bestandteile, sogenannte Morpheme, zerlegen lassen und welche Arten von Morphemen es gibt. Im darauffolgenden Abschnitt werden grammatische Kategorien eingeführt, die durch sogenannte grammatische Morpheme ausgedrückt werden können. Damit wurde dann der erste Teilbereich der Morphologie behandelt, die Flexion einfacher Wörter. Der andere Teilbereich ist die Wortbildung, also die Bildung komplexer Wörter, auf den danach eingegangen wird. Abschließend wird kurz ein neuerer Ansatz in der Morphologie vorgestellt, die konstruktionsbasierte Morphologie. 5.2 Die Kategorie „Wort“ Die Kategorie „Wort“ ist, wie oben bereits angedeutet, nicht einfach zu definieren. Dies liegt zunächst einmal daran, dass es sich um einen Begriff handelt, den es zuallererst in der Alltagssprache gibt und der dann in die Sprachwissenschaftliche Terminologie aufgenommen wurde. Auf sprachwissenschaftlicher Ebene zeigt sich, dass die Kategorie „Wort“ eigentlich eine Reihe von miteinander verbundenen Kategorien bezeichnet. Diese Kategorien werden hier der Reihe nach vorgestellt. Dabei handelt es sich um • Lexem, • Wortform, • orthographisches Wort, • syntaktisches Wort, • phonologisches Wort. Bleiben wir zunächst beim bereits in der Einleitung erwähnten Beispiel: Dänisch hund und hunde. Diese beiden Wörter sind intuitiv sowohl „ein und dasselbe Wort“ als auch „zwei verschiedene Wörter“. Sprachwissenschaftlich gesehen könnte man sagen, dass beide Klassifizierungen richtig sind, es kommt nur darauf an, welche Abstraktionsstufe man anlegt. Auf einer abstrakten Ebene gehören die Formen hund und hunde zum gleichen Wort. Sie bezeichnen das gleiche Bezeichnete ‘Hund’ und haben Teilbereiche Lexem vs. Wortform 93 Die Kategorie „Wort“ auch in der Form Gemeinsamkeiten (dazu später mehr). Dieses abstrakte Wort, zu dem die beiden Formen gehören, wird Lexem genannt. Ein Lexem hat nun auf einer konkreteren Ebene eine oder mehrere Realisierungsformen, die sogenannten Wortformen. Dänisch hund und hunde sind also verschiedene Wortformen desselben Lexems hund. In der Sprachwissenschaft wird allgemein davon ausgegangen, dass Lexeme und eventuell auch Wortformen im mentalen Lexikon gespeichert sind. Das ist der Teil des Langzeitgedächtnisses, in dem deklaratives sprachliches Wissen gespeichert wird. Das Verhältnis von Lexem und Wortform kann in Analogie zu dem der Kategorien Phonem und Allophon auf Lautebene (siehe Kapitel 3) gesehen werden: Das Phonem ist die abstrakte Laut-Einheit. Diese hat auf einer semiabstrakten Ebene eine oder mehrere Realisierungsformen, die sogenannten Allophone. Für die Unterscheidung zwischen Lexemen und Wortformen existieren jedoch im Gegensatz zu Phonemen und Allophonen keine festen Notations-Konventionen. Im Folgenden wird, wie auch in den obigen Beispielen, in der Notation nicht zwischen Lexemen und Wortformen unterschieden; beide werden kursiv gesetzt. Abbildung 16: Das Verhältnis von Lexem zu Wortformen Eine andere Möglichkeit, die Kategorie „Wort“ zu erschließen, ist, nicht verschiedene Abstraktionsstufen anzunehmen, sondern sich ihr von verschiedenen sprachlichen Ebenen zu nähern. In der Alltagssprache wird die Kategorie „Wort“ oft anhand der schriftlichen Erscheinungsform definiert. Ein orthographisches Wort ist demnach eine schriftliche Einheit, die zwischen zwei Leerzeichen, (Spatien, Sg. Spatium), erscheint. Dieser Definition zufolge wären hund und hunde zwei verschiedene orthographische Wörter. Diese Kategorisierung ist nur schwer von der schriftlichen Ebene der geschriebenen Sprache auf die lautliche Ebene der gesprochenen Sprache zu übertragen. Man könnte meinen, dass den Spatien in der Schrift in der lautlichen Realisierung Pausen entsprächen. Es ist jedoch keineswegs so, dass in der gesprochenen Sprache nach jedem Wort eine Pause gemacht wird. Dies würde im Gegenteil sogar äußerst unnatürlich klingen. Dennoch wird auf lautlicher Ebene die Kategorie des phonologischen Wortes angenommen. Dieses ist definiert als eine sprachliche Einheit, die nach den Regeln der jeweiligen Sprache auch als eine lautliche Einheit fungiert. Hund und hunde sind demnach jeweils zwei verschieden phonologische Wörter. Der Terminus „phonologisches Wort“ ist jedoch doppeldeutig, da er innerhalb der Phono- orthographisches Wort phonologisches Wort Morphologie 94 logie anders definiert wird als innerhalb der Morphologie, und sollte daher nur mit Vorsicht gebraucht werden. Auch aus der Perspektive der Syntax lässt sich die Kategorie „Wort“ definieren. Ein solches syntaktisches Wort ist eine morphologische Form, an die alle minimal notwendigen und vom syntaktischen Kontext geforderten Endungen (z.B. richtiger Fall, richtige Zeit) angefügt sind. Das syntaktische Wort entspricht damit ungefähr der Definition von Wortform, die oben gegeben wurde. Einzig die Bezugnahme auf den syntaktischen Kontext unterscheidet das syntaktische Wort von der Wortform. Im Unterschied zum phonologischen und orthographischen Wort ist das Medium der Realisierung, also Schrift vs. Sprache, in der Definition nicht festgelegt. Syntaktische Wörter kann es sowohl in der gesprochenen wie in der geschriebenen Sprache geben. Fassen wir also zusammen: Ein Lexem ist eine abstrakte Wort-Einheit im sprachlichen System. Dieses abstrakte Wort hat wiederum verschiedene Realisierungsmöglichkeiten, die sogenannten Wortformen. Anderen Perspektiven nach lassen sich orthographische, phonologische und syntaktische Wörter unterscheiden, die ebenfalls Realisierungsformen eines Lexems darstellen. 5.3 Morpheme Wörter (Lexeme wie Wortformen) sind bedeutungstragende Einheiten, das heißt sie haben eine Inhalts- und eine Ausdrucksseite. Damit handelt es sich bei Wörtern um sprachliche Zeichen (siehe das Kapitel zur Semiotik). Wörter sind jedoch keineswegs die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten des Sprachsystems, sondern sie lassen sich weiter unterteilen und segmentieren in noch kleinere Einheiten. Analog zur Phonologie, wo wir die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten identifiziert haben, sollen hier nun in der Morphologie die einer Sprache bestimmt werden. Schauen wir uns dazu die folgenden schwedischen Wortformen an: (1) se. häst ‘Pferd’; (2) se. hästar ‘Pferde’. Semantisch wie formal haben die beiden Wortformen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Beiden ist auf der formalen Ebene der Bestandteil hästzu Eigen. Auf der semantischen Ebene bezeichnen beide Wortformen ein bestimmtes vierfüßiges Reittier. Formal unterscheiden sich die Formen in den zwei Phonemen / ar/ , die in der Form hästar präsent sind, in der Form häst jedoch nicht. Semantisch bezeichnet häst nur ein Exemplar der Reittiergattung, während hästar mehrere Exemplare bezeichnet oder die Gattung an sich. Es liegt nun nahe, dass die auf die zurückzuführen sind und umgekehrt die Unterschiede in der Semantik auf die Unterschiede in der Form. Daran anknüpfend können wir die Form hästar in zwei Bestandteile unterteilen, zum Einen hästmit der Bedeutung ‘Pferd’, also der Bedeutungskomponente, die beiden Formen gemeinsam ist, und zum Anderen -ar mit der Bedeutung oder Funksyntaktisches Wort kleinste bedeutungstragende Einheiten kleinsten bedeutungstragenden Einheiten Form und Bedeutung Gemeinsamkeiten in der Semantik Gemeinsamkeiten in der Form 95 Morpheme tion ‘P LURAL ( BEI S UBSTANTIVEN )’, also der Bedeutungskomponente, anhand derer beide Formen sich unterscheiden. Damit haben wir die Wortform hästar in noch kleinere Bestandteile segmentiert, die jeweils eine eigene Bedeutung haben. Bei diesen kleineren Einheiten handelt es sich um Morphem kleins ten Zeichen einer Sprache e. Morpheme sind die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache. Damit sind sie auch die - , denn Zeichen sind ja, wie im Kapitel zur Semiotik dargelegt wurde, Einheiten mit einer Ausdrucksseite und einer Inhaltsseite. Die folgende Graphik zeigt die beiden Morpheme, die in der Wortform hästar enthalten sind: Abbildung 17: Morpheme der Wortform se. hästar Morpheme werden im Weiteren in geschweiften Klammern notiert. Die Wortform hästar besteht also aus den beiden Morphemen {häst} und {-ar}. Wichtig ist hierbei, dass in den geschweiften Klammern zwar nur die formale Seite notiert wird, die Inhaltsseite aber immer auch mitgemeint ist, da es sich ja bei Morphemen um sprachliche Zeichen mit Ausdrucks- und Inhaltsseite handelt. Wir haben der Form -ar die Bedeutung ‘P LURAL ( BEI S UBSTANTIVEN )’ zugeordnet. Es gibt jedoch im Schwedischen noch andere Endungen an Substantiven, die ebenfalls die Bedeutung oder Funktion ‘P LURAL ’ haben. Betrachten wir dazu folgende schwedischen Beispiele, die jeweils eine Singular-Form und eine Plural-Form einander gegenüberstellen: (3) se. häst, hästar ‘Pferd, Pferd-P LURAL ’; (4) se. cigarett, cigaretter ‘Zigarette, Zigarette-P LURAL ’; (5) se. flaska, flaskor ‘Flasche, Flasche-P LURAL ’. Anhand der Beispiele zeigt sich, dass es im Schwedischen (vereinfacht gesagt) drei Endungen gibt, die alle an Substantiven den Plural markieren: -ar, -er, -or. Da diese Einheiten alle dieselbe Bedeutung haben, nämlich P LURAL ( AN S UBSTANTIVEN ), aber eine unterschiedliche Ausdrucksseite, werden sie als Allomorphe eines Morphems kategorisiert. Allomorphe sind unterschiedliche Realisierungsvarianten ein und desselben Morphems. Diese Definition läuft analog zu Allophonen, die unterschiedliche Realisierungsvarianten kleinste Zeichen Allomorphe Morphologie 96 eines Phonems sind. Das Morphem {P LURAL ( AN S UBSTANTIVEN )} hat somit drei unterschiedliche Allomorphe. Das Morphem {häst} hat hingegen nur eine Realisierungsvariante, also nur ein Allomorph, nämlich häst. Auch im Deutschen hat das Plural-Morphem bei Substantiven mehrere verschiedene Allomorphe, darunter -er (Kind-er), -en (Frau-en) und -s (Kino-s), um nur einige zu nennen. Neben dem Fall, dass Wortbestandteile eine sehr unterschiedliche Form haben, aber Allomorphe eines Morphems sind, gibt es auch den genau umgekehrten Fall. Die schwedische ar-Endung wurde im obigen Beispiel als Allomorph des Morphems mit der Bedeutung ‘P LURAL ( AN S UBSTANTIVEN )’ analysiert. Im Schwedischen gibt es nun allerdings auch an Verben eine ar- Endung, wie an den folgenden Beispielen zu sehen ist: (6) se. kast-ar ‘werfen-P RÄSENS ’; (7) se. hopp-ar ‘hüpfen-P RÄSENS ’. Diese Endung ist von der Ausdrucksseite her identisch mit dem Plural- Allomorph {-ar}, bestehen doch beide aus der Phonem-Sequenz / ar/ . Die ar- Endung an Verben hat aber eine gänzlich andere Funktion - sie zeigt an, dass die Verbform flektiert ist und im Präsens steht. Bei den beiden ar- Endungen handelt es sich daher um homonyme Morphe. Homonyme Morphe haben die gleiche Form, aber eine unterschiedliche Bedeutung. Sie gehören daher zu unterschiedlichen Morphemen und haben nur die gleiche Ausdrucksseite. Im Gegensatz dazu haben Allomorphe eine unterschiedliche Ausdrucksseite, aber die gleiche Bedeutung und gehören daher zum selben Morphem. Die folgende Graphik verdeutlicht den Unterschied zwischen Allomorphen und homonymen Morphen: Abbildung 18: Allomorphe vs. homonyme Morphe homonyme Morphe 97 Morpheme Morpheme lassen sich sowohl nach formalen als auch nach semantischen Kriterien in verschiedene Typen unterteilen. Mit formalen Kriterien sind Kriterien gemeint, die sich auf die Ausdrucksseite beziehen, mit semantischen Kriterien solche, die sich auf die Inhaltsseite beziehen. Nach formalen Kriterien lassen sich freie und gebundene Morpheme unterscheiden. Nach semantischen Kriterien lexikalische und grammatikalische Morpheme. Freie Morpheme können in einer Sprache alleine auftreten, ohne dass noch weitere Morpheme angefügt werden müssen. Freie Morpheme werden daher auch wortfähige Morpheme genannt, da sie ohne Zusätze als Wortform erscheinen können. Das Morphem {häst} aus dem eingangs erwähnten Beispiel ist im Schwedischen ein freies Morphem, da es alleine erscheinen kann, ohne dass es noch weitere Morpheme benötigt. Dass das Morphem wortfähig ist, heißt nicht, dass nicht noch optional weitere Morpheme hinzutreten können. Dies ist bei der Form hästar der Fall, wo das freie Morphem {häst} noch um das gebundene Morphem -ar ergänzt wird. Ähnlich ist es beispielsweise beim deutschen Morphem {fest}. Dieses ist frei und wortfähig, da es alleine eine Wortform bilden kann. Es kann jedoch mit gebundenen Morphemen zusammen Wortformen bilden, wie etwa die Wortformen fest-er oder fest-es. Morpheme lassen sich auch nach semantischen Kriterien weiter unterteilen. Hier unterscheidet man zwischen lexikalischen Morphemen und grammatischen Morphemen. Lexikalische Morpheme sind solche, deren Bedeutung auf Begriffe und nicht auf grammatische Kategorien verweist. Das ist bei Morphemen wie dt. {baum}, no. {høst} ‘Herbst’ oder fo. {barn} ‘Kind’ der Fall. Wenn bei lexikalischen Morphemen die Allomorphe keinerlei Ähnlichkeit in der Form mehr aufweisen, spricht man von Suppletion oder Suppletivismus. Dies ist besonders häufig der Fall bei hochfrequenten Wörtern wie den Basisverben sein oder haben, deren Wortformen entweder schon historisch auf verschiedenen Stämmen basieren, oder deren einzelne Formen so unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen haben, dass sie synchron einander kaum noch ähnlich sind. Tabelle 8 gibt einen Überblick über alle Wortformen des isländischen Verbs eiga ‘haben; besitzen’ im Präsens Indikativ. Singular Plural 1. Person á eig-um 2. Person á-tt eig-ið 3. Person á eig-a Tabelle 8: Paradigma des Verbs is. eiga ‘haben, besitzen’ im Präsens Indikativ Wie in der Tabelle zu sehen ist, variiert der Verbstamm, also das Grundmorphem des Verbs, stark zwischen Singular und Plural: zum einen á-, zum anderen eig-. Noch stärker ist die Variation beispielsweise beim deutschen Verb sein, wo der Verbstamm unter anderem biwie in (du) bi-st oder weswie in ge-wes-en ist. Grammatische Morpheme hingegen verweisen nicht auf einen Begriff, sondern eine grammatische Kategorie, die oftmals nur dazu dient, Bezüge Typen von Morphemen freie vs. gebundene Morpheme lexikalische Morpheme Suppletion grammatische Morpheme Morphologie 98 zwischen Wortformen im Satzzusammenhang anzuzeigen. Ein Kasus- Morphem stellt lediglich einen Bezug her zwischen einem Verb, das einen bestimmten Kasus verlangt, und einem Substantiv, das als Subjekt oder Objekt des Verbs fungiert. Beispiele für grammatische Morpheme sind das schon mehrfach erwähnte schwedische {-ar ‘P LURAL ( AN S UBSTANTIVEN )’}, dt. {-st ‘2. P ERSON S INGULAR P RÄSENS ’} wie in dt. (du) geh-st oder is. {-um ‘D ATIV P LURAL ’} wie in falleg-um ‘schön-D ATIV .P LURAL ’. Notationskonventionen Bei der morphologischen Glossierung, also der Morphem-für-Morphem- Übersetzung, gelten bestimmte Konventionen. Die Grenzen zwischen zwei Morphemen werden im Beispiel wie in der Glossierung mit einem Bindestrich (-) markiert. Hat ein Morphem gleichzeitig mehrere Bedeutungen oder Funktionen, wird zwischen diese Funktionen in der Glossierung ein Punkt (.) gesetzt. Gebunden grammatische Morpheme, wie die oben gerade angeführten, werden Affix genannt. Affixe können wiederum danach klassifiziert werden, an welcher Position sie im Verhältnis zum lexikalischen Grundmorphem im Wort auftreten. Affixe, die auf das Grundmorphem folgen, werden Suffixe genannt, solche, die vor dem Grundmorphem stehen, Präfixe. In einigen Sprachen gibt es auch Zirkumfixe, die das Grundmorphem umschließen, und Interfixe die innerhalb eines Grundmorphems auftreten oder bei zusammengesetzten Wörtern zwischen lexkalischen Morphemen stehen. Die folgende (nicht erschopfende) Tabelle zeigt Beispiele für Präfixe und Suffixe und ihre Kombinationsmöglichkeiten im Deutschen und den skandinavischen Sprachen. Unter Stamm wird dabei das lexikalische Hauptmorphem eines Wortes verstanden. Sprache Präfix Präfix Stamm Suffix Suffix no. dum- -het da. u- -ro dt. Be- -setzung dt. verun- -treu- -en se. dag- -lig- -a Tabelle 9: Beispiele für Präfixe und Suffixe In der Tabelle wird nicht zwischen Wortbildungs- und Flexionsaffixen unterschieden. Auf diese Differenzierung wird später in diesem Kapitel eingegangen. Man könnte nun annehmen, dass es sich bei grammatischen Morphemen immer um gebundene und bei lexikalischen Morphemen immer um freie Morpheme handelt. Dem ist allerdings nicht so. So findet sich im Deutschen eine Vielzahl an Beispielen für gebundene lexikalische Morpheme, etwa bei Affixe 99 Morpheme Wörtern, die ihren Plural mit einer Endung und einem Umlaut im Stamm bilden: (8) dt. Gast, Gäst-e; (9) dt. Hut, Hüt-e; {Gast} und {Gäst-} haben beide dieselbe lexikalische Bedeutung und sind Allomorphe ein und desselben Morphems. {Gäst-} ist jedoch gebunden lexikalisch, da es alleine keine Wortform bilden kann, sondern immer ein ergänzendes Affix benötigt. Das Gleiche gilt für das Morphem {Hüt-}. Auch bei Verbwurzeln im Deutschen wie geh-, interview-, besitz- oder stellgreift dieses Kriterium für gebundene lexikalische Morpheme. Der Wortstamm gangim Infinitiv des isländischen Verbs ganga ‘gehen-I NFINITIV ’ ist ein weiteres Beispiel für ein gebunden lexikalisches Morphem, da der Stamm nicht alleine vorkommt, außer mit weiteren angefügten grammatischen Morphemen. Neben gebundenen lexikalischen Morphemen finden sich auch freie grammatische Morpheme. Dazu gehören unter anderem Konjunktionen wie dt. {und}, Präpositionen wie fo. {fyri} ‘für, vor’ oder Pronomen wie da. {han} ‘er’. Diese Morpheme können selbstständig auftreten und sind wortfähig. Sie verweisen jedoch auf grammatische Kategorien, nicht auf Begriffe. So verweisen Pronomen wie {han} auf eine schon vorher im Diskurs aufgetretene sprachliche Einheit, wie in diesem Fall ein maskulines Nomen. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten von freien, gebundenen, lexikalischen und grammatischen Morphemen: lexikalisch grammatisch frei dt. {haus} da. {mand} no. {høst} dt. {und} no. {han} se. {om} gebunden dt. {gäst-} is. {gang-} fo. {meg-} dt. {-en} se. {-ar} fo. {-st} Tabelle 10: Typen von Morphemen In diesem Abschnitt haben wir die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache identifiziert, die Morpheme. Die Realisierungsvarianten von Morphemen werden Allomorphe genannt. Morpheme lassen sich des Weiteren nach einem formalen Kriterium in freie und gebundene und nach einem semantischen Kriterium in lexikalische und grammatische Morpheme unterteilen. Gebunden grammatische Morpheme werden Affixe genannt. Der Bedeutung von Affixen werden wir uns nun im nächsten Abschnitt etwas genauer widmen. Zusammenfassung Morphologie 100 5.4 Flexion und grammatische Kategorien Im vorherigen Abschnitt haben wir gesehen, dass Morpheme unter anderem dahingehend klassifiziert werden können, ob sie eine lexikalische Bedeutung oder eine grammatische Funktion haben. In Bezug auf Kasusmarkierung an Substantiven wurde schon ersichtlich, dass es oft nicht einfach ist, die grammatische Bedeutung eines Morphems genau zu bestimmen. In diesem Abschnitt werden wir uns die Bedeutung von grammatischen Morphemen genauer anzuschauen. Dazu werden einige der grammatischen Kategorien eingeführt, die bei grammatischen Morphemen eine Rolle spielen, und wir werden uns anzuschauen, wie diese mit Morphemen ausgedrückt (realisiert) werden. Dabei liegt der Fokus auf solchen Kategorien, die in den skandinavischen und übrigen germanischen Sprachen durch Affixe, also gebunden grammatische Morpheme, ausgedrückt werden können. Wie wir sehen werden, handelt es sich dabei vor allem um Suffixe, also Affixe, die auf das lexikalische Grundmorphem folgen. Die hier beschriebenen Affixe sind allesamt Flexionsaffixe. Unter Flexion versteht man die verschiedenen Wortformen eines Lexems. Auf Affixe, die verwendet werden, um neue Lexeme zu bilden, wird im Abschnitt zur Wortbildung eingegangen. In den europäischen Sprachen ist es meistens der Fall, dass Affixe nicht nur eine Funktion ausdrücken, sondern mehrere zugleich. So kann das Suffix an einem Nomen sowohl den Kasus (Fall) als auch den Numerus anzeigen. Sprachen, in denen Affixe mehrere Bedeutungen gleichzeitig ausdrücken, heißen flektierende Sprachen (en. inflecting oder fusional). Dazu gehören wie erwähnt, unter anderem die europäischen Sprachen indogermanischen Ursprungs wie Deutsch, Spanisch oder die skandinavischen Sprachen. Sprachen, in denen Affixe immer nur genau eine Funktion ausdrücken, heißen agglutinierende Sprachen. Dazu gehören unter anderem das Finnische, Samische, Estnische und Türkische. In den folgenden Beispielen werden der besseren Verständlichkeit wegen zumeist Wortformen verwendet, in denen die relevanten Affixe nur eine oder möglichst wenige Funktionen ausdrücken. 5.4.1 Nominale Kategorien Welche grammatischen Kategorien bei der Flexion eines Lexems durch grammatische Morpheme markiert werden, hängt davon ab, welcher Wortart das Lexem angehört. Bei Nomina, das heißt bei Substantiven und Adjektiven und z.T. auch bei Pronomina, werden in den skandinavischen Sprachen allgemein folgende Kategorien durch morphologische Mittel, meist Affixe, ausgedrückt: • Kasus, • Numerus, • Genus, • Definitheit (Bestimmtheit), • Grad (Steigerung von Adjektiven). Flexion flektierende vs. agglutinierende Sprachen 101 Flexion und grammatische Kategorien Die Kategorie Kasus (Pl. Kasus, mit langem [uː]) ist aus dem Deutschen bekannt und auch für die inselskandinavischen Sprachen Isländisch und Färöisch relevant. In den festlandskandinavischen Sprachen wird Kasus nur im Älvdalischen im schwedischen Dalarna und marginal in einigen norwegischen Dialekten (Dativ-Reste) ausgedrückt. In den germanischen Sprachen hat die Kategorie Kasus bis zu vier Ausprägungen: Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ. Die finnougrischen Sprachen wie Finnisch oder die samischen Sprachen kennen darüber hinaus noch wesentlich mehr Kasus, die ebenfalls über Suffixe am Nomen markiert werden. Das folgende Beispiel zeigt ein isländisches Wort, bei dem das Suffix {-ur} den Nominativ markiert: (10) is. hest-ur ‘Pferd-N OMINATIV ’. Auch andere Kasus können über Suffixe ausgedrückt werden. Die folgenden Beispiele zeigen ein isländisches und ein färingisches Wort, bei denen das Suffix {-i} jeweils den Dativ markiert: (11) is. hest-i ‚Pferd-D ATIV ’; (12) fo. hús-i ‘Haus-D ATIV ’. So einfach es ist (zumindest für Sprecherinnen des Deutschen) zu erkennen, dass ein Suffix einen bestimmten Kasus realisiert, so schwer ist es doch zumeist, genau zu sagen, worin die Bedeutung dieses Kasus oder sogar der Kategorie Kasus allgemein liegt, was also seine Funktion ist. Zum Teil ist es so, dass gewisse Verben oder Präpositionen einen bestimmten Kasus fordern, also ihr Objekt immer in einem bestimmten Kasus stehen muss. Da dieses Phänomen den Bereich der „reinen“ Morphologie überschreitet, wird auf die Bedeutung der Kategorie Kasus ausführlicher im nachfolgenden Kapitel zur Syntax eingegangen. Eine weitere Kategorie, die über Affixe an Nomen ausgedrückt werden kann, ist der Numerus. Beim Numerus wird gewöhnlich zwischen Singular und Plural unterschieden; im Altnordischen existierte noch ein Dual, der aber nur bei Pronomen relevant war (vgl. vér ‘wir’ vs. vit ‘wir beide’). In den folgenden Beispielen wird der Plural am Substantiv bzw. Adjektiv jeweils durch ein eigenes Suffix ausgedrückt: (13) da. hund-e ‘Hund-P LURAL ’; (14) se. stor-a flask-or ‘groß-P LURAL Flasche-P LURAL ’. Im dänischen Beispiel realisiert das Suffix {-e}, das an das lexikalische Morphem {hund} angefügt wird, die Bedeutung ‘P LURAL ’. Das schwedische Beispiel enthält Pluralsuffixe sowohl am Adjektiv als auch am Substantiv. Beim Adjektiv ist das Pluralsuffix {-a}, beim Substantiv ist es {-or}. Die Kategorie Genus (Pl. Genera) kann je nach Sprache unterschiedlich viele Ausprägungen haben. Manche Sprachen haben außer bei Pronomen gar keine Genus-Unterscheidung, z.B. das Englische. Andere unterscheiden zwischen zwei Genera, etwa Utrum und Neutrum im Schwedischen und Dänischen. Wieder andere Sprachen haben drei Genera wie Femininum, Maskulinum und Neutrum, wozu Deutsch und Isländisch zählen. Das Genus wird in den skandinavischen Sprachen am Substantiv zumeist nicht eigens mithilfe Kasus Numerus Genus Morphologie 102 eines Suffixes markiert. Das Genus eines Substantivs ist oft nur bedingt aus der Form des Wortes ablesbar. In allen skandinavischen Sprachen ist die Kategorie Genus jedoch insofern relevant, als dass das Genus eines Substantives die Form bestimmter anderer Morpheme bestimmt, die sich auf das Wort beziehen. Bei neutralen Substantiven muss ein Adjektiv, das sich auf dieses Substantiv bezieht, eine Neutrumform haben. Vergleiche dazu das folgende Beispiel: (15) no. et stor-t hus ‘ein groß-N EUTRUM Haus’. Das Wort hus ist im Norwegischen, wie in allen anderen skandinavischen Sprachen, ein Neutrum. Dies ist jedoch an der Form des Wortes selbst nicht zu erkennen. Das heißt, es hat keine eigene Neutrum-Endung. Das Adjektiv stort, das sich auf das Substantiv bezieht, muss jedoch das Suffix {-t} aufweisen, das anzeigt, dass es sich um eine Neutrum-Form handelt. Auch für die Realisierung einer weiteren morphologischen Kategorie ist das Genus eines Substantivs in den skandinavischen Sprachen relevant: die der Definitheit oder Bestimmtheit. Substantive können bestimmt oder unbestimmt sein. Dies wird im Deutschen nicht morphologisch über Affixe ausgedrückt, sondern über ein eigenes Wort, den bestimmten oder unbestimmten Artikel. Die skandinavischen Sprachen hingegen sind bekannt dafür, dass sie die Bestimmtheit eines Substantivs morphologisch über ein eigenes Suffix markieren, den sogenannten „suffigierten Artikel“: (16) fo. hús-ið ‘Haus-D EFINIT ’; (17) se. mann-en ‘Mann-D EFINIT ’. In dem obigen Beispiel zeigen die Suffixe {-ið} bzw. {-en} an, dass es sich um definite Substantive handelt. (Wie bereits erwähnt zeigen die Suffixe ebenfalls das Genus des Substantivs an. Auf dieses Phänomen wird weiter unten genauer eingegangen.) Bei Adjektiven kann zusätzlich zu den bisher angeführten grammatischen Kategorien noch der Grad morphologisch durch Suffixe ausgedrückt werden. Dieser Vorgang wird als Komparation bezeichnet. In den skandinavischen Sprachen, dem Deutschen und dem Englischen gibt es drei Steigerungsstufen: 1. Positiv, 2. Komparativ, 3. Superlativ. In den folgenden Beispielen wird der Komparativ morphologisch durch Suffixe markiert: (18) is. falleg-ri ‘schön-K OMPARATIV ’; (19) da. billig-ere ‘billig-K OMPARATIV ’. Beim isländischen Beispiel zeigt das Suffix {-ri} den Komparativ an. Die Form bedeutet also ‘schöner’. Im zweiten Beispiel ist es das grammatische Morphem {-ere}, das den Komparativ markiert. Definitheit Grad 103 Flexion und grammatische Kategorien 5.4.2 Verbale Kategorien Bei Verben werden zum Teil die gleichen grammatischen Kategorien ausgedrückt wie bei Nomina, zum Teil andere grammatische Kategorien. Die in den europäischen Sprachen am häufigsten anzutreffenden Kategorien sind die folgenden vier: • Person, • Numerus, • Tempus, • Modus. Auch diese Liste ist, wie auch die Auflistung der nominalen Kategorien, nicht für alle Sprachen der Welt erschöpfend, aber für die skandinavischen Sprachen, Deutsch und Englisch ausreichend. Die Kategorie der Person hat in den europäischen Sprachen zumeist drei mögliche Realisierungen: erste Person, zweite Person und dritte Person. Im Deutschen wird an Verben mit Hilfe von Suffixen unterschieden, welche Person die Wortform hat. Eine Ausnahme hierzu stellen lediglich Verben mit suppletiven Paradigmen dar, wie sie oben besprochen wurden, also im Deutschen das Verb sein. Bei Verben ohne Suppletion wird für die erste Person Singular das Suffix {-e} verwendet, wie in der Form dt. (ich) gehe. Bei der zweiten Person Singular hingegen wird das Suffix {-st} verwendet, wie in dt. (du) gehst. In den skandinavischen Sprachen wird die Kategorie Person bei Verben nur im Isländischen und Färöischen morphologisch markiert. Das gleiche gilt auch für die samischen Sprachen. (20) is. gekk-st ‘ging-2.S INGULAR ’; (21) sje. basa-v ‘waschen-1.S INGULAR ’. Beim isländischen Beispiel zeigt das Suffix {-st} an, dass es sich um die zweite Person (Singular) der Vergangenheit von ganga ‘gehen’ handelt (vgl. dt. (du) ging-st). Im (etwas vereinfacht dargestellten) Beispiel aus dem Pitesamischen zeigt das Affix {-v} an, dass es sich um die 1. Person Singular des Verbs bassat ‘waschen’ handelt. Das Tempus eines Verbs kann durch morphologische Mittel, also Affixe, markiert werden, aber auch durch syntaktische Mittel, also z.B. durch eigene Wörter oder Wortstellung. In den skandinavischen Sprachen wird vor allem bei der Markierung des Präteritums ein Suffix verwendet, wie die folgenden Beispiele zeigen: (22) fo. vís-t-i ‘zeigen-P RÄTERITUM -S INGULAR ’; (23) da. snakk-ed-e ‘sprechen-P RÄTERITUM - FLEKTIERT ’. Im ersten Beispiel hat das Suffix {-t-} die Bedeutung ‘Präteritum’, die Form vísti des Verbs vísa ‘zeigen’ wäre also mit ‘zeigte’ zu übersetzen. Bei der dänischen Form snakkede wird das Präteritum über das Suffix {-ed-} angezeigt; die Wortform ist also die einfache, d.h. nicht-zusammengesetzte Vergangenheitsform des Verbs snakke ‘sprechen’. Der Numerus eines Verbs hat im Isländischen, Färöischen und Deutschen zwei Ausprägungen: Singular und Plural. Im Festlandskandinavischen, also Person Tempus Numerus Morphologie 104 dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen, wird der Numerus bei Verben nicht morphologisch markiert. In den folgenden Beispielen aus dem Färöischen werden in der Vergangenheitsform des Verbs kalla ‘rufen’ Singular und Plural (zumindest in der Schrift) eindeutig durch das Suffix unterschieden: (24) fo. tala-ð-i ‘sprechen-P RÄTERITUM -S INGULAR ’=‘(ich/ du/ er/ sie/ es) sprach’; (25) fo. tala-ð-u ‘sprechen-P RÄTERITUM -P LURAL ’=‘(wir/ ihr/ sie) sprachen’. Das Suffix {-ð-} zeigt hier in der Schrift an, dass es sich um eine Vergangenheitsform handelt. Auf dieses Suffix folgt dann ein Suffix, das anzeigt, dass es sich um eine Singular-Form handelt {-i}, oder ein Suffix, das den Plural anzeigt {-u}. Eine Unterscheidung nach Person findet in den Beispielen nicht statt. Unter Modus (Pl. Modi) versteht man in den germanischen Sprachen die vier Ausprägungen • Infinitiv, • Indikativ, • Konjunktiv, • Imperativ. Der Modus eines Wortes kann durch Affixe ausgedrückt werden, in den germanischen Sprachen geschieht dies jedoch auch oft durch Hilfsverben. So wird im Deutschen der Konjunktiv II inzwischen mehrheitlich mit dem Hilfsverb werden realisiert (z.B. er würde kommen). Im Isländischen gibt es für den Konjunktiv I noch eigene Flexionsaffixe, so wie im folgenden Beispiel ersichtlich: (26) is. ég tal-a ‘ich sprechen-1.S INGULAR .P RÄSENS .I NDIKATIV ’; (27) is. (að) ég tal-i ‘(dass) ich sprechen-1.S INGULAR .P RÄSENS .K ONJUNKTIV ’. In der ersten Person Singular Präsens Indikativ ist das Suffix beim Verb tala ein -a, in der ersten Person Singular Präsens Konjunktiv ist die Endung hingegen -i. Das -i zeigt also in diesem Fall den Konjunktiv I an. In diesem Abschnitt ging es um die Bedeutung von gebunden grammatischen Morphemen (Affixen), im Besonderen von Suffixen. Es wurden Kategorien eingeführt, die in den germanischen Sprachen durch Suffixe ausgedrückt werden können. Für verschiedene Wortarten sind dabei unterschiedliche Kategorien relevant. Wie gezeigt wurde, haben in flektierenden Sprachen wie den skandinavischen Suffixe oft mehr als nur eine Funktion. So kann ein Verbalsuffix z.B. nicht nur die Person anzeigen, sondern auch das Numerus einer Verbform. Nicht alle Sprachen drücken darüber hinaus alle angeführten Kategorien durch Affixe aus. Im Gegensatz zu flektierenden Sprachen realisiert in agglutinierenden Sprachen jedes Affix nur eine grammatische Funktion. Modus Zusammenfassung 105 Wortbildung 5.5 Wortbildung Wie eingangs erwähnt, beschäftigt sich die Morphologie mit dem Aufbau und der Struktur von Wörtern. In den vorangegangenen Abschnitten haben wir uns mit der Struktur von simplen Wörtern befasst, also von Lexemen die nicht aus anderen Lexemen zusammengesetzt sind und auch nicht von einem anderen Lexem abgeleitet wurden. Kurz gesagt, wir haben uns mit Flexion befasst. Unter Flexion versteht man die verschiedenen Realisierungsformen ein und desselben Lexems. Der andere Teilbereich der Morphologie neben der Flexion ist die Wortbildung. Unter Wortbildung versteht man die Bildung neuer Lexeme aus bereits vorhandenem morphologischem Material, also mittels Morphemen, die in bereits in der Sprache existieren. Am deutlichsten ist das bei zusammengesetzten Wörtern wie Baumhaus (aus Baum und Haus). Aber auch beim Wort Bildung wird vorhandenes Material verwendet: das gebundene lexikalische Morphem {bild-} wie in bilden und das gebundene grammatikalische Morphem {-ung}. Wörter, die nicht das Ergebnis eines Wortbildungsprozesses sind, werden Simplizia (Sg. Simplex) genannt. Dazu gehört das dänische Wort hund. Aber auch der Plural hunde ist ein Simplex. Diese Form besteht zwar aus zwei Morphemen {hund} und {-e}, jedoch handelt es sich bei {-e} um ein Flexionsmorphem, das heißt, hunde ist immer noch eine Form des Lexems hund und kein neues Lexem. Wörter wie Baumhaus oder Bildung hingegen sind komplexe Wörter, da hier neue Lexeme aus vorhandenen Morphemen entstanden sind. Einer anderen Definition von Simplex und Komplex zufolge, die besonders im englischen Sprachraum verbreitet ist, sind Simplizia jedoch nur solche Wörter, die wirklich nur aus einem einzigen Morphem bestehen und komplexe Wörter solche, die aus mindestens zwei Morphemen bestehen, egal ob es sich dabei um grammatische oder lexikalische Morpheme handelt. Außer der Wortbildung gibt es noch zwei andere Wege, wie neue Wörter in eine Sprache gelangen können, die Wortschöpfung und die Entlehnung. Bei der Wortschöpfung werden neue Wörter mit Hilfe von völlig neuen Lautund/ oder Buchstabenkombinationen gebildet. Dies kommt z.B. in der Werbung oder Produktbenennung vor. So sind Markennamen wie Persil oder Twix Wortschöpfungen, da die Lautketten, aus denen die Wörter gebildet sind, vorher so nicht als Morpheme in der Sprache existiert haben. Bei der Entlehnung wird zwar genau wie bei der Wortbildung auf bereits vorhandenes sprachliches Material zurückgegriffen. Dieses stammt jedoch aus einer anderen Sprache. Im Deutschen werden heute viele Lexeme aus dem Englischen entlehnt wie Sale oder Service, aber auch ältere Wörter wie Fenster (la. fenestra) oder noch älter Ziegel (la. tegula) stellen ursprünglich Entlehnungen dar. Ähnlich basiert das schwedische Lexem fråga ‘fragen’ auf dem deutschen Lexem fragen und stellt somit eine Entlehnung dar. Zweifelsfälle zwischen Entlehnung und Wortbildung bieten Wörter, bei denen bereits entlehntes Material innerhalb der Entlehnersprache kreativ verwendet wird. So wird das Affixoid {-gate}, das aus dem Englischen stammt, im Deutschen inzwischen produktiv verwendet, um neue Wörter zu bilden (Dirndlgate, Handygate etc.). Affixoide werden weiter unten noch genauer besprochen. simple vs. komplexe Wörter Wortbildung vs. Wortschöpfung Wortbildung vs. Entlehnung Morphologie 106 Es werden vier Kategorien der Wortbildung unterschieden: 1. Komposition (Zusammensetzung), 2. Derivation (Ableitung), 3. Konversion, 4. Kurzwortbildung. Die wesentlichen Wortbildungskategorien sind die Komposition und die Derivation. Auf diese beiden Arten der Wortbildung wird im Folgenden näher eingegangen. 5.5.1 Komposition Bilden zwei lexikalische Morpheme zusammengefügt ein neues Wort, spricht man von Komposition. Betrachten wir dazu die folgenden Beispiele aus dem Deutschen und Isländischen: (28) dt. Baumhaus; (29) dt. Lernschwäche; (30) is. skattgreiðandi ‘Steuerzahler/ in’. Das Kompositum Baumhaus ist zusammengesetzt aus den lexikalischen Morphemen {baum} und {haus}. Beide Morpheme sind frei, da sie auch eigenständig Wortformen bilden: dt. Baum und dt. Haus. Dies muss jedoch nicht immer der Fall sein, etwa wenn ein Verbstamm das Erstglied eines Kompositums bildet. Das erste Morphem im Kompositum Lernschwäche ist das Morphem {lern-}. Dabei handelt es sich um ein lexikalisches Morphem, das (je nach Definition) nicht selbstständig vorkommt, also ein gebundenes Morphem ist. Der zweite Bestandteil des Lexems ist das Wort Schwäche. Dieses ist ein Derivat und damit ein komplexes Wort. Komposita können dementsprechend aus lexikalischen Morphemen und/ oder komplexen Wörtern bestehen. Ähnlich ist der Fall bei is. skattgreiðandi. Dieses Lexem besteht zum Einen aus dem lexikalischen Morphem {skatt-}, was den Stamm des Lexems skattur ‘Steuer(n)’ bildet. Der zweite Bestandteil des Lexems ist greiðandi ‘Zahler/ in’, was das Partizip Präsens des Verbs greiða ist (etwa: ‘Zahlende/ r)’. Bei skattgreiðandi handelt es sich auch um ein Kompositum, da es aus einem lexikalischen Morphem und einem in sich komplexen Wort besteht. Komposita können klassifiziert werden nach formalen und nach semantischen Kategorien. Semantisch werden Komposita dahingehend unterteilt, wie sich die einzelnen Bestandteile von der Bedeutung her zueinander verhalten. Man unterscheidet zwei Typen von Komposita: 1. Determinativkomposita, 2. Kopulativkomposita. Bei Determinativ-Komposita bestimmt der eine Teil des Kompositums den anderen semantisch näher. Der Teil des Kompositums, der die semantische Basis bildet, wird als Kopf oder Determinatum bezeichnet. Der andere Teil ist das Determinans. In den meisten europäischen Sprachen ist das Deter- Wortbildungskategorien Typen von Komposita Determinativ- Komposita 107 Wortbildung minatum von Komposita immer auf der rechten Seite. In diesen Fällen spricht man von rechtsköpfigen Komposita. Schauen wir uns das Verhältnis zwischen Determinatum und Determinans anhand des folgenden isländischen Beispiels näher an: (31) is. glerauga ‘Glasauge’. Das Kompositum ist aus zwei Morphemen zusammengesetzt, die beide auch als eigenständige Wörter vorkommen: {gler} ‘Glas’ und {auga} ‘Auge’. Letzteres Morphem bildet in diesem Fall die semantische Basis und damit das Determinatum, denn ein Glasauge ist eine Art von Auge. Hingegen ist gler hier das Determinans, denn es bestimmt das zweite Morphem semantisch näher, in diesem Fall nach der genauen Art des Auges. Die Formulierung „semantisch näher bestimmen“ ist natürlich etwas unpräzise. Das liegt daran, dass die genauen semantischen Beziehungen zwischen Determinans und Determinatum vielgestaltig sein können. Dies ist leicht zu erkennen, wenn man Komposita durch Umschreibungen ersetzt. Im obigen Beispiel glerauga handelt es sich um ein „Auge aus Glas“, beim Kompositum Hamsterkäfig hingegen um einen „Käfig für einen Hamster“ oder beim oben bereits erwähnten Beispiel Lernschwäche um eine „Schwäche beim Lernen“. Der andere Haupt-Typ von Komposita sind Kopulativ-Komposita. Bei dieser Art von Kompositum bestimmt nicht der eine Teil den andern näher, sondern beide Bestandteile sind semantisch gleichwertig. Betrachten wir dazu das folgende Beispiel aus dem Deutschen: (32) dt. nasskalt. Bei diesem Kompositum sind in der Tat beide Teile gleichwertig und bestimmen einander jeweils näher. Schließlich ist nasskalt sowohl eine „nasse Art von kalt“ als auch eine „kalte Art von nass“. Analoge Beispiele wäre im Deutschen süßsauer oder im Schwedischen blåröd ‘blaurot’. Auch in diesen Fällen sind die Bestandteile des Kompositums semantisch weitgehend gleichwertig. Kopulativkomposita sind in den europäischen Sprachen weit seltener als Determinativkomposita. Bei vielen Wörtern handelt es sich historisch gesehen um Komposita, zumeist Determinativkomposita, ihre Bedeutung geht jedoch über eine Kombination der Bedeutung der einzelnen Bestandteile hinaus. In diesem Fällen spricht man von Idiomatisierung bzw. einem Verlust an semantischer Transparenz. Das deutsche Kompositum Hochzeit ist ein Beispiel für einen solchen Prozess der Idiomatisierung. Ursprünglich handelte es sich um ein mehr oder weniger reguläres Determinativkompositum und bedeutete „hohe (Fest-)Zeit“. Im Laufe der Jahre hat sich jedoch die Bedeutung verengt, so dass das Wort nun eine ganz bestimmte Art von Veranstaltung oder Zeremonie bedeutet. Aus der Schriftform lässt sich die ursprüngliche Bedeutung noch erahnen, in der Lautung korreliert der Idiomatisierungsprozess jedoch mit phonetischen Veränderungen, die auf den Transparenzverlust hindeuten. So wird das <o> in der ersten Silbe kurz realisiert als [ɔ]. Im eigenständigen Wort hoch wird das gleiche Graphem jedoch lang realisiert, nämlich als [o ː ]. Kopulativ- Komposita Idiomatisierung Morphologie 108 Komposita können, wie erwähnt, nicht nur nach semantischen, sondern auch nach formalen Gesichtspunkten klassifiziert werden. Bei einer formalen Unterteilung wird untersucht, welchen Wortarten die einzelnen Bestandteile von Komposita angehören. Beim oben genannten Beispiel glerauga handelt es sich um eine Bildung aus zwei nominalen Bestandteilen, denn gler und auga sind jeweils eigenständige Substantive. Man spricht hier daher von einem „N+N“-Kompositum. Notationskonvention Die verschiedenen Wortarten werden oft mit Einzelbuchstaben abgekürzt. N steht dabei für Substantive, A für Adjektive, V für Verben und P für Präpositionen. Wenn es nötig ist, eine Unterscheidung zwischen Adjektiven und Adverbien zu treffen, werden erstere mit ADJ, letztere mit ADV abgekürzt. Die Notation von N für Substantive steht allerdings ausdrücklich nicht für Nomen, denn zu den Nomen zählen sowohl Adjektive als auch Substantive. Beim Kompositum Lernschwäche handelt es sich hingegen um ein V+N- Kompositum, da das erste Morphem {lern-} ein verbaler Bestandteil ist, das zweite Morphem hingegen ein Substantiv. Tabelle 11 gibt einen nicht erschöpfenden Überblick über Möglichkeiten, wie einzelnen Wortarten zuordenbare Morpheme zu Komposita zusammengesetzt sein können: A+A N+V V+A P+N se. blåröd ‘blaurot’ is. ryksuga ‘staubsaugen’ no. pålegg ‘(Brot-)Belag’ dt. gleichgültig dt. maßregeln dt. Bleiberecht dt. Vorrecht Tabelle 11: Beispiele für Kombinationsmöglichkeiten von unterschiedlichen Wortarten in der Wortbildung Die Tabelle zeigt, dass verschiedenste Kombinationsmöglichkeiten existieren. So können z.B. auch adjektivische Bestandteile an einem Kompositum beteiligt sein wie in gleichgültig. Welche Kombinationen möglich sind, ist immer auch von der jeweiligen Sprache abhängig (einzelsprachabhängig), weswegen die Tabelle längst nicht alle Optionen darstellt. 5.5.2 Derivation Neben der gerade erläuterten Komposition ist die zweite Hauptmöglichkeit der Wortbildung, wie bereits erwähnt, die Derivation (Ableitung). Unter Derivation versteht man einen Wortbildungsprozess, bei dem mindestens ein lexikalisches und ein gebundenes grammatisches Morphem (Affix) beteiligt sind. Das Resultat eines solchen Prozess wird Derivat genannt. Oben wurde formale Unterteilung 109 Wortbildung als Beispiel für ein Derivat das deutsche Wort Bildung angeführt, das aus dem lexiskalischen Morphem {bild-} und dem Affix {-ung} besteht. Letzteres wird auf Grund seiner Funktion Derivationsaffix genannt. Man unterscheidet, je nachdem an welcher Stelle im Wort das Derivationsaffix auftritt, zwischen Präfixableitungen, Suffixableitungen und Zirkumfixableitungen. Bei Suffix-Ableitungen erfolgt oft ein Wortartenwechsel, das heißt Derivationssuffixe werden verwendet, um eine Wortart in eine andere zu überführen. Die folgenden Beispiele aus den skandinavischen Sprachen und dem Deutschen zeigen Suffixableitungen: (33) dt. {wert-}+{-ung} > Wertung; (34) se. {skön-} ‘schön’+{-het} ‘-heit’ > skönhet ‘Schönheit’; (35) da. {hold-} ‘halt-’+{-bar} ‘-bar’ > holdbar ‘haltbar’. Das deutsche Wort Wertung besteht aus dem verbalen Morphem {wert-} (wie in werten) und dem Ableitungssuffix {-ung}. Durch Anfügen des Suffixes wird aus dem Verb ein Substantiv mit der Bedeutung ‘Akt/ Resultat des Wertens’. Im schwedischen Beispiel skönhet wird mithilfe des Suffixes {-het} aus dem adjektivischen Morphem {skön} ein Substantiv abgeleitet, das gewissermaßen ‘Zustand des skön-seins’ bedeutet. Das dänische Beispiel holdbar zeigt zum einen, dass auch andere Wortarten das Resultat einer Derivation sein können. Aus der Kombination des verbalen Morphems hold- und des Derivationssuffixes {-bar} entsteht ein Adjektiv. Zum anderen liegt hier nicht nur ein reiner Wortartenwechsel vor, sondern es ist auch semantisch gesehen noch eine modale Komponente enthalten: Ein Produkt, das holdbar til 29.02.2016 ist, kann bzw. soll bis zu diesem Datum halten. Im Können bzw. Sollen liegt hier die modale Teilbedeutung, die das Suffix beiträgt. Im Gegensatz zu Suffix-Ableitungen erfolgt bei Präfix-Ableitungen in den germanischen Sprachen kein Wortartenwechsel. Dafür verändern Derivationspräfixe die Semantik des entstehenden Wortes mitunter recht stark. Schauen wir uns dazu die folgenden Beispiele aus dem Deutschen und den skandinavischen Sprachen an: (36) dt. {ver}+{laufen} > (sich) verlaufen; (37) da. {u-} ‘un’+{venlig} ‘venlig’ > uvenlig ‘unfreundlich’; (38) is. {van-} ‘miss-’+{treysta} ‘vertrauen’ > vantreysta ‘misstrauen’. Wird an das deutsche Verb laufen das Präfix {ver-} angefügt, entsteht erneut ein Verb: (sich) verlaufen. In diesem Fall trägt das Präfix im weitesten Sinne die Bedeutung ‘falsch’ oder ‘verkehrt’ zum entstehenden Wort bei, wenn man annimmt, dass (sich) verlaufen so etwas wie ‘falsch laufen, in die falsche Richtung laufen’ bedeutet. Das dänische Derivat uvenlig ‘unfreundlich’ ist wie das Grundwort venlig ein Adjektiv. Durch Anfügen des Präfixes wird die Bedeutung des Grundwortes negiert, so dass aus einem Wort mit der Bedeutung ‘freundlich’ eines mit der Bedeutung ‘unfreundlich’ wird. Eine ähnliche Negation, nur auf verbaler Ebene, erfolgt durch Anfügen des Präfixes {van} ‘mis-’ im Isländischen. Aus treysta ‘vertrauen’ wird dabei vantreysta, was das Gegenteil bedeutet, nämlich ‘misstrauen’. Suffix-Ableitungen Präfix-Ableitungen Morphologie 110 Zirkumfix-Ableitungen finden sich nicht in den skandinavischen Sprachen, aber im Deutschen: (39) dt. spiel-en > ge-spiel-t. Das lexikalische Morphem {spiel} wird hier umschlossen vom Zirkumfix {ge- -t}, um das Partizip der Vergangenheit zu bilden. Bei manchen komplexen Wörtern ist es schwierig zu entscheiden, ob es sich um ein Kompositum handelt oder um ein Derivat. Schauen wir uns hierzu folgende Beispiele an: (40) dt. wirkungslos, gnadenlos, einsichtslos; (41) is. sakleysi ‘Schuldlosigkeit’, svefnleysi ‘Schlaflosigkeit’. In den deutschen Beispielen erscheint als zweiter Bestandteil des Wortes das Morphem {-los}. Dieses kommt auch als selbständiges lexikalisches Morphem vor, weswegen es sich auf den ersten Blick um Komposita zu handeln scheint. Als eigenständiges Adverb los hat es jedoch eine leicht andere Bedeutung als in den komplexen Wörtern. Zudem kann {-los} äußerst produktiv verwendet werden, um neue Wörter zu bilden, und kann mit fast jedem Substantiv kombiniert werden. Solche Elemente, die eine Zwischenstellung zwischen Affix und lexikalischem Morphem aufweisen, werden Affixoide genannt und in Suffixoide und Präfixoide unterteilt. Ein analoger Fall im Isländischen ist das Morphem {-leysi}, was mit ‘-losigkeit’ zu übersetzen wäre, wie in svefnleysi ‘Schlaflosigkeit’. Dieses Element hat zwar im Gegensatz zu {-los} kein selbständiges lexikalisches Äquivalent, kann jedoch aufgrund seiner semantischen (und auch phonologischen) Schwere ebenfalls als Affixoid klassifiziert werden. Wie bei Komposita gibt es auch bei Derivaten Wörter, die von Idiomatisierung betroffen sind, das heißt, bei denen die Bedeutung nicht mehr aus einer Kombination der Einzelteile herleitbar ist. In einigen Fällen ist dies darauf zurückzuführen, dass zwar das Affix noch identifizierbar und mitunter auch produktiv ist, gleichzeitig das lexikalische Grundmorphem aber nur noch in dem Derivat existiert. Hierzu sei exemplarisch das folgende Beispiel angeführt: (42) dt. verdammen. In verdammen ist verals Derivationspräfix zu erkennen und kann auch noch verwendet werden um neue Wörter zu bilden, wie das oben angeführte Beispiel verlaufen zeigt. Es existiert jedoch im Deutschen kein Verb *dammen. Der Asterisk vor einer Form zeigt an, dass die Form nicht existiert und nach den Regeln der Sprache nicht zulässig ist. 5.5.3 Konversion Neben Komposition und Derivation ist die Konversion ein weiterer Wortbildungstyp. Unter Konversion versteht man die Überführung eines Lexems in eine andere Wortart ohne Hinzufügen von morphologischem Material, das heißt weder von Affixen noch von lexikalischen Morphemen. Einer anderen Definition von Konversion zufolge handelt es sich dabei um eine Ableitung mittels eines „Null-Morphems“, also eines Morphems, was zwar eine Funkti- Zirkumfix- Ableitungen Affixoide Idiomatisierung 111 Konstruktionsbasierte Morphologie on aber keine phonologische Form hat. Die folgenden Beispiele verdeutlichen den Prozess der Konversion: (43) dt. gehen > (das) Gehen; (44) en. knife ‘Messer’ > (to) knife ‘mit einem Messer (zu)stechen’. Im Deutschen kann, wie am Beispiel gehen ersichtlich, aus jedem Verb ein Substantiv gemacht werden, das die Handlung des Verbs bezeichnet, ohne das zusätzliche Morpheme verwendet werden. Ähnlich kann im Englischen fast jedes Substantiv ohne Änderung in der Form zu einem Verb gemacht werden, wie das Beispiel (to) knife zeigt. Dieser Vorgang wird auch als verbing bezeichnet und brachte das Bonmot von Bill Watterson hervor: „Verbing weirds language“. 5.5.4 Kurzwortbildung Die Kurzwortbildung ist ein Grenzfall der Wortbildung insofern, dass im Grunde keine neuen Lexeme dabei entstehen. Schauen wir uns dazu die folgenden Beispiele an: (45) dt. Universität > Uni; (46) da./ se./ no. automobil ‘Auto’ > bil ‘Dass.’. Das Ursprungswort und das Resultat der Kürzung haben beide dieselbe Bedeutung, wie am Wortpaar Universität/ Uni zu sehen ist. Auch das festlandskandinavische bil hat die gleiche Bedeutung wie das Grundwort automobil. Mit der Zeit können sich jedoch Bedeutungsverschiebungen zwischen dem ursprünglichen Grundwort und der Kürzung ergeben oder Unterschiede in der Registerverteilung der beiden Varianten entstehen (zu Variation siehe Kapitel 1.2.3). In diesem Abschnitt haben wir uns mit Wortbildung befasst. Unter Wortbildung versteht man die Bildung von neuen Lexemen aus vorhandenem morphologischem Material. Davon abzugrenzen ist zum einen die Flexion, die sich mit verschiedenen Formen ein und desselben Lexems befasst. Zum anderen abzugrenzen sind Wortschöpfung und Entlehnung, wo neue Lexeme aus (in der jeweiligen Sprache) neuem Material gebildet werden. Die beiden Haupttypen der Wortbildung sind Komposition und Derivation. Darüberhinaus existieren noch andere Wortbildungsprozesse, nämlich Konversion oder Kurzwortbildung. 5.6 Konstruktionsbasierte Morphologie Die Grundeinheit der Morphologie, wie sie bisher in diesem Kapitel eingeführt worden ist, ist das Morphem als kleinste bedeutungstragende Einheit eines Sprachsystems. In diesem Abschnitt soll zum Abschluss nun ein neuerer Ansatz in der Morphologie vorgestellt werden, die konstruktionsbasierte Morphologie. Dieser Ansatz kommt ohne explizite Segmentierung in Morpheme aus. Stattdessen ist die Grundeinheit hier das Wort bzw. das Wortschema. Morphologie 112 Um den Unterschied zwischen dem morphembasierten und dem konstruktionsbasierten Ansatz zu verdeutlichen, sei zunächst ein einfaches Beispiel angeführt. Das einleitende Beispiel für die Segmentierung von Wörtern in Morpheme im obigen Abschnitt war das Wortpaar häst/ hästar ‘Pferd/ Pferd-P LURAL ’. Anhand dieses Wortpaares wurden die Morpheme {häst} und {-ar} identifiziert. Der konstruktionsbasierte Ansatz nimmt nun an, dass statt Morphemen generalisierte Wortschemata existieren, die die formalen und funktionalen Beziehungen zwischen verschiedenen „verwandten“ Wortformen verdeutlichen. Im Falle von häst/ hästar sähe ein solches generalisiertes Wortschema folgendermaßen aus: Abbildung 19: Konstruktionsbasierte Darstellung eines schw. Pluralschemas Das Schema ist folgendermaßen zu lesen: Für bestimmte schwedische Substantive mit der Form X wird der Plural durch Anhängen eines -ar an die Form X gebildet. Das X im Schema kann dabei jedes Substantiv sein, das zum entsprechenden Schema gehört, unter anderem das Substantiv häst. Anhand des obigen Beispiels könnte es nun scheinen, dass es sich bei der konstruktionsbasierten Morphologie um eine bloße Notationsvariante des morphembasierten Ansatzes handelt, das also beide Ansätze die gleiche Beschreibungs- und Erklärungskraft hätten. Es gibt jedoch zum einen Beispiele, wo sich argumentieren ließe, dass der konstruktionsbasierte Ansatz eleganter ist als der morphembasierte, und zum anderen Beispiele, wo im konstruktionsbasierten Ansatz Generalisierungen erfasst werden, die morphembasiert nur schwer beschrieben werden können. Auf diese Fälle wird im Folgenden eingegangen. Bei der Pluralbildung im Deutschen wird bei einigen Substantiven nicht nur ein Suffix angefügt, sondern es verändert sich auch die Vokalqualität im Inneren des Lexems. Dies zeigen die folgenden Beispiele, die aus dem vorangegangen Abschnitten wiederholt werden: (47) dt. Gast, Gäst-e; (48) dt. Hut, Hüt-e. Im morphembasierten Modell hat das lexikalische Morphem {gast} zwei Allomorphe: Gast und Gäst- (analog dazu das Morphem {hut}). Zusätzlich dazu wird das Affix {-e} als Pluralmarkierung verwendet. Im konstruktionsbasierten Modell gibt es schlicht ein Schema für den Singular und ein Schema für den Plural: 113 Konstruktionsbasierte Morphologie Abbildung 20: Konstruktionsbasierte Darstellung eines deutschen Pluralschemas Das Schema ist folgendermaßen zu lesen: Für bestimmte deutsche Substantive mit einem / a/ im Wortinnern wird der Plural gebildet, indem der Stammvokal umgelautet und ein / e/ angehängt wird. Die Darstellung im konstruktionsbasierten Schema vermeidet somit die Doppelung, die das morphembasierte Modell benötigt, nämlich die Annahme eines Plural- Allomorphs des lexikalischen Morphems und eines zusätzlichen Plural- Suffixes. Noch deutlicher werden die Vorteile einer konstruktionsbasierten Beschreibung bei sogenannten non-konkatenativen morphologischen Prozessen. In diesen Fällen werden bei der Veränderung einer Form überhaupt keine Affixe mehr angefügt, sondern die Änderungen beschränken sich allein auf den Stamm. Das folgende pitesamische Wortpaar illustriert eine solche Art von Morphologie: (49) sje. dåhpe ‘Haus-N OMINATIV S INGULAR ’; (50) sje. dåbe ‘Haus-G ENITIV S INGULAR ’. Beim Wortpaar dåhpe/ dåbe wird kein Affix angehängt um die Veränderung vom Nominativ zum Genitiv zu markieren. Stattdessen erfolgt eine sogenannte Konsonantengradation, also eine Veränderung eines Konsonanten im Stamminnern nach einem bestimmten Muster. Abbildung 21: Konstruktionsbasiertes Schema einer pitesamischen Genitivbildung Das morphembasierte Modell muss hier zwei verschiedene Allomorphe für Nominativ und Genitiv annehmen. Dies erscheint wenig elegant, zumal dabei die Generalisierung verloren geht, dass andere Wörter den Genitiv ähnlich Morphologie 114 bilden. Im konstruktionsbasierten Modell kann die Pluralbildung einfach über ein Schema beschrieben werden: Das Schema zeigt, dass bestimmte pitesamischen Substantive, die im Nominativ ein / hp/ im Wortinnern aufweisen, den Genitiv so bilden, dass diese Phonem-Sequenz durch / b/ ersetzt wird. Im Grunde ist es sogar so, dass im konstruktionsbasierten Ansatz keine Direktionalität angenommen wird, dass also nicht „der Genitiv vom Nominativ“ gebildet wird, sondern dass die beiden Muster schlicht zusammengehören ohne dass das Eine Vorrang vor dem Anderen hat. Zusammenfassend bietet das konstruktionsbasierte Modell eine interessante Alternative zum morphembasierten Modell. Darüber hinaus passt die konstruktionsbasierte morphologische Beschreibung gut zum konstruktionsgrammatischen Ansatz in der Syntax, der am Schluss des nächsten Kapitels beschrieben wird. Weiterführende Literatur Allgemeine Einführungen in die Morphologie auf Deutsch sind rar. Zumeist wird spezifisch auf die Morphologie bestimmter Sprachen eingegangen, so Vogel/ Said (2013). Eine sprachunabhängige Einführung in die Morphologie auf Englisch hingegen ist Lieber (2009). Eine äußerst gelungene englischsprachige Einführung in die Morphologie auf typologischer Grundlage bieten Haspelmath/ Sims (2010). Dabei wird vor allem auf konstruktionsbasierte Morphologie eingegangen. Ebenfalls eine Einführung in die konstruktionsbasierte Morphologie ist Booij (2010). Booij, Geert (2010): Construction Morphology. Oxford: Oxford University Press. Haspelmath, Martin/ Sims, Andrea D. (2010): Understanding Morphology. 2. Auflage. London: Hodder Education. Lieber, Rochelle (2009): Introducing Morphology. Cambridge: Cambridge University Press. Vogel, Ralf/ Sahel, Said (2013): Einführung in die Morphologie des Deutschen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Übungen Dieses Kapitel hat die wesentlichen Termini zur Beschreibung des Aufbaus von Wörtern vorgestellt. Mit diesen Termini kannst Du nun Wörter in ihrem Aufbau analysieren und Beschreibungen des Aufbaus von Wörtern in sprachwissenschaftlicher Fachliteratur verstehen. Mit den folgenden Aufgaben kannst Du Dein passives und aktives Verständnis dieser Termini überprüfen und weiter üben. 1) Segmentiere folgende Wörter oder Wortpaare in ihre einzelnen Morpheme. Gib soweit als möglich an, ob es sich um freie, gebundene, lexikalische oder grammatische Morpheme handelt. Bei Affixen gib zusätzlich an, ob es sich um Flexions- oder Derivationssaffixe handelt. Zusammenfassung 115 Konstruktionsbasierte Morphologie a) dt. Liebe b) is. hlaupum ‘wir laufen’, hlaupið ‘ihr lauft’ c) dt. Gelöbnis d) no. fortvilelse ‘Verzweiflung’ e) da. venlig ‘freundlich, nett’ f) fo. hestur ‘Pferd-Nominativ Singular’ - hestar ‘Pferd-Nominativ Plural, hestarnir ‘Pferd-Nominativ Plural definit’ 2) Gib je zwei Beispiele für ein gebundenes lexikalisches Morphem und ein freies grammatisches Morphem. 3) Gegeben ist das Indikativ-Paradigma des färöischen Verbes vísa ‘zeigen’. Welche grammatischen Kategorien werden jeweils (in der Schriftform) durch die verschiedenen Affixe ausgedrückt? Präsens Präteritum Singular Plural Singular Plural 1. Person vísi vísa vísti vístu 2. Person vísur vísa vísti vístu 3. Person vísur vísa vísti vístu 4) Gegeben sind die folgenden Wortpaare. Gib jeweils eine morphembasierte und eine konstruktionsbasierte Beschreibung der morphologischen Beziehungen zwischen den Wörtern an. a) fo. bilur ‘Auto-N OMINATIV .S INGULAR ’ - bili ‘Auto-D ATIV .S INGULAR ’ b) da. kaste ‘werfen-I NFINITIV ’ - kaster ‘werfen-P RÄSENS ’ c) is. fór ‘fahren-1./ 3.S INGULAR .P RÄTERITUM ’ - færi ‘fahren-1./ 3.S INGULAR . K ONJUNKTIV II’ 5) Die Kategorien Präfix und Suffix werden umgangssprachlich auch Vorsilbe und Nachsilbe genannt. Nenne zwei Gründe, warum diese umgangssprachliche Bezeichnung nicht für eine präzise Beschreibung geeignet ist. 6 Syntax Stichwörter • Satz - Grammatikalität • Valenz • Syntaktische Phrasen Nominalphrasen - Verbalphrasen - Präpositionalphrasen • Syntaktische Tests Substitutionstest - Kommutationstest - Eliminierungstest • Immediate-Constituents-Analyse (IC-Analyse) • Generative Grammatik - X-Bar-Schema • Konstruktionsgrammatik 6.1 Gegenstand und Teilbereiche In den bisherigen Kapiteln stand die Struktur einzelner sprachlicher Zeichen im Vordergrund. Phonetik und Phonologie beschäftigen sich mit der Ausdrucksseite von Zeichen, die Semantik mit der Bedeutungsseite von Zeichen und die Morphologie mit der Verbindung von Inhalts- und Ausdrucksseite. Nun benutzen wir aber zumeist nicht einzelne sprachliche Zeichen (z.B. einzelne Wörter), wenn wir Sprache verwenden, sondern wir bedienen uns größerer Strukturen. Informell ausgedrückt: Wir sprechen in Sätzen. Die Syntax ist der Teilbereich der Sprachwissenschaft, der sich mit der Struktur von Sätzen beschäftigt. Dass nicht nur die interne Struktur von Zeichen, sondern auch das Aneinanderfügen von Wörtern und die hierarchischen Beziehungen zwischen Wörtern im Satz bestimmten Regeln gehorchen, ist schnell ersichtlich, wenn man Äußerungen betrachtet, die diese Regeln offensichtlich brechen. Für alle Sprecherinnen des Deutschen ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass Ich hole das Mehl aus dem Schrank ein wohlgeformter Satz ist, jedoch nicht *Ich aus hole dem Mehl das Schrank. Genau zu beschreiben, gegen welche Regularitäten des Deutschen hier verstoßen wird und wie die Struktur von grammatischen Sätzen aussieht, ist Aufgabe der Syntax. In diesem Kapitel wird es daher darum gehen, wie man die syntaktischen Regeln einer Sprache ermittelt. Nach einer Definition der Kategorie Satz, wird zuerst auf die syntaktische Struktur von Verben und ihre Valenz eingegangen. Anschließend werden wir sehen, dass man Sätze in kleinere Untereinheiten, sogenannte syntaktische Phrasen, zerlegen kann und kennen lernen, mit Hilfe welcher Tests syntaktische Phrasen zu ermitteln sind. Dann werden wir Struktur-Analysen von einfachen Sätzen vornehmen (IC-Analysen). Abschließend werden wir auf zwei syntaktische Theorien näher eingehen: die Generative Grammatik und die Konstruktionsgrammatik. Gegenstand Kapitelstruktur Syntax 118 6.2 Satz und Grammatikalität Bei sprachwissenschaftlichen Kategorien, die mit Wörtern der Alltagssprache bezeichnet werden, fällt eine präzise Definition meist schwerer als gedacht. Neben der Kategorie Wort (siehe Kapitel 5.2), ist es nicht so leicht, wie zunächst angenommen, zu definieren, was genau ein Satz ist und was nicht. Betrachten wir dazu ein paar Beispieläußerungen: (1) nn. Det er eit godt spørsmål. ‘Das ist eine gute Frage.’ (2) is. Jæja. ‘So.’ (3) da. Kan du måske … men kun hvis du vil. ‘Kannst Du vielleicht … Aber nur, wenn Du willst.’ (4) dt. Weiß ich nicht. Intuitiv scheint die Äußerung in (1) auf jeden Fall ein Satz zu sein. Die Äußerung in (2) hingegen scheint etwas zu kurz für einen Satz und in den Äußerungen in (3) und (4) scheinen bestimmte Elemente zu fehlen. Um diese intuitiven Überlegungen zu konkretisieren, seien hier zwei geläufige Definitionen der Kategorie Satz angeführt: Satz 1. Ein Satz ist eine Äußerung, die aus einem finiten Verb besteht und mindestens allen vom Verb geforderten Ergänzungen. 2. Ein Satz ist eine Äußerung, die nach den syntaktischen Regeln der jeweiligen Sprache gebildet wurde. Auf der Grundlage dieser Definitionen lässt sich nun genauer bestimmen, ob es sich bei den obigen Äußerungen um Sätze handelt. Beispiel (1) ist beiden Definitionen zufolge ein Satz: Es enthält ein finites Verb (er ‘ist’) und alle notwendigen Ergänzungen: das Pronomen det ‘das’ in Subjektposition und eit godt spørsmål ‘eine gute Frage’ als Prädikativum. Die Äußerung in Beispiel (2) ist nur nach der zweiten Definition ein Satz, da sie kein finites Verb enthält. Äußerungen wie in (3) genügen keiner der beiden Satz-Definitionen, da eine Ergänzung zum Verb kan ‘kannst’ fehlt. Diese Äußerung ist somit unvollständig (elliptisch). Auf der anderen Seite kommen solche elliptischen Äußerungen in gesprochener Sprache sehr häufig vor, wie die Gesprächsanalyse und die interaktionale Linguistik gezeigt haben. Sprecherinnen verwenden nicht nur „ganze Sätze“ beim Reden und das scheint dem Erfolg der Kommunikation nur selten Abbruch zu tun. Ganz im Gegenteil wird Kommunikation so erleichtert, da die Äußerungen von redundanter Information befreit sind. Die Äußerung in (4) scheint auf den ersten Blick genau wie die Äußerung in (3) elliptisch zu sein, d.h. es scheint ein notwendiger Teil zu fehlen (z.B. ein das). Auf der anderen Seite werden im Deutschen kleinere Objekt- Elemente, die vor dem finiten Verb stehen, so regelmäßig ausgelassen, dass dies schon als optionale syntaktische Regel des Deutschen gilt und Topic- Drop genannt wird. Was als Auslassung in gesprochener Sprache begonnen Satz Satzdefinitionen 119 Valenz hat, kann sich also so weit verfestigen, dass daraus eine (hier optionale) grammatische Regel bzw. ein grammatisches Muster wird - und damit aus Beispiel (4) eine Äußerung, die beiden Satzdefinitionen genügt. Es gibt jedoch auch Äußerungen, die eindeutig gegen die syntaktischen Regularitäten einer Sprache verstoßen. Hierzu seien die beiden Beispiele aus der Einleitung wiederholt: (5) dt. Ich hole das Mehl aus dem Schrank. (6) dt. *Ich aus hole dem Mehl das Schrank. Die erste Äußerung ist eindeutig wohlgeformt nach den Regeln der Syntax des Deutschen. Die zweite Äußerung hingegen ist es nicht. In so einem Fall spricht man davon, dass die erste Äußerung grammatisch ist, die zweite hingegen ungrammatisch. Beide weisen also eine unterschiedliche Grammatikalität auf. Ungrammatische Sätze werden mit einem Asterisk markiert, wie in Beispiel (6) zu sehen ist. Wie genau die Begriffe grammatisch und ungrammatisch zu verstehen sind, hängt von der Bezugsgröße ab. Grammatikalität kann sich auf die allgemeinen Regeln einer abstrakten langue beziehen, wie es im Semiotik- Kapitel ausgeführt wurde, also die Regeln eines Sprachsystems wie „des Deutschen“ oder „des Färöischen“. In der Tradition der Generativen Grammatik, auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird, bezieht sich das Begriffspaar auf die interne Grammatik, also das interne Sprachvermögen einer jeden Sprecherin. Dieses interne Sprachvermögen muss nicht bei allen Sprecherinnen einer Sprache zwangsläufig identisch sein. (Zur Varianz innerhalb von Sprachsystemen vergleiche Kapitel 1.2.3.) Wichtig ist, dass „grammatisch“ nicht präskriptiv verstanden wird, also im Sinne von „so spricht man richtig“. Es geht vielmehr darum, deskriptiv zu beschreiben, nach welchen Regeln Sätze konstruiert sind, die eine Sprecherin oder eine Gruppe von Sprecherinnen als „grammatisch“ empfinden. Ein Satz kann beispielsweise nach den Regeln eines Dialekts grammatisch sein, also die syntaktischen Regeln eines Dialekts oder einer Umgangssprache erfüllen, auch wenn er in Bezug auf die Standardsprache nicht grammatisch ist. Das Konzept der Grammatikalität ist notwendig, um die syntaktischen Tests durchzuführen, die in einem der folgenden Abschnitte eingeführt werden, und anhand derer die Regeln ermittelt werden können, nach denen Sprecherinnen einer Standardsprache oder eines Dialekts etc. Sätze konstruieren. 6.3 Valenz Eine der beiden gerade besprochenen Satz-Definitionen enthält die Bedingung, dass ein Satz ein finites (flektiertes) Verb beinhalten muss. Dem Verb kommt in der Syntax (sowohl der syntaktischen Forschung als auch in den syntaktischen Regularitäten einer Sprache) eine wichtige Rolle zu. Das Verb wird daher zum Teil auch als Zentrum des Satzes angesehen. Die oben besprochene Definition besagt ebenfalls, dass neben dem Verb „mindestens alle vom Verb geforderten Ergänzungen“ vorhanden sein müssen, damit eine Äußerung als Satz gilt. Die Eigenschaft von Wörtern, beson- Grammatikalität Bezugsgrößen präskriptiv vs. deskriptiv Ergänzung vs. Angabe Syntax 120 ders Verben, die Präsenz anderer Elemente zu benötigen, heißt Valenz. Die vom Verb notwendigerweise geforderten Elemente werden Ergänzungen (en. complements) genannt. Neben Ergänzungen können auch noch optionale Elemente in einem Satz präsent sein. Solche fakultativen Elemente, die präsent sein können, es aber nicht sein müssen, um die Grammatikalität der Äußerung zu gewährleisten, werden Angaben (en. adjuncts) genannt. Angaben werden weiter unten genauer erläutert. Wie viele Ergänzungen ein Verb benötigt, ist vom jeweiligen Verb-Lexem (vgl. das Kapitel zur Morphologie) abhängig. Ein Verb kann gewöhnlich null bis drei Ergänzungen benötigen. Man unterscheidet dementsprechend nullwertige bis dreiwertige Verben. Diese Eigenschaft von Verben, eine bestimmte Anzahl von Ergänzungen zu benötigen, wird als Wertigkeit oder ebenfalls als Valenz bezeichnet. Der folgende Beispielsatz beinhaltet ein dreiwertiges Verb: (7) da. Hun gav mig bogen. ‘Sie gab mir das Buch.’ In Beispiel (7) erscheint das dänische Lexem give ‘geben’ in seiner Präteritums-Form. Das Beispiel (7) enthält dabei alle vom Verb geforderten Elemente, ein Subjekt (hun ‘sie’) und zwei Objekte (mig ‘mir’, bogen ‘das Buch’). In Beispiel (8) hingegen fehlt eine der beiden Ergänzungen, nämlich das Objekt das das Element bezeichnet, das gegeben wird: (8) da. *Hun gav mig. *‘Sie gab mir.’ Die Äußerung in (8) ist aufgrund der fehlenden Ergänzungen ungrammatisch. Das Lexem give benötigt also tatsächlich drei Ergänzungen. Dreiwertige Verben werden auch trivalente Verben genannt. Andere Verben hingegen haben eine andere Wertigkeit: (9) se. Hon springer. ‘Sie rennt.’ (10) se. *Hon springer boken. *‘Sie rennt das Buch.’ Das schwedische Verb-Lexem springa ‘laufen, rennen’ benötigt nur eine Ergänzung, nämlich ein Subjekt. Es wird in Beispiel (9) durch hon ‘sie’ realisiert. Das Verb ist damit einwertig oder monovalent. Wird ein direktes Objekt hinzugefügt wie boken ‘das Buch’ in (10), wird die Äußerung ungrammatisch, da das Verb springa nur genau eine Ergänzung fordert. Auf den ersten Blick scheint im folgenden Beispiel ebenfalls ein monovalentes Verb aufzutreten: (11) fo. Tað regnar. ‘Es regnet.’ Das Verb in Beispiel (11) ist fo. regna ‘regnen’. In der Subjektposition erscheint in Beispiel (11) das Pronomen tað ‘es’ und es gibt keine Objekte. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es sich bei tað nicht um ein vollwertiges Subjekt handelt. Es ist z.B. nicht klar, welchen Begriff dieses tað genau bezeichnet. Es lässt sich auch nicht erfragen: (12) fo. *Hvør regnar? *‘Wer regnet? ’ Daran zeigt sich, dass tað im obigen Beispiel ein bloßer Lückenfüller ist und über keinen eigenen Bezeichnungswert verfügt. Verben wie regna, die nur Wertigkeit dreiwertige Verben einwertige Verben nullwertige Verben 121 Valenz aus syntaktischen Gründen ein expletives Subjekt, aber kein „eigentliches“ Subjekt erfordern, werden nullvalent oder nullwertig genannt. Expletive Subjekte werden auch als Dummy-Pronomen bezeichnet. Eine ähnliche Bezeichnung wie Wertigkeit von Verben ist die Transitivität. Transitivität bezeichnet die Eigenschaft von Verben, Objekte zu nehmen. Nullwertige und einwertige Verben, die beide keine Objekte haben, sind demnach intransitiv. Zweiwertige Verben, also solche mit einem Objekt, sind transitiv usw. Folgende Tabelle bietet eine Übersicht über die verschiedenen Bezeichnungen für die Wertigkeit und Transitivität von Verben: Ergänzungen Wertigkeit Valenz Transitivität Null nullwertig nullvalent intransitiv Eine einwertig monovalent intransitiv Zwei zweiwertig bivalent transitiv Drei dreiwertig trivalent ditransitiv Tabelle 12: Übersicht über die Bezeichnungen für Wertigkeiten von Verben Neben Ergänzungen, die vom Verb zwingend gefordert werden, gibt es, wie oben bereits erwähnt, auch fakultative Angaben. Angaben zeigen typischerweise die näheren Umstände einer Handlung an, also den Ort, die Zeit oder die Art der Handlung: (13) da. Hun gav mig bogen (i går). ‘Sie gab mir (gestern) das Buch.’ (14) se. Hon springer (till helikoptern). ‘Sie rennt (zum Helikopter).’ (15) fo. Tað regnar (ofta) (í Føroyunum). ‘Es regnet (oft) (auf den Färöern).’ In den Beispielen (13) bis (15) sind die optionalen Angaben jeweils in Klammern gesetzt. Alle drei Sätze sind auch ohne die Angaben grammatisch, wie weiter oben gezeigt wurde. Die fakultativen Angaben liefern aber (wie der Name schon andeutet) nähere Angaben zu den vom Verb und vom Satz bezeichneten Gegebenheiten. Formal sind Angaben oft Präpositionalphrasen wie i går ‘gestern’ in Beispiel (13) und till helikoptern ‘zum Helikopter’ in Beispiel (14) oder Adverbien wie oft ‘oft’ in Beispiel (15). Für manche Verben ist nicht ganz eindeutig zu unterscheiden, ob es sich bei bestimmten Elementen um eine Angabe oder um eine Ergänzung handelt: (16) nb. Han skriver. ‘Er schreibt.’ (17) nb. Han skriver et kjærligheitsbrev. ‘Er schreibt einen Liebesbrief.’ Der Satz in (16) ist grammatisch und enthält nur das Verb skriver ‘schreibt’ und das Subjekt han ‘er’. In Beispiel (17) tritt noch ein direktes Objekt hinzu, ohne dass der Satz ungrammatisch wird. Das Objekt bezeichnet dabei keinen Umstand der Handlung, sondern ein intrinsisches Element der durch das Verb ausgedrückten Handlung: Zur Tätigkeit des Schreibens gehört das, was geschrieben wird - in diesem Fall ein Liebesbrief. Solche Objekte wie in (17) werden oft als fakultative Ergänzungen bezeichnet. Fakultative Ergänzun- Übersicht Angaben fakultative Ergänzungen Syntax 122 gen stellen eine Zwischenkategorie zwischen notwendigen Ergänzungen und fakultativen Angaben dar. In diesem Abschnitt wurde das Verb als Zentrum des Satzes eingeführt. Jedes Verb hat eine bestimmte Wertigkeit, die angibt, wie viele Ergänzungen ein Verb fordert. Man unterscheidet nullvalente, mono-, bi- und trivalente Verben. Optionale Elemente, die nicht vom Verb gefordert werden, werden Angaben genannt. Die Unterscheidung zwischen notwendigen Ergänzungen und optionalen Angaben ist dabei nicht immer eindeutig. 6.4 Syntaktische Phrasen Die Untersuchung der Verbvalenz im vorherigen Abschnitt hat bereits erste Ansätze zur Analyse der Struktur von Sätzen gegeben. In den bisherigen Kapiteln dieses Buches haben wir uns stets größere, oft intuitiv einsichtige sprachliche Einheiten angesehen und diese dann in kleinere Bestandteile zerlegt. So haben wir die Ausdrucksseite, also die lautliche Seite von Wörtern in kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten, die Phoneme unterteilt. Wörter als ganzes haben wir aufgeteilt in Morpheme, die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache. Auch bei der Kategorie Satz, deren Definition wir oben besprochen haben, wird nun aufgezeigt, wie diese sich weiter untergliedern lässt. Abbildung 22: Flache syntaktische Struktur Hätten Sätze eine flache Struktur, wie sie in Abbildung 22 dargestellt ist, dann bestünden sie nur aus einer reinen Aneinanderreihung von Wörtern. Es ist jedoch intuitiv ersichtlich, dass bestimmte Wörter in einem Satz enger zueinander gehören als andere. Solche Kombinationen von Wörtern, die zusammen eine Einheit bilden, werden syntaktische Phrasen genannt. Syntaktische Phrasen bilden die Zwischenstufe zwischen der Ebene des Satzes und der Ebene der einzelnen Wörter. Auch in der Phonologie gibt es Phrasen (z.B. Intonationsphrase), dennoch wird der Einfachheit im Folgenden schlicht von Phrasen gesprochen, wenn syntaktische Phrasen gemeint sind. Zusammenfassung Teilstrukturen von Sätzen syntaktische Phrasen 123 Syntaktische Phrasen Abbildung 23: Syntaktische Struktur mit Phrasen Die obige Graphik zeigt, wie eine komplexe Zwischenstruktur zwischen der Ebene des Satzes und der Ebene der Wörter aussehen kann. Eine solche Struktur lässt sich auch durch eine Klammer-Notation darstellen, wie in der folgenden Abbildung. Dabei sind jeweils die Wörter, die zusammen eine Phrase bilden, in Klammern gesetzt. Abbildung 24: Klammer-Notation von syntaktischer Struktur mit Phrasen Fürs Erste ist in diesem Abschnitt nur der Fakt entscheidend, dass sich Sätze in kleinere Einheiten, also Phrasen unterteilen lassen. Wie diese Phrasen ermittelt werden und wie die genauen Beziehungen zwischen Phrasen aussehen, wird in späteren Abschnitten noch genauer besprochen. Zunächst betrachten wir, welche Arten von Phrasen es gibt und aus welchen Wortarten sie aufgebaut sind. Jede Phrase hat einen Kopf (en. head). Die Wortart dieses Kopfes bestimmt die syntaktischen Eigenschaften der Phrase und gibt ihr auch ihren Namen. Die weiteren Bestandteile einer Phrase werden Töchter genannt (en. daughters oder dependents). Die Form einer Phrase wird oft von den Eigenschaften des Kopfes beeinflusst. Daher wird auch in manchen Theorien davon gesprochen, dass der Kopf die Töchter regiert (Substantiv: Rektion). Die für unsere Zwecke wichtigsten Typen von Phrasen sind Nominalphrasen, Verbalphrasen und Präpositionalphrasen. Es gibt aber auch Adverbialphrasen, Adjektivphrasen und (je nach Theorie) Determinativphrasen und noch weitere. In der Generativen Grammatik, die weiter unten genauer erläutert wird, werden besonders viele weitere Typen von Phrasen angenommen, deren Köpfe nicht immer mit real auftauchenden Wortarten übereinstimmen müssen. In der Germanistischen Linguistik wird oft der Terminus Satzglied gebraucht. Seine Bedeutung ist nicht identisch mit der des Terminus Phrase. Satzglieder sind die Bestandteile eines Satzes, in die sich ein Satz unmittel- [[Maria N ] NP [springt V [über P [den DET Zaun N ] NP ] PP ] VP ] S Bestandteile von Phrasen Phrase vs. Satzglied Syntax 124 bar zerlegen lässt. Während Phrasen, wie erläutert, anhand der formalen Eigenschaften ihres Kopfes kategorisiert werden, werden Satzglieder von ihrer Funktion her bestimmt (z.B. Subjekt, Prädikat, Objekt). Bei Satzgliedern handelt es sich immer auch um syntaktische Phrasen; nicht jede syntaktische Phrase ist jedoch ein Satzglied, da Satzglieder oftmals größere Einheiten bezeichnen. Im Folgenden werden nun die drei wichtigsten Typen von syntaktischen Phrasen vorgestellt. Der Kopf von Nominalphrasen (NP) ist ein Substantiv wie z.B. dt. Kind, is. mús ‘Maus’, nb. ku ‘Kuh’ oder se. kvinna ‘Frau’. In den folgenden Beispielen bilden die eingeklammerten Wortgruppen jeweils eine Nominalphrase: (18) dt. [Das Kind] NP fährt Auto. (19) is. Það er [stór mús] NP í baðkerinu. ‘In der Badewanne ist eine große Maus.’ (20) nb. [Den lille kua] NP står på fjellet. ‘Die kleine Kuh steht auf dem Berg.’ (21) se. [Kvinnan med hatten] NP gick hem. ‘Die Frau mit dem Hut ging nach Hause.’ Zu einer Nominalphrase kann neben dem substantivischen Kopf noch ein Artikel gehören wie in (18). In diesem Beispiel bilden das und Kind zusammen eine Nominalphrase. Ebenfalls kann ein Adjektiv Teil einer Nominalphrase sein wie in (19), wo das Adjektiv stór ‘groß’ und das Substantiv mús ‘Maus’ zusammen eine Nominalphrase bilden. Artikel und Adjektiv können auch zusammen mit dem Substantiv in der Nominalphrase auftreten wie in Beispiel (20). Auch Präpositionalphrasen können Teil einer Nominalphrase sein, wie das Beispiel (21) zeigt. Dort bildet das Substantiv kvinna ‘Frau’ zusammen mit der Präpositionalphrase med hatten ‘mit dem Hut’ eine Nominalphrase. Verbalphrasen (VP) umfassen das Verb und die zum Verb gehörigen Objekte. Zwar mag es intuitiv genauso sinnvoll erscheinen, dass das Verb zusammen mit dem Subjekt eine Phrase bildet. Im folgenden Abschnitt wird jedoch anhand syntaktischer Tests gezeigt, warum Verb und Objekte zusammen die Verbalphrase bilden. (22) da. Manden [drikker vandet] VP . ‘Der Mann trinkt das Wasser.’ (23) is. Árni [gefur barninu nammi] VP . ‘Árni gibt dem Kind Süßigkeiten.’ (24) se. Gatan [var tom] VP . ‘Die Straße war leer.’ (25) nb. Hunden [drømmer] VP . ‘Der Hund träumt.’ Im dänischen Beispiel (22) besteht die Verbalphrase aus dem finiten Verb drikker ‘trinkt’ und dem Objekt vandet ‘das Wasser’. Hat das Verb zwei Objekte wie in Beispiel (23), gehören diese ebenfalls zur Verbalphrase. Die Ergänzungen des Verbs sein und seine Äquivalente in den skandinavischen Sprachen werden nicht als Objekt bezeichnet, sondern als Prädikativum. Sie bilden zusammen mit der Form von sein die Verbalphrase, wie im schwedischen Beispiel in (24). In Beispiel (25) wird die Verbalphrase von nur einem Wort gebildet, nämlich dem Verb drømmer ‘träumt’. Der Kopf von Präpositionalphrasen (PP) ist eine Präposition wie dt. über, da. for ‘für’ oder se. över ‘über’. Dazu tritt meistens noch eine NP, Nominalphrasen Verbalphrasen Präpositionalphrasen 125 Syntaktische Tests also ein Substantiv und eventuell noch das Substantiv modifizierende Elemente wie z.B. Adjektive. (26) nn. Bjørnen sit [på steinen] PP . ‘Der Bär sitzt auf dem Stein.’ (27) se. Han har varit i Sverige [i två år] PP . ‘Er ist seit zwei Jahren in Schweden.’ (28) is. Hér eru peningar [fyrir leigubíl] PP . ‘Hier ist Geld für ein Taxi.’ In Beispiel (26) ist die Präposition på ‘auf’ der Kopf der PP und regiert das Substantiv steinen ‘Stein’. Im schwedischen Beispiel (27) tritt zum präpositionalen Kopf i ‘seit’ noch das Zahlwort två ‘zwei’ und das Substantiv år ‘Jahre’. Im isländischen Beispiel ist das Substantiv leigubíl ‘Taxi.A KK ’ abhängig von der Präposition fyrir ‘für, vor’. Hier zeigt sich auch, dass in der Tat die Präposition der Kopf der Phrase ist und nicht das vermeintlich „inhaltsschwerere“ Substantiv. Die Präposition fordert vom Substantiv einen Akkusativ, in diesem Fall leigubíl (Nominativ leigubíll). Sie bestimmt also die Form, in der das Substantiv erscheint. In diesem Abschnitt wurde gezeigt, dass Sätze sich aufteilen lassen in kleinere Einheiten, die syntaktischen Phrasen. Syntaktische Phrasen sind Gruppen von Wörtern, die eng zusammengehören. Phrasen bestehen aus einem Kopf und seinen Töchtern. Genauer vorgestellt wurden in diesem Abschnitt Nominalphrasen, Verbalphrasen und Präpositionalphrasen, es gibt aber je nach Analyse auch noch andere Typen von Phrasen. 6.5 Syntaktische Tests Die im vorherigen Abschnitt eingeführten syntaktischen Phrasen wurden bisher nicht weiter begründet als mit allgemeiner sprachlicher Intuition. Um die einzelnen Phrasen eines Satzes sprachwissenschaftlich präzise zu ermitteln, müssen eine Reihe von syntaktischen Tests angewandt werden, die im Folgenden der Reihe nach vorgestellt werden: 1. Substitutionstest (Ersatzprobe), 2. Kommutationstest (Verschiebeprobe), 3. Eliminierungstest (Weglassprobe). Bei allen Tests werden bestimmte Operationen mit denjenigen Wortgruppen eines Satzes durchgeführt, von denen vermutet wird, dass sie Phrasen bilden. Ist das Ergebnis dieser Operationen immer noch ein Satz, der nach den Regeln der jeweiligen Sprache grammatisch ist, so deutet dies darauf hin, dass es sich bei den Wortgruppen in der Tat jeweils um Phrasen handelt. Bei allen syntaktischen Tests werden Muttersprachlerinnen der jeweiligen Sprache benötigt, die Auskunft über die Grammatikalität der untersuchten Sätze und ihrer Umformungen geben können. Beim Substitutionstest wird die Wortgruppe, von der vermutet wird, dass sie eine Phrase bildet, als Ganzes ersetzt. Wenn nach der Ersetzung immer noch ein grammatischer Satz bestehen bleibt, ist dies Evidenz dafür, dass es sich bei der Wortgruppe um eine syntaktische Phrase handelt: Zusammenfassung Typen von Tests Substitutionstest Syntax 126 (29) da. Dronningen [læser en bog]. ‘Die Königin liest ein Buch.’ (30) da. Dronningen [drømmer]. ‘Die Königin träumt.’ (31) da. *Dronningen [drømmer bog]. *‘Die Königin träumt Buch.’ Die Wortgruppe leser en bog ‘liest ein Buch’ in Beispiel (29) wird im darauffolgenden Beispiel (30) als Ganzes durch drømmer ‘träumt’ ersetzt. Das Ergebnis ist weiterhin grammatisch. Wird hingegen nur ein Teil der Phrase ersetzt wie in Beispiel (31), wird der Satz ungrammatisch. Der Substitutionstest hat somit das Ergebnis, dass es sich bei læser en bog um eine Phrase handelt, genauer gesagt um die Verbalphrase des Satzes. Durch den Substitutionstest kann auch gezeigt werden, dass die Verbalphrase in der Tat das Verb und seine Objekte umfasst und nicht das Verb und das Subjekt. Versucht man Verb und Subjekt durch ein Wort zu ersetzen, erhält man einen ungrammatischen Satz: (32) da. *[drømmer en bog]. *‘träumt ein Buch.’ Es existieren zwei besondere Unterkategorien des Substitutionstests, die sich darin unterscheiden, durch was die Wortgruppe jeweils genau substituiert wird. Beim Pronominalisierungstest wird die gesamte Wortgruppe durch ein Pronomen ersetzt: (33) se. [Ola och hans vän] gick till stranden. ‘Ola und sein Freund gingen zum Strand.’ (34) se. [De] gick till stranden. ‘Sie gingen zum Strand.’ In Beispiel (33) tritt die Wortfolge Ola och hans vän ‘Ola und sein Freund’ auf. Diese wird in Beispiel (34) als Ganzes durch das Personalpronomen de ‘sie’ ersetzt, wobei der Satz weiterhin grammatisch bleibt. Das deutet darauf hin, dass es sich bei der Wortfolge um eine Phrase handelt, genauer gesagt um eine Nominalphrase. Der Pronominalisierungstest kann auch noch weiterführend eingesetzt werden: (35) se. Ola och [han] gick till stranden. ‘Ola und er gingen zum Strand.’ Im obigen Beispiel wurde nur hans vän ‘sein Freund’ durch ein Pronomen ersetzt und der Satz ist weiterhin grammatisch. Bei hans vän scheint es sich damit ebenfalls um eine Phrase zu handeln, gewissermaßen um eine „Phrase in einer Phrase“. Auf solche hierarchischen Beziehungen zwischen Phrasen wird im folgenden Abschnitt genauer eingegangen. Die zweite Art der Substitution ist der Fragetest. Hier erfolgt die Substitution durch ein Fragepronomen, das entweder direkt an der gleichen Stelle in Form einer Echo-Frage eingesetzt wird (in situ) oder am Anfang des Satzes. (36) fo. Diskurin er [á borðinum]. ‘Der Teller ist auf dem Tisch.’ (37) fo. [Hvar] er diskurin? ‘Wo ist der Teller? ’ (38) fo. Diskurin er [hvar]! ? ‘Der Teller ist wo! ? ’ (39) fo. *Hvar er diskurin borðinum? *‘Wo ist der Teller dem Tisch? ’ Mit der Ersetzung von á borðinum ‘auf dem Tisch’ durch das Fragepronomen hvar ‘wo’ in den Beispielen (36) und (37) bleibt der Satz immer noch gram- Pronominalisierungstest Fragetest 127 Syntaktische Tests matisch. Im Beispiel (38) ist nur das Wort á ‘auf’ durch ein Fragepronomen ersetzt worden, der Satz ist dann nicht mehr grammatisch. Dies deutet darauf hin, dass es sich bei á borðinum zusammen um eine syntaktische Phrase handelt. Der zweite hier vorgestellte syntaktische Test ist der Kommutationstest. Dabei werden die Wörter, von denen vermutet wird, dass sie zusammen eine Phrase bilden, als Einheit an eine andere Stelle des Satzes verschoben. (40) is. Hann hitti gamla vinkonu [á Akureyri]. ‘Er traf eine alte Freundin in Akureyri.’ (41) is. [Á Akureyri] hitti hann gamla vinkonu. ‘In Akureyri traf er eine alte Freundin.’ (42) is. *[Á] hitti hann gamla vinkonu [Akureyri]. *‘In traf er eine alte Freundin Akureyri.’ Die Wortgruppe á Akureyri ‘in Akureyri’, die in Beispiel (40) ganz am Ende des Satzes steht, wird in Beispiel (41) an den Anfang des Satzes verschoben. Zwar ist im Isländischen die Wortfolge mit der Präpositionalgruppe am Anfang des Satzes etwas seltener als im Deutschen, der Satz ist jedoch nichtsdestoweniger grammatisch. Dass die beiden Wörter nur als Ganzes verschoben werden können, zeigt das Beispiel (42), wo nur á ‘in’ am Anfang des Satzes, Akureyri jedoch am Ende des Satzes steht. Im Ergebnis ist Beispiel (42) dadurch ungrammatisch. Das bedeutet, dass es sich bei der Wortgruppe á Akureyri um eine Phrase handelt. Der Kommutationstest ist etwas komplexer als der Substitutionstest, da er auch Wissen darüber erfordert, welche Wortstellungen oder Verschiebungen in einer Sprache zulässig sind. Im Deutschen ist die Wortstellung relativ frei und Elemente können oft (abhängig von der Satzpragmatik oder der Informationsstruktur des Satzes) an verschiedenen Positionen im Satz auftreten. Im Englischen hingegen sind die Möglichkeiten, Phrasen durch die Verschiebeprobe zu ermitteln, wesentlich beschränkter, da sich Elemente innerhalb eines Satzes nicht so frei bewegen lassen wie im Deutschen. Der letzte Test, der zur Ermittlung der syntaktischen Phrasen in einem Satz herangezogen werden kann, ist der Eliminierungstest. Dabei werden die Wörter, von denen angenommen wird, dass sie zusammen eine Phrase bilden, allesamt weggelassen. Wenn es sich um nicht-notwendige Bestandteile eines Satzes handelt und der Satz danach immer noch grammatisch ist, deutet dies darauf hin, dass die Wörter zu einer Phrase gehören. (43) no. Turen [til Napoli] var en stor suksess. ‘Die Reise nach Neapel war ein großer Erfolg.’ (44) no. Turen [] var en stor suksess. ‘Die Reise war ein großer Erfolg.’ (45) no. *Turen til [] var en stor suksess. *‘Die Reise nach [] war ein großer Erfolg.’ Die Wortfolge til Napoli ‘nach Neapel’, die in Beispiel (43) auftaucht, wird in Beispiel (44) als Ganzes weggelassen. Das Ergebnis ist immer noch ein grammatischer Satz des Norwegischen. In Beispiel (45) hingegen wird nur ein Teil der Wortgruppe weggelassen, nämlich das Wort Napoli. Dadurch wird der Satz ungrammatisch, d.h. er entspricht nicht mehr den syntakti- Kommutationstest Eliminierungstest Syntax 128 schen Regeln des Norwegischen. Die durchgeführten Eliminierungstests in Beispiel (44) und (45) deuten somit darauf hin, dass es sich bei der Wortgruppe til Napoli um eine Phrase handelt, genauer gesagt um eine Präpositionalphrase (PP). Wichtig ist hier, dass es sich bei der PP til Napoli um einen nicht notwendigen Bestandteil des Satzes handelt, also nicht um das finite Verb oder Ergänzungen wie das Subjekt oder ein notwendiges Objekt. Die Wortfolge turen til Napoli ‘die Reise nach Neapel’ bildet ebenfalls eine Phrase, genauer gesagt eine Nominalphrase mit dem Kopf turen ‘die Reise’. Dies zeigt die Anwendung von Substitutionstest in Beispiel (47) und Kommutationstest in Beispiel (48). Die Wortfolge kann jedoch nicht als Ganzes weggelassen werden, wie das ungrammatische Beispiel (48) zeigt, da es sich bei der Wortfolge um das Subjekt des Satzes handelt und Subjekte im Norwegischen (anders als z.B. im Spanischen) immer mit einer vollständig ausgedrückten NP realisiert werden müssen. (46) no. Var [turen til Napoli] en stor suksess? ‘War die Reise nach Neapel ein großer Erfolg? ’ (47) no. [Den] var en stor suksess. ‘Sie war ein großer Erfolg.’ (48) no. *[ ] var en stor suksess. *‘[] war ein großer Erfolg.’ In den obigen Beispielen resultieren die drei Tests in unterschiedlichen Ergebnissen. Unter der Berücksichtigung der syntaktischen Regel, dass Subjekte im Norwegischen einen notwendigen Bestandteil eines Satzes darstellen und immer durch eine NP ausgedrückt werden müssen, wiegt das Ergebnis der beiden ersten Tests, des Kommutationstest in (46) und des Substitutionstest/ Pronominalisierungstest in (47), schwerer als das Ergebnis des Eliminierungstest in (48). Turen til Napoli kann daher als eine Phrase klassifiziert werden. In diesem Abschnitt wurden drei syntaktische Tests eingeführt, mit deren Hilfe syntaktische Phrasen in einem Satz identifiziert werden können: der Substitutionstests mit seinen Unterkategorien Pronominalisierungstest und Fragetest, der Kommutationstest und der Eliminierungstest. Im Idealfall zeigen diese Tests alle das gleiche Ergebnis. Falls nicht, muss eine Abwägung in Bezug auf andere syntaktische Faktoren stattfinden. 6.6 Immediate-Constituents-Analyse Mithilfe der syntaktischen Tests lassen sich, wie gerade erläutert, die Phrasen eines Satzes ermitteln. Nun ist es so, dass diese Phrasen nicht einfach „nebeneinanderher“ existieren, sondern in hierarchischen und syntagmatischen Beziehungen zueinander stehen. Wir haben indirekt schon gesehen, dass eine Phrase andere Phrasen beinhalten kann, wie es im hier wiederholten letzten Beispiel des vorigen Abschnitts der Fall war. (43) no. [Turen [til Napoli] PP ] NP var en stor suksess. ‘Die Reise nach Neapel war ein großer Erfolg.’ Wie durch die syntaktischen Tests gezeigt, handelt es sich bei turen til Napoli um eine NP, die wiederum die PP til Napoli beinhaltet. Kombination aller Tests Zusammenfassung 129 Immediate-Constituents-Analyse Solche hierarchischen Beziehungen zwischen Phrasen können mit Hilfe von syntaktischen Strukturbäumen dargestellt werden: Abbildung 25: Hierarchische Beziehungen zwischen zwei Phrasen Die Graphik lässt sich folgendermaßen lesen: Bei turen til Napoli handelt es sich als Ganzes um eine Nominalphrase (NP). Diese besteht aus einem Substantiv N, das instanziiert wird durch turen und einer PP. Die PP besteht wiederum aus einer Präposition P und einem Substantiv N. Die Präposition P wird instanziiert durch til, das Substantiv N durch Napoli. Die PP til Napoli ist somit Teil der übergeordneten NP. Eine solche Analyse, bei der Wortgruppen und Sätze in ihre Phrasen und schließlich Einzelkategorien und -wörter zerlegt werden, heißt Immediate- Constituents-Analyse (IC-Analyse). Idealerweise werden dabei größere Einheiten immer in zwei kleinere Einheiten unterteilt; Kategorien splitten sich also immer binär auf, solange bis die unterste Kategorien-Eben erreicht ist. Dann erfolgt eine unäre Verbindung zu dem Wort, was die syntaktische Kategorie instanziiert. Was oben anhand einer komplexen NP gezeigt wurde, lässt sich auch an ganzen Sätzen durchführen. Wenn wir von einer einfachen Immediate- Constituents-Analyse ausgehen, kann ein Satz auf der höchsten Ebene immer zerlegt werden in eine Nominalphrase und eine Verbalphrase. Gezeigt wird dies am Beispielsatz (49), dessen IC-Analyse in Abbildung 26 dargestellt wird. (49) da. En kvinde køber en radio. ‘Eine Frau kauft ein Radio.’ syntaktische Strukturbäume Binarität Beispiel-Analysen Abbildung 26: IC-Analyse von Beispiel (49) Syntax 130 Die Graphik der IC-Analyse von Beispiel (49) lässt sich folgendermaßen lesen: Der obige Satz (S) kann auf der höchsten Ebene aufgeteilt werden in eine NP und eine VP. Die NP besteht aus einem Determinierer DET und einem Substantiv (N), welche instanziiert werden durch en und kvinde. Die VP wiederum gliedert sich in ein Verb (V) und eine NP, die als Objekt fungiert. Das V wird durch køber instanziiert. Die NP wiederum teilt sich in einen Artikel (DET) und ein Substantiv (N), die durch en und radio instanziiert werden. Erweitern wir nun Beispiel (49) um eine Phrase: (50) da. En kvinde køber en radio med forbindelse til internettet. ‘Eine Frau kauft ein Radio mit Verbindung zum Internet.’ Das obige Beispiel (50) entspricht dem vorher analysierten Beispiel (49) weitestgehend. Allein die finale NP ist nun etwas komplexer geworden. Eine IC-Analyse des Satzes könnte folgendermaßen aussehen: Abbildung 27: IC-Analyse von komplexerem Beispiel (50) Die Aufteilung des Satzes in ein NP und ein VP und wiederum der VP in V und eine NP ist identisch mit der Aufteilung des vorherigen Beispiels in Abbildung 26. Einzig die in der VP enthaltene NP ist in Beispiel (50) etwas komplexer, da sie noch eine Präpositionalphrase enthält. Während die NP in Beispiel (49) aus en radio besteht, wird sie in Beispiel NP durch en radio med forbindelse til internettet instanziiert. Vergleicht man die IC-Strukturen in Abbildung 26 und Abbildung 27, zeigt sich, dass Beispiel (49) und Beispiel (50), was ihre Syntax angeht, bis zu einem gewissen Grad strukturell Strukturvergleich identisch sind: Sie bestehen beide aus einer NP und 131 Generative Grammatik und X-Bar-Schema einer VP und die VP wiederum aus einem V und einer NP. Der einzige strukturelle Unterschied liegt in der Komplexität der finalen NP. Mithilfe 6.7 Generative Grammatik und X-Bar-Schema Die Generative Grammatik ist ein von Noam Chomsky (*1928) geprägter Ansatz in der Linguistik, der seinen Ursprung zwar in der Syntax hat, aber auch in den anderen sprachwissenschaftlichen Bereichen vertreten ist. Ziel der Generativen Grammatik als kognitiver Theorie ist es, das Sprachvermögen einer jeden Sprecherin genau abzubilden. In Bezug auf die Syntax stellt die Generative Grammatik ein umfangreiches, stetig weiterentwickeltes Analyseinstrumentarium bereit. Aus dieser Vielzahl an Weiterentwicklungen kann hier nur ein kurzer Ausschnitt präsentiert werden, der allerdings grundlegend ist: das X-Bar- Schema, das auch X-Bar-Syntax genannt wird. Eine der Grundannahmen des (hier etwas vereinfacht dargestellten) X-Bar-Schemas ist es, dass sich die Knoten in syntaktischen Phrasenstrukturen immer binär verzweigen. Wir haben im vorherigen Abschnitt gesehen, dass sich Sätze schon mit der Immediate-Constituents-Analyse oft binär in ihre einzelnen syntaktischen Bestandteile zerlegen lassen. Eine binäre Aufteilung mit der IC-Analyse stößt jedoch an ihre Grenzen, wenn z.B. eine VP aus einem Verb und zwei Objekten besteht, wie im deutschen Beispiel in (51), oder eine NP aus Artikel, Adjektiv und Substantiv wie im dänischen Beispiel in (52): (51) dt. Ich habe [ihm Geld gegeben] VP ; (52) da. Han var [en stor mand] NP . In Beispiel (51) bildet die Wortfolge ihm ein Buch gegeben die Verbalphrase des Satzes. (Klammern wir für den Moment einmal das flektierte Verb habe aus.) Die VP enthält drei Elemente ihm, Geld und gegeben. Ähnlich verhält es sich mit der NP in (52), die ebenfalls drei Element beinhaltet: en, stor und mand. Eine Möglichkeit wäre hier, eine triadische Verzweigung von der übergeordneten Phrase zuzulassen wie in den folgenden Graphiken dargestellt: Abbildung 28: Strukturbäume von (51) und (52) mit triadischer Verzweigung Es gibt jedoch Argumente, die gegen eine solche triadische Verzweigung sprechen, wie anhand syntaktischer Tests gezeigt werden kann. In dem deut- Ursprung und Zielsetzung X-Bar-Schema keine dreiteilige Verzweigung der IC-Analyse lassen sich somit sowohl die strukturellen Ähnlichkeiten als auch die Unterschiede zwischen Sätzen klarer herausarbeiten. Syntax 132 schen Satz kann etwa das Hauptverb zusammen mit einem Objekt an den Anfang des Satzes verschoben werden (Kommutationsprobe): (53) dt. [Geld gegeben] habe ich ihm nicht. Die Wortfolge Geld gegeben scheint also eine Unterphrase der VP zu bilden. Ähnlich lässt sich beim dänischen Beispiel durch Koordinierung mit og zeigen, dass die Wortfolge stor mand zusammen eine Unterphrase der NP bilden muss. (Zwar wird bei der Koordinierung gewöhnlich der Artikel, in diesem Fall en wiederholt, eine Auslassung ist jedoch auch möglich.) (54) da. Han var [en [stor mand] og __ [stor skuespiller]]. Hier zeigt sich, dass stor mand ebenfalls eine Zwischenstufe innerhalb der Nominalphrase darstellt, da [stor mand] und [stor skuespiller] auf der gleichen Ebene stehen. Solche Zwischenstufen werden in der X-Bar-Syntax wie in Abbildung 29 dargestellt. In diesen Strukturbäumen bilden die Ebenen Vˈ bzw. Nˈ die Zwischenebenen und signalisieren, dass die Elemente unterhalb sowohl zusammen eine Unterphrase bilden als auch immer noch zur übergeordneten VP bzw. NP gehören. Die Zwischenstufen werden z.T. auch als V̄ oder N̄ notiert. Dieser Strich (en. bar) ist es, der dem Schema seinen Namen gibt. Abbildung 29: Strukturbäume von (51) und (52) im X-Bar-Schema Werden weitere Elemente hinzugefügt, z.B. weitere Adjektive in Beispiel (52), kann die Strukturbeschreibung um beliebig viele weitere Zwischenebenen erweitert werden, also weitere Bar-Levels hinzukommen. Wie an dieser kurzen Einführung schon zu erkennen ist, ist der formale Apparat der Generativen Grammatik abstrakter als das bisher eingeführte Analysewerkzeug. Darüber hinaus werden auch Phrasentypen angenommen, deren Köpfe nicht mehr den gängigen Wortarten entsprechen, sondern bei denen es sich um sogenannte funktionale Kategorien handelt. So ist z.B. der Kopf der Inflexionsphrase (IP) das syntaktische Merkmal +INFL, d.h. „flektiert“. Die formalen und theoretischen Annahmen der Generativen Grammatik haben sich über die Jahrzehnte auch stetig gewandelt und weiterentwickelt und ergeben heute ein komplexes System, das hier nur äußerst minimal angerissen werden konnte. Die interessierte Leserin wird daher auf die unten angeführte weiterführende Literatur verwiesen. Bar-Ebene funktionale Kategorien 133 Konstruktionsgrammatik 6.8 Konstruktionsgrammatik Im bisherigen Verlauf dieses Kapitels wurde davon ausgegangen, dass die syntaktischen Strukturen von Sprachen sich aus sich idealerweise binär verzweigenden syntaktischen Phrasen aufbauen. Die Konstruktionsgrammatik in der Syntax nimmt hier einen anderen Weg und geht davon aus, dass die Syntax konstruktionsbasiert ist. (Siehe auch Kapitel 5.6 zur Konstruktionsgrammatik in der Morphologie.) Unter Konstruktion wird allgemein eine feste Verbindung von einem sprachlichen Inhalt mit einem sprachlichen Ausdruck verstanden - kurz gesagt ein sprachliches Zeichen. Dass Wörter Konstruktionen darstellen, wie es am Ende des Kapitels zur Morphologie erläutert wurde, mag noch einleuchten. Wie aber können syntaktische Strukturen als Konstruktionen verstanden werden? Am einfachsten ist die Konstruktionsbasiertheit von syntaktischen Strukturen an Idiomen zu zeigen. Idiome sind Wortverbindungen, die über ihre wörtliche Bedeutung hinaus eine übertragene oder figurative Bedeutung haben. Es ist daher auch kein Zufall, dass die Konstruktionsgrammatik in der Forschung zu idiomatischen Strukturen ihren historischen Ausgangspunkt nahm. Generell lässt sich sagen, dass die Bedeutungen von Idiomen tendenziell non-kompositionell sind, d.h. ihre Bedeutung ergibt sich nicht aus der Kombination der Bedeutungen ihrer Einzelteile. (55) se. Det barkar åt skogen. ‘(lit.) Der Wald verliert seine Rinde./ Das geht bestimmt schief.’ (56) is. Ekki er allt gull sem glóir. ‘Es ist nicht alles Gold, was glänzt.’ (57) en. He had no interest in linguistics, let alone in syntax. ‘Er interessierte sich nicht für Linguistik, geschweige denn für Syntax.’ In den obigen Beispielen spielt die wörtliche Bedeutung der einzelnen Wörter nur eine untergeordnete Rolle. Die Bedeutung des schwedisches Idioms det barkar åt skogen in (55) lässt sich nur schwer aus den einzelnen Bestandteilen ableiten. Ähnliches gilt für das isländische Beispiel in (56) als Ganzes oder das englische in (57), wo die Wortfolge let alone idiomatisch ist. Auch in strukturalen und generativen Ansätzen zur Syntax wird davon ausgegangen, dass die Bedeutung solcher Idiome als Ganzes im mentalen Lexikon repräsentiert sein muss. Neben der Bedeutung der einzelnen Wörter muss also auch die Bedeutung des Idioms als anzes gespeichert sein, sonst gelingt die Interpretation des Idioms nicht. Es muss also z.B. für das schwedische Idiom eine Konstruktion, d.h. ein Zeichen gespeichert sein: Ausgangspunkt Konstruktion Non- Kompositionalität klassische Idiome G Syntax 134 Abbildung 30: Konstruktionsdarstellung eines schwedischen Idioms Das oben abgebildete Idiom hat noch eine größtenteils regelmäßige Syntax, d.h. ein Verb steht im Zentrum mit einem Präpositionalobjekt und einem Subjekt. Das englische Idiom in (57) mit der Wortverbindung let alone ‘geschweige denn’ hingegen hat eine idiosynkratische Syntax, da nicht klar ist, wie diese Wortverbindung über eine Phrasenstruktur abgebildet werden kann. Zudem enthält das Idiom Leerstellen, d.h. Positionen, die variabel mit bestimmten Wortarten gefüllt werden können. In der schematischen Darstellungen als Konstruktion werden diese füllbaren Leerstellen wie auch in der morphologischen Konstruktionsgrammatik mit einem X oder anderen Variablen markiert: Abbildung 31: Konstruktionsdarstellung eines englischen Idioms Die graphische Darstellung der Konstruktion lässt sich so lesen, dass an die Stelle der Variablen jeweils eine NP oder anderes Element tritt, wenn die Konstruktion realisiert wird. In Beispiel (57) wird die erste NP durch he realisiert, das Verb V durch had, das Negationselement NEG durch no und die zweite NP durch interest in linguistics. Die letzte NP wird schließlich realisiert durch syntax. Die meisten Ansätze innerhalb der Konstruktionsgrammatik weiten nun die Repräsentation von syntaktischen Strukturen als Konstruktionen von der Ebene der Idiome auch auf alle syntaktischen Strukturen aus. Konkrete Äußerungen sind demnach immer Instanziierungen von Konstruktionsschemata wie dem obigen, d.h. Äußerungen werden immer aufgefasst als Realisierungen von mehr oder weniger abstrakten Konstruktionsmustern mit füllbaren Leerstellen. Eine in der konstruktionsgrammatischen Literatur häufig besprochene Konstruktion ist die sogenannte Ditransitiv-Konstruktion im Englischen, deren Konstruktionsschema wie folgt wiedergegeben werden kann: Idiome mit Leerstellen Konstruktionsschema Ditransitiv- Konstruktionen 135 Konstruktionsgrammatik Abbildung 32: Schema der englischen Ditransitiv-Konstruktion Die Ditransitiv-Konstruktion besteht aus einem Verb (V) einem Subjekt (SUBJ) und zwei Objekten (OBJ), von denen das eine einen transferierten Gegenstand, das andere die Empfängerin des Transfers ausdrückt. Man könnte nun meinen, dass die Bedeutung von Instanziierungen der Konstruktion sich einfach aus den Einzelteilen herleiten lässt und eine konstruktionsbasierte Darstellung demnach überflüssig ist. Dass die Konstruktion in der Tat über eine eigene Bedeutung verfügt, nämlich ‘Transfer’, zeigt sich, wenn der V-Slot von einem Verb gefüllt wird, das in seiner Grundbedeutung typischerweise keinen Transfer ausdrückt. (58) en. They gave her a car. ‘Sie gaben ihr ein Auto.’ (59) en. He blew him a kiss. ‘Er blies ihm einen Kuss zu.’ Das Verblexem give ‘geben’ in Beispiel (58) stellt ein prototypisches Beispiel für ein Verb dar, dessen Bedeutung einen Transfer beinhaltet: Der Akt des Gebens impliziert eine Geberin, etwas, das gegeben wird, und eine Empfängerin. Das Verb in Beispiel (59) blow ‘blasen’ hat in seiner Grundbedeutung keine solche Implikation eines Transfers. Diese Bedeutung ist in (59) durch die Ditransitiv-Konstruktion bedingt. Ähnlich wie die englische Ditransitiv-Konstruktion lassen sich auch andere abstrakte Konstruktionen ermitteln, die jeweils eine bestimmte Form und eine bestimmte Bedeutung haben. So gibt es in vielen Sprachen Transitivkonstruktionen, Passivkonstruktionen oder Deponens-Konstruktionen. Wie genau die Form und Funktion dieser Konstruktionen jeweils aussieht, ist dabei sprachabhängig und muss für jede Sprache einzeln bestimmt werden. Die syntaktische Konstruktionsgrammatik ist sehr kompatibel mit dem in diesem Buch verfolgten zeichenbasierten Ansatz in der Sprachwissenschaft, da in der Konstruktionsgrammatik, wie ausgeführt, auch syntaktische Einheiten, also Konstruktionen, allesamt als Zeichen aufgefasst werden. Nicht nur syntaktische Einheiten können als Konstruktionen angesehen werden, sondern auch Wörter, wie im Kapitel zur Morphologie ausgeführt wurde. Dieser einheitliche Ansatz inspiriert die Charakterisierung von Sprache als constructions all the way down: Alles an Sprache ist Konstruktion. Konstruktionsgrammatische Ansätze gibt es jedoch viele verschiedene, manche eher formal geprägt, manche eher kognitiv wie die hier vorgestellte Variante und die verschiedenen Ansätze sind zum Teil auch noch recht vage in ihrer genauen Ausführung. Wie auch bei der Generativen Grammatik wird Syntax 136 die Leserin daher auf speziellere Einführungswerke verwiesen, die einen Überblick über die verschiedenen Ansätze geben. Weiterführende Literatur Eine gelungene englischsprachige Einführung in die Grundlagen syntaktischer Analyse, die recht unabhängig von bestehenden Paradigmen ist, stellt Tallerman (2011) dar. Dort wird auch genauer auf Wortarten und syntaktische Funktionen eingegangen, die in diesem Kapitel als gegeben vorausgesetzt wurden. Dürscheid (2012) gibt neben einer allgemeinen Einführung in syntaktische Grundlagen auch einen Überblick über syntaktische Theorien. Müller (2010) geht noch detaillierter auf verschiedene syntaktische Theorien ein. Hinsichtlich der beiden hier angeführten syntaktischen Theorien seien zwei Werke empfohlen: Philippi/ Tewes (2010) sind eine zugängliche Einführung in die Grundlagen und den theoretischen Apparat der Generativen Grammatik. Die erste deutschsprachige Einführung in die konstruktionsgrammatische Syntax bieten Ziem/ Lasch (2013). Dürscheid, Christa (2012): Syntax. 6. Auflage. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Müller, Stefan (2010): Grammatiktheorie. Tübingen: Stauffenberg. Philippi, Jule/ Tewes, Michael (2010): Basiswissen Generative Grammatik. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Tallerman, Maggie (2011): Understanding Syntax. 3. Auflage. London u.a.: Arnold. Ziem, Alexander/ Lasch, Alexander (2013): Konstruktionsgrammatik. Berlin u.a.: de Gruyter. Übungen Dieses Kapitel hat die wesentlichen Termini zur Beschreibung von Sätzen vorgestellt. Mit diesen Termini kannst Du nun den Aufbau von Sätzen beschreiben und Beschreibungen von Satzstrukturen in sprachwissenschaftlicher Fachliteratur verstehen. Mit den folgenden Aufgaben kannst Du Dein passives und aktives Verständnis dieser Termini überprüfen und weiter üben. 1) Bestimme bei den folgenden Äußerungen, ob sie nach den beiden im Kapitel gegeben Satzdefinitionen grammatische Sätze sind: a) nb. Har du alltid bodd i Oslo? ‘Wohnst Du schon immer in Oslo? ’ b) dt. Kann ich Dir jetzt nicht sagen. c) is. Það fer eftir veðrinu. ‘Das hängt vom Wetter ab.’ d) da. Glædelig jul! ‘Frohe Weihnachten! “ 2) Bestimme die Valenz der folgenden Verben. a) dt. liegen b) is. berja ‘schlagen’ 137 Konstruktionsgrammatik c) da. glæde ‘freuen’ d) se. snöa ‘schneien’ e) no. bringe ‘bringen’ 3) Ermittle die Phrasen in folgenden Sätzen oder Teilsätzen mithilfe syntaktischer Tests. Wende, wenn möglich, pro Phrase mindestens zwei Tests an. a) se. Det var en vacker eftermiddag. ‘Es war ein schöner Nachmittag.’ b) dt. Hast Du einen Kuli mit roter Mine? c) is. Við hittum skemmtilegan gaur í Reykjavík. ‘Wir haben in Reykjavik einen lustigen Typen getroffen.’ 4) Gib die Struktur folgender Sätze mithilfe eines IC-Strukturbaums wieder. a) da. Han bager pandekager. ‘Er backt Pfannkuchen.’ b) is. Það var mikill árangur í baráttunni gegn sjúkdóminum. ‘Das war ein großer Erfolg im Kampf gegen die Krankheit.’ c) no. Hjelp meg! ‘Hilf mir! ” d) dt. Die Studentin hat einen Labrador mit weichem Fell. 5) Der folgende Satz ist doppeldeutig: Sie verjagt den Einbrecher mit dem Gewehr. Zeige mithilfe syntaktischer Tests, wie sich die syntaktische Struktur der beiden Interpretationen innerhalb der VP unterscheidet und gib eine einfache IC-Analyse von beiden Interpretationen an unter Zulassung triadischer Verzweigungen. 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C / . $ < . 8; ! / $ / / )/ ! . / $ ) . " $ F/ $ = $ 9 $ = . 2 . ./ . $ $ / . G ' / ; G . $ Dieses Studienbuch behandelt in sechs Kapiteln zu Semiotik, Phonetik, Phonologie, Morphologie, Semantik und Syntax die klassischen Teilbereiche der Linguistik. Durch die Verwendung von Beispielen und Übungsaufgaben zu den skandinavischen Sprachen (Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Isländisch und Färöisch) werden die Leserinnen und Leser mit der Terminologie und den Methoden dieser sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen vertraut gemacht. Jedem Kapitel geht eine Checkliste der zu erwerbenden Terminologie voraus. Die erläuterten Methoden umfassen die grundlegenden Analysemethoden der strukturalen Linguistik. Sie werden ergänzt durch neuere Ansätze der betreffenden Teilbereiche, um die Leserinnen und Leser an die jüngere Forschung und weiterführende Literatur heranzuführen. Darauf folgen Übungsaufgaben, die die Terminologie des jeweiligen Kapitels wiederholen und die Möglichkeit bieten, die erworbenen Methoden anhand von Beispielen aus den skandinavischen Sprachen zur Anwendung zu bringen. Die Kapitel werden jeweils durch eine Bibliographie der weiterführenden Literatur und Handbücher ergänzt.