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Raum - Bewegung - Passage

2009
978-3-8233-7515-9
Gunter Narr Verlag 
Gesine Müller
Susanne Stemmler

Ansätze der postcolonial studies, vor allem die topologischen Konzepte zur Analyse des Schreibens zwischen verschiedenen geographischen Sphären werden immer wichtiger für die Analyse französischsprachiger Literaturen und Filme. Auch in literarischen Texten selbst kommt die Reflexion räumlicher Bewegungen im Zeitalter von Migration und Globalisierung zum Ausdruck - das Schreiben auf der Grenze und in Bewegung spielt eine immer größere Rolle. Der Band fokussiert eine Bandbreite an Texten von der Kolonialzeit des 19. Jahrhunderts aus der Karibik und des Orientalismus, über die Zwanziger Jahre bis hin zu postkolonialen Literaturen und Filmen des 20. und 21. Jahrhundert aus Frankreich und Subsahara-Afrika, Kanada und der Karibik. Im Zentrum steht die Relevanz der kulturwissenschaftlichen Kategorie Raum - in den Blick gelangt zugleich der Raum im Text und der Text als Raum. Der Band verbindet erstmals den spatial turn mit Ansätzen der postcolonial studies und erprobt in exemplarischen Analysen ihren methodischen Wert für die Frankoromanistik.

edition lendemains 14 Gunter Narr Verlag Tübingen Gesine Müller / Susanne Stemmler (Hrsg.) Raum - Bewegung - Passage Postkoloniale frankophone Literaturen Raum - Bewegung - Passage edition lendemains 14 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) Gesine Müller / Susanne Stemmler (Hrsg.) Raum - Bewegung - Passage Postkoloniale frankophone Literaturen Gunter Narr Verlag Tübingen Umschlagabbildung: © Susanne Stemmler Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Kurt Ringger-Stiftung und des Frankoromanistenverbandes Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6515-0 Inhalt Gesine Müller/ Susanne Stemmler Zur Einleitung……………………………………………………………………...7 L A M ÉTROPOLE . FRANKOPHONE R ÄUME DER M ACHT UND S UBVERSION Kian-Harald Karimi „La dernière ressource de notre grandeur“. Die Frankophonie zwischen imperialer Vergangenheit und postkolonialer Zukunft …………………………………………………….15 Susanne Greilich Imaginativer und imaginärer Raum. Der Orient Gérard de Nervals …………………………………………………..33 Susanne Stemmler Die Kolonie in der Metropole. „Schwarze“ Körper in der französischen Literatur der Zwanzigerjahre …………….……….……49 Rolf Kailuweit „Nomaden“ und „Migranten“. Raumtheoretische Anmerkungen zu einer franko-rioplatensischen Oszillation ……………………………….…67 I NSELN UND D IASPORA . K ARIBISCHE R ÄUME Gesine Müller „Une misérable petite île! moins qu’une île…“. Raumdynamiken und koloniale Positionierung in der Literatur der spanischen und französischen Karibik im 19. Jahrhundert ……………..87 Helke Kuhn Rhizom, Wirbelwind, Archipel. Denkbilder des Raumes im Werk Édouard Glissants ………………………101 Torsten König Édouard Glissants pensée archipélique. Zwischen Metapher und poetischem Prinzip ………………………………..113 Inhalt 6 Ralph Ludwig Raumprojektionen in der neueren frankokaribischen Literatur……………131 Jörg Türschmann Postkoloniale Schweigeräume. Mourir pour Haïti ou les croisés d’Esther von Roger Dorsinville (1980) ……..149 Beatrice Schuchardt Räume der Verdrängung, Räume der Vertreibung im Werk Marie-Célie Agnants ……………………………………………...…165 P OSTKOLONIALE D ISKURSE , TRANSKULTURELLE R ÄUME UND H ETEROTOPIEN IN F ILM UND L ITERATUR DER G EGENWART Gisela Febel Non-lieux und Heterotopien im französischen Gegenwartsroman und -film ……………………………...183 Karen Struve „Passagen-Schreiben“. Raum und écriture am Beispiel der transkulturellen Beur-Literatur der Gegenwart …………………………195 Véronique Porra Discours postcolonial et représentation de l’espace dans Touki Bouki et Hyènes de Djibril Diop Mambéty ……………………….205 Urs Urban Der Raum. Theoretische Annäherung und Analyse des Erinnerungsraumes in einem Text von Jean Genet über Palästina ………………………………..223 Beiträgerinnen und Beiträger...………………………………………………...239 Gesine Müller/ Susanne Stemmler Zur Einleitung Erkenntnisse und Ansätze der postcolonial studies, vor allem die aus ihnen hervorgegangenen topologischen Konzepte zur Analyse des Schreibens zwischen verschiedenen geografischen Sphären, werden immer wichtiger für die Analyse frankophoner Literaturen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Auch in literarischen Texten selbst kommt die Reflexion räumlicher Konstellationen zum Ausdruck: das Schreiben auf der Grenze und in Bewegung spielt eine große Rolle. Unser Band Raum - Bewegung - Passage. Postkoloniale frankophone Literaturen fokussiert dieses Phänomen mit Beiträgen auf verschiedenen Ebenen. Spezifische Raumdiskurse unterliegen den kolonialen literarischen Texten des 19. Jahrhunderts, die sich mit außereuropäischen Regionen - etwa der Karibik oder dem „Orient“ - auseinandersetzen und durch die dynamische Interaktion auf der Zentrum-Peripherie-Achse geprägt sind. Literarische Repräsentationsformen können dabei im breiteren Kontext von Kultur- und Wissenszirkulation verortet werden. Aneignung und Transkulturation „mutterländischer“ Diskurse sowie deren Rückwirkungen auf die Fremdbilder in der Metropole sind hier die Stichworte. Für die Literaturen im 20. und 21. Jahrhundert, der postkolonialen Zeit, haben sich Konzepte von Transkulturalität, „dritter Raum“ oder „in-between“ als Beschreibungskategorien französischsprachiger außereuropäischer Literaturen aus Subsahara- Afrika, dem Maghreb, „Indochina“, Kanada oder der Karibik etabliert. Nicht zuletzt sind die Gegenwartsliteraturen und -filme zu nennen, die sich mit urbanen Räumen, gewissermaßen mit der Kolonie in der Metropole auseinandersetzen - auch hier taucht das Konzept der Diaspora und das räumliche Verhältnis von Zentrum und Peripherie wieder auf. Angefangen vom Orientalismus der Romantiker des 19. Jahrhunderts, über die philosophische Literatur Édouard Glissants, bis hin zur littérature beur ist eine Verschränkung von Raum als Topos und topologischem poetischen Verfahren, das Ineinander von Raum im Text und Text als Raum zu beobachten. Die Beiträge dieses Bandes verknüpfen raumtheoretische Überlegungen mit Forschungsansätzen aus den postcolonial studies und prüfen sie auf ihren heuristischen Wert für die Frankoromanistik. Mit den drei Kapiteln „La Métropole. Frankophone Räume der Macht und Subversion“ (1), „Inseln und Diaspora. Karibische Räume“ (2) und „Postkoloniale Diskurse, transkulturelle Räume und Heterotopien in Film und Literatur der Gegenwart“ (3) verfolgt der Band das Ziel, den theoretischen Diskurs zu reflektieren und Gesine Müller/ Susanne Stemmler 8 Begriffsbestimmungen vorzunehmen. Im Zentrum steht die Frage, inwieweit die Erkenntnisse von Forschungsansätzen, die oft für den englischsprachig dominierten Raum entwickelt wurden, auf die frankophone Situation übertragbar sind oder einer Differenzierung bedürfen. Auch die Unterscheidung der rein zeitlichen Definition von Postkolonialismus, die wiederum als Zeitpunkt nach der Unabhängigkeit einer Kolonie oder aber als Prozess der Auseinandersetzung mit neuen Strukturen gefasst werden kann, vom theoretisch-methodischen postkolonialen Forschungsansatz sowie die je eigene Konnotation des Begriffs in der Frankoromanistik im Gegensatz zur Lateinamerikanistik ist Gegenstand des vorliegenden Bandes. Auf der Grundlage verschiedenster Gattungen frankophoner Literaturen und Filme aus den Umbruchzeiten seit 1804 (der endgültigen Abschaffung der Sklaverei und „nationalen“ Unabhängigkeit auf Haiti) über die Unabhängigkeit Algeriens, der Subsahara etc. werden exemplarische Anwendungsgebiete für das theoretische Handwerkszeug der postcolonial studies (unter anderen Said, Bhabha, Mbembe), insbesondere unter topologischen Gesichtspunkten (unter anderen Foucault, Augé, Glissant) erörtert. Der erste Themenschwerpunkt „La Métropole. Frankophone Räume der Macht und Subversion“ nimmt die für die Frankophonie charakteristische koloniale und postkoloniale Raumkonstellation von Zentrum vs. Peripherie in den Blick. Kian-Harald Karimi (Berlin) liefert hierzu mit seinem historischen Überblick „‚La dernière ressource de notre grandeur‘. Die Frankophonie zwischen imperialer Vergangenheit und postkolonialer Zukunft“ eine diskursgeschichtliche Grundlage. Letztendlich - so das recht eindeutige Fazit Karimis - sei die Idee der zwar auf einer gemeinsamen Sprache basierenden, jedoch immer noch das vermeintlich Periphere ausschließenden, zumeist politisch gedachten Frankophonie die „Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln“. Er hält ein Plädoyer für die Auslotung einer polyzentrischen, transkulturellen Frankophonie mit einer einhergehenden Entkolonialisierung des Begriffs und schließt seine Argumentation dem jüngsten Aufruf „Pour une littérature-monde“ der Autoren Glissant, Condé, Maalouf, Ben Jelloun und Le Clézio (Le Monde 16.03.2007) an. Einem Fallbeispiel der inzwischen beinahe „klassisch“ gewordenen Raumkonstellation des Orientalismus, die in der Dichotomie Nordafrika- Frankreich zum Ausdruck kommt, nimmt sich Susanne Greilich (Regensburg) in ihrem Beitrag „Imaginativer und imaginärer Raum. Der Orient Gérard de Nervals“ an. Der Beitrag macht sich den Ansatz der imaginativen Geografie des postkolonialen Theoretikers Edward Said zu eigen und fragt nach dem Konstruktcharakter des Orients als Raum. In Gérard de Nervals Reisetext Voyage en Orient von 1835, so Greilich, finden sich zahlreiche Verweise auf diesen Raumkonstruktcharakter, der eine Distanznahme zum Orientbild seiner Zeit darstelle. Zugleich - und hier liege die Ambivalenz der nerval- Zur Einleitung 9 schen Erzählstrategie - koppele er sich keinesfalls vom Prozess des kreativen Neuerschaffens eben dieses Raumes ab und schaffe mit dem Rückzug in „seinen“ imaginären Orient eine Heterotopie. Die Übertragung der räumlichen Dichotomie von Kolonie und Metropole in die Metropole Paris und den Zerfall des Exotismus in die Pluralität erkundet Susanne Stemmler (Berlin) in ihrem Beitrag „Die Kolonie in der Metropole. ,Schwarze‘ Körper in der französischen Literatur der Zwanzigerjahre“. Am Beispiel des Romans La négresse du Sacré-Cœur von André Salmon zeigt sie, inwiefern die Afrikabegeisterung der Modernen in Literatur und Kunst in der Zeit des entre-deux-guerres die Kolonie in die Metropole holen und dabei einem neuen Exotismus huldigen konnte. Mit Victor Segalen fragt Stemmler nach der Loslösung des Exotismus von der Bewegung im Raum. Dem Rio-de-la-Plata-Raum und seinem Verhältnis zur französischen Metropole geht Rolf Kailuweit (Freiburg) in seinem Beitrag „‚Nomaden‘ und ‚Migranten‘. Raumtheoretische Anmerkungen zu einer franko-rioplatensischen Oszillation“ nach. Am Beispiel der räumlichen Figur des Migranten (Geoffroy François Daireaux 1849-1916) und des Nomaden (die sogenannten bataclanas) sowie deren Mischfiguren (Carlos Gardel) zeigt Kailuweit, dass im kulturellen Amalgam aus spanischer Sprache und französischem Geist ein transnationaler Raum zwischen den Metropolen Buenos Aires und Montevideo jenseits eines nationalen Container-Raums entsteht. Das zweite Kapitel „Inseln und Diaspora. Karibische Räume“ beginnt chronologisch mit einem Beitrag zum 19. Jahrhundert. Gesine Müller (Potsdam) untersucht in „‚Une misérable petite île! moins qu’une île…‘. Raumdynamiken und koloniale Positionierung in der Literatur der spanischen und französischen Karibik im 19. Jahrhundert“ anhand von Texten von Maynard de Queilhe (Haiti 1835), Émeric Bergeaud (Guadeloupe 1859) und Eugenio María de Hostos (Puerto Rico 1863) drei unterschiedliche Vertreter der karibischen Kolonien. Ausgehend von der These, dass die Inselwelt der Karibik im 19. Jahrhundert als Kaleidoskop kolonialer Strukturen und Dynamiken bezeichnet werden kann, lotet sie das Analysepotenzial von räumlichen und postkolonialen Theorien für einen historischen Kontext aus, der auf der Kongruenz von kultureller Identität und nationalem Territorium beruht. Die komplexen Raumstrukturen der drei Romane weisen auf die ganz unterschiedlichen sozialen und politischen Situationen von Guadeloupe und Martinique - bis heute französisch -, Haiti und Puerto Rico hin, die auf eine erstaunliche Art bisweilen eine (postmoderne) relationale Raumkonzeption vorwegnehmen. Dem Werk Édouard Glissants, sowohl seinen topologischen und poetologischen Implikationen als auch der Literarizität seiner Texte selbst, kommt ein grundlegender Stellenwert für die Thematik unseres Bandes zu. Ihm sind daher auch gleich zwei Beiträge gewidmet. Als Theoretiker der Globali- Gesine Müller/ Susanne Stemmler 10 sierung avant la lettre beschreibt Helke Kuhn (Berlin/ Stuttgart) in „Rhizom, Wirbelwind, Archipel. Denkbilder des Raumes im Werk Édouard Glissants“ den Autor aus Martinique. Sein Plädoyer für eine Theorie der mondialité liest sie als eine die traditionellen Raumhegemonien verunsichernde und verschiebende politische Strategie. Die drei im Titel genannten glissantschen Begrifflichkeiten, die aus dem antillanischen Naturraum entwickelt werden, stellt Kuhn als zentrale theoretische Kategorien für seine Konzeption des Raumes mit unendlich vielen Zentren und für seine Poetik der Relationalität heraus. Torsten König (Dresden) nimmt in „Édouard Glissants pensée archipélique. Zwischen Metapher und poetischem Prinzip“ die Rolle der Raumfiguren „Inseln“ und „Archipele“ im Werk Glissants in den Blick und fragt nach ihrer metaphorischen Funktion sowie nach ihrem heuristischen Potenzial für die Kulturphilosophie. In einem weiteren Schritt zeigt König die Konvergenz dieser Metaphern mit der insularischen Schreibweise der glissantschen Texte. König gelangt zu dem Schluss, dass die topologischen Metaphern Glissants an Überlegungen zu Trans- und Hyperkulturalität anschlussfähig sind. Ralph Ludwig (Halle) geht in seinem Beitrag „Raumprojektionen in der neueren frankokaribischen Literatur“ davon aus, dass der Raum hier als eine ebenso problematische wie gesellschaftlich geprägte und kontrollierte Größe wahrgenommen wird. Ging die Literatur des 19. Jahrhunderts mit ihrem kolonialen Diskurs eher von einem objektiven Raum mit klaren Randgrenzen aus, so führte selbst die Négritude-Bewegung zu keiner Neuausrichtung des statischen Europa-Antillen-Afrika-Schemas. Gegenwartstexten unterliegt nach Ludwig jedoch ein eher subjektives Raumverständnis mit offenen Rändern, wie etwa bei Patrick Chamoiseau, Édouard Glissant, Raphaël Confiant, Dany Laferrière, Kettly Mars. Hier untersucht er diasporische Räume ebenso wie Innenräume, vergangene Räume ebenso wie Körperräume. Jörg Türschmann (Wien) behandelt in seinem Beitrag „Postkoloniale Schweigeräume. Mourir pour Haïti ou les croisés d’Esther von Roger Dorsinville (1980)“ eine literarische Repräsentation der postkolonialen Raumordnung Haitis, die auf der Grenze zwischen Kolonialzeit und neuer Machtordnung ansetzt. Der Kolonialismus ist zwar überwunden, doch der Blick auf Alternativen in der globalisierten Welt ist durch die Diktatur nicht möglich. Der Roman repräsentiert einen Blick von außen auf haitianische zeitgenössische Raumordnungen, wobei Türschmann insbesondere die Exilperspektive reflektiert und dadurch eine doppelte topologische Analyse integriert, die symptomatisch ist für ein Schreiben in der haitianischen Diaspora. Haiti ist auch Thema in „Räume der Verdrängung, Räume der Vertreibung im Werk Marie-Célie Agnants“: Beatrice Schuchardt (Siegen) untersucht mit Blick auf den narrativen Entwurf des historischen und politischen Raums Haiti die literarischen Strategien des Umgangs mit kollektiven Trau- Zur Einleitung 11 mata in Agnants Le livre d’Emma (2001) und Le silence comme le sang (1997). Sie entdeckt dabei Metaphern der Abwesenheit und Amnesie, die der Erfahrung der Kolonialisierung als kulturelle Enteignung Ausdruck geben. Schuchardt charakterisiert Agnants Schreiben als Anschreiben gegen die Leere der Stille, gegen die Reduktion des Individuums der „Supermoderne“ (Augé) auf den Konsumakt, indem sie Mülldeponien als archäologische Gedenkstätten nach den Spuren von Opfern durchforstet und die Verfolgung durch koloniale und postkoloniale Gewaltstrukturen bis in die Vertreibung ins kanadische Exil beschreibt. Das dritte Kapitel „Postkoloniale Diskurse, transkulturelle Räume und Heterotopien in Film und Literatur der Gegenwart“ fragt nach den theoretischen Positionierungen in Film und Literatur der letzten 50 Jahre aus Senegal und Frankreich und in der littérature beur Frankreichs. Urbane Räume sind Gegenstand der französischsprachigen Filme und Romane, die Gisela Febel (Bremen) in ihrem Beitrag „Non-lieux und Heterotopien im französischen Gegenwartsroman und -film“ als Beispiele für Konzeptionalisierungen neuer Räume und Repräsentationen neuer Raumkonstellationen in den letzten 50 Jahren Revue passieren lässt. Ausgehend von Marc Augés Konzept des Nicht-Ortes und von Michel Foucaults Heterotopie erläutert sie die Funktion der Nicht-Orte - avant la lettre - beispielsweise in Texten Alain Robbe- Grillets (Instantanées, 1962; Projet pour une révolution à New York, 1970), Marguerite Duras’ (Le camion, 1977; Les mains négatives, 1979) oder Marie Redonnets (Splendid Hotel, 1986; Diego, 2005). Anhand der Banlieue-Filme Mathieu Kassovitz’, Mehdi Charefs oder Abdellatif Kechiches und der Beur-Romane Azouz Begags zeigt Febel, wie in der Migrationsweltordnung gerade die Nicht-Orte zum Ort für die marginalisierten Gruppen der Gesellschaft werden, in diesem Raum Heterotopien, subversive Abweichungsorte bilden und sich zum eigenen Topos entwickeln. Karen Struve (Bremen) fokussiert in ihrem Beitrag „,Passagen-Schreiben‘. Raum und écriture am Beispiel der transkulturellen Beur-Literatur der Gegenwart“ die spezifischen literarischen Raumkonstruktionen in den Erzähltexten der Kinder maghrebinischer Einwanderer in Frankreich. Sie legt am Beispiel einer Fülle von Beur-Texten, entstanden zwischen 1984 und 2005, dar, wie die transkulturellen Bewegungen der Protagonisten über nationale und Stadtgrenzen, über Türschwellen und Gefängnismauern inszeniert werden, die Struve als „Passagen-Schreiben“ bezeichnet. Ähnlich wie in den beiden Glissant-Beiträgen scheint auch für diese Literatur ein topologisches poetisches Verfahren zentral zu sein: sie erfasst den Raum im Text und den Text als Raum, was als Beschreiben der Transition und als transitorisches Schreiben selbst charakterisiert werden kann. Véronique Porras (Mainz) Beitrag „Discours postcolonial et représentation de l’espace dans Touki Bouki et Hyènes de Djibril Diop Mambéty“ untersucht Gesine Müller/ Susanne Stemmler 12 am Beispiel zweier Filme, inwiefern Raumkonzeptionen und postkoloniale Positionierungen eng zusammenhängen und welche spezifischen Möglichkeiten das Medium Film zur Inszenierung postkolonialer Fragen ausschöpfen kann. Ein Vergleich beider Filme zeigt eine deutliche Entwicklung postkolonialer Vermittlungsmöglichkeiten, wobei sich das Konzept des „Dritten Raums“ als aufschlussreich erweist. Während im ersten Fall die Illusionen eines neokolonialen Frankreichs beleuchtet werden, zeigt der zweite postkoloniale Dimensionen der Globalisierung. Am Schluss des Bandes steht der Beitrag „Der Raum. Theoretische Annäherung und Analyse des Erinnerungsraumes in einem Text von Jean Genet über Palästina“ von Urs Urban (Straßburg). Er fasst nochmals ausführlich und systematisch die aktuelle Raumdebatte zusammen, deren Erkenntnisse zur Relativität des Raumbegriffes, zur Pluralität der Räume und zur Problematisierung der Grenze er als relevant hervorhebt. Sodann wendet er ihre Relevanz am Beispiel eines Textes von Jean Genet zum Thema Palästina an, indem er ihn als eine Konkretisierung der Raumordnung betrachtet: Palästina als ein „ortloser Ort“, als ein stets zur Disposition stehender und infrage gestellter Raum ist für Genet Anlass, sich mit der prekären Existenz der Palästinenser auseinanderzusetzen - Urban bezeichnet diese von Genet entworfene Topografie als einen heterotopischen Raum im Sinne Foucaults und gelangt zu einer positiven Bewertung des Raums als Kategorie für die Literaturwissenschaft. Dank Dieser Band ging hervor aus der Sektion „Raumdiskurse in frankophonen Literaturen - postkoloniale Forschungsansätze in der Frankoromanistik“ während des 6. Kongresses des Frankoromanistenverbandes in Augsburg vom 24.-26. September 2008. Wir danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer Sektion sehr herzlich für die aktive Teilnahme und die rege Diskussionsbereitschaft. Wir haben uns über Wolfgang Asholts anschließende freundliche Einladung in seine Reihe lendemains sehr gefreut - un grand merci! Ein Dank geht auch an den Frankoromanistenverband, der die Teilnahme der internationalen Referenten ermöglichte und den Druck dieses Bandes bezuschusste. Ohne die finanzielle Unterstützung der Kurt Ringger- Stiftung wäre der Druck dieses Bandes nicht möglich geworden, auch ihr gilt unser Dank. Wir möchten uns schließlich sehr herzlich bei Marion Schotsch für die äußerst professionelle und angenehme redaktionelle Betreuung des Bandes bedanken! L A M ÉTROPOLE . F RANKOPHONE R ÄUME DER M ACHT UND S UBVERSION Kian-Harald Karimi „La dernière ressource de notre grandeur“. Die Frankophonie zwischen imperialer Vergangenheit und postkolonialer Zukunft Ainsi de Dakar à Djibouti, de Brazza à Moroni, dans les maquis de Treicheville ou les „cars-rapides“ de Guédiawaye-Colobane, nous faisons valser vos mots dans tous les sens, à donner dans sa tombe le tournis à Hugo. […] Et si d’aventure un jour la France, dans la représentation que s’en fait son propre peuple, n’était qu’une constellation de plus sur la bannière étoilée, revenez voir Excellence, du côté de nos nouvelles provinces du Niombato, du Boundou ou du Pakaou, vous y trouverez encore vivantes, bien loin du cours de la Seine, les racines qui ont porté votre grande nation. Tant il est vrai que qui est gardien ultime de votre langue est aussi l’avenir de votre civilisation. Kane (2001) Problemstellung Der Raum gehört neben der Zeit zu den Formen der Anschauung, die es uns als Bedingung unserer Sinnlichkeit und Erfahrung erlauben, allgemeine Urteile zu bilden. Da er nicht a priori gegeben ist, entsteht er erst aufgrund unserer visuellen Tätigkeit. Der Raum ist kein allgemeiner oder abstrakter Begriff, sondern ein Bild, das sich als „Product ‚unserer Einbildungskraft‘“ (Eisler 1904, 2: 202) mit der visuellen Energie des Subjekts entfaltet. Nur jene Erscheinungen des äußeren Sinns erhalten dabei eine Form, die von unserem Blick erfasst werden. Wenn der Raum wie die Sprache ein Zeichen für Empfindungen ist (Mauthner 1923, 3: 13), verdichtet sich daher in ihm auch die Geschichte jener Aussagen und Vorstellungen, die wir uns bezüglich eines Gegenstands machen. Im Raume lesen wir nicht nur die Zeit. In der Art und Weise, wie wir ihn kategorisieren, lernen wir auch unserer eigenes Denken und dessen Grenzen kennen. Doch die Nomenklatur der Räume steuert unsere Erwartungen nicht minder. Deren Ordnung schlägt auf unsere Reflexion zurück, indem sie unsere Anschauung auf ihre Konventionen einstimmt und diesen den Anschein einer Realität verleiht, die uns objektiv und natürlich anmutet. Ähnlich verhält es sich mit jenem frankophonen Raum, der heute so disparate Teile Afrikas, Kanadas, des Nahen Ostens und des westlichen Europas umfasst. Besinnt man sich der Vielzahl seiner Kulturen und Sprachen, so ist seine Realität allein aus dem Umstand denkbar, dass das Französische innerhalb dieser Grenzen einen besonderen Status als Erst- oder Zweitsprache, als Idiom von Administration, Bildungssystem und Handelsverkehr genießt. Dass dieser Raum dabei über ein Zentrum verfügt, „of course la Kian-Harald Karimi 16 France métropolitaine“ (Ball 1997: 7), lässt erkennen, dass seine Teile nicht als gleichrangige Subjekte miteinander verhandeln. Seine topografische Ordnung, die vielmehr auf wirtschaftlichen wie kulturellen Hierarchien beruht, kann den anhaltenden Konflikten zwischen Nord und Süd ebenso wenig entrinnen wie der eigenen Entstehungsgeschichte. Denn jene heterogenen Diskurse, die sich seit 1850 zunächst im Zuge der politischen Konjunkturen des Panromanismus zu formieren beginnen (Panick 1978) und schließlich in der von Revanchegelüsten heimgesuchten französischen Republik die Kategorie der „Frankophonen“(Reclus 1886) hervorbringen, sind in ihrem Ergebnis noch immer höchst gegenwärtig. Sie mögen sich in jene Vorstellungen von einem pré carré einschleichen, „la zone d’Afrique où s’exerce le plus directement l’influence française“, in denen die französische Politik noch bis in die 1990er-Jahre befangen ist (Lacouture 1998: 439). Wenn es sich dieser Beitrag zur Aufgabe macht, ihre Diskursgeschichte zu skizzieren, so geschieht dies aber nicht aufgrund historischer Reminiszenzen allein. Vielmehr soll hier die Frage im Vordergrund stehen, ob und inwieweit das so implizierte Raumdenken auch auf die akademischen Eliten und Institutionen der Metropole nachwirkt, die bis in die jüngere Zeit nur zögerlich und vereinzelt an der postkolonialen Debatte partizipieren. Noch heute wird unter nordamerikanischen, britischen, aber selbst französischen Forschern der Vorwurf laut (cf. Moura 2000, Murphy 2002, Hargreaves 2003/ 2007, Forsdick 2005, Amselle 2006, Milhaud 2006b), dass die Frankophonie - von bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - noch immer aus dem Bereich der Metropolenliteratur ausgegliedert sei und anders als in den angelsächsischen Ländern allenfalls im Rahmen der Komparatistik zum wissenschaftlichen Gegenstand werde. Ein kurzer Blick auf die akademische Praxis der angelsächsischen Länder zeigt hingegen, dass die französischen Studien dort ganz selbstverständlich auch jene Literaturen Nord- und Schwarzafrikas sowie des karibischen und nördlichen Teils Amerikas einschließen, die zum französischen Sprachbereich gerechnet werden. In Frankreich selbst, so die Kritiker, verfahre man indes so, als führe man jenes Kolonialsystem fort, das einst „alle Unterschiede zwischen den Kolonien und dem Mutterland [beseitigt] und die Kolonien einfach als eine Verlängerung des Mutterlands in Übersee [betrachtet hatte]“ (Roberts 1929: 67). Einerseits soll mit ihrer frankophonen Zuschreibung auch jenen Literaturen eine Dignität gewährt werden, die nicht zur französischen Metropole zählen. Andererseits bleibt aber gerade Autoren aus der einstigen kolonialen Peripherie eine Aufnahme in den Kanon der französischen Literatur verwehrt, während ihren europäischen Kollegen wie Ionesco, Beckett oder Kundera doch ebendies gelingt (cf. Murphy 2002). Aus dieser Sicht erweist sich die „La dernière ressource de notre grandeur“ 17 Frankophonie nur als Fortsetzung des Kolonialismus mit adäquaten Mitteln 1 , als partnerschaftlich verbrämter Diskurs, prompted by the same overt generosity, the same well-meaning, comfortable certainties and supreme confidence in the superiority of Western European models - and the same hard-nosed geopolitical and economically driven considerations, all this being linked to the French belief in the mission civilisatrice of the French language (Parker 1996: 477). Auch der jüngste Aufruf „Pour une ,littérature-monde‘ en français“ (2007), zu dessen Unterzeichnern Tahar Ben Jelloun, Maryse Condé, Édouard Glissant, Amin Maalouf und Le Clézio zählen, will sich nicht mit jener halbkolonialen „variante exotique tout juste tolérée“ abfinden. Man will sich der alten Zuschreibungen entledigen, um sich analog zu den englischsprachigen Kollegen des früheren kolonialen Universums einer Weltliteratur zu öffnen, in der es keine Peripherien und Zentren mehr gibt. In ihrer Kritik an der Frankophonie, die immer noch der Mission Frankreichs verpflichtet sei, den barbarischen Völkern Aufklärung und Zivilisation zu bringen, bestreiten die Autoren die unverminderte Geltung kolonialer Grenzziehungen und Raumordnungen. Mit ihren Postulaten stellen sie gerade jene Universalität zur Disposition, die sich in jedem Kolonialdiskurs zwangsläufig auf die bewehrten Grenzen des eigenen Machtbereichs reduziert und andere Kulturen ins innere oder äußere Exil verbannt. 2 Die Exklusion, die Verdrängung in ein von der früheren Metropole beschirmtes kulturelles Getto, dessen Nomenklatur man sich schwerlich entziehen kann, vollzieht sich in ihren Augen im Namen der Frankophonie. Diese übt nach der Ansicht nicht weniger Afrikaner (cf. Ossito Midiohouan 2000, Kom 2000b) eine derart tyrannische Wirkung aus, dass sie selbst jenen, die des Französischen unkundig sind, eine umfassende Identität als Frankophone aufdrängt. Die Perspektive einer „francophonie des cultures comme modèle d'un ordre mondial multipolaire et multilingue“, die wir immer noch für möglich und geradezu für förderlich halten (cf. Karimi 2008), erscheint aber erst dann denkbar, wenn die ehemaligen Kolonien sich den alten Zuschreibungen entwinden. Die Frankophonie als Bollwerk gegen die angelsächsische Zivilisation oder gar als erweiterte Allianz für die französische Politik setzt nämlich das Konzept 1 Cf. Asselin 1995: 150: „Thus the French, ever so clever, have invented la Francophonie and evolved a whole discourse aimed at rallying the former subjects of their empire to the cause of French culture and civilization, which presumably also belong to those who were once colonized by the French.“ 2 Cf. Loinsigh 2001; Fanon 1961: 68sq.: „Le monde colonisé est un monde coupé en deux. La ligne de partage, la frontière en est indiquée par les casernes et les postes de police. [...] La zone habitée par les colonisés n'est pas complémentaire de la zone habitée par les colons. Ces deux zones s'opposent, mais non au service d'une unité supérieure. Régis par une logique purement aristotélicienne, elles obéissent au principe d'exclusion réciproque: il n'y a pas de conciliation possible.“ Kian-Harald Karimi 18 eines geschlossenen Raums voraus, wie es bereits in der Aufklärung als „mot collectif dont on fait usage pour exprimer une quantité considérable de peuple, qui habite une certaine étendue de pays; renfermée dans de certaines limites, & qui obéit au même gouvernement“ (Diderot/ d’Alembert 1999) vorgeprägt wurde und auch weiterhin im 19. und 20. Jahrhundert in der begrifflichen Kontinuität von Nationalstaaten oder supranationalen Staatenbünden Verbreitung fand. 3 Dass eine Sprache über ein in sich geschlossenes Territorium verfügen muss, in dem sie die unumschränkte und alleinige Hegemonie anstrebt, ist auch in die Begriffsgeschichte der Frankophonie eingegangen. Deren Bezugsrahmen ist zwar nicht mehr die Nation, die sich auf ihre Binnengrenzen zurückzieht. Vielmehr handelt es sich hier bereits um einen Raum, der aus „dem Bestreben eines Staates [entstanden ist], seinen Machtbereich über seine natürlichen Grenzen hinaus auszudehnen, namentlich durch Kolonien“ (Brockhaus 1906, I: 853). Dieser Logik fügt es sich, dass mit der Reduktion der französischen Literatur auf die Metropole auch die Postkolonialität 4 , als „attempt to theorize the world that was created by colonialism, but in which old, ,European‘ certainties have been challenged and undermined“ (Murphy 2002: 174), bis heute in Frankreich kaum auf nennenswerte Resonanz stößt. Es steht zu vermuten, dass sich dieses Denken aus dem geschlossenen Raumkonzept ergibt, das aus dem Kolonialzeitalter ererbt wurde. Entsprechende Vorstellungen befinden sich im klaren Widerstreit mit einer postkolonialen Interpretation, nach der der Raum von einer Vielzahl von Einbildungsstrukturen, diskursiven Formationen, intertextuellen Verflechtungen und miteinander koexistierenden wie rivalisierenden Sinnangeboten durchzogen ist. Zumal fällt dabei ins Gewicht, dass die Differenzierungen [...] nicht mehr geographischen oder nationalen Vorgaben [folgen], sondern kulturellen Austauschprozessen. Insofern sind sie jetzt erst genuin kulturell geworden. [...] Die neuen kulturellen Formationen überschreiten die Festmarken, erzeugen neue Verbindungen. Dies bedeutet auch, daß die Welt im Ganzen statt eines separatistischen eher ein Netzwerk-Design annimmt (Welsch 1995: 44). Transnationale und transkontinentale Verflechtungen zeigen sich auch an der postkolonialen Theoriebildung selbst, die „das Ergebnis eines fruchtbaren Austauschs zwischen anglophonen und frankophonen Denkansätzen, 3 Cf. Larousse 1866-1890, 11: 854: „Réunion d'hommes habitant un même territoire, et ayant une origine commune ou des intérêts depuis longtemps communs, des mœurs semblables et le plus souvent une langue identique.“ 4 Wir schließen uns hier de Toro (1995) beziehungsweise (2003: 27) an, der gegenüber dem umstrittenen Begriff „Postkolonialismus“ eine „Postkolonialität“ empfiehlt, die „so verstanden, ein kultureller Terminus ist […], der die Vergangenheit und die Gegenwart rekodifiziert und zu einer Zukunft verwindet und dabei nicht einen Neokolonialismus hervorbringt […].“ „La dernière ressource de notre grandeur“ 19 […] de facto franglais [ist]“ (Reichardt 2006, cf. auch Murphy 2002, McLeod 2003). Das Theorieangebot beispielsweise von Said, Bhabha oder Spivak geht vornehmlich auf die Kritik der jüngeren französischen Philosophie am abstrakten Universalismus der Kolonisatoren zurück, die nicht zuletzt auch den psychoanalytischen Ansatz Frantz Fanons einschließen muss (cf. Cusset 2003: 155). Damit gerät die postkoloniale Theorie in Gegensatz zu einer institutionellen Frankophonie, die sich in ihrem Selbstverständnis auf die Universalität des Französischen beruft, „[et] non sur le phénomène de la colonisation qui en est le fondement“ (Gyssels 2006: 29). Dass das Französische seinen Anspruch auf Weltgeltung auch noch im 20. Jahrhundert aufrechterhalten kann, verdankt es aber weniger der Aufklärung als vielmehr der territorialen Ausdehnung des zweiten Kolonialreichs. Eine postkoloniale Analyse hat sich daher zunächst jenem Topos der Universalität zuzuwenden, dessen Diskurstradition sowohl französische als auch frankophone Autoren noch immer folgen (cf. Murphy 2002: 171). Im Mittelpunkt steht dabei der Widerspruch zwischen der Allgemeingültigkeit großer Menschheitsideale und jenem Partikularismus des Okzidents, der den Nomos den eigenen Interessen unterwirft. Wie ein roter Faden zieht sich dieses Missverhältnis seit Kolumbus durch die Sprache des Kolonialismus, in der die westliche Überlegenheit durch Antidiskurse konterkariert wird (Asselin 1995: 140). So bilden die Verteidigung der Indios durch Las Casas, die utopischen Entwürfe des 17. Jahrhunderts, der Mythos des Caliban und schließlich die Gleichheitsideale der Französischen Revolution in loser Abfolge eine diskontinuierliche Linie, aus deren ideologischem Fundus sich die Gegner des Kolonialismus bis heute bedienen, „initiating a decolonization process that is still ongoing“ (Asselin 1995: 143). In der Geschichte seiner französischen Variante zeigt sich der Gegensatz zwischen humanistischen Postulaten und kolonialer Praxis eingedenk eines mächtigen Menschenrechtsdiskurses umso offensichtlicher und umso verlogener (cf. Schmale 2000). Scheint sich im französischen Kaiserreich noch ein Gegensatz zwischen „le sentimentalisme [et] la philanthropie“ und „l’intérêt suprême et urgent de la grandeur française“ (Prévost-Paradol 1981: 153) aufzutun, so bilden beide Seiten in der Dritten Republik ein zwar widersprüchliches, aber zunächst doch förderliches Komplement im Dienst des neuen Imperiums. Zwischen 1880 und 1960 ist ein Teil der republikanischen Linken geradezu von der Vorstellung fasziniert, die überseeischen Gebiete in eine französische Schule von Demokratie und Menschenrechten zu verwandeln (cf. Marseille 1989), „[où] les races supérieures ont un droit sur les races inférieures […], le devoir de civiliser les races inférieures“ (Ferry 1897: 210). Von ebendieser Geschichte muss hier die Rede sein, wenn auch vornehmlich nicht aus Interesse an der Vergangenheit, sondern an der Gegenwart. Kian-Harald Karimi 20 Frankophonie und Geopolitik in der Epoche des Kolonialismus Mit dem Wiener Kongress findet die hundertjährige Rivalität zwischen Frankreich und England um die globale Hegemonie ihr Ende (cf. Wendt 2007: 136). Nach dem Verlust ihres einstigen amerikanischen Kolonialreichs sind die Franzosen wieder auf ihre alten Binnengrenzen zurückgeworfen. Unter dem Einfluss aufstrebender geografischer Gesellschaften (cf. McKay 1943) ist das Land daher bemüht, zunächst wieder Großmacht auf dem europäischen Kontinent zu werden. Aber nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 ist auch dieses Ringen zuungunsten Frankreichs entschieden, das seine Machtposition im Gegenzug in anderen Gebieten der Erde auszubauen sucht. Doch bereits seit der Einnahme von Algier 1830 scheint sich der französische Drang nach Süden zu orientieren. Zwischen 1845 und 1897 wird die gesamte Sahara erobert. In der Zwischenzeit wurde 1881 das Protektorat Tunesien und 1912 das Protektorat Marokko gebildet, so dass der gesamte Maghreb zum französischen Machtbereich gehört. Mit der Arrondierung dieser Räume werden 1895 Französisch-Westafrika und fünfzehn Jahre später Französisch-Äquatorialafrika gegründet. Phantasmagorien von einem neuen Lebensraum bestimmen den Diskurs der Zeit: Aggressive Anstrengungen zur Besiedlung Nordafrikas hatte im Zweiten Kaiserreich bereits der Publizist Prévost-Paradol (1981: 152-53) gefordert, zumal das neue afrikanische Frankreich „la dernière ressource de notre grandeur“ (op. cit.: 289) sei. Nach dem Verlust seines ersten Kolonialreichs habe Frankreich wieder den Rang einer Großmacht eingenommen, so lässt Gambetta nach der Besetzung Tunesiens verlauten (zit. nach Andrews 1976: 148). Vor den Lesern von Zolas Roman Fécondité (1899) breitet sich ein Lebensraum zwischen dem Mittelmeer und dem Golf von Guinea aus, der angesichts seiner spärlichen Besiedlung noch hundert Millionen neue französische Kolonisten aufzunehmen verspricht. Dreizehn Jahre später ist der geopolitischen Studie des Journalisten René Pinon L’empire de la Méditerranée zu entnehmen, dass Algerien und Tunesien die Nation in einem kühnen Prolongement erweitern und zur Beherrscherin der gesamten Region machen (Pinon 1912: 18-19). 5 An diesen Landnahmen hat die Sprache in zweifacher Hinsicht ihren Anteil: Mit den Gründungen von städtischen Zentren, militärischen Knotenpunkten und ökonomischen Drehkreuzen schafft sie ein Netz von Bezeichnungen, das das fremde Territorium in eine koloniale Topografie verwandelt, „selon ses propres formes d’organisation pour des fins de domination 5 Mit Neid und Sorge betrachtet Oswald Spengler (1933: 290sq.) aus der Perspektive eines vom Versailler Vertrag geschlagenen und gedemütigten Deutschlands den „ungeheuren geschlossenen Besitz Frankreichs“ im Norden Afrikas. Dort entstehe auch ein Land mit hundert Millionen Menschen, das das Bevölkerungsdefizit der Metropole um den Preis grässlicher Rassenvermischungen zu kompensieren verstehe. „La dernière ressource de notre grandeur“ 21 sur des structures préexistantes“ (Vacher 2005: 10). Dass der Raum zu diesem Zweck urbar gemacht und in eine neue Ordnung gefasst wird, die ihn der Obhut des Mutterlandes zuweist und zu dessen Supplement werden lässt, ist nicht das einzige Verdienst der Sprache. Der dem französischen Kolonialismus zugeschriebene Anspruch auf Assimilation ganzer Völker, der in der Praxis auch von assoziativen Modellen der indirekten Herrschaft unterlaufen wurde (cf. Conklin 1998), wäre ohne seine sprachimperialistische Politik unvorstellbar gewesen. In diesem Kontext gilt es, die Geschichte des frankophonen Konzepts zu verorten, das mit der Krise des Französischen als Weltsprache entsteht. In seiner Publikation France, Algérie et colonies (1886) kommt der französische Geograf Omésime Reclus (1837-1916) nämlich zu dem Schluss, „[que] l’humanité qui vient se souciera peu des beaux idiomes, des littératures superbes, des droits historiques; elle n’aura d’attention que pour les langues très parlées, et par cela même très utiles“ (Reclus 1886: 424). Das Französische könne sich daher nicht mit der bescheidenen Zahl von achtundvierzig Millionen Sprechern begnügen, die es im Vergleich mit dem Englischen, aber auch anderen romanischen Sprachen nicht gerade zu einer Weltsprache mache. Dieses Idiom müsse daher nicht von seiner einstigen Universalität, „son ancienne hégémonie“ (Reclus 1886: 424), Abschied nehmen, um in einem von definitiven Grenzen umschlossenen Territorium seine unumschränkte Herrschaft auszuüben. Anders als das von seinen Kolonien so weit entfernte Britannien, das die Sicherheit seiner Seewege gegen äußere Feinde zu verteidigen gezwungen ist, erstreckt sich das französische Herrschaftsgebiet als geschlossener Sprachraum von Calais bis Timbuktu, wobei das Mittelmeer dabei keine Grenze, sondern lediglich ein Binnengewässer darstellt. Das neue Imperium wird geradezu „mit einer universalen Herrschaft der französischen Sprache gleichgesetzt“ (Riesz 2005: 228). Die „Frankophonen“, die der Geograf als Begriff einführt, stehen daher explizit „nos compatriotes dispersés dans tous les lieux du Globe“ gegenüber. Er schließt in die angesprochene Population nicht nur jene ein, die das Französische wie in den englischsprachigen Provinzen Kanadas als ihr „idiome national“ ansehen (Reclus 1886: 420). Vielmehr weitet er das neue Konzept auch auf Angehörige anderer Kultur- oder Sprachgemeinschaften aus, auf „tous ceux qui sont ou semblent destinés à rester ou à devenir participants de notre langue“ (Reclus 1886: 420), die nicht unter diese enge Kategorie fallen. Tendieren Bretonen und Basken, Araber und Berber eher zur Assimilation, so lassen Kolonien wie Kambodscha, Gabun oder Senegal diese Option weniger denkbar erscheinen. Auf allen Kontinenten und Zeitzonen vollziehe sich, so Reclus, ein Wettlauf zwischen den imperialen Idiomen wie dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen, die zwischen 1871 und 1901 eine beträchtliche Zunahme ihrer Sprecher zu verzeichnen hätten. Hinter sich ließen sie dabei jene klei- Kian-Harald Karimi 22 nen Sprachen ohne Schrift, „parlés par des hommes sans armes, sans or, sans longs calculs, sans la cimentation qui fait des blocs épars une muraille romaine“ (Reclus 1904: 169). So beschreite Frankreich bei der Zerstörung indigener Strukturen keineswegs einen Sonderweg. Wie vormals die spanische Kolonialmacht das Quechua zurückgedrängt habe, sei es für das Französische an der Zeit, gegenüber den afrikanischen Sprachen und dem Arabischen auf ähnliche Weise zu verfahren, wie Reclus sein „Projekt der ‚Glottophagie‘“ an anderer Stelle umreißt (Riesz 2005: 227): 6 Dès qu’une langue a „coagulé“ un peuple, tous les éléments „raciaux“ de ce peuple se subordonnent à cette langue. C’est dans ce sens qu’on a dit: „La langue fait le peuple“ (Lingua gentem facit). Faire du français le parler prépondérant, puis le seul entre la Méditerranée et le bassin du Zambèze, à cela doit viser la France, aidée en cela de la Belgique congolaise (Reclus 1917: 116). Erscheint das ius soli gegenüber einschlägigen deutschen Erfahrungen zwar weitaus fortschrittlicher als das blutsmäßige Abstammungsrecht, erweist es sich hier doch in seinem ganzen imperialistischen Gehalt. Immense Räume werden von der Kolonialmacht arrondiert, „ganze Kontinente dienstbar gemacht [und] Kolonialarmeen gepreßt“ (Schmid 1995). Auch in dieser empirischen Hinsicht steht das zweite französische Imperium aus der Sicht des Geografen am Schnittpunkt vergangener und zukünftiger Kolonialreiche. In dem Maße, wie das Französische seine bisher selbstverständliche Reputation als schöngeistiges und universelles Idiom zu verlieren beginnt, muss es bei den francophones gerade um die Steigerung aktiver Sprecher gehen. Wie jeder Begriff reagiert auch dieser als „un carrefour de problèmes où il s’allient d’autres concepts coexistants“ (Deleuze/ Guattari 1991: 24) auf ein Problem, dem er sich stellt. Mit den francophones betont er unumwunden die materielle Grundlage der Sprache in der Zahl ihrer Sprecher, sodass die engere Bezeichnung francité als Wesen der französischen Kulturgemeinschaft in den Hintergrund tritt, um der französischen Sprache „als Träger einer nichtfranzösischen Kultur“ (Ludwig 1995: 208) einen größeren Raum zu eröffnen. Paradoxerweise wird das nationalsprachliche Prinzip der Großdeutschen, das Deutschland in den Grenzen der deutschen Sprache sieht (Wo die deutsche Zunge klingt), letztlich auch zum Vorbild für den Geografen. Für ihn gilt es, ein sprachlich und kulturell homogenes Territorium zu schaffen, das sich bewusst gegenüber anderen Räumen abschließt. Es besteht das Ziel, die neuen Kolonien so frankophon zu machen, wie das an das Deutsche Reich verlorene Elsass-Lothringen bereits deutschsprachig ist. Gegenüber diesem aggressiven Entwurf Reclus’ bevorzugen die Kolonialfunktionäre zwar eher Strategien einer „sanften Assimilation“ (Riesz 2005: 227). Doch die alte Logik bleibt gleichwohl erhalten. Bedeutet das Prinzip der Großdeutschen, dass man von Menschen gemeinsamer Muttersprache auch auf deren seelische 6 Zu den Folgen am Beispiel Algeriens cf. Christelow 1982. „La dernière ressource de notre grandeur“ 23 Homogenität schließen kann, so muss diese in Subjekten, denen mit dem ius soli auch ein ius linguae aufgezwungen wird, demnach erst mental erzeugt werden. Ebendies kann in den Kolonien nur durch eine republikanische Schule geschehen, „le lieu pour amorcer le processus d’assimilation“ (cf. Kom 2000b: 98), die zu einem Instrument kolonialer Landnahme durch die Hochsprache wird. Historische Vorbilder hatte bereits die französische Provinz geliefert, deren sprachlicher Flickenteppich aus der Zeit der Monarchie vom jakobinisch-napoleonischen Zentralismus zu einem homogenen Sprachraum zusammengefügt wurde (cf. Calvet 1974). Ähnliche kulturelle Widerstände galt es nun in den Kolonien zu brechen, zumal die innere Einheit des kolonialen Raums erst jene Weltgeltung Frankreichs garantieren konnte, „exerçant sur les destinées de l'Europe toute l'influence qui lui appartient, qu'elle doit répandre cette influence sur le monde, et porter partout où elle le peut sa langue, ses mœurs, son drapeau, ses armes, son génie“ (Ferry 1897: 220). Die Perspektiven einer transkulturellen Frankophonie Inzwischen ist das Kolonialreich längst Vergangenheit, von der man „mit Recht [loskommen will], weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben lässt und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll“ (Adorno 2003, 10.2: 555sq.). Und doch vermag man einer Geschichte nicht zu entrinnen, die in den ehemals kolonisierten Räumen, deren Bezeichnungen, Grenzen und Konflikten, vor allem aber in den ererbten Bildungstraditionen des Französischen noch höchst lebendig ist. Selbst die historischen Subjekte, die im Zuge der Entkolonialisierung entstanden sind, sind kaum imstande, den alten Zwang einfach abzulegen: „Mais, qu’est-ce que le ‚Cameroun‘, le ‚Gabon‘, la ‚Guinée‘, le ‚Congo‘, le ‚Ghana‘, le ‚Kenya‘ ou la ‚Côte-d’Ivoire‘, sinon des conséquences obscures de l’imbécillité conjuguée des Blancs et des Nègres? “, wird sich der afrikanische Schriftsteller Achille Mbembe (1993: 84) angesichts der Genozide und Bürgerkriege auf seinem Kontinent fragen, der von dessen Bewohnern als non lieu erfahren wird (cf. auch Gondola 2006). Wie die Resistenzen gegen alte Abhängigkeiten nicht selten das Gesicht der einstigen Bedrücker tragen, so sind die Spuren der Vergangenheit auch in Frankreich selbst noch erkennbar. Für deren intellektuelle und politische Klasse, die gewohnt ist, gegenüber den im Kolonialismus erzogenen afrikanischen Eliten als kulturelle Normierungsinstanz aufzutreten, verbindet sich die schmerzliche Erinnerung an die kolonialen Niederlagen in Indochina und Algerien mit der Sorge um die zukünftige Stellung Frankreichs und zumal des Französischen in der Welt. So ist es kein historischer Zufall, wenn Étiemble nur zwei Jahre nach dem Algeriendebakel vor den Gefahren des Kian-Harald Karimi 24 franglais warnt und weitere zwei Jahre später eine Kette von Institutionen gegründet wird, die sich der Verteidigung des Französischen annehmen (Hargreaves 2007: 26). Jener „frankophone“ Raum, aus dem bis heute noch Wellen von Migranten in das einstige Mutterland strömen, ist auf die Perspektive des französischen Betrachters ausgerichtet. Nach wie vor ist er ein Quartier des Elends, der Konflikte und der Unterentwicklung - immer noch unwürdig, in die Rolle eines Partners zu schlüpfen, der im Bereich der Literatur einen ähnlichen Rang einnehmen könnte wie die französischen Literaten, doch durchaus nützlich, der Metropole im Konzert der Weltmächte Gehör zu verschaffen, „[en lui assurant] un rayonnement certain et [en lui garantissant] un marché pour ses produits français“ (Kom 2000b: 117). Eingedenk dieser einseitigen Bindungen sind beide Seiten unwiderruflich miteinander verstrickt: Ebenso wenig wie die Afrikaner zu einem vorkolonialen Idyll zurückkehren können, sind auch die Franzosen nicht in der Lage, den Kolonialismus als historisches Faktum ungeschehen zu machen. Den status quo zu verändern, hieße nicht, die Frankophonie als bloßes koloniales Relikt zu denunzieren oder das Französische zu einem Fetisch zu verkehren, vor dem die ehemaligen Kolonialvölker in Ehrfurcht zu versinken hätten. Vielmehr müssten sich die akademischen Eliten in Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien mehr als bisher auf eine postkoloniale Debatte einlassen, „die sich mit Macht und Abhängigkeit im Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie [befasst] und bemüht [ist], von den Rändern aus den Blick aus dem Zentrum zu korrigieren […]“ (de Toro 2003: 20). Obschon diese Peripherie längst in den französischen Vorstädten angekommen ist und die Ausdrucksformen, Geschichten und Erfahrungen der harkis und pieds noirs in den Alltag eindringen, stößt sie noch immer auf zu wenig Resonanz in den Universitäten (cf. Moura 2000/ 2006, Hargreaves 2002, Murphy 2007). 7 Der Wissenstransfer zwischen der einstigen französischen Metropole und den früheren Kolonien vermag kaum dem Vergleich mit jenem Austausch standzuhalten, wie er seit Anfang der 1990er-Jahre in angelsächsischen Ländern längst Usus ist. Anders als im Falle der afrikanischen Intellektuellen, die selbst an postkolonialen Forschungsprojekten der Hochschulen in Großbritannien und den USA partizipieren, ist diese Entwicklung in Frankreich erst in Ansätzen spürbar (Hargreaves 2007: 27). Der herrschende Kanon verstellt der Kritik den Blick für jene frankophonen Autoren, denen häufig nicht das gebotene Verständnis entgegengebracht wird. Noch immer wird die Literatur der Metropole aus dem Kontext der anderen Literaturen französischer Sprache gelöst. Noch immer konstituieren sich frankophone 7 Cf. Amselle (2006: 206), der ausdrücklich auf diese Defizite hinweist: „Précisément, les études post-coloniales ont été exclues du domaine français. En France, on s’intéresse surtout à la littérature française, et accessoirement à la littérature francophone. À cet égard, il est frappant que les écrivains de la francophonie et ceux qui ont réfléchi sur cette littérature […] sont tous aux Etats-Unis.“ „La dernière ressource de notre grandeur“ 25 Texte als bloße Unterabteilung einer großen Metropolenliteratur, die von deren nationaler Hierarchie ausgeschlossen wird. Wie sehr der Erwartungshorizont freilich noch immer auf einen Blick festgelegt ist, der sich vom Zentrum auf die Peripherie richtet, zeigt sich an der Reaktion des Verlegers Olivier Cohen auf eine für einen englischsprachigen Leserkreis erstellte Anthologie neuerer französischer Literatur: A quelques exceptions près, on a l’impression que le roman français aujourd’hui, c’est les Blacks, les Beurs, la banlieue, la drogue, les homosexuels […]. Un peu comme si on en faisait une littérature de minorités, ce qui est un contresens car cela n’existe pas ici, ou alors de façon très embryonnaire (Cohen 1999). Was hier als Abweichung von einer Norm verstanden wird, die sich zum Universalismus erklärt, zeichnet aber gerade die afrikanische Literatur französischer Sprache aus. So sind Romane von Ahmadou Kourouma erst im Widerstreit zwischen kodifizierten und textuellen Sinnbezügen, dem Hochfranzösischen und der Sprache der Malinke, kolonialistischen Codes und deren Überwindung zu verorten (cf. Moura 2000; id. 2006). Was für die einseitige Rezeption der Literatur gilt, kann auch für die postkoloniale Theorie selbst nicht ohne Auswirkungen bleiben: Immerhin impliziert sie einen anderen Blick auf die ehemals kolonisierten Räume, der unter diesen Gegebenheiten in Frankreich nur allzu leicht in den Verdacht gerät, aus amerikanischer oder englischer Richtung zu kommen. Anstatt Erkenntnisprozesse, die aus der indischen oder südafrikanischen Literatur gewonnen wurden, in frankophone Gegenstandsbereiche übersetzen zu müssen, wäre es hingegen an der Zeit, die Theorie selbst aus diesen zu generieren, „[to] produce a better understanding of the ,French‘ traditions from which they have emerged […]“ (Murphy 2002: 184). Eine postkoloniale Theorie hätte deshalb zunächst die Dichotomie zwischen Frankreich und einem frankophonen Raum zu problematisieren, der zwar Teil einer französischen Schriftkultur ist und ihr trotz allem nicht mit vollen Rechten angehören darf. Dieser Prozess der Selbstverständigung geht jedoch über eine bloße literarische Theoriedebatte hinaus. Beginnen müsste er mit dem Ende der Illusion, die Frankophonie sei ein Zusammenschluss der Völker, den diese als Option aus eigenem Antrieb gewählt hätten (cf. Milhaud 2006a/ b). 8 Statt die Spuren kolonialer Vergangenheit, wie am Atlas mondial de la francophonie ersichtlich, aus dem Begriff selbst zu tilgen, 9 wäre eine Entkolonialisierung des Begriffs und der sich aus ihm erschließenden 8 Allerdings wurden seit Anbeginn frankophoner Institutionen schon Stimmen laut, die ein Scheitern jener „transnational force in world politics“ voraussehen, sofern sie sich damit begnüge, verlängerter Arm französischer Außenpolitik zu sein (Weinstein 1976). 9 Dort wird der Leser zwar mit Reclus konfrontiert, nicht aber mit jenen Ambitionen, die der von ihm inaugurierte Begriff impliziert. Stattdessen beharrt man mit Stélio Farandjis auf der Behauptung, die Frankophonie sei als Begriff während der kolonialen Ära niemals benutzt worden (cf. Poissonnier/ Sournia 2006: 8sq.; Milhaud 2006b). Kian-Harald Karimi 26 Diskurse an der Tagesordnung. Erst wenn das Begriffsfeld des Frankophonen selbst als Ort der Differenzen verstanden wird, auf dem Reich und Arm, Nord und Süd, Europäer, Afrikaner, Araber und Nordamerikaner ihre widerstreitenden Strategien und Bedeutungen austragen, ließe sich die Frankophonie tatsächlich in ihrer „sprachlich-polyzentristischen Orientierung“ (Ludwig 1995: 189) begreifen, als „communauté de sujets aux histoires différentes, aux langues, aux naissances, différentes“ (Nabil Farès zitiert nach Ludwig 1995: 189). Unter diesen Umständen zeigte sich aber auch, dass die Bewegung der Peripherie auf das Zentrum bei diesem heterogen konstruierten Projekt mit frankozentristischen Widerständen zu rechnen hat, die in gleichem Maße um Hegemonie rivalisieren. Jene häufig geäußerte Wendung, dass das Französische nicht das Eigentum Frankreichs sei, sondern seine Sprecher ungeachtet ihrer Nationalität und Hautfarbe an ein und derselben Sprachgemeinschaft partizipierten, hielte erst dann der Wirklichkeit stand, wenn es wie „die spanische Norm und damit supraculture“ (Ludwig 1995: 196) weniger rigide wäre. Die Frankophonie könnte den gegen sie erhobenen Vorwurf, eine effiziente und zeitgemäße Variante jener „théorie coloniale de l’assimilation culturelle“ (Kom 2000b: 116) zu sein, erst dann entkräften, wenn sie sich zum Ziel setzte, die afrikanischen und maghrebinischen Kulturen in einem globalen Referenzsystem zu verankern, in dem diese bisher kaum über Stimme und Gewicht verfügen. Gerade weil sich das Französische anders als das Spanische in Lateinamerika „in dem demographisch wichtigsten Bereich der Frankophonie, nämlich in Afrika, weitgehend als Zweitsprache“ (Ludwig 1995: 207) erweist, sollte es zwischen der hyperzentralen Weltsprache des Englischen und den tendenziell missachteten Minderheitensprachen die Funktion eines Mittlers einnehmen (cf. Karimi 2008: 36sq.). Eine um ihre Selbstgewissheiten gebrachte, aber unter den Eliten und in der Diaspora Schwarz- und Nordafrikas verankerte Sprache wie das Französische hätte eine Chance, nicht zu einem so dominanten Idiom zu werden wie das Englische und im Sinne einer vielsprachigen Weltkultur und einer multipolaren Weltpolitik komplementär zu wirken (cf. Karimi 2002). In Gegenbewegung zu dem „sozialdarwinistischen Programm sprachlichen Imperialismus“ eines Reclus (Riesz 2005: 227) müssten sich jene frankophonen Räume öffnen, die noch immer im Bann der früheren Metropole stehen und deren Willen ausgesetzt sind, an der „kulturellen Hegemonie im afrikanischen Pré Carré festzuhalten […]“ (Riesz 2005: 224). Wenn sich die Bewohner dieser Räume unter dem absurden Postulat eines zweifelhaften Universalismus einer frankophonen Zwangsidentität verweigern (cf. Midiohouan 2000; Kom 2000b), wenn sie im Sinne einer von Wolfgang Welsch definierten Transkulturalität „über ihre Zugehörigkeit zunehmend selbst entscheiden“ und zu kulturellen wie sprachlichen Mehrfachzugehörigkeiten finden (Welsch 2003: 40), wäre sie nicht mehr von an- „La dernière ressource de notre grandeur“ 27 deren sprachlichen und kulturellen Kontexten abgespalten. Mehr noch: Mit der Möglichkeit einer eigenen Entscheidung, der Wahl zwischen kulturellen Alternativen und Sinnangeboten, eröffneten sich für die Frankophonie Chancen, wie sie beispielhaft längst von französischsprachigen Eliten Algeriens wahrgenommen werden. Man denke etwa an Assia Djebar (1999), die von ma francophonie spricht, sich aber vorbehält, in ihrer künstlerischen Arbeit entsprechend dem jeweiligen Medium, Film oder Roman, zwischen dem Arabischen und Französischen zu alternieren. Womöglich wäre dann auch die Chance gegeben, die Hierarchie einer französischen Leit- und Hochkultur gegenüber einer nicht ebenbürtigen frankophonen Epigonalkultur zu überwinden, deren Vertreter der Approbation eines politischen und kulturellen Establishments in Paris bedürfen. Vor allem aber wäre mit dieser Dezentrierung den französischen Studien selbst gedient, die sich in dieser Hinsicht, letztlich auch um ihrer selbst willen, an der Hispanistik ein Beispiel nehmen sollten, um ihrer gesunkenen Bedeutung entgegenzuwirken. Heute wäre es unvorstellbar, sich dem Studium der spanischsprachigen Literatur zuzuwenden, ohne lateinamerikanische Texte in angemessener Weise zu berücksichtigen (cf. Murphy 2002: 165). Ebenso wenig nachvollziehbar wäre es, von einer französischsprachigen Weltliteratur zu sprechen, ohne deren karibische sowie nord- und schwarzafrikanische Brüder oder Schwestern zu berücksichtigen. Eine Universalität des Französischen, die allein der Metropole und ihrem literarischen Kanon zugeschrieben wird, „frankophone“ Räume aber von dieser ausschließt, hat ihren Namen nicht verdient. 10 Vielmehr wäre es an der Zeit, dass die Literaturen der sogenannten Peripherie auch in der deutschen Frankoromanistik jenen Stellenwert erhielten, der ihnen in einer polyzentristischen Welt zukommt (cf. Reichardt 2006: 38). Sie könnten uns mit jenem Teil der europäischen Geschichte vertraut machen, den wir vor allem nach der politischen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien allzu leichtfertig und vorschnell nicht mehr als die unserige betrachten. Sie sind aber auch das neue Salz, dessen die große französische Literatur der Metropole mit einem in seiner Kontinuität einzigartigen paradigmatischen Textkorpus aus vielen Jahrhunderten in dem Maße bedarf, wie Frankreich und Europa ihre alte Bedeutung verlieren (cf. Kane 2001). 10 Es sei hier ausdrücklich darauf verwiesen, dass zahlreiche französische Departments an nordamerikanischen Universitäten ihre Existenz inzwischen dem alleinigen Umstand verdanken, dass sie die „frankophonen Literaturen“ zu ihrem selbstverständlichen Lehr- und Forschungsgegenstand gemacht haben (cf. Noiville 2009). Zur Veränderung des gesamtromanistischen Horizonts im Verhältnis der Kontinente cf. Karimi 2006. Kian-Harald Karimi 28 Literatur Amselle, Jean-Loup: „Entretien“, in: Raisons politiques, 22/ 2006, 203-212. Andrew, C. M: „The French Colonialist Movement during the Third Republic: The Unofficial Mind of Imperialism“, in: Transactions of the Royal Historical Society, 26/ 1976, 143-166. Asselin, Charles: „Colonial Discourse Since Christopher Columbus“, in: Journal of Black Studies, 26/ 1995, 134-152. Ball, Rodney: The French-speaking World: A Practical Introduction to Sociolinguistic Issues, London/ New York: Routledge 1997. 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Jahrhundert dem mirage oriental 1 erlagen, nahm der Orient als Raum eine doppelte Rolle ein: Er war sowohl konkreter Raum, der durch die Orientreise physisch erfahren werden konnte, wie auch imaginärer Raum, der als Projektionsfläche für die eskapistischen Sehnsüchte der Literaten diente und der durch den Akt des Schreibens immer wieder neu konstituiert wurde. Häuften sich bereits im 18. Jahrhundert die Reisen und Reiseberichte in die Länder der Levante - so der zur damaligen Zeit noch gebräuchlichere Begriff -, so sind der Orient als Raumbezeichnung wie auch die „Reise in den Orient“, der Voyage en Orient, Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Alphonse de Lamartine verlieh dem Bericht seiner groß angelegten und kostspieligen Reise nach Griechenland, Libanon, Syrien und Konstantinopel in den Jahren 1832-1833, den er 1835 in vier Bänden publizierte, erstmalig diesen Titel und konstituierte mit ihm die Idee einer geografischen Einheit „Orient“, die in der französischen Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts schließlich mit Ausnahme des Balkans und Mesopotamiens alle Länder des Osmanischen Reiches einschließen sollte (cf. Berchet 1985: 4). Zugleich setzte Lamartines Voyage en Orient zusammen mit dem Itinéraire de Paris à Jérusalem Chateaubriands eine Art Standard für die Durchführung und Stationen einer konkreten Orientreise wie auch für die ästhetisch-literarische Verarbeitung der Reiseerfahrungen. An den Reiseerlebnissen Lamartines und Chateaubriands sollten sich im 19. Jahrhundert zahlreiche Litera- 1 Diesen Begriff, den auch Hassan El Nouty benutzt, um die Sehnsucht der französischen Romantiker nach dem Orient wie auch ihre Enttäuschung über die reale Erfahrung zu bezeichnen (cf. El Nouty 1958: 8), verwendete Louis Bertrand als Titel für eine Artikelserie, die in den Jahren 1908-1909 zunächst in der Revue des Deux Mondes erschien und 1910 in einem Band herausgegeben wurde, und in der der Autor wiederholt die Illusionen des Westens über den Orient anprangerte. Nerval selbst benutzt den Begriff ebenfalls an einer Stelle seines Voyage en Orient als Metapher für seine Utopie des Orients: „Au-delà de l’horizon paisible qui m’entoure, sur cette terre d’Europe, musulmane, il est vrai, mais rappelant déjà la patrie, je sens toujours l’éblouissement de ce mirage lointain qui flamboie et poudroie dans mon souvenir, … comme l’image du soleil qu’on a regardé fixement poursuit longtemps l’œil fatigué qui s’est replongé dans l’ombre.“ (Nerval 1998: 561) Susanne Greilich 34 ten ausrichten und messen wollen. 2 „On a [...] voyagé en Orient bien avant le XIX e siècle“, schreibt Jean-Claude Berchet in seiner Anthologie Le voyage en Orient, [c]e que les romantiques ont en revanche bien inventé (dans le double sens: découvrir/ imaginer), c’est le terme de „voyage en Orient“, singulier complexe qui opère la réduction du multiple antérieur, pour lui conférer une nouvelle signification. A travers cette réinterprétation, c’est la nature du voyage, et jusqu’à son idéologie qui a changé. […] En plein milieu du siècle, le voyage de Flaubert et de Maxime Du Camp offre […] le modèle du périple idéal: Égypte, Palestine, Liban, Asie Mineure, Constantinople, Athènes, Grèce. Itinéraire circulaire inventé par Chateaubriand, repris sans cesse par la suite, non sans variantes, mais codifié par le guide Joanne […], c’est donc un voyage symbolique qui se déroule comme un livre, qui scande une initiation. (Berchet 1985: 3sq., 10) Die Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, und insbesondere die der französischen Romantik, schuf in ihrer Gesamtheit einen Orient, an dem sich unerfüllte Sehnsüchte kristallisierten und der zugleich der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität diente. Dabei formte sie auch ein spezifisches Repräsentationssystem dieses Raumes mit einem Register an Motiven, stereotypisierten Erlebnissen und Orten. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, am Beispiel des Voyage en Orient Gérard de Nervals aufzuzeigen, ob und inwiefern sich zeitgenössische Raumtheorien für die Analyse und Deutung von Reisetexten der prä-postkolonialen Ära - in diesem Fall der orientalistischen Reiseliteratur der französischen Romantik - fruchtbar nutzen lassen. Hierbei soll zunächst in Anlehnung an Saids Begriff der imaginative geography der Konstruktcharakter des Orients als Raum nochmals genauer betrachtet werden. Dieser Konstruktcharakter, so wird sich in der anschließenden Textbetrachtung zeigen, ist Nerval durchaus bewusst gewesen. Er thematisiert ihn an verschiedener Stelle seines Reiseberichtes und nimmt eine ironisch-kritische Distanz dazu ein. Dennoch verwirft er weder sein eigenes Unterfangen einer Orientbeschreibung (und damit seinen Beitrag zur imaginative geography), noch nimmt er von den stereotypen Vorstellungen des geheimnisvollen, märchenhaften Orients gänzlich Abstand - im Gegenteil: Je mehr sich die orientalische Realität für den voyageur als Enttäuschung herausstellt, desto mehr bemüht sich der écrivain um die Konstruktion eines gänzlich imaginären 2 Noch in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts verweist Maurice Barrès in Une enquête aux pays du Levant mit ironischem Unterton auf das durch Lamartines Voyage en Orient vorgegebene, über Jahre bestimmende Idealprogramm einer jeden Orientreise: „Après trente-deux heures de navigation, ce matin, quand nous touchons à Beyrouth, rien qu’un immense brouillard, épais, universel et tout chargé de pluie. Aucun Liban! Fautil le chercher à droite, à gauche, au-dessus de nos têtes? Jugez de mon désappointement de trouver un rideau tendu devant la première merveille de mon voyage, devant le n° 1, qui, sur mon catalogue idéal, portait: «Vue du Liban depuis la mer, décrite par Lamartine».“ (Barrès 1923, zitiert nach Berchet 1985: 11) Imaginativer und imaginärer Raum 35 Orients. Dieser scheinbare Widerspruch in der Orientrezeption Nervals kann zu einem Gutteil aufgelöst werden, wenn wir das foucaultsche Modell des espace autre auf den Orient übertragen und eingehender betrachten, in welchem Maße er für die französischen écrivains-voyageurs der Romantik, und allen voran Nerval, heterotopischer und utopischer Ort gewesen ist. Der Orient als Raumkonstrukt Des Umstandes, dass es sich beim Orient mehr um ein „fantasmatisches Produkt [des] europäischen Ethnozentrismus“ (Berchet 1985: 4) denn um eine objektive Realität handelt, ist man sich bereits im 19. Jahrhundert vage bewusst gewesen, wie ein Blick in eines der wichtigsten Nachschlagewerke der Zeit, den Grand Dictionnaire universel du XIX e siècle von Larousse, belegt. Nachdem sich der Larousse unter dem Stichwort „Orient“ auf der Länge einer ganzen Spalte an einer geografischen Definition versucht hat, schließt er beinahe ernüchtert mit den Worten: „Rien de plus vague, en effet, rien de plus mal défini que la contrée à laquelle on applique ce nom“ (Larousse 1866: 1463). Gut hundert Jahre später hat sich Edward Said in seiner Studie über den europäischen Orientalismus mit dem Konstruktcharakter des Orients detaillierter auseinandergesetzt (cf. Said 1978). Im Zentrum von Orientalism steht weniger die Vorstellung vom Orient als geografisch-räumlicher Einheit, denn die Idee vom Orient als Ort beziehungsweise Raum des „Anderen“, die eine Dichotomisierung zwischen Eigenem und Fremdem ermöglichte. Said zeigt auf, dass die politisch-koloniale Macht, die Großbritannien und Frankreich über Teile des orientalischen Raumes ausübten, verknüpft war mit einer „intellektuellen Autorität“ (Said 1978: 19) über den Orient, 3 die sich einerseits in einer auch institutionell verankerten wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Orient, andererseits in einer literarisch-imaginativen Eroberung manifestierte. Über die Repräsentation in Literatur und bildender Kunst konnten der Orient und die Orientalen gefasst und intellektuell beherrscht werden: Orientalism can be discussed and analyzed as the corporate institution for dealing with the Orient - dealing with it by making statements about it, authorizing views of it, describing it, by teaching it, settling it, ruling over it: in short, Orientalism as a Western style for dominating, restructuring, and having authority over the Orient. (Said 1978: 3) 3 Said 1978: 19: „Yet what German Orientalism had in common with Anglo-French and later American Orientalism was a kind of intellectual authority over the Orient within Western culture. This authority must in large part be the subject of any description of Orientalism, an it is so in this study.“ Susanne Greilich 36 Die Mille et une nuits Antoine Gallands vom Beginn des 18. Jahrhunderts etablierten ein ebenso wirkungsvolles Register von Themen und Motiven, die den Orient als Raum des Anderen konstituierten, wie die französische Reiseliteratur und die Malerei der Romantik, in denen das Morgenland als Ursprungsort der abendländisch-christlichen Zivilisation wie auch als Ort des Erotisch-Sinnlichen und des Geheimnisvoll-Mystischen stilisiert wurde. Said fasst die genannten Prozesse unter dem Begriff der „imaginative geography“ (Said 1978: 49), der „imaginativen Geographie“ 4 , zusammen und verweist damit sowohl auf den Prozess der Konstruktion des orientalischen Raumes, die bewussten Ein- und Zuschreibungen, wie auch auf die Medien dieses Schaffensprozesses: die Reiseberichte, Romane, Bilder, in denen und durch die der Orient repräsentiert wurde. Indem der Orient als Raum konstruiert und mit spezifischen Einschreibungen und Aufladungen versehen wurde, konnten der Andere und das Andere kolonialistisch platziert werden. Die Literatur als Medium der Fremdkonstruktion und der Raumrepräsentation war also - wenn wir den Thesen Saids folgen - ganz maßgeblich beteiligt an der intellektuellen wie politischen Beherrschung des Orients durch die hegemonialen europäischen Mächte. Saids Thesen zum europäischen Orientalismus haben bekanntermaßen eine wichtige Grundlage für die postkoloniale Wissenschaft gelegt. Sie haben den Blick darauf gelenkt, wie sehr das Verhältnis zwischen Europa und anderen Regionen von kolonialistischen Annahmen geprägt wurde und Stereotypisierungen in der Beschreibung anderer Kulturen wirken. Said hat mit Orientalism nicht nur westliche Vorstellungen vom Orient nachhaltig infrage gestellt, sondern auch die von wissenschaftlicher Objektivität und Autorität. Die in Orientalism vorgenommenen Essenzialisierungen haben indes vielfach Kritik erfahren, 5 wie auch die von Said skizzierte Komplizen- 4 Saids Begriff der imaginative geography wird in der deutschen Literatur (cf. e.g. Bachmann-Medick 2006: 294) etwas missverständlich mit „imaginäre Geographie“ übersetzt. Der Begriff des „Imaginären“ evoziert, dass es sich bei dem durch die Texte und Werke europäischer Künstler und Wissenschaftler geschaffenen „Orient“ um einen bloß in der Vorstellungswelt existierenden Raum handele. Einen solchen imaginären Orient gibt es bei den Schriftstellern der französischen Romantik wie Nerval, dies wird der vorliegende Beitrag zeigen, in der Tat. Wenn Said jedoch vom Orient als imaginative geography spricht, dann meint er damit keineswegs einen rein imaginären Raum, sondern bedeutet das Ergebnis eines Prozesses (imaginative = schöpferisch), an dem verschiedenste Arten europäischer Werke durch Be-, Ein- und Zuschreibungen mitwirkten: neben den Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts eben auch wissenschaftliche Abhandlungen, wie die aus der Ägyptenexpedition Napoleons hervorgegangenen Berichte und Studien oder die Ausführungen Sacys zur Religion der Drusen, denen wenig Imaginäres anhaftet. 5 Cf. Porter 1983 und Ahmad 1992. Bhabha (1983) kritisiert, Said lasse Stimmen und Widerstand der Kolonisierten außer Acht und entwerfe damit ein statisches Modell kolonialer Beziehungen, in der sich Macht und Diskurs allein im Besitz der Kolonisatoren befänden, womit kein Raum für Verhandlungen oder Austausch gegeben sei. Einen Imaginativer und imaginärer Raum 37 schaft zwischen akademischer Orientforschung und der politischen Macht. Zu Recht bemerken Bernsen/ Neumann 2006, dass sich „die Diskurse der Orientwissenschaft, der Politik und der Literatur [...] nicht problemlos auf eine Stufe“ stellen lassen und sich der Diskurs des Orientalismus in der Literatur und bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts aufgrund der polyvalenten und multifunktionalen Natur der Werke „eher als heterogen und oftmals ambivalent erweist“ (Bernsen/ Neumann 2006: 1). Bei aller notwendigen Differenzierung in Hinblick auf die literarischen und künstlerischen Repräsentationen des Orients im 19. Jahrhundert kann eine binäre Unterscheidung der Entitäten „Orient“ auf der einen und „Okzident“ auf der anderen Seite in der Literatur der französischen Romantik durchweg konstatiert werden. Mochte das Ziel literarischer Orientbeschreibungen im 19. Jahrhundert auch nicht die intellektuelle Beherrschung dieses Raumes gewesen sein und mochten ferner Orient und Okzident sich in der literarischen Repräsentation keineswegs in unüberbrückbarer Opposition gegenüberstehen - ja der Orient als Geburtsstätte europäischer Zivilisation der Rückbesinnung auf das eigene kulturelle Erbe, der Wiederbelebung und Inspiration dienen -, so war die Annahme vom Orient als Raum des „Anderen“ grundlegende Voraussetzung für das Interesse der Romantik an ihm. Nur als „Anderes“ kam dem Orient überhaupt seine Funktion zu: die Vorstellung vom Orient als Raum des Anderen motivierte die Reise der écrivains-voyageurs, bildete das Leitmotiv des Reiseberichts und weckte schließlich das Interesse der Leser an Letzterem. Der Orient als Konstrukt bei Nerval Der Voyage en Orient Gérard de Nervals schreibt sich in diesem Sinne in den Prozess der imaginative geography ein. Der Text speist sich aus Berichten und Beschreibungen, die die Idee vom Orient als Raumeinheit entwarfen und ihn mit Aufladungen und Zuschreibungen versahen, und er trägt selbst zu diesem Prozess bei. Durch das Studium zahlreicher Quellen hat sich Nerval im Vorfeld intensiv auf seine Reise vorbereitet: Silvestre de Sacy, William Lanes Manners and Customs of the Modern Egyptians, Herbelots Bibliothèque orientale, Savarys Lettres sur l’Égypte und Volneys Voyage en Égypte et en Syrie zählen zu den wichtigsten Werken, auf die er auch bei der literarischen Verarbeitung seiner Reiseerlebnisse zurückgegriffen hat. Zugleich darf es als sicher gelten, dass Nerval auch die Reiseberichte seiner Vorgänger gut gekannt hat. Die Orientreise hat Nerval, wie der Erzähler des Voyage en Orient an verschiedener Stelle explizit zu erkennen gibt, bereits vorgedacht und in der konzisen Überblick über die Kritik an Foucaults Diskursmodell - auf das sich auch Said stützt - als Grundlage der postkolonialen Wissenschaft gibt Loomba (2005: 47-53). Susanne Greilich 38 Vorstellung durchlebt. So kommentiert der Erzähler die Abreise aus Kairo mit den Worten: Je quitte avec regret cette vieille cité du Caire où j’ai retrouvé les dernières traces du génie arabe et qui n’a pas menti aux idées que je m’en étais formées d’après les récits et les traditions de l’Orient. Je l’avais vue tant de fois dans les rêves de la jeunesse, qu’il me semblait y avoir séjourné dans je ne sais quel temps; je reconstruisais mon Caire d’autrefois au milieu des quartiers déserts ou des mosquées croulantes! Il me semblait que j’imprimais les pieds dans la trace de mes pas anciens; j’allais, je me disais: En détournant ce mur, en passant cette porte, je verrai telle chose ... et la chose était là, ruinée, mais réelle. (Nerval 1998: 311) Auf seiner Reise folgt er also nun den Pfaden seiner Imagination, den „Träumen der Jugend“ 6 . Stück für Stück schreitet er bereits zuvor imaginierte Orte ab, besucht jene Plätze und Räume, sucht jene Erlebnisse, die als Topoi zum festen Bestandteil des europäischen Orientbildes der Zeit gehörten und den sowohl literarisch wie auch in der bildenden Kunst repräsentierten Raum „Orient“ wie Wegmarkierungen absteckten: Der Besuch auf dem Bazar, im orientalischen Bad und auf dem Sklavenmarkt, der Blick hinter die verschlossenen Türen eines Harems, der Einzug der Pilgerkarawane aus Mekka, die Begegnung mit den aufreizenden Künsten der almées in einem Kaffeehaus zählen ebenso dazu wie die Teilnahme an einer Falkenjagd im Libanon oder die Besteigung der Pyramiden von Gizeh in Ägypten. 7 Nerval ist sich der Tatsache, dass er auf ausgetretenen Pfaden wandelt, dass nahezu alles schon in zahllosen vorangegangenen Reiseberichten beschrieben und berichtet worden ist, durchaus bewusst. Die Besichtigung Balbeks kommentiert er mit den Worten: „J’ai rêvé quelques heures au milieu de ces magnifiques ruines, qu’on ne peut plus dépeindre après Volney et Lamartine“ (Nerval 1998: 558), und die spärlichen Informationen, die er dem Leser über Konstantinopel gibt, begründet er mit der Gefahr, mit einer detaillierteren Beschreibung nur schon allzu Bekanntes zu wiederholen: „Je n’ai pas entrepris de peindre Constantinople; ses palais, ses mosquées, ses bains et ses rivages ont été tant de fois décrits […]“ (op. cit.: 787). Auch die Beschreibung des Serails wird mit einer ähnlich lautenden Bemerkung kommentiert: „Sans risquer une description que l’on peut lire dans tous les voyages, il est bon d’indiquer la situation des nombreux bâtiments et des jardins du sérail“ (op. cit.: 782). 6 Cf. Dickhaut 2006: 95: „Das Besondere des Voyage en Orient Nervals ist jedoch vor allem der Versuch, nicht ein bestimmtes Land zu finden, sondern ,cet idéal, qui a séduit tant d’Européens‘ [...], das im Text auch als ‚l’Orient c’est le bel instant de la vie’ [...] bezeichnet wird und über den es heißt: ‚En Orient tout devient conte.’ [...] Dessen Funktion liegt deshalb vielmehr im Bereich der eigenen Identitätssuche des Erzählers als in der Identifizierung eines spezifisch anderen Kulturkreises.“ 7 Zur orientalistischen Bildersuche cf. Estelmann 2006. Imaginativer und imaginärer Raum 39 Der Verweis auf die Beschreibungen seiner literarischen Vorgänger entspringt hierbei nicht allein dem Bemühen, den Leser von der langweiligen Reproduktion bekannter Motive und Topoi zu verschonen, sondern er zeugt auch von dem Bewusstsein des Autors darüber, dass der Orient durch die Darstellungen und Beschreibungen abendländischer Künstler, Literaten und Wissenschaftler als Raum mit festen Zuschreibungen konstruiert, durch endlos reproduzierte Topoi beherrscht und auf ein spezifisches Bild reduziert worden ist. An verschiedener Stelle des Voyage en Orient finden sich Verweise des Erzählers auf diesen Prozess der Konstruktion des Orients. Die Suche eines befreundeten französischen Malers und Daguerrotypisten in Kairo nach geeigneten Ausblicken und orientalischen Szenerien für seine Werke schildert er beispielsweise mit den folgenden Worten, die einen milden Spott nicht verhehlen können: Après une courte station à l’un de ces cafés, nous nous transportons sur l’autre rive du Calish, et nous installons sur des piquets l’appareil où le dieu du jour s’exerce si agréablement au métier du paysagiste. Une mosquée au minaret curieusement sculpté, un palmier svelte s’élançant d’une touffe de lentisques, c’est, avec tout le reste, de quoi composer un tableau digne de Marilhat 8 . Mon compagnon est dans le ravissement […]. (Nerval 1998: 174) Anlässlich der Beschreibung des „schönsten Cafés von Mouski“ räumt er scheinbar bedauernd ein: Je voudrais bien mettre un peu la chose en scène; mais véritablement la décoration ne comporte ni trèfles, ni colonnettes, ni lambris de porcelaine, ni œufs d’autruche suspendus. Ce n’est qu’à Paris que l’on rencontre des cafés si orientaux. (Nerval 1998: 202) Die kritische, oft ironische Distanz, die Nerval zur Kreation des orientalischen Raumes erkennen lässt, ist bemerkenswert und unterscheidet das Werk von anderen französischen Reiseberichten der Zeit. Gewiss sucht auch der Erzähler des Voyage en Orient die Erfahrung des sinnlich-erotischen Orients: So versucht er, hinter die Mauern eines Harems zu dringen, 9 indem er, einer Figur der Mille et une nuits gleich, 10 zwei tief verschleierten Frauen vom Bazar aus durch die engen Gassen der Stadt nach Hause folgt. Bei der Schilderung dieses „Abenteuers aus tausendundeiner Nacht“ wie auch der Be- 8 Prosper Marilhat (1811-1847), orientalistischer Maler des 19. Jahrhunderts. 9 Die Erotik des Harems ist bekanntermaßen bereits im 18. Jahrhundert ein weit verbreiteter Topos des europäischen Orientbildes. 10 Nerval selbst evoziert die berühmte Erzählsammlung Gallands. Cf. Nerval 1998: 176: „Me voilà en pleines Mille et Une Nuits. Que ne suis-je un des jeunes marchands auxquels les deux dames font déployer leurs étoffes, ainsi que faisait la fille de l’émir devant la boutique de Bedreddin! Je leur dirais comme le jeune homme de Bagdad: «Laissez-moi voir votre visage pour prix de cette étoffe à fleurs d’or, et je me trouverai payé avec usure! »“ Auch an anderer Stelle finden sich Verweise auf die Mille et Une Nuits, so auf den Seiten 371, 389. Susanne Greilich 40 schreibung eines Auftritts orientalischer Tänzerinnen in einem Café bedient sich Nerval allerdings einer solchen Fülle stereotypisierter Bilder und Adjektive, dass die geschilderten Erlebnisse viel eher der Karikatur einer Genreszene gleichen. Tatsächlich enden beide Erlebnisse schließlich mit einer humorvollen Auflösung, bei der der Erzähler einräumen muss, einem „préjugé européen“ (Nerval 1998: 204) aufgesessen zu sein. So entpuppen sich die geheimnisvollen Orientalinnen vom Bazar als Französinnen und die verführerischen almées des Cafés als verkleidete männliche Tänzer. „Ô vie orientale, voilà de tes surprises! “ (Nerval 1998: 203), muss der Erzähler sich seinen Irrtum in scheinbarer Verzweiflung eingestehen. Obwohl der Autor-Erzähler des Voyage en Orient also eine deutliche, mitunter auch kritische Distanz zum Orientbild seiner Zeit erkennen lässt und sich des geschaffenen Charakters des Orients bewusst ist, koppelt sich der Text selbst aber keineswegs vom Prozess der imaginative geography ab - durch die Publikation des Voyage en Orient trägt Nerval ganz automatisch dazu bei -, noch macht er sich zumindest frei von romantischen Vorstellungen über den Orient als Ort des Mystischen, des Märchenhaften und des Sinnlichen. Vielmehr entwirft Nerval in seinem Buch - noch während er sich über die oftmals fälschlichen, stereotypen Vorstellungen der Europäer über den Orient mokiert - seinerseits einen gänzlich imaginären Orient, einen nur in der literarischen Vorstellung des écrivain existierenden Raum, in dem das Erleben dessen möglich wird, was der konkrete Raum, das heißt die realen Länder des Orients, dem voyageur verwehrte: das Eintauchen in die Vergangenheit, das mystisch-spirituelle Erlebnis, die Verbindung mit der idealen, spirituellen Partnerin. 11 Bereits auf makrostruktureller Ebene deutet sich das Nebeneinander der Beschreibung konkreter Raumerfahrung und des Entwurfs eines imaginären Raumes an. Nervals Voyage en Orient ist weniger ein bloßer Reisebericht, in dem der Autor seine Leser an seinen Erlebnissen, Erfahrungen und Eindrücken während seiner Orientreise teilhaben lässt, denn vielmehr eine Art Reiseroman, in dem real Erlebtes mit rein fiktiven Handlungsteilen vermischt wird. 12 Erwiesenermaßen hat Nerval eine ganze Reihe der von ihm 11 Zum Motiv der Identitätssuche des Autor-Erzählers cf. e.g. Dickhaut 2006: 95sqq. und ausführlicher Jeanneret/ Aubade 1997, wo es heißt: „Écrire le voyage, sera donc, pour Nerval, continuer l’exploration des profondeurs inaugurée par la folié et, sous prétexte d’activité littéraire, donner forme à ce parcours à l’intérieur de soi qui, depuis 1841, commande sa vie spirituelle“ (38). 12 Augenfälligstes Merkmal der Vermischung von auf real Erlebtem basierendem Bericht und fiktiver Erzählung ist der Einschub der beiden Erzählungen Histoire du Calife Hakem und Histoire de la reine du Matin et de Soliman, prince des génies in den Text, die Nerval durch einen intradiegetischen Erzähler vorbringen lässt und durch die er den Voyage en Orient an dieser Stelle formal der Erzählstruktur der Mille et une nuits annähert, für die diese Verschachtelung mehrerer Erzählebenen charakteristisch ist. Cf. zur Thematik insbesondere Schaeffer 1967. Imaginativer und imaginärer Raum 41 geschilderten Erlebnisse frei erfunden, so etwa den Kauf der Sklavin Zeynab 13 und die Beziehung zur Drusin Salema sowie die damit verbundenen Ereignisse und Anekdoten, in denen die Suche des Erzählers nach der idealen Partnerin zum Ausdruck kommt. Die wiederholten Versicherungen des Erzählers über den Echtheitsgehalt des Berichteten 14 sind nicht mehr als ein typisches Element des orientalischen Reiseberichtes des 19. Jahrhunderts und können vom Leser problemlos als erzählerischer Topos erkannt werden. Schon der geschilderte Verlauf der Reise ist ein Konstrukt. Tatsächlich verbindet der Voyage en Orient die Erlebnisse zweier getrennter Reisen des Autors: die der Monate Oktober und November 1839, die Nerval von Paris nach Genf und unter anderem nach Lyon, Bern, Zürich, Konstanz, München, Salzburg und Wien brachte, und die des Jahres 1843 in den Nahen Osten. Die Montage beider Reisen im Voyage en Orient erlaubte es Nerval, der besonderen Sehnsucht nach dem Orient Ausdruck zu verleihen und die Etappen von Paris in die Schweiz, nach Deutschland und Österreich, die unter dem Abschnitt mit dem bezeichnenden Titel „Vers l’Orient“ zusammengefasst sind, als stete Verlockung durch den mirage oriental und als zunehmendes Eintauchen in den orientalischen Raum erscheinen zu lassen. „Où vais-je? Où peut-on souhaiter d’aller en hiver? “, fragt der Erzähler im Angesicht der schweizerischen Landschaft, „Je vais au devant du printemps, je vais au devant du soleil ... Il flamboie à mes yeux dans les brumes colorées de l’Orient“ (Nerval 1998: 52). Wien lockt als „avant-goût de l’Orient“ 15 und in Konstanz am Bodensee scheint der Erzähler einen Ort gefunden zu haben, an dem Orient und Okzident harmonisch miteinander verschmelzen: Constance! c’est un bien beau nom et un bien beau souvenir! C’est la ville la mieux située de l’Europe, le sceau splendide qui réunit le nord de l’Europe au midi, l’Occident et l’Orient. Cinq nations viennent boire à son lac, d’où le Rhin sort déjà fleuve, comme le Rhône sort du Léman. Constance est une petite Constantinople, couchée, à l’entrée d’un lac immense, sur les deux rives du Rhin, paisible encore. Longtemps on descend vers elle par les plaines rougeâtres, par les coteaux couverts de ces vignes bénies qui répandent encore son nom dans l’univers; l’horizon est immense, et ce fleuve, ce lac, cette ville prennent mille aspects merveilleux. (Nerval 1998: 57sq.) 13 Nicht Nerval, sondern sein Begleiter de Fonfride, der im Übrigen im gesamten Reiseroman keine Erwähnung findet, hat auf der Orientreise eine Sklavin gekauft. 14 Cf. Nerval 1998: 790: „Que te dirai-je encore, mon ami? Quel intérêt auras-tu trouvé dans ces lettres heurtées, diffuses, mêlées à des fragments de journal de voyage et à des légendes recueillies au hasard? Ce désordre même est le garant de ma sincérité; ce que j’ai écrit je l’ai vu, je l’ai senti.“ 15 Cf. Nerval 1998: 74: „Je pars pour Vienne, d’où j’espère gagner Constantinople en descendant le Danube. J’ai vu Salzbourg, où naquit Mozart […]. Mais Vienne m’appelle, et sera pour moi, je l’espère, un avant-goût de l’Orient.“ Susanne Greilich 42 Das auf den ersten Blick widersprüchliche Verfahren Nervals im Voyage en Orient, tradierte orientalische Stereotype zu demontieren und gleichzeitig einen gänzlich imaginären, allein in der Vorstellungswelt existierenden Orient zu entwerfen, einen „monde à part“ (Miquel 1998: 11), lässt sich in seiner Bedeutung besser fassen, wenn zur Analyse der im Voyage en Orient beschriebenen beziehungsweise entworfenen Räume Foucaults Konzept des espace autre herangezogen wird. Der Orient als Gegenort In Des espaces autres verwendet Foucault mit den Begriffen der „Utopie“ und der „Heterotopie“ zwei Termini zur Bezeichnung sogenannter „anderer Räume“, Räumen, die - so heißt es bei Foucault - „in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten stehen“ (Foucault 2006: 320). Während die Utopie als Ort ohne realen Ort, als zutiefst irrealer Raum, entweder als vervollkommnetes Bild oder als Gegenbild der Gesellschaft fungiert, ist die Heterotopie als tatsächlich verwirklichte Utopie ein Gegenort („contre-emplacement“ 16 ), in dem „all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“ (Foucault 2006: 320). Die Heterotopie ist ein Ort, der, zum institutionellen Bereich einer Gesellschaft gehörend, außerhalb aller (anderen) Orte liegt, obwohl er sich durchaus lokalisieren lässt. Im Spiegel sieht Foucault beide Aspekte, die der Utopie und der Heterotopie, vereint. 17 Für die französischen Schriftsteller und Künstler der Romantik, und allen voran Nerval, war der Orient ein espace autre im Sinne Foucaults, der sowohl heterotopische wie auch utopische Eigenschaften aufwies. Der Orient als 16 Cf. Foucault 1994: 755. Für die deutschen Entsprechungen der foucaultschen Terminologie stützen wir uns auf die von Dünne und Günzel in Raumtheorie vorgenommene Übersetzung (cf. Foucault 2006). 17 Cf. Foucault 1994: 756: „Le miroir, après tout, c’est une utopie, puisque c’est un lieu sans lieu. Dans le miroir, je me vois là où je ne suis pas, dans un espace irréel qui s’ouvre virtuellement derrière la surface, je suis là-bas, là où je ne suis pas, une sorte d’ombre qui me donne à moi-même ma propre visibilité, qui me permet de me regarder là où je suis absent: utopie du miroir. Mais c’est églement [sic! ] une hétérotopie, dans la mesure où le miroir existe réllement, et où il a, sur la place que j’occupe, une sorte d’effet en retour; c’est à partir du miroir que je me découvre absent à la place où je suis puisque je me vois là-bas. À partir de ce regard qui en quelque sorte se porte sur moi, du fond de cet espace virtuel qui est de l’autre côté de la glace, je reviens vers moi et je recommence à porter mes yeux vers moi-même et à me reconstituer là oú je suis; le miroir fonctionne comme uen hétérotopie en ce sens qu’il rend cette place que j’occupe au moment où je me regarde dans la glace, à la fois absolument réelle, en liaison avec tout l’espace qui l’entoure, et absolument irrélle, puisqu’elle est obligée, pour être perçue, de passer par ce point virtuel qui est là-bas.“ Imaginativer und imaginärer Raum 43 Heterotopie ließ sich geografisch lokalisieren und lag sowohl im übertragenen wie auch im konkreten Sinne außerhalb, wenn er - im Unterschied zu den Heterotopien im eigentlichen Sinne - auch nicht selbst zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörte. Die französische Gesellschaft fand sich in der Heterotopie Orient repräsentiert, insofern als hier die Ursprünge der christlich-abendländischen Zivilisation lagen, 18 und sie sah sich verkehrt, insofern als die Spiritualität und Religiosität der orientalischen Bevölkerung mit Frankreichs Laizismus im 19. Jahrhundert in ebenso scharfem Kontrast stand wie orientalische Rückständigkeit beziehungsweise Traditionsbewusstsein mit der industriellen Moderne Westeuropas. 19 Der heterotopische Orient konnte konkret erfahren und betreten werden. Wie im Falle anderer Heterotopien auch musste der Reisende aber, um in sie eintauchen zu können, ein Initiationsritual absolvieren: Er kleidete sich in die Landestracht, ließ sich Bart und Haare frisieren, besuchte ein Bad. Nerval beschreibt seine Initiation im Voyage en Orient wie folgt: Le lendemain, songeant aux fêtes qui se préparaient pour l’arrivée des pèlerins, je me décidai, pour les voir à mon aise, à prendre le costume du pays. [...] C’est dans [une] charmante boutique [...] que je perdis ma chevelure européenne. Le barbier y promena le rasoir avec beaucoup de dextérité, et, sur ma demande expresse, me laissa une seule mèche au sommet de la tête comme celles que portent […] les musulmans. [...] La chose faite, le barbier me fit tenir sous le menton une cuvette d’étain, et je sentis bientôt une colonne d’eau ruisseler sur mon cou et sur mes oreilles. [...] Quand la surprise fut passée, il fallut encore soutenir un lessivage à fond d’eau savonneuse, après quoi l’on me tailla la barbe selon la dernière mode de Stamboul. Ensuite on s’occupa de me coiffer […]. Avec les deux bonnets superposés, le cou découvert et la barbe taillée, j’eus peine à me reconnaître dans l’élégant miroir incrusté d’écaille que me présentait le barbier. Je complétai la transformation en achetant aux revendeurs une vaste culotte de coton bleu et un gilet rouge garni d’une broderie d’argent assez propre: sur quoi le peintre voulut bien me dire que je pouvais passer ainsi pour un montagnard syrien venu de Saïde ou de Taraboulous. Les assistants m’accordèrent le titre de tchéléby, qui est le nom des élegants dans le pays. (Nerval 1998: 229sqq.) Orientalische Kleidung und Frisur sollten es dem Reisenden ermöglichen, wahrhaftig in die andere Welt einzutauchen, mit ihr zu verschmelzen. Sie sollten es Nerval erlauben, unbehelligt und unerkannt die Orte aufzusuchen und an den Ereignissen teilzuhaben, bei denen er vermutete, Elemente des Orients wiederzufinden, dessen Bild er sich auf der Grundlage der Lektüre von Erzählsammlungen und Reiseberichten gezeichnet hatte: des Orients als Ort des Sinnlichen, Geheimnisvollen und Mystisch-Mythischen. Der in der 18 Cf. Nerval 1998: 249: „[...] n’est-ce pas toujours d’ailleurs la terre antique et maternelle où notre Europe, à travers le monde grec et romain, sent remonter ses origines? “ 19 Cf. Nerval 1998: 194: „[...] c’est avec un étonnement toujours plus vif que je me retrouve à mille lieues de ma patrie, et que j’ouvre mes sens peu à peu aux vagues impressions d’un monde qui est la parfaite antithèse du nôtre.“ Susanne Greilich 44 Literatur entworfene orientalische Raum, den Nerval (wieder)zufinden und zu erfahren hoffte, entsprach hierbei nicht dem konkreten Raum, die der voyageur bereiste; er war vielmehr ein zutiefst irrealer, utopischer Raum, der von den écrivains als Gegenbild zur französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entworfen worden war. 20 Mit seiner Reise unternahm Gérard de Nerval den Versuch, die Utopie vom Orient zu erleben, das Irreale im Konkreten Wirklichkeit werden zu lassen. Dieses Unterfangen musste zum Scheitern verurteilt sein. Nerval verbirgt dieses Scheitern den Lesern seines Voyage en Orient ebenso wenig wie seinen Schmerz darüber. Noch bevor er den Orient tatsächlich erreicht hat, als sich nämlich der erste Eindruck von Konstanz als Schmelztiegel von Orient und Okzident als Trugbild erweist, räumt der Erzähler ein: Aussi bien, c’est une impression douloureuse, à mesure qu’on va plus loin, de perdre, ville à ville et pays à pays, tout ce bel univers qu’on s’est crée jeune, par les lectures, par les tableaux et par les rêves. Le monde qui se compose ainsi dans la tête des enfants est si riche et si beau, qu’on ne sait s’il est le résultat exagéré d’idées apprises, ou si c’est un ressouvenir d’une existence antérieure et la géographie magique d’une planète inconnue. Si admirables que soient certains aspects et certaines contrées, il n’en est point dont l’imagination s’étonne complètement, et qui lui présentent quelque chose de stupéfiant. (Nerval 1998: 60sq.) Interessanterweise verwendet Nerval selbst räumliche Metaphern, wenn er von der Einsicht in die Diskrepanz zwischen Vorstellung und Realität spricht. Seine Utopie des Orients ist ein „schönes Universum“, eine „Welt“, die „magische Geografie eines unbekannten Planeten“, die durch die reale Reise von „Stadt zu Stadt, von Land zu Land“, durch den Anblick realer „Landschaften“ nach und nach zerstört wird. Die Bewegung in und durch den konkreten Raum löst die Utopie vom Orient, den gedanklichen Raum Orient, auf. Aus diesem Dilemma sucht Nerval einen doppelten Ausweg: die Erzählerfigur des Voyage en Orient zieht sich immer wieder in den imaginären Raum zurück, der Autor Nerval schließlich lässt in seinem Reiseroman die Beschreibung der Erlebnisse im realen, „anderen Raum“ Orient und den nur in der gedanklichen Vorstellung bestehenden, utopischen orientalischen Raum, nebeneinander stehen. Wenn sich konkrete Raumerfahrung und utopischer Raum für den écrivain-voyageur nicht decken können, so finden sie sich zumindest formal im literarischen Werk vereint. Mais qu’il note, de par lui-même, qu’il reproduise ou qu’il imagine, l’auteur est tout sauf un strict reporter: c’est en sa propre compagnie qu’il voyage, et ce 20 Nerval selbst beschreibt den utopischen Charakter, der dem in der Vorstellungswelt kreierten Raum des Anderen innewohnt, und verweist auf seine Funktion als gedanklicher Fluchtpunkt: „En Afrique, on rêve l’Inde comme en Europe on rêve l’Afrique; l’idéal rayonne toujours au-delà de notre horizon actuel.“ (Nerval 1998: 272) Imaginativer und imaginärer Raum 45 voyage n’est après tout, qu’une métaphore de ses lectures et de ses rêves; son Orient constitue un monde à part, peuplé d’êtres et de choses qui se transforment, à volonté, en des créations de poète. (Miquel 1998: 11) Seinen Rückzug in einen rein imaginären Orient, den er aufgrund der Enttäuschung über die konkrete Raumerfahrung vollzieht, schildert der Erzähler des Voyage en Orient ganz offen: „Hâtons-nous donc de quitter Constance avant qu’il fasse jour“ (Nerval 1998: 60), kommentiert er seine überstürzte Abreise aus Konstanz, als sich die Idee vom orientalisch-okzidentalischen Schmelztiegel als Schimäre herausstellt. „A quoi bon vouloir tout approfondir? “, ärgert sich der Erzähler an anderer Stelle bei der Weiterreise von Kairo Richtung Beirut, als er erfährt, dass das melancholische Lied, das er fälschlicherweise für die sehnsuchtsvolle Träumerei eines Reisenden von Istanbul gehalten hat, nichts als eine „sotte chanson politique“ (Nerval 1998: 347) ist. „J’aurais mieux aimé ignorer désormais le sens de ces paroles (Nerval 1998: 347)“, gibt er freimütig zu. Von seiner Idee des Orients kann und will Nerval ganz offensichtlich nicht lassen. Beim Anblick des belebten Hafens von Beirut verleiht er seiner Sehnsucht noch einmal explizit Ausdruck: Ne rêve-t-on pas des aventures et des mystères à la vue de ces hautes maisons, de ces fenêtres grillées où l’on voit s’allumer souvent l’œil curieux des jeunes filles? Qui oserait pénétrer dans ces forteresses du pouvoir marital et paternel, ou plutôt qui n’aurait la tentation de l’oser? (Nerval 1998: 405) Und so gibt er sich aller Erkenntnis über die falschen Vorstellungen der Europäer vom erotisch-unsittlichen Charakter des Harems zum Trotz (Nerval 1998: 276-283, 574sq.) ebensolchen stereotypen Träumereien über den Harem hin 21 und bevölkert seinen Orient mit Erlebnissen und Frauengestalten, die die Erfüllung seiner Sehnsüchte versprechen: Die Sklavin Zeynab und die Drusin Salema, die Nerval im Voyage en Orient auftreten lässt, rücken die Verschmelzung mit dem Orient in greifbare Nähe: „Il faut que je m’unisse à quelque fille ingénue de ce sol sacré qui est notre première patrie à tous, que je me retrempe à ces sources vivifiantes de l’humanité, d’où ont découlé la poésie et les croyances de nos pères! “ (Nerval 1998: 446). 21 Cf. hierzu den Abschnitt V des Teils „Les Nuits du Ramazan - I Stamboul et Pera“ mit dem Titel „Une aventure de l’ancien sérail“, in dem der Erzähler den Bericht eines alten Mannes über vergangene amouröse Abenteuer mit den Haremsdamen des Sérails wie folgt kommentiert: „Je ne pus m’empêcher de dire à mon interlocuteur, après l’avoir plaint des dangers qu’il avait courus, que je le soupçonnais d’avoir un peu gazé quelques circonstances de son récit. «Monsieur, répondit-il, je ne m’explique pas làdessus; rien, dans tous les cas, ne me ferait trahir des bontés…» Il n’acheva pas. J’avais entendu déjà parler de ces sombres aventures attribuées à certaines dames du vieux sérail vers la fin du dernier siècle… Je respectai la discrétion de ce Buridan glacé par l’âge.“ (Nerval 1998: 595) Susanne Greilich 46 Von seiner Reise in den Orient hatte sich Nerval inneren Frieden versprochen, durch die Verschmelzung des Widersprüchlichen, die Vereinigung von Tradition und Moderne, von maskulin und feminin, repräsentiert durch Okzident beziehungsweise Orient, wollte er vollkommene Harmonie finden. 22 Letztendlich scheitern aber sogar in der Diegese des Reiseromans die Versuche des Erzählers durch die Verbindung mit einer spirituellen Partnerin zu neuer Harmonie zu gelangen, bleibt die Hoffnung auf eine neue Identität nur Illusion, „mirage“ eben: Die Beziehung zu Zeynab gestaltet sich schwierig, die Heirat mit Salema scheitert. „Voilà mon rêve et voici mon réveil“ - dieser Ausruf des Erzählers beim Anblick der griechischen Inseln kann daher als leitmotivisch für den gesamten Voyage en Orient betrachtet werden. Fazit Der Voyage en Orient Gérard de Nervals, so hat sich gezeigt, schreibt sich auf den ersten Blick zwar durchaus in den französischen Orientdiskurs des 19. Jahrhunderts ein und ist in den von Said beschriebenen Prozess der imaginative geography eingebunden, zeichnet sich aber dennoch durch eine kritische Distanz zur stereotypen Orientwahrnehmung der Zeit aus. Wenn der Orient im Roman Nervals ungeachtet des Bemühens um eine Korrektur westlicher Klischees vielfach imaginär bleibt, dann deshalb, weil die konkrete Raumerfahrung des voyageur nicht das Erwartete, vorher Imaginierte bereitgehalten hat. Der imaginäre Orient, den Nerval in seinem Reiseroman heraufbeschwört, ist ein geistiger Gegenort, ein „Anderes“, der dem Ich des romantischen écrivain wie auch dem Erzähler als Zufluchts- und Rückzugsort dient. Indem Nerval im Voyage en Orient den Bericht über real Erlebtes mit rein imaginären Handlungselementen vermischt, die der Utopie Orient entnommen sind, legt er zum einen sein Scheitern und seine Desillusionierung offen, versucht zum anderen aber auch, das verfehlte Ziel seiner Reise zumindest in der Makrostruktur des Textes noch Wirklichkeit werden lassen: Durch die Verschmelzung von konkretem Raum und imaginärem Raum des Orients im Roman wird die Vereinigung vollzogen, deren Erfahrung Nerval sich von seiner Reise in den Orient selbst erhofft hatte. Literatur Ahmad, Aijaz: In Theory: Classes, Nations, Literatures, London: Verso 1992. 22 Cf. Jeanneret/ Aubade 1997. Imaginativer und imaginärer Raum 47 Bachmann-Medick, Doris: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Barker, Francis et al. (eds.): The Politics of Theory, Colchester: University of Essex 1983. Barrès, Maurice: Une enquête aux pays du Levant, Paris: Plon-Nourrit 1923. Berchet, Jean-Claude: Le voyage en Orient. Anthologie des voyageurs français dans le levant au XIX e siècle, Paris: Robert Laffont 1985. Bernsen, Michael/ Martin Neumann (eds.): Die französische Literatur des 19. Jahrhunderts und der Orientalismus, Tübingen: Niemeyer 2006. Bhabha, Homi K.: „Difference, Discrimination, and the Discourse of Colonialism“, in: Barker 1983, 194-211. Chateaubriand, François-René Vicomte de: Itinéraire de Paris à Jérusalem et de Jérusalem à Paris, en allant par la Grèce, et revenant par l’Égypte, la Barbarie et l’Espagne, Paris: Le Normant 1811. Dickhaut, Kirsten: „,Le vrai est ce qu’il peut‘. Zur (De-)Konstruktion des Orients in Gérard de Nervals Werk“, in: Bernsen/ Neuman 2006, 93-111. Dünne, Jörg/ Stephan Günzel (eds.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. El Nouty, Hassan: Le Proche-Orient dans la littérature française. De Nerval à Barrès, Paris: Nizet 1958. Estelmann, Frank: „,Aller chercher l’Orient en Égypte‘. Von der Bilderzur Orientsuche im französischen Reisebericht des 19. Jahrhunderts“, in: Bernsen/ Neumann 2006, 189-207. Foucault, Michel: „Des espaces autres“ [1967/ 1984] in: Michel Foucault: Dits et écrits. 1954-1988, ed. Daniel Défert und François Ewald, vol. IV, Paris: Gallimard 1994, 752-762. Foucault, Michel: „Von anderen Räumen“ [1967/ 1984], aus dem Französischen von Michael Bischoff, in: Dünne/ Günzel 2006, 317-327 [dt. Übersetzung von „Des espaces autres“]. Jeanneret, Michel/ Camille Aubade: Le Voyage en Égypte de Gérard de Nerval, Paris: Kimé 1997. Lamartine, Alphonse de: Voyage en Orient, Paris: Gosselin 1835. Larousse, Pierre: Grand Dictionnaire universel du XIX e siècle, vol. II, Paris: Larousse & Boyer 1866. Loomba, Ania: Colonialism/ Postcolonialism, London: Routledge 2 2005. Miquel, André: „L’Orient de Nerval“, in: Gérard de Nerval: Voyage en Orient, ed. 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Sein wesentliches Merkmal war die Faszinationskraft einer Ferne, die sich in den Parametern von Zeit und Raum manifestierte. Fremd ist fortan aber nicht mehr das zeitlich und geografisch Entfernte, sondern das, womit sich Entfremdungen im Eigenen, wie zum Beispiel poetische Verfremdungen (Honold 1995: 32), erzielen lassen. Das Medium selbst tritt dabei mehr und mehr in den Vordergrund, die Literatur ist aber längst nicht mehr die alleinige Vermittlungsinstanz für die Imagination fremder Welten, sie wird erweitert um Fotografie, Film, ethnografisches Material, Kolonialausstellungen etc. Dabei wird immer noch auf das stereotype Repertoire des exotistischen und rassistischen Diskurses des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen. Insbesondere lassen sich strukturelle Parallelen zum Diskurs über den Orient feststellen, der nach Said 1 niemals real, sondern als ein (Gegen-)Entwurf der Europäer im späten 18. und 19. Jahrhundert existiert. Orientalismus wird definiert als die Art und Weise Europas, sich mit dem Orient zu beschäftigen, indem man Urteile über ihn abgibt, Ansichten über ihn autorisiert, ihn beschreibt, über ihn berichtet. Es handelt sich dabei um Effekte konvergenter Prozesse der kulturellen und wissenschaftlichen Kolonisierung, die als Wahrnehmungs- und Deutungsmuster fortwirken (Honold 1995: 102). Besonders der „Afrika“-Diskurs der Moderne nach 1900 2 entzieht den Alteritätskonstruktionen die aktualisierenden Identitätszuweisungen und stellt damit die europäischen Definitionen des „Afrikanischen“ und die Bedingungen dieses Diskurses infrage. So werden Alteritätserfahrungen zunehmend in das Innere der eigenen Kultur verlagert. Diese Formen des „inneren Afrika“ beziehen die - realen 1 Edward Said (1978) lässt in seiner Orientalismus-These allerdings die positive Anziehungskraft der Kolonialfantasien unberücksichtigt, die für die Bestimmung der Fiktionen des Fremden notwendig ist. Der Ansatz Homi Bhabhas (1994), der mit dem Begriff der Hybridität das Moment fasst, in dem die Sprache des Kolonisatoren ihre alleinige Deutungsmacht verliert und damit den Weg frei macht für die Sprache und Perspektive des Anderen, bietet hier Auswege. 2 Cf. dazu Winter et al. 2002. Susanne Stemmler 50 oder imaginären - fremdkulturellen Erfahrungen auf die vertikale Ebene der Fremdheit innerhalb eines Individuums. Waren es zuvor die komplementären Mythen des „edlen“ und des „bösen Wilden“, die als kontinuierliche Unterströmung der europäischen Geistesgeschichte seit dem 16. Jahrhundert existieren (Fink-Eitel 1994: 10), so verweist zu Beginn des 20. Jahrhunderts der „Wilde“ auf Korrespondenzen im Inneren. Diese Entwicklung - nicht zuletzt bedingt durch die „Entdeckung“ des Unbewussten - bietet die Möglichkeit der kritischen Distanzierung zum Eigenen, die die Stimme des Anderen 3 hervortreten lässt. In diesem Prozess kommt der Figur des nègre beziehungsweise der négresse in der französischen Literatur eine besondere Bedeutung zu. Sie fungiert als außereuropäische Chiffre für die kritische Reflexion der eigenen Kultur oder als Projektionsfläche für die eigenen Sehnsüchte. Schwarze Körper werden dabei oftmals auf das Konzept des homme-nature beziehungsweise der femme-nature reduziert, das die Verortung der Alteritätsbilder innerhalb zeitgebundener Episteme widerspiegelt. Das sich abzeichnende Ende der kolonialen Expansion korrespondiert in dieser Zeit mit der Eroberung des inneren Raumes, fremde Welten verlagern sich nach Innen. Diese Bewegung kann als Anwendung von Deutungsmustern innerer Fremdheit auf Phänomene äußerer Fremdheit zur Umleitung oder Beseitigung von Irritation beschrieben werden (Nakamura 2000: 49). Die Phase der territorialen Beutezüge Frankreichs ist um 1900 abgeschlossen, Kolonien werden nicht mehr neu erworben, sondern nur noch im Konflikt mit den anderen europäischen Mächten aus innenpolitischen Gründen abgetreten. Nach dem Ersten Weltkrieg setzt eine vorsichtige Reklamation des Respekts für afrikanische Kulturen ein. Reisebericht und Reportage werden als Gattungen populär, die die negativen Effekte des Kolonialismus mehr oder weniger offen denunzieren; sie präsentieren dem dekadenten Europäer den „Schwarzen“ jedoch wieder in naturalistisch-realistischer Manier in seiner Umgebung (Dorf, Jagd etc.), der den Auswirkungen der Akkulturation und des damit verbundenen Identitätsverlustes ausgesetzt ist. Was die Texte jedoch allesamt vermitteln, sind Spuren des Anderen, ihre Sprache, ihre Namen und importierte Bezeichnungen für unbekannte Objekte: „The gesture of reaching out to the most unknown part of the world and bringing it back as language [...] ultimately brings Europe face to face with nothing but itself, with the problems its own discourse imposes.“ (Miller 1985: 5) Diese Rückkehr des Anderen als Sprache, die mit dem Eigenen konfrontiert ist, wird besonders deutlich in der sogenannten négrophilie der Zwanzigerjahre. 4 Ihr kolonialräumliches Bezugssystem soll im Folgenden anhand 3 Zur begrifflichen Unterscheidung von Andersheit und Fremdheit cf. Nakamura 2000: 70sqq. 4 Cf. dazu Wendl/ Lintig 2006. Die Kolonie in der Metropole 51 eines Beispiels aus der französischen Literatur dargestellt werden. André Salmons Roman La negresse du Sacré-Cœur von 1920 deutet im Sog der europäischen Moderne Primitivismus als Gegenmodell des dekadenten Intellektualismus und lenkt dabei den Blick auf die Exotismen im Inneren des Eigenen. Aber auch René Marans „Véritable roman nègre“ Batouala (1921) stellt eine Zäsur innerhalb der Kolonialliteratur dar, da er aus der erzählerischen Innenperspektive die Widersprüche der Kolonialdoktrin aufzeigt und zugleich ihr Diskursmonopol infrage stellt. Paul Morands Reisetext Paris- Tombouctou (1928) wiederum spiegelt die ambivalente Figur von Faszination und Bedrohung und verweist auf das „Afrikanische“ im Eigenen. Diese drei Texte zeigen: Der menschliche Körper und seine Nacktheit gelten als Merkmale des naturgeleiteten bon nègre, die die ent-sinnlichten Körperkonzeptionen der „Zivilisierten“ kompensieren oder als Merkmal des obszönen mauvais nègre ausgegrenzt werden. Die Konzentration der literarischen Darstellung auf den Körper des Anderen fungiert dabei als Gegenmodell zur repressiven Köperfeindlichkeit oder als unmoralische Promiskuität. 5 Ein wichtiger Bezugspunkt ist der Gegensatz von Wildnis (Natur, Dorf) und Zivilisation (Paris, Montmartre). In der Anwendung exotistischer Deutungsmuster des Anderen auf die eigene Kultur und Geschichte 6 verbirgt sich ein Fortschrittskonzept mit negativem Vorzeichen: Der Text La négresse du Sacré-Cœur schreibt der „Rückständigkeit“ des Anderen eine Korrektivfunktion zu, indem er die Blicke auf das Fremde nach Innen, ins „Mutterland“, in die Metropole lenkt. Die räumliche Dichotomie des Kolonialismus wird in die Kapitale Paris geholt: Paris wird zur „terre inconnue“ der einstigen Kolonie (Khatibi 1987: 12), zum exotischen Urbanen, in dem diese (vermeintlichen) Gegensätze aufeinander bezogen werden. Der Exotismus löst sich von der räumlichen Ferne und wird damit zur bewusst aufgesuchten Differenz, zur Fähigkeit anders wahrzunehmen, die Victor Segalen als „Ästhetik des Diversen“ bezeichnet (Segalen 1978). 5 Negroni stellt in einer Tabelle Eigenschaften gegenüber, die dem bon nègre und dem mauvais nègre zugeordnet werden, und gelangt so zu einer Übersicht der perspektivenabhängigen Wertungen (zum Beispiel „nudité“ - „hypocrisie“, „décence“ - „obscénité“, 1992: 40). Eine ganz ähnliche Aufstellung der Gegensätze von Wildheit und Zivilisation (in Bezug auf Südamerika) nimmt Michel de Certeau vor. Er betont, dass „die Figur des Anderen, aus dem objektiven Wissen verbannt, in anderer Form an den Grenzen dieses Wissens wiederkehrt [...].“ (de Certeau 1991: 160). 6 Die Ersetzung der Fremdheit durch Andersheit ist konstitutives Merkmal des Exotismus (Nakamura 2000: 72). Susanne Stemmler 52 Montmartre als exotischer Mikrokosmos - André Salmons La négresse du Sacré-Cœur Der Einzug des Neuen, Ungewohnten auf die literarische Bühne erfolgt in La négresse du Sacré-Cœur gewissermaßen über den Hintereingang: Schauplätze sind die Bars, Cafés, Cabarets am Montmartre, wo sich die Außenseiter der Pariser Gesellschaft einnisten (Salmon 1920: 17), Transvestiten (op. cit.: 56), Prostituierte und deren verlassene Kinder (op. cit.: 64) sowie Künstler- Bohemiens. 7 Im Cabaret La Perle noir am Montmartre tritt nach dem Ersten Weltkrieg 8 die négresse du Sacré-Cœur, eine Frau namens Cora auf. Der Einzug der Figur des Afrikaners in die französische Alltagskultur wird durch die Kolonialausstellung in Marseille 1922 forciert, die unter anderem ein Palais de l‘Afrique Occidentale Française zeigt. Ein wesentliches Moment stellt die Gegenausstellung der Surrealisten zur Kolonialausstellung in Paris/ Vincennes 1931 (Blévis et al. 2009) dar. Durch Auftritte in den Varietés und Cabarets der europäischen Hauptstädte zuvor oder durch den jazz nègre nach 1917 wird diese Figur gefestigt. Mit den ersten Ausstellungen der art nègre und den sie begleitenden fêtes nègres kulminiert die négrophilie (Le Coat 1993: 23sqq.). „Schwarze“ Tänzerinnen werden zum begehrten Objekt europäischer Blicke, wie etwa Josephine Baker, die 1925 im Théâtre de Champs Elysées mit ihrer danse sauvage auftritt (Jules Rosette 2006). Sie entspricht damit dem Geschmack des zivilisationsmüden Pariser Publikums. Der morbide Glanz vergangener Zeiten des Fin de siècle bildet die Folie für die Suche nach neuen Mythen. Man orientiert sich an den sauvages, beklagt zugleich das Transitorische der Zeit, die „disparition complète du vieux Montmartre“ (op. cit.: 10). Der Roman parodiert dabei das Genre des pittoresken Reiseberichts: Der Erzähler unternimmt eine Fernreise in die nahe Welt des Montmartre, gewissermaßen die exotische Welt vor der Haustür, und beschreibt die „[f]lore 7 André Salmon bewegte sich im Umfeld Guillaume Apollinaires, die Personen im Roman haben Ähnlichkeiten mit Pablo Picasso, Pierre MacOrlan, Frank Wedekind und Max Jacob. Eine Debatte im Roman thematisiert die Vorbild-Funktion der sauvages für die jungen Künstler, die sich - wie auch Amedeo Modigliani, Georges Braque, Juan Gris oder Jean Cocteau - mit Formen afrikanischer Kunst auseinandersetzen, nicht mehr an die antiken Kunstideale glauben (op. cit.: 24). Sie bestätigt die Überlegenheit der afrikanischen Kunst, die von der literarischen Moderne postuliert wird (Morand greift dies in Paris-Tombouctou wieder auf) und die den Primitivismus zum Zeichen einer neuen Zeit erhebt. L'art nègre erfährt eine Ästhetisierung in europäischen Kontexten der peintres modernes (Mudimbe 1988: 10), die in der Archaisierung zukünftige Kunstformen sehen. Zur Thematik „Black Paris“ cf. Wendl et al. 2006. 8 Der Roman La négresse du Sacré-Cœur fällt genau in die Zeit der Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, mit denen sich die Generation des l'entre-deux-guerres beschäftigt. Aus deutscher Perspektive deutete man Afrikaner in französischen Militärdiensten als Negation der Zivilisation schlechthin, der Krieg von 1914 sollte eine Angelegenheit „Zivilisierter“ bleiben (Le Coat 1993: 34). Die Kolonie in der Metropole 53 et folklore de Montmartre en 1907“; er schildert die Reise „en cet étrange pays“, weist darauf hin, dass ihm die Fertigkeiten der „peintres de paysage“ versagt bleiben und bezeichnet sich dagegen als „peintre en voyage“ (op. cit.: 16). Die Boheme-Welt von Montmartre wird als terra incognita in all ihrer Brüchigkeit präsentiert: „Toutes les fleurs y poussent en pots; tous les oiseaux sont en cage et le gazon des terrains vagues est pareil au manteaux des pauvres, d'un vert et jaune indéfini; avec des trous“ (op. cit.: 18). Diese Natur-Metaphorik zieht sich durch den gesamten Text: Angefangen vom „climat de Paris“ (ibid.) und den (Stadt-)Landschaftsbeschreibungen (etwa „le phare solaire tournait glorieusement sur la mer parisienne“, op. cit.: 83), bis zur Schilderung des extravaganten Domizils des „planteur de Montmartre“ (op. cit.: 86) im Kolonialstil, wo exotische Pflanzen wuchern und sogar Kautschuk angebaut wird (ibid.). Man diskutiert über die Regen- und Trockenzeiten (op. cit.: 55) inmitten der Großstadt. Die Figuren werden mit exotistischen Details ausgeschmückt: „Son nez long et fin se brûlait à une pipe en terre [...]; une remarquable pipe à sujet figurant un naturel des îles Fidji dévoré par un crocodile“ (op. cit.: 20). 9 Die Topografie der Großstadt ist gekennzeichnet durch Metaphern aus dem Bereich der Vegetation und des Ackerbaus. Paris wird „verländlicht“ und erhält einen ähnlichen Status wie in Apollinaires „Vendémiaire“. 10 Der Kolonialismus wird zum Spiel der avantgardistischen Künstlerszene in Paris (op. cit.: 78sq.), wobei der Exotismus und das Pittoreske selbst zum Thema werden: „Nos débauches [...] restorent la vraie morale. Nous nous employons encore à ruiner l'exotisme et à assassiner le pittoresque“ (op. cit.: 79). Die Voraussetzung für den „Neubeginn“ scheint offenbar - zumindest rhetorisch - die Überwindung eines vorgängigen exotistischen Diskurses zu sein. Imaginäre Exotismen werden dabei „real“: „Le baobab était vraiment un baobab. [...] c'était au sommet de Montmartre le décor délicat de la Chaumière Indienne“ (op. cit.: 101). Die Szenerie provoziert eine Gleichsetzung mit dem exotistischen Roman Paul et Virginie (Bernardin de Saint-Pierre: 1788): „aussi dignes de toucher les cœurs sensibles que Paul et Virginie“ (ibid.). So wird der Text zur Reise auf den „unbekannten Kontinent“, in den Mikrokosmos von Montmartre und damit in erster Linie auch zu einer Reise ins Innere. Der Roman hält der parallelen Hinwendung zur Großstadt und zum „Primi- 9 Die Momentaufnahme „En Chine“ von Max Jacob vermittelt ein dem Text Salmons ähnelndes Bild der Metropole Paris als „Ausland“: „Les Buttes-Chaumont peintes sur un paravent, c'est la Chine.[...]/ L'ambassadeur de France et le muezzin rivalisent de silence et de réticences. Tout est ici net et propre comme au paradis./ Ce n'est qu'une apparence“ (Jacob 1961: 93). Die Zuweisung des Etikettes Chine wird mit einer exotisierenden Darstellung der butte verbunden, deren Pittoreske durch einen Muezzin komplettiert wird. 10 Cf. Apollinaire 1965: 235sq. Cf. die Parallelen zu Louis Aragon, Le paysan de Paris (1926). Susanne Stemmler 54 tiven“ einen ironischen Spiegel vor (op. cit.: 24). Salmon kehrt diese Bewegung des Exotismus um: Die notwendige Entfremdung benötigt nicht mehr den Raum des Anderen, denn sie spielt sich im Herzen der Großstadt ab, sondern entwirft „andere“ Räume im Inneren. Die Heterotopie Kolonie (Foucault) wird ins Mutterland zurückverlagert. Innenwelten Objekte fremder Herkunft gehören zum Repertoire der Fantasien über die Ferne. Exotistische Interieurs bilden bei Salmon nicht nur den Hintergrund der Erzählung, sondern werden selbst Teil der Handlung: Un à un, Méderic apporta sur son dos ou à pleines mains des armes barbares, lances, sagaies, boomerangs, casse-tête, coupe-coupe, criss, arcs et leurs flèches, des colliers d'ivoire ou de corail, des boucliers de cuir, jusqu'à une étroite pirogue en peau d'hippopotame; des diadèmes de plumes, des masques de bois noir à barbes de laine, à corne de buffles bossu, des masques blancs et rouges, des fétiches souriants ou grimaçants, petits dieux d'ébène [...]. Il y avaient aussi [...] des fruits de Mozambique desséchés enveloppés dans un pavillon américain [...], des courges geántes du Zambèze, un cérisier nain du Japon, un bouquet de roseaux pourpres de l'Amazone et des palmes de Paléstine.[...] C'est de tous les coins farouches, nourris d'angoisse et de lumière, de volupté sauvage et de nostalgie, de paresses et de fièvres, de tous les coins de la vaste terre dont nous avons tous rêvé, un jour de brume européenne, le front aux vitres d'une chambre d'hôtel ouvert sur le port. (op.cit.: 73) Die hier aufgezählten Gegenstände führen ein Eigenleben, sie werden ungeachtet ihrer regionalen und funktionalen Verschiedenheit in einem neuen Kontext aneinandergereiht. Ihre räumliche Ferne scheint zwar dadurch aufgehoben, zugleich werden sie aber innerhalb der eigenen Ordnung unheimlich. Es handelt sich um das mimetische Bestreben, Alterität „abzubilden“ (Taussig 1993), doch rückt hier der Akt der Beschreibung selbst in den Vordergrund und entlarvt die referenzielle Illusion. Diese Entwicklung wird oft als Endpunkt des Exotismus bezeichnet. 11 Afrika wird zum grenzenlosen Reich erfüllter Sinne, in dem das Problem der Repräsentation von Wirklichkeit aufgelöst ist. Das Denken eines Objektes, das als anderes erkannt wird, kontrastiert der Erzähler mit dem Kult des „Direkten“, der greifbaren Gegenstände. Es handelt sich um den Versuch, mit den Gegenständen als pars pro toto Afrikas, „europäische“ Denkmuster aufzubrechen und die fremden Objekte als Spiegel der Innenwelten wirken zu lassen. Die Künstler der Boheme entwerfen absurd-groteske Bilder, die sie ad-hoc zeichnen oder beschreiben und die zum Teil auch wieder auf Reiseberichte, fremde Welten anspielen, in denen groteske Genealogien von Königen wie 11 E.g. Moura 1992: 131. Ein extremes Beispiel hierfür sind die Texte von Henri Michaux, in denen der exotische Raum nun als lointain intérieur existiert. Die Kolonie in der Metropole 55 „Elephant der Zehnte“ auftreten (e.g. op. cit.: 147sqq.). Sie verdeutlichen abermals den Geschmack der Zeit am Exotischen, der Leerstellen füllt und als Fantasiereise ins Innere des Eigenen führt. Diese Innenwelten sind dabei „wahrhaftiger“ als die Realität: Sorgue imaginait une composition burlesque, plus véridique que la réalité. Les deux personnes tout nus. Devant la négresse au ventre tatoué de symboles difficiles et coiffée d'un chapeau de Paris, une ombrelle-massue entre ses doigts bagués, s'inclinait le commissaire, un gibus à la main, l'écharpe sur le nombril pudiquement nouée de face, avec un détail quand même obscène, toute la flamme solaire lui brûlant les yeux à travers les glaces du lorgnon; avec au fond, dominé par une marâtre ivre et ricanante, un paysage d'enfants assassinés. (op. cit.: 193; Hervorhebung S.St.) Die schwarze Tänzerin Cora ist in dieser Szene mit Attributen afrikanischer und europäischer Moden geschmückt, die Verführung wird dadurch ins Groteske verzerrt. Die Beschreibung stellt einen Höhepunkt zum Schluss des Romans dar und spitzt die Handlung zu, die zuvor durch lange und detaillierte Beschreibungen verzögert wird. Die Realitätsübersteigerung billigt der Imagination eine formende Kraft zu, die ins Figureninnere verweist. Erotik und Exotik Der Auftritt der négresse auf der Bühne des Nachtklubs La Perle noir und ihr erstmaliges Erscheinen als Figur fungiert als Rahmen für die Erzählung. 12 Die Erinnerung an ihren Auftritt wird vom Erzähler als Aufhänger benutzt: „le tourbillon des jupes roses dégageant le double pistil des jambes noires ravivaient mes souvenirs“ (op. cit.: 14; Hervorhebung S.St.). Die Begeisterung des Erzählers für diesen Auftritt erhebt die Afrikanerin zur Göttin, die mit ihrem Körper sowohl diesen als auch den impliziten Leser verzaubert: La négresse se déhanchait. Je te reconnaissais, ô Vénus noire de la rue Coulaincourt! Et tu prenais toute la place dans mon livre. Que ton corps long et souple, ta chair de bronze fuselé en soient la solide armature. Que tes jupes roses odorantes et balancées en soient la lumineuse et mélancolique fantaisie. (ibid., cf. auch op. cit.: 100) Der Anblick der schwarzen Tänzerin löst beim Betrachter Euphorie über die „schwarze Venus“ aus. Ihr wird ein zentraler Platz innerhalb der Erzählung und damit im Bewusstsein der anderen Romanfiguren zugewiesen, ein Anspruch, der jedoch auf narratologischer Ebene niemals eingelöst wird. Die Funktion der „Mademoiselle Cora, négresse, au Sacré-Cœur“ (op. cit.: 221) wird in der Erzählung auf die körperlichen Aspekte reduziert (cf. op. cit.: 152). Ihr tranceartiger Tanz ist ein weiteres Beispiel dafür: Man befiehlt ihr zu tanzen, woraufhin sie bereitwillig, nackt und untergeben, aber dennoch 12 Cf. dazu Schultz 2006. Susanne Stemmler 56 mit revoltierendem Ausdruck beginnt, sich in der Art ihrer „barbarischen Vorfahren“ 13 an die Stirn zu klopfen, um dann zu tanzen, wobei die Motive Gehorsam oder Befreiung in denselben Ausdrucksformen realisiert werden. Nach ihrem Auftritt wird Cora verdeutlicht, wie sehr ihr „Wert“ von ihrem Körper abhängt: „Tu ne seras pas toujours jeune et fraîche. Alors ma pauvre noire...“ (op. cit.: 15). 14 Die Figur Cora taucht in der Erzählung erneut auf, als sich der Protagonist Méderic Buthor aufmacht, um die „négresse de la butte“ (op. cit.: 88) zu suchen, die ein „chanson des îles [...] avec l'accent de làbas“ (op. cit.: 89) singt und dabei seine exotistische Neugier weckt. Sie entpuppt sich als ebenjene Cora, „une superbe mulâtresse, presque aussi claire qu'une créole“ (op. cit.: 90), und wird als Sklavin des „planteur“ vorgestellt, die Getränke serviert, unterwürfig mit der Formel „oui Massa“ antwortet und auf Befehl niederkniet (op. cit.: 97sqq.). Hier werden explizit intertextuelle Bezüge - nicht zuletzt zum Orientalismus-Diskurs - hergestellt: Die Pose ist von den orientalisierenden Gemälden Delacroix’ (op. cit.: 99) vorgegeben. Schwarz und nackt - „noire et nue“ (e.g. op. cit.: 221) - sind die Cora am häufigsten zugewiesenen Attribute. Sie erscheint als animalisches und „unzivilisiertes“ Wesen: „sa petite tête de joli animal noir“ (op. cit.: 152), von dem aber eine ungeheure Faszinationskraft ausgeht. 15 Cora wird grundsätzlich als verführerisch und leidenschaftlich charakterisiert: „elle se pencha sur le lit, sur la chair mâle, [...] offerte à sa convoitise noire“ (op. cit.: 133). Cora verkörpert das Objekt des Begehrens und nimmt dabei die Rolle des gefährlichen „Biestes“ („petite bête humaine“, „vraie sauvage, sœur de la bête“, op. cit.: 134) ein. Ein weiteres Beispiel macht die erotische Konnotation deutlich, die der Intertext des Hohenliedes („Negra sum sed formosa“) als Beschreibungsmittel für die Afrikanerin Cora birgt: Nue, noire, échevelée, les bras serrés au corps et ses ongles roses étroitement tournés vers ses seins gonflés comme pour les déchirer, image classique et simulacre barbare de l'amour bafoué elle semblait aussi surgir de profondeurs incon- 13 „Elle glissa, la tête repliée, soumise et prête à la révolte, très belle ainsi, toute nue. Et puis, se mordant les lèvres et se frappant le front à la manière de ses aïeules barbares, elle dansa, sans qu'on sut si c'était pour obéir ou pour se libérer! Et sa dance glacée, exempte de volupté, les troublait tous [...] Cora, glaïeul humide et noir, dansait toujours, vraiment pour s'évader.“ (op. cit.: 151sq.) 14 Das Motiv der schwarzen Venus im Exil taucht auch in Baudelaires Gedicht „Le Cygne“ auf. Die schwarze Venus figuriert als melancholischer Verweis auf die unwiederbringlich vergangene Erinnerung, als Einladung zu einer fantastischen Reise. Die Allegorie der Distanz zwischen Andromache und Troja, die Entfernung des Schwans von „seinem“ See, versinnbildlicht die Exilsituation, in der sich auch die négresse befindet, die von ihrem Heimatkontinent getrennt ist. (Zu den intertextuellen Aspekten von „Le Cygne“ und dem Motiv von Schwarz und Weiß in der Lyrik Baudelaires cf. Miller 1985: 69-138). 15 Die Animalisierung und Erotisierung der schwarzen Frau ist wesentliches Element des Stereotypenrepertoires (Martinkus-Zemp 1975: 215sqq.). Die Kolonie in der Metropole 57 nues, pareille, avec sa chair secouée, polie au point d'en paraître humide, à quelque beau monstre marin. (op. cit.: 137) Mit der Beschreibung der schwarzen, nackten, nassen, glänzenden Haut und mit der Hervorhebung von Körperfragmenten („bras“, „ongles“) werden deutliche erotische Signale gesetzt. Ferner entstammt die Metaphorik des erotischen Bereichs dem Umkreis der Sklaverei und der „Wilden“ (Baudrillard 1982: 158, 163). „Schwarz“ maskiert wird somit auch das Tabu der Nacktheit darstellbar. Das belegt hier der Topos der nackten Sklavin, der auf die „Ikonographie des Wilden“ 16 , den erotischen Zeichencode des französischen Blicks, zurückgreift. Die Figur der Fremden legt die Befindlichkeiten im Inneren der Figuren offen. So wird etwa deutlich, dass sich die Zuneigung ihres Liebhabers nicht auf die Persönlichkeit Coras konzentriert, sondern dass es sich vielmehr um eine Selbstverliebtheit handelt, die nur vordergründig den Anderen als Projektionsfläche wählt: „Ce qu'il aimait en moi c'était un peu de sa folie“ (op. cit.: 135). Es handelt sich neben dem materiellen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Herr und Sklavin, zwischen Liebenden, vorrangig um eine psychische Abhängigkeit, wie Cora sie in einem Traum erlebt: „… et je suis son esclave plus qu'on ne croit! … j'ai peur de ses visions! … j'ai peur de tout ce qu'il pense! … j'ai peur de tout ce qu'il rêve… de tout ce qu'il n'ose pas dire et de tout ce qu'il n'ose pas faire. Tu comprends? “ (op. cit.: 137). Die latent verborgenen Nachwirkungen des verdrängten Alltagslebens erscheinen im Traumtext bruchstückhaft und finden ihren Niederschlag im elliptisch wiedergegebenen Bewusstseinsstrom. Cora fürchtet sich vor den „visions“ ihres Besitzers, vor den mentalen Bildern, die ihn verfolgen und sie damit zum Objekt stilisieren. Aus dem Herr-Knecht-Verhältnis gibt es kein Entrinnen, es versinnbildlicht letztlich die Befangenheit im Inneren des Eigenen: „rien n'est plus difficile que de s'évader. Nous sommes tous des esclaves“ (op. cit.: 104). Das Schlusskapitel des Romans kündigt mit großer Geste die Abschaffung der Sklaverei an: „Aujourd'hui à trois heures abolition de l'esclavage“ (op. cit.: 222sqq.) und inszeniert die Freilassung Coras: „...sa négresse, son esclave, toute nue, [...] son beau visage glacé de la terreur. [...] elle est libre! [...] Toute nue, sans doute, mais légère de ses chaines“ (op. cit.: 230). Die Abschaffung der Sklaverei wird damit zur - rhetorischen - Deklaration der eigenen Freiheit der Pariser Boheme: „Nous sommes libres! “ (op. cit.: 231). Die exotistische Darstellung der Montmartre-Boheme im Motiv der „schwarzen Venus“ verbindet den surrealistischen Verweis auf die individuellen und kollektiven Innenwelten, die durch den Bezug auf das Fremde konstituiert werden, mit dem Rückverweis auf die Fremdheitsaspekte im Eigenen durch die stereotype Kombination von Erotik und Exotik. 16 Cf. Wiener 1990. Susanne Stemmler 58 Innenperspektive als Authentizitätsgarantie: René Marans Afrika- Roman Seit 1900 taucht die „âme nègre“ in verschiedenen Varianten in der französischsprachigen Literatur auf (Riesz 1995: 87). Batouala. Véritable roman nègre von René Maran (1921) stellt in diesem Kontext eine Zäsur in der französischen exotistischen und kolonialen Literatur dar. Er unternimmt den Versuch einer Rehabilitation afrikanischer Traditionen, deckt zugleich aber auch Widersprüche der Kolonialdoktrin auf und formuliert im Vorwort eine harte Anklage gegen die Methoden der französischen Kolonialpolitik: „Civilisation [...], orgeuil des Européens [...]. Tu bâtis ton royaume sur des cadavres [...]. Tout à ce quoi tu touches, tu le consumes“ (Maran 1921: 11). Mit dieser anklagenden Ankündigung seines Romans durch den Erzähler stellt Maran seinen Text in den Kontext der kolonialkritischen Stimmen. Er will die französische Nation auf den Verrat an ihrem eigenem „zivilisatorischen Projekt“ aufmerksam machen. Durch die Übernahme der Topoi der europäischen Kolonialliteratur stellt er zugleich deren Monopol infrage. Der Roman Batouala impliziert zum einen eine Distanzierung und Verwissenschaftlichung im Bereich der Kolonialliteratur, zum anderen eine Neubestimmung im sich strukturierenden Feld des Exotismus. Die Négritude-Bewegung, als deren Vorläufer der aus Martinique stammende Autor oft gilt, beruft sich auf diesen Text (Lüsebrink 1990: 146). Die Verleihung des Prix Goncourt 1921 an René Maran löste in Frankreich Empörung, in Afrika den Vorwurf des Verrats aus; der Text wurde in den französischen Kolonien verboten, sein Autor aus dem französischen Kolonialdienst entlassen. Marans Text stellt - im Gegensatz zu dem Salmons - den Versuch der „authentischen“ Erzählung aus der Innenperspektive des Kolonisierten dar. Das „innere Afrika“ soll also hier die Perspektive des Anderen ermöglichen und wird durch die Art des Erzählens erzeugt. Zwei wesentliche Momente lenken die Geschichte: „natürliche“ Unschuld und körperliche Leidenschaft. Die ersten Seiten beschreiben das Aufwachen des Protagonisten Batoualas und seine sexuellen Triebe, die aber in aller „Natürlichkeit“ ausgelebt werden. Batouala, der traditionsbewusste Häuptling des imaginären Stammes der Banda, ist von Eifersucht auf seinen Rivalen Bissibingi gekennzeichnet. Batouala verfehlt ihn mit seinem Speer nur knapp, während er selbst getötet wird. Als Kommentator des Geschehens reflektiert der Hund Djouma, der in einem anderen Roman Marans in der Hauptrolle auftaucht (Chien de brousse, 1927), in einem inneren Monolog kolonialkritisch die Eingriffe der Europäer. Die Frauenfiguren werden nach dem Deutungsmuster des „Edlen Wilden“ als naiv und unschuldig beschrieben. In den Schilderungen der „pastoralen“ Idylle spürt man die Verwunderung des Blickes angesichts der Unbefangenheit gegenüber dem eigenen Körper, der eigenen Sexualität: „Tranquille, nue [...] les mains sur le Die Kolonie in der Metropole 59 ventre, les jambes écartés, elle faisait gologolo, elle ronflait, quoi! Le bon sommeil qu'elle dormait. Parfois elle tâtait des mamelles flasques et ridées [...] se grattait en poussant de longs soupirs.“ (Maran 1921: 23) Kontrastiert man diese Beschreibung mit den Berichten der „Entdecker“ Südamerikas, so fallen erstaunliche Parallelen auf, die bis hin zur Wortwahl reichen (Daus 1983: 229). Das Gefühl der Scham wird als europäischchristliche Erfindung gewertet: „L'homme et la femme sont faits l'un pour l'autre. Pourquoi se gêner? La honte du corps est vaine. La pudeur n'est qu'une des hypocrisies exportées par les blancs.“ (Maran 1921: 35) Maran beansprucht im Vorwort für seinen véritable roman nègre Objektivität und Authentizität: „Ce roman est objectif. [...] Il constate [...] il enregistre“ (op. cit.: 10). Er grenzt den Text damit von der Kolonialliteratur ab, die diesen Anspruch nicht erfülle. Als weitere Information wird - abhängig vom jeweiligen Editionskonzept - die Herkunft des Autors genannt, um beim Leser die Erwartung nach einem „authentischen“ Text zu wecken. Durch Elemente der lokalen Sprache oder Zeitangaben (e.g. „vor zwei Regenzeiten“, op. cit.: 45sq., 55) sucht Maran auch auf der sprachlichen Ebene den Authentizitätsanspruch einzuhalten (e.g. op. cit.: 42). Diese explizite Markierung der Fremdheit im Text „naturalisiert“ die Fremderfahrung des Lesers und kennzeichnet den mit dem Text entworfenen Raum deutlich als fremd. Maran selbst weist den für den Geschmack der Europäer konzipierten Exotismus à la Lamartine oder Loti zurück. Dieser „naive“ Realismus erweist sich als rechtfertigender Reflex auf die Subtexte des „Bösen Wilden“ beziehungsweise seines Doubles, des „Edlen Wilden“. So gerät die Perspektivierung von Außen zum Blick auf die eigene Kultur. Dieser Blick erfolgt erzähltechnisch mit den Augen des Anderen, eine Position, die vom Erzähler suggeriert wird. Die Identifikation des Erzählers mit der Herkunft des Autors wird zur epistemologischen Basis der Interpretation des Textes. Somit ist die „Bombe“, wie Senghor den Roman nennt, in zweierlei Hinsicht explosiv: Der Text stellt mit der Inszenierung der Auswirkungen des Kolonialismus zum einen den Versuch der „authentischen“ Repräsentation Afrikas von „Innen“ dar und nimmt damit eine kolonialkritische Innenperspektive ein. Ferner suggeriert der Erzähler, den Kolonisierten selbst eine Stimme zu verleihen, ist also damit erneut um „Authentizität“ bemüht. „Le nègre en nous“: Paul Morands Reisetext Paris-Tombouctou Paul Morand greift im Bericht seiner Reise nach Timbuktu (Paris-Tombouctou, 1928) Salmons Thema der Inszenierung der „Negrophilie“ im Europa der 20er-Jahre auf. Die Erwartungen, die der Erzähler an seine Reise nach Afrika knüpft, bringt er in die Formulierung: „Toujours la mer. Comme il faut attendre longtemps avant que le rideau se lève sur le spectacle nègre“ Susanne Stemmler 60 (Morand 1928: 36). Der afrikanische Kontinent fungiert also als Kulisse, auf die der nègre mit seinem Körper als Schauspieler tritt. Der Erzähler nimmt das Motiv der tanzenden Afrikanerinnen auf Pariser Bühnen wieder auf und verbindet es mit einer Einschätzung der eigenen Befindlichkeit: On voudrait voir danser les belles et jeunes négresses au buste nu, mais comme à la Comédie Française, ce sont toujours les vieilles qui se donnent en spectacle. Il y a certainement en nous quelque chose de nègre: crier, danser, se réjouir, s'exprimer, c'est être nègre. (op. cit.: 100) Die Feststellung des Erzählers, dass „quelque chose de nègre“ in uns selbst vorhanden sei, verweist auf die latent vorhandenen fröhlichen, expressiven Charakterzüge der - ebenso wie die des Afrikaners - einheitlich konzipierten Figur des Europäers, die mit den Ausdrucksformen des Tanzes und des Spektakels symbolisiert werden. Die Beschreibung des nègre en nous mutet wie eine Krankheitsbeschreibung an. Gumbrecht weist in seinem Kommentar zu Morands Roman Rien que la terre (1926) darauf hin, dass die Bedingungen, unter denen Faszination und Wunsch explizit geäußert werden können, oftmals nur als pathologisch kategorisierbar sind: Without wanting to admit it, Europeans feel a tormenting blend of fascination and resentment. The only condition under which fascination and desire can be explicitly mentioned seems to be when they are categorized as pathological. (Gumbrecht 1997: 19sq.) 17 „Avant 1914, le nègre existait-il? Il y avait parfois, dans les expositions universelles, un village nègre“ (Morand 1928: 266), fragt der Erzähler in Paris- Tombouctou weiter und merkt an, dass Afrikaner heute (das heißt 1928) in Frankreich allgegenwärtig seien: „Ces gens de couleurs remplissent les hôtels meublés, les bars, peuplent nos nuits, donnent le ton à nos plaisirs. Berlin les applaudit du ‚Neger Eros‘, de la plastik.“ So prägen die verschiedenen Figuren des Afrikaners nicht nur im Wortsinn die Nächte in Bars, Theatern etc., sondern auch die Nacht, den Traum, das Unbewusste. Dass diese Bilder auch literarisch nachwirken, verzeichnet der Erzähler mit dem Hinweis auf Autoren, die diese Topoi aufgreifen: „Un mois plus tard, toute notre littérature était là. De Craco à Aragon.“ (op. cit.: 267sq.) Imaginationen des „Afrikaners“ bringen bislang unreflektierte Seiten des „Europäers“ zum Tragen und werden damit zu Katalysatoren bislang unterdrückter Aspekte der französischen Kultur. Dazu greift der Erzähler der autobiografischen Reisebeschreibungen auf ein stereotypes Repertoire zurück. Es ist durch ambivalente Afrikabilder geprägt, die zwischen Faszination (e.g. op. cit.: 272sq.) und Bedrohung schwanken. Neben den „klassischen“ Stereotypen, die als Zitate den Text prägen, finden sich zum Beispiel Verweise auf die rassistische Theorie Gobineaus, der von einer „ésthétique 17 Zu Morand cf. auch Gumbrecht 1997: 365. Die Kolonie in der Metropole 61 nègre“ (op. cit.: 235) spricht. Der Text Salmons spiegelt jene widersprüchlichen Reaktionen, die in Europa durch die Präsenz afrikanischer Kultur ausgelöst wurden. Auf ihn trifft die Analyse Negronis zu, dass in der Begeisterung für afrikanische Plastik, Musik und Tanz einerseits eine von Konventionen befreite Ästhetik zum Ausdruck komme, die aus der Welt des Unbewussten zu entstammen scheint. Andererseits spiegelt sie noch die Verachtung der als „kindlich“, grob, anstoßend und obszön-dekadent bezeichneten künstlerischen Ausdrucksformen afrikanischer Kultur (Negroni 1992: 62). Die Reiseeindrücke gehen einher mit Momenten großer Desillusion über die sich beschleunigenden technischen Entwicklungen der Gegenwart und damit über die vorgängigen Texte. Sie kommen etwa beim Anblick der Stadt Timbuktu zum Ausdruck und werden mit dem Verweis auf frühere Reisebeschreibungen unterstrichen: „Où sont les coupoles rutilantes, les sacs de poudre d'or et d'ivoire des caravanes dont parlaient les livres? “ (Morand 1928: 120). Morands Erzähler greift auf Intertexte zurück, um seinen Beschreibungen Nachdruck zu verleihen: „Deux lanternes, qui font penser aux ,yeux horribles des pontons‘ de Rimbaud“ (op. cit.: 125). Die Referenzen reichen bis zu den Texten Fromentins und den orientalistischen Gemälden Delacroix’: „La plus belle page de notre littérature sur les nègres est de Fromentin. C'est une fête de la population nègre d'Alger. Je ne résiste pas au plaisir de la citer. On dirait du Delacroix.“ (op. cit.: 264) Die Diskurse des Orientalismus werden so zum Beschreibungsmittel der Literatur des entredeux-guerres. Wie schon in seinem Reisebericht Rien que la terre gibt Morand hier angesichts der Darstellung der multiplen und komplexen Welt der Gegenwart seiner Enttäuschung Ausdruck. Mit Blick auf die Homogenisierung der Partikularismen durch die voranschreitende Zivilisation stimmt er seine Klage über den Verlust der Authentizität an; dies gilt insbesondere für die Städte - jene Orte an denen sich solche Entwicklungen verdichten. Der Schnelligkeit der Gegenwartsphänomene wie dem Automobil oder dem Flugzeug (op. cit.: 17) versucht der Erzähler in Afrika zu entkommen, indem er von Europäern möglichst unbereiste Städte aufsucht: Il y aura là, pour des premiers arrivants, quelques belles années. Puis les speculateurs de terrain s'y mettront. Les nègres porteront sur leurs casquettes des noms d'agences, sortiront des bretelles, éliront des députés, le désert sera sillonné de distributeurs d'essence, les biches ne courront plus à la file [...] le caviar arrivera par aéroplane, et les chefs de village vendront des pièces détachés Citroën. Le Niger sera devenu aussi laid que la Côte d'Azur. (op. cit.: 128) Die Zeiten des „natürlichen“, „unzivilisierten“ und damit abenteuerlichen Afrika scheinen unwiederbringlich ihrem Ende entgegenzugehen, gefährliche Sahara-Durchquerungen wird es im Zeitalter des Fliegens nicht mehr geben. (op. cit.: 8, 136) Nicht mehr wilde Tiere werden gejagt, sondern die vergangene und damit verlorene Zeit: „la plus grosse bête à tuer, c'est le Susanne Stemmler 62 temps“ (op. cit.: 13sq.). Die Kritik der Beschleunigung geht bei Morand einher mit der veränderten Wahrnehmung von Nähe und Distanz. In der Gegenwart existiert kein Ende der Welt, kein „bout du monde“ (Morand 1926: 10) mehr. Afrikanische Kunst im französischen und damit europäischen Kontext wird somit auch Ausdruck dieser veränderten Zeitwahrnehmung: „Ultimately, black music and dance become emblems of a simultaneity between an uncanny but appealing future and an archaic past“ (Gumbrecht 1997: 359). Die Uniformisierung der gegenwärtigen Welt wird beklagt, dies ist eine Tendenz, die mit Flaubert und Baudelaire einsetzt, nunmehr hat allerdings das Fluchtmotiv ausgedient. Was bleibt, ist die Rückbesinnung auf das Motiv des nègre en nous, jene Figur, die als Projektionsfläche bleibt, wenn die äußere Fremde als Evasionsmöglichkeit entfällt. Fazit: Kolonie in der Metropole - die Metropole in der Kolonie An die Stelle der Bewegung im Raum, die zum Aufbruch in zivilisationsferne Gebiete drängt, tritt die Suche nach den unbesetzten Orten im Ich. Diese Bewegung, die sowohl in Salmons als auch in Morands Text zu beobachten ist, macht das einst handelnde Subjekt zum Objekt der eigenen Projektionen und Eroberungszüge. Die unbesetzte Fremde als Leerstelle verschwindet, insbesondere wenn sich diejenigen, über die geschrieben wurde, in der Phase der Entkolonialisierung selbst zu Wort melden und mit der Inszenierung einer Innenperspektive die eindimensionale Perspektive infrage stellen, wie es in Batouala, André Marands Anklage gegen die Kolonisation und die Kolonialdoktrin, der Fall ist. Mit den zunehmenden Reisen, den realen Erfahrungen der Fremde werden zu Beginn des 20. Jahrhunderts die romantische Pilgerfahrt, die symbolistische Suchreise, die Kunstreise immer fragwürdiger. Das Reiseerlebnis wird durch die Beschleunigung im Bereich der Kommunikation und des Transports überholt. Es überwiegen also Beschreibungsmittel, die eine Außensicht konstruieren und die Stimme des Anderen suggerieren oder aber ins Innere des Eigenen verweisen, um unbenannte, unbekannte Welten zunächst einmal wahrnehmbar zu machen oder aber neue zu erschließen. Die „Negrophilie“ à la française optiert für das Lachen, einen ironischen Umgang mit dem Körper des Anderen - bedeutet aber keine Abkehr von der Dominanzposition (cf. Le Coat 1993: 34). Zwischen Realem und Imaginärem wird eine neue Verbindung hergestellt, die zwischen erlebtem Alltag und Traum oszilliert. Der als Desillusion erlebten Welt werden Gegenwelten - wie etwa bei Salmon - entgegengesetzt, die präexistente Exotismen geradezu benötigen. Denn hier wird der Versuch des „ethnologischen“ Blicks auf die eigene Kultur unternommen, der aber die paradigmatischen Oppositionen von Tradition und Moderne, Wildheit und Zivilisation, Land und Die Kolonie in der Metropole 63 Stadt zwar umkehrt, jedoch als Antinomien übernimmt. Auch bei Maran werden Rasse und Zivilisation als Korrelation gedacht, Paul Morand ist wiederum ein Beispiel für das hartnäckige Fortwirken dieser Stereotypen und ihre Wiederbelebung beziehungsweise Neubesetzung. Die négresse Cora im Roman Salmons ist die Personifikation dessen, was der Erzähler in Paris-Tombouctou mit der Beschreibung „Les nègres peuplent nos nuits“ fasst. Vormals horizontale Fremdheit wird in die Vertikale verlagert. Der Text Salmons stellt die präexistierenden formalen Strukturen des récit nicht infrage, modifiziert sie aber und entwirft in barockem Stil Szenerien, die durch Kombinatorik auf der Ebene der Diskursstruktur ins Groteske, Absurde, Ironische gezogen werden, zum Beispiel durch Aufzählungen, durch Vielstimmigkeit, durch Wiederholungen. Neue Kontexte verändern die fetischhafte Objekt-Welt, verändern die Bedeutungen und legen dadurch die Illusion sprachlicher Kontinuitäten und Bedeutungsrelationen offen. Somit wird auch eine Bewegung hin zum Exotismus der Sprache vollzogen. Der Versuch, etwas Anderes zu bezeichnen, vollzieht sich in vorgegebenen Strukturen, doch werden Variationsmöglichkeiten zur Bezeichnung eines anderen Raumes, anderer Zeitdimensionen gesucht. Er lässt den Text durch seine spezifische Ästhetik zu Reisen werden, die mit dem foucaultschen Begriff der Heterotopien (1994), im Sinne von Orten, an denen mehrere Räume zusammentreffen, beschrieben werden können. In der Tradition der Reiseliteratur unternimmt Morand den Versuch, die komplexe und sich beschleunigende Gegenwart darzustellen. Seine Analyse konzentriert sich auf die Homogenisierung der Partikularismen durch die voranschreitende Zivilisation sowie auf den Verlust der Authentizität. Die Fremde erfüllt ihre kompensatorische Funktion nicht mehr, sondern dokumentiert umso mehr, dass es jenes Ende der Welt nicht mehr gibt. Literatur Allerkamp, Andrea: Die innere Kolonisierung. Bilder und Darstellungen des/ der Anderen in deutschsprachigen, französischen und afrikanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts, Köln: Böhlau 1991. Apollinaire, Guillaume: „Alcools“, in: Guillaume Apollinaire: Œuvres Poétiques, ed. Marcel Adéna/ Michel Décandin, Paris: Gallimard 1991, 235sq. 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Raumtheoretische Anmerkungen zu einer franko-rioplatensischen Oszillation Einleitung Der vorliegende Beitrag versteht sich als Randgang innerhalb eines Themas, das nach wie vor in der Frankoromanistik auf die Faszination des Marginalen setzt: Die Frankophonie charakterisiert noch immer und im Gegensatz zu der Anglophonie oder Hispanophonie ein Kulturverständnis, das von der Zentralität des europäischen Hexagons und vor allem der Metropole Paris ausgeht und abweichende kulturelle Praxis in den weit um den Globus verstreuten (ehemaligen) Kolonien lediglich als peripher wahrnimmt. Gleichwohl haben postkoloniale Migrationsströme dazu geführt, dass jene Peripherie das Bild des Zentrums selbst prägt. So sind die Kulturen der (ehemaligen) Kolonien in Paris präsent, finden (erst) dort im medienmächtigen Zentrum der Frankophonie Gehör und geben diesem Zentrum gleichzeitig mosaikartig eine neue Gestalt, so dass es gar nicht einfach ist, dessen genuine kulturelle Manifestationen von den importierten oder immigrierten zu unterscheiden. Ein Randgang ist der vorliegende Beitrag nun im Bezug auf die skizzierte Ausgangslage in doppelter Hinsicht. Zum einen stellt er unter dem Aspekt postkolonialer Kulturraumkonzeption der naheliegenden Begriffsperson des Migranten die fernerliegende des Nomaden gegenüber. Zum anderen illustriert er die theoretischen Überlegungen anhand einer Kulturkonstellation, die zumindest auf den ersten Blick wenig mit postkolonialer Frankophonie zu tun hat: es soll um den Rio-de-la-Plata-Raum und um sein Verhältnis zur französischen Metropole gehen. „Nomade“ und „Migrant“ - zwei Begriffspersonen im Raum Es ist, wie gesagt, naheliegend, im Kontext postkolonialistischer Raumdiskurse das Themenfeld Migration abzuschreiten. War Migration traditionell als einmaliger, mit dem Zwang zur Akkulturation, Integration und Assimilation verbundener Ortswechsel verstanden worden, dessen Push- und Pullfaktoren zu untersuchen sind, so stehen in neueren kulturanthropologischen Arbeiten die komplexen kulturellen und sozialen Verbindungen, die Mi- Rolf Kailuweit 68 granten zwischen ihren Herkunfts- und Zielorten aufbauen und aufrechterhalten, im Mittelpunkt. 1 Die Erarbeitung einer Philosophie der Emigration 2 forderte in einer 1994 erschienenen nachgelassenen Schrift der tschechisch-deutsch-jüdischbrasilianisch-französische Medienphilosoph Vilém Flusser: Zugegeben, eine Philosophie der Emigration ist erst zu schreiben. Ihre Kategorien sind noch nebelhaft und verschwommen. Aber sie sollte geschrieben werden. Denn sie wäre ja nicht nur für faktische, sondern auch für virtuelle Emigranten von Bedeutung. (Flusser 1994: 34) Flussers Ansatz lässt sich nun durchaus als ein gleichsam allegorisches Operieren mit Begriffspersonen im Sinne von Deleuze/ Guattari (1991: 8) verstehen, die abstrakten Begriffen eine Körperlichkeit zurückgeben. Statt Migration als abstraktes Phänomen zu fassen, gilt es, den Typus des Migranten als Begriffsperson zu bestimmen, dessen Charakterisierung über konkrete Einzelschicksale hinaus gleichsam virtuell für eine gewisse kulturelle und intellektuelle Praxis steht. Flussers Überlegungen zum Migrantenbegriff verlieren jedoch an Schärfe, wenn man sie vorschnell mit seinen Überlegungen zur Begriffsperson des Nomaden 3 vermischt. Dies ist den Herausgebern und Kompilatoren des Bandes von 1994 Von der Freiheit des Migranten: Einsprüche gegen den Nationalismus anzulasten, in dem Flussers Aufsatz „Nomadische Überlegungen“ neben verschiedene Beiträge zur Migration gestellt wird. 4 Flusser selbst vermeidet eine solche vorschnelle Vermischung. Der Migrant, so führt Flusser aus, verlässt seine Scholle nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen. Seine Odyssee ist, zumindest in seinem Erwartungshorizont, endlich. Früher oder später strandet er an einem anderen Ufer und erlangt, was Flusser (1994: 35) „eine unannehmbare Wirklichkeit zweiten Grades“ nennt. Der Migrant begibt sich somit aus einer unmöglichen Sesshaftigkeit über eine Phase der Transition in eine zweite unmögliche Sesshaftigkeit. Nicht so der Nomade, der die Sesshaftigkeit von vornherein verachtet: 1 Einen Überblick gibt Pries (1999). Beachtlich im Hinblick auf die aktuelle Immigration nach Buenos Aires: Spiegel 2005. Eine spezielle „Migrationslinguistik“, die Sprecherverbünde an Herkunfts- und Zielorten in Form von „Glossotopen“ untersucht, ist von Krefeld (2004) skizziert worden. Cf. Kailuweit 2008a. Sie erscheint als ein bislang auf das deutschsprachige akademische Umfeld beschränktes Phänomen. Cf. bereits Erfurt et al. 2003 und jüngst Zimmermann/ Morgenthaler 2007. 2 Zill (im Druck) zeichnet die Umrisse nach, die eine solche Philosophie bereits in der Zwischenkriegszeit im deutschsprachigen Raum erkennen lässt. 3 Flusser schrieb um 1990 zwei längere Aufsätze mit den Titeln „Nomaden“ (Flusser 1990) und „Nomadische Überlegungen“ (Flusser 1994). Eine detaillierte Analyse des letztgenannten Aufsatzes findet sich bei Kailuweit (2008b). 4 Auch Zill (im Druck) differenziert leider nicht scharf zwischen den beiden Begriffsfiguren. Im vierten Abschnitt von Zills Aufsatz ist abrupt vom Nomaden die Rede, ohne dass diese Figur mit der des Migranten kontrastiert wird. „Nomaden“ und „Migranten“ 69 Nomaden sind Leute, die hinter etwas herfahren, etwas verfolgen. Etwa zu sammelnde Pilze, zu tötende Tiere oder zu melkende Schafe. Gleichgültig, welches das verfolgte Ziel ist, das Fahren ist keineswegs beendet, wenn es erreicht wurde. (Flusser 1994: 60) Insofern ist der Nomade also kein Migrant, denn weder aus seiner Sicht noch aus der Sicht der Sesshaften strebt er Immigration an. Er kommt nicht mit der prekären Hoffnung zu bleiben, sondern lässt sich nur gleichsam vorübergehend nieder, um allzu bald wieder seines Weges zu gehen. Raumtheoretisch lassen sich diese Gedanken wie folgt fassen: Migranten operieren in einer Pluralität von Räumen. Sie kommen aus einem Raum, verlassen diesen und erreichen einen anderen, der jedoch stets im Austausch mit dem Herkunftsraum wahrgenommen und gelebt wird. Aus der Opposition der Räume konstituiert sich insofern ein dritter Raum, der beide Räume in einer oszillativen kulturellen Praxis verbindet. 5 Visualisieren lässt sich das Raumverständnis des Migranten als eindimensional: eine Achse, die zwei Pole verbindet und als ein Dazwischen eine gleichsam faktische wie imaginäre Austauschbewegung symbolisiert. Fig. 1: Konzeptualisierung der Migration Nomaden dagegen bewegen sich in einem Raum, dessen Außengrenzen unscharf sind. Ihr Raumverständnis ist zweidimensional, auch wenn sie die Fläche, die sie erfahren, nicht als ganze erfassen. Ihre Bewegung lässt sich als eine offene Netzstruktur begreifen, die Haltepunkte und Wege symbolisiert. 5 Der Begriff „Dritter Raum“ ist mit durchaus unterschiedlichen Nuancierungen, ausgehend von Lefebvre ([1974] 1991: 39), von Soja (1996) und Bhabha (2000: 55-58) verwendet worden. Bei aller Vagheit bezeichnet dieser Begriff stets ein Positivum, ein erstrebenswertes Feld der Erkenntnis, das reduktionistische Verortung aufbricht: „indem wir diesen Dritten Raum erkunden, können wir der Polarität entkommen und zu den anderen unserer selbst werden“ (Bhabha 2000: 58). Rolf Kailuweit 70 Fig. 2: Konzeptualisierung des Nomadismus Die Begriffspersonen „Migrant“ und „Nomade“ sollen uns im Anschluss dazu dienen, die Konstitution eines Kulturraums Rio de la Plata nachzuvollziehen. Vorab jedoch soll geklärt werden, inwiefern dieser Kulturraum zumindest marginal ein Forschungsfeld einer postkolonialen Frankoromanistik ist. Postkoloniale Züge des Rio-de-la-Plata-Raums Der Rio-de-la-Plata-Raum umfasst das Ost- und Westufer des 290 km langen und bis zu 220 km breiten Mündungstrichters der Flüsse Paraná und Uruguay. Er wird dominiert von den Metropolen Buenos Aires (2,7 Mio., Großraum 11,5 Mio. Einwohner) und Montevideo (1,3 Mio., Großraum 1,7 Mio. Einwohner), den Hauptstädten Argentiniens und Uruguays. Erst seit dem späten 16. Jahrhundert kolonialisiert, gehörte der Rio-de-la-Plata-Raum zum Vizekönigreich Peru und spielte gegenüber den Andenmetropolen eine wirtschaftlich wie kulturell geringe Rolle. Als 1776 Buenos Aires zur Hauptstadt eines eigenen Vizekönigtums wurde, begann durch die Hafenlage ein bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung, der erst Ende des 19. Jahrhunderts an Dynamik gewann. Während das argentinische Hinterland sich der Vormachtstellung von Buenos Aires beugen musste, erlangte Uruguay 1828 die Unabhängigkeit und fungierte aufgrund des Hafens von Montevideo als wirtschaftlich eigenständiger Pufferstaat zwischen den regionalen Großmächten Argentinien und Brasilien. Als Sprach- und Kulturraum differenziert sich der Rio-de-la-Plata-Raum mit der Industrialisierung und Urbanisierung der Region gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus. Weitaus stärker als andere urbane Zentren der spa- „Nomaden“ und „Migranten“ 71 nischsprachigen Welt ist die Rio-de-la-Plata-Region durch Migration geprägt. Der massive Zuzug von Migranten seit ca. 1870 bei gleichzeitigen fundamentalen sozio-ökonomischen Veränderungen führt zur Entstehung von zumal italophonen Migrantenkulturen in den Metropolen Montevideo und Buenos Aires, deren traditionelle Eliten sich dagegen kulturell und sprachlich an der französischen Metropole Paris orientieren. Letztlich handelt es sich um einen postkolonialen Effekt: während in Spanien spätestens seit der napoleonischen Besatzungszeit 1808-1814 eine antifranzösische Stimmung herrscht, dient im Rio-de-la-Plata-Raum die französische Sprache und Kultur als zukunftsorientierte Abwendung vom spanischen kolonialen Erbe. Dies geht so weit, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein in aristokratischen und großbürgerlichen Kreisen das Französische als Erziehungs- und Literatursprache gepflegt wird. Victoria Ocampo (1890-1979), eine der bedeutendsten argentinischen Autorinnen des frühen 20. Jahrhunderts, beginnt wie andere Töchter der Oberschicht (cf. Molloy 1991, Sarlo 1998) in jugendlichem Alter ihre ersten literarischen Versuche auf Französisch und lässt noch 1924 ihre französischen Werke ins Spanische übersetzen (cf. Sarlo 1998: 90). Die Volkskultur des lateinamerikanischen Südens spielt dagegen in Buenos Aires und Montevideo eine untergeordnete Rolle: die mit den Weiten des Hinterlandes assoziierte Figur des gauchos einschließlich seiner typischen Sprechweisen wird unter dem Einfluss der Migrantenkulturen in einen urbanen Typus transformiert. Dies geschieht in einer Zeit der Medienrevolution. Im Gleichschritt mit Frankreich, aber Spanien und Italien voraus, wird die Alphabetisierung der Massen vorangetrieben. Es entsteht um 1900 in beiden Metropolen eine eng verwobene populäre Theaterkultur (cf. Rossi [1910] 1969, Pellettieri 2002). Erst mit der Verbreitung von Radio und Film wird das Theater Mitte der 30er-Jahre als Leitmedium abgelöst. Die wirtschaftliche Prosperität der Region, die seit dem späten 19. Jahrhundert vor allem der Getreide- und Fleischexport ermöglicht, bildet die Basis dafür, dass ihre spezifischen Kulturerzeugnisse innerhalb der spanischsprachigen Welt und darüber hinaus ein hohes Prestige gewinnen. Das bekannteste Kulturerzeugnis der Region ist jedoch zweifellos der Tango, der im Migrantenmilieu der Hafenviertel Ende des 19. Jahrhunderts entsteht, aber erst durch seine Veredelung im Paris der 20er-Jahre zum kulturellen Markenzeichen wird, mit dem sich nun auch die Eliten identifizieren. Frühzeitig findet der Tango über die Gattungen des Sainete und der Revue französischen Ursprungs Einzug in die Theaterszene. Diese kann mit einigen anspruchsvollen Produktionen (insbesondere die Werke des Uruguayers Florencio Sánchez) auch in Spanien und Frankreich reüssieren. Betrachtet man die Ausdifferenzierung des Kulturraums Rio de la Plata unter raumtheoretischen Gesichtspunkten, so fällt auf, dass die Entkolonialisierung eine Achsenverschiebung, oder vielleicht besser gesagt eine Gabe- Rolf Kailuweit 72 lung, mit sich bringt. Der Rio-de-la-Plata-Raum bleibt europazentriert, ersetzt beziehungsweise ergänzt jedoch die Orientierung an der ehemaligen Kolonialmacht Spanien durch eine Orientierung an Frankreich. Dadurch entsteht, wie es 1921 Vicente Martínez Cuitiño 6 anlässlich des Erfolgs seines Dramas La Fuerza Ciega in Paris formuliert, ein kulturelles Amalgam aus spanischer Sprache und französischem Geist. In postkolonialistischer Sicht komplex ist jedoch vor allem der Prozess, in dem sich der Tango als charakteristische kulturelle Praxis des Rio-de-la- Plata-Raums in einer Oszillationsbewegung zwischen dem Rio-de-la-Plata- Raum und Paris konstituiert. Ángel Villoldos berühmter Tango El choclo gehörte zu den Ersten, die 1906 Frankreich erreichten, sei es nun durch argentinische Matrosen, sei es durch französische Reisende, die in Buenos Aires die Nachtclubs frequentiert und sich mit Partituren versorgt hatten (cf. Zalko 2004: 38). 7 Bereits 1907 reiste Villoldo indes zusammen mit dem Ehepaar Alfredo Gobbi und Flora Rodríguez de Gobbi seinen eigenen Tangos hinterher. Dem Trio gelang es, über Plattenaufnahmen mit renommierten Orchestern den Tango in Paris gesellschaftsfähig zu machen (cf. op. cit.: 53- 55). Die Eheleute Gobbi blieben letztlich sieben Jahre in Paris und trugen als Tanzlehrer entscheidend dazu bei, dass sich der Tango aus dem Hafenmilieu von Buenos Aires und Montevideo zum Modetanz der Pariser Oberschicht entwickelte. Während am Rio de la Plata der Tango in „besseren Kreisen“ noch ein Tabu war, gehörte er in der Ferne zum kulturellen Exportgut der Fleisch- und Weizenbarone, der rastaquouères (Zalko 2004: 66), die sich mit prall gefüllten Börsen und nonchalanter Eleganz zu Hunderten die Türen zur Pariser Gesellschaft öffneten. Treten die argentinischen und uruguayischen Eliten den französischen ökonomisch auf Augenhöhe gegenüber, so bleiben sie kulturell in einer postkolonial hierarchischen Unterwerfungshaltung verhaftet. 8 Zwar exportieren sie den Tango, dieser wird jedoch in Paris als Kulturpraxis usurpiert und verändert. In El Diario heißt es 1913 ironisch: Innumerables porteños se han dirigido en sus últimos tiempos a París, tan deseosos de enseñar el verdadero tango como de alcanzar en su noble profesorado fama y provecho. Pero ha sido tarea inútil. Los parisienses no admiten más »tango argentino« que el inventado por ellos y, si mucho se les apura, dirán que la danza 6 Cf. La Nación 27.02.1921. Dass der Uruguayer Martínez Cuitiño als künstlerischer Leiter einer argentinischen Schauspieltruppe nach Paris kommt, unterstreicht die transnationale kulturelle Einheit des Rio-de-la-Plata-Raums. 7 Ich zitiere den Nachdruck der französischen Fassung von 1998. Eine spanische Übersetzung des Originals ist 2001 erschienen. 8 Vega (2007: 142sq.) beschreibt die monatelangen Parisaufenthalte der kaufkraftstarken rioplatensischen Oberschicht: ganze Familien, Hausangestellte, Massen von Gepäck, ja so gar lebendige Rindviecher für die eigene Fleischversorgung überquerten regelmäßig den Atlantik. „Nomaden“ und „Migranten“ 73 predilecta de nuestros compadres garabitos no es más que una burda imitación de »su« tango (zitiert nach Zalko 2001: 98). [De très nombreux Portègnes se sont rendus dernièrement à Paris, aussi désireux d’enseigner le véritable tango que de tirer de leur noble profession célébrité et profit. Effort inutile. Les parisiens n’admettent comme «tango argentin» que celui qu’ils ont inventé. Si on les pousse à bout, ils diront que la danse préférée de nos compatriotes errants n’est qu’une pâle imitation de «leur tango» (zitiert nach Zalko 2004: 75sq.).] In Abhängigkeit eines postkolonialen Zentrum-Peripherie-Schemas wird jedoch erst durch einen Transkriptionsprozess, der aus dem Tango „le tangó“ macht, dieser als Rückimport am Rio de la Plata gesellschaftsfähig. Als tango argentin in Paris zelebriert, kann der Tango in der Folge zur nationalen Ikone Argentiniens erkoren werden. Seine Pariser Prägung wie auch sein transnationaler, zwischen Buenos Aires und Montevideo geteilter Ursprung untergraben jedoch gleichzeitig das Bemühen, ihn als Symbol argentinischer Nationalität par excellence auszurufen. Nationaler Container-Raum 9 Damit ist bereits das raumtheoretische Problem angesprochen, das die Riode-la-Plata-Region bis heute zu einem Faszinosum macht: An Versuchen eines nationalkulturellen Reduktionismus hat es insbesondere von argentinischer Seite nicht gefehlt. Diese scheitern jedoch letztlich an der Komplexität des rioplatensischen Kulturraumes, der sich aufgrund seiner transnationalen Entstehung im Kontext von Migration und postkolonialer Europa- Orientierung als nicht nationalistisch instrumentalisierbar erweist. Gleichsam als Reflex auf die Massenimmigration entsteht in Argentinien Ende des 19. Jahrhunderts eine nationalistische Bewegung (cf. Bertoni 2001). Diese wird insbesondere im Umfeld der Feiern zum 100-jährigen Jubiläum der Staatsgründung 1910 dominant und nimmt über die Schulpolitik massiven Einfluss auf eine an einem nationalen Container-Raum ausgerichtete kognitive Kartografie einer Schülergeneration, die zu einem großen Teil aus Migrantenkindern besteht. In Schulbüchern wird Argentinien als Nation konstituiert: dies geschieht zum einen mithilfe der Geschichte: einem geradezu religiösen Heldenkult um die Protagonisten der Unabhängigkeitskriege sowie um Flagge und Hymne; zum anderen mit der Geografie: eine Beschwörung des argentinischen Territoriums, der Fruchtbarkeit des Landes 9 In der aktuellen Raumdebatte gilt die mit der Idee des Nationalstaats verknüpfte Vorstellung des Staatsgebiets als Container, der durch seine geografische Abgrenzung nach außen eine historische, kulturelle und sprachliche Homogenisierung nach innen bewirkt, als Position, gegen die sich ein relationales Raumverständnis wendet. Mag der Container-Raum letztlich eine Illusion sein, „es handelt sich dabei um eine offenbar äußerst wirkungsmächtige Illusion mit durchaus realen Folgen“ (Schroer 2008: 136). Rolf Kailuweit 74 und seiner Naturschönheiten, die Argentinien zu einem auserwählten Ort machen. 10 Die kulturlandschaftlichen Widersprüche zwischen der Gebirgslandschaft des Andenraums im Nordwesten, dem unwegsamen, noch kaum besiedelten Süden (Patagonien, Feuerland) mit seiner im Aussterben begriffenen indigenen Bevölkerung und schließlich dem dominanten Rio-de-la- Plata-Raum um die Metropole Buenos Aires mit den fruchtbaren Lössböden der Pampa als Hinterland werden nationalistisch eingeebnet. Dass die Kulturlandschaft der Pampa sich bruchlos auf Uruguay und bis in den brasilianischen Süden erstreckt und die beiden Metropolen Buenos Aires und Montevideo in einem engen kulturellen Austausch stehen, wird ignoriert. 11 Auch die Migration spielt eine marginale Rolle. Die Schulbücher vermitteln das Bild einer homogenen argentinischen Gesellschaft: Migranten, wenn man sie überhaupt erwähnt, werden integriert und assimiliert. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch nationalistischem Chauvinismus unverdächtige argentinische Autoren unreflektiert rioplatensische Kulturphänomene (Literatur, Theater, Tango) als argentinische ausgeben (e.g. Sarlo 2001: 36). Es handelt sich hier um eine doppelte ein- und zugleich ausschließende Bewegung: Der Rio-de-la-Plata-Raum expandiert unter der Dominanz der argentinischen Hauptstadt zum einen ins argentinische Hinterland, das in seiner kulturellen Praxis und seinem Selbstverständnis mitnichten der Hauptstadt folgt. Zum anderen wird Uruguays Hauptstadt Montevideo und darüber hinaus das Nachbarland als Ganzes in einen argentinisch dominierten Kulturverbund genommen oder aber dergestalt ignoriert als Ende des Rio-de-la-Plata-Raums am Westufer des Flusses. Der Einschluss impliziert insofern einen Ausschluss, als Buenos Aires als Zentrum fungiert, so dass weder heterogene Kulturphänomene der argentinischen Provinzen noch des mit seinen nach Brasilien orientierten nördlichen Regionen ebenfalls nicht homogenen Nachbarstaates Uruguay ins Blickfeld rücken, und ferner der Nachbarstadt Montevideo nicht zugestanden wird, rioplatensische Kultur (gleichrangig) zu vertreten. Gegen die argentinische Vereinnahmung rioplatensischer Kultur wurde von uruguayischen Autoren bereits früh protestiert. Vicente Rossi reklamiert bereits 1910 einen unscharfen (etymologischen? ), Staatsgrenzen überschreitenden Nationenbegriff zur Kennzeichnung eines Teatro Nacional Rioplatense. Ebenso möchte er die spanische Sprachvarietät der Region, die sich in beiden Metropolen kaum unterscheidet, als Idioma Nacional Rioplatense verstan- 10 Einen Überblick über den in den Schulbüchern vermittelten Nationalismus gibt Veniard (2006). 11 Ebenso wird ignoriert, dass man sich die anderen „nationalen“ Kulturlandschaften ebenfalls teilt, den Süden Patagoniens und Feuerlands mit Chile und den andinen Raum im Nordwesten mit Chile, Bolivien und Peru. Eine weitere Kulturlandschaft ist das subtropische Gebiet im Norden, das an Paraguay und Brasilien grenzt und durch Einflüsse des Portugiesischen und des Guaraní gekennzeichnet ist. „Nomaden“ und „Migranten“ 75 den wissen. Für den Tango betont etwa Daniel Vitard (1967) die uruguayischen Wurzeln, die ihn zu einem rioplatensischen, nicht allein argentinischen Phänomen machen. 12 „Migranten“ und „Nomaden“ in einem franko-rioplatensischen Kulturraum Llegad, hijos de la astral Francia […] ciudadanos del orbe todos, cosmopolitas caballeros (Ruben Darío: Canto a la Argentina) Migrationsphänomene spielen in der Konstitution des rioplatensischen Kulturraums eine entscheidende Rolle. Aus postkolonialistischer Perspektive interessant ist dabei das Faktum, dass das ehemalige spanische Vizekönigreich am Rio de la Plata im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein Einwanderungsland für Europäer ist. Zahlenmäßig bilden die Franzosen dabei die drittgrößte Gruppe hinter den Italienern und Spaniern. Franzosen, die in die Rio-de-la-Plata-Region auswandern, entstammen allen sozialen Schichten. Jacques de Liniers und José Rondeau, zwei der bedeutendsten militärischen Führer in den Unabhängigkeitskriegen, hatten französische Wurzeln. 13 Um die Jahrhundertwende dominieren französische Prostituierte und Zuhälter den in einer Migrantengesellschaft mit massivem Männerüberschuss nicht unbedeutenden Markt der käuflichen Liebe. 14 Guy (2001: 17-54) zufolge weisen die Statistiken der Stadtverwaltung für den Zeitraum 1889- 1901 9% der Prostituierten als Französinnen aus, 1915 sind es 15%. Im räumlichen Kontinuum zur Prostitution bildet sich nach französischem Vorbild eine Café-Concert-Szene aus, in der französische Betreiber, Animierdamen, Sängerinnen und Tänzerinnen eine wichtige Rolle spielen. Dieses Milieu ist in zahlreichen sainetes des género chico criollo porträtiert (cf. e.g. Pacheco 1918; García Velloso 1920). Das Umfeld, aus dem sich die rioplatensische Hochwie Populärkultur speist, ist insofern stark durch das französische Element geprägt. Die französischstämmigen Protagonisten lassen sich nun jedoch, wie im Folgenden an 12 Für die Gegenwartsliteratur wird dagegen die Einheit des Kulturraums von uruguayischer Seite verstärkt infrage gestellt und eine eigene Nationalliteratur proklamiert (cf. Delgado 1996). 13 José Antonio Wilde (1813-1887) nennt in seinen Erinnerungen Buenos Aires desde setenta años atrás einige französische Honoratioren, die in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts in Buenos Aires ansässig waren. Zahlenmäßig dominieren, so führt er aus, in dieser Zeit aber die Engländer (cf. Wilde 2 1948: 66). 14 Eine zeitgenössische Untersuchung des Zuhältermilieus ist uns durch die Studie: Les chemins de Buenos Aires. La traite des blanches von Albert Londres aus dem Jahr 1927 überliefert. Rolf Kailuweit 76 drei Beispielen gezeigt werden soll, nicht ausschließlich unter der Perspektive der Migration begreifen. Um ihren Beitrag zur Konstitution eines auf Frankreich bezogenen rioplatensischen Kulturraums zu erfassen, ist vielmehr die Figur des Migranten durch die des Nomaden zu ergänzen. Ich komme mithin zum theoretischen Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück. „Migranten“ und „Nomaden“ als Begriffspersonen sollen durch die Personen Daireaux, Rasimi und Gardel allegorisiert werden. Dabei geht es weder darum, gleichsam biografistisch historischen Einzelschicksalen gerecht zu werden, noch diese Schicksale als Verkörperung von gesellschafts- und kulturkonstituierenden Soziotypen zu begreifen. Soziotypen, wie etwa das Tango tanzende Paar, der Zuhälter und das leichte Mädchen, bestimmen die Selbst- und Fremdwahrnehmung, in der über die Populärkultur der Rio-de-la-Plata-Raum als Kulturraum entsteht. Begriffspersonen wie „Migrant“ und „Nomade“ dagegen bewegen sich auf einem höheren Abstraktionsniveau. Die Personen, auf die gleich eingegangen werden soll, stehen als „Migranten“ oder „Nomaden“ für ein spezifisches Verhältnis zum Raum, sind aber als „Migranten“ oder „Nomaden“ nicht Gegenstand populärer Imagination. Geoffroy François Daireaux - „Migrant“ Die Biografie von Geoffroy (Godofredo) François Daireaux (Paris 1849 - Buenos Aires 1916) kann als Konkretisierung der Begriffsperson „Migrant“ im franko-rioplatensischen Feld dienen. Im Archiv der Academia Argentina de Letras findet sich eine Mappe, in der Alberto Daireaux 1992 Dokumente und Zeitungsausschnitte zum Leben seines Urgroßvaters zusammengestellt hat. Die Mappe enthält auch den Text eines biografischen Vortrages, 15 den er anlässlich des 75. Todestages von Geoffroy François Daireaux in der Akademie gehalten hat und dem die folgenden Details entnommen sind: Geoffroy François Daireaux kam 1849 in Paris als Sohn eines normannischen Kaffeehändlers zur Welt. 1868, zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters, wanderte er nach Argentinien aus, wo seine Onkel bereits eine Handelsniederlassung betrieben. Nach geringem Erfolg als Kaufmann in Buenos Aires betrieb er von 1878 an Landwirtschaft und Viehzucht in Olavarría, einer Ortschaft, die in der Pampa südwestlich von Buenos Aires liegt. Zu Wohlstand gekommen, zeichnete er sich nach 1888 vor allem als Investor im Eisenbahnsektor aus. Aus gesundheitlichen Gründen kehrte Daireaux 1900 nach Buenos Aires zurück. Dort wirkte er als Schriftsteller, unterhielt einen literarischen Salon und unterrichtete Agrikultur und bis 1914, zwei Jahre vor seinem Tod, Französisch am Colegio Nacional. 15 Cf. ein Transkript unter http: / / www.rufinoweb.com.ar/ informacion.asp? idq=2512. „Nomaden“ und „Migranten“ 77 Sein schriftstellerisches Werk umfasst neben landwirtschaftlichen Handbüchern kostumbristische Erzählungen und Komödien, die im ländlichen Milieu spielen. In Frankreich publiziert er 1912 Dans la Pampa - chasses impromptues und bringt somit seinem Herkunftsland die argentinische Provinz nahe. Die (französische) Migration spielt in seinen Erzählungen lediglich eine marginale Rolle. Vereinzelt ist, wie in folgendem Fragment, von den Schwierigkeiten der sprachlichen und kulturellen Integration seiner Landsleute die Rede: Don Gustavo, siendo francés, todo le parecía fácil, por tal que lo miraran. Desde poco tiempo en el país, estropeaba con atrevimiento y sin compasión el castellano, haciendo creer y también creyendo que lo entendía, reemplazando por gestos expresivos las palabras ausentes de su vocabulario. (Daireaux 1915: 218) Die Bewertung von Daireaux’ spanischsprachigem Werk durch die Zeitgenossen bleibt indes durchwachsen. Während Alberto Daireaux zufolge Roberto J. Payró ihm den Ehrentitel escritor argentino verleiht, tadelt María Velasco y Arias 1925, der „Adoptivsohn Argentiniens“ habe wider besseres Können in einem populistischen Stil geschrieben, der andalusische Archaismen mit migrationsinduzierten Wendungen vermischt: La prosa […] es pintoresca; amasada con la harina del lenguaje compestre [sic], mixtura del arcáico regional andaluz del siglo XV y los giros pegadizos de la «inmigración golondrina» extranjera, que otro francés, don Luciano Abeille, se empeñó - quizá por halago - en bautizar idioma nacional de los argentinos (! ) Con su estilo popular hase hecho simpático el autor a cierta calidad de público; tal vez olvidó adrede las bellezas y pulcritud del castellano para cumplir el refrán que ordena hablar a cada uno en su lengua, en vista de que reprendía defectos observados en clases sociales ayunas de prosodia, sintaxis y ortografía. Payró disculpa sus descuidos: «Más vale - dice - escribir con fuego que con hielo; y la gramática suele helar cuanto toca, si no se tiene bastante calórico para contrarrestarla. Escribir según las reglas suele ser como echarse a nadar con la teoría…» No estamos conformes… (Velasco y Arias 1925: 203sq.) Der Vergleich mit Lucien Abeille (Toulouse 1860 - Buenos Aires 1949) ist vielsagend. Abeille studierte Medizin an der Sorbonne und war als Französisch- und Lateinlehrer Daireaux’ Kollege am Colegio Nacional (cf. Oviedo 2005). Sein Buch Idioma nacional de los argentinos, in dem er die Emanzipation der argentinischen Sprache von der spanischen propagiert, löste Entrüstungsstürme unter den alteingesessenen Literaten aus. Als Verkörperung der Begriffsperson „Migrant“ steht Daireaux für das Bemühen um Integration bei gleichzeitigem Kulturaustausch: Vermittlung der Herkunftskultur im Zielland und dessen Kultur im Herkunftsland. Die kulturelle Integration im Zielland bleibt jedoch, wie gezeigt, prekär. Rolf Kailuweit 78 Bataclanas - „Nomadinnen“ Revuen französischen Ursprungs hatten, wie erwähnt, in Buenos Aires bereits eine lange Tradition, als Madame Bénédicte Rasimi 1922 mit ihrer Show Bataclán de París die porteños faszinierte. Der Name „Ba-ta-clan“ geht auf eine Operette von Offenbach zurück. Das Wort bezeichnet dort die Hymne einer chinesischen Provinz. 1864 eröffnete in Paris ein Revuetheater gleichen Namens, das in einem einer chinesischen Pagode nachempfundenen Gebäude untergebracht war. Dieses Haus wird 1910 von Madame Rasimi übernommen und auch über die Kriegswirren hinweg mit großem Erfolg geführt. Rasimi inszeniert 22 Revuen, die von 1917 an Mistinguett und Maurice Chevalier zu Stars der Szene machen. 1922 gibt sie mit ihrer Truppe ein sagenumwobenes Gastspiel in Buenos Aires. 1923 treten die bataclanas in Uruguay auf, später in Brasilien und der Karibik. 1926 jedoch geht das Unternehmen bankrott und Madame Rasimi kehrt nach Paris zurück. Aus dem Pariser Haus wird ein Kino, Madame Rasimi arbeitet wieder in ihrem erlernten Beruf als Kostümschneiderin. 16 Es ist hier nicht der Ort, um über den Status des Bühnenkünstlers als Nomade ausführlich zu reflektieren. Tatsache ist, dass die Beschleunigung der Reisewege Tourneen nach Nord- und Südamerika ermöglichte. Das französische Format der Revue konnte so seinen Siegeszug über die Welt antreten und sich zu einem mondänen Spektakel mausern. Dies hob jene leicht bekleideten Mädchen der chorus line von den Französinnen ab, die als Prostituierte kamen, um zu bleiben. Die „girls“, wie Mistinguett 1954 in ihren französischen Memoiren schreibt, für die es offenbar nicht einmal eine französische Bezeichnung gibt, hinterließen bei ihren flüchtigen Besuchen in Übersee einen nachhaltigen Eindruck. In Buenos Aires nannte man sie bataclanas nach dem Titel der Revue Bataclán de París. 17 Als solche inspirierten sie Tangos, 18 revistas und schließlich den international vermarkteten argentinischen Film von 1941 Yo quiero ser bataclana (I Want to Be a Chorus Girl), Regie Manuel Romero. 16 http: / / www.le-bataclan.com/ content/ index.php. Caradec/ Weill 2007: 268sq. 17 Auch die Tangosängerin Tita Morello, 1904 als Tochter italienisch-uruguayischer Einwanderer im Stadtteil San Telmo geboren, begann ihre Karriere als Tänzerin in der Revue von Madame Rasimi. Eine Anekdote zeigt, wie weit das Französische als überlagernde Sprache das Milieu rioplatensischer Leichtlebigkeit prägte. Nach einer Aufführung, heißt es, folgte ihr ein Tenor, der ihr hartnäckig auf Französisch den Hof machte. Der Sache überdrüssig, richtete die falsche francesita in ortsüblichem lunfardo folgende harsche Worte an den aufdringlichen Galan: „Raja..., si no te hago llevar en cana“ (‚Verdufte oder ich lass Dich einbuchten’). Dieser verstand ohne Weiteres und suchte das Weite. http: / / www.clubdetango.com.ar/ articulos/ tita_merello.htm. 18 Als erster Tango, in dem die Vokabel erscheint, gilt Garufa (1927) von Víctor Soliño und Roberto Fontaina (Musik: Juan Antonio Collazo). Garufa besingt einen männlichen Schwerenöter, von dem es heißt, er sei prätentiöser als eine bataclana. „Nomaden“ und „Migranten“ 79 In zwei Artikeln berichtet die Zeitung Última Hora am 14. und 15. Mai 1923 darüber, wie die „chicas de la Rasimi“ einer Aufführung von Alberto Vacarezzas Juan Moreira beiwohnen: Las chicas de la Rasimi, tendrán esta tarde la oportunidad de conocer una reproducción del auténtico Moreira, después de haber visto tantos imitadores como ha tenido éste por los cabarets y lugares divertidos de París. Con toda seguridad que el de Vacarezza les resultará más simpático, y desde ya nos imaginamos alguna enamorada del legendario personaje, si es que todas no se encaprichan de él. Lo malo es que nuestro gaucho es un poco sentimental. Le da por llorar en la guitarra. Y con esto no las van las francesitas del Ba-ta-clan. (Última Hora 14.05.1923) Der „Nomade“ Moreira, der entrechtete gaucho, der, von der Polizei verfolgt, um seine Ehre kämpfend durch die Pampa zieht, hat es vom Volkshelden der frühen Zirkusspektakel, die den Anfang des rioplatensischen Volkstheaters bilden (cf. Rossi [1910] 1969: 35-95), zur argentinischen Nummer der Pariser Revuen gebracht. Alberto Vacarezza, der König des urbanen sainete mit seinen Migrationsmilieus, bringt ihn in einer späten und, folgt man den Kritiken, künstlerisch fragwürdigen Fassung auf die Bühne zurück. Die bataclanas, die dem schlechten Stück frenetisch applaudieren, sind, so Última Hora am 15.05.1923, für das Publikum das eigentliche Spektakel. Welchen Eindruck „Diamant“, „Parisy“, „Lauvain“ 19 und Madame Rasimi selbst von den Rio-de-la-Plata-Metropolen und ihrer Populärkultur gewonnen haben, wissen wir nicht. Mistinguett, der Star der Truppe, widmet Buenos Aires und Montevideo nur wenige, allerdings höchst anerkennende Worte: Buenos-Ayres est une grande ville moderne où il n’y a ni poussière, ni mouches, ni odeurs. Le silence est impressionnant. Dans la magnifique baie, les eaux sont rouges et ocres. Par contre, Montevideo, en Uruguay, n’a que des petites maisons à un étage où l’on voit d’étroits couloirs décorés de faïences aux couleurs gaies et les patios sont agrémentés de jardins artificiels avec des plantes décoratives. (Mistinguett 1954: 213) Wenn ein Anruf käme, so würde sie auch in betagtem Alter jederzeit auf Südamerikatournee gehen, beschließt Mistinguett ihre Lebensbeichte. „Hoy soy con plata y salud / más feliz que bataclana / que ha triunfado en su debut“ heißt es im Tango A mi no me den consejos (1930) von Juan Andrés Caruso (Musik: Francisco Canaro und Luis Riccardi): Nomadische Leichtlebigkeit gegen die Schwere der Migrant(inn)enschicksale. 19 Die drei in Última Hora namentlich genannten „francesitas del Ba-ta-clan“. Rolf Kailuweit 80 Charles Gardès/ Carlos Gardel - vom „Migranten“ zum „Nomaden“ Um die Tango-Ikone Gardel rankt sich eine Vielzahl von Mythen. Die argentinische Forschung geht davon aus, dass der Sänger 1890 als uneheliches Kind von Berthe Gardès in Toulouse zur Welt kam und 1893 mit seiner Mutter nach Argentinien emigrierte. 20 In Buenos Aires wuchs er im Viertel Abasto auf und wurde dort der francesito genannt. Dass beim Leichnam des 1935 in Medellín (Kolumbien) bei einem Flugzeugabsturz verunglückten Gardel ein uruguayischer Pass gefunden wurde, der 1887 als Geburtsjahr und die Provinzstadt Tacuarembó als Ort angibt, steht am Ursprung der uruguayischen Legende, die seit den 60er-Jahren der Journalist Erasmo Selva Carrera („Avlis“) verbreitete: Gardel sei angeblich der uneheliche Sohn des caudillo Carlos Escayola aus Tacuarembó. Eine Reihe uruguayischer Autoren haben in der Nachfolge von Avlis die Legende immer weiter ausgeschmückt: Gardel sei nicht identisch mit jenem Charles Romuald Gardès aus Toulouse, der zu sein der Sänger in einem Testament von 1933 behauptete. Ohnehin sei die Authentizität des Testaments fraglich. Es gebe in der Tat zwei Kinder; „maravillosa ficción para una película“, kommentieren Julián und Osvaldo Barsky (2004: 842). Escayola habe Carlos, den zukünftigen Gardel, 1883 mit seiner Schwägerin gezeugt, das Kind seiner späteren Geliebten Berthe Gardès anvertraut, diese sei, nachdem sie in Tacuarembó als Wäscherin gearbeitet habe, 1890 schwanger nach Toulouse gereist und habe dort Charles Romuald zur Welt gebracht. Carlos sei bei einer Freundin in Montevideo zurückgeblieben, später habe diese Berthe das Kind nach Buenos Aires gebracht. Der francesito von Abasto sei in Wirklichkeit Charles gewesen, der schließlich 1914 nach Frankreich zurückkehrte, um für sein Geburtsland im Ersten Weltkrieg zu fallen. Sein älterer Adoptivbruder Carlos dagegen habe ein Vagabundenleben zwischen Buenos Aires, Montevideo und Tacuarembó geführt, sei nach Gaunereien für eine Zeit in die Strafkolonie nach Ushuaia deportiert worden, bis er mit dem gebürtigen Uruguayer José Francisco Razzano ein erfolgreiches Gesangsduo gründete und schließlich weltberühmt wurde. Julián und Osvaldo Barsky (2004: 847) zufolge gibt es keinerlei Dokumente, die diese Legende stützen. 21 Wie aber kam der francesito nun zu seinem uruguayischen Pass? Die Gründe, die auch Zalko (2001: 181; 2004: 139) nennt, haben Julián und Osvaldo Barsky (2004: 279-300) minutiös nachgezeichnet: Ein bevorstehendes Engagement in Frankreich ließ Gardel 1920 befürchten, nachträglich wegen Kriegsdienstverweigerung in seinem Geburtsland belangt zu werden. Da 20 Siehe etwa das monumentale, 943 Seiten starke Werk von Julián und Osvaldo Barsky (2004). 21 Einen seriösen Anstrich gibt sich die Studie von Payssé González (1990), die jedoch keinerlei positive Evidenz bietet, sondern lediglich die Dokumentation der französischen Herkunft Gardels infrage stellt. „Nomaden“ und „Migranten“ 81 Uruguay keine Wehrpflicht kannte, ließ er von zwei uruguayischen Freunden - seinem Gesangspartner José Razzano und Juan Laguisquet - bezeugen, er sei 1887 in Tacuarembó als Sohn der verstorbenen Carlos und María Gardel geboren. Mithilfe der Zeugenaussagen erhielt er ohne Umschweife seine Papiere, die es ihm wiederum ermöglichten, 1923 die argentinische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Mit einem ebenfalls falschen argentinischen Pass, den ihm der caudillo des südlich von Puente Alsina gelegenen Arbeitervorortes Avellaneda verschafft hatte, war er bereits zwischen 1915 und 1917 nach Uruguay, Chile und Brasilien gereist. Das lang ersehnte Debüt in Paris fand schließlich erst 1928 statt. Es bedeutete Gardels internationalen Durchbruch. Er reiste nun nur noch selten nach Buenos Aires, entwickelte sich nach seinem Pariser Triumph zum Weltstar, drehte Spielfilme erst in Joinville und später in New York. Gardel, der Weltenbummler, dislozierte den Tango aus der Achse zwischen dem Rio-de-la-Plata-Raum und Paris und machte ihn zu einem nomadisierenden Phänomen. 22 Wie der Tango selbst unterläuft Gardel jede Territorialisierung und wechselt seine Nationalitäten nach pragmatischen Gesichtspunkten. Im Kapitel 12 von Mille Plateaux, das den Titel „Traité de Nomadologie: La machine de guerre“ trägt, plädieren Deleuze und Guattari für ein nomadisierendes staatskritisches Denken, das zu einer beweglich einsetzbaren Kriegsmaschine wird (1980: 467). Gardel, der sich mit wechselnden Pässen dem Kriegsdienst entzieht, sich Bewegungsfreiheit verschafft und sich vor staatlicher Verfolgung wie Vereinnahmung schützt, ist gewissermaßen eine nomadisierende Antikriegsmaschine. Er greift den Nationalismus nicht an, er untergräbt ihn durch seine Gesten: Wenn er vor dem Endspiel der Fußballweltmeisterschaft in Montevideo 1930 beide Mannschaften, die argentinische und die uruguayische, in der Kabine besucht, versucht er einen Kulturraum zu umgreifen, 23 dessen innere Spannung und Zerbrechlichkeit sowohl in jenem legendären Spiel, das Uruguay gewann, als auch im Streit um Gardels eigene Biografie symbolisiert sind. Mehr noch: Das (argentinische) Imperium schlägt post mortem zurück: der Kriegsdienstverweigerer wird von den Peronisten zu Propagandazwecken in den Spielfilmen Se llamaba Carlos Gardel (1949), La guitarra de Gardel (1949) und El morocho del Abasto (1950) zur nationalen Ikone stilisiert. Mit dem Sturz der Perons gerät so dann auch der Tango in eine Krise. 22 Zur Nomadisierung des Tangos siehe auch die Kompilation von Pelinsky (2000). 23 Vidart (1967: 15) führt folgende bezeichnende Anekdote an: „cuando a Gardel, en un banquete, voces indiscretas le preguntaron por su nacionalidad, el célebre cantor se levantó y dijo: »Señores, yo soy rioplatense como el tango«.“ Rolf Kailuweit 82 Fazit Aus postkolonialer Sicht stellt sich der Rio-de-la-Plata-Raum als ein komplexes, aber gewiss nicht singuläres Phänomen dar, denkt man etwa an die neu erwachte Anglophilie einiger ehemaliger französischer Kolonien in Afrika. Im Rio-de-la-Plata-Raum erfolgt die Ablösung von der Kolonialmacht Spanien durch die vorbehaltsfreie Orientierung an der im 19. und frühen 20. Jahrhundert dominanten französischen Kultur. Der Kulturimport wird dabei sowohl durch die Elitenals auch durch die Populärkultur gespeist. Franzosen, deren Biografien sich als Allegorisierungen der Begriffspersonen des Migranten und des Nomaden begreifen lassen, haben einen nicht unbedeutenden Anteil an der Ausprägung eines transnationalen Kulturraums zwischen den Metropolen Buenos Aires und Montevideo, der seine Eigenständigkeit als Amalgam aus spanischer Sprache und französischem Geist verstehen mag. Die Ausrichtung nach Paris trägt über den transnationalen Austausch der La-Plata-Ufer hinaus dafür Sorge, dass dieser Kulturraum sich nationalistischem Reduktionismus, wie er vor allem die argentinische Kulturpolitik gekennzeichnet hat, entzieht und zu einem Leitbeispiel facettenreicher Transkription europäischer Kulturmuster in einem außereuropäischen Umfeld werden kann. Literatur Barsky, Julián/ Osvaldo Barsky: Gardel. La Biografía, Buenos Aires: Taurus 2004. Bertoni, Lilia Ana: Patriotas, cosmopolitas y nacionalistas. 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Raumdynamiken und koloniale Positionierung in der Literatur der spanischen und französischen Karibik im 19. Jahrhundert Connaissez-vous le pays du cèdre et de la vigne, où sont des fleurs toujours nouvelles, un ciel toujours brillant; où les ailes légères du zéphyr, au milieu des jardins de roses, s’affaissent sous le poids des parfums; où le citronnier et l’olivier portent des fruits si beaux; où la voix du rossignol n’est jamais muette; où les teintes de la terre et les nuances du ciel, quoique différentes, rivalisent en beauté? (Bergeaud 1859: 1) Diese romantische Lobpreisung der Natur steht am Anfang des 1859 erschienenen Romans Stella des haitianischen Schriftstellers Émeric Bergeaud. Es handelt sich dabei um ein Zitat von Lord Byron, der sich wiederum - zumindest in seiner ersten Zeile - wortwörtlich an Goethes „Mignon“ orientiert. Warum werden die Beschreibungen italienischer Naturräume durch deutsche oder englische Dichter in die Karibik, konkret nach Haiti, transferiert, um dort wiederum das sogenannte „Eigene“ zu besingen? Die räumliche Spannung, die damit in diesem ersten Roman des noch jungen Staates Haiti - also in einer post-kolonialen Situation per se - besungen wird, evoziert direkt die zentrale Fragestellung der folgenden Ausführungen: Welche Raumdynamiken unterliegen Texten des 19. Jahrhunderts, die in einer spezifisch kolonialen beziehungsweise postkolonialen Situation entstanden sind? Oder konkreter: inwiefern kann ein Blick auf die Inszenierung von Raumdynamiken in literarischen Texten aus unterschiedlichen Kolonialsphären einen besonderen Beitrag leisten zu einer vergleichenden Kolonialismusforschung? Die Inselwelt der Karibik im 19. Jahrhundert als ein zusammenhängender und gleichzeitig heterogener Raum der Peripherie kann geradezu als „Kaleidoskop kolonialer Strukturen und Dynamiken“ bezeichnet werden. Dort verdichten sich koloniale Erfahrungen im Wirkungskreis unterschiedlichster hegemonialer Systeme, die so zwangsläufig Anlass zu Anlehnung und Abgrenzung, zu Austausch und Konfrontation geben. (cf. Benítez Rojo 1998: 15) Um dem Anspruch einer möglichst repräsentativen Untersuchung zu genügen, sollen hier drei literarische Vertreter unterschiedlicher Kolonialräume der Karibik zu Wort kommen. Im Vordergrund steht der bereits zi- Gesine Müller 88 tierte Roman Stella (1859) des haitianischen Schriftstellers Émeric Bergeaud. Skizziert werden zudem der 1835 veröffentlichte Roman Outre-mer von Louis Maynard de Queilhe aus Martinique und La peregrinación de Bayoán des Puertoricaners Eugenio María de Hostos aus dem Jahr 1863. Damit haben wir drei Stimmen aus höchst unterschiedlichen Kolonialsphären: Bergeaud aus dem von Frankreich unabhängigen Haiti steht mit Maynard de Queilhe ein Schriftsteller der französischen Kolonie Martinique gegenüber, die nie unabhängig geworden ist. Hostos als Vertreter der spanischen Kolonialsphäre befindet sich allein schon sprachlich gesehen in einem Umfeld, in dem das Streben nach Unabhängigkeit ein Thema von ganz anderer Bedeutung war als im französischen Kolonialreich, waren doch die karibischen Inseln die letzten abhängigen amerikanischen Enklaven der Madre Patria España. Rein historisch betrachtet, ist daher nur der Roman Stella einer postkolonialen Situation zuzuordnen. Bekanntlich plädiert Bill Ashcroft (1999) dafür, das Postkoloniale nicht als einen (historischen) Moment danach zu fassen, sondern als einen Prozess der Auseinandersetzung mit Strukturen, die durch neue abgelöst werden. Es wird sich hier zeigen, ob und inwiefern auch Romane eine postkoloniale Lesart nahelegen, die bereits vor Erreichung der Unabhängigkeit entstanden sind. Die folgenden Lesarten der Romane konzentrieren sich: 1. auf die jeweiligen Raumkonzeptionen und ihre Dynamiken unter Berücksichtigung, dass Räume kulturell konstituiert oder schlichtweg produziert sind (im Sinne eines kulturpragmatischen Raumbegriffs); 2. auf die Positionierungen zum kolonialen Status quo; 3. auf eine Wechselwirkung dieser beiden Phänomene. Neben diesen zentralen Fragen richtet sich mein Blick noch auf eine übergeordnete Dimension: Auch wenn die Rede vom spatial turn nicht neu ist, nehmen die folgenden Ausführungen diese in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts konstatierte Wende der Geschichtswissenschaften oder auch den topographical turn der Kulturwissenschaften zum Anlass, der Inszenierung von Raumdynamiken in Texten des 19. Jahrhunderts nachzugehen. (Damit geht es also nicht um eine konsequente Anwendung neuer Kategorien im Sinne eines kuhnschen Paradigmenwechsels). Mit einem geschärften Blick auf die Inszenierung von Raumdynamiken wird auch versucht, die Annahme, dass das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert der Zeit sei, neu zu prüfen. Dies unter der längst etablierten Voraussetzung, dass die Vorherrschaft der Raumperspektive spätestens seit dem Entwicklungs- und Fortschrittsparadigma der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zunehmend durch eine Zeitperspektive verdrängt worden ist; zugespitzt dann noch durch die kolonialistische Entwicklungsvorstellungen im Zusammenwirken mit den fortschrittsbezogenen Geschichtsauffassungen des „Une misérable petite île! moins qu’une île…“ 89 19. Jahrhunderts (Bachmann-Medick 2006: 286). Der topographical turn beruht auf der Erfahrung eines Bruchs mit der etablierten Gleichung von kultureller Identität und nationalem Territorium, (das heißt im Sinne Benedict Andersons: Imaginierung von territorialen Räumen als homogene Räume). Eine Erfahrung des Bruchs mit dieser Gleichung verdichtet sich in der Figur des displacements, die an die Stelle konventioneller Migrationskonzepte wie Exil und Diaspora getreten ist. (Weigel 2002: 156) Auch wenn das Projekt „kulturelle Identität“ bereits im 19. Jahrhundert Konstruktcharakter hat, ist dennoch bei damaligen Texten naheliegenderweise eine literarische Inszenierung zu erwarten, die gerade diese besagte Gleichung von kultureller Identität und nationalem Territorium vermittelt. In diesem Sinne wird auch von Vertretern des spatial turn eingeräumt, dass ein Zeitalter des Imperialismus per se für eine Auseinandersetzung mit der Raumthematik stehe. Dennoch wird ihrer Ansicht nach damit nicht einem Raumverständnis im Sinne des spatial turn Rechnung getragen, da es in erster Linie um statische Gebilde und Raum als physikalische Masse gehe. Die Privilegierung der Zeit im 19. Jahrhundert scheint naheliegend, und dies ganz besonders bei literarischen Texten aus Lateinamerika und der Karibik, hatte doch bei den dortigen Autoren gerade solch ein Klassiker wie Chateaubriand Hochkonjunktur. Symptomatisch für sein omnipräsentes historisch-chronologisches Fundament ist sein berühmter Satz aus Mémoires d’outre-tombe: „Je me suis rencontré entre deux siècles comme au confluent de deux fleuves; j’ai plongé dans leurs eaux troublées, m’éloignant avec regret du vieux rivage où je suis né nageant avec espérance vers une rive inconnue.“ (Chateaubriand 1957: 1047) Eine intensive Zeiterfahrung, konkret: das vorherrschende Gefühl eines Niedergangs des guten Ancien Régimes. Bevor ich mich den Romanen zuwende, sei zusammenfassend festgehalten: In erster Linie geht es bei den Lesarten der drei für die jeweiligen Kolonialsphären repräsentativen literarischen Texte um Raumdynamiken, um eine Positionierung zum kolonialen Status quo beziehungsweise eine Wechselwirkung beider Phänomene. Erst in einer weiterführenden Schlussbetrachtung soll die übergeordnete wissenschaftsparadigmatische Frage unter Berücksichtigung ihrer Anwendbarkeit anskizziert werden. Émeric Bergeaud: Stella (1859) Die Handlung des Romans spielt im Zeitraum von 1789 bis 1804, einer Zeit der politischen Umwälzung, die die einstige Insel Hispaniola mit der Französischen Revolution und der Aufhebung der Sklaverei extrem verändert und das Land in einen langen Kampf um Freiheit als eigenständige Nation Gesine Müller 90 geführt hat. 1 In der Form einer fiktionalisierten Historiografie, durchsetzt mit Elementen einer allegorischen Dichtungstradition, beschreibt Bergeaud die Zeit der Unabhängigkeitskriege am Beispiel des Brüderpaares Romulus und Rémus und der Personifikation der Freiheit in der Figur Stella, um Haiti in einer glorifizierenden Schlussszene als einheitliche Nation zu besingen. (Thiem 2007: 52) Aus der Retrospektive berichtet die Mutter Marie im Schutz ihrer kleinen Hütte ihren beiden Söhnen unterschiedlicher Hautfarbe deren ursprüngliche Herkunft: Romulus ist der Sohn eines afrikanischen Stammesführers, der in Afrika im Kampf gefallen war und sein Dorf nicht mehr vor den Sklavenhändlern schützen konnte, so dass die anderen Stammesangehörigen als Sklaven nach Übersee verkauft wurden. Romulus, der in Afrika gezeugt, aber in der Kolonie Saint-Domingue geboren wurde, symbolisiert somit den afrikanischen Ursprung der haitianischen Bevölkerung. Rémus ist das Resultat einer Vergewaltigung Maries durch den colon. Demzufolge ist seine Hautfarbe heller als die seines Bruders, und er gilt als Symbol für die Mulatten. (op. cit.: 56) Die Raumstruktur des Romans fällt sofort als strukturgebendes Moment ins Auge. Durch die Zugehörigkeit bestimmter inhaltlicher Aspekte zu einem bestimmten Bereich entstehen unterschiedliche Räume, die sich jeweils durch semantische Abgeschlossenheit und damit Abgegrenztheit charakterisieren. Diese Räume sind in erster Linie Orte im Sinne von geografischen Gebieten, die sowohl konkrete Orte mit einer außerliterarischen Referenz sind, wie Haiti, Paris und Afrika, als auch begehbare Orte, die keine direkte außerliterarische Referenz haben. So gelten Berge, Städte oder Wälder zwar durchaus als in unserem Erfahrungsbereich begehbare Orte, aber sie stellen im Text eine Mischung aus möglichen und fiktionalen Orten dar, wodurch ihre Referenz nicht über den Text hinausweist und sich die räumliche Ausdehnung über unsere Vorstellung rein innerliterarisch manifestiert. Nach Annegreth Thiem lässt sich der Gesamttext mithilfe von grafischen Feldern in fünf Räume gliedern, die es ermöglichen, den Handlungsverlauf der Geschichte in räumlicher Struktur nachzuvollziehen: 1. Saint-Domingue/ Haiti: patrie / / 2. Europa/ Frankreich/ Paris: mère-patrie / / 3. Kriegsschauplatz: villes, fort, fortification / / 4. Naturraum: montagne, bois, grotte, rivière / / 5. Afrika. Die Relationen zwischen den einzelnen Räumen sind höchst unterschiedlich: Eine grundlegende räumliche Opposition stellen die Felder Saint- Domingue/ Haiti und Europa dar, die sich gegenseitig beeinflussen, auf Außerliterarisches referieren sowie Grenzüberschreitungen durch Figuren ermöglichen. Demgegenüber vermischt sich in den Feldern Saint-Domingue / Haiti und montagne, bois, grotte, rivière die außerliterarische mit der innerliterarischen Ebene, wobei auch diese Beziehung der Räume als wechselseitig 1 In den Ausführungen zu Stella orientiere ich mich an den hervorragenden Ausführungen von Annegreth Thiem in ihrer Habilitationsschrift (cf. Thiem 2007: 52sqq.). „Une misérable petite île! moins qu’une île…“ 91 zu bezeichnen ist. (Thiem 2007: 60) Ein unmittelbarer Kontakt beider Räume ist aber unmöglich. 2 Das Feld Afrika hat zwar weitreichende Folgen für andere Räume, weist aber bis auf die ursprüngliche Grenzüberschreitung durch Marie l’Africaine keine weitere Bewegung auf, sondern ist durch Statik gekennzeichnet. Das erste Feld Saint-Domingue/ Haiti hat eine doppelte Dimension: Fungiert es im größten Teil des Romans noch als Raum des kolonialen Haitis, wird es erst in den letzten beiden Kapiteln als unabhängige Nation Haiti realisiert. Im letzten Kapitel werden die Grenzen der einzelnen Räume durchlässig, die sich so miteinander verbinden. Sie bilden als Synthese einen neuen gemeinsamen Raum, die haitianische Nation. Die Raumstruktur des Romans dient somit als textuelle Stütze für den Mythos der Nationengründung, zudem antizipiert sie gleichsam den hybriden und synkretistischen Charakter dieser Nation. (op. cit.: 61) Ausschlaggebend für die kulturelle Verortung ist die territoriale Schönheit des späteren Nationenraumes. Bergeaud zitiert bei der Beschreibung der Kolonie Saint-Domingue daher paradiesische Bilder Byrons und Goethes, was den Anspruch auf den zu gründenden Orientierungsraum betonen soll. (op. cit.: 65) Der Lobgesang auf die Natur wird mit romantischen Märchenstrukturelementen eingeleitet: „Sur une terre fortunée, au sein d’une nature séduisante et prodigue de ses dons les plus précieux.“ (Bergeaud 1859: 1) Der Adressatenkreis wird direkt aufgerufen, diese Insel zu besuchen und sich von der Schönheit der Natur beeindrucken zu lassen. (Thiem 2007: 65) Entscheidend ist jedoch die Omnipräsenz des Wissens über die abendländische Kultur, hernach diese wunderschöne Natur noch gezähmt und zivilisiert werden muss. Auch dies gelingt schließlich im letzten Kapitel, in dem das Fundament der Zivilisation die Grundlage für die Nation bildet. (op. cit.: 66) Ils savent qu’on n’est réellement heureux que par l’âme, fort que par l’intelligence, et que ces facultés sublimes ne se développent qu’au contact de la civilisation. La civilisation n’est pas exclusive; elle attire au lieu de repousser. C’est par elle que doit s’opérer l’alliance du genre humain. Grâce à sa toute-puissante influence, il n’y aura bientôt sur la terre ni noirs, ni blancs, ni jaunes, ni Africaines, ni Européens, ni Asiatiques, ni Américaines: il y aura des frères. Elle poursuit de ses lumières la barbarie se cache. Partout où celle-ci, de sa voix mourante, conseille la guerre, la civilisation prêche la paix; et quand retentit le mot haine, elle répond amour. (Bergeaud 1859: 324) Die strenge Ausrichtung an europäischen Werten hat zur Folge, dass der Raum Afrika nur ein Erinnerungsort bleibt. 3 Thiem betont in diesem Zusammenhang zu Recht, dass die eigentlichen zivilisatorischen Werte zur 2 Thiem spricht in Bezug auf den Kriegsschauplatz von einem „dritten Raum“. (Thiem 2007: 60) Angesichts des durch Homi Bhabha geprägten Begriffs würde ich nur von „Zwischenraum“ sprechen, ohne auch dabei das postkoloniale in-between zu meinen. 3 Cf. Thiem 2007: 74. Dies aber nicht in der Funktion Pierre Noras. Gesine Müller 92 Begründung einer kulturellen Identität auf das europäische Wertesystem bezogen sind und dieser Raum damit vom Status eines dynamischen Wirkungsfeldes auf den rein ideellen Status einer statisch gewordenen Erinnerung reduziert werde. Diese Erinnerung ist eindimensional und vermittelt keine Bewegung. Der Autor versucht mit diesem Nationenmythos, Haiti aus dem Status des Anderen herauszuführen und in den Reigen der westlichen Nationen zu integrieren. Nationsbildung findet in Stella als allegorische Verräumlichung der historischen Zeit und Ereignisse statt. (Thiem 2007: 74) Dies wird mithilfe der abstrakten Figuren unterstützt, jedoch auf ein statisches Bild reduziert. Maynard de Queilhe: Outre-mer (1835). Oder: kreolische Lianen Wir kommen nun zu einem Repräsentanten aus der französischen Kolonialsphäre, aus Martinique. Bezeichnenderweise sind über Maynard de Queilhe, genauso wenig wie über die meisten anderen Autoren der französischen Antillen, kaum genaue biografische Daten bekannt. Sicher ist, dass er zeitweise in Paris gelebt, dort auch seinen Roman Outre-mer geschrieben hat und mit Victor Hugo befreundet war. Es gibt einige Andeutungen, die darauf hinweisen, dass seine Familie im Zuge der Französischen Revolution von 1789 politisches Exil auf Martinique gesucht hatte. Aufschlussreich ist das lange Vorwort seines Romans, das eine Art ethnografische Einführung beinhaltet. Der Roman Outre-mer wurde 1835 publiziert. Wir befinden uns in einem Klima, in dem die Ideen der Julirevolution von 1830 nach und nach in die entlegenen Winkel des französischen Kolonialreiches gelangen. Mit den Ideen der Revolution bestimmen auch Fragen um die Abschaffung der Sklaverei intensiv die philosophischen und politischen Debatten in Paris. Das Vorbild ist England, wo es bereits 1833 zur Abolition kam, in Frankreich werden Vorbereitungen für die Commission de Broglie (1840) getroffen, deren Gespräche dann 1848 in die definitive Abolition münden. Maynard de Queilhe ist ein béké, ein Angehöriger der weißen kreolischen Oberschicht Martiniques, deren Hauptsorge um 1835 darin besteht, die alte Ordnung zu wahren. Ihr Reichtum basiert vor allem auf einem erfolgreichen Funktionieren der Plantagenwirtschaft dank Sklaverei. Revolutionäres Gedankengut aus Europa wird von den békés als große Gefahr angesehen. Für sie scheint sich der Albtraum von 1789 nun zu wiederholen. Die Lektüre von Outre-mer vermittelt das Bild einer arretierten Gesellschaft, einer kreolischen Kaste, die getrieben ist von der Angst, die alten Privilegien zu verlieren. Die schreibende kreolische Oberschicht ist bestens in der Lage, ihre Raumzugehörigkeit deutlich zuzuordnen. So schreibt Maynard de Queilhe im Vorwort: „Les colons ne se considèrent que comme des passagers sur une terre d’exil; „Une misérable petite île! moins qu’une île…“ 93 ils ont toujours les ailes entrouvertes, pour regagner leur ancienne patrie.“ (Maynard de Queilhe 1835: I, 13) Eine räumliche Unentschiedenheit lässt sich höchstens hinsichtlich des Adressatenkreises ausmachen: „Il est ensuite beaucoup de choses de ce livre qui paraîtront étranges, tantôt aux personnes du pays où je suis, tantôt aux personnes du pays où vous êtes.“ (op. cit.: 12) Fremdheit auf beiden Seiten des Atlantiks? Nicht wirklich, denn angesprochen ist jeweils die französische beziehungsweise kreolische Oberschicht. Auf einer innerliterarischen Ebene ist für unsere Fragestellung aufschlussreich, dass der Schriftsteller aus Martinique in seinen Protagonisten, den Mulatten Marius, eine spezielle Art der Erfahrung von Raumdynamik transferiert, die symptomatisch ist für die neuen Konkurrenten der béké: die Klasse der freien Mulatten, die erst 1830 sozial aufgestiegen sind und fast vergleichbare Rechte haben. Diese neue Klasse ist nach Maynard de Queilhe heimatlos beziehungsweise hat sich nicht Frankreich, sondern England als geistige patrie erkoren. Mais, moi, abandonner ma patrie [Angleterre], non celle où j’ai reçu le jour [Martinique], jour affreux, que je maudis et que je suis prêt à rendre; mais celle de mon âme, où j’ai grandi, où j’ai été heureux et libre, où mon intelligence s’est enrichi et développée; pour ma damnation éternelle, je le reconnais à cette heure. Pourquoi existe-t-il une île appelée Martinique? pourquoi suis-je ici plutôt qu’autrepart? (Maynard de Queilhe 1835: I, 43) Der Roman spielt im Jahr 1830 und im Zentrum steht die Leidenschaft des Mulatten Marius für eine weiße Kreolin, Julie de Longuefort. Diese Verbindung kann nach Maynard de Queilhe nur wider die Natur sein und einzig mit schlechter Erziehung erklärt werden. Marius ist erst kürzlich von Paris nach Martinique zurückgekommen. Die schlechte Erziehung hat er von seinem Adoptivvater, Sir William Blackchester, erhalten. Dieser ist Philanthrop und obendrein noch Engländer. 4 Ohne dass England ein Schauplatz im Roman ist, durchzieht das Spannungsdreieck England-Frankreich-Martinique den gesamten Roman, wobei Marius ganz im Sinne des klassischen Helden des Bildungsromans einen Läuterungsprozess durchläuft. So äußert er bei seiner Ankunft: Angleterre […] c’est un noble et beau pays! l’homme y est le miroir de l’homme; on se respecte dans autrui. Sur mon honneur, je n’ai jamais traversé une rue de Londres sans porter orgueilleusement de ce qui m’attendait ici. Une misérable petite île! moins qu’une île, une espèce d’îlet; des fièvres, des serpents et des êtres qui se donnent des coups de fouet, parce qu’ils ne sont pas tous également jaunes, ou parce que les uns le sont trop et les autre pas assez; ou parce qu’il y en a qui ne le sont pas du tout. Misère! misères! (Maynard de Queilhe 1835: I, 42) 4 In den Augen der weißen Martinikaner waren die Engländer noch unbeliebter als die französischen Liberalen, da dort die Sklaverei bereits 1833 abgeschafft worden war. Gesine Müller 94 Die in England proklamierten philanthropischen Ideen motivieren den Protagonisten zunächst, revolutionäre Anliegen zu verbreiten. So lassen sich die Sklaven seiner Meinung nach zu viel gefallen: „Je n’y comprends rien. On les insulte, ils baissent la tête; on les bat, ils s’agenouillent; on les tue, ils remercient. Qu’est-ce que cela, bon Dieu? “ (op. cit.: I, 41) Seine Worte nehmen fast spätere Positionen der négritude vorweg, was schließlich so weit geht, dass er eine schwarze Frau kauft und befreit, um sie zu heiraten. Doch schnell wird er auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen und ihm wird klar, dass sie beide Welten trennen. Marius lernt, dass er nur eine „echte Frau“ lieben kann: eine Weiße. Damit steht er im vollen Widerspruch zu seinen ursprünglichen politischen Überzeugungen. Die Erfahrungen nach seiner Rückkehr nach Martinique zwingen ihn dazu, sein Urteil über die Sklaverei zu revidieren. Mit der Zeit muss er feststellen, dass in Paris nur üble Vorurteile kursieren: Marius gerät in Verzückung, als er eine habitation besichtigt, ein Plantagenmodell der alten Aristokratie. Hier zeigt sich, wie gut die Sklaven in Wirklichkeit behandelt werden. Nach dem Besuch verwirft Marius seine revolutionären Ideen aus Europa. On lui avait dit qu’on les exposait aux intempéries des saisons, sans défense, sans vêtements; et il apprenait que ces hommes recevaient par an deux casaques et deux caleçons, les femmes deux casaques et deux jupes: que si parfois on les voyait à moitié nus c’est que cela leur était plus agréable. […] A ces travaux ne se joignaient ni douleurs ni peines. Par intervalles certes le fouet retentissait, mais en l’air et non sur le dos de l’esclave et c’était uniquement pour exciter l’ardeur des endormis ou pour se faire entendre des plus éloignés. La terre n’était point arrosée de leurs sueurs mais peut-être du sirop qu’on ne leur refuse en aucun temps, et qu’ils ont l’habitude de boire délayé dans l’eau […] On lui avait annoncé beaucoup de cris et de gémissements, et il ne les entendait que rire et jaser. (Maynard de Queilhe 1835: I, 105sq.) Die Plantage erscheint ihm nicht als Gegenentwurf zum Paradies, sondern als dessen Verlängerung, die Erntezeit als eine Phase fröhlicher Aktivität und lustiger Lieder. Die Mulatten sind die wahren Feinde der aristokratischen Ordnung. Dank ihrer neu erlangten Rechte haben sie die Möglichkeit, in Paris zu studieren, wo sie von revolutionärem Gedankengut infiziert werden. Die revolutionären Ideen aus dem Zentrum erweisen sich in der Kolonie selbst als wirklichkeitsferne Konstrukte. Hier zeigt sich auf einer innerliterarischen Ebene, dass die „Übersetzung“ (translation) von Ideen und Theorien aus den Metropolen in die Kolonien selten 1: 1 vor sich geht, sondern entweder scheitert oder in der kolonialen Gemengelage einem Hybridisierungsprozess unterliegt. (Castro Varela 2005: 89) Der Roman hat drei geografische Schauplätze: Martinique als Kolonie, Frankreich als mère-patrie und das Schiff, mit klarer Fahrtrichtung ins französische Mutterland. Die Zielgerichtetheit des Schiffes, eine lineare Schiffsreise, unterstreicht allerdings nur eine Bipolarität zwischen Mutterland und „Une misérable petite île! moins qu’une île…“ 95 Kolonie. Entscheidend ist, dass diese räumliche Bipolarität ihre Entsprechung auch im Textraum findet: Erstens auf der Ebene der Protagonistenkonstellationen: gute Kreolen, böse Schwarze, und der vermeintlich edle Mulatte entpuppt sich letztlich als revoltierender Satan. Und zweitens auf der Ebene der literarischen Vorbilder, denn die Orientierung des aus Martinique stammenden Maynard de Queilhe an Bernardin de Saint-Pierre, Victor Hugo und George Sand ist omnipräsent - dies ganz im Sinne René Girards mimetischer Theorie, oder mit dem Vokabular postkolonialer Theoriebildung: als Mimikry. 5 Nicht von ungefähr wurde das mimetische Verfahren eines Maynard de Queilhe verglichen mit der in den Tropen beheimateten Kletterpflanze der Liane. (Bongie 1998: 319) Lianen schießen in die Höhe, ohne sich zu verzweigen, die kolonialen Ableger ranken sich um die Mutterpflanze. Die bipolare Raumstruktur in Outre-mer wird außerdem unterstrichen durch die Inselfunktion Martiniques. Auch dies geschieht in Orientierung an einer Modeströmung zeitgenössischer Inselmotive: Ebenso wie die Île de Bourbon (eigentlich La Réunion) in Indiana von George Sand oder die Île de France (also Mauritius) bei Paul et Virginie von Bernardin de Saint- Pierre ist Martinique von einer Inselsemantik aus Isolation und Exil gekennzeichnet. (Ette 2005: 143) Eugenio María de Hostos: La peregrinación de Bayoán (1863). Oder: ein Pilger in den Mangroven […] ir a Cuba, al Darién, del Darién al Perú; del Perú al Méjico; de Méjico a La Habana […] y en Nuevitas quedarme para ir a Cat Island (San Salvador de Colón, indiana Guanahaní) y al volver, visitar a los amigos [….], que en tanto empeño tiene en que me prepare, para mi peregrinación a Europa […]. (Hostos 1988: 108) Dieses Zitat aus dem Munde des heimatlosen Protagonisten in La peregrinación de Bayoán hat programmatischen Charakter. Bezeichnenderweise wurde der Roman von den spanischen Behörden kurz nach seinem Erscheinen konfisziert. (Thiem 2007: 184) Dies mag der antispanischen Intention des Textes und der Auflehnung der Antillen gegen die sie unterdrückende Nation Spanien geschuldet sein, die Hostos in seinem Roman deutlich werden lässt. Die politische Dimension wird als Utopie einer Suche nach einer gesamtkaribischen Identität verstanden. (ibid.) ¡Partir! ¿Para encontrar los medios de hacer feliz a mi infeliz Boriquen, para dar el ejemplo, y preparar el advenimiento de una patria que hoy no tengo? […] 5 Die mangelnde Originalität der Literatur der französischen Antillen im 19. Jahrhundert - von Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant als littérature doudouiste bezeichnet - ist schon beinahe Klischee frankokaribischer Literaturwissenschaft. Diese Feststellung tut aber dem kulturgeschichtlichen Reichtum, der sich durch eine feine Analyse der Kopierverfahren vermittelt, keinen Abbruch. Gesine Müller 96 ¡Partir…! ¿adónde? ¿A viajar por la América continental, a pensar en su porvenir y a provocarlo? ¿A Europa, a convencerla de que América es el lugar predestinado de una civilización futura? […] Partiré (Hostos 1988: 149). In offenkundiger Anlehnung an die Reisebücher des Cristóbal Colón beginnt der in Tagebuchform geschriebene Roman seine Aufzeichnungen mit dem 12. Oktober, dem Tag der Entdeckung Amerikas. Der junge Puertoricaner Bayoán, dessen Name „del primer indígena de Boriquen que dudó de la inmortalidad de los españoles“ entlehnt ist - so die Erklärung Hostos’ im Namensschlüssel des Romans -, verlässt seine Herkunftsinsel per Schiff mit dem zunächst noch vage formulierten Ziel, die karibischen Inseln und das lateinamerikanische Festland zu besuchen. (Thiem 2007: 186) Einige Aufzeichnungen schreibt Bayoán an Bord. Das Schiff stellt so - anders als bei Outre-mer - eine Art Schwellenraum dar. Es kann gleichsam als Vehikel betrachtet werden, das die Grenzen der Zeitebenen passiert und den Protagonisten von einer Ebene in die andere befördert. Quasi ein Pendeln zwischen Zeitebenen und Räumen: „El viento empujaba a la fragata, y la fragata andaba como ando yo, empujado por un viento que aún no sé si lleva a puerto.“ (Hostos 1988: 192) Hin- und hergerissen zwischen den Antillen und Spanien, dem er seine Stärke beweisen will, zeigt sich der innere Kampf Bayoáns um die zukünftige Richtung, die sein Leben nehmen soll. (Thiem 2007: 199) Die stets gegenwärtige Auseinandersetzung im Sinne eines Initiationsprozesses führt zur Bewusstseinsbildung des Protagonisten, die ihn, den Heimatlosen, erst am Ende deutlich erkennen lässt, wohin seine Reise führen wird: „América es mi patria.“ (Hostos 1988: 355; cf. Thiem 2007: 199) Die Fahrt des Bayoán dient als raumstrukturierendes Pilgermotiv: „Yo soy un hombre errante en un desierto, y mi único oasis eres tú (se está dirigiendo a su patria). Yo soy un peregrino… ¿Necesito peregrinar? Pues, ¡adelante! “ (Hostos 1988: 18). Pilgern als vieldimensionale Suche, als Ausdruck von Offenheit, aber auch von Fremdheit, als Zielgerichtetheit, aber auch mit dem Weg als Ziel; eine Kreisstruktur, die vielfach gebrochen ist. Für eine Übernahme der Pilgerfahrt als literarisches Motiv bleibt ihr offener Status konstitutiv, was vor allem auf einer raumstrukturierenden Ebene von Bedeutung ist: Konstruktion, Institutionalisierung und Funktionalisierung des Systems Pilgerfahrt unterliegen evolutionären Dynamiken, die unterschiedlich lose und strikt an die Entwicklungen des übergeordneten Funktionssystems der Religion gekoppelt sind. (Hassauer 1993: 19) In der Übertragung des mittelalterlichen Pilgermotivs überwiegt sicherlich der Opfergedanke, der sich bei Bayoán auf einer politischen Ebene widerspiegelt. Auch wenn nicht behauptet werden kann, Hostos habe die Werke Hegels oder Nietzsches gelesen, entstand der Roman doch im religionskritischen Klima der neuzeitlichen Opferkritik, in der die Satisfaktionslehre Anselm von Canterburys, die die christliche Op- „Une misérable petite île! moins qu’une île…“ 97 ferlehre begründet hatte, eine politische Dimension gewann. 6 In diesem Sinne ist auch Bayoáns Pilgerfahrt zu interpretieren, denn er muss für die Freiheit der spanischen Kolonien ein Opfer bringen und den mühsamen Weg durch den karibischen Archipel, Lateinamerika und Europa auf sich nehmen. Und es ist nicht umsonst die Kreisstruktur, die konstitutiv ist für das Pilgermotiv, bezieht sich doch Hostos ganz zentral auf Kolumbus’ Bordbuch. Gerade die Rückkehr zum Ausgangspunkt Europa (und die dortige Ehrung durch die Katholischen Könige) gab Kolumbus Sinn und Legitimation für seine Entdeckungsreise mit erstem Halt auf den Antillen. Als literarisches Motiv ist die Pilgerschaft im 19. Jahrhundert grundsätzlich sehr präsent: Der damalige Bestseller war Child Harold’s Pilgrimage. A Romaunt des Lord Byron, mit dessen Veröffentlichung (1812, 1816, 1818) Byron über Nacht Berühmtheit erlangte. Ihn lesen Protagonisten solch kanonischer Romane wie María von Jorge Isaacs oder Amalia von José Mármol. Wie ist diese Modeströmung zu erklären? Ist es das per se romantische Symbol einer entfesselten Freiheitssehnsucht? Das erhabene Bild der unbegrenzten, zeitlosen, dem Menschen nicht unterworfenen See? Im Sinne einer (post)kolonialen Rezeptionsinterpretation bietet sich folgende Lesart an: Byron begründet Irlands „orientalen Status“ erstens mit der Unterjochung durch England und zweitens, indem er Irland die Attribute „[w]ildness, tenderness and originality“ zuschreibt. (Ogden 2000: 117) Diese Kombination mag gerade bei lateinamerikanischen und karibischen Autoren eine intensive Byron-Rezeption gefördert haben - Hostos selbst bekennt sich deutlich zu einer tiefen Bewunderung. Letztlich ging es ihm weniger um die ausschließlich Puerto Rico betreffende Freiheit als vielmehr darum, ein gesamtes spanisch-amerikanisches Projekt zu zeichnen, das den Ansatz einer antillanischen Konföderation birgt. Wenn auch die klare politische Dimension, vermittelt ganz besonders durch die Opferoption, in einem früheren Jahrhundert zu Hause ist, ist das Pilgermotiv durchaus als Vorform des Nomadentums à la Vilém Flusser oder des rhizomatischen Migranten à la Deleuze/ Guattari zu lesen. Am überzeugendsten ist sicher Hostos’ Vorwegnahme der Gedanken Édouard Glissants, konkret dessen Konzepts der antillanité, dem keine eindimensional nationalistische Perspektive zugrunde liegt, sondern die Mangrovenstruktur. Fazit Alle drei Texte suggerieren eine Lesart, die von einer Gleichung von kultureller Identität und nationalem Territorium ausgeht. Insofern kann nicht 6 Nach dem Motto des Psalms 40,7: „Die Umkehr bringt Opfer, nicht um Gottes willen, der ihrer nicht bedarf, sondern um des Lebens, um der Gottesherrschaft willen, in die man anders nicht eingehen kann.“ Gesine Müller 98 davon die Rede sein, dass sich in den hier skizzierten Romanen des 19. Jahrhunderts ein eindeutiger Paradigmenwechsel zum Topografischen manifestiert. Dennoch hat die Untersuchung der Raumdynamiken in den drei Werken wichtige neue Erkenntnisse im Rahmen einer vergleichenden Postkolonialismusforschung geleistet. Es ist unbestritten, dass sich die Literatur des 19. Jahrhunderts durch physikalisch wahrnehmbare Raumvorstellungen auszeichnet. Die allgemein vertretene These, dass das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert der Zeit sei, konnte sich hier aber nicht bestätigen, und dies nicht etwa deshalb nicht, weil die Kategorie der Zeit geflissentlich übergangen wurde. Im Gegenteil, insofern Zeit als konstitutiver Faktor von Dynamik und Bewegung fungiert, war es geradezu die Gegenüberstellung der beiden Schiffsmetaphern, die unterschiedliche Raumdynamiken fruchtbar machen konnte. Nicht für alle drei Romane kann gleichermaßen beansprucht werden, dass - mit den Worten Sigrid Weigels - die Figur des displacement an die Stelle konventioneller Migrationskonzepte wie Exil oder Diaspora getreten ist. Dennoch liefert das raumtheoretische Instrumentarium wichtige Schlüssel zum zentralen Verständnis postkolonialer Positionierung. Guadeloupe und Martinique haben mit der départementalisation ihren Kolonialstatus bis heute nicht verloren. Die politische und kulturelle Gravitationskraft des französischen Kolonialismus war weit prägender und effektvoller als das spanische Modell. Dementsprechend funktioniert in Outre-mer das Konzept „Exil“ hervorragend. Die binäre Opposition zwischen Metropole und Kolonie wird dort nicht gebrochen. Der Roman kann als Modellfall eines „Mapping of Empire“ im Sinne Edward Saids gelesen werden. (Bachmann-Medick 2006: 293) Die weit komplexere Raumstruktur von Stella deutet darauf hin, dass die Multirelationalität der jungen haitianischen Gesellschaft weitreichende räumliche Dimensionen impliziert. Stella steht für koloniale Unabhängigkeit, da der Roman zeigt, inwiefern der junge Staat Haiti die Verbindung von externer und interner Relationalität verdichtet. Allerdings zeigen sich die einzelnen Räume bei Stella sehr statisch. Dies hängt mit dem unauflöslichen Widerspruch des haitianischen Selbstverständnisses zusammen, politische Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Affirmierung der kulturellen Abhängigkeit zu proklamieren. 7 Während Haiti in jeder Hinsicht einen Sonderfall nicht nur in der Karibik, sondern in der westlichen Hemisphäre überhaupt darstellt, vermitteln die beiden anderen Romane davon abweichende Raumperspektiven, was sich direkt in den Titeln spiegelt: Outre-mer von Maynard als Affirmierung des kolonialen status quo steht für den eindimensionalen kolonialen Blick, La peregrinación de Bayoán basiert auf dem Moment der 7 Symptomatisch dafür ist der berühmte Satz von Masillon Coicou aus dem Jahre 1892: „Oui, France, nous t’aimons beaucoup, comme plusieurs de tes propres enfants ne t’aimerons jamais.“ (Coicou 1892: 113) „Une misérable petite île! moins qu’une île…“ 99 Bewegung. Das Verständnis des karibischen Archipels in La peregrinación de Bayoán projiziert eine insulare Logik und betont dessen interne Relationalität. (Ette 2005: 148) Die Karibik symbolisiert in diesem Roman die Konzeption eines third space im Sinne Bhabhas, der sich jenseits der „Hypnosen Europa und Afrika“ anbot. (Ette 2001: 463) Outre-mer als dem kolonialen, an Europa ausgerichteten und Stella als dem antikolonialen, sich an Afrika orientierenden Diskurs folgt mit La peregrinación de Bayoán ein anderer postkolonialer Diskurs, der eine neue Raumkonzeption ermöglicht. Bayoán ist ein amerikanischer Diskurs mit independistischen Traditionen und referiert auf die gesamtamerikanischen Verbindungen. Auch wenn Texte des 19. Jahrhunderts nicht die Radikalität der Bewegungsstruktur von Texten aus dem 20. und 21. Jahrhundert aufweisen, nehmen La peregrinación de Bayoán und in gewisser Weise auch Stella den glissantschen Anspruch einer relationalen Raumkonzeption vorweg. Der spatial turn schreibt sich auf die Fahnen, weder den Raum der Physik noch den Raum der Natur, sondern den gesellschaftlich produzierten Raum im Sinne eines dynamischen Prozesses zu meinen. Es kann nicht geleugnet werden, dass Physik und Natur wichtige Kategorien im 19. Jahrhundert sind, die aus einer postkolonialen Lesart nicht wegzudenken sind. Dennoch sensibilisieren die neuen Theorien von Vernetzung, relationalité und Bewegung für Dimensionen, die auch schon vor der postmodernen Wende präsenter waren als angenommen. Die drei Romane vermitteln die Überschneidungen durch die Gleichzeitigkeit von ungleichen Räumen und Territorien, die Aufladung von Räumen mit imperialen Einschreibungen, versteckten Hierarchien, deplatzierten Erfahrungen und Kontinuitätsbrüchen. Literatur Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg: Rowohlt 2006. Benítez Rojo, Antonio: La isla que se repite, Barcelona: Casiopea 1998. 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So gesehen hat Glissant sich auch schon in seinem Frühwerk, in dem er vorwiegend seine Heimatinsel Martinique und deren koloniale Plantagengesellschaft (plantation) ins Zentrum seines Interesses stellt, mit Phänomenen der Globalisierung beschäftigt. Selber unterscheidet er in Bezug auf die aktuelle Situation zwischen der mondialisation (Globalisierung) und der mondialité (Globalität): „Si vous vivez la mondialité, vous êtes au point de combattre vraiment la mondialisation.“ (Glissant 2005: 139) Während die mondialisation aufgrund der Herrschaft der multinationalen Konzerne als ein unter westlichem Raumpatronat zu vereinheitlichendes Phänomen zu betrachten ist, beschreibt Glissant die mondialité als wunderbare Realität voller Abenteuer und Unvorhersehbarkeiten, in der vielfältigste Raumkonstitutionen mit weltweit vernetzter Raumpartizipation möglich werden. 2 Die Mobilisierung von Menschenmassen und migrierender „multitudes“ 3 kann aus dieser Perspektive als eine die traditionellen Raumhegemonien wohltuend verunsichernde und verschiebende geopolitische Strategie begrüßt werden. Auch wenn Glissant in der mondialité mit ihren Unvorhersehbarkeiten Chancen für die bis dato unterdrückten Völker und für differenzielle Artiku- 1 Zur Gegendarstellung der Globalisierung als reines Gegenwartsphänomen cf. Krüger 2007: 29-51 sowie Ette 2002: 26sqq. 2 Cf. „Ce que l’on appelle Mondialisation, qui est donc l’uniformisation par le bas, le règne des multinationales, la standardisation, l’ultralibéralisme sauvage sur les marchés mondiaux (une Corporation déplace avantageusement ses usines dans un lointain pays, un malade n’a pas le droit d’acheter des médicaments à meilleur rapport dans un pays voisin), et ainsi de suite, chacun peut s’en rendre compte, c’est la procession des lieux-communs rabâchés par tous, et que nous nous répétons infiniment, mais c’est aussi, tout cela, le revers négatif d’une réalité prodigieuse que j’appelle Mondialité. […] [Elle] se conçoit à la fois multiple et un, et inextricable.“ (Glissant 2005: 15) 3 Cf. gleichnamiges Werk Multitude von Michael Hardt und Antonio Negri (2004) sowie Hardt/ Negri 2000: 393-413. Helke Kuhn 102 lationen kapitalismuskritischer Bewegungen sieht, so übersieht er nicht die Angst vor individueller Entortung und gesellschaftlicher Entstrukturierung. Dieser begegnet er jedoch nicht mit einer Rückbesinnung auf Raumverankerungen, sondern mit einer Poétique de la Relation (gleichnamiger Essay 1990), die sowohl als Beschreibung des gegenwärtigen weltumspannenden Beziehungsgeflechts als auch Entwurf einer noch in der Zukunft liegenden Utopie 4 beziehungsweise Prophetie fungiert. Glissants Raumkonzeption ist im Kontext derjenigen Denker dieses Jahrhunderts zu situieren, die mit der Abstraktionsthese der euklidischen Geometrie brechen. Sie beinhaltet ein Abrücken vom eurozentrischen Evolutionsgedanken und seiner „histoire cumulative“ (Lévi-Strauss 1997: 395) zugunsten einer Gleichberechtigung der Kulturräume, deren einzelne Bedeutung sich aus ihrer räumlichen Vernetzung ermisst. 5 Unsere Zeit wird als eine Epoche der Simultanität beschrieben, die ihrerseits durch ein „réseau qui relie des points et qui entrecroise son écheveau“ (Foucault 1994: 752) 6 gekennzeichnet ist. Gilles Deleuze und Félix Guattari, auf die sich Glissant in seinem Werk mehrfach bezieht, versuchen in einer der Kartografie und Geologie entlehnten Begrifflichkeit unterschiedliche Wissensbereiche aus methodologischen und psychologischen Verengungen herauszuführen und ihre unbewussten Sinnsedimentierungen offenzulegen, indem sie deren Texte einer verräumlichenden Lektüre unterziehen. Der Titel ihres Werkes Mille Plateaux (1980) verweist auf einen unendlich vernetzten Textraum, ganz ähnlich der Anlage des glissantschen Werkes, in dem alles mit allem in Relation steht. Die drei im Titel genannten unterschiedlichen raumkonstituierenden Denkbilder sind gemäß der glissantschen Philosophie nicht getrennt zu nennen, sie bedingen und erhellen sich gegenseitig und bilden ein zusam- 4 Zum glissantschen Begriff der Utopie cf. „L’Utopie n’est pas le rêve. Elle est ce qui nous manque dans le monde. Voici ce qu’elle est: cela, qui nous manque dans le monde. Nous sommes nombreux à nous être réjouis que le philosophe français Gilles Deleuze ait estimé que la fonction de la littérature comme de l’art est d’abord d’inventer un peuple qui manque. L’Utopie est le lieu même de ce peuple.“ (Glissant 2005: 16) 5 Cf. „Ce qui est vrai dans le temps ne l’est pas moins dans l’espace, mais doit s’exprimer d’une autre façon. La chance qu’a une culture de totaliser cet ensemble complexe d’inventions de tous ordres que nous appelons une civilisation est fonction du nombre et de la diversité des cultures avec lesquelles elle participe à l’élaboration - le plus souvent involontaire - d’une stratégie.“ (Lévi-Strauss 1997: 414) 6 Cf. „Nous sommes à l’époque du simultané, nous sommes à l’époque du proche et du lointain, du côte à côte, du dispersé. Nous sommes à un moment où le monde s’éprouve, je crois, moins comme une grande vie qui se développerait à travers le temps que comme un réseau qui relie des points et qui entrecroise son écheveau. Peutêtre pourrait-on dire que certains des conflits idéologiques qui animent les polémiques d’aujourd’hui se déroulent entre les pieux descendants du temps et les habitants acharnés de l’espace.“ (Foucault 1994: 752) Rhizom, Wirbelwind, Archipel 103 menhängendes Denkfeld. So kommt hier exemplarisch anhand der Raumphilosophie eine wesentliche Konstituente des glissantschen Werks zur Darstellung, nämlich das Andere im Wiederkehrenden zu entfalten und zu vertiefen. Der hier nachgezeichneten Raumphilosophie Glissants kann daher keine Abschließung zugestanden werden, vielmehr geht es um die Ausbreitung eines Denkfeldes, in dem Bruchstückhaftes und Disparates eingelagert ist und unterirdische Korrespondenzen wirken, wie in einem rhizomatischen Netz. Das Bild des Rhizoms soll im Folgenden als Lektüreansatz in Bezug auf Glissants Raumphilosophie dienen. Bereits 1981, in seinem ersten Essay Le Discours antillais, verweist Glissant explizit auf die Figur des Rhizoms bei Deleuze und Guattari, und es wird deutlich, dass er die Philosophie dieser mit ihm befreundeten Denker gemäß ihrer eigenen Aufforderung als „Werkzeugkiste“ benutzt, das heißt, er verändert und kritisiert sie, was zu gewissen Verschiebungen führt. Mit Deleuze’ und Guattaris Worten könnte man sagen, er „macht Rhizom“, er spinnt das Netz weiter und weitet es auf sein Denken, auf seinen Raum, zunächst der Antillen, aber auch auf sein Denken des Tout-monde aus. Im Unterschied zu Deleuze und Guattari weist Glissant in seinem Discours antillais dem Rhizom nicht die Eigenschaft des Nomadischen zu. Das Rhizom, das im antillanischen Kontext oft von der Mangrove repräsentiert wird, verwurzelt sich nach Glissant sehr wohl, nicht unbedingt immer in der Erde, aber sogar in der Luft: Le rhizome n’est pas nomade, il s’enracine, même dans l’air (c’est parfois un épiphyte); mais de n’être pas une souche le prédispose à „accepter“ l’inconcevable de l’autre: le bourgeon nouveau toujours possible, qui est à côté. (Glissant 1981a: 196) In dem späteren Essay La Poétique de la Relation (1990) verwendet Glissant das Rhizom - abweichend von Deleuze und Guattari, bei denen es als reines Denkmodell fungiert - für die Veranschaulichung seiner Identitätskonzeption, der identité-rhizome beziehungsweise identité-relation, die sich ihrerseits dadurch auszeichnet, dass sie verwurzelt sein kann, sich ausbreitet, ohne dabei alles andere um sich herum vernichten zu müssen: Gilles Deleuze et Félix Guattari ont critiqué les notions de racine et peut-être d’enracinement. La racine est unique, c’est une souche qui prend tout sur elle et tue alentour; ils lui opposent le rhizome qui est une racine démultipliée, étendue en réseaux dans la terre ou dans l’air, sans qu’aucune souche y intervienne en prédateur irrémédiable. La notion de rhizome maintiendrait donc le fait de l’enracinement, mais récuse l’idée d’une racine totalitaire. La pensée du rhizome serait au principe de ce que j’appelle une poétique de la Relation, selon laquelle toute identité s’étend dans un rapport à l’Autre. (Glissant 1990: 23) Wenn Glissant auch mit Deleuze und Guattari gegen ein dichotomisches, auf Hierarchien basiertes Denken ein flexibleres, eben rhizomatisches verfolgt, so hebt er doch hervor, dass mit der Rhizomwurzel als Denkmodell Helke Kuhn 104 nicht auch die Verwurzelung verloren geht. Die Beziehung zum Anderen, die Identität generiert, bedarf einer Position, einer Verwurzelung. Glissants Denkbilder wie das Rhizom, die Mangrove, der Feigenbaum, aber auch, wie später noch zu zeigen sein wird, der Wirbelwind oder das Archipel entstammen alle aus dem antillanischen Naturraum. Mit dieser Wahl teilt Glissant mit Deleuze und Guattari die Auffassung, dass Subjekt und Objekt schlechte Annäherungen an das Denken seien und dass das Denken vielmehr in der Beziehung zur Terra, der Erde, geschehe. 7 Schon im Frühwerk wird deutlich, dass Glissant, sich von der auf Afrika als Ursprung beziehenden négritude absetzend, bewusst das Meer und den Schiffsbauch als symbolischen Anfangspunkt seines Volkes wählt, dessen Identität nicht mehr auf klaren Abstammungslinien und einem ihr zugrunde liegenden Territorium basiert, sondern auf der Erfahrung eines durch die Diaspora und die traite verursachten Bruchs. Ähnlich dem von Paul Gilroy begründeten, weniger ein Territorium als den Namen eines Programms bezeichnenden Black Atlantic erscheint der Raum zwischen den Kontinenten als (Denk-)Ort, von dem aus eine symbolische Topografie für den theoretischen Diskurs entworfen werden kann. Auf die Beschreibung der Karibik als unterirdische Einheit („The unity is submarine“) des Dichters Edward Ricardo Braithwaites referierend (cf. Glissant 1981a: 134), erinnert Glissant immer wieder an die vielen Afrikaner, die mit Sklavenkugeln über Bord geworfen wurden, was auf dem Grund des Ozeans ein Netz von Vorfahren hinterlassen hat. Der im Discours antillais abgebildete Tableau de la Diaspora verdeutlicht, dass für Glissant schon sehr früh nicht mehr das nationale Territorium, sondern die Irrfahrten (errances) zwischen den Welten seine identité-rhizome konstituieren. Für diese den Globus umspannenden, ein Netz bildenden Bewegungen, die Glissant in den Denkfiguren der errance und des détour zu beschreiben versucht, führt er hier repräsentativ Namen wie Frantz Fanon, Marcus Garvey oder auch kulturelle Phänomene wie den Jazz an. 8 7 Cf. „Le sujet et l’objet donnent une mauvaise approximation de la pensée. Penser n’est ni un fil tendu entre un sujet et un objet, ni une révolution de l’un autour de l’autre. Penser se fait plutôt dans le rapport du territoire et de la terre.“ (Deleuze/ Guattari 1991: 82) 8 An dieser Stelle ist anzumerken, dass Glissant in der Reihe der musikalischen Phänomene den auf den Antillen entstandenen Tanz beguine auslässt. Die Bezeichnung dieses Tanzes leitet sich von dem französischen s’embéguiner (mit jemanden flirten, um jemanden werben) ab und ist aus einer Fusion einheimischer karibischer Elemente und afrikanischer Einflüsse hervorgegangen. Da er in seinen drei Hauptformen béguine de bal, béguine de salon und béguine de rue bald auch nach Paris und von dort, besonders durch die Kolonialausstellung von 1931, auch in andere Erdteile gelangte, wäre er ein besonders gutes Beispiel für kulturelle Globalisierungsphänomene. Ich danke dem Sektionsteilnehmer Prof. Romuald Fonkoua für diesen Hinweis. Rhizom, Wirbelwind, Archipel 105 Abbildung des Tableau de la Diaspora (Glissant 1981a: 477) Wie zu Anfang angedeutet, vollzieht sich in Glissants Werk eine (Denk-)Bewegung vom Raum Martinique, seiner Heimatinsel, hin zu einer Öffnung zum Tout-monde und den damit einhergehenden Risiken, den Irrfahrten und den Schwindelgefühlen, was bereits die Titel seiner Romane in der Reihenfolge ihres Erscheinens andeuten. 9 In Glissants erstem, mit dem Prix Renaudot ausgezeichneten Roman La Lézarde (1958) gelangt espace zu seiner ursprünglichen Bedeutung des lateinischen spatium, das auf Erstreckung und Relationalität zielt und in gewisser Weise in unserem deutschen „spazieren gehen“ noch enthalten ist. (cf. Dünne/ Günzel 2006: 10) Die Protagonisten durchschreiten die Insel Martinique entlang des Flusses Lézarde und die dabei stattfindende Bestandsaufnahme und geografische Auslotung des Raumes und dessen Erleben wird zum wesentlichen Sujet des Romans. Es entsteht eine Erfahrungsräumlichkeit, bei der die verschiedenen Landschaften zueinander in Verbindung gesetzt und die in ihnen eingeschriebenen Geschichten der Insel aufgedeckt werden. Der (Natur-)Raum erhält auf diese Weise eine neue Bedeutung und eine neue Identität. Die Linien der zurückgelegten Wege werden miteinander zu einem die Insel überspannenden Netz verknüpft: 9 La Lézarde (1958); Le Quatrième Siècle (1964); Malemort (1975); La Case du Commandeur (1981); Mahagony (1987); Tout-Monde (1995); Sartorius: le roman des Batoutos (1999); Omerod (2003). Helke Kuhn 106 Nœud des chemins, parcourant le pays, liant le passé à l’avenir, et l’homme à la femme qu’il a nommée dans son cœur, et la rivière à la mer! […] Thaël, Mathieu, Garin: œuvres en marche; non pas hommes seulement, mais destins poussés à l’extrême du pays et tenus en exemple. Leurs pas tissent la toile dont la terre se vêtira: mais nul ne le sait. (Glissant [1958] 1997: 108) Die in alle vier Himmelsrichtungen auseinanderlaufenden Wege der Protagonisten, die „Quatre mouvements. Quatre-chemins“ (Glissant [1958] 1997: 136), können als geografische Neuentdeckung und Neukartografierung des Raums gedeutet werden. 10 Das immer mehr rhizomatisch Werdende betrifft später auch alle Ebenen des Textes beziehungsweise die Textstruktur selber. So geht die Verdoppelung der Geschichten und Romanfiguren in Mahagony (1987) mit der Multiplikation der Erzählerinstanz einher, die schon in La Case du Commandeur (1981) zu beobachten war und in Tout-monde (1993) weitergehen wird. Metapoetische Ebenen werden mit dem Text so miteinander vernetzt, dass von einer Multiplizierung des Textraumes zu sprechen ist. In La Lézarde assoziiert Glissant den Punkt in der Mitte, von dem aus die unterschiedlichen Bewegungsrichtungen ausgehen, mit der Figur der Windrose, die neben der Figur des tourbillon, des Wirbelwindes, des Zyklons auch in den neueren Werken Glissants als Denkfigur fungiert. Dieses Motiv eines schwindelerregenden Einrollens leitet sich durch die Begegnung mit dem nicht mehr linear zu begreifenden, unvorhersehbaren Tout-monde her. Wie Glissant in einem Gespräch mit François Noudelmann erklärt, befinden wir uns in einem „temps d’une progression tourbillonnaire“ 11 . Glissant hebt hervor - und hier ist die Nähe zu Deleuze’ Différence et répétition zu erkennen -, dass der tourbillon zwar etwas Repetitives darstelle, ohne dabei jedoch etwas zu klonen; in jeder Phase beziehungsweise jeder Kreisbewegung entstehen unendlich viele Varianten, das heißt es geht voran, aber eben nicht in eine linear vorhersehbare Richtung. Im Bild des tourbillon kommen folglich die Aspekte der Progression, des Nichtvorhersehbaren und des Stillstands gleichzeitig zur Darstellung. Eine Öffnung zum Tout-monde beziehungsweise Chaos-monde, zu der Glissant mehr und mehr aufruft, beinhaltet gleichzeitig, die noch stark verankerte pensée de système durch die pensée de rhizome beziehungsweise pensée archipélique zu ersetzen. Dazu gehört ein Überdenken von Raum und Zeit, ein Durchkreuzen diesbezüglicher starrer Gedankengebäude, die in den Dualismen von Hier und Dort verharren. So heißt Glissants Credo seit Jahren: „Agis dans ton lieu, pense avec le monde.“ (Glissant 2005: 31) Diese Zusammenziehung von „meinem Ort“ und der „Welt“ wird als das Gegenteil des Gegensatzes beschrieben: „Cette contraction est le con- 10 Cf. Gabriele Blümig: Retour au paysage natal. Zur Natur im postkolonialen Roman der frankophonen Antillen, http: / / www.opus-bayern.de/ uni-wuerzburg/ volltexte/ 2006/ 1741/ pdf/ Dissertation. 11 Cf. http: / / www.edouardglissant.com/ tourbillon.htm. Rhizom, Wirbelwind, Archipel 107 traire de la contradiction, elle crée de l’étendue.“ (Glissant 2005: 31) Anhand einer linguistischen Übereinstimmung im Kreolischen, die seine ganz spezielle Wahrnehmung des Raumes widerspiegelt, expliziert er diese Aussage: Deux mots ou deux expressions de la langue créole nous éclairent alors. La langue dit Ici-là, sans doute pour élargir en infini d’espace les forces de l’ici. Elle insiste très souvent, Ici-là minm, Ici-là même, nulle part ailleurs qu’ici qui est pourtant làbas ou là-haut (d’où le langage créole tirera là-minm, tout de suite, sur-le-champ), comme pour effacer décidément l’opposition entre l’ici et son entour proche ou lointain. On peut écrire Icilà ou Icila ou Isila. (Glissant 2005: 31sq.) Die „poétique créole“, wie es im folgenden Zitat heißt, ist also imstande, den Dualismus von Hier und Dort aufzuheben beziehungsweise ihn zu verstärken, indem das ici mit dem là in Beziehung gesetzt wird und damit der Raum zwischen den Polen aufgespannt, ausgeweitet wird. Eine solche Denkform entdeckt Glissant auch hinsichtlich der Zeit: De même, la poétique créole renforce en volume ou en mystère la présence de l’ici, quand cette poétique forge Ici-dans, ou Icidan, qui fait parler la profondeur dans le présent. Les deux expressions, mécanismes de langage, sont des contractions qui ne réduisent pas leur objet, mais l’étendent. (Glissant 2005: 32) Die von Glissant aufgezeigten Sprachmechanismen bringen zum Ausdruck, dass jeder sein eigenes Zentrum nach dem Prinzip ici-là ist, Räume also nicht etwas Stabiles, außerhalb des Subjekts zu Beschreibendes sind, sondern abhängig vom jeweiligen Wahrnehmungsstandpunkt. Der zunächst ungenau anmutende Begriff ici-là enthält diese dynamische Dimension der Beziehung zwischen Hier und Dort und weitet damit den Begriff aus. In dem Roman Tout-monde ist Glissants Ästhetik des Rhizoms, der Koexistenz und Fülle am konsequentesten verwirklicht. Diese Ästhetik der zahlreichen Wiederholungen, Anhäufungen, Vor- und Rückgriffe und In- Beziehung-Setzungen beschreibt Jean-Louis Joubert anschaulich: „,Tout est mis dans tout‘, comme dans un jardin créole où toutes les espèces se superposent sur quelques mètres de terre.“ (Joubert 2005: 24) Entsprechend dieser Ästhetik ist in diesem Roman Glissants Bestreben, Kategorien wie Zentrum und Peripherie in ihrer Form als Dualismus zum Verschwinden zu bringen, besonders deutlich erkennbar. Es gibt keinen zentralen Ort, keine durchgängige Handlung, keine identifizierbaren Personen, sondern nur kurze, aneinandergereihte Episoden von Reisen wechselnder und wiederkehrender Figuren an verschiedene Orte. Das beim Durchschreiten der Insel in La Lézarde entstandene Netz wird nun auf der größeren Ebene weltumspannend weitergewoben, indem die Irrfahrten, les errances, und Abenteuer der durch die Welt reisenden Protagonisten verfolgt werden. Der Mangrovenbaum, das Rhizom, der figuier-maudit sowie der banian sind als Bild der Vernetzung und Verschlingung der Landschaften, Orte und Räume allgegenwärtig - so trägt auch das erste Kapitel den Titel „Banian“, Helke Kuhn 108 der auf das Gedicht „Le Banian de la Pluie“ von Saint-John Perse anspielt. Diesem ersten Kapitel ist programmatisch ein im Original kursiv gesetzter Diskurs Mathieus aus dem Traité du Tout-monde (1997) vorangestellt, der den Ort als sich mit anderen Orten begegnenden beschreibt: 12 Le Lieu. - Il est incontournable. Mais si vous désirez de profiter dans ce lieu qui vous a été donné, réfléchissez que désormais tous les lieux du monde se rencontrent, jusqu’aux espaces sidéraux. Ne projetez plus dans l’ailleurs l’incontrôlable de votre lieu. Concevez l’étendue et son mystère si adorable. Ne partez pas de votre rive comme pour un voyage de découverte ou de conquête. Laissez faire au voyage. Ou plutôt, partez de l’ailleurs et remontez ici. Circulez par l’imaginaire […] Alors, tu en viendras à ceci, qui est de très forte connaissance: que le lieu s’agrandit de son centre irréductible, tout autant que de ses bordures incalculables. (Glissant 1993: 31) Die Idee eines Raumes, der kein reduzierbares Zentrum hat, sondern über unendlich viele Zentren verfügt, entspricht einem Raum, der sich im Prinzip ad infinitum anhäufen lässt, nach der linguistischen Regel des Kreolischen, nämlich von jedem Zentrumspunkt aus ici-là sagen und damit den Raum immer wieder neu definieren zu können. Diese Reflexion über die Räume und über das nicht bestimmbare Verhältnis von Zentrum und Peripherie ist im Kontext eines intertextuellen Netzes des kosmologischen Denkens der frühen Neuzeit und des späten Mittelalters zu betrachten. So finden wir beispielsweise in den Pensées (1670) von Blaise Pascal eine ähnliche Aussage über das Universum in Bezug auf die Kategorien von Zentrum und Peripherie: „C’est une sphère infinie dont le centre est partout, la circonférence nulle part.“ (Pascal 1954: 1105) Von der Relativität von Mittelpunkt und Grenzen im All spricht auch Filoteo in Giordano Brunos De l'infinito, universo e mondi. (1584): „[…] perché nell’universo non è mezzo né circonferenza: ma (se vuoi) in tutto è mezzo, et in ogni punto si può prendere parte di qualche circonferenza, a rispetto di qualche altro mezzo o centro.“ (Bruno 1985: 520) 13 Der Bruch mit älteren Traditionen des Raumdiskurses ist in der neuen Haltung zu der Art und Weise des Reisens zu sehen, die sich eben nicht als eine Entdeckungsbeziehungsweise Eroberungsreise darstellt. In der Figur des Mathieu wird diese neue Art des Reisens, „un voyage sans voyage organisé“ (Glissant 1993: 54), vorgestellt. Er reist nach Italien in den Ort Vernazza, den er aber zugleich mit Genua in Verbindung bringt: 12 Cf. „Cette ouverture, de lieu en lieu, tous également légitimés, et chacun d’eux en vie et connexion avec tous les autres, et aucun d’eux réductible à quoi que ce soit, est ce qui informe le Tout-monde. Nous questionnons cette notion de lieu (les Mille Plateaux), ses bordures et ses béances, comme le plus sûr des moyens, précisément ou très obscurément, de nommer chacun de nos lieux et de relier tous les lieux entre eux.“ (Glissant 2005: 136sqq.) 13 Cf. „Im All ist weder Mitte, noch Umkreis, sondern wenn Du willst, ist in allem eine Mitte und kann jeder Punkt als Mittelpunkt irgend eines Umkreises gelten in Beziehung auf irgend einen anderen als Mittelpunkt.“ (Bruno 1968: 155) Rhizom, Wirbelwind, Archipel 109 Il planait dans un vertige qui mélangeait les espaces des deux endroits, Gênes Vernazza, et les embruns des deux époques, la fin de ce qu’ils avaient appelé le Moyen Âge et l’en-plein de ce qu’ils appelaient les temps modernes…Mais c’était parce qu’il portait un autre temps en lui. Qu’il errait dans ses temps, plantés dans son corps. Et c’était aussi parce qu’il dilatait en lui d’autres espaces, éperdus dans l’espace du moment présent. (Glissant 1993: 32) Später wird diese Art, der Welt zu begegnen, auch als „activité brûlante de l’imaginaire, une transformation réelle de l’esprit et de la sensibilité“ und letztendlich als „une mise en Relation“ (Glissant 1993: 54) beschrieben. Als in der Bucht, in der Mathieu mit seinen Freunden zuvor die Quallen beobachtet hatte, eines Tages von diesen keine Spur mehr ist, wird dem aus Martinique kommenden Mathieu die Frage gestellt, „[…] est-ce qu’elles viennent de chez toi, les méduses? “ (Glissant 1993: 41). Dieser versteht sofort, dass diese Frage nicht wirklich auf die Quallen bezogen ist und eigentlich lauten müsste: „Dis-moi, Mathieu, quel est le mystère, ou le bonheur, qui vient de là-bas, et que tu connais sûrement, puisque tu es venu…? “ (Glissant 1993: 41). Mathieu, der eine Vorahnung von der unzeitgemäßen Unterscheidung von là-bas und ici hat, erklärt: Vois-tu, Pino, les méduses nagent partout dans le monde, elles choisissent les endroits où les enfants tournent autour d’elles, les méduses n’ont pas de pays d’origine, elles ne préfèrent ni les mers chaudes ni les eaux grises, ni les fonds en abîme ni les écumes qui tournent dans l’air. (Glissant 1993: 41) Der Erzähler kommentiert diese Erklärung im Anschluss: Voulant faire comprendre, peut-être à lui-même autant qu’à cet enfant sec et noueux et presque noir de peau, qu’il n’y avait plus de bout du monde et qu’il n’y aurait bientôt plus de centre d’où l’on partirait vers d’étranges et fantômales périphéries. (Glissant 1993: 41sq.) Die Quallen, die über keinerlei Ursprungsland verfügen, stehen allegorisch für Menschen wie die Antillaner, deren Identität ebenfalls nicht auf einem Ursprungsland, einem territoire und einer racine-unique begründet ist. Ihr „bonheur“ und ihr „mystère“ resultiert aus ihrer identité-rhizome, die Ängste vor einem grenzenlosen, von binären Kategorien wie Zentrum und Peripherie befreiten Denken unsinnig macht. Aufgrund ihrer vielen verschiedenen histoires sind sie von Anfang an daran gewöhnt in verschiedenen Logiken zu denken und zu leben, was sie wiederum befähigt mit der Unvorhersehbarkeit des Tout-monde umgehen zu können. In seiner Poétique de la Relation führt Glissant drei verschieden ausgerichtete Denkbewegungen aus, die Dichter bei der Begegnung mit der Welt verfolgt haben. Im Gegensatz zum ersten „trajectoire“, der vom Zentrum zu den Peripherien führe, und dem zweiten, der als „voyage en sens inverse“ von den Peripherien zum Zentrum verlaufe, hebt er eine dritte Möglichkeit hervor: Helke Kuhn 110 Dans un troisième temps, la trajectoire s’abolit: la projection en flèche s’infléchit. La parole du poète mène de la périphérie à la périphérie, reproduit la trace du nomadisme circulaire, oui; c’est-à-dire qu’elle constitue toute périphérie en centre, et plus encore, qu’elle abolit la notion même de centre et de périphérie, ce qui était en germe dans la pulsion poétique d’un Segalen. Kateb Yacine, Cheik Anta Diop, Léon Gontran Damas, tous ceux que je ne saurais nommer. Alors vient le temps où la Relation ne se prophétise plus par une série de trajectoires, d’itinéraires qui se succèdent ou se contrarient, mais, d’elle-même, s’explose, à la manière d’une trame inscrite dans la totalité suffisante du monde (Glissant 1990: 41sq.). Mit dem Wunsch nach einer von Bewegungsrichtungen zwischen Peripherie und Zentrum losgelösten relation, die zugleich ganz neue unvorhersehbare Raumkonstellationen freilegen würde, versteht sich Glissants Literatur mehr und mehr als ein sich unterhalb der staatlichen und kulturellen Strukturen verknüpfender, wenn auch fragmentarischer, aber trotzdem weltumspannender poetischer Diskurs, dem der Ausdruck des „Welt-Werdens“, des „devenir de la planète terre“ (Glissant 1990: 44) selbst inhärent ist. 14 Im Aufgreifen des Begriffs des Werdens zeigt sich die Nähe zu Deleuze und Guattari, denen Glissant mit ihrer „multiplication du rhizome“ (Glissant 1993: 63) in Mille plateaux „une sorte de prescience du Tout-monde“ (Glissant 1993: 63) 15 - eine Art Vorwissen zum Tout-monde - zuweist. Das Werden der Welt beim fortschreitenden Prozess der Vernetzung beschreibt Glissant im Essay La Cohée du Lamentin auch als eine Art der „contamination“, die jedoch nicht zur Auflösung führt: Toute simple et profonde intuition de ce qui a changé pour nous, aujourd’hui. Un monde où les êtres humains, et les animaux et les paysages, et les cultures et les spiritualités, se contaminent mutuellement. Mais la contamination n’est pas la dilution. (Glissant 2005: 136) Mit dem von Deleuze und Guattari entlehnten Begriff der „zone de voisinage“ (Glissant 2005: 136) für einen in sich unabgeschlossenen und für andere offenen Ort, den Glissant auch als „champ vibrant d’aimantation“ (Glissant 2005: 136), 16 als ein schwingendes Feld von Magnetisierung präzisiert, 17 14 Cf. „La circulation et l’action de la poésie ne conjecturent plus un peuple donné, mais le devenir de la planète terre.“ (Glissant 1990: 44) 15 Cf. „[Puis,] l’étendue, la multiplication du rhizome, que les philosophes des Mille Plateaux, Deleuze et Guattari, établiraient plus tard dans le paysage de l’imagerie, une sorte de prescience du Tout-monde, et qui ,prendraient contact‘ à l’infini avec toute chose recommencée, en bousculade et grand plaisir.“ (Glissant 1993: 63) 16 Cf. „,Une zone‘ n’est pas une banlieue qu’on a éteinte: fermée sur elle-même, réduite à l’indistinct et stagnant, c’est au contraire un champ vibrant d’aimantation.“ (Glissant 2005: 136) 17 Es sei an dieser Stelle auf den Titel von Glissants letztem Essayband verwiesen: La terre magnétique : les errances de Rapa Nui, l'île de Pâques. Rhizom, Wirbelwind, Archipel 111 gelangt Glissant zu einer fraktalen Raumphilosophie: So wie in der Physik im Kleinen von Schwingungen innerhalb des Feinstofflichen auszugehen ist, so interagieren die Orte und Räume und sind miteinander vernetzt und agieren auf Resonanz. Als Resonanzkörper agieren, wie im Roman Toutmonde dargestellt, die reisenden Menschen, in deren Imaginarium die verschiedenen Orte zum Schwingen kommen. Die Natur selbst liefert die Bilder für eine Poetik vernetzender Kräfte, wuchernder Urwälder, Wirbelstürme und der Vulkane, deren unterirdische Verzweigungen in Form der karibischen Archipele zum Vorschein kommen und jegliche Grenzen eines in Territorien und Kontinenten gefangenen Denkens sprengen. Zur Analogie mit den Philosophen der Mille Plateaux äußert sich Glissant selber wie folgt: C’est là un choix poétique de Deleuze et de Guattari, et peut-être qu’en ce qui me concerne je m’arrêterais à penser Mille Jungles et Mille Cyclones, mais le fondement est le même: là où les géographies des idées, des désirs, des créativités, échappent au Territoire, aux systèmes continentaux, et entrent dans les Archipels. (Glissant 2005: 137) Der Archipel als Bild dafür, dass „multiplicité“ und „singularité“ keinen Widerspruch darstellen (cf. Glissant 2005: 140), ist wie die Denkfiguren des Rhizoms und des Wirbelwindes mehrfach im Sinne von „sowohl als auch“ konnotiert. Das Rhizom steht für unendliche Vernetzung wie auch für Abgeschlossenheit, für Bewegung, aber auch Verwurzelung. Der Zyklon steht einerseits für Bewegung, andererseits für das Starre und die Ruhe im Inneren seines Auges, aber auch für Progression und Unvorhersehbarkeit der Bewegungsrichtung zugleich. Es vollzieht sich bei Glissant also eine Aufhebung jeglicher Dualismen, wobei die einzelnen Teile nicht verschwinden, sondern zueinander in Beziehung treten, oder anders gesagt, die antagonistischen Widersprüche werden in einem dialektischen, fortwährend dynamischen Denkbild aufgehoben. Literatur Bruno, Giordano: „De l'infinito, universo e mondi“, in: Giordano Bruno: Dialoghi italiani I., ed. Giovanni Gentile/ Giovanni Aquilecchia, Florenz: Sansoni 1985. Bruno, Giordano: Zwiegespräche vom unendlichen All und den Welten, Düsseldorf/ Köln: Eugen Dietrichs Verlag 1968. Deleuze, Gilles/ Félix Guattari: Mille Plateaux, Paris: Éditions de Minuit 1980. Deleuze, Gilles/ Félix Guattari: Qu’est-ce que la philosophie? , Paris: Éditions de Minuit 1991. Dünne, Jörg/ Stephan Günzel (eds.): Raumtheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. Ette, Ottmar: Weltbewusstsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne, Weilerswist: Velbrück Verlag 2002. Helke Kuhn 112 Foucault, Michel: Dits et écrits, ed. Daniel Defert/ François Ewald, vol. 4, Paris: Gallimard 1994. Glissant, Édouard: La Lézarde [1958], Paris: Gallimard 1997. Glissant, Édouard: Le Quatrième Siècle [1964], Paris: Gallimard 1997. Glissant, Édouard: Malemort [1975], Paris: Gallimard 1997. Glissant, Édouard: Le Discours antillais, Paris: Seuil 1981a. Glissant, Édouard: La Case du commandeur [1981b], Paris: Gallimard 1997. Glissant, Édouard: Mahagony [1987], Paris: Gallimard 1997. Glissant, Édouard: Poétique de la Relation, Paris: Gallimard 1990. Glissant, Édouard: Tout-monde, Paris: Gallimard 1993. Glissant, Édouard: Traité du Tout-monde, Paris: Gallimard 1997. Glissant, Édouard: La Cohée du Lamentin, Paris: Gallimard 2005. Glissant, Édouard: La terre magnétique: les errances de Rapa Nui, l'île de Pâques (avec Sylvie Séma), Paris: Seuil 2007. Hardt, Michael/ Antonio Negri: Empire, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 2000. Hardt, Michael/ Antonio Negri: Multitude, New York: The Penguin Press 2004. Joubert, Jean-Louis: Édouard Glissant, Paris: ADPF (Ministère des Affaires Étrangères) 2005. Krüger, Reinhard: „Ein Versuch über die Archäologie der Globalisierung. Die Kugelgestalt der Erde und die globale Konzeption des Erdraums im Mittelalter“, in: WechselWirkungen. Jahrbuch der Universität Stuttgart 2007, Stuttgart 2007, 29-51. Lévi-Strauss, Claude: Anthropologie structurale, Paris: Pocket 1997. Pascal, Blaise: Œuvres complètes, ed. Jacques Chevalier, Paris: Gallimard (Bibliothèque nrf de la Pléiade) 1954. Internet http: / / www.edouardglissant.com/ tourbillon.htm. Gabriele Blümig: Retour au paysage natal. Zur Natur im postkolonialen Roman der frankophonen Antillen, http: / / www.opus-bayern.de/ uni-wuerzburg/ volltexte/ 2006 / 1741/ pdf/ Dissertation [Zugriff: 20.03.08]. Torsten König Édouard Glissants pensée archipélique. Zwischen Metapher und poetischem Prinzip Raumkonfigurationen rückten in den letzten Jahren beziehungsweise Jahrzehnten verstärkt in den Blickwinkel von Kultur- und Gesellschaftstheorien. 1 Das wachsende Interesse am Raum scheint begleitet vom Rückgriff auf bildliche Diskurselemente, die mit Raumfiguren arbeiten. Neben der allgemeinen Rede von „kulturellen“, „gesellschaftlichen“ oder „urbanen“ Räumen finden sich sehr spezifische Raumbilder, mit denen bestimmte theoretische Sachverhalte artikuliert werden. Inseln und Archipele erfreuen sich unter ihnen einer besonderen Konjunktur. So fasst beispielsweise Christian Ruby die modernen Philosophien der Auflösung von Subjekt und Sinn Anfang der Neunzigerjahre unter der Metapher „Les archipels de la différence“. (Ruby 1990) Der Soziologe Jean Viard beschreibt kurze Zeit später die als globaler Wandel bezeichneten, gegenwärtigen kulturellen und sozialen Differenzierungsprozesse mit der Metapher des Archipels. Er sieht die zukünftige Welt als ein „immense entrelacs d’archipels individuels et sociaux, un gisement gigantesque de particularités, «d’appellations contrôlées», de diversités entretenues“. (Viard 1994: 116) Der Philosoph Massimo Cacciari dagegen konzipiert in seinen geophilosophischen Überlegungen den Kulturraum Europa als Archipel. Die Denkfigur erlaubt ihm, einerseits Eigenheiten dieses Raumes wie seine nichtreduzierbare Pluralität sprachlich zu modellieren, andererseits dessen Bedrohungen wie Tendenzen zur Hierarchiebildung unter seinen Teilen oder den Verlust einer grundsätzlichen Offenheit zu identifizieren. (Cacciari 1997) Schließlich greift man auf den Archipel zur Beschreibung neuer Wirtschaftsdynamiken in der globalisierten Welt zurück (Veltz 1996) oder, in der Literaturkritik beispielsweise, um die Situation okzitanischer Gegenwartslyrik zu charakterisieren. (Gardy 1992) Geht man davon aus, dass Aussageweisen den mit ihnen verhandelten Wissensgegenständen nicht nachgeordnet, sondern Voraussetzung für ihre Möglichkeit sind, muss ihnen bei der Frage nach den historischen Bedingungen des Wissens ein besonderes Interesse entgegengebracht werden. Durch die Klärung der poetologischen beziehungsweise ästhetischen Dimension von Wissensformationen kann deren Geschichtlichkeit sichtbar 1 Cf. dazu die einschlägigen Bestandsaufnahmen bei Döring/ Thielmann 2008; Schroer 2007; Stockhammer 2005; Maresch/ Weber 2002 oder Weigel 2002. Torsten König 114 gemacht werden. 2 In diesem Sinne kann auch mit Blick auf die Rolle von Raumfiguren als bildliches Diskurselement im Allgemeinen, auf Inseln und Archipele als deren Sonderformen sowie auf die mit ihnen verhandelten Gegenstände nach den historischen Orten gefragt werden, die sich für sie abzeichnen. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden die Aufmerksamkeit auf die Rolle von Inseln und Archipelen im Werk des französischsprachigen karibischen Autors Édouard Glissant gelenkt werden. Sie interessieren in zweierlei Hinsicht. Zum Ersten sollen sie als bildliche Diskurselemente, genauer als Metaphern im Kontext kulturtheoretischer Überlegungen in den Blick genommen werden, um die Frage nach ihren Funktionen in verschiedenen Argumentationszusammenhängen sowie die nach ihrem heuristischen Potenzial zu klären. Zum Zweiten soll demonstriert werden, dass die zentrale Stellung der Metaphern im Denken Glissants mit Schreibweisen seiner Texte konvergiert, die als „insular“ beziehungsweise „archipelisch“ beschrieben werden können. Wenn in Glissants Texten so etwas wie ein poetisches Prinzip des Archipels ausgemacht werden kann, stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen diesem und den kulturtheoretischen Positionen, die der Autor vertritt. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen drei Texte aus den Neunzigerjahren, in denen die Raumfiguren gehäuft und exponiert auftauchen. Es handelt sich zunächst um den Traité du Tout-monde von 1997, einen Text, der gattungsspezifisch schwer klassifizierbar ist. Am ehesten kann er als Sammlung von Essays und essayistischen Fragmenten beschrieben werden, die mit teilweise recht hermetischen narrativen und lyrischen Textpassagen wechseln. Gegenstand sind Fragen der Identitätskonstitution im Kontext der postkolonialen Karibik und des globalen Kulturwandels. Der zweite Text ist eine Sammlung von vier, 1995 unter dem Titel Introduction à une poétique du divers publizierten Vorträgen, 3 die so etwas wie die Summe der theoretischen Überlegungen Glissants zu diesen Themen darstellt. Schließlich wird auf den Roman Tout-monde von 1993 einzugehen sein, der, wie sein Titel indiziert, in einer engen Beziehung zum Traité steht. Offene Inseln - zwischen konkreter Kulturgeografie und Metapher Bevor die genannten Texte näher betrachtet werden, sollen zunächst noch einmal wichtige Eckpunkte von Glissants Theorie kulturellen Austausches aufgerufen werden, die der Autor schon in früheren Phasen seines Schaffens 2 Cf. zur Theorie des Verhältnisses von Wissen und Aussageweisen Joseph Vogls Konzeption einer „Poetologie des Wissens“ (Vogl 2002: 13). 3 Die erste Ausgabe erscheint 1995 bei Presses de l’Université de Montréal. Im Folgenden wird die Neuausgabe bei Éditions Gallimard von 1996 zitiert. Édouard Glissants pensée archipélique 115 entwickelt. Das geschieht weniger mit der Absicht, Aspekte seines Denkens zu referieren, die als relativ bekannt vorauszusetzen sind, als vielmehr, um eine Genealogie der mit ihnen verbundenen topologischen Vorstellungen von der konkreten Kulturgeografie bis zur Metapher zu skizzieren. Aus den Texten lassen sich zwei Momente als Ausgangspunkt von Glissants Kulturtheorie herauspräparieren. Sie geben sich in ihnen als Produkte kultureller Erfahrung. Es ist einmal die Insularität seiner Heimat Martinique, einer Insel inmitten von anderen Inseln. Zum Zweiten sind es die Probleme bei der Artikulation des eigenen kulturellen Selbstverständnisses, das für den Nachfahren von Sklaven weder auf den Identifikationsangeboten der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich gründen konnte, noch auf dem historisch undifferenzierten Panafrikanismus der Négritude-Bewegung. (Kemedjio 1999) Schon früh lassen sich bei Glissant Überlegungen zur Morphologie der Insel als einem Raum ausmachen, in dem sich kulturelle Prozesse abspielen. Im Essay Soleil de la conscience von 1956, einem der ersten seiner publizierten Texte, ist über die Stadt Paris zu lesen: „Je sais soudain son secret: et c’est que Paris est une île, qui capte de partout et diffracte aussitôt.“ (Glissant 1956: 68) Die Insel als Ort der Beziehung, der von überall her Impulse empfängt und seinerseits empfangene Impulse gleich einem das Licht weiterleitenden Prisma in gebrochener Form wieder ausstrahlt, taucht einerseits, wie im Beispiel Paris, als Metapher auf, häufiger tut sie das in Glissants erster Schaffensphase jedoch als konkrete kulturgeografische Gegebenheit. Denn sein Denken kreist hier um die Klärung der kulturhistorischen Situation der Antillen und die Artikulation von Identitäten in dieser. In Le discours antillais von 1981, der Essaysammlung, die diesen Prozess abbildet und vorläufige Ergebnisse fixiert, wird die karibische Insel, in Abgrenzung zur traditionellen Vorstellung von der isolierten Insel, als ein offener Raum mit durchlässigen Grenzen beschrieben: „On prononce ordinairement l’insularité comme un mode de l’isolement, comme une névrose d’espace. Dans la Caraïbe pourtant, chaque île est une ouverture. La dialectique Dehors-Dedans rejoint l’assaut Terre-Mer.“ (Glissant 1997a: 427) Die Wahrnehmung der karibischen Insel als eine offene Struktur, die mit anderen Strukturen kommuniziert, impliziert deren Definition über ihre Beziehungen mit anderen Räumen. „Qu’est-ce que les Antilles en effet? Une multi-relation“ (Glissant 1997a: 426), heißt dahingehend ein bekanntes Diktum aus Le discours antillais. Vor dem Hintergrund kulturhistorischer Kontexte können zwei Funktionen einer solchen Inselkonzeption ausgemacht werden. Sie erlaubt erstens, die Einheit der geokulturellen und geopolitischen Vielfalt des karibischen Raumes zu denken, eine Operation, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren nicht zuletzt von großer politischer Relevanz ist. 4 Zwei- 4 Cf. dazu i.a. in konzentrierter Form Essay 82 „Le vœu, le réel“ und Essay 86 „La Saison unique“ aus Le discours antillais. Torsten König 116 tens transportiert sie einen Vorschlag zur Lösung des karibischen Identitätsproblems, indem sie auf die Vielfalt der die antillanischen Kulturen konstituierenden Einflüsse verweist. Glissant adaptiert in diesem Zusammenhang bekanntlich den linguistischen Begriff der Kreolität, beziehungsweise später, um die Prozesshaftigkeit des Vorgangs zu unterstreichen, den der Kreolisierung. Die karibischen Kulturen entstehen demnach durch den nichtlinearen Prozess einer amalgamierenden Mischung verschiedener kultureller Einflüsse, deren Ergebnis nicht vorhersehbar ist. 5 Auf der Basis dieses Modells entwickelt der Autor für die postkoloniale Karibik ein Identitätskonzept, das wesentlich von kulturellem Transfer ausgeht. Damit erteilt er essenzialistischen Versuchen der Identitätsbestimmung durch Abgrenzung und Ausschluss, die er in der europäischen Tradition, aber auch in der négritude sieht, eine Absage. Als Möglichkeitsbedingung für die Theorie kultureller Kreolisierung bestimmt Glissant eine Einbildungskraft, die auf das Bild der offenen antillanischen Insel zurückgreifen kann beziehungsweise durch dieses geprägt ist. Die zitierte Passage, in der er die karibische Insel als eine Figur der Offenheit beschreibt, schließt mit dem Verweis auf die erstickende Einengung durch eine Vorstellungswelt, in der undurchlässige kulturelle Grenzen und klar umrissene Kulturräume existieren: „C’est seulement pour ceux qui sont amarrés au continent Europe que l’insularité constitue prison. L’imaginaire des Antilles nous libère de l’étouffement.“ (Glissant 1997a: 427) Das, was mit „imaginaire des Antilles“ bezeichnet wird, ist ein phänomenologischer Raum, der am Erkenntnisprozess beteiligt ist. 6 Seine Signatur ist in Glissants Texten ab den Neunzigerjahren der Begriff des Archipels. Archipele und Kontinente als Elemente eines kulturphilosophischen Diskurses In den eingangs vorgestellten Texten, die im Folgenden interessieren sollen, steht die Übertragung der am karibischen Beispiel entwickelten Theorie kulturellen Austausches auf die globale Situation im Zentrum von Glissants 5 Eine Zusammenfassung dieser Prozesse als „créolité“ beziehungsweise „créolisation“, die in abgewandelten Formulierungen in verschiedenen Texten des Autors beschrieben werden, findet sich in Introduction à une poétique du divers. (Glissant 1996: 15) Am selben Ort macht Glissant auch Anmerkungen zur Übernahme der Begriffe aus der Linguistik. (20) 6 „Phänomenologisch“ bezeichnet die Eigenschaften des Raumes, einerseits Produkt einer Bewusstseinsleistung zu sein, andererseits Ausdruck lebensweltlicher Erfahrungsstrukturen. Cf. dazu auch: „Nous éprouvons bien que cette mer est là en nous avec sa charge d’îles.“ (Glissant 1997a: 427) Édouard Glissants pensée archipélique 117 Überlegungen. Er spricht von einer Kreolisierung der gesamten Welt. 7 Um seine Kulturtheorie als historische Beschreibung und als Vision zu artikulieren, rekurriert er in diesen Texten verstärkt auf die Metapher des Archipels. Es lassen sich mehrere Dimensionen beziehungsweise Funktionen ihrer Verwendung ausmachen. Zunächst wird das Bild des Archipels zur Beschreibung des gegenwärtigen globalen kulturellen Wandels verwandt. Glissant begreift die Weltstruktur als bestehend aus kleineren kulturellen Inseln, die miteinander durch ein Netz des Austausches aller mit allen verbunden sind. Durch die Dynamik der Austauschverhältnisse befindet sich jede Insel in einem Prozess ständiger Veränderung. Im Traité du Tout-monde heißt es angesichts der globalen Kulturtopografie an einer Stelle, „[le] monde s’est diffusé en archipels précisément, ces sortes de diversités dans l’étendue, qui pourtant rallient des rives et marient des horizons“ (Glissant 1997b: 31), an einer anderen, „les régions du monde deviennent des îles, des isthmes, des presqu’îles, des avancées, terres de mélange et de passage, et qui pourtant demeurent.“ (op. cit.: 181) Die Vielzahl der Inseln ist für Glissant ein Bild, mit dem er die für ihn zentrale Idee der kulturellen Diversität artikuliert, der Archipelgedanke akzentuiert die Möglichkeit der Verbindungen zwischen den Diversitäten. 8 Zu den charakteristischen Zügen von Glissants Schreibweise gehört die Arbeit mit begrifflichen oder bildlichen Oppositionen. In seiner topologischen Metaphorik stellt er dem Archipel als Gegenstück den Kontinent gegenüber. Der kulturelle „Kontinent“ ist ein Raum, der die Diversität aufhebt, homogenisiert, in dem wegen der fehlenden spatialen Alterität kein Austausch zwischen Räumen stattfinden kann. Anhand der Entwicklung dieser Opposition zeigt sich, dass die archipelische Struktur die topologische Prämisse für die Kreolisierung ist. Beide gehören zusammen, wie im Traité du Tout-monde deutlich wird: Les exemples de créolisation sont inépuisables et on observe qu’ils ont d’abord pris corps et se sont développés dans des situations archipéliques plutôt que continentales. Ma proposition est qu’aujourd’hui le monde entier s’archipélise et se créolise. (Glissant 1997b: 194) Wenn Glissant vom Prozess der Archipelisierung spricht, hat er weniger konkrete Erscheinungen globaler Vernetzung aufgrund kommunikativer Revolutionen und grenzüberschreitendem Handel im Blick. Gemeint ist vielmehr eine Art Bewusstseinswandel im Zeitalter der posthistoire, der zur veränderten Wahrnehmung der kulturellen Wirklichkeit führt beziehungs- 7 Diese Übertragung wird zusammenfassend unter anderem in Introduction à une poétique du divers beschrieben. (Glissant 1996: 15) 8 „Archipel“ wird im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung aufgefasst. Das griechische „archipelagos“ meint das Meer zwischen den Inseln, also das, was sie verbindet. Torsten König 118 weise führen sollte. Im Traité du Tout-monde definiert er dahingehend ein „archipelisches Denken“: La pensée archipélique convient à l’allure de nos mondes. Elle en emprunte l’ambigu, le fragile, le dérivé. […] c’est s’accorder à ce qui du monde s’est diffusé en archipels précisément, ces sortes de diversités dans l’étendue, qui pourtant rallient des rives et marient des horizons. Nous nous apercevons de ce qu’il y avait de continental, d’épais et qui pesait sur nous, dans les somptueuses pensées de système qui jusqu’à ce jour ont régi l’Histoire des humanités, et qui ne sont plus adéquates à nos éclatements, à nos histoires ni à nos non moins somptueuses errances. (Glissant 1997b: 31) Homogenisierende Diskurse, die den Blick auf die Weltgeschichte bisher bestimmten - Glissant nennt sie „kontinental“ -, müssen angesichts der Vielfalt, in der sich die gegenwärtigen Welten zeigen, angesichts ihrer unterschiedlichen Geschichtsverläufe aufgegeben werden. Die Denkweise, die der Erscheinung der gegenwärtigen Welt angemessen ist, heißt bei ihm „archipelisch“. „La pensée de l’archipel, des archipels“, schließt er emphatisch mit Topoi der Überwindung von Althergebrachtem, „nous ouvre ces mers.“ (ibid.) Das archipelische Denken ist eng verbunden mit der Konzeption einer auf dem Bewusstsein von kulturellem Austausch basierenden Identität, bei der wieder die am karibischen Raum gewonnenen Erkenntnisse auf globale Verhältnisse übertragen werden. Unter Rückgriff auf Begriffe, die Glissant bei Gilles Deleuze und Félix Guattari entlehnt, nennt er Identitätsformen, die sich über die Beziehung zum Anderen definieren, „identité-rhizome“ und unterscheidet sie von Formen der „identité-racine“, die auf der Basis von Grenzziehung und Ausschluss funktionieren. 9 Die identité-rhizome oder identité-relation, wie sie an anderer Stelle heißt, wird einerseits angesichts der diagnostizierten globalen Kreolisierung nötig, die ein Beharren auf undurchlässigen kulturellen Grenzen obsolet erscheinen lässt. Andererseits sieht Glissant in ihr eine Voraussetzung, um Konflikte zwischen Kulturräumen zu vermeiden. 10 Das, was Glissant in kultureller Hinsicht mit archipelischem Denken bezeichnet, das heißt ein Bewusstsein von der Organisation der Welt in Archipelen, „ces sortes de diversités dans l’étendue, qui pourtant rallient des rives et marient des horizons“, wie es in obigem Zitat heißt, erscheint als Möglichkeitsbedingung für die Entstehung einer identité-relation. 9 Glissant entwickelt die Begriffe unter anderem in Poétique de la Relation (Glissant 1990: 23sq.) und Traité du Tout-monde (Glissant 1997b: 21sq.). Zum Rhizom als weitere Raumfigur im Denken Glissants cf. den Artikel von Helke Kuhn im vorliegenden Band. 10 Vor dem Hintergrund der Kulturkonflikte in Ländern wie Jugoslawien oder Ruanda, die in den Neunzigerjahren zu verheerenden militärischen Auseinandersetzungen führten, stellt Glissant fest, es gebe für diese Konfliktformen keine Lösung im Rahmen einer auf Ausschluss und Grenzziehung beruhenden Identitätskonstruktion. (Glissant 1996: 89sq.) Édouard Glissants pensée archipélique 119 Besonders hinsichtlich der Identitätsfrage finden sich häufig Formulierungen, die zeigen, dass für Glissant im Prozess der Bewusstseinsbildung die Einbildungskraft ein erkenntnisorientierendes Moment ist. Er spricht von „imaginaire d’une identité-relation“. (Glissant 1997b: 21sq.) Die relationale Identität ist eine, die in ihrer Beziehung zum Anderen ausgedacht werden muss. Zur Akzentuierung des schöpferischen, des poietischen Charakters dieser Operation im Imaginären prägt Glissant den Begriff „poétique de la relation“. Er taucht schon in Le discours antillais im Zusammenhang mit der Bestimmung des Verhältnisses von Eigenem und Fremdem auf, 11 um später sogar titelgebend für einen ganzen Essayband zu sein. Zur Bedeutung, die er dem Imaginären bei der Schaffung einer relationalen Identität beimisst, merkt der Autor in Introduction à une poétique du divers an: C’est seulement une poétique de la Relation, c’est-à-dire un imaginaire, qui nous permettra de «comprendre» ces phases et ces implications des situations des peuples dans le monde d’aujourd’hui, qui nous autorisera s’il se trouve à essayer de sortir de l’enfermement auquel nous sommes réduits. (Glissant 1996: 24) Mit Blick auf das Begreifen dessen, was er „Chaos-monde“ nennt, „le choc actuel de tant de cultures qui s’embrasent, se repoussent, disparaissent, subsistent pourtant“, definiert Glissant die „poétique de la Relation“ an anderer Stelle als „ce possible de l’imaginaire qui nous porte à concevoir la globalité insaisissable d’un tel Chaos-monde, en même temps qu’il nous permet d’en relever quelque détail, et en particulier de chanter notre lieu, insondable et irréversible.“ (Glissant 1997b: 22) Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Archipelmetapher für Glissant mehr ist als eine rhetorische Figur. Sie verbindet sich mit einem phänomenologischen Raum, dessen Entfaltung in der Einbildung konstitutiv für die diskursive Erfassung der kulturellen Wirklichkeit ist. Dieser Raum soll als Bild „l’allure de nos mondes“ artikulieren, indem er deren Eigenheiten, „l’ambigu, le fragile, le dérivé“, auf sich vereinigt. (op. cit.: 31) 12 Schließlich kann eine letzte Ebene ausgemacht werden, auf welche die Archipelmetapher referiert. Es ist die allgemeinste, eine philosophische, in der es Glissant um nicht weniger geht als die Kritik an den essenzialistischen „philosophies de l’Un“ (Glissant 1990: 59). Sie sind Quelle für das Bestreben zur Homogenisierung des Verschiedenen und prägen, so der Autor, westliches Denken. 13 In einem mit „Totalités“ überschriebenen Abschnitt des Trai- 11 Essay 45, der dieses Thema behandelt, trägt den Titel „Poétique de la Relation“ und arbeitet mit dem Begriff. (Glissant 1997a: 419-431) 12 Cf. zum Zusammenhang von Erfahrungsraum und sprachlich beziehungsweise schriftlich konstituierten Räumen auch Borsò 2007: 288: „Die in der Schrift enthaltenen topologischen Konzepte sind an die Körperlichkeit gebunden. Im (Bild-)Raum der Schrift findet der körperbezogene Umgang mit dem Raum seinen Ausdruck.“ 13 Cf. zu diesem Problem unter anderem die Passage „Au commencement du temps «universel» occidental“ aus dem Traité du Tout-monde (Glissant 1997b: 92-103) oder den Torsten König 120 té du Tout-monde setzt er zu diesem Problem direkt bei der Ontologie an. In recht freiem Umgang mit philosophiegeschichtlich besetzten Begriffen stellt er dem Sein als einer Kategorie essenzialistischen Denkens das Seiende als dessen Negierung gegenüber. Glissant führt diese Überlegung mit der Bildlichkeit des Archipels eng: „Et que serait-ce que l’Archipel? La dispersion du non-Être, qui rassemble l’étant du monde. L’étant comme étants.“ (Glissant 1997b: 237) Der Archipel erscheint hier als Figur sich bewahrender Vielfalt des Seienden, die gleichwohl integriert, als eine Figur, die Einheit schafft ohne zu vereinheitlichen. Homogenisierung und Assimilation erfolgen in begrifflicher Verallgemeinerung und im System. Die pensée archipélique unterwandert das System: „Contre la prison des systèmes et des identités, sois fragile, ambigu, incertain, intuitif: archipélique“, heißt Glissants erkenntnistheoretisches Motto. (Glissant 1996: 114) Schon in Le discours antillais deutet sich an, dass die Distanz zum System mit der lebensweltlichen Ausrichtung der poétique de la relation zusammenfällt. 14 In Introduction à une poétique du divers bringt der Autor sehr klar zum Ausdruck, dass das Verständnis der kulturellen Bewegungen, welche die Gegenwart prägen, für ihn nicht durch eine systematisch-theoretische Perspektive, die mit begrifflicher Analyse arbeitet, gewonnen werden kann, sondern aus einer, die auf Erfahrungswissen und Imagination rekurriert. Er nimmt zur Artikulation dieser Idee die schon erwähnte Dichotomie continent versus archipel auf und lässt sie mit der Opposition von homogenisierendem, theoretisch-systematischem Diskurs und einem an die Einbildungskraft appellierenden Denken, das in der Dichtung seinen Ausdruck findet, konvergieren: Aujourd’hui, cette pensée de système que j’appelle volontiers «pensée continentale» a failli à prendre en compte le non-système généralisé des cultures du monde. Une autre forme de pensée, plus intuitive, plus fragile, menacée, mais accordée au chaos-monde et à ses imprévus, se développe, arc-boutée peut-être aux conquêtes des sciences humaines et sociales mais dérivée dans une vision du poétique et de l’imaginaire du monde. J’appelle cette pensée une pensée «archipélique», c’est-à-dire une pensée non systématique, inductive, explorant l’imprévu de la totalité-monde et accordant l’écriture à l’oralité et l’oralité à l’écriture. (Glissant 1996: 43sq.) Essay „L’étendue et la filiation“ in Poétique de la Relation, wo das Einheitsdenken mit der Idee der Vererbung enggeführt wird. (Glissant 1990: 59-75) Die Gegenüberstellungen von Sesshaftigkeit und Nomadentum, von Rhizom und Wurzel (Glissant 1990: 23- 34 und Glissant 1997b: 177) sowie von schriftlicher und mündlicher Kultur (Glissant 1997b: 108-115) sind ebenfalls in engem Zusammenhang mit dieser Kritik zu sehen. 14 Cf. „Aussi bien la théorie de la Relation ne saurait-elle constituer science, c’est-à-dire généraliser par statuts et définitions de rôles discriminés. Elle n’est pas sue; seulement connaissable.“ (Glissant 1997a: 430) Édouard Glissants pensée archipélique 121 Die pensée archipélique erscheint damit als ein genereller erkenntnismäßiger Zugang zur Welt, der sich auszeichnet durch Verzicht auf totalisierende Verallgemeinerungen, auf homogenisierende Systeme. Bis zu diesem Punkt sollte klar geworden sein, dass das Bild des Archipels bei Glissant wichtige Funktionen übernimmt, um den von ihm diagnostizierten kulturellen Kreolisierungsprozess zu erklären, eine relationale Identität zu beschreiben und allgemein Kritik an essenzialistischen Denkweisen zu artikulieren. Fragt man nach dem heuristischen Wert, der mit ihm für kulturtheoretische Diskussionen verbunden ist, lassen sich fünf Aspekte ausmachen. Der Archipel ist erstens als vielfältige spatiale Struktur dazu geeignet, Diversität und Heterogenität zu veranschaulichen. Diese Eigenschaft wird besonders deutlich, begreift man ihn als Oppositionsfigur zum Kontinent. Zweitens ist der archipelische Raum kein a priori existierender Container, sondern wird erst durch die Verbindung zwischen Punkten, den Inseln, geschaffen. Hieraus ergeben sich zwei zentrale Eigenschaften des relationalen Raummodells: es akzentuiert die Beziehung und hebt die Prozesshaftigkeit des Austausches hervor, es bildet also Dynamik ab. Drittens erweist sich der Archipel als eine hierarchiefreie Struktur, in der keinem ihrer Elemente hegemoniale Stellung zukommt. 15 Viertens ist ein Archipel eine zusammengehörige Vielheit, die nie eine Einheit war. Seine Teile sind nicht die Splitter eines verloren gegangenen Ganzen, das womöglich wieder herstellbar wäre. Fünftens schließlich wäre mit Blick auf heuristische Potenziale der Archipelfigur auf einen Aspekt zu verweisen, über den vor allem in letzter Zeit verstärkt nachgedacht wurde, nämlich seine fraktale Struktur. 16 Fraktale sind Gebilde, die sich aus verkleinerten Formen ihrer selbst zusammensetzen, man spricht von selbstähnlichen Strukturen. Ein Archipel kann als eine Insel beschrieben werden, die aus Inseln besteht. Mehrere Archipele wiederum kommunizieren miteinander und bilden so ihrerseits einen Archipel aus Archipelen. Glissant selber sieht sich als Bewohner kultureller Archipele, „levés parmi tant d’autres“ (Glissant 1997b: 25). 17 Mit der Figur des Archipels scheint angesichts seines fraktalen Charakters das Paradox einer Universalität, die nicht totalitär ist, anschaulich gelöst. 15 Cf. zu diesem Punkt Glissant 1996: 22. 16 Cf. i.a. Veltz 1996: 55-58; Ette 2005: 123-155. 17 Der fraktale Charakter des Archipels, genauer die Unmöglichkeit, die Länge seiner Begrenzungslinien zu berechnen, wird von Glissant unter anderem enggeführt mit einer für die poétique de la relation zentralen Kategorie - der „Nichtvorhersehbarkeit“: „Mais cette mer qui explose, la Caraïbe, et toutes les îles du monde, sont créoles, imprévisibles. Et tous les continents, dont les côtes sont incalculables.“ (Glissant 1997b: 64) Torsten König 122 Archipelische Schreibweisen Bisher wurden in der vorliegenden Untersuchung Funktionen des Archipels als bildliches Diskurselement bei Glissant besprochen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Figur des Archipels für seine Texte auf einer weiteren Ebene, als poetisches Prinzip, eine wichtige Rolle spielt. Dessen Strukturmerkmale können zunächst anhand des Traité du Tout-monde erläutert werden, eines Textes, in dem der Begriff Archipel, wie aus den vorangehenden Verweisen deutlich wurde, sehr häufig auftaucht. Die Schreibweise des Traité ist durch ein systematisches Durchbrechen linear-logischer Kohärenz auf Makro- und Mikroebene charakterisiert. Er setzt sich aus kurzen, fragmentarischen Textstücken zusammen, deren Bruchkanten hart aneinanderstoßen, da sie jeweils immer neue Gegenstände in immer neuen Aussagemodi verhandeln. Es wechseln stringente Argumentationsketten mit elliptischen, notizenhaften Reflexionen, Erlebnisberichte mit lyrisch-emphatischen Passagen, fiktionale Narrationen stehen autobiografischen Passagen und längeren Zitaten aus vorangehenden Werken Glissants gegenüber. Neben einer textuellen Autoreninstanz spricht in einigen Teilen eine fiktive Figur - Mathieu Béluse, ein Alter Ego des Autors, das der kundige Leser aus seinen früheren Romanen kennt. Mit Blick auf Versuche, den Traité du Tout-monde in Genretypologien einzuordnen, gilt, was für die meisten Texte des Autors gilt: sie sind „des textes marrons, rétifs à l’enfermement dans un genre.“ (Joubert 2000: 318) Das Kompositionsprinzip des Gesamttextes ein „archipelisches“ zu nennen, scheint aus verschiedenen Gründen erlaubt. Die Textinseln sind miteinander lose verbunden durch Wiederholung von Schlüsselbegriffen wie „errance“, „Tout-monde“ oder „archipel“. Sie werden in den argumentativen Passagen in immer neuen Paraphrasen als Konzept erläutert, in narrativen oder lyrischen tauchen sie als Motiv auf. Vielfältige Bindungen zwischen ihnen entstehen auch durch Reformulierungen von Themen wie der Opposition von Diversität und Uniformität. 18 Nach demselben Prinzip tritt der Gesamttext zu anderen Texten aus Glissants Werk in Beziehung und es entfaltet sich ein vielfältiges Spiel an Wiederaufnahmen und Verweisen. Es sind neben thematischen Aspekten und zentralen Begriffen 19 zum Beispiel auch 18 Cf. dazu zum Beispiel die Erläuterung des Begriffes „pensée archipélique“ (Glissant 1997b: 31) in einer argumentativen Passage, die dem Verweis der Figur Mathieu Béluse auf seine archipelische Herkunft in einer fiktional-narrativen Passage (op. cit.: 43) korrespondiert. Die mit der Archipelisierung (op. cit.: 194) verbundene Idee der Zersplitterung taucht wiederum in einem lyrischen Textteil mit dem Titel „Houles“ auf (op. cit.: 75). 19 Das Thema einer linearen, homogenisierenden Geschichtserzählung westlichen Ursprungs wird im Traité mit Begriffen wie „temps linéaire“ (Glissant 1997b: 105) und „filiation“ (op. cit.: 81) verhandelt, die sich beispielsweise auch in Poétique de la Relation (Glissant 1990: 59sq.) finden. Édouard Glissants pensée archipélique 123 wiederkehrende Figuren und die Fortführung mit ihnen verbundener Handlungslinien über die Textgrenzen hinaus, durch die es realisiert wird. Die Figur des Mathieu Béluse, die als Autor einiger Passagen im Traité ausgegeben wird, ist einer der Protagonisten im Roman Tout-monde und taucht in Glissants Texten bis hin zu seinem ersten Roman La Lézarde immer wieder auf. Schließlich, um ein letztes Beispiel für die Verweise zwischen Glissants Texten zu liefern, erscheint ein Traité du Tout-monde genannter Text als fiktionale Lektüre der Figuren im Roman Tout-monde. (Glissant 1993: 280) 20 An verschiedenen Stellen des Traité du Tout-monde finden sich Reflexionen dieser Struktur. Mehr oder weniger ausdrücklich wird sie mit dem Archipel in Verbindung gebracht. So erläutert die Stimme Mathieus die erratische Schreibweise des Textes: „Vous demandez pourquoi je vais ainsi à traverse, passant de ces sentences bien filées à toutes sortes de babouquettes 21 de mots? “, fragt er und gibt selbst die Antwort: „Je suis empreint de paysages.“ (Glissant 1997b: 65) „Les pays que j’habite s’étoilent en archipels“, präzisiert Mathieu an anderer Stelle. (op. cit.: 43) Die écriture erscheint als geprägt durch die den Schreibenden umgebenden Landschaften. Auf der makrogeografischen Ebene heißen diese „Insel“ und „Archipel“. Die Aufteilung der Stimme in verschiedene alter egos - in eine textuelle Autoreninstanz, neben der die Figur Mathieu Béluse spricht - trägt ebenfalls zur Schaffung von Textstrukturen bei, die als archipelisch bezeichnet werden können. Aufschlussreich kommentiert der erzählte Autor: Ces noms que j’habite s’organisent en archipels. Ils hésitent aux bords de je ne sais quelle densité, qui est peut-être une cassure, ils rusent avec n’importe quelle interpellation, qu’ils débordent infiniment, ils dérivent et se rencontrent, sans que j’y pense. […] J’ai tant de noms en moi, et tant de pays, signifiés par le mien. (op. cit.: 77-80) Die Vielzahl der Bezüge, aus denen sich das Ich nach der Konzeption kreolischer Identität konstituiert, findet ihr Bild in verschiedenen Ländern, die durch je einen Namen bezeichnet sind und zu einem Archipel zusammentreten. Jede Stimme ist ein Textteil. Durch die beschriebenen Verfahren und ähnliche entzieht sich Glissants Text systematisch jedem Versuch, als eine Einheit gelesen zu werden, die in linearen, schlüssigen Argumentationsschemata aufgeht, logisch-argumentative oder narrative Kohärenz mit einem Anfang und einem Ende entwickelt. Der Autor betrachtet seine Schreibweise als poetisches Verfahren, das einen Bruch mit überkommenen Formen der textuellen Artikulation darstellt. Innovation und Tradition finden dahingehend im glissantschen Begriffsuniversum ihren Ausdruck in der Opposition von oralité und écrit. Ergebnis von 20 Cf. zur Konzeption von Glissants Gesamtwerk als Archipel aufeinander verweisender, miteinander dialogisierender Texte Joubert 2000: 317. 21 Haitianische Wortschöpfung: barock geformter Schmuckanhänger. Torsten König 124 Letzterem ist eine Textform, deren medial bedingte Eigenheiten sich für Glissant nicht in den materiellen Voraussetzungen der Kommunikation zeigen, sondern in Strukturmerkmalen. Der „schriftliche Text“ bringt die Welt, über die er spricht, auf der Basis begrifflicher Identifikationen in eine erstarrte, lineare, kausallogische Ordnung. Es handelt sich um eine homogenisierende, totalisierende Operation, die jeden nicht im System aufgehenden Überhang eliminiert und damit Diversität aufhebt oder zumindest reduziert: „Écrire c’est dire: le monde. Le monde comme totalité, qui est si dangereusement proche du totalitaire.“ (Glissant 1997b: 119) Für Glissant hat sich der schriftliche Text als spezifische Artikulationsform der westlichen Philosophien des Einen herausgebildet, die dazu tendieren, die Pluralität der Welten auf einen Singular reduzieren zu wollen. 22 Besonders deutlich zeigt sich das an der Geschichtsschreibung und ihren gesellschaftlichen Funktionen. Der récit als sich linear entwickelnder Text mit einem Anfang und einem Ende konnte sich vor dem Hintergrund der legitimatorischen Aufgaben der großen teleologischen Geschichtserzählungen als scheinbar natürliche Form der Schriftlichkeit etablieren. 23 Angesichts dieser Tradition des écrit findet Glissant in der oralité einen Ausdrucksmodus, welcher die Diversität der besprochenen Welt bewahrt. Denn es sind „ces pouvoirs de l’oralité qui conviennent tant à la diversité de toutes choses, la répétition, le ressassement, la parole circulaire, le cri en spirale, les cassures de la voix.“ (op. cit.: 121) Die mündliche Rede ist wegen ihres eher kreisenden als linearen Charakters, ihrer Sprunghaftigkeit und ihrer dialogischen Offenheit das Medium für die Kommunikation archipelischen Denkens. Der archipelische Text imitiert sie: „une pensée «archipélique», c’est-à-dire une pensée non systématique, inductive, explorant l’imprévu de la totalité-monde et accordant l’écriture à l’oralité et l’oralité à l’écriture.“ (Glissant 1996: 43sq.) Glissant kann bei dieser Operation auf die karibische Tradition oraler Erzählkultur zurückgreifen und sie seiner Poetik anverwandeln. Strukturelle Merkmale mündlicher Literatur wie Redundanzen und wiederholte Paraphrasen schon erzählter Sequenzen oder thematische Brüche werden als poetische Verfahren in Schriftlichkeit überführt. Die auf Verfahren der oralité zurückgreifende Poetik archipelischen Schreibens erscheint als Versuch, die mündliche Kultur und die ihr verbundene Vorstellungswelt mit der Schriftkultur zu amalga- 22 Cf. Anm. 12. 23 „Quand à nous, on nous apprit à raconter: une histoire. À consentir à l’Histoire“ (Glissant 1997b: 61), ist zum Zusammenhang zwischen Textform und Geschichtsschreibung im Traité zu lesen. In kritischer Distanznahme fährt Glissant an anderer Stelle fort: „Nous ne croyons plus que le récit est la forme naturelle de l’écriture. L’histoire qu’on raconte et maîtrise était naguère inhérente à l’Histoire qu’on fait et qu’on régit. Celle-ci était garante de celle-là, pour les peuples d’Occident, et celle-là l’éclat légitime de celleci.“ (op. cit.: 121sq.) Zum Geschichtsdenken bei Glissant und dessen kulturgeschichtlichen Prämissen cf. Kempen 2006 und Maignan-Claverie 2003. Édouard Glissants pensée archipélique 125 mieren: „L’éclat des littératures orales est ainsi venu, non pas certes remplacer l’écrit, mais en changer l’ordre“. (Glissant 1997b: 121) 24 Als ein Text, der formal der pensée archipélique zu entsprechen sucht, kann auch der Roman Tout-monde betrachtet werden. Er gibt sich als Archipel narrativer Fragmente, die auf vielfältige Weise miteinander und mit anderen Romanen und Essays des Autors verbunden sind. Gleichzeitig verweigert er sich einer Leseweise, die ihn auf kohärente, lineare Strukturen zu reduzieren versucht. Die Handlungsentwicklung kann als sprunghaft und erratisch charakterisiert werden, die Leerstellenfrequenz erscheint hoch. Erzählt wird der Weg, den die Protagonisten Mathieu Béluse und Raphaël Targin von der Insel, auf der sie geboren wurden, hinaus in die Welt nehmen. Ihre Geschichte ist durchwoben mit Digressionen, in denen andere Figuren im Mittelpunkt stehen, zu denen sie je unterschiedliche Beziehungen unterhalten. Teilweise wird durch sie die Folgerichtigkeit realistischen Erzählens durchbrochen wie in dem unwirklichen Bericht vom vierfachen Tod des Papa Longoué. Die Grenzen der narrativen Inseln werden durch die jeweiligen Schauplätze markiert (unter anderem Martinique sowie verschiedene europäische und afrikanische Länder), ihre Verbindung durch die Itinerare der Protagonisten zwischen ihnen. Ein anderes Strukturmerkmal, durch das die Textteile zu Inseln werden, ist die Polyphonie der Stimmen, die sie artikulieren. Wissenshorizont und Ausdrucksweisen der Erzählinstanzen ändern sich ständig, stellenweise ist es nicht möglich, den Ursprung der Stimme genau zu bestimmen. Schließlich tritt auch der Roman durch Verweise, wiederkehrende Figuren und Zitate in Beziehung zu anderen Texten des Autors. 25 Glissants Schreibweise in Traité du Tout-monde und Tout-monde, die angesichts der Befunde mit dem Begriff „archipelisch“ bezeichnet werden kann, erscheint, blickt man auf seine Kulturphilosophie - jene poétique de la relation auf der Basis universeller Kreolisierung -, als deren adäquater Artikulationsmodus. Sie wird, wie der Autor selbst bemerkt, zu ihrer Möglichkeitsbedingung: „Je dois avouer qu’on ne peut pas penser ce que j’appelle les poétiques du chaos en finitudes formelles, c’est-à-dire par une conférence écrite, radicale, sans possibilité de retours ou de contradictions.“ (Glissant 1996: 81) 24 Glissant erweist sich hier als Vertreter einer „oraliture“, wie sie beispielsweise von Patrick Chamoiseau beschrieben wurde: als „tracée mystérieuse de l’oral à l’écrit“. (Chamoiseau 1994: 151sqq.) Allerdings spielt bei Glissant im Vergleich zu Chamoiseau die Arbeit mit kreolischem Sprachmaterial eine untergeordnete Rolle. Der Rückgriff auf die mündliche kreolische Tradition erfolgt in Form von Strukturen der Rede wie den beschriebenen. Cf. zur Mischung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei Glissant Maignan-Claverie 2003: 348sqq. Zu den kulturgeschichtlichen Implikationen dieser Konzeption cf. Moura 1999: 109-112. 25 Cf. zu den Strukturmerkmalen des Romans Ortner-Buchberger 2004: 146sqq. Torsten König 126 Konklusionen Die eingehendere Untersuchung der Rolle, welche die Raumfiguren Insel und Archipel in einigen Texten Édouard Glissants spielen, hat gezeigt, dass sie veritable „Landschaften der Theorie“ 26 repräsentieren. Ihre Bedeutung entfaltet sich auf mehreren Ebenen. Wirft man einen Blick auf die aktuellen kulturtheoretischen Diskussionen, wird deutlich, dass die topologischen Metaphern Glissants an avancierte Positionen anschlussfähig sind. So können sie ihr kommunikatives Potenzial im Kontext der Überlegungen zur Trans- und Hyperkulturalität entfalten. 27 Insofern sie in ihrer konkreten Bildlichkeit par excellence Modelle eines relationalen Raums repräsentieren, zeigt sich ihre Verschränkung mit einer Reihe von Ansätzen, die der Vorstellung relationaler Räume bei der Erklärung virulenter gesellschaftlicher und kultureller Prozesse eine wachsende Bedeutung beimessen. 28 Gleichzeitig scheinen sie in der Tradition einer Reflexion der Grenzen des Eigenen - repräsentiert etwa durch Emmanuel Lévinas oder Jacques Derrida - zu stehen, die versucht, diese vom Anderen her zu denken. 29 Versucht man die Artikulationsweisen, die bei Glissant zu beobachten sind, als historische Erscheinungen zu verstehen, rückt zunächst die Situation der französischsprachigen Karibik in den Blick. Literaturen, die in postkolonialen Kulturen entstehen, zeichnen sich unter anderem durch eine starke Markierung des Raumes aus, von dem aus sie artikuliert werden. Indem sie ihre Verbundenheit mit den regionalen Topografien ihres Ursprungs demonstrieren, distanzieren sie sich raumsymbolisch von Europa und damit von dominierenden kulturellen und poetologischen Mustern, die mit diesem Raum verbunden sind. 30 Die Wahl von, wenn man so will, regionalspezifischen, geomorphologischen Erscheinungen wie Insel beziehungsweise Archipel als Vehikel für Metaphern in kulturtheoretischen Diskussionen kann in diesem Sinne vor dem Hintergrund kultureller Identifikations- 26 Cf. zum Konzept „Landschaft der Theorie“ Ette 2001: 536sq. 27 Im Ansatz der Transkulturalität liegen die Schnittmengen mit Glissants „Poetik der Relation“ und ihren Artikulationsformen vor allem in der Kritik an essenzialistischen Kulturbegriffen sowie in der Betonung des grenzüberschreitenden Charakters kultureller Phänomene. Theorien zur Hyperkulturalität beleuchten die kulturellen Dynamiken der Globalisierung ebenfalls unter dem Aspekt der Grenzüberschreitung beziehungsweise -verwischung. Cf. zu den Theorien zusammenfassend und mit weiterführenden Verweisen Schlehe 2007: 456. 28 Markus Schroer sieht eine wachsende Bedeutung relationaler Raummodelle gegenüber dem sogenannten „Behälter-Raumkonzept“ für die modernen Sozial- und Kulturwissenschaften. (Schroer 2006: 12) 29 Cf. zum Verhältnis Glissant versus Lévinas Cailler 1999. 30 Zur „définition forte de l’espace d’énonciation“ als Merkmal postkolonialer Literaturen cf. Moura 1999: 129sq. Édouard Glissants pensée archipélique 127 und Emanzipationsprozesse in der französischsprachigen Karibik erklärt werden. Der historische Ort von Glissants Kulturtheorie kann allerdings auch in einem weiteren, über den postkolonialen Reflexionshorizont hinausgehenden Kontext bestimmt werden. Dieser Ort wird durch den zunächst unspezifisch erscheinenden Umstand markiert, dass der Autor kulturelle Prozesse wesentlich durch sprachliche Bilder zu beschreiben versucht, die Raumfiguren evozieren. „Die Topologie impliziert eine Bildtheorie“, insofern die imago des Raums nicht Abbild des Raums ist, sondern erzeugter Raum. 31 Glissants „imaginaire de l’archipel“ kann in diesem Zusammenhang als Teil einer „ikonischen Wendung der Moderne“ (cf. Boehm 1994: 13-17) verstanden werden, die sich seit dem 19. Jahrhundert im erkennenden Umgang mit der Welt und dem Nachdenken über diesen Umgang beobachten lässt. Ihr Ursprung ist im wachsenden Zweifel am Modell der Erkenntnis als einem Abbild der Realität, an der unvermittelten Beziehung zwischen erkennendem Subjekt und Objekt der Erkenntnis zu sehen. In sprachlicher Hinsicht konnte die sich auftuende Kluft zwischen Erkenntnis suchendem Menschen und Welt durch bildhafte Rede, das heißt durch die Metapher, in besonderer Weise überbrückt werden: „Denn sie verbindet auf eine schöpferische Weise, ihre luftigen Konstrukte schwingen sich über die Abgründe des logisch scheinbar Verbindungslosen hinweg.“ (Boehm 1994: 16) Der mit ihr verbundene Bildbegriff verweist auf ihre Fähigkeit, verschiedene kontrastierende Phänomene zu etwas „Überschaubarem, Simultanem“ zusammenzufügen. Die Metapher beansprucht als sprachliche Leistung nicht identisches Abbild zu sein, sondern sie lotet mit der Vielfalt der in ihrer Bildhaftigkeit begründeten Assoziationen eine Reihe von Möglichkeiten aus. Sie arbeitet nicht mit Identitäten, sondern mit Ähnlichkeiten, die eine vergleichende Wahrnehmung stimulieren, und bildet in diesem Sinne nicht ab, sondern sie bringt hervor. 32 Die Wendung zum sprachlichen Bild als Artikulationsform, wie sie prototypisch von Denkern wie Nietzsche oder Wittgenstein repräsentiert wird, erweist sich als Ausdruck erkenntniskritischer beziehungsweise -skeptischer Operationen. Durch sie wird die Illusion der einen Welt obsolet. Die Konjunktur von Raumbildern, die in verschiedenen Diskursen je verschieden semantisiert werden, kann als Symptom der ikonischen Wendung aufgefasst werden. 33 Dass man auch Glissants Inseln und Archipele als Teil 31 Cf. zu diesem Zusammenhang zwischen Bild und Raum Borsò 2007: 291sq.: „Imaginäre und literarische Topographien sind topologische Maschinen, Praktiken der Produktion des Raums.“ 32 Cf. zum Prozess der Sinnstiftung durch die Metapher und dem mit ihr verbundenen strukturellen Bildbegriff Boehm 1994: 28sqq. 33 Es wäre daher im Übrigen darüber nachzudenken, ob der vielbesprochene spatial turn nicht Symptom eines iconic turn ist. Torsten König 128 dieser Prozesse lesen kann, wird neben ihrer Raumstruktur nicht zuletzt durch Verweise auf deren Wirken in der Vorstellungskraft unterstrichen, wo sie erkenntnisorientierende Funktionen übernehmen sollen. „Penser la pensée“, heißt es in einem „Imaginaire“ überschriebenen Textfragment zur Verbindung von Denken, erfahrbarem Raum und Vorstellung bei Glissant, revient le plus souvent à se retirer dans un lieu sans dimension où l’idée seule de la pensée s’obstine. Mais la pensée s’espace réellement au monde. Elle informe l’imaginaire des peuples, leurs poétiques diversifiées, qu’à son tour elle transforme, c’est-à-dire, dans lesquels se réalise son risque. (Glissant 1990: 13) Das Denken mit einer räumlichen Dimension zu verbinden heißt, es mit einem Bild zu verbinden. Es heißt gleichzeitig, der körperlichen Dimension jedes Erkenntnisprozesses, die sich in der Einbildung manifestiert, Rechnung zu tragen. Auf diese Weise kann in erkenntnistheoretischer Hinsicht die erwähnte Kluft zwischen Subjekt und Welt akzeptiert und gleichzeitig schöpferisch überspannt werden. Vor dem Hintergrund der skizzierten Diskussion um das Verhältnis von Raum und Bild scheint das innovative Potenzial von Glissants Ansatz für das Denken kultureller Prozesse, seine diskursverändernde Kraft, wesentlich in der spezifischen Raum-Bildhaftigkeit seiner Sprache zu gründen. Literatur Boehm, Gottfried: „Die Wiederkehr der Bilder“, in: Gottfried Boehm (ed.): Was ist ein Bild? , München: Wilhelm Fink Verlag 1994, 11-38. Borsò, Vittoria: „Topologie als literaturwissenschaftliche Methode: die Schrift des Raums und der Raum der Schrift“, in: Stephan Günzel (ed.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript Verlag 2007, 279-296. Cacciari, Massimo: L'arcipelago, Mailand: Adelphi Edizioni 1997. 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Wenn wir uns nun der Literatur der Frankokaribik - wobei ich mich in diesem Beitrag auf Haiti, Martinique und Guadeloupe beschränke - zuwenden, so können wir gewiss, ohne dass wir dabei viel Widerspruch zu erwarten hätten, feststellen, dass hier Raum frühzeitig als eine ebenso problematische wie gesellschaftlich geprägte und kontrollierte Größe wahrgenommen wird. Der koloniale Diskurs perpetuiert die Inbesitznahme von Raum als Territorium, der von den Menschen strukturiert und grundlegend verändert wird. In genauer Entsprechung zur Theorie Bourdieus, wonach Habitus und Habitat sich wechselseitig bedingen und damit am Habitat gesellschaftliche Strukturen ablesbar sind (Bourdieu 1991: bes. 32; Bourdieu 1993: 259; Schroer 2006: 88sq.), gibt herkömmlicherweise auf den Antillen allein der präzise Wohnort des Menschen Aufschluss über seine Mobilitätsmöglichkeiten, sein kulturelles Kapital etc. Der koloniale Diskurs lebt von einer weltumspannenden Raumvorstellung, die ganze Erdteile sozial kategorisiert: Frankreich mit Paris als Hort von Macht und Leitkultur, das „schwarze“ Afrika als zu „erleuchtender“ Kontinent und die Antillen als gewinnbringender Ort der Anwendung europäischer Errungenschaften in „Übersee“. Mithin können wir davon ausgehen, dass auf den Antillen vom 17., spätestens 18. Jahrhundert an ein ebenso hoch entwickeltes wie problematisiertes Raumverständnis verbreitet ist, welches der nicht hinterfragten Anlehnung an die soziale Kategorie der Nähe - der Nähe des Dorfes, der Nachbarn, der Vorfahren etc. - entwachsen ist (Schroer 2006: 10sq., 26sq.). Ralph Ludwig 132 Wie artikuliert sich mithin das Verhältnis zu Raum und Räumen in der Literatur, in der, mit Bühler gesprochen, literarischen Form der konstruktiven Fantasie? Bei der Beantwortung dieser Frage möchte ich von einer Prämisse ausgehen: Markus Schroer arbeitet in seinem Buch Räume, Orte, Grenzen (2006) die Geschichte des Raumbegriffs auf und kann in deren Verlauf eine ständige Konkurrenz eines absoluten und eines relativen Raumbegriffs feststellen. Bei der Etablierung dieser Opposition knüpft er an folgende Äußerung von Albert Einstein an: Man kann diese beiden begrifflichen Raum-Auffassungen einander gegenüberstellen als: a) Lagerungsqualität der Körperwelt, b) Raum als „Container“ (Behälter) aller körperlichen Objekte. Im Falle a) ist der Raum ohne körperliche Objekte undenkbar. Im Falle b) kann ein körperliches Objekt nicht anders als im Raum gedacht werden; der Raum erscheint dann als eine gewissermaßen der Körperwelt übergeordnete Realität. (Albert Einstein, zitiert nach Schroer 2006: 30) Im zweiten Fall - also (b) - sind feste Raumgrenzen vorgegeben, existieren feste Raumabteile, die die Objekte und damit auch die Menschen lediglich in sich aufnehmen. Im ersten Fall - das heißt (a) - konstituiert sich der Raum erst aus der relativen Position existierender Objekte. Dieses relative Raumkonzept kann daher subjektiv, das andere hingegen objektiv genannt werden. Wenige Bemerkungen: Der literarische Raumdiskurs von der Literatur des 19. Jahrhunderts bis zur négritude In Martinique und Guadeloupe stammt die Literatur des 19. Jahrhunderts in erster Linie aus der Feder der békés, also der weißen Kolonisatoren und Plantagenbesitzer. Der béké präsentiert sich in der Regel als Verfechter der kolonialen Ideologie, wenn er zum Beispiel - wie der Guadelouper Poirié Saint- Aurèle (1833) - die Verdrängung der Karibenbevölkerung literarisch rechtfertigt. Diese Autoren transportieren folgerichtig einen objektiven Raumbegriff, der dem kolonialen Diskurs eignet. Saint-Aurèle situiert unmissverständlich die Bilder seines ersten Gedichts auf „unseren Meeren“ („Or c’était sur nos mers“, Poirié Saint-Aurèle 1833: 3), und der „paisible océan“ erscheint als deutlich abgegrenzter Raum, nämlich als „théâtre de victoire“ (op. cit.: 7). Reisen, Sklavenhandel etc. schaffen, verändern und überwinden faktisch-objektive Grenzen, wobei diese Überwindung - die Transgression des Raums in der Reise oder die Veränderung der Grenzen durch Krieg oder administrative Diplomatie - das Prinzip der Objektivität nicht infrage stellt. Raumprojektionen in der neueren frankokaribischen Literatur 133 Auch die haitianischen Autoren des 19. Jahrhunderts sind, obschon nun Bürger einer unabhängigen Republik, dieser Denk- und Wahrnehmungstradition verpflichtet. So berichtet 1856 Pierre Faubert im Vorwort zu seinem „Drame historique“ Ogé von der Erziehung in Europa, die er dank der Opfer seiner Mutter empfangen konnte (Faubert 1856: 6sq.). Allerdings ist bereits hier eine Einschränkung zu machen, und zwar gilt, wie schon angedeutet, in der Literatur der Antillen von Anfang an das, was ich die „Aporie des dominanten Nähe-Raums“ nennen möchte. Schroer (2006: 26sq.) zeigt, dass selbst in der modernen Soziologie eine grundlegende Neigung zur Privilegierung des Nähe-Raums herrscht. Während auf der einen Seite die „Dynamik von Neuzeit und Moderne“ durch „den Aufbruch in neue Räume“ entsteht (op. cit.: 22), so ist die Soziologie gemeinhin von „ihrer auf Nahraumverhältnisse ausgerichteten Charakterisierung des Sozialen“ bestimmt (op. cit.: 26). Im Hinblick auf die „mit der Moderne sich vollziehende Herauslösung der Individuen aus den traditionellen, nahräumlichen Bindungen“ (op. cit: 27) erscheint der béké mit seinem makroräumlichen Selbstverständnis als signifikanter Vorläufer. Ein Beispiel: Octave Giraud beschreibt sein Empfinden, als er Guadeloupe zu einem längeren Frankreich-Aufenthalt verlässt: „J’ai quitté la Guadeloupe avec tristesse et j’ai revu cependant la France avec bonheur. Celle-ci est la grande patrie, l’autre c’est la petite; mais mon cœur est assez vaste pour les réunir toutes les deux dans un même amour.“ (Giraud 1862: 8) Von Beginn an ist aber auch der schreibende béké ein Reisender, der - wiewohl aus exotistischkolonialer Sicht - die Bedeutung der Distanz und des Diasporischen empfindet, was ihn ständig zur Transzendierung der räumlich engen Inselgrenzen treibt. Die Ausrichtung am „Container-Raum“ bleibt auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in einzelnen Werken bis heute erhalten. So geht von der négritude keine vollständige Neuorientierung des Raum-Verhältnisses aus. Césaire und seine literarischen Weggefährten lassen zumindest partiell das alte physisch-geografische Globalschema „Europa-Afrika- Antillen“ in Kraft. Wohl werden die Räume an den Spitzen dieses Dreiecks als Kulturräume neu bewertet: Afrika wird gegenüber Europa aufgewertet, und Césaire wertet die Antillen in gewisser Weise ab, wenn er die Tradition exotistischer Naturdarstellungen radikal beendet und den Blick auf die realen sozialen Verhältnisse der Antillen wendet (cf. Ludwig 2008: 103-105). Dennoch beginnt sich hier ein Wandel der Perspektive abzuzeichnen, wenn die Karibik nicht mehr aus dominant europäischem Winkel wahrgenommen wird. Ralph Ludwig 134 Aktuelle Raumdiskurse: Von der scheinbaren Objektivität zur ästhetisierten Subjektivität Patrick Chamoiseau zeigt in Écrire en pays dominé (1997) den Weg vom objektiven zum subjektiven Raumverständnis: nicht die objektiven politischen Grenzen eines Landes, die „Einverleibung“ der Kolonien in den französischen Nationalstaat sind ausschlaggebend. Wesentlich ist vielmehr, dass kulturelle Hierarchieverhältnisse so verinnerlicht sind, dass „objektive“ Veränderungen der Grenzziehungen keine wirkliche Rolle spielen. So bleiben die Antillen von Frankreich beherrscht, weil die von Frankreich in die „Übersee“-Kolonien transferierten kulturellen Wertmaßstäbe, Leitkonzepte und ästhetischen Ideale so verinnerlicht worden sind, dass sie weiterhin denk- und handlungsbestimmend bleiben und damit subjektiv das alte, politisch-administrativ objektive Dominanzverhältnis perpetuieren. Eine Subjektivierung der Raumprojektionen, eine Befreiung von herkömmlichem Territorialdenken werden von Édouard Glissant und Patrick Chamoiseau in dem gemeinsamen Traktat Quand les murs tombent (2007) gefordert; den objektivierten und dominanzorientierten Begriffen „patrie“, „nation“ und „territoire“ stellen sie hier den subjektiv imaginierten, dominanzentbundenen Terminus „lieu“ gegenüber: Les arts, les littératures, les musiques et les chants fraternisent par des voies d’imaginaires qui ne connaissent plus rien aux seules géographies nationales ou aux langues orgueilleuses dans leur à-part. Dans la mondialité (qui est là tout autant que nous avons à la fonder), nous n’appartenons pas en exclusivité à des „patries“, à des „nations“, et pas du tout à des „territoires“, mais désormais à des „lieux“, des intempéries linguistiques, des dieux libres qui ne réclament peut-être pas d’être adorés, des terres natales que nous auront décidées, des langues que nous aurons désirées, ces géographies tissées de matières et de visions que nous auront forgées. (Glissant/ Chamoiseau 2007: 16sq.) Geografisch-physischer Makro-Raum: Diaspora, Migration, Reise Der diasporische Raum (cf. Cohen 1997, Krings 2003) konstituiert sich heute in den Augen verschiedener Autoren nicht mehr als Schwanken des Individuums zwischen fest definierten „objektiven“ Polen, etwa den Antillen und der Gruppe der antillais im Großraum Paris, New York oder Montreal, sondern ergibt sich aus der zufälligen und damit subjektiven Wanderbewegung des Individuums. Mithin verwischen sich die Grenzen zwischen Diasporizität, Migration und Reise; dies ist ein semantisch-anthropologischer Übergang, den Édouard Glissant mit seinem Konzept der errance programmatisch vorgedacht hat (cf. e.g. Glissant 1990: 29-34). Die Identität des Individuums ist damit maßgeblich einer subjektiven Bewegung im Raum zu verdanken, die sich der objektiven Zuordnung von Aufenthaltsort-Habitat Raumprojektionen in der neueren frankokaribischen Literatur 135 zu sozialer Gruppe-Habitus verweigert. So sieht Dany Laferrière - in der autobiografischen Narration mit dem signifikanten Titel Les années 80 dans ma vieille Ford (2005a) - seine erratische Züge annehmende Bewegung im Raum als Verweigerung gegenüber einer raumgebundenen sozialen Gruppenzuordnung und damit gegenüber dem Diaspora-Konzept: Je n’avais pas quitté Haïti pour tomber chez les Haïtiens de la diaspora. D’ailleurs, je détestais et je déteste encore ce mot diaspora que je tiens pour un terme utilisé afin d’écarter de la vie nationale ceux qui ne vivent pas en Haïti. Les Nord-Américains m’excluent à cause de la couleur de ma peau, et les Haïtiens qui vivent en Haïti m’excluent eux à cause de l’endroit où je vis. Un racisme d’espace. Cette impression que mon pays avait ratifié l’exil que Duvalier m’avait forcé à prendre. (Laferrière 2005a: 17) Grâce à cette voiture, je commençais doucement à sortir de Montréal (qui me gardait trop bien dans ma condition d’immigrant) pour devenir un voyageur. Si l’immigrant est immobile, le voyageur, lui, bouge sans cesse. (op. cit.: 31) Gleichwohl fällt die Wahl dieser neuen, in gewisser Weise im Raum gleitenden Lebensweise nicht einfach, beziehungsweise Laferrière kann so existieren, weil ihm nach Ende des Duvalier-Regimes, als auch materiell erfolgreicher Schriftsteller, die regelmäßige Rückkehr nach Haiti möglich ist. Haiti als räumlich-kulturell originärer Lebensraum, diese im Sinne Einsteins und Schroers zumindest in Residualbeständen weiterlebende Raumvorstellung, formuliert Laferrière durchaus: Quand un homme ou une femme est obligé de passer le reste de ses jours dans un pays qui n’est pas celui de sa naissance, il n’est plus le même. Quelque chose au fond de lui s’est brisée. Si on le regarde droit dans les yeux, on verra défiler les images touchantes d’une poignante nostalgie. Il accepte de vivre à la surface des choses. Le fond est resté quelque part dans un grenier d’une petite ville qu’il ne reverra peut-être jamais. (Laferrière 2005a: 98) Auch Louis-Philippe Dalemberts Histoires d’amour impossibles… ou presque (2007) stellen in erster Linie eine freie, zwischen Migration und Reise oszillierende Bewegung des in der Novellen-Reihe in verschiedene Facetten aufgesplitterten Autor-Erzählers dar; in verschiedenen Personifizierungen führt er an den Stationen seiner Bewegung im interkontinentalen Makro-Raum Liebesbeziehungen, die letztlich scheitern. So schildert der „Dialogue pardessus l’Atlantique“ (Dalembert 2007: 143-172) die Beziehung des zwischen Rom, Haiti, New York und anderswo lebenden Autors, der mit seiner fest in der New Yorker Haiti-Diaspora lebenden Freundin keine wirklich tiefe Beziehung entwickeln kann. Eine solche identitätsstiftende, aus Subjektivität und Zufällen resultierende Mobilität in großen Räumen, die von vornherein vom diasporischen Ausgangspunkt des verlassenen home land befreit ist, konstruiert Raphaël Confiant fiktiv in der Karibik des 19. Jahrhunderts, wenn er in Adèle et la pacotilleuse (2005) die „Packerin“ Céline Alvarez Bàà mit der einer Liebes- Ralph Ludwig 136 Wahnvorstellung durch die Neue Welt nachirrenden Adèle Hugo zusammenführt. Situativer Mikro-Raum In Werken der jungen karibischen Literatur finden wir subtile Erschaffungen von Mikro-Raum durch den Blick des Individuums. Ein bemerkenswertes Spiel der Perspektivik bestimmt Dany Laferrières schwer einer Gattung zuzuordnendes Werk Le gout des jeunes filles, das in einer ersten Version 1992 und dann in einer erweiterten Fassung 2005 erschienen ist; es bewegt sich im Mittelfeld von récit, Drama und Roman. Im Port-au-Prince der Duvalier-Ära richtet der fünfzehnjährige Dany oft den Blick aus seinem Zimmer zum Haus gegenüber, erblickt dort mit erwachendem Begehren die junge Miki, ihre Freundinnen und auch ihre - mitunter zahlenden - Liebhaber. Der vom Ich ausgehende Blick erschafft erst den Raum, und der Gegenstand der Betrachtung wird nicht einfach gesehen, sondern durch die damit verbundenen Träume und Wünsche mit erschaffen: Je regarde par la fenêtre de ma chambre. Une pluie légère. Les voitures passent dans un chuintement. De l'autre côté du trottoir, c'est la maison de Miki. Toujours pleine de rires, de cris, de filles. Miki habite seule, mais elle a beaucoup d'amis. (Laferrière 2005b: 47) Hier handelt es sich noch nicht wirklich um eine kommunikative Situation im Sinne von Erving Goffman; der Blickkontakt hat noch keine Wechselseitigkeit (cf. Goffman 1971: 84sqq.). Dany bricht in seiner Subjektivität mit den räumlichen Konventionen von Kommunikation, die situative Grenzen auch dann setzen und respektieren, wenn sie faktisch nicht oder nicht hinreichend gegeben sind, die mithin eigentlich den verlängerten Blick in das optisch nicht verschlossene Haus gegenüber untersagen; dennoch entsteht hier keineswegs der negative Eindruck des Voyeuristischen. Ansonsten zieht Dany mit dem gleichaltrigen, die Schwelle zur Kriminalität überschreitenden Tunichtgut Gégé durch die nächtliche Hauptstadt Haitis. Als Gégé vorgibt, aus Rache einem betrunkenen marsouin (einem der mörderischen Schergen von Duvalier) im Bordell die Hoden abgeschnitten zu haben (Laferrière 2005b: 139-141), flieht Dany aus Angst vor Verfolgung in das Haus gegenüber zu Miki und ihren Freundinnen, die es akzeptieren, ihn zu verstecken, und ihn dabei an ihrer fröhlichen Libertinage partizipieren lassen. Damit wird die Perspektive umgekehrt (op. cit.: 186). Er sieht jetzt seine Mutter, wie sie ratlos nach der Flucht des Jungen und ahnungslos, was seine räumliche Nähe anbelangt, dessen Zimmer aufräumt (op. cit.: 279sqq.). Um allerdings seine neue Lage richtig erfassen und auch genießend ausleben zu können, muss er sich wieder in den früheren Blickwinkel des Gegenübers und die in der Distanz entwickelten Vorstellungen zurück- Raumprojektionen in der neueren frankokaribischen Literatur 137 versetzen. Der Raum entsteht nicht durch das Erfassen äußerer Container- Grenzen, sondern, im zitierten Moment, nur aus der fabulierenden Relationalität zu Pasqualine, einer Freundin und häufigen Besucherin von Miki. Als Dany noch von seinem Zimmer im Hause der Mutter herüberschaute, verkürzte er in seiner Wahrnehmung subjektiv die reale Distanz; jetzt verlängert er sie umgekehrt durch sein imaginiertes Einnehmen der früheren Betrachterperspektive (so der letzte Satz des folgenden Zitats): Je me lève et me mets à la fenêtre. Je regarde de l'autre côté, chez Miki. Elles sont là, Dieu merci. Elles sont toujours là. Elles seront là jusqu’à la fin des temps. C’est la promesse divine. D’où sortent toutes ces filles? Il y en a partout. Dans la rue, à l'école, au marché, devant le cinéma Paramount surtout, sur la place Saint- Alexandre, au Champ de Mars, près du Portail Léogâne, au stade (surtout quand c'est Violette qui joue). Je vois des centaines de filles, mais je ne rêve qu’à Pasqualine. Je la regarde longuement (de la fenêtre de ma chambre) jusqu’à m’en soûler. Je dévore son long corps mince. Encore et encore. J’imprime son image dans ma tête, dans mes bras, dans mon ventre, dans mes jambes, dans mes mains, dans ma bouche. Et je retourne au lit. Je me couche tout près d’elle. Quand l’image devient floue dans me tête, je retourne à la fenêtre. Et je la regarde de nouveau. Aujourd’hui, je suis ici, dans la pièce où elle passe son temps à danser. Mais pour mieux sentir sa présence, je suis obligé d'imaginer que je suis encore en face et que je la regarde de la fenêtre de ma chambre. (Laferrière 2005b: 190) Als er den Weg zurück in das Haus der Mutter gegenüber antritt, verlässt er eine Art Paradies, das sich durch den erlebenden Blick, durch das Empfinden zum intimen Hort entwickelt hat: „Je dois partir aujourd’hui, coûte que coûte. Je connais cette maison par cœur maintenant. Chaque centimètre. Chaque grain de poussière. Chaque objet. Je connais aussi chaque sousvêtement dans cette maison.“ (Laferrière 2005b: 350) Nun ist die Perspektive wieder umgekehrt: Je suis appuyé contre la fenêtre de ma chambre. Je regarde en face, chez Miki. Je m’imagine là-bas, ombre derrière la fenêtre de Miki. J’étais là-bas, il y a à peine une heure. Je suis maintenant ici. […] J’ai passé le week-end au paradis. […] Juste en face. Si loin. (Laferrière 2005b: 356) Laferrière inszeniert andere für unsere Thematik signifikante Mikro- Situationen, in denen das Individuum in eine subjektive Beziehung mit einer mehr oder weniger konturlosen Umgebung tritt. Dergestalt wendet er sich dem urbanen Phänomen der Menge, des Menschenflusses auf der Straße, zu, wobei wir wieder einen Passus von Le goût des jeunes filles aufgreifen. Zu Mikis Kreis zählt auch Marie-Michèle, die nicht - wie Miki und Dany - dem halbwegs gesichert, aber einfach lebenden Kleinbürgertum, sondern der reichen, im Villenviertel Pétionville beheimateten Bourgeoisie entstammt. Wenn Marie-Michèle mit ihrem noch vom Alkohol des Vorabends gezeichneten Vater schweigend durch die populären Viertel von Port-au-Prince Ralph Ludwig 138 fährt, beobachtet sie die als positives, geradezu poetisches Chaos empfundene Menschenmenge: Je rêve d’être avalée un jour par cette foule. Disparue sans laisser de traces. Pourquoi suis-je dans cette grosse voiture étincelante […] Elle est toujours active, la foule des quartiers populaires […] C’est une foule qui ne se plaint jamais. Pas une foule oisive, comme celle des cinq à sept de Pétionville. J’ai vu des foules à Paris, à New York, comme à Berlin: des gens qui montent vers le nord sur un trottoir, croisant du regard ceux qui descendent vers le sud sur le trottoir d’en face. Quelle discipline! […] Je préfère de loin le désordre de ce pays. La foule de Port-au- Prince ne suit aucune règle. Les gens vont n’importe comment dans toutes les directions. (Laferrière 2005b: 167sq.) Bemerkenswert ist hier bei Laferrière die positive Sichtweise der Raumbewegung der kreolischen urbanen Menge. Der Vergleich mit großen Metropolen außerhalb Haitis legt den Blick auf andere Visionen der urbanen Bewegung im physischen Raum nahe. Walter Benjamin, Beobachter und Kritiker des Stadtlebens von Berlin und Paris, siedelt Baudelaire in einer Zeit des Umbruchs an, in einer Phase, wo es den gemächlich spazierenden Flaneur noch und die beängstigende Großstadtmenge schon gibt: „Der Mann der Menge ist kein Flaneur. In ihm hat der gelassene Habitus einem manischen Platz gemacht.“ (Benjamin 1974: 627; zur Menge bei E.T.A. Hoffmann, Poe und Valéry cf. op. cit., 628sqq.) Die Sicht auf den Menschen in der modernen Metropole steht bei Benjamin also - anders als bei Laferrière - unter negativem Vorzeichen, und auch Patrick Chamoiseau findet in der Attitüde des antillanischen driveur eher ein Moment der Verzweiflung: C’est au détour d’une tristesse et d'un rêve sans annonce que je découvris le Driveur: celui-ci s’était fait réceptacle des résistances tombées hagardes. […] La langue créole appelle Drive une situation peu reluisante durant laquelle on erre sans fin. La plupart des Nègres marrons se retrouvèrent en Drive. L’exiguïté de notre espace géographique et leur désir d’un retour vers l’Afrique (clos sur un impossible) n’avaient pas mué en liberté les pulsions de leur fuite. (Chamoiseau 1997: 185) La culture créole urbaine avait repéré la Drive et s’appliquait à lutter contre. Le négrillon que j’étais dans les rues du Fort-de-France des années 50, se souvient encore du credo de sa mère: Ou kéy en driv? Ou sôti an driv? Ou téka drivé? Driv la pran’w! Tu pars en Drive? Tu reviens d’une Drive? Tu drivais? La Drive t’a emporté! C’était, pour un enfant, le danger le plus proche dans les ruelles et trottoirs. Car la Drive débouchait presque toujours dans les rues de l’En-ville. (Chamoiseau 1997: 187) Für Laferrières Menge wie Chamoiseaus driveur gilt freilich, dass die Vorstellung des objektiv-statischen urbanen Architekturraums ersetzt wird durch einen subjektiven Bewegungsraum, den die Menschen in der Stadt erst entstehen lassen, ähnlich Michel de Certeaus Opposition zwischen Raumprojektionen in der neueren frankokaribischen Literatur 139 „Raum [espace]“ und „Ort [lieu]“: „Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt.“ (de Certeau 2006: 345) Die Subjektivierung des Vergangenheitsraums Die Bedeutung der Vergangenheit in der frankokaribischen Literatur ist bekannt. Von den frühen haitianischen Bemühungen um die Rekonstruktion des historischen Raums mit Bergeauds Roman Stella (1859) über die Auseinandersetzung mit den historischen Helden Toussaint Louverture, Henri Christophe oder auch Louis Delgrès (cf. dazu Ludwig 2008: 39sqq.) bis hin zu Glissants Theorie der „mémoire raturée“ (Ludwig 2008: 18sq., 118-121) nehmen literarische Auseinandersetzungen mit als objektiv empfundenen Geschichtsräumen eine zentrale literarische Rolle ein. Diese Bemühung dauert an: Jean-Claude Fignolé hat 2008 seinen Roman Une heure pour l’éternité vorgelegt, der - wieder - den haitianischen Freiheitskampf, das Sterben des Generals Leclerc, den Lebens- und Lustwillen seiner Frau Pauline und die Konfrontation mit den Werten von Aufklärung und französischer Revolution zum Gegenstand hat. Die wesentliche semantische Bewegung besteht hier in einer Annäherung an historische Vorgänge und Figuren, die in einer - oft durchaus fiktiven - Objektivität projiziert sowie für die Gegenwart beurteilt und gedeutet werden. Das folgende Beispiel ist einem Monolog- Kapitel von Paulines korsischer Dienerin Oriana entnommen, die an dieser Stelle regelrecht einen bekannten Abschnitt der politischen Geschichte resümiert, indem sie nach den nicht Ende nehmen wollenden Grausamkeiten des haitianischen Unabhängigkeitskriegs fragt: Qui serait la dernière victime de la vindicte du général? Nous étions curieux de savoir. Le général Kerverseau? Son rapport n’avait-il pas contribué à modifier le plan du Premier consul au point de nous plonger dans un bourbier? Le général Dessalines dont les forfaits contre les nègres ses pareils avaient révolté les bonnes consciences et qui depuis le dernier soulèvement a reporté sur les Blancs sa fureur assassine? Le général Rochambeau, fraîchement arrivé de la Martinique avec ses préjugés contre les Africains et qui rivalise de férocité avec Dessalines dans la répression? Autant ce dernier égorge les blancs, autant lui trucide les nègres, l’un et l’autre spécialistes de sanglantes mutilations. L’officier artilleur Sabès dit Pétion, coupable de lèse-majesté en cocufiant le commandant? (Fignolé 2008: 27) Vergangenheit wird als Vorstellungs-Raum evoziert, wobei der Anschein fiktionaler Wahrscheinlichkeit bei Fignolé durch den konversationellen Charakter und die fantastischen Dialoge von Leclerc mit dem Schatten von Toussaint Louverture gebrochen wird und damit durchaus ein subjektives Moment erhält, weil sich Leclerc im wahnhaften Wechselgespräch mit sei- Ralph Ludwig 140 nem alten - nach Frankreich deportierten - Widersacher andere Visionen aufdrängen (e.g. Fignolé 2008: 256sq.). Heute finden sich bemerkenswerte Ansätze, die nicht nur die Evokation eines Vergangenheitsraums im zweiten Schritt subjektivieren, sondern radikaler Vergangenheit von vornherein subjektiv konstruieren. Gisèle Pineau inszeniert in Mes quatre femmes (2007) vier ihrer weiblichen Vorfahren, die eine grundlegende Bedeutung für sie haben, gleich den vier Grundsteinen, auf die man die Eckpfeiler einer traditionellen kreolischen Hütte stellte (Pineau 2007: 9). Diese Gestalten sind nicht nur Objekt der aus der Gegenwart heraus geführten Erinnerungsarbeit. Sie führen eine eigene Existenz, leben im Raum der Vergangenheit, der für sie als dunkler Kerker erscheint. Die Erinnerung öffnet die „geôle noire“, aber das so hereinfallende Licht macht ihnen zunächst Angst: Elles sont quatre. Angélique, Gisèle, Julia, Daisy. Quatre femmes enfermées entre quatre murs d’une geôle noire. Elles se consolent l’une l'autre, pansent leurs plaies. Pour faire passer le temps, elles jouent à la marelle ou bien à la dînette. Sans même s’en rendre compte, elles redeviennent parfois des fillettes insouciantes qui rient dans les jeux d’un autre âge. (Pineau 2007: 10) On ne peut les séparer. La porte s’entrouvre parfois. Un rai de lumière jaune jaillit, balafre le sol de terre battue, les aveugle. Elles se retirent aussitôt au plus noir de la geôle. À les voir, on dirait qu’elles craignent d’être brûlées, transpercées, pourfendues par quelque arme tranchante, coutelas, machette, hallebarde d'une époque révolue. Apeurées par les bruits qui montent du dehors, elles nouent leurs mains et tout leurs membres ensemble. (op. cit.: 11) In Patrick Chamoiseaus aktuellem Werk Un dimanche au cachot (2007) stehen die Entdeckung eines alten Verlieses und die Flucht eines Mädchens dorthin am Anfang der Erzählung. In diesem engen Raum entwickelt sich eine subjektive, räumlich-psychische Beziehung zu dem verängstigten Mädchen Caroline und dem sich biografisch präsentierenden Autor, der für die „petite chabine, maigre, aux yeux morts“ (Chamoiseau 2007: 34) Vergangenheit als einen von Spuren ausgehenden Raum assoziativ und vielsträngig fabuliert. Der Raum der Erinnerung konstituiert sich also aus der assoziativen Verbindung der Elemente, aus ihrer relativen Beziehung, aus einem so entstehenden, in vieler Hinsicht dunklen Netzwerk, das feste Konturen, Grenzen und Abschnitte von Vergangenheitsräumen - wie sie bei Fignolé dominieren - nicht generieren kann. So drängt sich dem Schriftsteller der Begriff „Ewigkeit“, ja sogar im Plural „Ewigkeiten“ auf: J’avais beaucoup suggéré à l’écrivain le terme d’éternité. Souvent, je le proposais au pluriel car dans cette permanence du cachot, cette répétition fixe d’une fixité tragique, j’avais le sentiment qu’il se produisait des ruptures, des changements, Raumprojektionen in der neueren frankokaribischen Literatur 141 des différences subtiles, et que l’Oubliée, comme Caroline, était une permanence en devenir, un fixe qui maintenait sa fixité dans un flux de différences infimes qui la bougeait autant qu’elle donnait l’illusion de la maintenir immuable … (Chamoiseau 2007: 242) Räumliche Objektivität in der Erzählung und Vergangenheitskonstruktion wird zum Schluss einmal mehr reduziert, indem der objektive Status des entdeckten Verlieslochs als „cachot“, also als Sklavengefängnis, aufgehoben wird (Chamoiseau 2007: 318sq.). Intimität als Raum - „Körperwelt” Greifen wir Einsteins Begriff der „Körperwelt“ in einer auf die menschliche Intimität und Erotik konkretisierten Weise auf und wenden wir uns zunächst dem nicht ohne Beklemmung zu lesenden Roman Fado der haitianischen Autorin Kettly Mars (2008) zu. Nach der Scheidung von ihrem Mann Léo - der später wieder ihr Geliebter wird - doppelt sich die Persönlichkeit der bourgeoisen Grafikerin Anaïse, die sich ein alter ego erfindet: - Qui es-tu devenue, Anaïse? - Je suis Frida…des fois. Selon les jours. (Mars 2008: 14) Als Frida prostituiert sich die schöne Anaïse in einem schäbigen Bordell, dessen Besitzer Bony ihr Initiator und Liebhaber ist. Hier doppelt sich das durch Buñuels Film von 1967 bekannt gewordene Belle de jour-Motiv mit Zügen von Schizophrenie und dem Voodoo-Motiv der marassa, das heißt der Zwillingsschwester (cf. Mars 2008: 109). Der Auftakt zur Katastrophe ist Léos Absicht, mit seiner neuen Ehefrau Haiti und damit auch - wieder - Anaïse zu verlassen. Die eigene Körperlichkeit ist für Anaïse-Frida zum Zentrum ihres Lebens und Fühlens geworden, und so deutet sie, als beide nackt nebeneinander liegen, Léos objektiven Reiseplan in eine subjektive Körper-Bewegung um. Während der objektive Plan ein Verlassen Haitis vorsieht, wendet die fiktive Erzählerin Anaïse-Frida diese Absicht Léos in das Ineinanderspiel von Körpersicht, Körperbewegung und - unheilvollem - Traum, der das dramatische Ende der Erzählung präfiguriert: Mes yeux laissent le miroir. Mon regard se promène sur Léo. Il fait du ventre. Normal, il est nourri par deux femmes. Je ressens soudain un fiévreux besoin d’imaginer, d’aller plus loin que ma perception physique immédiate. Un besoin d’imaginer le temps sans la trame des heures. Un temps sans échéance, ouvert et accueillant. Un besoin de supposer que tout est autrement. Un chemin me traverse où mes pas s'égarent. Une route au bout de laquelle m’attendent des rêves et des cendres. Une route dont je ne reviendrai pas indemne. (Mars 2008: 72) La peau de Léo a un goût de départ. Je la mords, je la suce, je lèche sa sueur, pour la défaire de cette absence en devenir qui colle à mon âme. Je sens à sa façon de m’aimer qu’il va partir. (op. cit.: 74) Ralph Ludwig 142 Il s’en va dans ma peau. Son voyage commence dans ma chambre. Mon lit redevient le fleuve Tage et mon corps la tour de Belém. Chaque caravelle qui passe emporte dans ses voiles funestes un instant de notre histoire. Et le fado nous accompagne, l’ami fidèle qui ne rate aucun de nos départs. (op. cit.: 75) Während die Intimwelt von Kettly Mars zwischen (positiver) Befreiung des Ichs aus sozialen Schranken und zerstörerischer, pathologischer Grenzaufhebung schwankt, finden wir in Dany Laferrières schon mehrfach aufgegriffenem Werk Le goût des jeunes filles ein Beispiel für eine lebensbejahende subjektive Konstruktion von Körperraum. Er schildert hier sehr subtil eine körperliche Liebesszene, in der sich der junge Dany ganz in der Macht von Miki wiederfindet und den Kosmos um sich herum nur noch aus seiner körperlichen Distanz und Nähe zu ihr verspürt. Dieses sinnliche Bild von Laferrière ist deshalb so bemerkenswert, weil die frankoantillanische Literatur bisher kaum sensibel-emotive, ohne vorgeprägte Rollenschemata, Sarkasmus und Machismo skizzierte Erotik kennt. Der physische Raum entsteht ausschließlich aus den Blick- und Hörkontakten, dann aus dem physischen Fühlen; Objekte des Zimmers werden nur relevant, wenn sie in die Kommunikationslinien von Miki und Dany fallen, wobei der eher passive Dany sich hier ausschließlich in der Konstellation zu der aktiven Miki wahrnimmt: - Qu’est-ce que tu fais là? Tu lis encore… T’as toujours la tête dans ton livre, alors que j’ai l’impression que tu sais beaucoup de choses. Beaucoup plus qu’on ne le croirait. Tu caches bien ton jeu. N’est-ce pas que j’ai raison? dit Miki avec un sourire ambigu. - Pourquoi tu dis ça, Miki? Je ne sais rien… - C’est ce que je vais voir… Elle monte sur le divan avec ses souliers. Je me tasse près de la petite table. Elle me regarde (ses yeux de nuit) tout en retirant gracieusement chacune de ses chaussures qu’elle lance contre le mur. Elle s’approche encore plus près pour m’enlever, avec une lenteur étudiée, ma chemise. - Ta peau est si douce, me dit-elle. Elle se baisse vers moi et commence à m’embrasser un peu partout. De petits baisers aigus. Je ris un peu nerveusement. Elle s’arrête, me regarde et sourit avant de prendre mon sein gauche dans sa bouche. Je ferme les yeux et la sens qui me tire vers le centre du divan. Sur le dos, les bras légèrement écartés, les yeux fermés, je suis à sa merci. Tout à elle. (Laferrière 2005b: 319) Natürlich spielt die Erotik eine immense Rolle in der jüngeren Literatur der Antillen (cf. bereits Ludwig 1992: 61), aber sie artikuliert sich, wie gesagt, meist in anderer Form. So sind die Romangestalten von Raphaël Confiant eher kreolische Prototypen, ähnlich den Figuren von Balzac, die charakteristisches Rollenverhalten historischer Phasen und sozialer Gruppen wieder- Raumprojektionen in der neueren frankokaribischen Literatur 143 geben, wobei Confiant sie allerdings gleichzeitig ins Groteske steigert. Diesem durchaus intendierten Schematismus entflieht er in seltenen Passus, so mit der Liebesszene von Devi und Adhiyamân in La panse du chacal (Confiant 2004: 105-106): die beiden jungen engagés vollziehen ihre Ehe bezeichnenderweise im no man’s land, nämlich auf dem Meer, mitten im Sturm. Sie überwinden derart die Abgeschlossenheit des Schiffbauchs, der in diesem Moment für die anderen Reisenden ein Gefängnis des Elends und der Krankheit ist. Im Unterschied zu Laferrière schildert Confiant nur einen kurzen Moment der Befreiung und des Glücks, ohne ihn mit der detailreichen Choreografie und textsemantischen Bedeutung von Laferrières Kapitel zu versehen. Mitunter erscheint die Darstellung von Sexualität bei Confiant darüber hinaus als Weg, um zumindest für einen Moment soziale Gruppen- und Habitus-Grenzen zu überwinden, wo die Beteiligten aber zunächst als Prototypen repräsentiert werden. So sind die kreolische Hütte und die Schule streng abgegrenzte Räume: in dem einen dominieren Informalität, Oralität und kreolische Sprache, in dem anderen formalisierte Handlungsmuster und ein deutliches, distinktionsorientiertes und damit vom Gebrauch der französischen Sprache bestimmtes Verhalten aufseiten der Lehrer. Confiant hebt dann in einer bis zum Sarkasmus reichenden Karikatur diese Grenzen auf, wenn er in seinen Kindheitserinnerungen Ravines du devant-jour den jungen chabin eine Geschlechtsaktszene der Lehrerin und dem sehr kreolischen Parrain Salvie beobachten lässt, in der die sonst so französischsittenstrenge maîtresse d’école von ihrem Partner kreolisch „Ba-mwen dòt! “ fordert (Confiant 1993: 70). Vom geografisch-sozialen Raum zum ästhetischen Textraum Dany Laferrières Erzählwerk Vers le sud (2006) mag uns als Beispiel für die Ablösung der Containerraum-Verortung durch eine relationale soziogeografische Konzeption dienen, die dann ihrerseits zur Metapher für die Erschaffung eines offenen Textraums wird. Ein abgeschlossener Textraum präsentiert ein literarisches Produkt als fertiges Ganzes mit festen Grenzen; indessen ist ein relationaler Textraum offen und erlaubt die Synthese von Text und prozessualem Schreiben. Am Ausgangspunkt von Vers le sud steht die Stadtviertel-Situierung des jungen Fanfan, in dem wir einen gebrochenen Reflex des Autors Laferrière erblicken können: J’ai dix-sept ans (on me donne facilement beaucoup plus à cause de ma taille et de mon caractère taciturne) et je vis à Port-au-Prince, sur la rue Capois, près de la place du Champ-de-Mars. J’habite avec ma mère et ma jeune sœur. Mon père est mort, il y a quelques années. Ma mère est encore très belle. (Laferrière 2006: 7) Ralph Ludwig 144 Für die meisten Bewohner von Port-au-Prince präsentieren sich die verschiedenen Stadtviertel als Container, die ganz im Sinne von Bourdieu soziale Gruppen beherbergen, die sich wiederum durch einen typischen Habitus auszeichnen und dem Einzelnen kaum Möglichkeiten lassen, die so gezogenen Grenzen zu überschreiten (Bourdieu 1979: 189sqq.; id. 1987: 156sqq.). Genau dieses aber ist die Leistung der meisten Protagonisten von Vers le sud: Musik, Gewinnaussicht, Neugier und Libido treiben sie zu habitusuntypischen Verhaltensweisen, die sich in erratischen relationalen Raumbewegungen manifestieren. Beispielsweise verlässt die bourgeoise Engländerin Rebecca überraschend Mann und Kinder für einen haitianischen Bauern (Laferrière 2006: 93sqq., 233sq.), die Schuldirektorin Mme Saint- Pierre lässt sich von Fanfan erobern und wird ihm geradezu hörig (op. cit.: 10sqq., 204-209), der amerikanische Kulturattaché Harry begibt sich auf die Suche nach haitianischen Gespielinnen und stellt im Gegenzug den Vermittlern amerikanische Visa aus, mit denen sie - was eigentlich unmöglich ist - Haiti verlassen können (op. cit.: 37sqq., 113-118, 210sq.), der junge, völlig unvermögende, aber attraktive Charly schleicht sich in den noblen Cercle Bellevue ein, um die arrogante schöne Missie zu verführen (op. cit.: 61-86, 215-224). Damit wird das sozial streng gegliederte, von Meer und politischen Grenzen eingeschlossene Haiti zu einem offenen Ganzen, wobei die gereihten Episoden die Handlungspersonen nach und nach locker verknüpfen, sodass sich der Handlungsraum erst durch diese Verflechtungen wirklich relational konstituiert. Verschiedene Novellen sind durch lockere Personenkohärenz verbunden, deren Sinnfälligkeit aber nicht in der Einlösung von Handlungserwartungen besteht, sondern in der Konstruktion eines narrativ ästhetischen Textraums höherer Ordnung, der für andere Dimensionen - von dem räumlichen Ausgriff auf Länder außerhalb von Haiti bis zu assoziativen Interpretationen und Träumen des Lesers - offen bleibt. Die in semantischer Hinsicht relationale Handlungs- und Bewegungsstruktur wird letztlich zur Metapher und zum Werkzeug für einen offenen Textraum, der Ort für den prozessualen Wert des Schreibens ist. Die Ungeklärtheit des weiteren Schicksals mancher Protagonisten und die Erratik ihrer Bewegungen fern eines festgefahrenen Habitus negiert die Abgeschlossenheit des Textes und schafft eine Opazität im Sinne von Glissant, die sich dem völligen „com-prendre“ widersetzt (cf. e.g. Glissant 1994: 126sq.). Abschließende Bemerkungen Unsere Überlegungen sind von Einsteins und Schroers Unterscheidung zwischen objektivem Raum mit klaren Randgrenzen („Containerraum“) einerseits und subjektiv-relationalem Raum mit offenen Rändern andererseits ausgegangen. Die daran angeschlossene Hypothese, dass ein subjekti- Raumprojektionen in der neueren frankokaribischen Literatur 145 ves Raumverständnis in der Literatur der Antillen und insbesondere in der literarischen Produktion der letzten Jahre immer mehr in den Vordergrund gerückt ist, dürfte nun zumindest an Plausibilität gewonnen haben. Fest steht aber auch, dass beide Raumkonzepte sich immer komplementär zueinander verhalten und sich mithin nur die wechselseitigen Gewichtungen verschoben haben, keines also einen Text ausschließlich bestimmen kann. In der „Aporie des dominanten Nähe-Raums“ in der frankokaribischen Literatur des 19. Jahrhunderts können wir schon eine Vorbereitung moderner Subjektivierungstendenzen erkennen. Und selbst wenn eine zentrale Thematik von Dany Laferrières Vers le sud (2006) in einer relationalen Öffnung verschiedener Raumebenen gesehen werden kann, so steht am Anfang doch eine klare „objektive“ Zuweisung des Autorreflexes Fanfan zu einem in Haiti eindeutig kategorisierten sozial-geografischen Ort. Diese Subjektivierungstendenz manifestiert sich in einer verstärkten Thematisierung solcher semantischer Räume, die von sich aus vermehrt subjektiver Qualität sind: physischer Mikrostatt Makro-Raum, Körper- Raum, Text-Raum. Die Darstellung von geschichtlichem Raum führt nun oftmals zu einem individuell-perspektivischen Erzählen fiktiver Einzelgestalten oder auch von Kindheitserinnerungen (wie Confiants oben zitiertes Werk Ravines du devant-jour von 1993 oder 2005 Chamoiseaus À bout d’enfance, cf. dazu auch Ludwig, Ms.). Was die Repräsentation von physischem Raum anbelangt, so fällt schließlich die neben der Landschaftsästhetik immer bedeutender werdende Ästhetik des urbanen Raums und die Inszenierung des den urbanen Raum konstruierenden Menschen auf. Als eine wichtige Etappe dieses heute bei Autoren wie Dany Laferrière, Gisèle Pineau, Louis-Philippe Dalembert, Kettly Mars und manchen anderen so deutlich spürbaren Prozesses kann Patrick Chamoiseaus bekannter Roman Texaco von 1992 gelten, der sich dieser Thematik mit seinem Livret des villes du deuxième monde 2002 wieder gezielt zuwendet. In diesem Livret fallen, was den Übergang von einer objektiven auf eine subjektiv-relationale Sicht anbelangt, programmatische Sätze, die zugleich deutlich auf das Erbe von Édouard Glissant verweisen: Toute ville est de rencontres, de contacts et d’échanges. Toute ville est de hasards et d’organisations, d’ordres et de désordres, de chaos et de réorganisations dans un flux imperceptible de mutations internes. Toute ville est un complexe vivant. (Chamoiseau 2002: 24) Literatur Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften I.2. Abhandlungen, ed. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp ²1978. Bergeaud, Émeric: Stella, Paris: Dentu 1859. Bourdieu, Pierre: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris: Minuit 1979. Ralph Ludwig 146 Bourdieu, Pierre: „Espace social et pouvoir symbolique“, in: Pierre Bourdieu: Choses dites, Paris: Minuit 1987, 147-166. 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Mourir pour Haïti ou les croisés d’Esther von Roger Dorsinville (1980) Literaturhistorischer und politischer Hintergrund Mourir pour Haïti ou les croisés d’Esther 1 (Dorsinville 1980) ist ein Roman, der in der Geschichte der haitianischen Literatur eine besondere Stellung hat. Der Grund dafür ist, dass Dorsinvilles Gesamtwerk eher wegen der überzeugenden und eindringlichen Schilderung afrikanischer Sitten und Gebräuche geschätzt wird. Dorsinville (1911-1992) lebte seit 1961 in Afrika und kehrte erst mit dem Ende der Duvalier-Diktatur 1986 nach Haiti zurück. Seine schöpferischsten Jahre waren laut seinem Neffen Max Dorsinville die Zeit von 1973 bis 1986 in Afrika (Dorsinville 2005). 2 Mourir pour Haïti ist das Werk eines Autors, der die Eindrücke in der Diaspora verarbeitete. Dennoch betonte Roger Dorsinville zu Lebzeiten, seine Werke hätten grundsätzlich mit Haiti zu tun. 3 Die haitianischen Wurzeln, die er auch von seinen „afrikanischen“ Romanen behauptete, treten in Mourir pour Ha ti offen zutage. So trifft auf diesen Roman eher als auf die „afrikanischen Romane“ zu, was ein allgemeines Merkmal frankophoner Literatur sein soll: „L’œuvre francophone construit d’une manière insistante son espace d’énonciation: c’est l’un des signes les plus manifestes des littératures coloniales ou postcoloniales“ (Moura 1999: 129). Folgt man Léon-François Hoffmanns Einschätzung, der haitianische Roman bevorzuge, im Gegensatz zu Theater und Lyrik, gegenüber der Ästhetik die Referenz auf die politisch-historische Situation, so stellt man fest, dass die Literatur der haitianischen Exilautoren besonders deutlich Gewalt 1 Im Folgenden nur Mourir pour Haïti genannt. 2 Dies bestätigt Roger Dorsinville (Taleb-Khyar 1992: 544): „I had never worked as much in my life as I had at that time.“ 3 Cf. Roger Dorsinville, den sein Neffe Max Dorsinville zitiert (Dorsinville 2005): „Nul ne peut empêcher que je sois un écrivain haïtien, né là, ayant acquis là ses techniques, ses armes, ayant formé là sa sensibilité première, même si cette sensibilité s’est élargie au contact de l’Afrique, rien ne peut, du point de vue haïtien, m’empêcher de me situer dans le courant haïtien.“ Cf. Delas 1999: 100. Régis Antoine (1992) erwähnt Roger Dorsinville überhaupt nicht. Hoffmann (1998: 61) stellt zwar fest: „Bien des romans gardent certes Haïti pour cadre et des Haïtiens pour personnages.“ Er nennt aber kein einziges Beispiel. Jörg Türschmann 150 und Folter schildert (Hoffmann 1982: 95; cf. Bonn 1997: 122). Dieses Gattungsmerkmal verleiht den Werken von Marie Chauvet, Anthony Phelps, René Depestre und Gérard Etienne, gewollt oder nicht, mitunter etwas Spektakuläres. In Dorsinvilles Mourir pour Haïti agieren vor diesem Hintergrund tragische Helden. Ihr Handeln scheint allgemeinverständlich, denn ihre Courage ist aus unzähligen populären Erzählungen in Literatur, Film und Fernsehen bekannt; insofern lockert sich der Bezug zur konkreten historischen Situation des Duvalier-Regimes. Sie stehen zudem in einem überzeitlichen mythologisch-biblischen Kontext: Les personnages sont comparés aux „croisés“ comme l’indique la deuxième partie du titre „les croisés d’Esther“; leur action renvoie ironiquement à une époque et un lieu révolus, au Moyen Âge, la délivrance du tombeau du Christ en „Terre Sainte“. Les moyens mis en œuvre, les intentions et objectifs déclarés par les combattants sont déconsidérés du fait qu’ils sont en complet décalage avec la réalité (Marty 2007: 178). Im Folgenden soll zunächst eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Romaneingang dazu dienen darzustellen, wie Spannung erzeugt wird. Dieser Einstieg in den Roman ist paradigmatisch für den gesamten Roman, da sich alles auf ihn ausrichtet. Die räumliche Anordnung soll zum einen im Gesamtzusammenhang gelesen werden. Zum anderen soll die daraus abgeleitete Topografie vor dem Hintergrund von postkolonialen Raumtheoremen dargelegt werden. Letzteres ist erklärungsbedürftig. Zur Zeit der Veröffentlichung des Romans wurde Haiti noch von Jean-Claude Duvalier, „Baby Doc“ genannt, und seinen Schergen terrorisiert. Der Roman selbst bezieht sich auf die gesamte Zeit der Duvaliers, sodass von einer postkolonialen Situation keine Rede sein kann. Dennoch gilt: „[…] strictly speaking, the postcolonial history of Haiti begins with its Revolution and liberation from direct French control, which transpired only slightly after the American and French Revolutions“ (Lang 2000). 4 Außerdem ist Haiti während des Duvalier-Regimes abhängig von den USA. Diese stützen es zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen und verdrängen die heimische Produktion. The cast of characters then became more complex, one might say Shakespearean. Nor does it help to revert to the alternative term „neo-colonial“, although the heavy hand of European and American imperialism continued and continues to weigh. Mad kings spring up everywhere. No culture has a monopoly (ibid.). Im Fall der besonderen politischen Situation in Haiti ist die literarische Repräsentation postkolonialer Raumordnung nicht einfach jenseits einer deut- 4 Im Jahr 1804 erklärt Jean-Jacques Dessalines Haiti für unabhängig. Der Terror der früheren weißen Kolonialherren schlägt sofort in den Terror der neuen schwarzen Machthaber um. Dessalines’ Unabhängigkeitserklärung kündigt das Massaker an den Weißen im selben Jahr an (cf. Hoffmann 1998: 13, 19). Postkoloniale Schweigeräume 151 lichen historischen Trennlinie zwischen Kolonialzeit und neuer Machtordnung anzusetzen, sondern auf der Grenze selbst. Das Selbstverständnis postkolonialer Standortbestimmung erklärt sich auf Romanebene schweigend und ungehört in den Köpfen der Beteiligten, verleiht deshalb aber seiner literarischen Veräußerung ein besonderes Gewicht als Beitrag politischer Anteilnahme. Dieses Zu-Gehör-Bringen kann nur aus einer „verrückten“ Position in der Diaspora erfolgen, die auch dann noch anhält, als Dorsinville bereits wieder nach Haiti zurückgekehrt ist. 5 Der Logos des wandelbaren Topos Maria alias Esther tötet auf den Champs de Mars in Port-au-Prince zwei macoutes mit einem Maschinengewehr. 6 Es handelt sich um einen gezielten Anschlag. Esther ist in diesem Moment nicht allein, sondern sie wird begleitet von Aldo, einem reichen jungen Mann. Sie hatte sich mit ihm umgeben, um unauffällig ihre Tat vorbereiten zu können und weil sie Aldo wegen ihrer unterschiedlichen sozialen Herkunft nicht lieben könnte. Beide werden noch vor Ort von den Militärs erschossen, ihre Leichen mehrere Tage dort nackt in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt. In der Folge erzählt der Roman die Geschichte mehrerer Personen, die Esther vorher begegnet sind oder aber mit der Untergrundbewegung zu tun haben, zu der Esther gehörte. Sie sind Esthers „Kreuzfahrer“. Denn der Anschlag zwingt sie alle, zu dieser Tat und zur politischen Situation Stellung zu beziehen. Diese Personen und viele weitere, von denen nebenbei die Rede ist, fallen alle der Verfolgung durch das Regime zum Opfer, nach dem Prinzip, das da lautet: „une simplifiante logique de l’amalgame“ (Dorsinville 1980: 13). Gemeint ist, dass die geringste Beziehung zur Attentäterin genügt, um verfolgt und getötet zu werden. Sie erleben alle wie Esther den herannahenden Tod in der Art einer Spannung zwischen der Entscheidung für den Widerstand und der Rekapitulation der Vergangenheit. Diese Spannung ist jeweils als spektakuläre Gefahrensituation inszeniert. Der erste Satz des Romans lautet: „Cette mise à mort bruyante, qui était son œuvre, l’avait surprise, choquée presque hors de ses sens“ (op. cit.: 7). Der Satz zieht den Leser unmittelbar in das Geschehen hinein. Das Partizip 5 Dorsinville sagte über die Zeit nach seiner Rückkehr nach Haiti, in der er erblindete und durch einen Schlaganfall ans Bett gefesselt war, dass er von Haiti nur hörte, so als ob er noch im Senegal gewesen wäre (cf. Taleb-Khyar 1992: 545). „Trente ans sont passés comme un bulldozer. Être revenu c’est être entré dans une vallée des morts“ (Dorsinville 1987: 17sq., zitiert nach Hoffmann 1998: 60). 6 An den Champs de Mars befinden oder befanden sich unter anderem der Nationalpalast und die Hauptquartiere von Armee und Polizei, die französische Botschaft und die Denkmäler für Haitis Gründungsväter Toussaint, Dessalines, Christophe, Pétion und Capois. Jörg Türschmann 152 macht deutlich, dass von einer Frau die Rede ist. Die Protagonistin besitzt einen Informationsvorsprung. Der plus-que-parfait legt dieses Wissen offen: „Cette mise à mort […] l’avait surprise, choquée.“ [Hervorhebung J.T.] Der Informationsvorsprung besteht allerdings nur darin, dass die Protagonistin in der Lage ist, von diesem Erstaunen selbst rückblickend zu berichten. Denn sie stirbt anschließend. Eine Erklärung dafür, warum sie überrascht ist, gibt es nicht. Möglicherweise überrascht sie der Anblick dessen, was ihre Tat zur Folge hat. Wirkungsästhetisch ist dieser erste Satz vielfältig. Überraschung beruht gegenüber Neugierde und Spannung auf der Diskrepanz zwischen Vorwissen und Ereignis (Baroni 2007: 107sq.). Marias Überraschung ist Teil ihrer eigenen Wahrnehmung, gehört also zur erzählten Welt. Die Lektüre des ersten Satzes erzeugt dagegen Neugierde beim Romanleser. Ein Ereignis ist eingetreten, das sich auf keine Vorinformationen zurückführen lässt. Es stellt sich schnell heraus, dass die Zeitspanne zwischen der Tat, die Esther begangen hat, und dem Moment ihres Rückblicks sehr kurz sein muss. Sie befindet sich selbst noch in der Situation, in der sich die Tat ereignet hat. Maria fängt sich kurz darauf und beendet ihr Vorhaben. Sie tötet die beiden verletzten, noch lebenden macoutes kaltblütig mit vier kurzen Salven aus ihrem Maschinengewehr. Es bleibt die Spannung. Der Romaneinstieg ist für ein Lesepublikum in der „Ersten Welt“ gefällig. Er erzeugt mit stilistischer Raffinesse Spannung, die in der Unterhaltungsliteratur gang und gäbe ist. Eine solche Situation besteht aus einer Kombination von Zeitdehnung und Raumverengung (Borringo 1980: 86). Der Raum verengt sich durch die herannahenden Militärs. In diesem schrumpfenden Raum versucht Maria, Zeit für sich zu gewinnen. Sie möchte trotz der Raumverengung, die zur beschleunigten Lösung drängt, in einer Idiosynkrasie aus metaphorischer Überhöhung und metonymischer Berührung mit dem Ort des Geschehens langsam zu Boden fallen, wenn sie von den Kugeln getroffen werden wird: La sirène s’approchait, et tout de même n’était-il pas temps vraiment qu’on donnât à cette ville, entre autres choses, un urbaniste qui connût son affaire, un peu prophète aussi, prévoyant tout, et qui eût mis en cet endroit un massif d’hortensias pour la chute d’un long pétale. Elle se pensait en termes de pétale flottant (Dorsinville 1980: 23). 7 Diese Vorstellung verweist in die Zukunft, aber in der Gegenwart der Projektion wird durch die langwierige sprachliche Umsetzung Zeit gewonnen. Die Dehnung der Zeit soll den bevorstehenden Tod hinauszögern. Dazu dient der Ausblick in die nahe Zukunft. In diesem Augenblick sind Marias Erinnerungen ebenso wie der Ausblick auf den Tod Teil einer Gedächtnisre- 7 Dagegen stürzen die beiden Macoutes rasch zu Boden: „Elle avait vu pourtant sa propre rafale ramasser deux chiens et les jeter en arrière comme par un vent d’orage […]“ (Dorsinville 1980: 23). Postkoloniale Schweigeräume 153 de. In herkömmlichen Gefahrensituationen besitzt der Held eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber seiner physischen Umgebung - jedes Detail wird bedeutsam. Seine Beschreibung kann ausführlich sein und erscheint dennoch unbedingt notwendig. Der Logos wirkt zugleich gehetzt und wie darauf angelegt, Überflüssiges zu vermeiden. 8 Mögen in diesem Fall Detailschilderungen ebenfalls Ausdruck einer inneren Rede des Helden sein, so bleiben sie an die unmittelbare Umgebung gebunden. Bei Maria ist es nicht nur das. Das erste Kapitel, das ihren Namen als Titel trägt, erzählt in Rückblenden und eingeflochtenen Schilderungen der Situation vor Ort, wie sie ihre Tat vorbereitet hat, was sie mit dem Ort verbindet, an dem sie den Anschlag verübt hat, und wie sie Aldo kennen gelernt hat. Diese Informationen sind eingespannt in die Zeit, bis das Militär eintrifft und die beiden tötet. Der Diskurs selbst wird zur räumlichen Veräußerung der verstreichenden Zeit. Die Erinnerungen müssen sozusagen rasch erfolgen und sollen doch nicht enden. Je länger sie dauern, desto stärker drängt sich der Ausgang der Situation auf, desto näher steht der Tod bevor. Diese Zeitdehnung erfolgt auf der Ebene des Diskurses, indem Details ausführlich beschrieben werden, die Maria in ihrer gesteigerten Sensibilität wahrnimmt. Die eingeflochtenen Erinnerungen haben dieselbe Funktion, nämlich die Zeit fast bis zu ihrem Stillstand zu dehnen. Die Verschränkung der verschiedenen Zeitebenen ist in einem weiteren Rahmen biblischer Konnotationen zu deuten. Anne Marty schlägt den Ausdruck „espaces mouvants“ vor, um einerseits eine sagenumwobene, paradiesische Vergangenheit, „l’Eden perdu“, andererseits die furchtbare Gegenwart, „l’Enfer“, in den Romanen Dorsinvilles zu bezeichnen (Marty 2007: 169). In diesen espaces mouvants schlägt die christliche Mythologie, auf die sich die Freiheitskämpfer berufen, in den Terror um, dem sie den Kampf angesagt haben. 9 „La précarité de ces espaces en transition se traduit par un mouvement de va-et-vient entre le passé, le présent et l’avenir qui trouve sens dans la juxtaposition d’espaces symboliques influencés par le discours biblique“ (op. cit.: 176). Der wandelbare Topos erfährt im Attentat eine Umwertung, die mit dem Tod aller unmittelbar Beteiligten den Einsatz der Mittel und das Ergebnis der Aktion zur Deckung bringt. Nach der Befreiung vom europäischen Kolonialismus bietet sich den Akteuren unter der Diktatur nur ein Gedankenraum für eine scheinbar freie Bewegung an, die aber einer selbstzerstörerischen Eigendynamik verhaftet bleibt. Dieser Logos 8 Cf. Borringo 1980: 56: „So effektiv (viel) Textinventar wie möglich, gleichzeitig aber so wenig (überflüssiges) Textinventar wie möglich, so daß auch dadurch der Umstand zu erklären ist, daß die reale Zeitausdehnung solcher Situationen nicht unbedingt groß sein muß.“ 9 Die Groß- oder Kleinschreibung von „Justicier“, „Christ“ und anderen weist in Mourir pour Haïti jeweils darauf hin, ob es sich um die positive oder negative Variante handelt (cf. Marty 2007: 185). Jörg Türschmann 154 eines wandelbaren Topos schrumpft rasch durch den sich verengenden physischen Raum eines symbolträchtigen Orts. Populäre Vorbilder Der symbolträchtige Handlungsort der Champs de Mars vereint die Gedankenrede im liminalen Raum zwischen Kolonialismus und Diktatur mit der spektakulären Suspense-Situation. In Mourir pour Ha ti gibt es eine Reihe von Verweisen auf die Unterhaltungskultur der „Ersten Welt“. Dies geschieht schon durch die effekthascherische Spannung im ersten Kapitel. Darüber hinaus gibt es einen genaueren Hinweis auf das kollektive Gedächtnis Haitis, das nicht vor den großen Helden aus Literatur und Film in Europa oder den USA Halt macht. Auch hier spielt eine räumliche Beziehung eine Rolle. Genau an dem Ort, an dem sich Maria befindet, lief sie auch als Schülerin der École Normale entlang. In dieser glücklichen Zeit als Kind beobachtete ein gewisser Alcindor sie hinter seinen Brillengläsern und gab ihr wie anderen Mädchen den Namen von Kinostars (Dorsinville 1980: 22). So kam Esther zu dem Namen Maria Dalba cin. Geht man der möglichen Anspielung nach, so stößt man auf eine gleichnamige Filmschauspielerin. Diese Dalba cin war Darstellerin in französischen Kinoserienfilmen der 1920er-Jahre mit sprechenden Titeln wie L’Espionne aux yeux noirs (1925). 10 Vielleicht handelt es sich um Kinoerfahrungen, die Roger Dorsinville selbst gemacht hat. Denn als Marias Onkel Victor, ein mögliches alter ego des Autors, zu einer Versammlung kommt, bei der sich die Familie nach ihrem Tod von Esther lossagen möchte, heißt es in einem Autorkommentar: „Silencieux il entra ‚comme un justicier‘ (allons j’ai lu trop de romans, vu trop de films et me voici Mandrin, Sartana ou un mafioso, mais je n’ai pas inventé ce fumeux concile)“ (Dorsinville 1980: 48). Mandrin war ein Räuber, Schmuggler und Kämpfer für die Entrechteten. Er wurde 1755 in Valence hingerichtet. Sein Leben gab Stoff für Literatur und Film. 11 Sartana in der gleichnamigen Serie von Spaghetti-Western aus den 1960er-Jahren ist ein Retter und Racheengel, der durch die Härte seines Vorgehens Maria ähnelt, aber als Führerfigur faschistische Züge trägt. Wenn in Mourir pour Ha ti also Spannung durch Raumverengung und Zeitdehnung erzeugt wird, dann hat das mit diesen Anspielungen auf populärkulturelle Helden zu tun. Die Roman- 10 Ihr Name geht möglicherweise auf Albaicín zurück, das älteste Viertel im spanischen Granada aus maurischer Zeit, das auf einem Hügel liegt. Da Esther auf einem Hügel stirbt, kann es sich um ein Bild für den Untergang früherer Kulturen handeln. 11 Mandrins Hinrichtung und die Ausstellung seines Körpers weist Parallelen zu Esthers Kampf auf. Voltaire soll seinen Kampf so beschrieben haben (cf. mandrin.org s.a.): „On prétend que Mandrin est à la tête de 6000 hommes déterminés; que les soldats désertent pour se ranger sous ses drapeaux et qu’il se verra bientôt à la tête d’une grande armée. Il y a trois mois ce n’était qu’un voleur, c’est à présent un conquérant.“ Postkoloniale Schweigeräume 155 figuren wissen um die einfachen Bilder, die diese Kultur ihnen zur Verfügung stellt. Und doch beziehen sie gerade in Momenten höchster Gefahr Kraft daraus. Es geht bei all diesen wirklichen oder erfundenen Helden um die Frage, wer das Recht zur Deutung einer politischen Situation hat. Und dieses Recht hat mit dem Schicksal der Romanfiguren zu tun, das der Roman schildert. Funktionale Identitäten Die Heldenfiguren einer in saturierten Gesellschaften vielfach gescholtenen kapitalistischen Kulturindustrie weisen über die Schwellensituation zwischen Kolonialismus und Diktatur hinaus. Sie sind insofern Ingredienz kultureller postkolonialer Entgrenzung. Jedoch funktionieren sie im Sinn der einstigen Kritik etwa der Frankfurter Schule an der Kulturindustrie als Affirmation der „bestehenden Verhältnisse“. Die Figuren kämpfen in allen Fällen um ihre Identität und wissen, dass diejenige die richtige ist, die ihnen den besten Schutz gibt. So ist es auch bei Maria, die sich Aldo zu ihrer Tarnung ausgesucht hat: „Elle l’avait choisi pour jouer un rôle, comme elle avait choisi le rôle de vivre doublement […]“ (Dorsinville 1980: 14). In dem Kapitel „Victor“ wird ihre Familie namens Dubuisson beschrieben, in der sie aufgewachsen ist. Diese Familie ist keineswegs die Realität, die einer Fiktion gegenüberzustellen wäre, sondern beide sind gleichwertig. Ainsi, elle avait été Maria Dubuisson, la morte des gravillons, du gazon ras, de la ceinture de ciment sur la butte, l’écolière de l’annexe beaux-yeux-toujours-baissés: Maria Dalba cin-Esther Dubuisson. Sainte Esther. Le Justicier en pleurait presque des yeux, tout baigné de larmes intérieures (Dorsinville 1980: 49sq.). Es zeigt sich bei Esther auch, dass sie ihre funktionale Identität ausschließlich in der Isolation ausbildet. Sie wählt sich Aldo zur Tarnung. Die Solidarität Aldos kann sich dadurch erst im Augenblick des Attentats offenbaren, als Aldo sieht, was Esther tut, und sich spontan ihrem Vorhaben anschließt. Ihre Verwurzelung im Ort des Geschehens gestattet ihr nicht zu erkennen, dass sie auf Aldo zählen kann, der weit gereist ist und eine Sicht auf die Lage ins Spiel bringt, die Esthers enge Perspektive einer funktionalen Identität um vieles überschreitet. L’être de l’ailleurs, de nulle part et de partout à la fois, met en relief liberté et disponibilité. Transmis par […] Aldo […], ce diptyque de la solidarité paraît comme préface au redressement social ou collectif au sein duquel le personnage de l’Etranger [sic] joue un rôle de catalyseur (Dorsinville 2004: 134). Funktionale Identitäten nutzen zwar solche Katalysatoren, bleiben aber ohne persönlichen, affektiven Bezug zu anderen Menschen, vor allem solchen, die Erfahrungen außerhalb Haitis gewonnen haben. Alle Mitglieder der Widerstandsbewegung sind jederzeit bereit, ihre Beziehung zu ihren Mitstreitern Jörg Türschmann 156 zu verleugnen, um die Sache nicht zu gefährden. Und auch Esthers Familie leugnet ihre Verwandtschaft zu ihr, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Die Erlebnisse von Fremden können nicht in eine kollektive Erfahrung eingehen. Außer Aldo sind die Romanfiguren damit weit entfernt von Édouard Glissants emphatischer Raumvorstellung eines tout-monde, einer später postmodern gefärbten totalen Immanenz „after 1981 in the hollow aestheticization of global experience via an evocation of culinary tourism […]“ (Nesbitt 2003: 173). In Mourir pour Haïti kommt dagegen ein Individualismus zum Ausdruck, der sich das Heldentum des Individuums in einer liberalen Ökonomie zum Vorbild für das Töten nimmt. Esther ist ihrem hebräischen Namen nach ein Stern, ein Star. Sie ist laut alttestamentarischer Überlieferung eine große Retterin und Vorläuferin der Maria im Neuen Testament. Sie ist für die anderen aus der Widerstandsbewegung der Leitstern. Die beiden Namen verschränken Fiktion und Realität so miteinander, dass Vergangenheit und Gegenwart eng zueinanderrücken. Die Gegenwart ist nur ein Gewand, in der die Vergangenheit auftritt. Die Wandlung des Topos, den Esthers biblischer Mythos in dieser Zeitenverschränkung andeutet, beginnt allerdings historisch gesehen an einem friedlichen Ausgangpunkt, da die biblische Esther ihren Kampf ohne Waffen führte (cf. Marty 2007: 179). Die doppelte Identität von Dorsinvilles Esther und die der anderen Helden des Widerstands unterscheidet sich jedoch nicht von der übrigen Bevölkerung, die ebenfalls verschiedene Rollen annimmt, um zu überleben: „[…] par un double de lui-même, supposé, subodoré, souvent fictif mais réel dans la mesure où on y croit et parfois les gens se mettent à vivre le second personnage, le faux, ayant oublié le premier“ (Dorsinville 1980: 27). Esther ist eine Leitfigur, weil sie zeigt, dass der Einsatz des eigenen Lebens das einzig Richtige in der Situation ist, in der sich Haiti befindet. Victor, der der Polizei harmlos erscheint, weil er ein „poète“ und ein „fou“ sei, denkt: Et qu’il fallait une nouvelle vie, un nouveau genre de vie, une nouvelle éducation… pour la mort au lieu d’éduquer pour la vie, parce que c’était laid et que finalement ceux seuls qui jouaient bravement pour la mort gagnaient leur vie (op. cit.: 52sq.). Der Dichter als „fou“ hat wie der „fou délirant“, der als Kürzel „F.D.“ für „François Duvalier“ steht, seinen Logos eines wandelnden Topos konsequent im Sinne einer Annäherung an den negativen Pol geführt, wo Leben und Tod eins sind. Postkoloniale Schweigeräume 157 Das Raumpalimpsest Die Figur der Esther-Maria bildet ein Zentrum, um das alle anderen Figuren oder Personen kreisen. Die Zeit wird zu einer räumlichen Anordnung der Vergangenheit und Zukunft um die Gegenwart herum. L’histoire ne se raconte jamais vraie; l’héroïne y monte en fleur, à partir d’un germe certain, un humus de grandeur et de simplicité enrobant ses racines. Or, c’est par mépris de l’humus, fumier de l’histoire, qu’elle allait se faire tuer (Dorsinville 1980: 17sq.). Das Heldentum ist also zwiespältig. Es ist aufgespannt zwischen mythomaner Imagination und historischer Realität. Aldo erklärt vor seinem Tod: Je n’ai pas de respect pour l’ignorance, la superstition, la résignation. Comment respecter ce peuple même si je respecte son Histoire? Et peut-être va-t-il falloir relire celle [sic] Histoire. […] Peut-être qu’en ré-étudiant cette histoire, comment elle a été vraiment faite, on trouvera le joint, la recette pour faire renaître les nécessaires haines et héros (op. cit.: 42). Victor erklärt zu seiner Familie, die ihre Verwandtschaft mit Esther leugnen möchte: Il y a […] plusieurs portes à l’Histoire. Ganelon y est entré par une poterne, en se baissant, puis il y a eu Garat tirant sur son empereur, Conzé livrant Charlemagne Péralte. La question est: Qui voudrait être leur petit-fils, mais qui ne voudrait pas être dans vingt ans la petite nièce d’Esther? L’honneur des Dubuisson (op. cit.: 64). Dagegen sagt der peruanische Botschafter, bei dem Michel, ein junger Verwandter von Aldo, Zuflucht gesucht hat, um ein gerechtes Gerichtsverfahren zu erwirken, zu seinem Gast, den er vor zu viel Optimismus warnen möchte: „Contre l’injustice qui toujours tente de renaître il faut planter partout des jardins du souvenir“ (op. cit.: 91). Dieser Satz ist auch das Motto, das dem Roman vorangestellt ist. Die Garten- und Blumenmetaphorik macht den Ort des Sterbens als postkoloniales „Palimpsest“ begreifbar (Ashcroft/ Griffiths/ Tiffin 1998: 182), indem sich die verschiedenen Abschnitte der Geschichte an Ort und Boden einschreiben, gebunden in diesem Fall an den Tod einzelner Personen, denen ihre Individualität wiedergegeben wird, die das Regime mit allen Mitteln vergessen machen will. Die Pflanzenmetaphorik ist doppeldeutig. Denn die Gärten blühen zwar auf den Gräbern der Opfer des Duvalier-Regimes, doch wird dieser Zusammenhang für eine breite politische Öffentlichkeit nicht offensichtlich. Auf Esthers Beutel, in dem sie ihre Waffen trug, waren Tulpen aufgestickt, „hautes et droites comme elle“, wie Michel feststellt (Dorsinville 1980: 92). 12 12 Der Einband der Ausgabe von L’Harmattan aus dem Jahr 1980 zeigt ebenfalls eine Tulpe. Wofür die Tulpe steht, ist unklar. In Hinblick auf 1001 Nacht und die persische Kultur kann es sich um ein Symbol für die Liebe handeln. Jörg Türschmann 158 Er folgert aus dieser aufrechten Haltung, dass der Gerichtsprozess gegen ihn und seine Verurteilung zum Tod große öffentliche Aufmerksamkeit erregen würden. Doch gibt es keine Garantie für das Raumpalimpsest. Denn es existiert nur in der Öffentlichkeit. Der Botschafter schlägt deshalb Michel vor, besser auch einen Anschlag zu versuchen, wenn er schon sterben möchte. Das weitere Geschehen gibt ihm Recht, denn Michels Prozess findet in den entscheidenden Momenten unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Er wird auf dem Weg zur Guillotine in die Keller der macoutes entführt und dort so lange geprügelt, bis sein aufgedunsener Leib nicht mehr zu erkennen ist, ein „pré-cadavre“ (op. cit.: 123), der vom Docteur Legros fit gespritzt werden soll, damit eine weitere Folter möglich ist. Legros spritzt Michel tot und geht selbst in den Widerstand, wo er umkommt. Der soziale Tod Die Romanfiguren erleiden den „sozialen Tod“ (Ziegler 2000: 75sqq.). 13 Gemeint ist, dass jemand von einer sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen ist, wenn die Beziehungen zu ihr verloren gehen oder sich niemand mehr an die Person erinnert. Der soziale Tod kann sich vor oder nach dem biologischen Tod ereignen. Lässt sich aus eigener Sicht vom leiblichen Tod nicht berichten, so ist der soziale Tod die einzig unmittelbar kommunizierbare Form des Sterbens. Der soziale Tod kann sprachlich ohne Umwege dargelegt werden, er kann direkt bezeichnet werden. Er ist beobachtbar als „Trennung von Körper und Identität“ (Macho 1987: 408). Das Erlebnis des physischen Todes kann dagegen nicht ohne sprachliche Bilder bezeichnet werden. Das leibliche Sterben lässt sich nur in Metaphern beschreiben (op. cit.: 196). Der soziale Tod bildet den Nährboden des leiblichen Endes von Esther. Die macoutes lassen Esthers Leichnam auf dem Hügel, auf dem sie erschossen wurde, mehrere Tage unbedeckt verwesen. „Esther laissée nue deux jours deux nuits sur la butte et les vers et les mouches en faisaient leur repas, et les voisins en face qui n’osaient fermer leurs fenêtres, leurs portes, de peur de sembler protester ou prendre le deuil“ (Dorsinville 1980: 50). In der Umgebung müssen alle den Anblick und Gestank der Leiche ertragen, werden gezwungen zu vergessen, warum Esther wirklich starb und wer sie wirklich war. Die Präsenz der Leiche und die Angst vor dem eigenen Tod verdrängen die Erinnerung an die Person. Brutal und anschaulich wird der soziale Tod ohne Umschweife geschildert. Victor wirft sich vor, nicht den Mut gehabt zu haben, die Leichen von Esther und Aldo zu begraben oder wenigstens mit einem Tuch zu bedecken: 13 Die folgenden Ausführungen und Quellenangaben zum Begriff des sozialen Todes gehen zurück auf Mielke (2006: 20sqq.). Postkoloniale Schweigeräume 159 […] la sainte et son bien-aimé exposés à tous les vents, toutes les poussières, tous les soleils, tous les regards, tous les crachats, toutes les vomissures, à un million de sales yeux, d’yeux lâches sur ses seins, sa croupe sur… (O Dieu Tout Puissant, Dieu maudit d’avoir créé l’homme! ) sur la fleur de son sexe ravagée de vers et de mouches vertes sous le soleil par l’ordre d’un fou délirant (ibid.). Die unmittelbare Gegenüberstellung von Metapher, „fleur“, und Anschauung, „ravagée“, macht den Widerstreit um die Rettung Esthers vor dem sozialen Tod deutlich. Der soziale Tod verhindert die Entstehung eines Raumpalimpsests, also die weithin sichtbare Verknüpfung der wahren Beweggründe der Attentäter in der Vergangenheit mit dem Anschlag an diesem Ort in der Gegenwart für eine bessere Zukunft. Postkoloniale Gedankenräume und rahmenzyklische Narration Der „postkoloniale Impetus“ des Romans fällt aber nicht nur wegen der Aussichtslosigkeit der dargestellten Attentate schwach aus. Teilt man die verschiedenen Formen der Machtausübung kreuzklassifikatorisch ein, dann ergibt sich folgendes Schema (Mann 1984: 188): Infrastructural power Low High Low Feudal Bureaucratic Despotic power High Imperial Authoritarian Die Machtausübung der USA in Haiti darf als „imperiale“ bezeichnet werden (Slater 1999: 70 sowie Said 1993: 289). Dagegen handelt es sich nach oben genannter Terminologie bei der Duvalier-Diktatur um ein autoritäres Regime. Für die Attentäter, die ihr vorläufiges „Heil“ in einer Zermürbungstaktik suchen, heißt dies als Fernziel, dass sie gerade einmal einen Wechsel von einer autoritären zu einer imperialen Herrschaftsform bewirken könnten, dann nämlich, wenn es ihnen gelänge, das Regime zu stürzen und den Einfluss der USA unmittelbar deutlich werden zu lassen. Dass diese Prognose stimmig ist, belegt die spätere Geschichte. Jean-Claude Duvalier muss fliehen, nachdem Ronald Reagan ihn nicht mehr unterstützt. Die wenig verlockende Aussicht auf einen Wechsel von einem autoritären zu einem imperialen Regime, die Notwendigkeit von funktionalen Iden- Jörg Türschmann 160 titäten sowie die Verhinderung von Raumpalimpsesten durch den sozialen Tod haben auf den ersten Blick wenig zu tun mit dem postkolonialen Raum ökonomischer Globalisierung, der sich ex negativo wie folgt beschreiben lässt: In these conditions, the traditional binary models of political struggle - simple models of coloniser/ oppressed - seem inapplicable to spatial economy of power which cannot be reduced to simple geographical dichotomies - First/ Third, Center/ Margin, Metropolitain/ Peripherical, Local/ Global - nor, at least, to questions of personal identity (Grossberg 1996: 170). Um die eigene persönliche Identität ist es in Haiti aber schlecht bestellt. Denn die internalisierte Unterdrückung ist in Haiti ein allgegenwärtiger Lebensmodus, der jeden Versuch einer Bestimmung der eigenen Identität zum Scheitern verurteilt. Die Beziehung zum heimatlichen Raum existiert nicht, weil sich die Heimat nicht definieren lässt. Sie lässt sich nicht benennen, ihre Existenz darf nicht offen und hörbar behauptet werden. Sie kann nicht ins Bewusstsein rücken, weil die Überschreibung von Orten im Sinn einer Überlagerung historischer Zeitschichten durch den sozialen Tod ihrer Akteure verhindert wird. Es entsteht kein lieu de mémoire, der alle Facetten der Geschichte widerspiegelt. 14 Die Gedankenräume, die zur Selbsterfahrung notwendig sind, öffnen sich auf anderem Weg. Die Figuren sprechen zu sich selbst. Sie erzählen sich in Augenblicken höchster Not von Esthers Schicksal und setzen sich dazu ins Verhältnis. Sie entwickeln funktionale Identitäten durch ein „instrumentales“ oder „praktisches“ Erzählen (Klotz 1982: 332), das paradigmatisch im außereuropäischen Raum durch 1001 Nacht repräsentiert ist. Dabei ist die räumliche Anordnung des Palimpsests eine doppelte. Zum einen hilft das Erzählen, selbst in der Form individueller Gedankenrede, gegen die Einsamkeit, gegen die „Ungeselligkeit von Friedhofparzellen. Formelhaft hieße somit das Prinzip, das sich hier durchweg zu erkennen gibt: Erzählen als Enttöten“ (ibid.). Der Raum, den sich Dorsinville dabei erschließt, ist der seiner eigenen Identität. Dafür muss er laut hörbar kommunizieren. Dies ist aber möglicherweise der eine Schritt, den der Autor weiter als seine Figuren geht, da diese in der Gedächtnisrede verharren oder wie im Fall von Michel ungehört verhallen. In Mourir pour Haïti liegt stattdessen auf der Handlungsebene eine groteske Selbstbezüglichkeit vor: „l’inanité du ‚mourir pour mourir‘“ (Marty 2007: 183). Marty stellt fest, dass die „Ethique dorsinvillienne“ aus der Absage an Dogmen in der Religion und in der Revolution bestehe, dass gemäß dieser Ethik Wissenschaft und Rationalität der Orthodoxie Einhalt gebieten müssten (Marty 2007: 185sq.). Und sie betrachtet den Bezug auf die Bibel als Dorsinvilles Versuch eines „retour de l’éducation première et le monde de 14 Zur jüngeren kritischen Diskussion des Konzepts von Pierre Nora cf. Schmidt (2004). Postkoloniale Schweigeräume 161 l’enfance qui constituent une grande partie de l’identité de l’auteur“ (Marty 2007: 188). Der Hinweis auf die Kindheit des Autors ist bei genauerer Betrachtung zwiespältig und hat mit dem Kern des Romans zu tun. Das Prinzip des mourir pour mourir bestätigt die Sprache, die das Regime spricht. Das sinnlose Sterben der Folteropfer und der Attentäter ist in einem logischen Kreislauf erklärbar. Es ist möglich, dass Roger Dorsinville hier eine autobiografische Dimension in seinen Roman eingearbeitet hat. Der Vater richtete bis zum sechsten Lebensjahr des Sohns fast nie das Wort an ihn. Später entwickelt Roger Dorsinville eine „nonverbal form of communication through writing“ (Austin 2002), bei der der Sohn erst auf Umwegen erfährt, dass der Vater auf dessen Texte stolz ist. Dadurch kann sich der Sohn lange Zeit nicht lösen. Diese individuelle Beziehung zwischen Vater und Sohn findet sich in Dorsinvilles Ausdeutung der haitianischen Gesellschaft wieder: This „natural order“, where the son follows in the footsteps of his father, and where it is „out of the question“ for him to turn out to do anything less, ultimately relates to what the speaker calls Haiti’s „suicidal cycle“. Describing this cycle, he says, „we’re talking about a very unusual society whose main characteristic is to turn in a circle within a value system that spurs each one to move up a bit, in search of some betterment“. Key words in this statement are „a bit“ and „some“, which indicate a very small or moderate betterment or transformation, but which outlaw any major ameliorations or drastic changes. This, combined with the fact that the value system is described as a „circle“, which has no beginning and no end, and repeats itself over and over, presents the reader (or listener) with the image of a stagnant society. Stuck in this circle, a person can only improve a bit on what has already been done, but ultimately, can never deviate or break free (ibid.). Dorsinvilles persönliche Entscheidung, zum Militär zu gehen, ist erklärbar als „paradox“ im Sinne eines „making a decision without thinking about it“ (ibid.). Der selbstmörderische, kleinbürgerliche Zirkel verlangt, den einfachsten Weg zu gehen, ohne nachzudenken. Dorsinville erlebt das Militär wieder als einen Ort des Schweigens und der kargen Worte und findet erst nach einer Haftstrafe sein Selbstbewusstsein: This „consciousness of self“, characterized by the development of independent thought, is marked by Dorsinville’s famous and monumental Defense Plea. An important work in many ways, its main significance in this context relates to the way in which it was presented. Although written by Dorsinville, the plea was designed to be spoken - to use the verbal word to approach others, to communicate and to explain. The first paragraph of the Defense Plea illustrates this intent, „we intend to defend ourselves so that our silence not be falsely interpreted as a vain display of pride“ (ibid.). Jörg Türschmann 162 Fazit Dorsinville deutet in Mourir pour Haïti das Erzählen als Enttöten radikal um. Die Figuren tradieren in ihren Gedanken ein verruchtes Gesellschaftssystem, das stillschweigend gestützt wird. Der Kolonialismus ist zwar überwunden, doch der Blick auf Alternativen in der globalisierten Welt ist durch die Diktatur nicht möglich. Die wiederholt eingefügten Erinnerungen und Projektionen stehen in einer rahmenzyklischen Konstruktion, die auf fatale Weise den énoncé mit dem Ort der énonciation zur Deckung bringt. Dieser Raum der Stille führt zu keiner Kommunikation. Stattdessen artikulieren sich die todesmutigen Helden mit Hilfe von Versatzstücken aus der Populärkultur der „Ersten Welt“. Diese Loslösung vom eigenen kulturellen Terrain ist eher ein Zeichen für koloniale Strukturen (cf. Moura 1999: 129). Solche Anleihen bei der Unterhaltungsindustrie dienen nicht der Zerstreuung von monotoner Arbeit und Alltagsroutine, sondern der geistigen Ausdeutung von Extremsituationen, in denen Raumverengung und Zeitdehnung funktionale Mehrfachidentitäten zu einem blitzartig identitätsstiftenden Martyrium aufwerten. Bei diesen zahlreichen Augenblicken liegen in Mourir pour Haïti die ausführlichsten Standortbestimmungen vor. Jedoch sind sie reproduktiv, repetitiv und damit folgenlos. Nur der Roman kann diese Gedanken öffentlich machen. Dagegen werden die Orte der Attentate als wandelbare, religiös motivierte Gedankenräume inszeniert, in denen die Todessehnsucht der letalen Realität nur die Glorifizierung des Heldentodes entgegenhalten kann. Literatur Antoine, Régis: La Littérature franco-antillaise. Haïti, Guadeloupe et Martinique, Paris: Karthala 1992. Ashcroft, Bill/ Gareth Griffiths/ Helen Tiffin: Key Concepts in Post-Colonial Studies, London/ New York: Routledge 1998. Baroni, Raphaël: La Tension narrative. Suspense, curiosité et surprise, Paris: Editions du Seuil 2007. Bonn, Charles: Littérature francophone 1. Le Roman, Paris: Hatier 1997. Borringo, Heinz-Lothar: Spannung in Text und Film. Spannung und Suspense als Textverarbeitungskategorien, Düsseldorf: Schwann 1980. Delas, Daniel: Littératures des caraïbes de langue française, Paris: Nathan 1999. Dorsinville, Max: „Roger Dorsinville en trois temps“, in: Marie-Agnès Sourieau/ Kathleen M. Batulansky (eds.): Ecrire en pays assiégé. 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Weiss/ Moss 1996: 69) Literatur beziehungsweise der „écriture migrante“ (cf. Proulx 2005: 35) 1 zugerechnet werden können. Diese zeugt von der Erfahrung der Migration, womit ihre Autoren mit teils asiatischen, teils arabischen, teils antillanischen kulturellen Hintergründen hinlänglich gezeigt haben, dass nicht nur die zeitgenössische kanadische Literatur, sondern auch die kanadische Gesellschaft eine transkulturelle ist. Anhand von Prosatexten wie dem Roman Le livre d’Emma (2001) sowie der Sammlung von Novellen und Kurzgeschichten Le silence comme le sang (1997) werden unter der Leitfrage nach dem narrativen Entwurf des historischen und des politischen Raums Haitis literarische Strategien des Umgangs mit kollektiven Traumata in den Blick genommen. Den theoretischen Rahmen der Analyse bildet hierbei neben den Untersuchungen Édouard Glissants zum kulturellen und historischen Raum der Antillen das postmoderne beziehungsweise postkoloniale Raumparadigma des „Nicht-Ortes“ in seinen unterschiedlichen Ausprägungen bei Marc Augé und Achille Mbembe. Le livre d’Emma: Wider die Konstruktion Haitis als mnemonische tabula rasa Le livre d’Emma ist ebenso eine Histoire de la folie im Sinne Foucaults wie die Erzählung der Annäherung zweier Frauengestalten. Der Roman ist aber auch die Geschichte einer Zurückweisung, die bereits durch die Doppeldeutigkeit des Titels indiziert wird: Le livre d’Emma verweist somit also nicht allein auf jenes Buch, das die Geschichte seiner Hauptfigur Emma erzählt, sondern eben auch auf den Auslöser des scheinbaren Wahnsinns der wegen 1 Proulx bezieht sich hierbei auf Berrouet-Orio/ Fourret (1992: 12), welche die „écriture migrante“ als ein literarisches Schreiben „du corps et de la mémoire“ charakterisieren. Beatrice Schuchardt 166 Kindstötung 2 in einer psychiatrischen Anstalt internierten Hauptfigur: die Zurückweisung ihres Buches, das heißt ihrer Dissertation über die Geschichte der Sklaverei, durch den westlichen Wissenschaftsbetrieb. Letzterer wird durch die historische Fakultät der Universität von Bordeaux repräsentiert (cf. Agnant 2004a: 15). Zurückgewiesen wird mit jener Studie jedoch nicht nur der bereits historisch als sündig geltende weibliche Wissensdurst (cf. Stephan 2004: 77), sondern auch die subalterne Version der Historie, welche Emmas Dissertation erzählt. Über diese scheinen sowohl ein kolonialistischpatriarchalisch geprägter Wissenschaftsapparat als auch die Bewohner Haitis selbst den Mantel des Vergessens breiten zu wollen. So bemerkt Emma gegenüber ihrer Übersetzerin Flore: Tout ce passé n’a de passé que le nom, Flore. Il s’obstine à demeurer toujours là, nous guettant derrière l’écran obscur de l’oubli. C’est de là que vient ma décision d’étudier l’histoire de l’esclavage. Mais tu sais déjà ce qu’ils m’ont fait. Ils ont refusé d’entendre ma voix. Et moi, je voulais écrire ce livre qui, lorsqu’on l’ouvrirait, jamais plus ne se refermerait. (Agnant 2004a: 174) Die Geschichte Haitis scheint hier das Schicksal der Antillen zu teilen, erweist sich doch laut Édouard Glissant die dortige Historie als eine Abwesenheit, ja mehr noch, als ein schwindelnder Abgrund, der ebenso durch das Fehlen eines linear datierbaren kollektiven Gedächtnisses als auch durch die traumatische Erfahrung der Kolonisierung als einer kulturellen Enteignung entsteht (cf. Suk 1995: 126sqq.). Der in Le livre d’Emma allgegenwärtige Himmel, der in Form einer unbegreiflichen Leere konzipiert ist und in Form eines unfassbaren Blau den Ort der Kindheit Emmas auf Haiti - Grand Lagon - umgibt, fungiert in Agnants Roman als eine Metapher jener Abwesenheit. Als eine Fläche ohne Einschreibungen, und somit auch ohne Narben, steht er für die in Haiti vorherrschende Verweigerungshaltung gegenüber der Geschichte. 3 Durch jene freiwillige „Blindheit“ wird der obschon durch 2 Jener „désir de la mort de l’enfant de la mère“ (Glissant 1997: 168), welcher Emma letztlich zur Tötung ihres weiblichen Säuglings veranlasst, erklärt sich ebenso aus der eigenen Erfahrung der Zurückweisung während ihrer Kindheit wie aus dem antillanischen Trauma der Kolonisierung. So bemerkt Glissant (op. cit.: 166) im Hinblick auf die antillanische Familienstruktur: „La ‚famille‘ en Martinique a d’abord été une ‚antifamille‘. Accouplement d’une femme et d’un homme au profit d’un maître. […] C’est la femme qui a ainsi parfois refusé de porter dans ses flancs le profit du maître.“ 3 Silvie Bernier (2002: 195) hingegen interpretiert das Blau in Le livre d’Emma in seiner Funktion als Farbe des Ozeans vor allem als ambivalente Metapher zwischen Geborgenheit und Bedrohung: „Métaphore de la féminité, l’eau, sous toutes ses formes, sert à évoquer la mère, l’amour, la source de vie, mais aussi le danger, la mort. Le bleu, couleur de l’eau, symbolise aux yeux d’Emma son île natale, la mer qui l’entoure, le fleuve vu de sa fenêtre d’hôpital, les reflets de sa peau de négresse.“ Zur Funktion der Farbe Blau als Indiz einer mit dem Etikett des Wahnsinns stigmatisierten, radikalen Alterität cf. auch Schuchardt 2008: 189sqq. Eine ähnliche Verknüpfung zwischen der Farbe Blau Räume der Verdrängung, Räume der Vertreibung 167 die Erfahrungen von Deportation, Gewalt und Kolonisation geprägte Raum Haiti als mnemonische tabula rasa konstruiert. Die Figur, welche gegen diese Tilgung der Geschichte angeht und deshalb ebenso von der haitianischen Gemeinschaft wie von der quebecoisen Gesellschaft ausgeschlossen wird, ist Emma. Indem sie ihrer Übersetzerin Flore ihre eigene Geschichte und die ihrer weiblichen Vorfahren erzählt, und indem Flore wiederum Emmas Erzählungen weitergibt, multipliziert sich in Form eines weiblichen Bundes die Zahl der Stimmen wider das Vergessen. Diese Stimmen durchkreuzen ihrerseits die durch die haitianische Konstruktion des eigenen Gedächtnisraums behauptete Leere, in der die Verweigerungshaltung des kolonialen Geschichtsdiskurses gegenüber der mit der Kolonisierung einhergehenden Gewalt ihr Echo findet. Der politische Hohlraum: Haiti als Raum des Schweigens In der Novellen- und Kurzgeschichtensammlung Le silence comme le sang wird Agnant in ihrer Erzählung gleichen Titels (Agnant 1997c) der freiwilligen kollektiven Amnesie ihrer Heimat - die, wie die gleichnamige Novelle zeigt, auch den zeitgenössischen politischen Raum Haitis prägt - wiederum eine weibliche Figur entgegenstellen: die im kanadischen Exil lebende Frauengestalt der Mnemosyne, deren Name auf die griechische Göttin der Erinnerung zurückgeht. Diese schildert während ihres 31 Tage währenden Aufenthalts in der früheren Heimat Haiti in Form von Briefen an eine Figur namens Claire ihre Spurensuche nach einem dem kollektiven Schweigen anheimgegebenen Ereignis: den auf der Müllhalde von Titanyen dem Hunger der Hunde und Schweine überlassenen Opfern der Militärdiktatur von 1991-1994, denen die Sammlung von Novellen und Kurzgeschichten zugleich gewidmet ist. 4 Diese Widmung weist mit Patrice Proulx bereits auf ein „Anschreiben gegen die Leere der Stille“ (Übersetzung B.S.) als das Agnants literarischem Werk zugrunde liegende Projekt hin, welches die offizielle Version der Historiografie dadurch zu hinterfragen sucht, dass es die von ihr zum Verstummen Gebrachten zu Worte kommen lässt (Proulx 2005: 36). 5 und dem Wahnsinn konstatiert auch Bernier (2002: 195): „[…] le bleu devient couleur de la folie.“ 4 Cf. hierzu: http: / / www.haitiaction.net/ News/ IJDH/ 7_19_4.html, 19.07.2004: „[…] cadavers brought to the morgue and unclaimed are systematically disposed of by burning, burial or dumping in areas where they are eaten by pigs or dogs. One of the main dumping grounds, Titanyen, was used as a dumping place for victims of the 1991-1994 de facto military dictatorship and the Duvalier dictatorship […].“ Cf. auch „Human Rights Review, April - June 1999“ der UN unter: http: / / www.un.org/ rights/ micivih/ rapports/ hrr99q2.html. 5 Proulx bezieht sich hierbei auf einen Aufsatz Agnants ähnlichen Titels, cf. Agnant 2004b: 86sqq. Beatrice Schuchardt 168 Jene Stille angesichts der Erfahrungen von Gewalt und Tod ist laut Orun D. Lara bereits seit der Deportation afrikanischer Sklaven in die überseeischen Kolonien grundlegend für die karibische Geschichte: „Un silence de plomb enveloppe comme un linceul tous les morts essaimés par les responsables européens et africains de la traite négrière, de l’intérieur de l’Afrique aux voyages transatlantiques“ (Lara 1998: 18). In der Novelle Le silence comme le sang erweist sich das zeitgenössische Haiti als ein durch den unwillkürlichen Konsum geprägter non-lieu im Sinne Marc Augés. Für Augé ist die Erfahrung des Nicht-Orts an die sogenannte „Supermoderne“ 6 als eine Epoche des Transits 7 und der zunehmenden Vereinsamung des Individuums geknüpft. Während sich die Orte der Moderne durch eine „coexistence des mondes différents“ (cf. Augé 1992: 116) auszeichnen und das Historische einschließen (cf. op. cit.: 100), zeugen die Nicht-Orte der Supermoderne von der ephemeren Zweckgebundenheit des Gebrauchs. Dies betrifft den Gebrauch von Transportmitteln ebenso wie die teleologische Frequentierung von Orten der Information und des Vergnügens (cf. op. cit.: 101sq.). Da er ausschließlich auf seine Durchquerung, nicht etwa auf ein Verbleiben der Menschen ausgerichtet ist, zeichnet sich der „espace de la consommation contemporaine“ (op. cit.: 129), der Ort der Manifestation von Nicht-Orten ist, durch eine massenhafte und serielle Abfrage von Daten in Form von Fahrkarten-, Kreditkarten- oder Kontonummern aus. Dies mündet letztlich in die Vereinsamung und Entindividualisierung des auf seine Eigenschaft als Konsument im Rahmen einer Masse von Konsumenten reduzierten Einzelnen (cf. op. cit.: 130). Einer solchen Entindividualisierung und Vereinsamung unterliegt auch die Protagonistin Mnemosyne anlässlich eines von ihren Gastgebern angeregten Besuchs in einem Zentrum, das zugleich Schule, Kaufhaus, Hamburgerrestaurant und als Impfstation gegen AIDS getarnte Sterilisationsambulanz für die ärmere Landbevölkerung ist und somit in seiner Multifunktionalität einen Nicht-Ort par excellence repräsentiert. Die mögliche Beteiligung des ironisch Pastor Willis genannten Betreibers jenes Zentrums an Hinrichtungskommandos und Verhaftungen ignorieren die Gastgeber der Hauptfigur geflissentlich (cf. Agnant 1997c: 62). Vielmehr geben sie sich - ebenso wie andere gut betuchte einheimische Besucher des Vergnügungs- und Bildungszentrums - mit Wonne 6 Cf. Augé 1992: 117sq.: „Celle-ci [la surmodernité] impose en effet aux consciences individuelles des expériences et des épreuves nouveaux de solitude directement liées à l’apparition et à la prolifération de non-lieux.“ 7 So zählt Augé die „points de transit et des occupations provisoires (les chaînes d’hôtels et les squats, les club des vacances, les camps des réfugiés, les bidonvilles promis à la casse ou à la pérennité pourrissante)“ (1992: 100) sowie „les aéroports, les gares et les stations aérospatiales, […] les parcs de loisirs, et les grandes surfaces de la distribution, l’écheveau complexe, enfin, des réseaux câblés ou sans fil“ (1992: 102) und „les supermarchés“ (ibid.) als weniger prestigeträchtige Nicht-Orte zu den möglichen Manifestationsformen der non-lieux. Räume der Verdrängung, Räume der Vertreibung 169 der dort möglichen Realitätsflucht hin und gerieren sich innerhalb der von Stacheldraht umzäunten und in einem Nobelviertel gelegenen Anlage als „touristes de luxe“ (op. cit.: 64). Mnemosyne hingegen erliegt angesichts ihrer Ohnmacht sowie ihres Hasses gegenüber Willis, als einem mutmaßlich für die Massaker der Militärdiktatur Mitverantwortlichen, dem Zwang, alle angebotenen Waren auspacken und sich zeigen lassen zu müssen, bis sie schließlich von einem wahren Berg aus Schachteln umgeben ist. Den Höhepunkt ihres Konsumrausches bildet ein Essanfall, der ebenso wie das zwanghafte Auspacken der Waren als Übersprunghandlung gedeutet werden kann: Puis je sentis en moi monter la rage et quelque chose qui ressemblait à la haine. Dans mes yeux je craignais qu’on ne lise la folle envie de tuer. Je filai vers le comptoir à pâtisserie où j’achetai une énorme tarte fourrée à la crème de marrons et je sortis. […] Comme un animal affamé, j’enfonçai mes dents dans la pâte moelleuse, puis l’avalai, sans y goûter véritablement. Que peut on faire contre la bêtise qui n’a plus de nom, contre le pouvoir organisé en association de criminels, contre ceux qui, comme le pasteur Willis, croient qu’ils ont le droit… qu’ils sont venu au monde pour être ce qu’ils sont et les autres… eh bien, les autres pour leur servir de cobayes, d’essuie-pieds, de chair à canon, de domestiques et de nègres. J’en voulais au pasteur Willis et à tous ceux qu’il représente, et je m’en voulais d’être si bête, si fragile et si impuissante. J’avais englouti en un rien de temps une tarte que dix personnes auraient bien pu se partager. (Agnant 1997c: 65sq.) Diese in einem keinesfalls befriedigenden Konsum mündende Erfahrung einer Machtlosigkeit gegenüber den politischen Clans der Insel kann als Metonymie für die sich aus einer Serie von Akten des Konsums zusammensetzenden Handlungen einer die Vergangenheit und Gegenwart der Diktatur verdrängenden, ohnmächtigen haitianischen Intelligenzija gelesen werden, die ihrerseits Teil der herrschenden Klassen ist und eine entsprechende Verantwortung trägt, diese jedoch durch Exil oder stillschweigende Anpassung an die Missstände von sich weist: L’écrivain haïtien appartient nécessairement aux classes dirigeantes, c’est-à-dire, en l’occurrence, aux couches supérieures des la société port-au-princienne. […] [Il] appartient également à l’élite intellectuelle du pays et, en tant qu’intellectuel, il est constamment appelé à prendre parti dans les luttes politiques qui opposent entre elles les différentes fractions des classes dirigeantes. (Hoffmann 1995: 27sq.) Dieser Aporie suchen viele haitianische Schriftsteller ihrerseits zu entgehen, indem sie die besagten Missstände der politischen Gegenwart und Vergangenheit Haitis zum Gegenstand ihrer Werke machen (cf. op. cit.: 37). Die Leere des Himmels als Symbol der historischen Amnesie in Le livre d’Emma wird in Le silence comme le sang um zwei weitere Räume ergänzt, die sich ebenfalls durch ihre Leere auszeichnen und in diesem Sinne „Hohlräume“ sind: Dabei handelt es sich zum einen um den in dem besagten Vergnügungszentrum des Pastor Willis gelegenen Basar, in dem Mnemosyne Beatrice Schuchardt 170 trotz der scheinbaren Fülle der zur Verfügung stehenden Güter und Nahrungsmittel keine Erfüllung finden kann. Einen zweiten „Hohlraum“ bildet eine sich über die gesamte Insel Haiti breitende Glocke des Schweigens, dessen Rolle nun näher erläutert werden soll, ist sie doch zugleich für die Novelle und den Band Le silence comme le sang titelgebend. Dieses Schweigen ist weniger eine passive Reaktion als vielmehr ein nachhaltiger Ausdruck von Aggression, weshalb es im Titel der Novelle mit der Zähigkeit trocknenden Blutes verglichen wird. Die räumliche Konfiguration Haitis als ein durch die Abwesenheit von Stimme und Einschreibung geprägter Hohlraum offenbart sich somit im Werk Agnants als Metapher, die auf die Strategien der Verdrängung sowohl der haitianischen Vergangenheit wie auch der politischen Gegenwart verweist. Mit der Strategie des Schweigens, das zugleich ein Verschweigen ist, wird Mnemosyne bereits an ihrem ersten Abend auf Haiti konfrontiert, wenn sie der illustren Partygesellschaft ihrer Gastgeber beunruhigt von ihren Beobachtungen hinsichtlich einer drohenden Übernahme der Insel durch Gruppen streunender Hunde berichtet, welche an einer Verschwörung beteiligt zu sein scheinen: Vous serez, dans très peu de temps, gouvernés par des chiens. […] Ils tiennent réunions et conciliabules, savez-vous dans quel but? Ils ont appris que les hommes ne sont rien d’autre que des lambeaux de chair en décomposition, juste bons pour tromper leur ennui. […] Ignorez-vous le nombre des cadavres que les chiens ont dévorés seulement à Titanyen? (Agnant 1997c: 56) Ihre scheinbar aberwitzige Theorie - die einen hohen allegorischen Gehalt aufweist, der an späterer Stelle noch zu erläutern sein wird - löst zunächst scheinbar nichts anderes aus, als ein durch Schweigen ausgedrücktes, allgemeines Desinteresse: „L’assistance demeurait silencieuse, je suis sortie respirer un peu d’air frais sur la terrasse“ (op. cit.: 58). Die Tatsache jedoch, dass die Gäste sich infolge des Gehörten plötzlich hektisch Luft zuzufächeln beginnen, kann als eine weitere Übersprunghandlung gedeutet werden, die auf ein tiefes Unbehagen der Hörerschaft hindeutet: „Tout le monde cherchait un morceau de carton pour se faire un peu d’air. De mon récit ou de la chaleur, je ne sais trop ce qui incommodait le plus les invités“ (op. cit.: 57sq.). Dieser Eindruck bestätigt sich, als Mnemosyne die Umstehenden fragt, wie sie sich zur Müllhalde von Titanyen begeben könne, um einige Fotos von den dort befindlichen Massengräbern zu machen, was letztlich zu einem panischen Aufbruch der Gästeschar führt (cf. ibid.). Hier scheint es vor allem die Entschlossenheit Mnemosynes zu sein, den Ort des verdrängten Grauens durch das vermeintlich für Authentizität bürgende Medium der Fotografie dokumentieren und die vergangenen Akte der Gewalt in die Gegenwart überführen zu wollen, welche die allgemeine Fluchtbewegung auslöst. Dass es sich bei Mnemosynes Verschwörungshypothese um kein Hirngespinst handelt - auch sie selbst gesteht sich angesichts ihrer Theorie Räume der Verdrängung, Räume der Vertreibung 171 gegenüber ihrer Korrespondenzpartnerin Claire deren scheinbare Aberwitzigkeit ein (op. cit.: 57) -, wird dadurch untermauert, dass weitere und ebenso wie die Exilantin Mnemosyne am Rande der haitianischen Gesellschaft stehende Figuren, etwa die Haushälterin Maria und ein aufgrund seines angeblichen Wahnsinns aus der Dorfgemeinschaft verbannter Schamane, auch „Le fou du Morne Rouge“ 8 genannt, Ähnliches bemerkt haben wollen. So berichtet Maria von einer regelrechten „Schlacht“ zwischen Hunden und Menschen um die Abfälle einer Müllkippe der Insel, der sogenannten „bataille du dépotoir (op. cit.: 98sq.). Die infolge der Schlacht zurückbleibenden sterbenden Menschen und Hunde wurden, so berichtet Maria, von den Bulldozern der Deponie dem Erdboden gleichgemacht. Mittels dieses allegorischen Bildes, in dem die Opfer von Akten der Gewalt eingeebnet und damit zugleich der Wahrnehmung entzogen werden, deutet sich an, dass die Verweigerung das alltägliche Grauen zu sehen ein neuerlicher Akt der Gewalt gegenüber den Opfern der Diktatur ist. Der Umstand, dass Maria im Zusammenhang ihres Berichts die Hunde als auf Haiti allgegenwärtige „Dämonen“ bezeichnet (op. cit.: 99), liefert bereits einen ersten Hinweis auf deren allegorische Bedeutung. So weist auch die animalische Gier nach Nahrung, die Mnemosyne nicht nur im Einkaufszentrum, sondern während ihres gesamten Aufenthalts plagt - sie vergleicht sich beim Verschlingen der Torte mit einem „animal affamé“ (v.s., op. cit.: 65) -, auf eine dämonische Besessenheit hin. Entsprechend bemerkt Mnemosyne hinsichtlich ihres Essanfalls im Einkaufszentrum erschreckt: „J’ai mangé comme si j’avais été sous l’emprise de dizaines de fantômes affamés“ (op. cit.: 68). Nicht nur hält hier mit dem Topos einer Besessenheit das Element des Voodoo als Bestandteil der haitianischen Kultur Einzug in die Erzählung. Darüber hinaus wird zudem der zeitgenössische Raum des politischen Haiti als ein heimgesuchter Ort konzipiert, dessen Geister des Schweigens und der Verdrängung sich in einer alles sich einverleibenden Gier manifestieren. Dies deutet sich bereits im Schweigen der Partygäste als Reaktion auf den Bericht Mnemosynes an und zieht sich im Folgenden wie ein roter Faden durch die gesamte Erzählung. Die Anthropophagie der Haiti nach und nach erobernden Hundemeuten kann letztlich als Allegorie eines verdrängten historischen und politischen Bewusstseins gelesen werden, das die Bevölkerung Haitis gerade durch seine vehemente Unterdrückung umso gewalttätiger heimsucht und sich schließlich in einer Aufzehrung von Innen Bahn bricht: Entsprechend werden jene, die Beteiligte und zugleich Augenzeugen der Ereignisse der bataille du dépotoir sind, buchstäblich von den Hunden einverleibt, ihre Reste von den 8 Zu dieser Bezeichnung des Schamanen durch die Figur Soledad, die Mnemosyne auf ihrer Suche nach Hinweisen zu Zeugen der während der Militärdiktatur verübten Massaker auf der Straße trifft, cf. op. cit.: 82. Auch der Schamane warnt vor den „bandes de chiens [qui] sèment la terreur dans certains hameaux éloignés“ (op. cit.: 96). Beatrice Schuchardt 172 Bulldozern planiert. Als Schauplätze der Gewalt ebenso wie als ausrangierte Gedächtnisorte der Insel fungieren also Müllkippen - insbesondere die Müllkippe von Titanyen als ein „cimetière clandestin“ (op. cit.: 72) der Opfer der Diktaturen Haitis (cf. OTR/ UCI 2005). Hierbei handelt es sich um mnemonische Schutthalden, welche als verwesende und dennoch aufgrund der stetig neu hinzukommenden Schichten nie völlig zu tilgende Palimpseste die unliebsamen Erinnerungsfragmente Haitis aufnehmen und sie ihrer Widerständlichkeit durch Planierung zu berauben suchen. Paradoxalerweise ist es jedoch gerade die Planierung, die zur Sedimentation dieser Fragmente führt und ihre Verwesung verhindert. Die Erinnerungsorte werden zwar dem Versuch unterworfen, sie in Orte des Vergessens umzuwandeln, dennoch aber bleiben Spur und Rest als Relikte der verdrängten Erinnerungen zurück. Gegen ihre Intention werden die Müllhalden Haitis also zu archäologischen Gedenkstätten, in denen die Sedimente verdrängter historischer Ereignisse ähnlich den Jahresringen eines Baumes Schicht für Schicht ablesbar sind. Gemäß Aleida Assmanns Begriff des „Gedächtnisses der Orte“ verdichtet sich dort die historische Zeit zum Raum: [Während] die Zeit unsichtbar macht, indem sie raubt und zerstört, halten die Orte das vergangene Geschehen fest. Aus der Chronologie wird eine Topologie der Geschichte, die man durch Rundgänge abschreiten, die man Stück für Stück vor Ort entziffern kann. (Assmann 1999a: 66) Die Verdichtung der Zeit zum Raum erfolgt in Agnants Novelle über die Spur, die Aleida Assmann als die „Unmittelbarkeit eines Abdrucks“ charakterisiert (Assmann 1999b: 211). Somit lässt die Spur zwar den sprachlichen Bezug und den Zeichencharakter der Codierung hinter sich, bleibt aber dennoch als „indexikalisches Zeichen“ semiotisch lesbar (ibid.). In diesem Sinne stellt sie eine Konservierung des Erinnerten dar, die zugleich eine Verortung des Gedächtnisses ist, womit sich die hier vorgenommene Konzeption der Müllkippen als Gedächtnisorte erklärt. Die bei Agnant über das literarische Bild der Hundemeuten allegorisierte Wiederkehr des unterdrückten historischen Geschehens in Form einer Heimsuchung ist laut Glissant charakteristisch für die Erinnerungskultur der Antillen, wie er in Le discours antillais anhand der verdrängten Erinnerung an den Widerstand des Colonel Delgrès gegen die Kolonisatoren veranschaulicht (cf. Suk 2001: 76sq. mit Bezug auf Glissant 1997). Die durch die Kolonisierung erfahrene Unterdrückung der eigenen Identität wiederholt sich in den Erinnerungsstrukturen durch eine Verdrängung des Widerstands als identitätsstabilisierendem Ereignis. Die kulturelle Fremdenteignung seitens der Kolonisatoren wird also durch eine mnemonische Selbstenteignung wiederholt, die zugleich eine identitäre ist, so dass die verdrängten Ereignisse erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung ins kollektive Bewusstsein zurückkehren können: „[…] the repressed event returns, so that Räume der Verdrängung, Räume der Vertreibung 173 after a period of erasure and forgetting, the meaning of Delgrès’ heroic act is only now being felt“ (Suk 2001: 77). Analog zur palimpsestischen Struktur der Müllhalde wählt Agnants Erzählerin am Ende der Novelle die räumliche und gleichsam die Figur des Sediments auf den Plan rufende Metapher eines versandenden Archipels für die haitianische Kultur des Vergessens und der Verdrängung (v.i.); eine Kultur in der, so resümiert der Schamane: „[…] on voit le mal partout, sauf là où il se trouve“ (Agnant 1997c: 93). Hier wird die schleichende Immobilisierung einer ebenso apathischen wie aphasischen Gesellschaft angesprochen, aus der - und damit stoßen wir auf eine auch in Le livre d’Emma thematisierte Marginalisierung der Sprechenden - all jene ausgeschlossen werden, die sich dem allgemeinen Schweigen verweigern. So bemerkt Mnemosyne gegenüber dem Schamanen, der sich ebenso wie sie selbst mit seiner gesellschaftlichen Stigmatisierung als Wahnsinniger konfrontiert sieht: Les gens disent que je suis fou, parce que nous vivons dans un lieu interdit de parole et que moi je parle. […] le silence est comme une mer de sable qui petit à petit engloutit Belle-Île [Haïti]. Sous les marées, les gens demeurent immobiles, et leurs corps, peu à peu, se liquéfient. Ils se livrent au silence pieds et poings liés. Puis ils se retrouvent un beau jour enlisés, avec pour seul exutoire, la démence. (op. cit.: 94) Mittels des somit in der Novelle evozierten Bildes einer dämonischen Heimsuchung der Insel Haiti durch eine verschworene canine Gemeinschaft in Verbindung mit einer nicht minder bildhaften Sedimentation der Subjekte und Gegenstände der Erinnerung auf den Müllkippen beziehungsweise mit dem in der letztgenannten Textstelle hervorgerufenen Bild einer Erosion derselben, entscheidet sich Agnant wiederholt für die Allegorie als Textstrategie. Diese nimmt laut Jeannie Suk vor allem in postkolonialen Literaturen eine zentrale und befreiende Funktion ein, kann doch durch die Allegorie eine Dynamisierung und mögliche Transformation der von der Auslöschung bedrohten Geschichte ehemaliger Kolonien erreicht werden. 9 Eine solche Geschichte bilden auch Ereignisse der haitianischen Militärdiktatur von 1991-1994, deren Traumata in Agnants Texten immer wieder durch den Topos der Heimsuchung repräsentiert werden, wie der folgende Abschnitt zeigt. 9 Cf. Suk 2001: 6sq. in Bezug auf Slemon 1988: 159: „The binocular lens of allegory refocuses our concept history as a fixed monument into a concept of history as the creation of a discursive practice, and in doing so it opens history, fiction’s ,other‘, to the possibility of transformation“, und weiter: „[…] allegory allows access to a history that is in the danger of being erased, while on others it affects forgetting.“ Beatrice Schuchardt 174 Heimsuchung und Vertreibung als Topoi im Werk Agnants Der Topos der Heimsuchung ist in Agnants Werk in dialektischer Form mit dem der Vertreibung verknüpft: Hierdurch entsteht eine doppelte Bewegung von Suche und Flucht, die sich nicht nur in der Novelle Le silence comme le sang, sondern auch in Agnants Kurzgeschichten und Romanen wiederfindet. Dort ist jene Bewegung nicht zuletzt an die Erfahrungen von Exil und Migration als einem zentralen Motor postkolonialen Erzählens rückgekoppelt. So sucht die bereits in ihrer Kindheit marginalisierte und als „Hexenkind“ stigmatisierte Protagonistin aus Le livre d‘Emma, die von ihrer Familie konsequent ignoriert und somit zum Phantom wird, 10 Krisenheterotopien 11 wie die Grotte oder den Friedhof buchstäblich heim (cf. Agnant 2004a: 88sqq.). Diese Heimsuchung erweist sich nicht nur als ein gespenstischer Umtrieb, sondern auch als eine Suche nach Heimat im ursprünglichen Wortsinne. So fahndet Emma an diesen Orten nach jenem magischen Gegenstand, der ihr die verlorene Liebe ihrer Mutter Fifie zurückbringen soll (cf. op. cit.: 87). Worauf Emma jedoch statt des ersehnten Schatzes stößt, ist die vergrabene Leiche eines Säuglings: Metapher des Status als „lebende Totgeburten“ (Übersetzung B.S.), der laut Emma aufgrund des Fluchs der Hautfarbe auf den Frauen Haitis lastet, eine Aussage, mit der Emma den Grund für den scheinbar notwendigen Tod ihres eigenen Kindes vorwegzunehmen scheint. 12 In Quebec wird Emma daher als eine in ihrem Verhalten delinquente und unverstandene Alterität in die Abweichungsheterotopie der Psychiatrie gebannt. Dies geschieht ebenso als Reaktion auf ihre die 10 Cf. Proulx 2005: 47: „[…] Fifie refuses to recognize her [Emma’s] presence, placing her daughter’s identity under erasure. […] After a childhood during which she is made to feel unloved and invisible, Emma begins living with Mattie, one of her late grandmother’s cousins.“ 11 Zum Begriff der „Heterotopie“ cf. Foucault 1984: 755sq.: „ Il y a également, et ceci probablement dans toute culture, dans toute civilisation, des lieux réels, des lieux effectifs, des lieux qui sont dessinés dans l’institution même de la société, et qui sont des sortes de contre-emplacements, sortes d’utopies effectivement réalisées dans lesquelles les emplacements réels, tous les autres emplacements réels que l’on peut trouver à l’intérieur de la culture sont à la fois représentés, contestés et inversés, des sortes de lieux qui sont hors de tous les lieux, bien que pourtant ils soient effectivement localisables. Ces lieux, parce qu’ils sont absolument autres que tous les emplacements qu’ils reflètent et dont ils parlent, je les appellerai, par opposition aux utopies, les hétérotopies […].“ In diesem Kontext unterscheidet Foucault „Krisenheterotopien“, das sind privilegierte, geheiligte oder verbotene Orte wie etwa Kirchen oder Friedhöfe, und „Abweichungsheterotopien“ wie psychiatrische Anstalten und Gefängnisse, in denen Delinquenten als von der Norm Abweichende untergebracht sind. (cf. op. cit.: 756sq.) Als eine Krisenheterotopie erweist sich bereits die Heimat Emmas, Grand Lagon, wenn von ihr als einem „lieu maudit de la détresse“ die Rede ist (Agnant 2004a: 81). 12 Agnant 2004a: 28: „Elles ne suscitent aucun intérêt, les Négresses. C’est pour cela qu’elles sont mieux mortes. C’est pour cela que beaucoup d’entre elles naissent déjà mortes, voilà! [...] Elles naissent déjà mortes. Elles naissent comme des têtards crevés.“ Räume der Verdrängung, Räume der Vertreibung 175 kanadische Gesellschaft heimsuchende Andersartigkeit wie aus Unbehagen gegenüber Emmas bläulicher Hautfarbe, welche die bislang unterdrückte und verdrängte Geschichte der Sklaverei in den Amerikas repräsentiert, erinnert sie doch an die Farbe getrockneten Blutes. Mit ihrer „Bannung“ in eine Anstalt wird Emma zugleich aus ebenjener Gesellschaft vertrieben. Mit ihr wird dabei die ungeschriebene Geschichte der Sklaverei aus dem kollektiven Bewusstsein „exorziert“ - ein Umstand, mittels dessen Agnant aufzeigt, dass Mechanismen der Verdrängung westlichen ebenso wie karibischen Gesellschaften gleichermaßen zu eigen sind. Auch in der Novellen- und Kurzgeschichtensammlung Le silence comme le sang zeugen neben der gleichnamigen Novelle zwei weitere Erzählungen von Heimsuchung und Vertreibung: Die Kurzgeschichte „Refuges“ etwa thematisiert die Vertreibung eines Mädchens und seiner Familie aus dem schützenden Heim der Kindheit durch haitianische Militärs (Agnant 1997d), genauer gesagt durch die Soldaten des Kommandanten Satrapier 13 , welche das idyllische Anwesen für sich besetzen. Hier nimmt Agnant zugleich den biblischen Topos der „Vertreibung aus dem Paradies“ auf, 14 der für die Erzählerin - das kleine Mädchen - zugleich eine Initiation in Angst und Gewalt ist. So wird die Furcht eine ständige Begleiterin, die Tag und Nacht okkupiert 15 und deren Berechtigung sich bestätigt, wenn die Erzählerin Zeugin der Verbrennung ihrer Nachbarn bei lebendigem Leibe und in deren eigenem Haus wird (cf. op. cit.: 25sq.). Spätestens an jenem Punkt der Erzählung wendet sich das Konzept des „Heims“ von einem Ort der Zuflucht und der Geborgenheit zum Schreckensort. Aus dem Schock der Vertreibung aus dem Elternhaus, das sich plötzlich als Schreckensort erweist, resultiert parallel eine Sehnsucht nach der Fremde, die nun als „monde magique où la peur était absente et où le bonheur veillerait sur nous telle une sentinelle“ (op. cit.: 24) erscheint. Zugleich wird jedoch durch eine ebenfalls in Le silence comme le sang enthaltene Erzählung - „Deux jours pour oublier“ (Agnant 1997a) - die Desillusionierung jener Erwartung veranschaulicht: So gewährt ihr Vorgesetzter der Erzählerin Elise, einer haitianischen Emigrantin, nach dem Mord 13 Proulx (2005: 51) bemerkt im Zusammenhang mit jenem Namen: „The Name Satrapier derives from satrape, which Le Petit Robert defines as ‚un homme puissant et despotique‘, and satrapie, ‚un gouvernement despotique‘“. 14 Hier spricht die Erzählerin explizit von dem benachbarten Klostergarten des Elternhauses als einer Mischung aus Märchenwald und „Paradies“; diese Atmosphäre strahlt auch auf das eigene Elternhaus ab: „Je me rappelle la vue que nous avions de la cour: il y avait un jardin magnifique, celui des religieuses de Sainte-Rose. Je croyais que c’était une forêt. Elles s’y promenaient en égrenant le rosaire. Je me disais que le paradis devait ressembler à ce jardin où il y avait des de très grands arbres, de fleurs à profusion, des chants d’oiseaux et les corneilles qui craillaient: kaw, kaw, kaw. Ce bruit est resté à tout jamais dans ma tête et rythme mes souvenirs avec délice et mélancolie“ (Agnant 1997d: 22). 15 Op. cit.: 21: „[…] la peur était devenue une compagne du quotidien.“ Beatrice Schuchardt 176 an ihrem Bruder durch haitianische Milizen nicht mehr als die besagten „deux jours pour oublier“ (Agnant 1997a: 31). Hier nimmt Agnant den Topos des Paradieses in ironischer Form wieder auf, wenn das auf dem Schreibtisch der Erzählerin liegende, esoterische Buch über Kräuterheilkunde mit dem vielsagenden Titel Back to Eden die versprochene Verheißung des Paradieses nicht einzulösen vermag: Back to Eden [sic], médicine botanique par Jethro Kloss. Depuis deux jours, fleurs d’oranges, mélisse, tilleul, mon mal est sans remède. Merci Jethro, telle une affamée, j’ai dévoré ton livre, sans trouver de potion pour calmer cet orage dans mon ventre, mon corps abandonné et malheureux. (op. cit.: 29sq.) Mit dem hier adressierten Versagen der heilenden Kräuter verneint die Erzählung auf symbolischer Ebene zugleich die Möglichkeit einer heilsamen Zuflucht im Exil. Die umgekehrte Bewegung zum Fluchtinstinkt der Erzählerin aus „Refuges“ - und zwar die Bannung in das eigene Haus, das somit zum Geisterhaus wird - findet sich in der Kurzgeschichte „La maison face à la mer“ (Agnant 1997b). In jenem Haus leben Mutter und Tochter nach der gewaltsamen Tötung der restlichen Familie - nur ein Bruder kann fliehen - als „deux ombres, deux fantômes, dérivant sur les rives de l’absence“ (op. cit.: 45) hinter zugezogenen Vorhängen „qui sont tombés à tout jamais“ (ibid.). Die am Sylvesterabend durchlittene, traumatische Erfahrung des Verlustes naher Angehöriger, die durch die Beteiligung des Verlobten der Tochter an der Tat umso unbegreiflicher erscheint, hat hier zum Entzug aus dem Diesseits sowie zu einer Geistwerdung von Mutter und Tochter geführt, die sich ihrerseits aus deren Heimsuchung durch die Erinnerungen an das Verbrechen herleitet: „Les souvenirs sont d’affreux geôliers et d’ignobles tyrans. Ils nous tenaillent, nous poursuivent, nous possèdent et règlent notre existence depuis ce jour“ (op. cit.: 46). So wird die Sehnsucht nach dem Tode zum einzigen spürbaren Lebewesen in einem Geisterhaus, 16 dessen verhüllte Fenster in Form blinder Augen auf das Meer als jenen Ort des Verbrechens weisen, an dem die nur schwer identifizierbaren Leichen der geliebten Menschen vom Meer buchstäblich ausgespieen wurden, so der Text (op. cit.: 51). Auch hier kehrt sich das einstige Paradies aus Kindertagen - ehemals „royaume, palais de merveilles“ (op. cit.: 46) - vom Trost spendenden Heim zum Ort des Grauens. Dort können mit der Erinnerung an den Akt des Mordens auch die Toten nicht zur Ruhe kommen, weshalb die Bewohner mangels der Möglichkeit, aus dem Teufelskreis des Traumas auszubrechen, selbst zu lebenden Toten werden: „[…] ce carrousel infernal de morts-vivants et de spectres qui hanteront à jamais Sapotille et notre maison face à la mer“ (op. cit.: 52). Augenfällig sind in diesem Zusammenhang die intertextuellen 16 Cf. Agnant 1997b: 47: „Les désir d’une fin qui nous délivrerait de tout est la seule chose vivante dans cette maison qui regarde la mer.“ Räume der Verdrängung, Räume der Vertreibung 177 Brückenschläge des Textes zu Poes Erzählung „The Fall of the House of Usher“ und Cortázars Kurzgeschichte „Casa Tomada“, in deren Zentrum ebenfalls die heimgesuchte Heimstatt steht. Ausblick: Heimsuchung und Vertreibung im postkolonialen Kontext Der Topos der Heimsuchung, der, wie hier gezeigt werden konnte, ein zentrales Moment im Werk Marie-Célie Agnants darstellt, offenbart sich zugleich als wiederkehrendes Element in postkolonialen Literaturen: Hier bahnt sich die Verdrängung als gewalttätige Struktur ihrerseits verdrängter kolonialer und nachkolonialer Gewalt den Weg in die Gegenwart. In seiner Studie zu den jüngsten Romanen der algerischen Schriftstellerin Assia Djebar konzipiert Michael O’Riley (2007) den postkolonialen Raum daher als einen heimgesuchten: Heimgesucht von der Nachhaltigkeit der Strukturen kolonialer Gewalt und deren Perpetuierung durch die oft korrupten nachkolonialen Regime sowie durch deren historischen Diskurs. Letzterer stilisiert die ehemals Kolonisierten zu „Opfern“ und fällt damit seinerseits der gefährlichen Spirale einer „Viktimisierung“ (victimization) anheim. Ein solcher „Opferkult“ verhindert, dass sich das postkoloniale Subjekt als ein autonomes und zur Handlung befähigtes begreift und erleichtert dadurch eine auch nach dem kolonialen Zeitalter anhaltende Gewaltherrschaft. Damit werden, so O’Riley, der Austritt aus den kolonialen Strukturen sowie die Infragestellung der aktuellen Politik, die auch eine Gedächtnispolitik ist, erschwert. O’Riley greift hierbei auf das Konzept des „Nicht-Ortes“ des kamerunischen postkolonialen Theoretikers Achille Mbembe zurück, das dieser in seiner Studie On the Postcolony (2000) entwickelt. Aufgrund besagter Selbststilisierung vor allem der afrikanischen postkolonialen Subjekte als Opfer und der Perpetuierung der Gewalt durch die dortigen Regime, wird die Postkolonie laut Mbembe angesichts der Omnipräsenz von Tod und Gewalt als ein non-lieu wahrgenommen, in dem weder Existenz noch subjektive Erfahrung möglich sind (cf. O’Riley 2007: 84 mit Bezug auf Mbembe 2000: 168). Somit werden die in der Postkolonie Ansässigen zu „lebenden Toten“, also zu Gespenstern angesichts der Alltäglichkeit von Gewalt und Unterdrückung (cf. O’Riley 2007: 86 mit Bezug auf Mbembe 2000: 173), wodurch sich O’Rileys Konzeption der Postkolonie selbst als ein heimgesuchter Ort erklärt. Ähnlich scheint sie auch im literarischen Werk Agnants konzipiert zu sein, gemahnt ihre Prosa doch an die von Bhabha adressierte „unhomely condition“ des postkolonialen Zeitalters, in der Gegenwart und Vergangenheit einander stetig heimsuchen (cf. Bhabha 2000: 4). Diese Lesart von Agnants Werk würde jedoch die Affirmation einer Resignation bedeuten, die ihrem Projekt eines „Anschreibens gegen die Stille“ (v.s.) widerspräche. Beatrice Schuchardt 178 Agnant selbst gibt uns in einem Interview mit Florence Ramond Jurney einen Hinweis auf einen möglichen Schlüssel zu ihrer räumlichen Konzeption eines zwischen Heimsuchung, Vertreibung und Exilerfahrung oszillierenden Haitis, wenn sie dort von der „Unmöglichkeit einer Rückkehr zum Ursprung“ spricht (cf. Jurney 2005: 389sq.). Hierbei ergeben sich Anknüpfungspunkte an den Begriff des détour nach Glissant: Ihm zufolge ist die Unmöglichkeit einer Rückkehr für die ehemals ihren afrikanischen Sprachen und Kulturen entrissenen und im Zuge des europäischen Imperialismus als Sklaven in die Karibik deportierten Bewohner der Antillen bereits historisch verankert. Dabei versteht Glissant die verwehrte Rückkehr jedoch durchaus positiv: So ist ein retour insofern nicht erstrebenswert, als er eine „Obsession des Einen“ - nämlich des einen Ursprungs - darstellt, und somit ein ungleich ärmeres und homogeneres Kulturmodell repräsentiert, als es sich in der großen kulturellen Diversität der Antillen findet (cf. Glissant 1997: 48). Als ursprünglich gegen die Kolonialherrschaft gerichtete Überlebensstrategie, ist der détour […] le recours ultime d’une population dont la domination par un Autre est occulté: il faut aller chercher ailleurs le principe de domination, qui n’est pas évident dans le pays même: parce que […] la matérialité de la domination (qui n’est pas l’exploitation […], la misère […], le sous-développement seulement […]) n’est pas directement tangible. (ibid.) Ist also der Apparat der Unterdrückung nur schwer fassbar und operiert dieser nur mittelbar, so muss auch die eine Strategie des Widerstands gegen jene Maschinerie der mittelbaren Konfusion folgen. Der détour begegnet der herrschenden Macht also durch steten Entzug: In Form eines nie endenden Aufbruchs bei zugleich niemals vollzogener Ankunft folgt er der nomadischen Dynamik des Exils (cf. Suk 2001: 65). Dieses negiert in der andauernden Bewegung der Migration und angesichts des stets schmerzhaft-traumatischen Heimatverlusts ebenfalls die Möglichkeit einer Heimischwerdung im Sinne einer „Ankunft“. Vor diesem Hintergrund erhellt sich der Umstand, dass sich auch Agnant selbst als „une déracinée, […] une flottante“ (Jurney 2005: 392) „[sans] appartenance territoriale“ (op. cit.: 390) bezeichnet. Wollen wir die dem Prosawerk Agnants zugrunde liegende Dialektik von Räumen der Heimsuchung und der Vertreibung also nicht im Sinne einer Affirmation der Ohnmacht des postkolonialen Subjekts lesen, sondern sie vielmehr als Strategie des détour gegen Stillstand und Flucht angesichts eines durch Gewalt geprägten Alltags verstehen, so müssen wir die in ihren Texten entworfenen Räume nicht primär als passiv heimgesuchte, sondern als uns heimsuchende Orte auffassen. Diese brechen mit der ortlosen und somit omnipräsenten écriture migrante postkolonialer Schriftsteller in die scheinbar so sicheren Orte des westlichen Imaginären ein und lösen dort - wie die Figur Emma metonymisch zeigt - ein verstörendes Unbehagen aus. Dieses Unbehagen hinterfragt und verunsichert die bestehenden Ordnungen eben- Räume der Verdrängung, Räume der Vertreibung 179 so, wie es die aus dem Bewusstsein der Amerikas gleichsam verdrängten Strukturen der Gewalt sichtbar macht. Dabei handelt es sich nicht allein um die physische Gewalt haitianischer Diktaturen, in denen ihrerseits die gewaltsamen Strukturen der Kolonisierung ihren Nachhall finden, sondern - dies zeigen die Beispiele Emmas und Mnemosynes - ebenso um die Stigmatisierung der Zeugen jener Gewalt als Wahnsinnige, wie sie sich in Heimat und Exil gleichermaßen vollzieht. Literatur Agnant, Marie-Célie: „Deux jours pour oublier“, in: Le silence comme le sang. Nouvelles, Montréal et al.: Éditions de remue-ménage 1997a, 29-33. Agnant, Marie-Célie: „La maison face à la mer“, in: Le silence comme le sang. Nouvelles, Montréal et al.: Éditions de remue-ménage 1997b, 45-52. Agnant, Marie-Célie: „Le silence comme le sang“, in: Le silence comme le sang. Nouvelles, Montréal et al.: Éditions de remue-ménage 1997c, 53-101. Agnant, Marie-Célie: „Refuges“, in: Le silence comme le sang. Nouvelles, Montréal et al.: Éditions de remue-ménage 1997d, 9-33. 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In immer kürzerer Zeit wandeln sich die Räume und fordern so immer neue Adaptationen der Individuen, produzieren immer neue Subjektpositionen. Diese Räume sind nicht rein phänomenologischer Natur; sie entspringen auch neuen Simulationen und Fiktionalisierungen, die zugleich ihre Repräsentationen konstituieren. Im Lichte dieses Wechselspiels der Konzeptionalisierung neuer Räume und der Repräsentation realer neuer Raumkonstellationen und Raumerfahrungen möchte ich im Folgenden eine Reihe französischsprachiger Romane und Filme aus den letzten 50 Jahren exemplarisch Revue passieren lassen. Dabei gehe ich von zwei Konzepten aus, die der Anthropologe und Literat Marc Augé einerseits und der Soziologe und Philosoph Michel Foucault andererseits entworfen haben, nämlich einmal das Konzept des non-lieu, des Nicht-Ortes, und zum zweiten das Konzept der Heterotopie, des Anders-Ortes. Beide entspringen nicht dem klassischen postkolonialen Diskurs. Ich möchte sie aber im Laufe meiner Überlegungen mit den dort entwickelten Konzepten in einen - wie ich hoffe - produktiven Zusammenhang stellen. Marc Augé hat in seinem Buch Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la sur-modernité 1992 sowie in Pour une anthropologie des mondes contemporains 1994 erneut die Frage gestellt: „Comment penser ensemble l’unité de la planète et la diversité des mondes qui la constituent? “ (Augé 1994: 29). Sein Befund in der globalen Welt, der ihn mit Paul Virilio, Jean Baudrillard und vielen anderen postmodernen westlichen Denkern eint, aber auch mit Édouard Glissant und Homi Bhabha verbindet, ist der einer ungeheuren Beschleunigung der Information, der Technik, der Medien und der kulturellen Kontakte und Überschreibungen. 1 Bei Augé lautet dies so: Cet état du monde […] grossièrement résumé par les deux expressions „accélération de l’histoire“ et „rétrécissement de la planète“, n’est pourtant pas l’objet d’une appréhension uniforme. Les uns, plus attentifs au paramètre temporel, sont 1 Cf. Lipovetsky 1983/ 1993; id. 2004; Tholen 2002; Virilio 1990; id. 1996; Glissant 1991; id. 1996 etc. Im Übrigen wurden die touristische Beschleunigung und die exotistische „Überhitzung“ schon von Victor Segalen beschrieben (cf. Febel 2006 und 2007). Gisela Febel 184 […] plus sensibles aux facteurs d’unification que l’accélération de l’histoire leur paraît mettre en évidence: les thèmes de la „fin de l’histoire“ et du „consensus“ s’inscrivent dans la perspective ainsi ouverte. Les autres, plus attentifs au paramètre spatial, sont plus sensibles aux diversités que dévoile, en les rapprochant, le rétrécissement de la planète. (Augé 1994: 28) Im Anschluss an Virilio nennt Augé dies die „conditions de l’instantanéité et de l’ubiquité“ (op. cit.: 29), denen die gegenwärtige Welt unterliegt. In ähnlicher Weise entwickelt Édouard Glissant seine Weltbeschreibung in „Le chaos-monde: Pour une esthétique de la relation“ (cf. Glissant 1996: 81-107, c. q. 82sq.), wobei sein Augenmerk auf den daraus resultierenden Veränderungen und Vervielfältigungen der Kontakte und Konfrontationen zwischen Kulturen liegt, die dadurch eine grundlegend andere Qualität - nicht nur eine quantitative Häufung - erfahren: J’appelle chaos-monde […] le choc, l’intrication, les répulsions, les attirances, les connivences, les oppositions, les conflits entre les cultures des peuples dans la totalité-monde contemporaine. […] l’approche que je propose de cette notion de chaos-monde est bien précise: il s’agit du mélange culturel, qui n’est pas un simple melting-pot, par lequel la totalité-monde se trouve aujourd’hui réalisée. […] Il y a des plages temporelles immenses qui conditionnent les relations entre cultures, […] nous savons que dans ses immenses plages temporelles les cultures s’influencent les unes les autres, mais avec des transformations qui par moment sont fulgurantes. La nouveauté que présentent les temps contemporains, c’est que les plages temporelles ne sont plus immenses, elles sont immédiates, et le retentissement est immédiat. Les influences ou les retentissements des cultures les unes sur les autres sont immédiatement ressentis en tant que tels. (op. cit.: 82sq., Hervorhebung G.F.) Daraus schließt Glissant auf eine grundsätzliche Unvorhersehbarkeit (die „imprédictibilité“ - op. cit.: 85) der kulturellen Relationen und auf deren rhizomatische Struktur, wobei der Denkraum dem eines Archipels („une pensée archipélique“, cf. Glissant 1981b) ähnelt. In diesem Raum gilt es sich für das heutige Individuum zu orientieren, was in Glissants Romanen in der Regel bestenfalls zwei Typen von Figuren gelingt: zum einen den Erzählern, die anknüpfen können an das Gedächtnis eines ungeheuren Netzes von Geschichten, wie in Tout Monde (1993) oder in La case du commandeur (1981), und zum anderen den Marrons, wie in Mahagony (1997) oder auch schon in der Figur der résistants in La Lézarde von 1958, deren Freiheitswillen eine eindeutige, wenn auch unvorhersehbare Richtung vorgibt. Marc Augé lenkt die Fragestellung eher auf die Qualität der Lebensräume, in denen sich heutige Individuen verorten. Während ein klassischer Ort verbunden war mit Identität, Relation und Geschichte, fehlen den Nicht- Orten diese drei Qualitäten (in unterschiedlichem Maße), das heißt sie stiften oder garantieren nicht mehr Identität (wie zum Beispiel ein Heimatort oder ein Geburtsort), sie erzeugen keine gewachsenen Relationen und keine Sozialität, kein gesellschaftliches Band (wie Familien, Dorfstrukturen, Hand- Non-lieux und Heterotopien im französischen Gegenwartsroman und -film 185 werksbetriebe, Handelsgesellschaften, Schulen etc.), und drittens, sie verwurzeln das Individuum nicht mehr in einer Historie (es sind keine Räume zum Verweilen, sie stiften keine Kontinuität in der Zeit und sie fungieren nicht als Gedächtnisorte für historische Ereignisse). Diese Beschreibung trifft auf die heutigen urbanen Räume zu, auf die Durchgangsorte der Flughäfen, der Supermärkte, der Metro, der Bahnhöfe, der shopping malls, die überall gleich aussehen, auf die Vororte, die Hochhäuser und die Reihenhaussiedlungen, die Fabriken mit Fließbandproduktion und Robotern etc. Sie trifft aber auch auf die Lager und die diversen Übergangsorte der Migrationsströme und der postkolonialen urbanen Peripherien und neuen Megametropolen zu. Nach Augé werden diese Nicht-Orte insbesondere durch die simulativen Verfahren der Medien erzeugt, wodurch immer schon ein Bild vor der Erfahrung der Realität da ist. So ist zum Beispiel eine Reise nur als Bestätigung der touristischen Bilder möglich, in Disneyland genießen wir das Wiedereintauchen in schon bekannte Fiktionen; es ist unmöglich, den Mont Saint Michel noch einmal unabhängig von seiner mythisierten Gestalt zu sehen, 2 etc. Diese neuen ent-ortenden und zugleich vermassenden Erfahrungen beschreibt Augé in seinen Essay-Erzählungen L’Impossible Voyage: le tourisme et ses images (1997) und La guerre des rêves. Excercices d’ethno-fiction (1979), aber auch Jacques Tati in seinem Film Playtime (1967), in dem nur noch ununterscheidbare kalte, futuristische Glasfassaden die immergleichen Wohnungen aus dem Möbelkatalog und Büros aus der Retorte zeigen und „reale“ Orte wie Big Ben nur noch auf Plakaten von Reisebüros im Hintergrund der Busse erscheinen. Marc Augé zeigt diese Verlorenheit des Individuums in der Metro und thematisiert den Nicht-Ort in der Relationslosigkeit der Passagiere in seinem Roman Un ethnologue dans le métro (1986). Schon Alain Robbe- Grillet hat in den „Trois visions réfléchies“ aus seinen Instantanées (Robbe- Grillet 1962: 7-29) und auch in Projet pour une révolution à New York (1970) die unterirdischen Gänge der Metro und die Rolltreppen als Nicht-Orte avant la lettre beschrieben, in denen sich die Menschen als Statisten oder Werbeplakatbilder bis ins Unendliche wiederholen und vervielfältigen: ein Verlust an Individualität und Orientierung, den im Grunde viele Texte des Nouveau Roman beschreiben, ihn aber nicht ursächlich mit der Qualität der Orte zusammenführen, das heißt der non-lieu gehört (noch) nicht zu den thèmes générateurs des Romans. 3 Eine Ausnahme bildet hier vielleicht Marguerite Duras, insbesondere in ihren Filmen, in denen die schwindende Verwurzelungskraft der modernen Orte zum zentralen Thema wird, so in Le camion von 1977 und besonders in Les mains négatives von 1979, wo das Bild ledig- 2 Hier sei auf die Quasi-Natürlichkeit der Alltagsmythen verwiesen, die Roland Barthes beschrieben hat in seinen Mythologies (1957). 3 Auch hier finden sich natürlich Vorgänger für die Entwurzelung und Entortung, insbesondere Emmanuel Bove wäre zu nennen oder auch Albert Camus. Gisela Febel 186 lich den Kamerablick durch die Frontscheibe bei einer langsamen Autofahrt durch das morgendliche, noch menschenleere Paris zeigt. In Grautönen gehalten, stellt der visuelle Film von Duras die Monotonie und Einsamkeit, jene zentralen Erfahrungen des Menschen am Nicht-Ort, dar (wie es der deutsche Titel von Augés Buch hervorhebt: Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit), während eine Stimme aus dem Off leidenschaftlich den Verlust der „Urhöhle“ beklagt: Diese steht für die geschichtliche, immense Dimension der Prähistorie und für das soziale Band in der Höhle, wie die in ihr zu entdeckenden Negativhände zeigen, auch für die - vielleicht mütterliche, sicherlich weibliche - Liebe, für die platonische Höhle der Kunst und für die menschliche Geburt und Individuation, was aber letztlich bei Duras samt und sonders wieder in Einsamkeit mündet. So durchkreuzt der Nicht- Ort der Stadträume (und die Technisierung des Blicks wie der Bewegung - Kamera und Auto) im Filmbild die von der Stimme so begehrte Individuation und verweist den Wunsch nach Sozialität und Selbstsein auf den Status der Nostalgie. 4 In Marie Redonnets parabelhaftem Roman Splendid Hotel (1986) wehren sich drei Schwestern an ihrem Ort, dem von der Mutter geerbten Hotel am Rande eines Moorgebiets, gegen die Invasion des Nicht-Ortes und der zerstörerischen Natur zugleich, Ersteres in der Gestalt des Baus einer Eisenbahntrasse, Letzteres in der Figur des Moores. Was übrig bleibt, ist ein zum unbewohnbaren Nicht-Ort zerfallendes und verwaistes Hotel ohne Gäste und eine nie fertiggestellte Eisenbahn. Ähnliche terrains vagues zeigt auch Redonnets jüngerer Roman Diego (2005), in dem ein illegaler Flüchtling in einem offenen Brachland am Rande von Paris strandet und seltsamen anderen wurzellosen Individuen begegnet, die alle einen zwielichtigen Überlebenskampf führen und illegale Arbeit am Nicht-Ort eines nachts zu bewachenden Lagerhallenkomplexes finden. Ebenso brach liegt in Alain Robbe- Grillets Projet pour une révolution à New York ein ganzes Stadtkarree hinter einem Bretterzaun, angefüllt mit Zivilisationsmüll und nostalgischen Obsessionen. Und selbstverständlich fällt auch eine Vielzahl der Romane und Filme zur banlieue und zur Migration zumindest teilweise unter diesen Topos; als Beispiele seien genannt der berühmte Film La haine aus dem Jahr 1995, in dem Mathieu Kassovitz im tristen Schwarz-Weiß die menschenverachtende Leere der cités nur zu deutlich vor Augen führt, der Beur-Klassiker - Roman und Film - Le thé au harem d’Archi Ahmed von Mehdi Charef von 1983/ 84 sowie Abdellatif Kechiches Darstellung der Banlieue-Hochhaus- 4 Dies taucht auch als Thema in Jean Echenoz’ Erzählung L’occupation des sols (1988) auf, wo ein Vater und sein Sohn vergeblich die reale Erinnerung an die Mutter erhalten wollen, die lediglich noch in einem überdimensionalen Werbebild an einer Hauswand vorhanden ist. Andreas Steffens konstatiert in seinem Essay Poetik der Welt. Möglichkeiten der Philosophie am Ende des Jahrhunderts einen „sich dramatisch beschleunigenden menschlichen Selbstverlust“ (Steffens 1995: 133). Non-lieux und Heterotopien im französischen Gegenwartsroman und -film 187 landschaft in seinem Film L’esquive (von 2005) als offene, unbesetzte Räume, die sich die Jugendlichen erst in einem Theaterspiel bis zu einem gewissen Grad als einen Raum der freien Inszenierung und Selbstinszenierung wieder erobern können, wie Karen Struve gezeigt hat (cf. Struve 2007 und 2008). Diese Nicht-Orte sind es, in die am Rande der Megalopolis die Zuwanderer verwiesen werden oder sich flüchten müssen, um so bestenfalls eine marginale Existenz zu erringen. Auf diese Weise bildet sich in der Migrationsweltordnung eine reale - das heißt lebensweltlich lokalisierte - Struktur von Zentrum und Peripherie heraus, die der Machtstruktur der Denkräume von Zentrum und Peripherie zu entsprechen scheint, wie sie Deleuze oder Canclini kritisieren. Zugleich wandeln sich aber die modernen Metropolen selbst in Nicht-Orte, deren Bewohner nicht weniger, wenn auch aus anderen Gründen, einem Verlust der identitätsstiftenden Qualitäten der Lebensräume unterliegen. Jean- Philippe Toussaints Romane zeigen in vielen Variationen, wie der Einzelne, der Ich-Erzähler zumeist, die Invasion der Medien und der medialen Bilder erlebt und sich immer mehr faszinieren, lähmen und entleeren lässt. So blickt der autofiktionale Erzähler von La télévision (1997), obwohl er dem Fernsehen aus ebenjenen medienkritischen Gründen abgeschworen hat, auf seinem Gang durch Berlin fast immer in Bildschirme, registriert die Gemälde der Nationalgalerie nur in den Überwachungsschirmen der Aufsichtspersonen etc. 5 In Fuir (2005) wird der durch China reisende Erzähler von seinem Handy terrorisiert und fühlt sich zugleich permanent durch dieses Medium überwacht, so dass er die Orte der Reise gar nicht mehr wahrnimmt. In Autoportrait (à l’étranger) von 2000 beschreibt Toussaint den Eindruck der universalen Gleichheit und Ununterscheidbarkeit der Orte beim Flugreisen selbst: On arrive à Tokyo comme à Bastia, par le ciel, l’avion amorce un long virage audessus de la baie et prend l’axe de la piste pour attérir. Vu de haut, à quatre mille pieds d’altitude, il n’y a pas beaucoup de différence entre le Pacifique et la Méditerranée. (Toussaint 2000: 9) Die Ankunft in Hongkong gibt dem Erzähler Anlass, ein Bild für das „rétrécissement de la planète“ zu finden, alles bildet eine einzige Agglomeration aus blauem Licht, die berühmte „blaue Banane“: […] alors que l’avion était encore beaucoup plus haut dans le ciel et tournait lentement dans les airs pour commencer sa descente, c’est toute la baie de Hongkong qui m’était soudain apparue au hublot dans un scintillement de points lumineux bleus et blancs, laissant deviner au loin la présence d’autre concentrations urbai- 5 Ähnlich auch in Faire l’amour (2002), das allerdings in Tokio spielt, wo der Erzähler sich selbst in den Videoschirmen sieht. Die Bildschirmüberwachung und die Transformation des Blicks und im Anschluss daran auch der Selbsterkenntnis im Bild sind nach Toussaint überall präsent und also ein globales Symptom. Gisela Febel 188 nes, Macao ou Kowloon, dont les agglomérations illuminées se dessinaient sur un fond de montagnes bleutées dont on n’apercevait que les profils d’ombre dans la nuit […] (op. cit.: 15sq.). Einen besonderen Typus der Nicht-Orte stellt die Fabrik dar, die als Ort der arbeitsteiligen, entfremdenden Produktion ja bereits im Marxismus in der Kritik war. Sie wandelt sich nun in eine jede Identität vernichtende Maschine, da nicht einmal mehr die relationale Qualität - dass sie die Arbeiter zur wehrhaften Gruppe des Proletariats zusammenschweißt - vorhanden ist. Leslie Kaplan stellt sie in ihrem poetisch-romanesken Text L’excès - l’usine (1987) dar als eine Abfolge von Höllenkreisen, in denen nur noch das anonyme „On“ existiert. Nur die personifizierte Maschine - „la grande usine univers, celle qui respire pour vous“ (Kaplan 1987: 11) - verfügt über eine, wenn auch sinnentleerte Aktivität und hat Anspruch auf ein Personalpronomen: Elle est là, entière, pièces et morceaux. L’usine. Il n’y a pas de sens, elle tourne. Et monte et descend et à droite et à gauche et en tôle et en brique et en pierre et l’usine. Et sons et bruits. Pas de cris. L’usine. Morceaux et pièces. Clous et clous. […] Il n’y a aucune image, jamais. (op. cit.: 17) Der Beur-Schriftsteller Azuz Begag schildert im kindlichen Blick des Protagonisten von Les chiens aussi (1995) die Fabrik, in der sein Vater arbeitet und ums Leben kommt, als einen Ort mit einem gigantischen Transformationsrad, das die Menschen in Hunde verwandelt, ein Gleichnis für die Entmenschlichung und Entindividualisierung durch den Arbeitsort und die Migration in einem. Marc Augé reflektiert in seiner Erzählung „Le voyage à Aulnay“ (Augé 1997: 103-137) die moderne Produktions- und Verwaltungsstätte von L’Oréal mit der Image-orientierten Architektur als einen „nach innen gewandten“ Ort („un espace défendu, replié sur lui-même […] introverti“; op. cit.: 123), der sich in Abgrenzung zur unschönen Außenwelt als ein paradiesischer - wie das Produkt so schöner - Innenraum darstellt, den nur Eingeweihte betreten dürfen. Innen ist alles gläsern und offen gestaltet. Die Arbeiter werden durch die symbolische Architektur, so Augé, zu Akteuren der Inszenierung der globalen corporate identity. Sie werden in einer neuen Weise von dieser Fabrik entfremdet, die vorgibt ein Ort der Identifikation zu sein, aber nur die Simulation eines Ortes - also einen Nicht-Ort ohne selbstidentifizierende Kraft (und ohne Geschichte) - darstellt. Augé formuliert dies so: […] c’est un espace virtuel, l’espace mondial qu’occupent tous les clients potentiels de l’Oréal. […] Elle [l’usine] est conçue pour donner à tous simultanément une image d’elle-même, et l’on s’étonne moins, dès lors, de […] la projection d’un film sur l’Oréal et sur le site. À la fin du film, au début de la visite, les rideaux s’écartent et les spectateurs découvrent d’un coup - spectacle de la réalité et réali- Non-lieux und Heterotopien im französischen Gegenwartsroman und -film 189 té du spectacle - le plan d’eau, le jardin et les ateliers. […] Il n’y a pas de changement de statut: nous restons dans l’image. (op. cit.: 134sq.) Wenden wir uns nun dem zweiten Konzept für die Veränderung der Räume zu, der Heterotopie. Michel Foucault erläutert in seinem Radiovortrag vom 7. Dezember 1966 das Konzept in Abgrenzung zu ideellen Utopien als real lokalisierte und realisierte Utopien („des utopies qui ont un lieu précis et réel“, Foucault [1966]: 39) oder Widerlager, als real konstruierte Gegenentwürfe zu einer gesellschaftlichen Ordnung oder als von ihr ausgegrenzt und doch inmitten von ihr existierende Orte. Insbesondere sind Abweichungsheterotopien typisch für die modernen Gesellschaften, wie sie Foucault ja auch in vielen anderen seiner Werke - vor der Neuschöpfung des Begriffs Heterotopie - untersucht hat, etwa in Surveiller et punir. La naissance de la prison (1975) oder in Naissance de la clinique - une archéologie du regard médical (1963). Eine Heterotopie folgt in der Regel fünf Prinzipien: 1. Jede Gesellschaft bildet Heterotopien, sie kann sogar nach deren jeweiligem Vorliegen klassifiziert werden (zum Beispiel übergangsrituelle Gesellschaften, psychiatrisierende Gesellschaften etc.). 2. Heterotopien sind historisch, können entstehen und verschwinden oder ihre Rolle in der Gesellschaft ändern. 3. Sie besitzen Abgrenzungssowie Ein- und Ausgangsrituale. 4. Sie sind Ort innerhalb oder inmitten anderer Orte, es findet also eine Art Verschachtelung oder Umbesetzung vorhandener Orte statt; hierfür nennt Foucault den Garten oder das Theater als Beispiele, also Orte, die reale Träger von Utopien und Phantasmen sein können. Schließlich sind Heterotopien 5. mit besonderen Zeitphasen verbunden und oft den Heterochronien verwandt (cf. ibid.). Wenn wir uns mit diesem Konzept an die aktuelle Literatur wenden, so finden sich eine Vielzahl von Beispielen, in denen solche Orte in Orten - Foucaults Übersetzer nennt sie auch die „Andersorte“ - eine besondere Rolle spielen. 6 Ich möchte, um einen Zusammenhang mit Marc Augés Konzept der non-lieux und mit Aspekten der postkolonialen Literaturtheorie zu stiften, hier insbesondere nochmals zwei der Topoi aufgreifen, die schon einmal genannt waren: die Metro und die banlieue. In Luc Bessons Film Subway aus dem Jahr 1985 wird der Nicht-Ort der Metro, genauer die Versorgungsgänge und unterirdischen Passagen, zum Ansiedlungsort einer gemischten Gegengesellschaft. Zu ihr zählen ein Rollschuh fahrender sympathischer kleiner Dieb, ein vom Krafttraining gestählter hilfsbereiter Nordafrikaner, ein maghrebinischer listiger Blumenverkäufer etc. Der Protagonist ist ein moderner jugendlicher Revoluzzer, der versehentlich bei einer Verfolgungsjagd in diesen anderen Ort gerät. In seiner Nachfolge wird auch die bürgerlich-schöne Heldin von dieser Welt fasziniert. Die Metro-Unterwelt hat hier alles von einer Heterotopie, mitten in 6 Natürlich kommen Heterotopien auch schon in klassischer Literatur vor, vom Roman de la Rose bis heute, wenn auch in anderer Gestalt als ich sie hier thematisieren möchte. Gisela Febel 190 der Pariser Gesellschaft ist sie ein ausgegrenzter Ort mit speziellen Zugängen und Ausgängen, was der Film in einer Serie von Bildern mit labyrinthischen Durchgängen, Fluren, Türen, Treppen, dem Sprung über die Schienen etc. in Szene setzt. Diese „Unterwelt“ ist durch die Auseinandersetzungen mit der Polizei einerseits und mit den großen Gangstern, vor denen der Protagonist auf der Flucht ist, andererseits, ein Ort der Subversion der bürgerlichen Mainstream-Gesellschaft und der - eher kleinbürgerlich geschilderten - Ordnungsmanie der Polizei wie auch der globalen mafiösen Struktur, die sich im Hintergrund an der Oberflächenwelt abzeichnet. Gleichzeitig ist diese Gegengesellschaft, die es ja tatsächlich gibt oder gab - die squaters in der Metro waren einige Zeit auch ein Medienthema, ebenso wie immer noch die sans papiers, die Gesellschaften „an anderen Orten“ bilden -, ein Sammelraum für illegale oder halblegale Existenzen und vielkulturelle Einwanderer. Der Raum des Nicht-Ortes wird umbesetzt zu einem heterotopen Ort, der subversive Qualitäten hat. Dies ist insbesondere auch die Leistung der migrantischen Ansiedler und der Cliquen, die sich darum herum bilden, wie man etwa in den schon erwähnten Filmen und Romanen sehr gut sehen kann, in La haine von Kassovitz, bei Charef oder Kechiche, aber auch in besonderer Weise in Patrick Chamoiseaus Roman Texaco von 1992 (Prix Goncourt 1992, dtsch. Texaco 1995). Der umfangreiche Text des martinikanischen Autors erzählt in einer komplexen netzartigen Struktur von Rückblenden und Gegenwartspassagen auf verschiedenen Zeitebenen die Gründung und den Aufbau einer ganzen illegalen Banlieue-Siedlung neben der Produktionsstätte Texaco, die der Siedlung und dem Roman ihren Namen gibt. Hier bilden die ehemaligen Sklaven und die marginalisierte kreolisierte Gesellschaft eine neue Lebenswelt am Rande der urbanen Zonen und der globalen, ökonomisch bestimmten Räume aus. Dieser Ort ist zunächst ein Brachland, ein terrain vague, es müsste also ein Nicht-Ort sein, an dem sich die - wie Édouard Glissant schreibt - nicht genealogisch fundierte und insofern geschichtslose, ehemals verschleppte und kolonialisierte Bevölkerung niederlässt. Der Roman schildert jedoch im Gegenteil die Entstehung eines tatsächlichen Ortes - im starken Sinn -, an dem die verzweigten Gässchen, die verschachtelten Hütten und Gebäude für eine neue, rhizomatische Bindung an den Ort stehen. Die komplexe familiäre und solidarische Gemeinschaft wächst und gedeiht und sieht sich ständig genötigt, sich gegen die Übergriffe und Planungsversuche der urbanen Machtgesellschaft zur Wehr zu setzen. In der Form der Befragung und der erinnernden Erzählung durch eine mütterliche Gestalt stellt Chamoiseau die Qualitäten der Geschichtlichkeit und der Relation an diesem Ort dar. Die Protagonisten sind starke Persönlichkeiten, deren Identitätsbildung durch die Verwurzelung an diesem Ort für den Leser außer Frage steht. Tendenziell ist die neue heterotope Gesellschaft eher als matriarchal zu betrachten. So entsteht hier an einem - aus der Perspektive der kolonia- Non-lieux und Heterotopien im französischen Gegenwartsroman und -film 191 len und urbanen Gesellschaft gesehen - Nicht-Ort gerade ein Ort für die marginalisierten Gruppen dieser Gesellschaft. Sie bilden in diesem Raum erfolgreich eine Heterotopie. Chamoiseau zeigt in seinem Roman, wie gerade durch die Ausbildung von Nicht-Orten Räume für die Neubesetzung als Heterotopien - subversive Abweichungsorte - geschaffen werden. Schon in Édouard Glissants La lézarde bildet die revolutionäre Gruppe eine Art Gegengesellschaft aus. Auch die jugendlichen Cliquen des Cinéma beur zeigen mehr als die Marginalisierung, sie versuchen in den Filmen immer wieder eine Abgrenzung des eigenen Ortes innerhalb der banlieue, eine Heterotopisierung ihres Lebensraums zu erwirken. Grenzmechanismen, Eingangs- und Ausgangsrituale spielen dabei eine besondere Rolle, der Übergang ist stets ein zentrales Motiv solcher Migrationstexte oder „postkolonialer“ Romane, wie Karen Struve unlängst gezeigt hat (sie nennt das „Passagen“, cf. Struve 2008). Die auch bei Édouard Glissant, Gisèle Pineau oder Fatou Diome, Azuz Begag, Nina Bouraoui und anderen dargestellten multi-relationalen Verbindungen dieser heterotopen Orte wie Texaco oder der banlieues von Paris und Lyon sind eine wesentliche Bedingung ihrer Existenz, da sie keine abgeschlossenen Parallelgesellschaften bilden, die als Ansiedlungen homogener Gegenkulturen verstanden werden, sondern eben die Erfahrung der Kolonialisierung und der Migration als Kreolisierung und Hybridisierung transportieren. Ihre Geschichtennetze sind keine große Erzählung der großen Geschichte, sondern kreolisierte, nicht genealogische Lokalisierungen, denn, wie Glissant sagt, [l]a littérature conçue comme le Récit, qui et le témoin de l’Histoire, et comme le privilège insu de ceux qui „faisaient“ l’Histoire, cette littérature est stérile. […] Et on sera obligé d’inventer de nouvelles manières de résister, […] sans faire de l’idéalisme. […] Il y a des résistances concrètes qu’il faut mener. Dans le lieu où on est. Tout le reste est Relation: ouverture et relativité. (Glissant 1996: 101, 107) So könnte man am Schluss eine Hypothese wagen, die die neuen Raumkonzepte in eine Verbindung bringen kann, die besonders auch für jene „littérature-monde“ (cf. Le Bris/ Rouaud/ Amassy 2007) gilt, die unter postkolonialen Bedingungen geschrieben wird: Die ökonomische und politische Globalisierung, die Mediatisierung und die westliche Urbanisierung bringen zunehmend Nicht-Orte hervor, an denen es den Individuen immer weniger gelingt, zu einer festen Identität zu finden (die Literatur zeigt uns schwache Helden, schwache Autorenstimmen etc.). Sie schaffen daher Lebenssituationen, die - ohne das Leid von Millionen schmälern zu wollen - eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Situation von ehemals versklavten und durch Migration entwurzelten Bevölkerungen aufweisen: keine genealogische Identität, kein sicherer Ort, keine festen Relationengefüge mehr. Diese Gisela Febel 192 Nicht-Orte bieten sich zugleich an für die Neubesetzung als Heterotopien, subversive Andersorte - eine Neubesetzung, die heute vornehmlich von marginalisierten Gruppen, Migrationsbevölkerung und kreolisierten Menschen vorgenommen wird, wie besonders die Literatur der beurs, des Maghreb und der karibischen Frankophonie - wohl auch der afrikanischen, die ich hier nicht mit einbeziehen konnte - aufzeigt. Die gewissermaßen zwangsweise kreolisierten ehemaligen Kolonisierten und die migrierenden Menschen haben durch ihre historische Erfahrung des Identitätsverlustes einen gewissen „Vorteil“ bei der Bildung von lokalisierten Heterotopien, da sie - oft notgedrungen - bereit sind oder sein müssen, auf einer unsicheren Basis Kreolisierungen und Hybridformen zur Grundlage ihrer Existenz zu machen. Heterotopie am Nicht-Ort ist sozusagen heute, neben dem Motiv der Grenze, der einer postkolonialen Literatur ganz eigene Topos, zumindest der eher gegenwarts- oder zukunftsgewandten Texte. Ihre literarische Form ist oft die netzartig wuchernde Erzählung, die inkommensurable Erzählungshäufung, die Vielfalt der Stimmen, anstelle der stets kommensurablen, realistischen, machtvollen Beschreibungen eines Ortes oder einer Landschaft, in der die Menschen genealogisch verwurzelt sind. Es ist dies jedoch nicht notwendig eine Literatur des „Dritten Raums“ und des schrägen, obliquen Blicks, in dem eine machtvollere und eine weniger mächtige Stimme und/ oder Kultur einander anblicken und zugleich unterlaufen; Heterotopie ist nicht der reale Ort des „Dritten Raums“ von Homi Bhabha. Es ist vielmehr eine Literatur, die versucht, der Diversität der Relationen gerecht zu werden, und diese in ihren vielen Varianten erzählen will, oder - wie Édouard Glissant sagt und in ähnlicher Weise auch Jean-Luc Nancy für die Kunst, die Vernunft und die Subjektpositionen (cf. Nancy 1996) - es ist keine Literatur, die auf dem universalen Einen (der klassischen raison) basiert, sondern eine, die der lokalen und ubiquitären Diversität (im Einzelnen) zugewandt ist: […] une démesure de la démesure qui me paraît être la vocation de la littérature aujourd’hui. Démesure non parce que c’est anarchique, mais parce qu’il n’y a plus la prétention à la profondeur, la prétention à l’universel, il n’y a plus que la prétention à la diversité. Démesure de la démesure. Cette démesure-là c’est l’ouverture totale et cette démesure-ci c’est le Tout-monde. La littérature a suivi ce chemin. Et il est tout à fait évident que les littératures francophones se placent ici, dans la démesure de la démesure. (Glissant 1996: 95sq.; Hervorhebung im Text) Literatur Augé, Marc: La guerre des rêves. Exercices d’ethno-fiction, Paris: Seuil 1979. Augé, Marc: Un ethnologue dans le métro, Paris: Hachette 1986. Augé, Marc: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la sur-modernité, Paris: Seuil 1992. Non-lieux und Heterotopien im französischen Gegenwartsroman und -film 193 Augé, Marc: Pour une anthropologie des mondes contemporains, Paris: Flammarion 1994. Augé, Marc: L’Impossible Voyage. Le tourisme et ses images, Paris: Payot & Rivages 1997; darin i.a.: „Le voyage à Aulnay“, 103-137. Barthes, Roland: Mythologies, Paris: Seuil 1957. Begag, Azouz: Les chiens aussi, Paris: Gallimard 1995. Brunkhorst, Hauke/ Sérgio Costa (eds.): Jenseits von Zentrum und Peripherie. Zur Verfassung der fragmentierten Weltgesellschaft, München/ Mering: Rainer Hampp Verlag 2005. Chamoiseau, Patrick: Texaco, Paris: Gallimard 1992 (Prix Goncourt 1992). 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Bilder dieser sogenannten traceurs, die die neue urbane Sportart des parkour ausüben, sind derzeit in den Medien und einigen Kinofilmen präsent. Ich möchte dieses Bild als Illustration für ein Phänomen nutzen, das in den Erzähltexten der Beur- Literatur der letzten 25 Jahre, jenen narrativen Texten, die von den Kindern der maghrebinischen Immigranten in Frankreich erzählen, 1 zu beobachten ist: die Beschreibung eigener (transkultureller) Lebenswege. Damit gehen spezifische literarische Raumkonstruktionen einher: über nationale und Stadtgrenzen, über Türschwellen oder Gefängnismauern hinweg. Es geht hier um die Inszenierung von Bewegung, welche in der Kunst „in der Schwebe“ gehalten werden kann. Dieser Moment des Übergangs im Raum spielt in den literarischen Texten eine wichtige Rolle. Und diese Passagen spiegeln sich auch auf der Ebene des Textes selbst wider. Fluchtpunkt meiner Analysen ist daher eine aus meinen Lektüren generierte Konzeption des „Passagen-Schreibens“, die ich für die Untersuchung der Beziehung von écriture und Raum in der transkulturellen Beur-Literatur vorschlagen möchte. Zur Entwicklung dieses „Passagen-Schreibens“ sollen spezifische Räume in der Beur-Literatur analysiert werden. In einem ersten Schritt werden unterschiedliche Formen der Bewegung untersucht, welche die Räume aufspannen und durch die sie durchschritten werden. Ausgehend von diesen Passagen im Text werde ich dann in einem zweiten Schritt Textpassagen in 1 Zur Problematisierung der Bezeichnung Beur-Literatur cf. meine einführenden Überlegungen in Struve 2009: bes. 22-30. Karen Struve 196 den Blick nehmen und der Frage nachgehen, wie die Raumkonstruktionen auch das Schreiben selbst affizieren und wie ein eigener Textraum gestaltet wird. Diese beiden Perspektiven bilden dann die Grundlage für das stets in einem doppelten Sinne gemeinte „Passagen-Schreiben“: Es geht um den Raum im Text und den Text als Raum, das Beschreiben der Transition und ein transitorisches Schreiben. In einem dritten Schritt werden daher die Konzeptionen der Passagen und des Schreibens theoretisch aufeinander bezogen und als Analyseperspektive für die Lektüre postkolonialer Texte entwickelt. Vorausschicken möchte ich noch, dass die von mir im Folgenden beschriebenen diskursiven Räume stets in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Zeit und dem erzählenden Subjekt stehen. Zwar ist die Zeitdimension in meinen Analysen der Bewegung impliziert (schließlich ist Bewegung schon physikalisch Strecke pro Zeit); die Räume können im Rahmen meiner Ausführungen in ihrer historischen Codierung jedoch nicht näher untersucht werden. Dass die Räume „vernarbt“ sind, drängt sich in den Lektüren postkolonialer Texte immer wieder auf, sind diese doch gekennzeichnet durch die traumatischen Immigrationserfahrungen, gewaltsame Landnahmen, Deportationen, Diasporaerfahrungen etc. (cf. dazu die Argumentation von Bröck 1995). Diese chronotopische Verfasstheit soll jetzt jedoch zu heuristischen Zwecken einmal aufgetrennt werden, so dass im Folgenden der Fokus auf den literarischen Raumkonstruktionen liegt. „Passagen-Schreiben“: Räume und Passagen im Text In der Beur-Literatur seit den frühen 1980er-Jahren werden immer wieder typische und kulturell konnotierte Topoi entworfen, die oftmals in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen: das maghrebinische Elternhaus und die französische Schule; das Heimatland (meist) Algerien der Eltern und das Gastland und Heimatland Frankreich der Kinder. Es werden Orte des Ausschlusses wie Gefängnisse und Kinderheime beschrieben und die Straßen der banlieue, jenes „tiers-monde aux portes de Paris“, wie es in La menthe sauvage von Kenzi heißt (Kenzi 1984: 46sq.). Zwischen diesen Orten bestehen oftmals scharfe Trennlinien in Form von Grenzkontrollen, Türschwellen, hohen Gefängnismauern oder dem scheinbar unüberwindbaren périphérique. Doch gerade in den jüngsten Romanen zeigt sich zunehmend, dass es weniger um die Grenzen selbst geht, als vielmehr um deren vielfältige Überquerungen und Überwindungen, um Bewegungen im urbanen Raum. Jenseits der als dichotom konstruierten kulturellen Sphären und durch diese hindurch werden eigene Lebenswege beschrieben und damit eigene Spuren gelegt. Diese Transgressionen können Überfahrten mit der Fähre sein, wie im frühen Roman Akli Tadjers Les A.N.I. du Tassili (Tadjer 1984), oder Fahr- „Passagen-Schreiben“. Raum und écriture 197 ten durch die banlieue im Rausch der Geschwindigkeit in Mounsis La noce des fous: Nous ne savions pas où nous allions, mais nous y allions vite, c’était cela l’essentiel. On avait envie de rouler comme ça, longtemps, à la dérive, dans cette espace d’oubli de soi et des autres. D’aller au bout de n’importe quoi, vers n’importe qui, juste pour illusion que peut-être quelqu’un nous attendait quelque part. (Mounsi [1990] 2003: 62) Die Protagonisten genießen die Bewegung selbst, die für sie in Analogie zu ihrem Leben steht: „Fluide, la circulation, fluide, la nuit, fluide, la vie! “ jubiliert B.s Protagonist in Allah superstar (B. 2003: 265). Die Texte handeln von Zugfahrten mit dem RER in Richtung Zentrum, wie in Djaïdanis Mon nerf (Djaïdani 2004), oder durch ganz Frankreich bis nach Portugal, wie in Smaïls Ali le magnifique (Smaïl 2001), und schildern Flugreisen bis in die USA, wie in Boulouques Sujets libres (Boulouque 2004). Durch diese Passagen werden die Orte nicht nur verbunden, sondern zwischen ihnen Räume aufgespannt. Dieses Verständnis rekurriert auf Michel de Certeaus Differenzierung der Konzepte von lieu und espace, welcher lieu als „eine momentane Konstellation von festen Punkten“ begreift, während espace „ein Resultat von Aktivitäten“ ist und zudem „eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen“ (de Certeau [1980] 2006: 345). Ähnlich formuliert es auch Martina Löw, wenn sie den Ort beschreibt: „Ein Ort bezeichnet einen Platz, eine Stelle, konkret benennbar, meist geographisch markiert“ (Löw 2001: 199). Jene Aktivitäten oder Bewegungen belegt de Certeau im Weiteren mit der Metapher der Wegstrecke, des parcours, der er die Karte als Gegenmodell entgegensetzt: Während die Karte der Repräsentation des Ortes im Sinne eines leblosen „Daseins“ entspricht, korrespondiert die Wegstrecke mit der Handlung, durch die der Raum erst entsteht (cf. de Certeau [1980] 2006: 346sqq.). Durch den parcours der Beur-Protagonisten zwischen den Orten also entstehen andere, eigene Räume. Die Bildung der Räume durch die vielfachen Passagen in der Beur- Literatur aber verweist noch auf etwas anderes: Die Analysen der literarischen Raumkonstruktionen zeigen, dass die spatialen Hierarchien postkolonialer Räume nicht einfach nur reproduziert oder schlicht umgekehrt werden. Vielmehr wird in den literarischen Texten gerade die Bewegung zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Elternhaus und Schule, zwischen oben und unten, hinten und vorne, Dach und Keller, Wohnung und Straße etc. erzählerisch ausgestaltet. Analog zur trans-kulturellen Verfasstheit der Erzähler und Erzählerinnen als „Kinder der Immigration“ (Ruhe 1999) steht in den Romanen explizit das „beyond“ oder das „in-between“, um mit Homi K. Bhabha zu sprechen, im Vordergrund (Bhabha 1994: 1, 219) - hier wird also das Präfix „trans“ in seiner spatialen und epistemologischen Bedeutung akzentuiert. Karen Struve 198 Der Zwischenraum wird damit weder als Umkehrung der Hierarchien noch ausschließlich konkret als anderer Ort imaginiert, wie etwa als Utopie in Form einer Insel in Boukhedennas Journal: „Nationalité immigré(e)“ (cf. Boukhedenna 1987) oder als Wüste in Rahmanis „Musulman“ roman (cf. Rahmani 2005), in Gestalt der Städte Rom in Garçon manqué (cf. Bouraoui 2000) oder New York bei Boulouque (cf. Boulouque 2004). Das Potenzial als Passagen- Raum wird betont, indem der Modus der Bewegung selbst favorisiert wird: Die Protagonisten „verharren“ in der Bewegung. Die Erzähler unternehmen Irrfahrten durch Frankreich und die banlieue (cf. etwa bei Djaïdani 2004 und Smaïl 2001) und pendeln zwischen den unterschiedlichen Zimmern der elterlichen Wohnung hin und her, wie Djaïdanis Protagonist dies zu Beginn des Romans beschreibt. Anlässlich seiner Beschneidung sind viele Gäste gekommen, die in Männer- und Frauengruppen getrennt voneinander in unterschiedlichen Zimmern sitzen. Nur der junge Protagonist kann noch zwischen den Räumen hin- und herlaufen und die separierten Bereiche betreten (cf. Djaïdani 2004: 9sq.). Das gute Gefühl einer Anreise ohne Ankunft in Frankreich beschreibt etwa Bouraouis Erzählerin: „Je profite du dépaysement. Je me sens libre. [...] Parce que je suis ivre de voyage. Parce que rien n’est vrai. […] Je suis ici sans y être vraiment.“(Bouraoui 2000: 19) Smaïls Protagonist erklärt Spanien zu seiner Heimat, denn es liegt „à mi-chemin, chez moi“ (Smaïl 1999: 130). Und die Erzählerin von Minna Sif identifiziert sich in Méchamment berbère gar selbst mit der Passage: „Nous sommes de passages.“ (Sif 1997: 58) Diese „Zwischenwelten im Transit“ (Ette 2005: 15), die die literarischen Figuren beschreiben und beschreiten, sind mehr als bloße Spiegelungen der inneren Verfassung der Figuren im Außen. Sie sind nicht nur „gestimmte Räume“, welche nach Gerhard Hoffmann zusammen mit den in ihnen befindlichen Gegenständen Ausdrucksträger des Inneren des Subjektes sind (cf. Hoffmann 1978: 55), oder „erlebte Räume“ im Sinne Gaston Bachelards, der in seinen Analysen der „Topophilie“ festhält: „Der von der Einbildungskraft erfaßte Raum kann nicht der indifferente Raum bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird erlebt.“ (Bachelard [1957] 2006: 166) Die Bewegungen zwischen Orten in eigene Räume, der „flux d’un lieu“, wie es bei Boulouque heißt (Boulouque 2004: 147), verweisen insbesondere auf deren spezifische postkoloniale Disposition und deren Diskursivität. Ersteres meint die literarische Gestaltung oder Verarbeitung der postkolonialen Immigrationserfahrung der Eltern - Ette spricht hier von Vektorisierung als „Speicherung alter (und künftiger) Bewegungsmuster, die in aktuellen Bewegungen aufscheinen“ (Ette 2005: 11). 2 2 In diesem Zusammenhang wären auch die diskursiven Überschreibungen mit Raumkonzeptionen und -narrativen in der maghrebinischen/ algerischen frankophonen Literatur zu verfolgen. Auch hier sind Topoi der Bewegung und des Raums in die Gegenwartsliteratur eingeflossen, wie beispielsweise das Motiv der errance im Werk von „Passagen-Schreiben“. Raum und écriture 199 Diesem Speichermodell des Raumes, das der chronotopischen Verfasstheit postkolonialer Räume Rechnung trägt, kann ich im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter nachgehen. Weiter verfolgen möchte ich den zweiten Aspekt, nämlich dass in den Passagen, durch die die Räume entstehen, postkoloniale Erfahrungen diskursiv verhandelt werden. Denn das Da-Zwischen wird in den Beur-Romanen auch zunehmend im Schreiben selbst aufgesucht. „Textpassagen-Schreiben“: Der Raum als Text Schon in den frühen Beur-Texten flüchten sich viele Erzähler und Erzählerinnen in Romanwelten oder schreiben sich in die Freiheit („Écrire […] pour repousser les murs de ma cellule“, Smaïl 2001: 102). Doch gerade in der aktuellen Beur-Literatur avanciert das Schreiben selbst zum Ziel. Das Schreiben wird dabei als Raum imaginiert, der etwa als Schutzraum fungieren kann - „Seule l’écriture me protégera du monde“, erkennt die Erzählerin von Bouraoui (Bouraoui 2000: 20). Die (geschriebene) Sprache kann sogar die einzige Möglichkeit darstellen, Abdrücke zu hinterlassen und ein eigenes Territorium zu beanspruchen: „Le seul espace où je puisse poser mes empreintes, c’est celui de la langue, c’est la seule identité possible, le seul territoire, la seule patrie possible“ (Mounsi nach Lamrani 1996: 168). Das Geschriebene wird darüber hinaus auch formal als Textraum gestaltet. Bei Djaïdani sind es etwa comicartige Typografien, die aus dem Text herausragen (Djaïdani 2004: 13), es sind die Beschilderungen der Häuser oder das Türschild eines Psychiaters, die in der Diegese an Häuserwänden und im Buch in der Mitte der Seite prangen (op. cit.: 162). Bei Rahmani ist der Text in zahlreiche Absätze und blancs zersplittert, die die schwierigen Erinnerungsprozesse und die Zerrissenheit der Erzählerin repräsentieren (cf. Rahmani 2005). Motti können als paradigmatische Textpassagen fungieren. Bei Benaïssa etwa markiert das Motto gleich in zweifacher Hinsicht eine Schwelle, denn es stellt den Übergang zum Haupttext dar und besteht aus der mütterlichen Warnung an die Tochter, wenn diese die Türschwelle übertritt und das Haus verlässt: „Attention aux garçons! “ (Benaïssa 1990: s.p.). 3 Habib Tengour (cf. Heiler 2005: 69) oder Assia Djebars Konzeption eines spezifischen weiblichen Raums im Schreiben, den sie in ihren Romanen beschreibt und der sich zudem an den Rändern der französischen Sprache befindet: „Pour ma part“, so die Autorin, „installée désormais au cœur de l’ancien ‚Empire‘, je me mettais, moi aussi, à distance de la société française, dont je ne gardais que la langue! Cette langue d’écriture devenue mon seul territoire, même si je campais plutôt sur ses marges.“ (Djebar 2001: 12) 3 Hier ließen sich weitere narratologische Analysen über diese Art der Textschwelle anschließen, die auf die Arbeiten von Genette zum Motto aufbauen könnten. Cf. dazu Genette 1987: bes. 134-149. Karen Struve 200 Und auch die écriture selbst wird als handschriftliches Manuskript, als Bewegung des Stifts auf dem Papier beschrieben und spiegelt darüber hinaus als räumlich-diskursive Metapher den prekären transkulturellen Selbstentwurf wider: „Dans tout ce que je faisais, je me retrouvais tordu. Même mon écriture s’inclinait tantôt à droite, tantôt à gauche. Elle n’était ni ronde ni aiguë. Elle était décousue et sans forme“, beschreibt Mounsis Protagonist seine eigene Handschrift (Mounsi [1990] 2003: 43sq.). Die hin- und herkippende Schrift verweist dabei auf die instabilen Identifikationen des jungen Manns, die nicht gelingende Selbstversicherung im Schreiben und die Unentschiedenheit zwischen arabischer und lateinischer Schriftrichtung. Passagen-Schreiben ist mithin immer in einem doppelten Sinne zu verstehen: als Bewegungen und Grenzüberschreitungen, die in der Literatur Räume entstehen lassen, aber auch als Textpassagen, die den Text selbst als Raum gestalten und sich noch auf vielerlei formale Aspekte ausweiten ließen: beispielsweise als intertextuelle oder transgenerische Verfahren, in denen etwa der Übergang von der literarischen Repräsentation sozialrealistischer Räume zur literarischen Konstruktion fiktiver Räume beschrieben werden kann. Diese transgenerische Passage ließe sich in diesem Sinne mit Elisabeth Bronfen als „literarischer Raum“ denken, der einen mimetischen Raum zwischen Text und Kontext meint (cf. Bronfen 1986). An dieser Stelle möchte ich jedoch abschließend auf theoretischer Ebene die Konzepte der Passagen und des Schreibens selbst einmal in Bewegung bringen, indem sie einer wechselseitigen Lektüre unterzogen werden. „Passagen-Schreiben“: Theoretische Reflexionen Im „Passagen-Schreiben“ erhält der Raum beziehungsweise die Passage durch das Attribut des Schreibens eine dezidiert diskursive Konnotation - der Aspekt des Raumdiskurses wird also betont. Räume werden als konstruierbar (und damit dichotome Orte als dekonstruierbar) begriffen. In diesem Sinne ist auch der bhabhasche third space nicht primär als spatiale, sondern vielmehr als eine epistemologische oder ästhetische Kategorie zu verstehen. „[I]n some sense place is language, something in constant flux, a discourse in process. […]“, heißt es da sehr anschaulich bei Ashcroft et al. (Ashcroft et al. 2000: 182) - oder mit einer anderen textuellen Metapher gesagt: „place as a palimpsest“ (ibid.). Wenn nun der Raum in seiner Diskursivität beschrieben und untersucht wird, erlaubt andersherum die spatiale Metaphorisierung der écriture im „Passagen-Schreiben“, spezifische Charakteristika zu unterstreichen. Die Affinität von Raum beziehungsweise Bewegung und écriture ist auf textsemiotischer Ebene bereits dargelegt worden, wie beispielsweise Derrida dies in seinem chronotopischen Konzept der écriture expliziert, die für ihn ja als „Passagen-Schreiben“. Raum und écriture 201 „Zeit-Werden des Raumes und Raum-Werden der Zeit“ funktioniert (Derrida 2004: 83). Derrida rekurriert bekanntlich auf die schon bei de Saussure angelegte räumliche Vorstellung von Signifikanten, die innerhalb eines Verweisungsnetzes ihren bestimmten Platz haben beziehungsweise relational zu anderen Signifikanten positioniert sind. Es entsteht eine „Bewegung des Bedeutens“ (Derrida 2004: 91), in der Sinn immer wieder in einem Netz von Oppositionen und Verweisungen für einen Moment hergestellt wird. Diese Bewegungen des Bedeutens scheinen nun gerade in der Beur-Literatur als spatiale wie textuelle Passagen auf. Sie ermöglichen einerseits die Dekonstruktion kulturell codierter Orte durch die Bewegung durch einen ephemeren Raum - „the passage through a Third Space“, heißt es da etwa bei Bhabha (Bhabha 2004: 53) - und betonen andererseits die diskursive Aushandlung kultureller Identifikationen in der Beur-Literatur. Wenn man so will, wird hier ein Raum kultureller Differenz ausgelotet. Es entstehen in ephemeren Räumen hybride Identifikationen, die im transkulturellen Schreiben artikuliert werden. Und so erscheint es nicht weiter verwunderlich, dass sich häufig - und wie ich meine fruchtbar - in der frankophonen postkolonialen Theoriebildung im Zusammenhang mit Forschungen über Beur- und andere transkulturelle Literaturen spatiale Metaphern für die Beschreibung des Schreibens anzubieten scheinen. Im Bereich der franko-maghrebinischen beziehungsweise Beur-Literatur-Forschung kann hier exemplarisch die écriture décentrée nach Michel Laronde genannt werden, die „par rapport à une Langue et une Culture centripètes [...] des décalages linguistiques et idéologiques“ (Laronde 1996: 8) zu produzieren vermag. Diese Verschiebungen nutzt Charles Bonn in seinem Konzept der paroles déplacées, welche die Hierarchisierungen zwischen Zentrum und Peripherie, aber auch zwischen Oralität und Literarizität unterlaufen können (cf. Bonn 2004: 8). Mit den écritures migrantes schlägt etwa Birgit Mertz-Baumgartner ein Konzept vor, das aus der Forschung der Quebec-Literaturen stammt und das die genannten Aspekte um die Randständigkeit von Literaturen im literarischen Feld erweitert (cf. Mertz-Baumgartner 2004). Überschreitungen und Überschreibungen spielen in der jüngst von Gisela Febel, Natascha Ueckmann und mir vorgeschlagenen Konzeption der „querenden Literaturen“ („littératures transversales“) in der Hinsicht eine Rolle, als sie zusätzlich die Interferenzen von kultureller Differenz und Gender-Konstruktionen zu beschreiben suchen (cf. Febel/ Struve/ Ueckmann 2007). Nicht zuletzt seien die „Literaturen ohne festen Wohnsitz“ nach Ottmar Ette (cf. Ette 2005) genannt, der Transgressionen von Nationalliteraturen sowie Migrationserfahrungen der Autoren und Karen Struve 202 Autorinnen in den Blick nimmt und besonders den Modus der Bewegung betont. 4 An diese Akzentuierung möchte ich mit dem „Passagen-Schreiben“, wie es sich in der Beur-Literatur darstellt, anknüpfen. Die Lektüre postkolonialer Texte unter dieser Perspektive ermöglicht die wechselseitigen Beziehungen von Raum und Schreiben zu untersuchen, einen parcours durch Raum und Text zu beschreiten und damit gleichzeitig die räumliche und spezifisch diskursive Gestaltung kultureller Differenz in der postkolonialen Literatur sichtbar zu machen. Vollständig wird das Bild, zieht man in der Analyse des parcours nun noch die Interferenzen mit den literarischen Subjekten und der Zeitdimension hinzu. Literatur Ashcroft, Bill/ Gareth Griffiths/ Helen Tiffin: „place”, Artikel in: Bill Ashcroft/ Gareth Griffiths/ Helen Tiffin: Post-Colonial Studies. The Key Concepts, London/ New York: Routledge 2000, 177-183. B., Y.: Allah superstar, Paris: Grasset et Fasquelle 2003. Bachelard, Gaston: „Poetik des Raumes“ [1957], aus dem Französischen von Kurt Leonhard, in: Jörg Dünne/ Stephan Günzel (eds.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, 166-179. Benaïssa, Aïcha/ Sophie Ponchelet: Née en France. Histoire d’une jeune Beur, Paris: Payot 1990. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, London/ New York: Routledge 1994. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, London/ New York: Routledge 2004. Bonn, Charles: „Paroles déplacées“, in: Charles Bonn (ed.): Migrations des identités et des textes entre l'Algérie et la France, dans les littératures des deux rives, Paris: L’Harmattan 2004, 7-14. Boukhedenna, Sakinna: Journal: „Nationalité immigré(e)“, Paris: L’Harmattan 1987. Boulouque, Clémence: Sujets libres, Paris: Gallimard 2004. Bouraoui, Nina: Garçon manqué, Paris: Stock 2000. Bröck, Sabine: „A trace of writing: Morrison’s Beloved“, in: Groupes de Recherches Anglo-Américaines de l’Université Rabelais de Tours/ Claudine Renaud (eds.): Voix Ethniques, Tour: GRAAT 1995, 125-130. Bronfen, Elisabeth: Der literarische Raum. Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus Pilgrimage, Tübingen: Niemeyer 1986. de Certeau, Michel: „Praktiken im Raum“ [1980], aus dem Französischen von Ronald Vouillé, in: Jörg Dünne/ Stephan Günzel (eds.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, 343-353. 4 Cf. weiterhin zu den poetologischen Konsequenzen spatialen Schreibens beziehungsweise zur epistemologischen Relevanz von Raummetaphoriken in postkolonialen Subjektkonzeptionen die Überlegungen zur relationalen, archipelischen und rhizomatischen Poetik Édouard Glissants in den Beiträgen von Torsten König, Helke Kuhn und Ralph Ludwig. „Passagen-Schreiben“. Raum und écriture 203 Derrida, Jacques: „Die différance“, aus dem Französischen von Eva Pfaffenberger- Brückner, in: Peter Engelmann (ed.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart: Reclam 2004, 76-113. Djaïdani, Rachid: Mon nerf, Paris: Seuil 2004. Djebar, Assia: „Idiome de l’exil et langue d’irréductibilité“, in: Ernstpeter Ruhe (ed.): Assia Djebar, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, 9-18. Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005. Febel, Gisela/ Karen Struve/ Natascha Ueckmann: „Écritures transculturelles - Écritures de troubles. Einleitende Überlegungen“, in: Gisela Febel/ Karen Struve/ Natascha Ueckmann (eds.): Écritures transculturelles. Kulturelle Differenz und Geschlechterdifferenz im frankophonen Gegenwartsroman, Tübingen: Narr Verlag 2007, 5-41. Genette, Gérard: Seuils, Paris: Seuil 1987. Heiler, Susanne: Der maghrebinische Roman: Eine Einführung, Tübingen: Narr Verlag 2005. Hoffmann, Gerhard: Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit: poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman, Stuttgart: Metzler 1978. Kenzi, Mohammed: La menthe sauvage, Lutry: Les Éditions Jean-Marie Bouchain 1984. Lamrani, Akila: „Au-delà de la problématique ethnique dans le roman beur de Mounsi: La Noce des fous“, in: Jacques Bres/ Catherine Détrie/ Paul Siblot (eds.): Figures de l’interculturalité, Montpellier: Université Paul Valéry 1996, 141-168. Laronde, Michel (ed.): L’écriture décentrée. La langue de l’Autre dans le roman contemporain, Paris: L’Harmattan 1996. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Mertz-Baumgartner, Birgit: Ethik und Ästhetik der Migration. Algerische Autorinnen in Frankreich (1988-2003), Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Mounsi: La noce des fous [1990], La Tour d’Aigues: Editions de l’Aube 2003. Rahmani, Zahia: «Musulman» roman, Paris: Sabine Wespieser 2005. Ruhe, Ernstpeter (ed.): Die Kinder der Immigration/ Les enfants de l’immigration, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. Sif, Minna: Méchamment berbère, Paris: J’ai lu 1997. Sma l, Paul: La passion selon moi, Paris: Robert Laffont 1999. Smaïl, Paul: Ali le magnifique, Paris: Denoël 2001. Struve, Karen: Écriture transculturelle beur. Die Beur-Literatur als Laboratorium transkultureller Identitätsfiktionen, Tübingen: Narr Verlag 2009. Tadjer, Akli: Les A.N.I. du «Tassili», Paris: Seuil 1984. Abbildung Edgar E. Schoepal: „Große Sprünge: die Jungs von ‚Parkour‘“, www.faz.net, 24.05.05 [Zugriff: 18.11.08]. Véronique Porra Discours postcolonial et représentation de l’espace dans Touki Bouki et Hyènes de Djibril Diop Mambéty Djibril Diop Mambéty (1945-1998) fait partie, avec Ousmane Sembène, des cinéastes sénégalais les plus célèbres et les plus reconnus. Même si sa notoriété et sa productivité n’atteignent pas celle de son illustre compatriote et si sa production est restée plus confidentielle, Diop Mambéty a néanmoins signé des films fondamentaux, dont notamment Touki Bouki, salué hors compétition au festival de Cannes en 1973, et près de vingt ans plus tard, Hyènes, présenté également à Cannes, en sélection officielle en 1992. 1 Tournés en version originale en wolof, ces deux films ont par ailleurs en commun, outre la récurrence du symbole de la hyène, de présenter une dimension critique particulièrement développée, dans laquelle la dénonciation des déviances et malaises des sociétés africaines d’après les Indépendances (pauvreté, impostures individuelles, sociales et politiques) se double d’un discours postcolonial qui s’insinue dans le propos général, au travers de paroles rapportées, de dialogues, d’images furtives ou développées, de symboles et de scènes incluses, et surtout dans le dialogisme entre son et images propre à l’œuvre cinématographique. Dans les deux cas, Djibril Diop Mambéty a, pour donner du poids à son discours et surtout le rendre acceptable par le biais de l’esthétique, recours à des détours formels: dans Touki Bouki („Le voyage de l’hyène“ 2 ), il rompt radicalement avec la tendance, très répandue dans le cinéma comme d’ailleurs dans le roman africain, qui consiste à raconter des histoires qui se veulent avant tout porteuses de messages facilement identifiables, notamment, à cette époque, d’un discours d’inspiration nationaliste. 3 Avec Touki Bouki, Diop Mambéty donne un film 1 Initialement, ces films étaient conçus comme les deux premiers volets d’une trilogie. Djibril Diop Mambéty, décédé en 1998, n’a pu réaliser la dernière partie qui aurait dû s’intituler Malaika. Cf. Grayson 2001. 2 Ou „Le voyage ‚hyiénisé‘“, comme le propose Sada Niang (Niang 2002: 129). 3 Sada Niang voit dans l’œuvre cinématographique de Djibril Diop Mambéty une pratique doublement transgressive puisqu’elle se définit en porte-à-faux par rapport à l’habitus idéologique et formel de son époque: „Djibril Diop Mambéty s’est installé dans le cinéma africain sur le mode de la transgression, s’est inscrit dans ce groupe de biais […]. Ici et là, il refusa de se rallier aux impératifs du groupe (ici la réécriture de l’Histoire sur un mode affirmatif), préférant le discontinu du vécu à un discours totalitaire sur l’identité africaine“ (Niang 2002: 49sq.). Véronique Porra 206 en rupture avec une certaine tradition „narrative“ pour donner une œuvre que l’on peut qualifier d’expérimentale, délinéarisée, dans laquelle le sens se construit autour de symboles et d’épisodes récurrents, dont on ne détermine qu’avec peine s’ils relèvent d’une „narration filmique“ ayant une aspiration réaliste ou s’ils relèvent de l’onirisme pur. Les images du début du film, reprises à la fin, montrant un jeune garçon menant un troupeau de buffles, sont interrompues par une série d’épisodes fonctionnant comme autant de poupées gigognes et présentant à chaque fois un degré de déréalisation plus avancé. Dans ces épisodes „emboîtés“, qui relatent l’équipée des deux jeunes protagonistes, Anta et Mory, cherchant à partir pour la France, les événements sont par exemple représentés au travers du prisme que constituent rêves et fantasmes des deux jeunes. La dimension onirique vient donc affecter la narration filmique dans sa linéarité et son rapport au réalisme. Dans Hyènes, Djibril Diop Mambéty revient à une narration filmique plus linéaire et plus traditionnelle 4 malgré l’évidente carnavalisation du motif, mais il procède à une rupture d’un autre ordre: Hyènes, film dédié „Au grand Friedrich“, est en fait présenté comme une adaptation de la pièce Der Besuch der alten Dame („La visite de la vieille dame“ - 1956) de l’auteur suisse de langue allemande Friedrich Dürrenmatt. Or, la reprise d’une œuvre désormais canonisée de la culture de langue allemande fonctionne elle aussi comme un détour favorisant l’intrusion d’un discours de dénonciation. En effet, cette pratique rompt avec l’habitus du discours postcolonial tel qu’il se développe en particulier dans l’espace francophone jusqu’à la fin des années 1980: lorsqu’il y a dialogisme avec une œuvre européenne, il s’agit la plupart du temps de référents français soumis à un traitement intertextuel plus ou moins subversif. Si le discours postcolonial, dans Touki Bouki, fonctionne sur des citations subverties et des allusions ironiques à des repères culturels et sociaux français, Diop Mambéty, dans Hyènes, quitte la sphère des repères de l’ancienne métropole pour établir un véritable dialogisme avec une œuvre alors déjà intégrée au canon de la littérature européenne. La nature de l’implication et des pratiques intertextuelles et interdiscursives change alors fondamentalement. 4 Dans l’analyse qu’elle donne de Hyènes, Anny Wynchank, qui retrace la genèse du film, souligne que la structure de la narration correspond au „type descendant“ de la morphologie du conte africain telle que Denise Paulme l’a mise en évidence dans son ouvrage La Mère dévorante. Essai sur la morphologie des contes africains. (cf. Wynchank 2001: 321sq.) Discours postcolonial et représentation de l’espace 207 Touki Bouki ou la subversion par la citation Le discours postcolonial qui se fait jour dans Touki Bouki peut assurément être identifié aux premières tendances de l’esthétique postcoloniale, celles qui ont par exemple été mises à jour par Bill Ashcroft, Gareth Griffiths et Helen Tiffin (1989) et qui consistent essentiellement en la pratique d’un writing back, c’est-à-dire en une réponse fonctionnant comme réfutation ou comme réappropriation. Il est extrêmement difficile, compte tenu de la politique esthétique de délinéarisation et de déréalisation précédemment évoquée et qui caractérise ce film, de donner un résumé de l’intrigue. Néanmoins, le film porte sur les aspirations de deux jeunes Dakarois, qui rêvent de quitter le Sénégal pour se rendre à Paris, et se lancent, pour ce faire, dans toute sorte de larcins et d’usurpations d’identités pour atteindre la destination tant désirée qu’est le pont du navire devant les mener en Europe. Tandis que la jeune femme, Anta, l’air absent, restera sur le bateau et partira vers la France, Mory, de son côté, ne pourra se résoudre au départ et retournera à son destin sénégalais. Or toute cette „équipée sauvage“ des deux jeunes à travers les quartiers de Dakar se fait sur un arrière-fond musical hautement significatif, puisque la bande-son, à certains moments choisis, diffuse en boucle la voix de Joséphine Baker chantant ces célèbres paroles: „Paris, Paris, Paris, c’est sur la terre un coin de Paradis“. Ce refrain qui revient de façon lancinante à certains moments, notamment dans les passages où le film présente la réalité transformée par les fantasmes des deux jeunes gens, marque le film d’une double perspective ironique: il est tout d’abord dénonciation d’une imposture discursive, celle qui consiste à entretenir le mythe de Paris comme centre du monde et paradis sur terre, comme point de repère absolu entraînant deux jeunes dans la délinquance et provoquant une perte de contact avec la réalité et la culture d’origine, une sorte de reniement identitaire; par ailleurs, l’identité de l’interprète, Joséphine Baker, renvoie à la sphère référentielle de la vogue primitiviste qui a fait son succès dans la période de l’entre-deux-guerres. L’authenticité présumée de la voix de Joséphine qui chante à de nombreuses reprises son amour de Paris est une construction purement française et ne repose que sur une confusion caractéristique de l’époque. 5 L’identification des protagonistes à ces paroles est donc dévoilée finalement comme adhésion à un mirage construit par les attentes exotiques de la société parisienne, qui allait chercher ces amusements dans les revues et les cabarets. En ceci qu’il relativise la légitimité du pouvoir d’attraction parisien et met à mal le mythe construit par le discours français, Diop Mambéty s’inscrit non seulement dans une tradition cinéma- 5 Dans son ouvrage Le Modèle nègre, Blachère résume la confusion dans la perception de l’altérité „raciale“ dans la période primitiviste et plus généralement dans la période de l’entre-deux-guerres par cette formule: „En somme, est ‚nègre‘ tout ce qui est colonisé ou colonisable, est ,nègre‘ tout ce qui n’est pas blanc“. Cf. également Le Coat 1993. Véronique Porra 208 tographique qui, avant lui, avait dévoilé le rêve parisien comme une illusion, mais aussi dans la tradition du traitement ou de la réactivation de ce motif dans la littérature africaine des années 1950-1960. On songe ici notamment au rêve de Paris qui apparaît dans Un Nègre à Paris de Bernard Dadié (1959), mais surtout au traitement du motif dans le roman d’Ousmane Socé Mirages de Paris (1937, réédité en 1964), là aussi tragique histoire d’une désillusion. Dans ce film, comme dans de nombreuses œuvres postcoloniales des années 1970, l’essentiel de la subversion du discours colonial/ néocolonialiste se fait par sa citation: ceci est particulièrement frappant à la fin du film, dans une scène se déroulant sur le bateau. Avant le départ pour la France, deux enseignants, un homme plutôt âgé et une femme d’âge moyen, font une série de remarques sans pour autant mener de véritable discussion. Ils présentent plutôt des bribes de discours néocolonialiste, sorte de florilège dont la perspective est déstructurée au niveau du dialogue et de la narration, ce qui est encore souligné par le mouvement de la caméra qui passe de l’un à l’autre, se détournant parfois vers des plans plus larges. Le fond sonore est constitué par ces affirmations péremptoires et l’arrière-fond sonore du chargement et de l’appareillage du navire. Ce discours est progressif et, tant pour l’homme que pour la femme, structuré en trois mouvements: 1) ils énoncent une série d’affirmations généralisantes sur la situation politique mondiale qui laisseraient à penser que ces coopérants se réclament d’idées progressistes, n’était-ce la bêtise de leurs assertions proférées sur un ton qui oscille entre suffisance et démagogie: ainsi la femme, après avoir déclaré: „Mao Tsé-toung est un mou“, prétend-elle définir „ce qu’il faudrait à la Chine“. Juste après, l’homme se stylise comme le tenant d’une position anticolonialiste marquée par la largesse d’opinion: „J’ai déclaré dès le premier jour à mes élèves: ,Votre rôle est de mettre à la porte le néocolonialiste que j’incarne‘“; 2) leur discours glisse irrémédiablement vers des propos témoignant d’un mépris culturel qui va servir de soubassement à un discours raciste: 6 - [H] Nous n’avons jamais quitté Dakar, il n’y a rien à voir au Sénégal d’ailleurs. C’est tout sec… et d’un vide intellectuel! - [F] D’accord! Le traitement d’un coopérant est le triple de celui d’un enseignant sénégalais. Mais ils ne mangent pas la même chose que nous. Ils n’ont pas le même raffinement. - [H] Pourquoi vouloir dépenser de l’argent ici? Pour acheter des masques? Mais l’art africain, c’est une plaisanterie inventée par les journalistes en mal de copie! 6 Dans la suite de la transcription [H] signalera les paroles de l’homme, [F] celles de la femme. Discours postcolonial et représentation de l’espace 209 3) ce crescendo, qui montre une évolution d’un prétendu progressisme vers la reproduction à l’identique du discours colonial, aboutit à des propos censés légitimer la poursuite de l’exploitation économique des Africains: - [F] Nous mettons de côté, chaque année, la moitié de notre traitement, mais nous ne nous privons de rien! Pour assainir l’économie américaine, seul un sérieux plan d’austérité… - [H] Mais j’ai placé deux millions CFA à Nice dans une maison sérieuse qui… - [F] Et notre boy! Quand nous l’avons quitté ce matin, il nous a menacés de ne plus venir travailler après les vacances si nous ne l’augmentons pas de 1500 francs CFA. Après tout ce que nous avons fait pour lui! La scène se clôt par un retour à deux grands énoncés fondamentaux de la période et de la vision du monde coloniales: „Ce sont des grands enfants“ / „Ils n’ont pas de cœur“. Ces fragments, présentés de façon neutre, se suffisent à eux-mêmes: le discours s’autodétruit par la simple mise en évidence de sa dynamique contradictoire. Par ailleurs, ces propos sont désavoués par les images: les plans qui suivent immédiatement ces énoncés montrent des porteurs sénégalais pliant sous le poids des marchandises à charger sur le bateau à dos d’homme; puis des jeunes gens en costume, au visage sérieux voire grave, partant visiblement étudier en France. Certes, la transcription de cette scène dans son intégralité est longue, mais elle a pour mérite d’illustrer exemplairement le fonctionnement de la subversion postcoloniale du discours dans Touki Bouki, où la pratique intertextuelle et interdiscursive est à concevoir comme une pratique subversive, telle qu’elle a été mise en valeur par Laurent Jenny dans son article „La stratégie de la forme“: le rôle de l’intertextualité est, comme l’explique Jenny, de „ré-énoncer de façon décisive des discours dont le poids est devenu tyrannique“, de faire assumer, par la citation, au discours premier le poids de sa propre subversion (Jenny 1976: 279). Outre cette réfutation du discours français par sa citation et sa mise en scène (discours qui s’autodétruit au rythme où se révèle sa dynamique intrinsèque) et qui illustre en cela particulièrement bien le mouvement du writing back de l’esthétique postcoloniale, si tant est que cette terminologie est applicable à une œuvre cinématographique, le film est par ailleurs marqué par des signes exhibés d’hybridité, à tel point que l’on peut presque parler d’une hybridité incarnée: le premier motif est sans aucun doute celui omniprésent de la moto de Mory, engin hybride entre modernité et tradition. Le guidon de la moto est en effet orné de cornes de buffle, tandis qu’à l’arrière est installé un objet en métal, version épurée d’un masque africain. 7 Signe d’ancrage dans une société de la modernité et de la vitesse, l’engin 7 Qui figure également depuis 1947 comme logo de la revue et de la maison d’éditions Présence Africaine. Véronique Porra 210 relie aussi Mory à ses origines traditionnelles, paysannes et africaines. L’hybridité est aussi manifestée par la représentation de l’androgynie. Tandis que les femmes traditionnelles exhibent leur féminité et leurs boubous criards, Ada, la jeune étudiante qui rêve de partir pour l’Europe, est présentée sous des traits masculinisés à l’extrême (cheveux ras, habits d’homme, comportement neutre). Sa féminité, très réduite, n’apparaît qu’au niveau biologique, notamment lors de l’évocation d’une scène d’amour, où l’on découvre sa poitrine et la forme de sa main, plus fine que celle d’un homme. Elle n’acquérra des signes de féminité assumée qu’au moment de son départ vers le navire et donc vers la France, par l’intermédiaire d’accessoires et par l’imitation d’un habitus gestuel féminin occidentalisé, en particulier dans la gestuelle qui accompagne le fait de fumer une cigarette. Cette superficialité d’une féminité traduite par des bijoux et des chapeaux est renvoyée à la dimension du déguisement et de l’imitation. 8 Nous sommes là à l’évidence en présence d’une esthétique postcoloniale mais celle-ci est mise au service du refus de l’hybridité et de la dénonciation du third space qui apparaît comme une impossibilité (mouvement de retour et de réappropriation de Mory) ou comme une imposture et une usurpation (mouvement de départ et de dépersonnalisation d’Anta). En outre, toute l’architecture du film s’organise autour d’un traitement fragmenté des spatialités identitairement problématiques. Comme le souligne Sada Niang, „[l]’intrigue de Touki Bouki se passe de connecteurs de cause ou séquentiels et fonctionne sur le mode de la juxtaposition, de la suggestion et de la connotation“ (Niang 2002: 117). Néanmoins, il est possible de dégager une structure qui s’organise en mouvements caractéristiques. Comme nous l’avons déjà évoqué, l’intrigue est encadrée par l’image d’un troupeau de buffles guidé par un enfant. Cette image qui ouvre et clôt Touki Bouki place l’intégralité du film, par la représentation de cette spatialité, sous le signe de l’identité de Mory: l’espace de référence est africain, traditionnel et paysan. C’est à l’intérieur de ce cadre et en dialogue avec lui, que s’organisent les épisodes juxtaposés de l’histoire des deux jeunes, Anta et Mory. Le premier mouvement est un mouvement descendant: Anta et Mory sont présentés comme étant en porte-à-faux par rapport à leur société: trop épris de vitesse et de rêves de modernité pour les protagonistes incarnant la tradition (notamment les femmes), trop traditionnels pour les tenants de la modernité (Mory est maltraité par un groupe de jeunes qui s’en prennent à 8 Les deux films de Diop Mambéty qui font l’objet de cette étude sont riches de ce genre d’images et de signifiants. En cela, on pourrait assurément en donner une interprétation à la lumière de ce que les gender studies apportent à la critique postcoloniale. Mais une étude précise de ces motifs dépasserait le cadre de cette étude, qui part d’une autre focalisation. Discours postcolonial et représentation de l’espace 211 lui en le traitant de paysan). 9 Ils sont donc rejetés, insultés, maltraités et parallèlement délinquants. Ce mouvement est marqué, au niveau de la spatialité, par les images des bidonvilles, de l’enfermement dans une urbanité problématique et sans issue. La narration est fragmentée par des épisodes d’égorgement et de dépècement de buffles, renvoyant à un onirisme de la cruauté et de la mort. Cette phase s’achève sur la descente d’Anta vers la mer qui va, sur un rocher, retrouver Mory et sa moto. La scène qui suit marque un tournant dans l’architecture générale du film: elle clôt le mouvement descendant et ouvre le mouvement ascendant. Il s’agit là d’une scène d’amour qui fonctionne presque exclusivement sur la suggestion, portée notamment par la bande-son. Anta a rejoint Mory sur un rocher près de la mer. L’essentiel des plans contribue à ouvrir la spatialité: ils montrent l’océan, les vagues qui viennent se briser plus ou moins régulièrement, plus ou moins fortement sur les rochers en contrebas et l’un ou l’autre bateau qui traverse l’horizon, comme autant de promesses de départ. Les personnages ne sont que très peu montrés et sont essentiellement présents par leur voix. Aux sanglots d’Anta, désespérée par cette situation, succèdent ses soupirs de jouissance. La réalisation de l’acte sexuel est suggérée par ailleurs par le rythme des vagues qui accompagnent les soupirs, et par un plan sur l’océan montrant au premier plan la main d’Anta se crispant sur la représentation métallique du masque installée à l’arrière de la moto. Après la scène d’amour, le plan s’élargit encore, montrant les deux jeunes face à l’horizon et la bande-son laisse alors entendre les paroles de Mory qui propose le départ, les moyens d’y parvenir et formule ses rêves. Il annonce ainsi le mouvement ascendant de la suite de l’équipée des deux jeunes qui, à l’opposé du mouvement descendant, sera caractérisé par une spatialité de l’ouverture, de la verticalité, de la linéarité, notamment dans la traversée de la ville moderne sur le chemin du port. La narration ne sera plus interrompue par des images relevant d’un onirisme de la cruauté, mais au contraire transformée par les rêves de gloire des deux jeunes, qui s’imaginent célébrés par la griotte (la même qui apparaissait précédemment comme une instance de malédiction et dépeçait les buffles) et qui se voient traverser la ville debout dans une voiture décapotable, acclamés par la foule comme des chefs d’État. Cet épisode se poursuit jusqu’à la scène du bateau, qui marque une nouvelle rupture. Sans un mot, Mory quitte le bateau en courant. Il effectue alors le chemin inverse, pour, dans un premier temps, retourner vers la spatialité problématique du départ, entre ville et bidonville. Il y retrouve alors sa moto: victime d’un grave accident de la circulation, le mendiant qui s’en était 9 Notons à cet endroit que l’opposition modernité agressive et tradition se traduit aussi au niveau linguistique: tandis que tout le film est en wolof, les jeunes Dakarois qui agressent Mory parlent français. Sur l’hétérolinguisme et ses implications identitaires dans le cinéma francophone, voir en particulier les travaux de John Kristian Sanaker, entre autres Sanaker 1995. Véronique Porra 212 emparée après que Mory l’eut abandonnée dans la brousse est emporté dans une ambulance. Ne reste alors à Mory, assis sur des marches d’escalier, que la fin de ses illusions et les cornes de buffle. Comme au début du film, c’est un gros plan sur les cornes qui permettent de retourner à l’image du troupeau de buffles, guidé par un enfant, traduisant ainsi l’achèvement du mouvement de retour. Comme nous venons de le voir, le système axiologique du film, qui ressort d’une part de son architecture (structure cyclique) fondamentalement marquée par le traitement de la spatialité (mouvement ascendant/ descendant, verticalité/ horizontalité, ouverture/ fermeture), de l’autre de la subversion discursive qui n’est pas seulement articulée au niveau verbal, mais aussi dans un jeu dialogique savant entre son et images, est tout entier orienté vers une dénonciation de l’hybridité. Celle-ci, en effet, est présentée comme un principe de destruction identitaire en ceci qu’elle est suggérée artificiellement par les impostures de discours et d’actes néocolonialistes. L’enseignement semble donc être que l’Afrique est victime de l’image que le discours colonial puis néocolonial a construit et que des jeunes notamment, continuent d’intérioriser aux dépens de leur culture et de leurs valeurs. Hyènes - les ressorts d’un dialogisme décentré La pratique intertextuelle et interdiscursive qui détermine profondément la structure et le message de Hyènes est d’une toute autre nature. L’hypertexte que constitue le film - pour reprendre la terminologie consacrée par Genette - n’entretient pas de relation de subversion avec l’hypotexte de référence, bien au contraire. Il entre beaucoup plus dans un dialogisme de l’hommage d’un côté, et, de l’autre, instrumentalise la trame de l’hypotexte comme un vecteur idéologique. On peut estimer que dans ce cas, Diop Mambéty se sert du capital symbolique de la pièce de Dürrenmatt pour asseoir son discours, mais aussi inviter à une lecture allégorique des interstices dialogiques. Contrairement à l’interdiscursivité de Touki Bouki, la pratique intertextuelle ne se situe pas dans l’habitus du writing back. Hyènes ne se développe pas comme une réponse à Dürrenmatt, mais comme un discours parallèle qui en tire sa substance narrative. En effet, la trame narrative de Hyènes reprend l’essentiel de la trame dramatique de Der Besuch der alten Dame. Tout comme Claire Zachanassian, Linguère Ramatou a dû quitter la ville à 17 ans après que son jeune amant de l’époque eut refusé de reconnaître la paternité de l’enfant qu’elle portait. Devenue riche après une vie très dure (perte de son enfant, prostitution, accident entraînant des mutilations), elle rentre et propose le même marché: elle aidera financièrement la ville qui est au bord de la ruine à la seule condition, mais condition sine qua non, que son honneur soit lavé et que justice soit faite. Toutes deux réclament la mort de leur an- Discours postcolonial et représentation de l’espace 213 cien amant et toutes deux, pour cela, achètent la conscience des habitants de leur ancienne ville. On retrouve l’essentiel des scènes-clefs et la reprise de motifs dürrenmattiens (on songe à cet endroit par exemple à la castration des anciens faux témoins devenus témoins à charge). Sur la base des analogies, Diop Mambéty élabore un nouveau système allégorique qui fonctionne conformément à la structure de la pièce de Dürrenmatt, mais se charge de signifiants africains. Ainsi Linguère Ramatou devient-elle l’allégorie de la mondialisation. Elle est en effet stylisée, et c’est là sa différence avec Claire Zachanassian, par un certain nombre d’ajouts et de précisions: elle n’est pas présentée comme riche comme Crésus (mention qui relie Claire Zachanassian à une sphère de référents européens), mais comme „plus riche que la banque mondiale“ (ce qui l’ancre dans la dialectique de la mondialisation et l’inscrit dans une perspective discursive idéologique spécifique); par ailleurs, elle apparaît entourée de personnages qui présentent une traversée du monde, notamment une asiatique habillée en policier et portant des menottes à la ceinture, allégorie de l’ordre mondial, qui, avec trois femmes somptueusement vêtues représentant les cultures africaines, constituent une sorte de cour. Le personnage du maire, comme nous allons le voir, est à lire comme l’allégorie des pouvoirs africains se soumettant aux conditions dictées par la mondialisation économique; enfin, Draman Drameh, l’ancien amant, incarne une variante de l’Afrique souffrante - même si partiellement coupable - qui ne peut échapper à son destin. La critique dominante dans Hyènes est en effet celle qui porte sur la mondialisation, une mondialisation se faisant sur modèle américain, comme en témoigne le nombre de références aux Etats-Unis qui émaillent les images: boîtes de coca-cola, drapeau américain, etc., une mondialisation qui a pénétré la société sénégalaise et la ronge de l’intérieur, entre autres par le biais de l’ancienne puissance coloniale, qui continue d’importer ses produits et d’entretenir - dans la société sénégalaise - le discours du prestige de la marque et d’un habitus de luxe en opposition radicale avec la paupérisation qui caractérise la population et la région de Colobane où se déroule l’action. En somme, la mondialisation ne fait que reproduire, pour d’autres intérêts, mais toujours sur les mêmes schémas, des structures de dépendance qui étaient celles déjà générées, au travers de cet autre médium d’oppression qu’était la domination politique, par la domination coloniale: la suggestion, l’éveil d’un désir, de prestige ou d’argent, et à l’opposé son corollaire, l’intériorisation de ces valeurs extérieures aux dépens des valeurs et au mépris des réalités africaines. En cela, Diop Mambéty pointe du doigt, au travers de son esthétique cinématographique et du principe de carnavalisation, ces mêmes structures que Frantz Fanon avait mises en évidence et analysées en 1952 dans Peau noire, masques blancs. Comme nous l’avons indiqué précédemment, la trame narrative de Hyènes reprend assez fidèlement celle de Der Besuch der alten Dame de Friedrich Véronique Porra 214 Dürrenmatt. Alors qu’il écrivait le scénario de son film, basé au départ sur un conte africain, l’attention du cinéaste a été attirée par un tiers sur des similitudes entre l’histoire racontée et la pièce de Dürrenmatt. Le metteur en scène a alors procédé à un croisement des références, passant de l’identification de simples similitudes à une stratégie de „transposition artistique“ s’inspirant grandement du texte de Dürrenmatt jusqu’à traduire certaines des répliques les plus marquantes. Mais voir dans Hyènes une simple adaptation de Dürrenmatt serait très réducteur et oblitèrerait la véritable dimension de l’œuvre de Diop Mambéty, qui fait son originalité et sa force. En somme, on pourrait aller jusqu’à affirmer que l’essentiel se trouve moins dans l’adaptation que dans le potentiel différentiel qui ressort de la relation intertextuelle. Mambéty ajoute, par sa mise en scène et le traitement du motif, trois dimensions fondamentales: il enrichit la relation dialogique de la situation dans l’espace postcolonial qui détermine la lecture linguistique et culturelle des différentes scènes; il enrichit la matière d’éléments de carnavalisation et de symboles qui l’inscrivent alors dans un tout autre système sémiotique; et il intègre la dimension de la spatialité qui devient là aussi un vecteur essentiel de sens. Contrairement à Touki Bouki où le principe destructeur est extérieur (le néocolonialisme et la persistance des discours et des faits qu’il entraîne), Hyènes présente une situation qui se détruit de l’intérieur. Comme le souligne fort justement Kenneth W. Harrow, Linguère Ramatou n’est pas un corps étranger: Also, she issues challenge in terms that correspond to their thinking and circumstances. She understands them as she is one of them; and she speaks as one born to the language, not as one who learned it as a foreign tongue. Her smile and assurance are not those of a foreign conqueror, but of a homegrown native speaker - and seducer. (Harrow 2007: 180) Cet élément, dans lequel on peut voir une preuve supplémentaire de la fidélité de l’adaptation de la pièce de Dürrenmatt, acquièrt de fait, dans le contexte postcolonial, une signification supplémentaire. Diop Mambéty procède donc à une double contextualisation thématique: il africanise le traitement du motif et adapte le discours anti-capitaliste au contexte de l’Afrique des années 1990. Par ailleurs, il effectue tout un travail de mise en scène modifiant l’importance de certaines scènes. Ainsi, le passage dans lequel la vieille dame, devant le village réuni, expose ses conditions et demande vengeance se trouve-t-il fondamentalement développé et chargé d’un aspect carnavalesque hautement significatif que l’on ne trouve pas chez Dürrenmatt. C’est précisément dans ces espaces de la carnavalisation que s’insinue la spécificité du discours de Diop Mambéty. Dans la scène précédemment évoquée, le maire de Colobane apparaît en tenue d’apparat. Il s’agit d’un costume occidental par la forme, constitué d’une veste à queue de pie et d’un pantalon. La carnavalisation vient essentiellement du con- Discours postcolonial et représentation de l’espace 215 traste avec le contexte dans lequel il se situe. A l’instar de tous les notables maladroitement déguisés à l’européenne, le personnage paraît ridicule dans un contexte sinon très marqué par son africanité; ensuite par le jeu des couleurs: contrairement à ce qui se fait en Europe pour ce genre de costumes de soirée, il n’est ni noir ni gris foncé, mais bien au contraire coloré (dominantes jaunes et vertes) et orné de motifs. Par ailleurs, le personnage est affublé d’un chapeau de cow-boy dans les mêmes tons que son costume. A l’évidence, nous sommes là en présence d’une variation de la représentation iconographique de Uncle Sam, allégorie qui signale ici la soumission des pouvoirs locaux à une globalisation sur modèle américain. Cette interprétation est confirmée plus loin dans le film. Alors qu’est organisée à Colobane une grande foire du consumérisme, avec fête foraine et vente de matériel électroménager mise en scène comme un spectacle, le maire apparaît dans le même accoutrement, à la tête d’un défilé jouant un air de jazz au saxophone, ce qui, pour le spectateur, l’inscrit dans l’imaginaire de la Nouvelle Orléans. La référence allégorique aux États-Unis parcourt donc bien le film. 10 Par ailleurs, on peut estimer que cette scène assume la même fonction que la reprise de la chanson de Joséphine Baker dans Touki Bouki. Qu’il s’agisse de jazz ou des chansons de Joséphine Baker, ces formes dont on affirme qu’elles seraient porteuses d’une part d’africanité sont dénoncées comme des pseudo-hybridités bricolées qui ne seraient rien d’autre que des constructions occidentales, mais que les Africains, se laissant prendre par les discours occidentaux, réintègrent comme des valeurs originaires. La carnavalisation qui, dans un premier temps, pouvait être perçue comme une volonté d’exotisation du motif, d’inscription aussi dans la pratique de la dérision chère à Diop Mambéty, se révèle, au-delà, porteuse des significations de la carnavalisation bakhtinienne: celle qui établit un dialogisme, une polyphonie discursive et met le propos du film en dialogue - subversif - avec le contexte mondial et socio-politique sénégalais de l’époque. Comme on vient de le voir, l’intertexte dürrenmattien devient donc le vecteur d’un autre message idéologique, à savoir la dénonciation de l’américanisation du monde et de sa soumission aux lois capitalistes de la consommation et de l’argent. Le mercantilisme et la déviance consumériste dans une société en voie de paupérisation sont autant d’éléments qui sont dénoncés comme des facteurs entraînant la disparition du contact avec la réalité. Ayant totalement intégré les valeurs de la consommation véhiculées par une soirée de publicité et de vente d’objets tels que des ventilateurs et des frigidaires à une population qui n’a même pas de quoi se nourrir, les habitants de Colobane ne perçoi- 10 Ajoutons par exemple que la tête de Draman Drameh est mise à prix comme au Farwest: par une affiche sur laquelle son visage est reproduit de face et de profil et sur laquelle figure la mention: „Wanted“. Véronique Porra 216 vent plus la réalité de leur situation. Ceux-ci sont aveuglés par le désir de posséder toutes sortes de richesses inutiles et ridicules importées par les pays riches du Nord. Ce désir est bien sûr entretenu et savamment orchestré par une Linguère Ramatou qui, pour servir ses fins, entretient soigneusement ces mécanismes économiques et psychologiques, rend les habitants dépendants et achète lentement leur conscience. Cette perte de contact avec la réalité, et la prise de conscience progressive de Draman Drameh qui, le premier - et le seul - tire les enseignements de la situation, ressortent exemplairement d’une scène placée au milieu du film. Cet épisode central aussi au niveau de la structuration filmique et discursive, signale une rupture: alors que la narration filmique, malgré la carnavalisation évidente de certaines scènes, était relativement réaliste, la logique se brise et l’on entre dans une scène presque surréaliste défiant toute logique. Il est clair, dès lors, que le message est à chercher dans les symboles qui parcourent la scène. Alors que Draman Drameh était venu demander sa protection au maire, celui-ci l’invite à descendre au paradis. Hésitant, il descend l’escalier de la mairie pour aboutir à la cave qui s’avère être une église. Le protagoniste avance sur une musique d’orgue qui va lentement s’africaniser au fur et à mesure du développement de l’épisode. Au centre de l’église est installé un téléviseur de la marque Sony qui diffuse des images de distribution de nourriture aux victimes de la famine dans un pays du continent africain (très vraisemblablement la Somalie, compte tenu de la date de tournage du film). Cet épisode marque, pour Draman Drameh, le début d’une révélation. Tant l’inversion du mouvement logique „descendre“ au Paradis que la prise de conscience de sa propre réalité au travers d’un écran de télévision traduisent la perversion du monde globalisé, que l’on ne vit finalement qu’au travers de ce que Gilles Lipovetsky et Jean Serroy, bien plus tard, désigneront du terme d’„écran global“, signe d’une hypermodernité en rupture avec la réalité. Déjà en 1992, au travers de ces images, Diop Mambéty attire l’attention sur le début d’une évolution que les deux critiques analyseront en ces termes en 2007: Dans sa signification plus large, il [écran global] renvoie à la nouvelle puissance planétaire de l’écranosphère, à l’état écranique généralisé rendu possible par les nouvelles technologie de l’information et de la communication […] Toute la vie, tous nos rapports avec le monde et avec les autres sont de plus en plus médiatisés par une multitude d’interfaces par lesquelles les écrans ne cessent de converger, de communiquer, de s’interconnecter (Lipovetsky/ Serroy 2007: 23). La prise de conscience du personnage connaît une étape supplémentaire lorsqu’apparaît un prêtre, qui, en riant, lui conseille de quitter la ville. Parallèlement à ce conseil, les plans de caméra s’élargissent et montrent comment on est en train d’installer, au centre de l’église, un somptueux lustre en cristal. L’effet de contraste avec les images de famine précédemment diffusées et avec la gravité de Draman Drameh souligne le côté obscène de la soumission Discours postcolonial et représentation de l’espace 217 de l’Église (et de la Mosquée qui apparaît plus loin) au luxe et à l’attrait de biens matériels qui n’ont aucune véritable fonction sinon celle de signes extérieurs de richesse. Au niveau de l’effet produit et de la mise en scène de l’idéologie, on peut estimer que cet épisode redouble la scène du téléviseur qui précède immédiatement: tandis que les traits du visage de Draman Drameh se marquaient d’émotion à la vue des images de détresse absolue, les plans larges montraient en surplomb une statue de vierge noire entourée de deux ventilateurs rutilants. Or, tout comme dans Touki Bouki, le discours postcolonial passe par une problématisation de la question de la spatialité. Avant l’arrivée de Linguère Ramatou, Colobane est un non-lieu, dans lequel le train ne s’arrête pas. Il est constitué en lieu par le pouvoir de l’argent, lorsque Linguère Ramatou paie une somme considérable pour que le train, exceptionnellement, s’y arrête. Néanmoins, on note que cette spatialité locale conditionnée par la spatialité mondialisée - puisque c’est la lecture allégorique à laquelle invite le système axiologique du film - est très problématique et s’organise autour d’une dialectique de l’ouvert et du fermé proche du non-sens. Le village est perdu dans une brousse caractérisée par ses étendues incontrôlables tant elles sont vastes. Or à l’entrée de la ville, ouverte de toutes parts, est néanmoins installé un poste de contrôle fermé par une barrière surveillée par un mirador. Ce signe de fermeture dans un espace marqué par l’ouverture souligne le paradoxe inhérent de la mondialisation qui, plutôt que d’ouvrir les sociétés, les enferme. Cependant, étant donné la topographie du lieu, cet enfermement présuppose le consentement des personnes qui circulent et qui n’essaient en rien de contourner le poste. La notion d’enfermement se traduit en outre par la récurrence des motifs de l’encerclement et de la circularité. Ainsi Draman Drameh, après être allé une dernière fois parler à Linguère Ramatou, se trouve-t-il pris, sur le chemin du retour, dans un mouvement circulaire et effectue en voiture des cercles autour d’un personnage au milieu de la savane. Linguère Ramatou est elle-même représentée dans une dialectique ouverture/ fermeture lourde de sens. La protagoniste s’est en effet installée sur la côte, donc dans un lieu de l’ouverture sur la mer et l’horizon (motif que l’on trouvait déjà comme fausse ouverture dans Touki Bouki), mais auprès d’un bunker, dans lequel on la verra descendre à la fin du film, après la mort - supposée ou mise en scène - de Draman Drameh. Or ce lieu est un lieu hautement symbolique qui a été identifié par Kenneth W. Harrow. Il s’agit d’un site de l’île de Gorée, où ont été tournées certaines scènes du film. Bien au-delà d’une simple donnée topographique intéressante ou d’un site spectaculaire, Diop Mambéty invite ici à la lecture d’une autre allégorie: celle de la mondialisation comme forme moderne d’esclavage. L’évocation géographique de Gorée est en effet, peu de temps après, enrichie d’une scène présentant les gueux marchant lourdement en file serrée sur le haut de Véronique Porra 218 la falaise, les mains derrière le dos, tels des esclaves enchaînés (cf. Harrow 2007: 181). Bien plus qu’une adaptation de l’œuvre de Dürrenmatt, Hyènes est donc un film profondément africain, inspiré par l’un des plus grands textes dramatiques de la littérature germanique du XXe siècle avec lequel il développe une forme d’intertextualité sereine en ceci qu’elle est libérée de l’habitus agressif du writing back. Il présente donc surtout la particularité de contourner intégralement la sphère référentielle française. En cela, Diop Mambéty s’inscrit dans un mouvement caractéristique des littératures postcoloniales de langue française dans les années 1990. Alors que jusque dans les années 1980, ces littératures inscrivent des intertextes et intermédialités importants avec les repères culturels français, nombre d’auteurs - dans une velléité de décentrement qui se double d’une volonté de développer une solidarité culturelle sud-sud, telle que la signale par exemple Sony Labou Tansi - se tournent massivement vers les auteurs du boom sud-américain. Les années 1990 sont marquées par un recours au dialogisme avec des sphères culturelles européennes autres que la France, et notamment l’Italie et l’Allemagne. En cela, on peut estimer que Diop Mambéty participe, avec Hyènes, d’un mouvement plus vaste et qui s’annonce au début des années 1990. 11 Conclusion Comme l’illustre la comparaison des deux films, il y a une évolution évidente du paradigme postcolonial dans l’œuvre de Djibril Diop Mambéty. Tandis que Touki Bouki prenait pour cible les avatars et illusions générés par une France néocoloniale, Hyènes fait le procès de la mondialisation, qui, en terme de paupérisation économique, sociale mais aussi morale, a pris le relais des déviances précédentes. Outre la cible, les modalités du discours postcolonial se modifient considérablement entre les deux films, notamment dans les éléments qui relèvent de la pratique intertextuelle et interdiscursive. Mais l’on constate, à l’opposé, la persistance de grands motifs structurants: la mondialisation, par exemple, est présentée comme un avatar de l’héritage colonial, de sa mentalité et de la persistance, chez les Africains, des complexes suggérés par la relation de domination et longuement intériorisés. En somme, le discours postcolonial est toujours très affirmé dans les deux films. Il s’insinue, dans les deux cas, dans les interstices des signifiants africains, à plusieurs niveaux, et il est, dans les deux cas, structuré au niveau idéologique par la représentation de l’espace. En effet, la spatialité qui s’organise dans les films étudiés désavoue deux principes fondamentaux qui, selon les Postcolonial Studies, sont constitutifs du discours postcolonial. En effet, même 11 Nous avons eu l’occasion d’étudier ailleurs ce paradigme à l’exemple de l’évolution de l’œuvre romanesque du romancier sénégalais Boubacar Boris Diop (cf. Porra 2005). Discours postcolonial et représentation de l’espace 219 dans le film le plus marqué par l’habitus esthétique postcolonial, Touki Bouki, le cinéaste semble désavouer l’hybridité et le third space comme alternative ou passage possible en période post-indépendance. On pourrait alors formuler deux hypothèses susceptibles d’expliquer l’invalidation de ces catégories chez le cinéaste sénégalais. La première hypothèse rejoindrait la critique que l’on a souvent adressée à ces catégories, notamment telles qu’elles ont été définies par Homi Bhabha: elles seraient le privilège d’un petit nombre d’intellectuels mais ne rendraient compte en aucun cas des réalités quotidiennes et populaires. Or c’est précisément ce groupe, déshérité, populaire, miséreux voire marginal, qui intéresse Diop Mambéty. L’autre hypothèse rejoindrait une autre critique faite aux Postcolonial Studies, cette fois dans le contexte francophone. Ces théories ne seraient pas applicables dans le champ des études francophones, entre autres du fait de la différence des modèles coloniaux et donc postcoloniaux, le monde francophone étant marqué par une persistance de l’axe centre-périphérie beaucoup plus contraignante, 12 les hybridations potentielles se heurtant alors à un modèle culturellement beaucoup plus rigide. Les détours effectués par Diop Mambéty dans Hyènes, et pour d’autres créateurs contemporains, par des sphères culturelles européennes non françaises, seule possibilité de donner au travail intertextuel une vraie dimension esthétique et le faire sortir de la simple réfutation que constituait le writing back des années 1960-1980, tendrait à étayer cette seconde hypothèse. Une étude de plus grande ampleur sur un corpus d’œuvres francophones créées depuis les années 1990 et procédant à ce genre de détour référentiel reste à effectuer et pourrait s’avérer riche d’enseignements, entre autres sur la pertinence des catégories des Postcolonial Studies pour le champ d’étude dit francophone. Bibliographie Ashcroft, Bill/ Gareth Griffiths/ Helen Tiffin: The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-Colonial Literatures, New York/ London: Routledge 1989. Barlet, Olivier: Les cinémas d’Afrique noire - Le regard en question, Paris: L’Harmattan 1996. Blachère, Jean-Claude: Le Modèle nègre: aspects littéraires du mythe primitiviste au XXe siècle, Dakar: NEA 1981. Brahimi, Denise: Cinémas d’Afrique francophone et du Maghreb, Paris: Nathan Université 1997. Dadié, Bernard: Un Nègre à Paris, Paris: Présence Africaine 1959. Dürrenmatt, Friedrich: Der Besuch der alten Dame, Zürich: Diogenes 1956. 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Die wenigsten indes vermöchten zuverlässig zu sagen, was dieses Gespenst will und wie ihm beizukommen sei. Im Folgenden soll daher zweierlei unternommen werden: Erstens soll dargelegt werden, was genau gemeint ist, wenn allenthalben von der besonderen Bedeutung des Raumes die Rede ist - wenn etwa Georg Christoph Tholen (einer von vielen) behauptet: „Der Raum hat zur Zeit Konjunktur“ (Tholen 1997: 23), oder wenn Karl Schlögel (ein anderer) erleichtert aufseufzt: „Spatial Turn, endlich“ (Schlögel 2003). Zweitens soll anhand der Lektüre eines Textes von Jean Genet gezeigt werden, inwiefern eine raumtheoretische Perspektive konkret zur Erhellung eines literarisch verarbeiteten Kulturzusammenhangs beitragen kann. Dabei wird sich herausstellen, dass es sich bei der so genannten Raumtheorie letztlich nur um ein kleines Gespenst handelt, dessen Treiben jedoch durchaus Licht auf die Schattenseite historischer Diskurse zu werfen vermag. Raumtheorie Bereits gegen Ende der 1980er-Jahre begannen die sich herausbildenden Kulturwissenschaften, den Raum als kulturwissenschaftliches Paradigma für sich zu beanspruchen; Fredric Jameson etwa erklärte: Es ist oft gesagt worden, daß wir in einer Zeit der Synchronie und nicht der Diachronie leben, und ich glaube, daß man in der Tat [...] nachweisen kann, daß unser Alltag, daß unsere psychischen Erfahrungen und die Sprachen unserer Kultur heute [...] eher von Kategorien des Raums als von denen der Zeit beherrscht werden. (Jameson 1984: 60sq.) Die kulturwissenschaftliche Problematisierung des Raumbegriffs ergab jedoch, dass die seit Beginn des abendländischen Denkens zu verzeichnende theoretische Auseinandersetzung mit dem Raum, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bislang nahezu keine Ergebnisse erbracht hatte, die einer spezifisch kulturwissenschaftlichen Modellbildung als Grundlage hätten dienen Urs Urban 224 können: Der Raum erwies sich als die „versteckte Dimension“ (Hall 1966) der kulturwissenschaftlichen Diskurse. Einen Grund für dieses Verborgensein findet man in der Philosophie Immanuel Kants. Kant darf in der Theoriegeschichte des Raums eine besondere Bedeutung beanspruchen: In seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) formuliert er im ersten Abschnitt der Transzendentalen Ästhetik („Von dem Raume“) die Einsicht, es gebe „zwei reine Formen sinnlicher Wahrnehmung als Prinzipien der Erkenntnis a priori [...] nämlich Raum und Zeit.“ (Kant [1781]: 57) Da wir nicht imstande seien, uns außerhalb von Raum und Zeit wahrzunehmen, seien beide „eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt.“ (ibid.) Indem die Vorstellung vom Raum also notwendig unserer Wahrnehmung im Raum vorgängig ist, ist der Raum „kein diskursiver, oder wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine Anschauung.“ (ibid.) Der so konzipierte apriorisch-kategorisch vorgängige Raum aber erweist sich auf diese Weise als nicht weiter hinterfragbar: Er ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Damit ist der Raum jedoch zugleich jeglichem Tun vorausgesetzt und kann daher selbst nicht Gegenstand menschlichen Handelns werden. Kant formuliert diese philosophische Diagnose in einer historischen Situation, die Michel Foucault zufolge eine gänzlich neue Qualität der Macht hervorgebracht hat. Interessanterweise entspricht die Kant’sche Vorstellung von einem epistemologisch und pragmatisch unverfügbaren, weil vorgängigen Raum genau der Funktionsweise dieser „Mikrophysik der Macht“; Foucaults Diskursanalyse der Disziplin lässt uns auf diese Weise Kants Raumbegriff als das Produkt eines ganz spezifischen historischen Diskurses verstehen. In Surveiller et punir analysiert Foucault das von Jeremy Bentham ersonnene architektonische Dispositiv des Panopticons und erhebt es in den Rang einer theoretischen Allegorie, die ihm zu zeigen erlaubt, dass der disziplinierende Effekt des räumlichen Dispositivs aus der totalen Sichtbarkeit des disziplinierten Individuums bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit des Dispositivs resultiert (Foucault 1975). Das aber erklärt, warum der Raum - anders als die Zeit und andere Dispositive der Macht, die nicht konstitutiv auf ihre Unsichtbarkeit angewiesen sind - zwar den Menschen diszipliniert, selbst jedoch von den Humanwissenschaften nicht disziplinär verortet worden ist. Unter der Devise Unhiding the Hidden (Kroetsch 1995) versuchten nun also eine Reihe von Autoren, kulturwissenschaftliche Fragestellungen mit Blick auf eben diese versteckte, die räumliche Dimension, zu lösen. Wie wissenschaftliche Veranstaltungen (etwa die hier dokumentierte) sowie zahlreiche aktuelle Veröffentlichungen belegen, prägt die von Sigrid Weigel so genannte „topographische Wende“ (Weigel 2002) die Kulturwissenschaften bis heute. Es stellt sich daher die Frage, auf welches theoretische Deside- Der Raum. Theoretische Annäherung und Analyse des Erinnerungsraumes 225 rat der topographical turn antwortet, und welche spezifisch kulturwissenschaftlichen Einsichten er hervorbringt. Die „Reassertion of Space“ (Soja 1989) in die kulturwissenschaftliche Theoriebildung resultierte zunächst aus der Einsicht in die Relativität des Raumbegriffs (1): Wirft man aus wissenschaftshistorischer Sicht einen Blick auf die Theoretisierung des Raums, so stellt man fest, dass es keinen einheitlichen wissenschaftlichen Diskurs über „den Raum“ gibt. Über den Raum lässt sich nur in je spezifischen theoretischen Kontexten reden, und die verschiedenen akademischen Disziplinen beziehungsweise wissenschaftlichen Diskurse entwickeln ganz unterschiedliche Begriffe davon, was der Raum ist beziehungsweise wie der Raum beschaffen ist; auf diese Weise lässt sich eine lange Geschichte insbesondere der philosophischen und mathematischen Reflexion über den Raum schreiben. Die kulturwissenschaftliche Rekonzeptualisierung des Raumbegriffs scheint dieser Theoriegeschichte des Raumes nun ein bislang fehlendes Kapitel hinzufügen zu können. Die oft emphatisch wiederholte Behauptung von der besonderen Bedeutung „des Raumes“ für die Kulturwissenschaften hingegen verstellt die aus kulturwissenschaftlicher Perspektive gerade entscheidende Einsicht, dass es den Raum gar nicht gibt. Darüber hinaus verabsolutiert die Rede von „dem Raum“ den Raum des Eigenen und übersieht auf diese Weise die historische und kulturelle Vielfalt der Räume (2); dieser exklusive Anspruch erwächst aus der Verallgemeinerung der deiktischen Bezüglichkeit, also des je aktuellen Hier und Jetzt eines bestimmten Subjekts. In der Begegnung mit anderen Zeiträumen sieht sich der kontinuierliche und homogene Chronotopos des Eigenen hingegen infrage gestellt. Dabei zeigt sich zum einen, dass „Zeit“ und „Geschichte“ des Eigenen in Abhängigkeit von je spezifischen kulturellen Räumen konzeptionalisiert werden. Anders als etwa nationalistische Mythologien es suggerieren, verändert sich andererseits jedoch der Raum des Eigenen auch in der Zeit und erweist sich so als historisch kontingente Konstruktion; Michel Foucault kann daher feststellen: „L’espace lui-même, dans l’expérience occidentale, a une histoire.“ (Foucault 1967: 753) Foucault beschreibt diese Geschichte anhand dreier historischer Konstellationen: Die mittelalterliche Vorstellung der Verortung des Raums sei im 17. Jahrhundert (nach Galilei) von einer Konzeption unendlicher räumlicher Ausdehnung abgelöst worden; der zeitgenössische Raum hingegen sei gekennzeichnet durch die besondere Bedeutung seines spezifischen Stellenwertes. Der Raum definiert sich hier über seine Beziehung zu einem anderen Raum, sein Wert ist kein absoluter, sondern ein relationaler, eben ein Stellenwert. Der Raum ist also immer die nur heuristisch vorstellbare Summe vieler verschiedener Räume: „Il n’y a pas un espace, […] il y a plein de petits bouts d’espace […].“ (Perec 1974: 17) Diese Räume sind zueinander ins Verhältnis Urs Urban 226 gesetzt durch eine bestimmte Relation (3), die sich auf ganz unterschiedliche Weise konzeptionalisieren lässt. Die zentrale Position der europäischen Staaten auf kartografischen Darstellungen etwa ist der sichtbare Ausdruck einer bis in die Antike zurückreichenden eurozentrischen Denktradition, die den Raum des Anderen an der Peripherie verorten muss, um zu sich selbst zu finden. Dabei stellt eine Grenze einen vielfach „gekerbten“ Raum 1 her, der auf verschiedenen Ebenen zwischen Innen- und Außenräumen unterscheidet; als „Raum des Eigenen“ und „Raum des Anderen“ erhalten die so hergestellten Räume eine je spezifische Bedeutung, die sich etwa in der Unterscheidung zwischen zentralem und peripherem, öffentlichem und privatem, männlichem und weiblichem Raum 2 manifestiert. Darüber hinaus instituiert die Grenze eine hierarchische Ordnung, da der von ihr markierte Unterschied zugleich ein asymmetrisches Kräfteverhältnis und also ein Machtgefälle zwischen den Räumen hervorbringt. Die Neuordnung des globalen Raums indes verläuft in mancher Hinsicht quer zur nationalen Raumordnung und vermag auf diese Weise dichotomische Strukturen zu unterlaufen. Wenn die Grenze überschritten wird, verändert sich die Raumordnung: Der Raum des Eigenen und der Raum des Anderen treten nun in einem anderen, „glatten“ Raum zusammen. Gerade diese Überschneidung verschiedener Räume aber macht für Michel Foucault den Raum zum zentralen erfahrungsmäßigen und theoretischen Paradigma der condition postmoderne: „L’époque actuelle serait peut-être plutôt l’époque de l’espace. Nous sommes à l’époque du simultané, nous sommes à l’époque de la juxtaposition, à l’époque du proche et du lointain, du côte à côte, du dispersé.“ (Foucault [1967]: 752) Die Durchlässigkeit der Grenze führt dabei zugleich zur Destabilisierung der hierarchischen Ordnung; die daraus resultierende „heterarchische“ Raumordnung (Willcke 2003) jedoch öffnet dem in diesem „Anderen Raum“ verorteten Subjekt (4) einen gewissen Handlungsspielraum. Der kulturwissenschaftliche Raumdiskurs erhält also durch die Einsicht in die Relativität des Raumbegriffs (1) und die Pluralität der Räume (2), durch die Problematisierung der Grenze (3) sowie durch die Verortung des Subjekts (4) in einem Spannungsfeld zwischen räumlichem Dispositiv und Produktion des Raumes ein ganz spezifisches Profil. Auf diese Weise gelingt es der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung, die Ontologisierung des Raumes produktiv zu unterlaufen: Es geht ihr nicht um das Vorhandensein 1 Laut Deleuze und Guattari ist der gekerbte Raum ein von Grenzen strukturierter, der glatte Raum hingegen ein grenzenloser Raum; cf. Deleuze/ Guattari 1980, insbesondere das 14. „Plateau“: „1440 - Le Lisse et le Strié“ (592-625); bereits zuvor heißt es dort: „L’espace sédentaire est strié, par des murs, des clôtures et des chemins entre les clôtures, tandis que l’espace nomade est lisse, seulement marqué par des ‚traits‘ qui s’effacent et se déplacent avec le trajet.“ (op. cit.: 472) 2 Zur genderspezifischen Produktion des Raumes cf. Urban 2007: 55-57. Der Raum. Theoretische Annäherung und Analyse des Erinnerungsraumes 227 von Räumlichkeit - das gleichwohl natürlich nicht bestritten wird -, sondern um die spezifische Qualität bestimmter Räume, und das heißt um die Frage nach der Bedeutung oder „Sinnfunktion“ eben dieser Räume. So münden jedoch die kulturwissenschaftlichen Theorien vom Raum in eine „Epistemologie des Raumes“ (Prigge 1996). Genau hier zeigt sich denn auch für Ernst Cassirer das für unsere Betrachtung Entscheidende: daß es nicht eine allgemeine, schlechthin feststehende Raum-Anschauung gibt [wie etwa bei Immanuel Kant], sondern daß der Raum seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst von der Sinnordnung erhält, innerhalb deren er sich jeweilig gestaltet. Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht. Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment. Was alle diese Räume von verschiedenem Sinn-Charakter miteinander verknüpft, ist lediglich eine rein formelle Bestimmung, die sich am schärfsten und prägnantesten in Leibniz’ Definition des Raumes als der „Möglichkeit des Beisammen“ und als der Ordnung im möglichen Beisammen (ordre des coëxistences possibles) ausdrückt. Diese rein formale Möglichkeit erfährt nun sehr verschiedene Arten ihrer Verwirklichung, ihrer Aktualisierung und Konkretisierung. (Cassirer [1935]: 26sq.; Hervorhebung U.U.) Jede Raumordnung weist also immer über sich hinaus auf die soziale und symbolische Ordnung der Kultur. 3 Diese ihre Sinnfunktion indes hängt ab von den „Arten ihrer Verwirklichung, ihrer Aktualisierung und Konkretisierung“. Sehen wir uns also eine solche Konkretisierung der Raumordnung näher an - und fragen wir nach ihrer Sinnfunktion. „Palästina“ Seit Ende der 1960er-Jahre interessiert sich Jean Genet für Politik: Mit Wort und Tat ergreift er entschieden die Partei der „Verdammten dieser Erde“ (Fanon [1961]). Er setzt sich vor allem für die Emanzipation der afroamerikanischen Bevölkerung der Vereinigten Staaten und für die palästinensische Widerstandsbewegung ein. Dieses Engagement findet Eingang in seine letzte literarische Arbeit, den Ende 1983 begonnenen und kurz nach seinem Tod im April 1986 erschienenen Roman Un captif amoureux (Genet [1986]). Der 3 Auf den Raum des Anderen, den Ort des Subjekts, die postnationale Grenzenlosigkeit sowie die von dieser an anderer Stelle hervorgebrachten neuen Grenzen kann an dieser Stelle leider genauso wenig eingegangen werden wie auf den von Foucault inspirierten kulturwissenschaftlichen Gemeinplatz der Heterotopie; diesbezüglich sowie auch zur Vertiefung des Folgenden cf. Urban 2007. Für eine Bestandsaufnahme raumtheoretischer Positionen cf. auch Bachmann-Medick 2006 und Dünne/ Günzel 2006, sowie jetzt Günzel 2008. Urs Urban 228 Protagonist dieses umfangreichen Prosatextes ist Jean Genet, der in der ersten Person von seiner Begegnung mit den Vertretern der Black Panthers sowie der Fatah berichtet und so seine persönliche „Erinnerung“ in einen allerdings auf eigenartige Weise durch die Fiktion gebrochenen historischen Diskurs einschreibt. Diese „historische Fiktion“ nun bezieht sich auf einen ganz spezifischen Raum namens „Palästina“. Bei diesem Raum handelt es sich aus geografischer Perspektive um jenes Gebiet, das seit 1948 zu seinem größten Teil das Territorium des Nationalstaates Israel bildet. Zu diesem Zeitpunkt hat die von terroristischen Angriffen durch jüdische Untergrundorganisationen geschwächte ehemalige Mandatsmacht Großbritannien beschlossen, das Land zu verlassen, und die Vertreibung der ortsansässigen Araber durch die jüdischen Siedler ist größtenteils abgeschlossen; die „Geburt“ (natio) des israelischen Staates fällt also zusammen mit einem territorialen Verlust aufseiten der arabischen Bevölkerung. Diese exklusive Neuordnung des Raumes entspricht dabei durchaus der territorialen Logik der Nation: Der nationale Raum definiert sich über seine Grenzen und schließt daher jede andere Nation kategorisch aus. Die zionistische Ideologie begreift diese im ursprünglichen Wortsinn koloniale „Raumnahme“ 4 als die Wiederaneignung des im alttestamentarischen Ursprungsmythos verbürgten legitimen Erbes Israels. Für Eric Hobsbawm hingegen ist die auf diese Weise legitimierte Gründung des israelischen Staates ein idealtypisches Beispiel für die „Erfindung“ einer Nation: Trotz aller geschichtlichen Kontinuitäten der Juden oder der Muslime des Mittleren Osten müssen der israelische und der palästinensische Nationalismus und die jeweiligen Nationen neu sein, da man in dieser Region vor einem Jahrhundert noch kaum an das Konzept des heute üblichen Typs von Territorialstaaten dachte, und dies vor dem Ende des Ersten Weltkriegs noch kein ernstzunehmendes Projekt zu sein schien. (Hobsbawm [1984]: 115) Dabei übersieht Hobsbawm jedoch, dass im Falle des „palästinensischen Nationalismus“ von der „jeweiligen Nation“ nicht die Rede sein kann, denn selbst das, was man heute unter Vorbehalt als die „palästinensische Nation“ bezeichnen könnte, gab es zum Zeitpunkt seiner Äußerung noch nicht. Anders als der territorial verankerte israelische Nationalstaat (Erez Jisrael) ist Palästina bis zum heutigen Tage also lediglich ein imaginärer Raum, dessen Bewohner gewissermaßen „ohne festen Wohnsitz“ (sans domicile fixe) sind. Gerade dieses Fehlen eines eigenen Territoriums, das die Palästinenser - mit den Worten Giorgio Agambens - „in der Ortlosigkeit verortet“ (Agam- 4 Das Grimm’sche Wörterbuch weist darauf hin, dass seit jeher die Landnahme, und also die Kolonisierung, als das Prinzip schlechthin der Raumordnung gegolten hat: „die ursprüngliche bedeutung des wortes [...] weist [...] auf raum als einen uralten ausdruck der ansiedler hin, der zunächst die handlung des rodens und frei machens einer wildnis für einen siedelplatz bezeichnete [...], dann den so gewonnenen siedelplatz selbst.“ (Grimm/ Grimm 1893: 275). Der Raum. Theoretische Annäherung und Analyse des Erinnerungsraumes 229 ben 2002: 115), ist für Jean Genet der Anlass, sich mit der prekären existenziellen Situation der Palästinenser auseinanderzusetzen. Clifford Geertz beschreibt diesen „ortlosen Ort“ als a place marginal to everything and everywhere, where borders were but faintly dotted lines, […] and whose inhabitants, to the degree that this gathering of fugitives could even be called that, were, like him, extravagant, dauntless, outmatched, and doomed (Geertz 1992: 3; Hervorhebung U.U.). Damit weist er zugleich auf die augenfälligen Parallelen zu Genets eigenem gesellschaftlichen Ort hin; Simon Critcheley schreibt: „Genet was at home in Palestine, bei sich in a country that does not exist.“ (Critcheley 1990: 28) Genau diese Analogie aber erlaubt es Genet, seine eigene Geschichte in die der Palästinenser einzuschreiben und auf diese Weise die Geschichte der palästinensischen Revolution als eine pseudo-autobiografische - oder, mit Lejeune, „autofiktionale“ - Parabel zu erzählen, in deren Zentrum die schließlich in ein eigenartiges „Geburtshaus“ führende Suche nach der Mutter steht. In dieser Geschichte bildet also die Reflexion über den Raum ein zentrales, wenn nicht das zentrale Motiv: „La question du territoire [y] atteint son paroxysme.“ (Pinguet 1993: 106) Wie lässt sich nun dieser Raum beschreiben? Genet schildert ihn als einen Raum, der sich nur in der Negativität, gewissermaßen im Schatten des positiven und konkreten Raumes Israels konstituieren kann: Genau in dem Moment, in dem er als territorialer Raum verschwindet, entsteht er paradoxerweise neu als ein idealer Raum der Bewegung, der Imagination und der Sprache. Dieser Raum aber heißt nun „Palästina“. Seine (ideale) Anwesenheit gründet auf einer (realen) Abwesenheit, sein Auftauchen auf einem Verschwinden: La conscience nationale est née avec la perte d’une terre. […] plus les Juifs avançaient, pénétrant toujours plus profondément dans le monde arabe, plus les Israéliens gagnaient de terrain, et plus les Palestiniens cherchaient refuge dans le rêve. (Genet [1973]: 109) In Genets Roman wird „Palästina“ dementsprechend als ein zur Disposition stehender und infrage gestellter Raum beschrieben: Mais quel sol? Jordanien par l’effet d’une fiction administrative et politique décidée par la France, l’Angleterre, la Turquie, l’Amérique… Elles [les femmes de Djebel Hussein, à Amman] voyaient encore une Palestine qui n’existait plus quand elles avaient seize ans, mais enfin elles avaient un sol. Elles n’étaient ni dessous ni dessus, dans un espace inquiétant où le moindre mouvement serait un faux mouvement. Sous les pieds nus de ces tragédiennes octogénaires et suprêmement élégantes, la terre était ferme? C’était de moins en moins vrai. Quand elles avaient fui Hebron sous les menaces israéliennes, la terre ici paraissait solide, chacun s’y faisait léger et s’y mouvait sensuellement dans la langue arabe. Les temps passant, il semblait que cette terre éprouvât ceci: les Palestiniens étaient de moins en moins supportables en même temps que ces Palestiniens, ces paysans, Urs Urban 230 découvraient la mobilité, la marche, la course, le jeu des idées redistribuées presque chaque jour comme des cartes à jouer, les armes, montées, démontées, utilisées. (Genet [1982]: 253) Protagonist sind hier wie im gesamten Roman die Palästinenser, und zwar zunächst die palästinensischen Frauen, elles, die in dieser pronominalen Abstraktion über die historisch verbürgten Personen hinaus auf die allegorische Figur der Mutter (Paravents) und letztlich die in dieser Figur personifizierte theatrale Geste (Elle) verweisen. Gerade aufgrund dieser besonderen „dramatischen Kompetenz“ gelingt es den Frauen, im Raum des Imaginären und auf fremdem Territorium den privaten Ort des Identischen, das „Eigenheim“, szenisch - oder: „performativ“ - immer wieder neu hervorzubringen. Während auf diese Weise die Mütter für die Integrität eines heimischen Ortes bürgen, sehen sich ihre Söhne durch den Verlust des ihnen vorbehaltenen öffentlichen, eben des staatlichen Raumes, dazu gezwungen, permanent in Bewegung zu bleiben. Diese Bewegung resultiert zum einen aus dem konkreten Ortswechsel, zu dem Flucht und Kampf die Palästinenser immer wieder veranlassen; darüber hinaus manifestiert sie sich aber auch als diskursive Strategie, als „politische Bewegung“, als mouvement politique. Sowohl die konkrete wie die diskursive Bewegung errichten nun ein strategisches Spannungsfeld zwischen Auftauchen und Verschwinden, Vorstoß und Rückzug, Äußerung und Schweigen, das sich als ein permanent von de- und reterritorialisierenden Prozessen neu konstituierter Raum beschreiben lässt. Auf diese Weise „produziert“ die Bewegung einen „nomadischen Raum“, der den dem Phantasma nationalistischer Mythologiebildung abgerungenen, homogenen und kontinuierlichen Raum des Territorialstaates wirkungsvoll infrage zu stellen vermag; ihre Vollendung aber findet diese „nomadische“ Raumordnung in dem von den Palästinensern geführten „kleinen Krieg“, der „guerilla“, die Frantz Fanon wie folgt beschreibt: Dans la guerilla la lutte n’est plus où l’on est mais où l’on va. Chaque combattant emporte la patrie entre ses orteils nus. Aucune position stratégique n’est privilégiée. L’ennemi s’imagine nous poursuivre mais nous nous arrangeons toujours pour être sur ses arrières, le frappant au moment même où il nous croit anéantis. Nous chantons, nous chantons. (Fanon [1961]: 84) Die Dynamik des Nomadentums erlaubt es also, die Ausschlussmechanismen des Nationalstaates buchstäblich zu unterlaufen und seine Zwischenräume und Ränder - wenngleich nur vorläufig - zu besetzen. Auf ganz andere Weise gelingt genau dies aber auch der Imagination. Während der nationale Raum die gleichzeitige Anwesenheit einer anderen Nation per definitionem ausschließt, kann die Imagination diese Ausschließlichkeit überwinden und unterschiedliche Räume in einem Raum verorten. Für diesen „Imaginationsraum“ gilt daher, was Michel Foucault über die „Heterotopie“ sagt: „L’hétérotopie a le pouvoir de juxtaposer en un seul lieu réel Der Raum. Theoretische Annäherung und Analyse des Erinnerungsraumes 231 plusieurs espaces, plusieurs emplacements qui sont en eux-mêmes incompatibles.“ (Foucault [1967]: 758) Ein solcher Widerstreit der Platzierungen manifestiert sich zum Beispiel in der Konfrontation unterschiedlicher topografischer Repräsentationen. Versteht man unter „topografischer Repräsentation“ im herkömmlichen Sinne lediglich die Kartografie der territorialen Raumordnung, so wiederholt sich der territoriale Konflikt schlicht auf dem Papier; Edward Said beschreibt die diesem „Medienwechsel“ eingeschriebene Machtverteilung wie folgt: In der Geschichte der kolonialen Invasion wurden Landkarten immer zuerst von den Siegern gezeichnet, da Landkarten Instrumente der Eroberung sind. Geographie ist daher eine Kriegskunst, aber sie kann auch die Kunst des Widerstands sein, wenn es eine Gegenlandkarte und eine Gegenstrategie gibt. (Said [1993]: 75) Joseph Algazy berichtet, wie sich der Kampf um die Repräsentation im Falle Israels konkret bemerkbar macht: Aus Lehrbüchern, die von arabischen Staaten an palästinensische Studenten in der West Bank oder dem Gazastreifen herausgegeben wurden, haben die israelischen Behörden die Karten herausgerissen, welche den Begriff Palästina enthielten. (Algazy 1995: 237) Palästina wird damit zum Gegenstand einer prospektiv imaginierten politischen Topografie, zur Utopie. Das widerständige Potenzial von „Gegenlandkarte“ und „Gegenstrategie“ jedoch manifestiert sich nun nicht nur in der gegenhegemonialen Definitionsmacht eines alternativen kartografischen Entwurfs. Begreift man nämlich die Topografie als das Schreiben eines Raumes und also als die Herstellung eines „Raumes als Text“, so lassen „Gegenlandkarte“ und „Gegenstrategie“ sich in den je anderen „topografischen Text“ einschreiben und ermöglichen es auf diese Weise tatsächlich, in einem „heterotopischen“ Raum „mehrere Platzierungen zusammenzulegen“. Palästina aber ist genau solch ein Raum. Bereits seit über zwei Jahrtausenden ist es ein von miteinander konkurrierenden kollektiven Gedächtnissen konstituierter „topografischer Text“, oder mit den Worten Jan Assmanns, ein „Mnemotop“: Die Gedächtniskunst arbeitet mit imaginierten Räumen, die Erinnerungskultur mit Zeichensetzungen im natürlichen Raum. Sogar und gerade ganze Landschaften können als Medium des kulturellen Gedächtnisses dienen. Sie werden als Ganze in den Rang eines Zeichens erhoben, d.h. semiotisiert. Es handelt sich um topographische „Texte“ des kulturellen Gedächtnisses, um „Mnemotope“, Gedächtnisorte. In diesem Sinne hat Maurice Halbwachs in seinem letzten Werk die topographie légendaire des Heiligen Landes als eine Ausdrucksform des kollektiven Gedächtnisses beschrieben. Was Halbwachs am Beispiel Palästinas als einer kommemorativen Landschaft zeigen möchte, ist, daß nicht nur jede Epoche, sondern vor allem jede Gruppe ihre je spezifischen Erinnerungen auf ihre je eigene Weise lokalisiert und monumentalisiert. (Assmann 1997: 60) Urs Urban 232 Der letzte von Assmann angesprochene Punkt der Argumentation, der auf die Anwesenheit unterschiedlicher Gruppen mit je spezifischen Erinnerungen und folglich auch mit unterschiedlichen „mnemotopischen“ Kulturtechniken hinweist, ist dabei im Falle Palästinas der entscheidende, denn „die Erinnerungen an den Konflikt sind zugleich auch Konflikte der Erinnerung“ (Burke 2005: 100), und diese manifestieren sich eben in unterschiedlichen Raumvorstellungen. Diese Einsicht legt es nahe, die vom Zionismus gepflegte Vorstellung eines „wüsten Landes“, also eines leeren Raumes, der sich als Trägermedium eines ursprünglichen und ewig gültigen Textes begreifen und so gewissermaßen auch semiotisch kolonisieren lässt, durch das Modell eines „heterotopischen“ Raumes zu ersetzen. Der in diesen Raum eingeschriebene Text aber erweist sich als ein Palimpsest, das heißt als die Summe unterschiedlicher Textschichten, die es gleichzeitig zu lesen gilt. Jean Genet entwirft eine solche „legendäre“ (zu lesende, zu entziffernde) Topografie Palästinas in seinem Roman: Les affiches, les placards publicitaires dans les journaux incitant les touristes à visiter Israel vantent surtout les plantations d’arbres dans le désert. […] Eretz Israel fit avancer des forêts. L’une d’elles s’arrêta sur le village de Maaloul près de Nazareth. Les maisons des Palestiniens, d’abord minées, explosèrent comme c’était l’usage de l’époque. Une forêt y continua sa croissance. Avec les ongles, en grattant un peu au pied des arbres, les fondations, les caves, seraient à fleur de sol. Israel, à chaque anniversaire de ce qu’il fête sous le nom de Libération, vient regarder ses arbres croître, où chacun porte le nom de celui qui le planta. Les anciens habitants du village ou leurs descendants palestiniens, tous arabes musulmans, y viennent aussi, pique-niquer. Les premiers, qui furent les derniers, rient et sont ivres. Les derniers qui étaient les premiers racontent qui ils étaient. […] ils font revivre le village décédé. Aux jeunes ils précisent un détail, puis un autre; croyant se souvenir, ils embellissent, donc inventent un village si riant, si gai, si éloigné de leur tristesse que tous en deviennent encore plus tristes, et peu à peu, à mesure que ce nouveau village imaginaire prend vie, leur tristesse s’en va. Tous, jeunes et vieux, se mettent à danser maladroitement les anciennes danses. Avec eux ils ont apporté des pots de peinture à l’eau; sur le sol, les arbres, sur des toiles tendues, ils dessinent et peignent une réalité d’autrefois, fantaisie d’aujourd’hui. Ce jour anniversaire d’une renaissance pour les Palestiniens de Maaloul, est fête pour les morts. Pour un jour le village apparaît qui n’est que le facsimilé inexistant mais si vif de celui qui fut […] le village de Maaloul […]. Si l’on voulait entrer dans une maison on contournait un arbre où la porte était dessinée, pour monter à l’étage les jeunes Palestiniens en jeans grimpaient dans ses branches, bref deux mots s’imposent: résurrection, pour un jour prenait sens, et nostalgie, maladie du retour, ne préparant pas à la lutte pour le vrai retour […]. Ainsi l’Etat bien réel d’Israel se connaît doublé d’une survie fantomatique. Ce récit me fut fait un jour par Mlle Shahid. Un jeune Palestinien a réalisé un film sur ce village et cette fête il se nomme Michel Khleifi. (Genet [1986]: 495sq.) Der oben angesprochene Unterschied der „mnemotopischen“ Kulturtechniken wird uns hier von Genet auf besonders eindrückliche Weise vor Augen Der Raum. Theoretische Annäherung und Analyse des Erinnerungsraumes 233 geführt. Israel vollzieht die Monumentalisierung der Erinnerung, indem es die Wüste bepflanzt und also in einem scheinbar leeren Raum Wurzeln schlägt und wächst. Die hier angepflanzten Bäume tragen die Namen derjenigen, die sie pflanzten; diese Namen jedoch werden in Genets Text nicht genannt, so dass die Israelis nur als Kollektiv, als Vertreter des expandierenden und also kolonialistischen Staates Israel auftreten. Durch die Namensgebung werden die Bäume zu Zeichen eines „mnemotopischen Textes“, und diese Zeichen sind aufgrund ihres spezifisch onomastischen Zeichencharakters nicht nur semiotische Repräsentanten, sondern in ihnen manifestieren sich gewissermaßen die Verkörperung und also die Präsenz der Israelis. Das Wachstum der Bäume und also Beginn und Geschichte ihrer Anwesenheit in der Wüste wird nun von den Israelis jährlich gefeiert. Was die namenlosen Bürger des Staates Israel auf diese Weise als „Befreiung“ erinnern, ist jedoch vielmehr das - spezifisch koloniale - „Freimachen eines Raumes“, die Vertreibung nämlich der arabischen Bevölkerung und die Zerstörung ihrer Häuser und Dörfer, die den leeren Raum der Wüste allererst herstellen; die Bäume (arbres) sind daher nicht nur die semiotischen Stellvertreter (Zeichen) der Geschichte eines Volkes, sondern nehmen zugleich die Stelle eines Andern, den Ort der palästinensischen Araber (arabes) ein. Diese Gründungsgewalt aber hat in der kollektiven Erinnerung Israels keinen Ort; denn obwohl es reichen würde, ein wenig an der Bodenoberfläche zu kratzen, um die Grundmauern und Keller des zerstörten palästinensischen Dorfes und also eine weitere Schicht des „topografischen Textes“ zum Vorschein kommen zu lassen, scheinen die hier geschilderten Bürger Israels von jener Art des kollektiven Gedächtnisschwunds befallen zu sein, den René Girard als konstitutiv für den Erhalt des Gemeinwesens beschreibt. Laut Girard ist das Gründungsereignis jeder Gesellschaft eine Opferhandlung, also ein Akt der Gewalt: Ein „Mechanismus der gewalttätigen Einmütigkeit“ („le mécanisme de l’unanimité violente“) führt zur „Umkehrung der Gewalt in eine kulturelle Ordnung“ („le renversement de la violence en ordre culturel“); damit diese kulturelle Ordnung Bestand haben kann, muss der originäre Gewaltakt jedoch vergessen - in Girards Worten: verkannt - werden: „Pour retenir sa vertu structurante, la violence fondatrice ne doit pas apparaître.“ (Girard 1972: 430, 432, 430) Genau diesen im kollektiven Gedächtnis der Israelis unbezeichneten Erinnerungsort beanspruchen aber nun die ebenfalls angereisten palästinensischen Pilger. Die in der Mehrzahl auftretenden Palästinenser finden sich in dem zwischen den Bäumen frei gebliebenen Raum ein, um an dem Ort, an dem sich früher ihr Dorf befand, zu picknicken; dabei erzählen die Alten ihrer Nachkommenschaft, „wer sie waren“ (qui ils étaient), und gemeinsam trauern sie um den Verlust ihres Dorfes. Das gemeinsame Mahl, die Erzählung und das Heimweh (die nostalgie) sind die drei zentralen Elemente eines Rituals, das schließlich zur „Wiederauferstehung“ (résurrection) des zerstör- Urs Urban 234 ten und begrabenen Dorfes führt - „Wer seine Geschichte erzählt, erbt das Land der Erzählung.“ (Darwich [1997]) Der Tanz markiert den gelungenen Vollzug einer magischen Operation, die die Kommunikation mit den Toten und ihren Ort im kollektiven Gedächtnis wiederherstellt. Dieser Ort aber materialisiert sich in der Gestalt des ehemaligen Dorfes, das die Palästinenser nun für die Dauer eines Tages wieder bewohnen und zu diesem Zweck zeichenhaft fixieren, indem sie Boden, Bäume und Zwischenraum farbig markieren. Die Leerstellen des von den Israelis entworfenen mnemotopischen Textes erweisen sich also als die bezeichneten und signifikanten Stellen anderer Texte, und diese Texte machen die Palästinenser gleichsam wieder lesbar. Sie tun dies, indem sie mit der Einzigartigkeit dieses Textes auch seine Eindeutigkeit infrage stellen und öffnen so einen semiotischen Spielraum, der unendlich viele Textschichten enthält und also „alle Bilder der Sprache“ zu Wort kommen lässt; bei Genet heißt es daher: „Mettre à l’abri toutes les images du langage et se servir d’elles car elles sont dans le désert où il faut aller les chercher.“ (Genet [1986]: 7) Auf diese Weise erschaffen die Palästinenser a dream image […] of a tree-village, marking a point of passage from an actual world to a virtual one, from Israel to Palestine. […] they incorporate into the space of phantasy the very figures of the collective’s disappearance. The image that mediates their experience of this historical overdetermined space is thus a dialectical one. On the one hand, it extracts from the image of the vanished village a utopian power it had never realized in any present, marking the potential point of emergence for a new collective. On the other hand, even as it asserts the claim of a thwarted wish on collective memory, it awakens the resurrected village to itself as a dream. (Durham 1995: 51; Hervorhebung U.U.) Die Heterotopie, wie sie hier von den Palästinensern hergestellt wird, lässt sich also aus historischer Perspektive, das heißt mit Blick auf ihre Zeitstruktur, auch als ein „historisch überdeterminierter“ dialektischer Raum begreifen, insofern sie nämlich im „Zusammenschießen“ unterschiedlicher Geschichten zwischen verschiedenen historischen Zeiträumen vermittelt - „Quatrième principe: Les hétérotopies sont liées, le plus souvent, à des découpages de temps.“ (Foucault [1967]: 43) Bei der Darstellung der magischen Neugründung des Dorfes begnügt Genet sich indes nicht mit der „Wiedergabe“ eines Ereignisses, sondern schreibt es ein in eine Geschichte der „Weitergabe“, der Tradition von Erzähltem. Mit einer Beglaubigungsformel erinnert er an den Modus seiner Überlieferung - „Ce récit me fut fait par...“ - und die Namen derer, die vor ihm bereits dieses Ereignis erzählt haben; auf diese Weise versieht er den Bericht von der Auferstehung des Dorfes Maaloul mit einer mehrfachen Signatur und verleiht ihm so die Würde eines - wenngleich polyphonen - Zeugnisses. Der Raum. Theoretische Annäherung und Analyse des Erinnerungsraumes 235 Palästina also bezieht sein besonderes ästhetisches Prestige für Genet aus der „Bodenlosigkeit“, aus dem Mangel an einem eigenen Territorium, der seine Bewohner zu einer Existenz in permanenter Bewegung zwingt; die Dynamik dieser Bewegung entfaltet sich in der Imagination und in der Sprache der Poesie: „La poésie apparaît comme le privilège des révoltés déracinés.“ (Blumenfeld 1987: 120) Israel hingegen vollzieht genau im Gegenteil eine „Territorialisierung von Geschichte“: „Eretz Israel bietet ein Paradebeispiel für die ‚Territorialisierung von Geschichte‘, mit der politische Ansprüche, historisch vertieft, geographisch verankert werden.“ (Krämer 2002: 13) Dabei muss Israel „Geschichte“ als die alleinige und ausschließliche Geschichte des Eigenen begreifen, die sich in einen leeren Raum einschreibt, der auf diese Weise als Territorium des Eigenen Gestalt annimmt. Demgegenüber unternehmen die Palästinenser den Versuch, den bereits von den Israelis beschriebenen Raum (historisch und narrativ) neu zu diskursivieren und also gewissermaßen zu „überschreiben“; in ihren Augen ist der Raum daher nicht leer, sondern gefüllt mit einer „komplexen“, weil eben vielfachen Geschichte: „Une histoire complexe, avec ses nombreuses volontés de puissance, était à l’œuvre en Palestine. Cet espace n’était pas vide.“ (Genet [1986]: 217) Genet aber sieht seine Aufgabe in der Rekonstruktion genau dieser Geschichte - und des von dieser Geschichte umschriebenen Textraumes. Raum. Eine nützliche Kategorie für die Literaturwissenschaft Die hier zur Diskussion gestellte Lektüre von Genets Text über Palästina sollte deutlich machen, inwiefern die zuvor entwickelten Kriterien für eine kulturwissenschaftlich orientierte Raumtheorie sich produktiv verwenden lassen: Aufgrund der Relativität des Raumbegriffs (1) gilt es zunächst - wie von Cassirer gefordert - sich für eine ganz bestimmte Konkretisierung der Raumordnung zu entscheiden - hier die literarische Repräsentation eines „Palästina“ genannten geopolitischen Raumes, der in seiner Funktion als Erinnerungsraum von alternativen Kulturtechniken infrage gestellt wird. Dabei kommt bereits der zweite Aspekt mit ins Spiel, denn Konfrontation und Durchdringung unterschiedlicher mnemotopischer Narrative setzen die Pluralität der Räume (2) voraus. Diese wiederum führt unweigerlich zu einer Problematisierung der Grenze (3) - die nicht länger zuverlässig zwischen einem Raum des Eigenen und einem Raum des Anderen zu unterscheiden vermag, weil sich in Genets Text eben unterschiedliche Erinnerungsräume gleichzeitig und am selben Ort manifestieren und auf diese Weise in einem Anderen Raum zusammentreten. Eine solche „heterotopische“ Raumordnung schließlich affiziert natürlich auch die Verortung des Subjekts (4): Indem sie das von den Israelis instituierte räumliche Dispositiv Urs Urban 236 unterlaufen, produzieren die Palästinenser einen Handlungsspielraum, der es ihnen erlaubt, die Strukturen der Macht auf eigene Weise zu nutzen. In dem hier exponierten Zusammenhang erweist also der Raum sich tatsächlich als eine nützliche Kategorie für die Literaturwissenschaft. Literatur Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, aus dem Ital. von Hubert Thüring, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2002. Algazy, Joseph: „Grenzen. 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Seit 2004 Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Romanische Philologie der Universität Regensburg. Habilitationsprojekt zur spanischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Publikationen u.a.: Französischsprachige Volksalmanache des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2004; Populäre Kalender im vorindustriellen Europa: Der Hinkende Bote/ Messager boiteux, Berlin 2006 (ed. mit Y.-G. Mix); „Napoléon vu par les Égyptiens. Youssef Chahine's Adieu Bonaparte! “, in: U. Fendler/ M. Wehrheim (eds.): Entdeckung, Eroberung, Inszenierung. Filmische Versionen der Kolonialgeschichte Lateinamerikas und Afrikas, München 2007, S. 187-200; Guillaume-Thomas Raynal. Histoire des deux Indes. Première édition scientifique. Livre VI: Découverte de l'Amérique. Conquête du Mexique (ed. mit U. Fendler, erscheint 2009). Prof. Dr. Rolf Kailuweit, geboren und aufgewachsen in West-Berlin. Dort Studium der Rechtswissenschaft, Romanistik und Philosophie. Assistentenzeit in Heidelberg. Nach Lehrstuhlvertretung in Aachen seit 2004 Professor für Romanische Sprach- und Medienwissenschaft in Freiburg. Im SS 08 und WS 08/ 09 Internal Fellow am Freiburg Institut for Advanced Studies. Interessen und Forschungsschwerpunkte: Die Schnittstelle zwischen Syntax und Semantik; Medien und Minderheiten in der Romania (insbesondere Katalonien und Korsika); Französischer Poststrukturalismus; Sprache, Kultur und Migration im Rio-de-la-Plata-Raum. Monografie: Linking: Syntax und Semantik französischer und italienischer Gefühlsverben, Tübingen 2005; Franko- Media: Aufriss einer französischen Sprach- und Medienwissenschaft, Berlin: (ed. mit Stefan Pfänder, erscheint 2009); „River Plate Spanish/ El español rioplatense“ (ed. mit Ángela di Tullio, i.V.). PD Dr. Kian-Harald Karimi, geb. 1955, seit dem WS 08/ 09 W3-Vertretung für Französische und Spanische Literatur an der Universität Heidelberg, seit Beiträgerinnen und Beiträger 240 dem WS 00/ 01 Vertretungen von Professuren in Leipzig, Bonn, Berlin, Potsdam und Saarbrücken. Dissertation (1990): Auf der Suche nach dem verlorenen Theater: Das portugiesische Gegenwartsdrama unter der politischen Zensur (P. Lang 1991). Habilitationsschrift (1999): Jenseits von altem Gott und „Neuem Menschen“. Präsenz und Entzug des Göttlichen im Diskurs der spanischen Restaurationsepoche (Vervuert 2007). Komparatistisches Profil: die Frankophonie im Maghreb und in Schwarzafrika; Kulturwissenschaft in der Romanistik: Anthropologie, Imagologie und Epistemologie; die Revision der Geschichtsschreibung im neueren historischen Roman Spaniens, Portugals und Lateinamerikas; der metaphysische Standort in der Literatur Frankreichs, Spaniens und Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert; Literatur als Ort der Philosophie und komplementärer Sinnentschließung. Dr. des. Torsten König, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik der TU Dresden (französische und italienische Literaturwissenschaft). Studium der Französistik und Italianistik in Berlin, Dresden, Paris und Pisa. 2007 Promotion an der Humboldt Universität zu Berlin mit einer Arbeit zum Thema „Wissenschaft, Ästhetik und Religion in Bernardin de Saint-Pierres Études de la nature“ (Publikation in Vorbereitung). Forschungsschwerpunkte: Wissensgeschichte und Literatur von der Renaissance bis zur Aufklärung, literarische Topologien und Topografien. Derzeit Habilitationsprojekt zum Thema „Inseln: zu einer Raumstruktur in der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ (Arbeitstitel). Helke Kuhn, M.A., 1971 in Hannover geboren, lebt in Berlin und arbeitet als Wissenschaftliche Angestellte am Lehrstuhl der Galloromanistik an der Universität Stuttgart. Außerdem ist sie Lehrbeauftragte am Institut für Französische Linguistik sowie für Französische Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Ihren Magisterabschluss erwarb sie im Dezember 2002 bei Frau Prof. Monika Walter (Französische Philologie) und Frau Prof. Sigrid Weigel (Germanistik). Zurzeit (im Erziehungsurlaub und) promovierend über Édouard Glissant. Prof. Dr. Ralph Ludwig, seit 1995 Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Forschungsprojekte zu Lateinamerika und zur Frankophonie. Verschiedene Publikationen zu Sprachen und Literaturen der Frankokaribik und von Mauritius, u.a. Écrire la „parole de nuit“ - la nouvelle littérature antillaise. Nouvelles, poèmes et réflexions poétiques, (Edition und Einleitung), Paris 1994/ 1997/ 2002; Kreolsprachen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Zur Syntax und Pragmatik atlantischer Kreolsprachen auf französischer Basis, Tübingen 1996; Corpus créole. Textes oraux dominicais, guadeloupéens, guyanais, haïtiens, mauriciens et seychellois, (mit S. Telchid/ F. Bruneau-Ludwig, in Zusammenarbeit mit St. Pfän- Beiträgerinnen und Beiträger 241 der/ D. de Robillard), Hamburg 2001; Frankokaribische Literatur. Eine Einführung, Tübingen 2008; Multiple Identities in Action: Mauritius and some Antillean Parallelisms, (ed. mit V. Hookoomsing/ B. Schnepel), Frankfurt a. M. 2009. Dr. Gesine Müller, geb. 1973, Studium der Romanistik, Germanistik und Theologie in Freiburg, Bogotá, Mexiko-Stadt, Münster; Promotion 2003; 2005 bis 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Kulturwissenschaft (Spanisch, Französisch) am Institut für Romanistik der Universität Halle; seit 2008 Leiterin der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe (DFG) „Transkoloniale Karibik“ am Institut für Romanistik der Universität Potsdam. Forschungsschwerpunkte: Hispanoamerikanische Gegenwartsliteraturen (Mexiko und Kolumbien), Frankophone und hispanophone Literaturen der Karibik im 19. Jahrhundert. Publikationen u.a.: Die „Boom“-Autoren heute. García Márquez, Fuentes, Vargas Llosa, Donoso und ihr Abschied von den „großen identitätsstiftenden Entwürfen“, Frankfurt: Vervuert 2004. Prof. Dr. Véronique Porra, geb. 1966. Studium der Germanistik, Romanistik und Komparatistik an den Universitäten Limoges und Bayreuth. Promotion 1994. Habilitation 2000. Seit 2002 Professorin für Neuere Französische Literaturwissenschaft unter Berücksichtigung der Frankophonie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Veröffentlichungen: L’Afrique dans les relations franco-allemandes entre les deux guerres. Enjeux identitaires des discours littéraires et de leur réception, Frankfurt a. M.: IKO-Verlag 1995; zahlreiche Herausgeberschaften und wissenschaftliche Aufsätze zu den frankophonen Literaturen und den Literaturen der Migration in Frankreich und Quebec; „Langue française, langue d’adoption: une littérature ,invitée‘ entre création, stratégies et contraintes“ (in Vorbereitung). Arbeitsschwerpunkte: frankophone Literaturen, Literaturen der Migration, Literatur und Globalisierung, Literatur- und Rezeptionssoziologie. Dr. Beatrice Schuchardt, geb. 1976, ist Assistentin an der Universität Siegen und lehrt dort französische und spanische Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft. Ihr Habilitationsprojekt widmet sich anhand von Reiseberichten des 19. Jahrhunderts kulturellen und medialen Grenzüberschreitungen zwischen den Hemisphären der Amerikas. Ihre weiteren Forschungsschwerpunkte sind postkoloniale Geschichtsdarstellungen in der zeitgenössischen maghrebinischen und frankokanadischen Literatur, Elemente des Pikaresken in französischen und spanischen Hippie-Reiseberichten, Facetten literarischer Bildlichkeit in der spanischen Literatur des 19. Jahrhunderts sowie diskursive Aneignungen des Werks Frida Kahlos. Ihre als Stipendiatin des Düsseldorfer DFG-Graduiertenkollegs „Europäische Geschichtsdarstellungen“ entstandene Dissertation Schreiben auf der Grenze. Postkoloniale Geschichtsbilder bei Assia Djebar ist 2006 erschienen. Beiträgerinnen und Beiträger 242 Dr. Susanne Stemmler ist Leiterin des Bereiches Literatur, Gesellschaft und Wissenschaft am Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Sie studierte romanistische Literatur- und Kulturwissenschaft in Düsseldorf und Montpellier. 2004 promovierte sie zum Thema Topografien des Blicks. Eine Phänomenologie literarischer Orientalismen des 19. Jahrhunderts in Frankreich. Von 1997 bis 2004 lehrte sie an der Universität Düsseldorf Romanistik sowie Medien- und Kulturwissenschaft; von 2005 bis 2007 war sie Postdoc Fellow der DFG am Center for Metropolitan Studies in Berlin und Visiting Fellow u.a. an der Columbia University in New York. Sie ist Mitherausgeberin u.a. von Hip- Hop und Rap in romanischen Sprachwelten. Stationen einer globalen Musikkultur (2007), New York Berlin - Kulturen der Stadt (2008), Metropolen im Maßstab. Stadtpläne als Matrix des Erzählens in Literatur, Kunst und Film (2009) und 1989 - Globale Geschichten (2009), ferner Autorin von Aufsätzen zu urbaner Kultur und transkulturellen Prozessen in der Romania. Dr. Karen Struve, geb. 1977, Magisterstudium der Romanistik und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen. 2004-2007 Stipendiatin im interdisziplinären Doktorandenkolleg „Prozessualität in transkulturellen Kontexten: Dynamik und Resistenz“ an der Universität Bremen, seitdem Lehrbeauftragte an der Universität Bremen, freie Autorin, Lektorin und Wissenschaftscoach. Publikationen u.a.: Les artistes de l’intime, Münster: LIT 2005; Von der Wirklichkeit zur Wissenschaft (ed. mit C. Solte-Gresser/ N. Ueckmann), Münster: LIT 2005; Écritures transculturelles (ed. mit G. Febel/ N. Ueckmann), Tübingen: Narr 2007. Dissertationsschrift: Écriture transculturelle beur. Die Beur-Literatur als Laboratorium transkultureller Identitätsfiktionen, Tübingen: Narr 2009, ausgezeichnet mit dem Prix Germaine de Staël 2008. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Französische und frankophone Gegenwartsliteraturen; poststrukturalistische und postkoloniale Literatur- und Kulturtheorien; Identitäts-, Geschichts- und Raumkonstruktionen in der Literatur. Prof. Dr. Jörg Türschmann, Professor für Romanische Philologie, Universität Wien. Publikationen zur spanischen und französischen Literatur, zu Geschichte und Theorie von Film- und Fernsehen, u.a.: Film - Musik - Filmbeschreibung, Münster 1994; Serialität. Eine Geschichte der Zäsurtechniken in Literatur und Film, Berlin 2010 (in Vorbereitung); Eine Literatur für den Leser, Bonn 2003, (ed.); Medienbilder, Hamburg 2001 (ed. mit A. Paatz); Miradas glocales. Cine español en el cambio de milenio, Frankfurt a. M. 2007 (ed. mit B. Pohl); Das Ricœur-Experiment. Die Mimesis der Zeit in Literatur und Film, Tübingen 2009 (ed. mit W. Aichinger, in Vorbereitung); Rive Gauche - Paris as a site of avant-garde and cultural exchange in the 1920s, Amsterdam 2009 (ed. mit C. Mettinger, M. Rubik). Beiträgerinnen und Beiträger 243 Dr. Urs Urban, geb. 1974, Studium der Romanistik und Germanistik in Düsseldorf und Wien, 2001-2003 Stipendiat des Trierer Graduiertenkollegs „Identität und Differenz“, 2005 Promotion, mehrjährige Lehrtätigkeit in Romanistik und Medien- und Kulturwissenschaft. 2008 Zweites Staatsexamen, zurzeit DAAD-Lektor in Straßburg. Arbeitsschwerpunkte: zeitgenössische französische und frankophone Literatur, Literaturtheorie und Kulturwissenschaft, gender und queer studies, postcolonial studies, Raumtheorie. Veröffentlichungen: „In der Kammer. Die Verortung der Homosexualität bei Proust“, in: U. Link-Heer et al. (eds.): Literarische Gendertheorie, Bielefeld 2006; Der Raum des Anderen und Andere Räume. 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