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Facetten des Kriminalromans

2015
978-3-8233-7946-1
Gunter Narr Verlag 
Eva Parra-Membrives
Wolfgang Brylla

Der Kriminalroman ist en vogue. Schon ein flüchtiger Blick auf die Bestsellerlisten reicht, um sich der Popularität der Gattung bewusst zu werden. Trotzdem wird der Krimi von den Literatur- bzw. Kultur- oder Medienwissenschaftlern immer noch als bloße Unterhaltungs- und Trivialware angesehen, der ein gewisser schematischer Strukturaufbau zugrunde liegt. Als Kitschliteratur in die Ecke der Belletristik verbannt macht vor allem die Literaturforschung immer noch einen großen Bogen um das Genre. Nach wie vor scheint der vielsagende Satz von Richard Alewyn zu gelten, der Ende der 1960er Jahre konstatierte: "Das Lesen von Detektivromanen gehört zu den Dingen, die man zwar gerne tut, von denen man aber nicht gern spricht." Dieser Band greift die Frage nach dem entgegen aller Erwartungen weit gefassten, von Vielfalt und Verschiedenartigkeit getragenen Gesamtbild des Krimis auf und bietet eine literaturwissenschaftliche Unter suchung des Variantenreichtums der Gattung.

Eva Parra-Membrives / Wolfgang Brylla (Hrsg.) Facetten des Kriminalromans Ein Genre zwischen Tradition und Innovation Popular Fiction Studies 3 Facetten des Kriminalromans Popular Fiction Studies herausgegeben von Eva Parra-Membrives und Albrecht Classen Band 3 Eva Parra-Membrives / Wolfgang Brylla (Hrsg.) Facetten des Kriminalromans Ein Genre zwischen Tradition und Innovation Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Mitfinanziert über Mittel der Universität Zielona Góra. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 2197-6392 ISBN 978-3-8233-6946-2 Inhaltsverzeichnis Wolfgang Brylla Statt eines Vorwortes Krimis sind eben nicht nur Krimis.................................................................................7 TEIL I: GESCHICHTE IM KRIMI, KRIMI IN GESCHICHTE Cezary Lipiński Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum Überlegungen zu Karl von Holteis Ein Mord in Riga (1855).....................................27 Paul Martin Langner Der Reiz des Unbekannten im Bekannten Zum historischen Kriminalroman Rungholts Erbe von Derek Meister (2006).......................................................................................................51 Adam Sobek Quest Kreisförmiges Handlungsschema in Simone Tives’ Kriminalroman Die Tage des Saturn und Hans Dieter Stövers Tödliche Dosis.....................................63 Joanna Wołowska Die Aufklärung des Verbrechens liegt in der „Geschichte“ der DDR Am Beispiel der Romane von Anne Chaplet, Christian v. Ditfurth und Elisabeth Herrmann................................................................................................79 TEIL II: REGIONALKRIMIS AUF DER SUCHE Urszula Bonter Stadt - Land - Mord Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis.........................91 Maike Schmidt Berlin-Krimis seit 2000 Von der Metropole zur Provinz..................................................................................103 Rafał Biskup Zwischen Kriminalkomödie und Regionalidentität Kömisorz Hanusik von Marcin Melon..........................................................................119 Anna Volk Adaptationen von regionalen Krimis im Fernsehen Das Beispiel Wilsberg.....................................................................................................131 Inhaltsverzeichnis 6 TEIL III: EIN SPIEL MIT DER KONVENTION: ANTIKRIMI Jürgen Joachimsthaler Krimi - Antikrimi - Metakrimi Joachim Maass: Der Fall Gouffé....................................................................................143 Andrey Kotin Das Böse der Banalität Vladimir Nabokovs König, Dame, Bube als künstlerischer Antikrimi....................161 TEIL IV: DAS VERBRECHEN VON HEUTE Agnieszka Dylewska Ein Krimi ohne Auflösung? Zu Inka Pareis Roman Was Dunkelheit war................................................................175 Gerda Nogal (Selbst)Reflexion des Schreibprozesses zwischen Krimi- und Komikansätzen Zu Birgit Vanderbekes abgehängt (2002).....................................................................189 Wolfgang Brylla Ist der Detektiv passé? Narrative Ermittlung des Selbstmordes in Rainer Wocheles Novelle Der Flieger........................................................................................................203 Jan-Moritz Werk „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ Die Kurzgeschichten von Ferdinand von Schirach..................................................219 TEIL V: INTERVIEW Wolfgang Brylla „Kriminalromane sind das vielseitigste Genre überhaupt“ Gespräch mit Susanne Goga-Klinkenberg................................................................231 Autorenverzeichnis......................................................................................................239 Wolfgang Brylla Statt eines Vorwortes Krimis sind eben nicht nur Krimis Würde man einen Durchschnittsleser oder -fernsehzuschauer, ja sogar einen Laien, darum bitten, einen Kriminalroman von anderen literarischen Gattungen abzugrenzen und einige charakteristische Merkmale dieser Prosavariante zu nennen, hätten die meisten Befragten mit solcher Aufgabenstellung keine größeren Probleme. Nach kurzem Überlegen würden solche stichwortartige, bündige Antworten fallen wie Verbrechen, Mord, Geheimnistuerei, Detektiv, Ermittlung, Sieg des Guten über das Böse oder Falllösung. Krimis seien einfach Krimis und können ohne terminologische oder heuristische Schwierigkeiten als solche dingfest gemacht werden. Ihre Grundform sei leicht identifizierbar, wie es Ulrich Suerbaum konstatiert 1 , und benötige keine ausgeklügelten theoretischen Ansätze und deskriptiven Analysemethoden, damit man sie fach- und gattungsspezifisch definiert 2 . Auch ohne das Vorwissen und Vorkenntnisse, was einen Kriminalroman zum Kriminalroman macht, welche Bedingungen erfüllt oder auch nicht erfüllt werden müssen, welches sich immer wiederholende Erzählschema in den Krimitexten dominiert, lässt sich ein Krimi ohne weiteres aus dem Dickicht anderer diverser populärer Genres herauspicken und als solcher erfassen. Und weil die Verbrechensliteratur schon seit ihrem Anfang - in der Regel vertritt man die Meinung, dass der heutige Kriminalroman seine Wurzeln in der Dichtkunst von E.T.A. Hoffmann oder Wilkie Collins und auf jeden Fall von E.A. 1 Vgl. Ulrich Suerbaum, Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart, Reclam, 1984, S. 11. 2 „[…] niemand hat in der Praxis ernsthafte Probleme mit der Abgrenzung des Krimis von Nicht-Krimis“ (ebd.). Gleichzeitig weiß Suerbaum zu betonen, dass die Schwierigkeiten bei der Definierung durchaus vorhanden seien, und zwar in Bezug auf das „Benennen der kennzeichnenden Grundeigenschaften als auch bei der Abgrenzung zu benachbarten Phänomenen und bei der Entscheidung darüber, ob der Krimi als geschlossene oder >gefesselte< Gattung zu betrachten sei oder aber offene Grenzen habe“ (ebd., S. 13). Mit dem Verweis auf die Gefesseltheit bzw. Offenheit des Genres macht er ein sehr weites Feld auf, mit dem sich unter anderem Suerbaum selbst (Ulrich Suerbaum, „Der gefesselte Detektivroman. Ein gattungstheoretischer Versuch“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 84-96) oder Ulrich Broich („Der entfesselte Detektivroman“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 97- 110) beschäftigten. In Fokus gerät dabei vor allem das Erzählarrangement des Kriminalromans. Wolfgang Brylla 8 Poe hat 3 , wobei schon in der Antike und im Mittelalter krimiähnliche Plots entstanden sind, wo dem Verbrechen gehuldigt wurde 4 - sich großer Beliebtheit erfreute und zu der meistgelesenen (Pflicht-)Lektüre überhaupt wurde, nimmt es kaum wunder, dass der Detektiv- und später der Kriminalroman quasi auf dem Index der Literaturwissenschaft, im Niemandsland der Literaturforschung landete 5 . Zumindest im deutschsprachigen Raum galt eine ernsthafte, auf Forschungsergebnisse ausgerichtete Beschäftigung mit dem Krimi als verpönt. Krimis las man zwar gerne, aber gleichzeitig sprach man darüber sehr ungern 6 . Richard Alewyn brachte diese Dipoligkeit hervorragend auf den Punkt, wenn er als einer der ersten Literaturwissenschaftler, die sich mit dem Krimi befassten, Notiz von solch einer Polarität nahm, die der Gattung für Jahrzehnte zum Verhängnis wurde 7 . Obwohl schon vor dem Zweiten Weltkrieg, in dem sogenannten Goldenen Zeitalter, dem Golden Age der englischen Autoren wie Dorothy L. Sayers oder Agatha Christie, die Millionen von Exemplaren ihrer Detektivtexte verkauften, Bertolt Brecht 8 oder Siegfried Kracauer 9 auf das Phänomen des Siegeszuges des Detektivromans in concreto zu sprechen kamen, wurde der Krimi als Abfallprodukt des literarischen Marktes wahrgenommen, dem Kitschigkeit und Trivialität zugrunde lagen. Als Schemen- und Foliendichtung abgestempelt versank der Krimi in der literaturwissenschaftlichen Versenkung und wurde stiefmütterlich behandelt. Alle Krimis wurden sozusagen über einen Kamm geschoren und in die (Konsum-)Ecke des Banalen und der Plattitüde gedrängt; es wurde kaum versucht, in der großen Bandbreite an 3 In der Kriminalliteraturforschung unterscheidet man in der Regel zwischen der sogenannten Verbrecherbzw. Verbrechensliteratur und der Kriminalliteratur. Die Verbrechensliteratur wird meistens als Vorstufe, als Vorläufer der Detektivprosa angesehen (vgl. dazu Richard Gerber, „Verbrechensdichtung und Kriminalroman“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 73-83; Ernest Mandel, Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans, Frankfurt/ M., Athenäum, 1987, S. 11-21; Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart, Metzler, 2003, S. 1-7). 4 Siehe: Suerbaum, Krimi, S. 30-34. 5 Die Indizierung des Kriminalromans hängt auch von seinem Massencharakter ab. Harry Proll argumentiert, dass dem Krimi es „vollkommen fern“ liege, „irgendwie bewußt gesellschaftskritisch zu sein“. Er begnüge sich damit, „die bestehende gesellschaftliche bürgerliche Ideologie leise und harmlos zu stützen und aufrecht zu erhalten“ (Harry Proll, „Die Wirkung der Kriminalromane“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman II. München, W. Fink, 1971, S. 500-515, hier S. 502) und dementsprechend widerspiegele er nur das (kollektive) Massenbewusstsein. 6 Vgl. Richard Alewyn, „Anatomie des Detektivromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 52-72, hier S. 52. 7 Ebd. 8 Bertolt Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 33-37. 9 Siegfried Kracauer, Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat, Frankfurt/ M., Suhrkamp 1971. Statt eines Vorwortes 9 Kriminaltexten noch eine Subklassifikation zu verabschieden, die auf dem Prinzip des Ästhetischen beruhend schlechte von guten Krimis differenzieren würde. „Die eigentliche Tragik des guten Kriminalromans ist, daß man ihn lesen muß, um ihn vom schlechten, der nur die Form und die Spannungselemente verwendet, unterscheiden zu können“ 10 , stellte Karl Andres fest, der in diesem Zusammenhang mehr oder weniger erneut auf die in Deutschland eingebürgerte Unterscheidung zwischen der H-Kunst, also der guten, und der U-Kunst, also der schlechten, der unterhaltsamen referierte 11 . In England oder in den USA wirkt solche Praxis, die auf der Trennung der hohen Literatur von der Unterhaltungsliteratur basieren würde, weitgehend deplatziert. Dahingegen wird in Deutschland, auch im 21. Jahrhundert, immer gerne auf die Kluft zwischen beiden Kultur- und Kunstformen verwiesen. Dass der Krimi unter dem Lable der Unterhaltung subsumiert wird, hängt nicht nur von der von den Krimiautoren bevorzugten Themenpalette ab, sondern, wenn nicht vor allem, von der Erzählstruktur, die sich an zementierten Schreibgesetzen, an die sich die Schriftsteller halten müssen bzw. mussten, orientiert. Eben am Bauwesen, an der Erzählkonstruktion der Kriminalromane scheiden sich sprichwörtlich die Geister. Einerseits wird das kriminalistische Regelwerk, das die Krimierzähler vorserviert bekommen, hochgepriesen 12 , andererseits wird es ausgelacht, verhöhnt und als Symbol der Schablonenhaftigkeit, der Ideenlosigkeit, der Eingegrenztheit und der literarischen Banalität angesehen 13 , was natürlicherweise mit den hochgesteckten Zielen der Hohen Kunst nicht in Einklang zu bringen ist 14 . Der Kriminalroman in toto - unter diesem Begriff werden alle ‚Erzeugnisse‘ der Verbrechensprosa aufgefasst wie der Detektivroman, der ameri- 10 Karl Andres, „Der Kriminalroman“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman II. München, W. Fink, 1971, S. 533-544, hier S. 539. 11 Mehr zu der hohen und niedrigen Kunst in Arthur C. Danto, „Hohe Kunst, niedrige Kunst und der Geist der Geschichte“, in Arthur C. Danto, Kunst nach dem Ende der Kunst. München, W. Fink 1996, S. 176-191; Thomas Hecken (Hrsg.), Der Reiz des Trivialen, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1997; Niels Werber, Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1992, S. 29 ff. 12 Vgl. Helmut Heißenbüttel, „Spielregeln des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 111-120; Tzvetan Todorov, „Typologie des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 208-215. 13 Vgl. Kathleen Gregory Klein; Joseph Keller, „Der deduktive Detektivroman: Ein Genre, das sich selbst zerstört”, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 428-443. 14 Dietrich Naumann („Zur Typologie des Kriminalromans“, in Viktor Žmegač (Hrsg.), Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Kriminalromans. Frankfurt/ M., Athenäum, 1971, S. 241-261, hier S. 248) bemerkt beispielsweise im Rückblick auf den deutschen Kriminalroman, dass er sich niemals aus der „Verflechtung mit anderen Sparten der Trivialliteratur“ lösen konnte. Wolfgang Brylla 10 kanische Hardboiled-Roman, der Thriller oder der Anti-Krimi - muss schlichtweg ein minimales repetierendes Erzählgerüst vorweisen, das für die ganze Gattung tragbar und konstitutiv erscheint. Es handelt sich dabei um den in der Fachliteratur viel zitierten Dreierschritt, den man in drei lineare Handlungs- und Erzählphasen unterteilen könnte: 1) die Mord- oder Verbrechensphase, 2) die Ermittlungsphase, und 3) die Lösungsphase 15 . Oder anders gewendet: der Krimi fängt mit einer gesetzeswidrigen Tat an (1), die im Laufe der Erzählung von einer Ermittlerfigur (Detektiv, Polizei etc.) während der Fahndung rekonstruiert wird (2), bevor zum Schluss die Schuldigen überführt und die heile Welt vor dem begangenen Verbrechen wiederhergestellt wird (3). Auf diesen besagten drei Bausäulen fußt fast jede crime fiction, die zur Krimigattungsfamilie gehört. Und diese drei Bausäulen brachten dem Krimi den Vorwurf des Schematismus und der Plattheit ein. „Schema ist gesund“ 16 , bekannte Brecht, der großer Krimileser und auch -liebhaber war, für den die Detektivgeschichten ein „intellektuelle[r] Genuß“ gewesen sind 17 . Laut Brecht liege die Stärke und nicht die Schwäche der Krimiliteratur eben in ihrer Schablonenmontur, in ihrer grundsätzlichen ‚Musterhaftigkeit‘, die allerdings einem ständigen Prozess der Variabilität unterliege. Krimis seien nicht gänzlich im klischeehaften Raster verfangen, sondern nutzen die möglichen Schemata aus, die variiert und modifiziert werden, um etwas Neues - im Rahmen der Erzählmöglichkeiten - zu erschaffen. Alida Bremer betont in ihrer Gattungsstudie im Rückgriff auf Claus Reinert, dass dem Krimi ein untastbarer „Kern“ 18 innewohne; die Autoren würden eine „Doppel-‚Strategie‘“ fahren 19 , indem sie bewusst auf den Leitsatz des motivischen und handlungsausgerichteten Krimikerns rekurrieren und parallel dazu mit ihm spielen. Solch ein Spiel, solch eine Herangehensweise erzeuge Spannung, die für den Krimi elementar und überlebenswichtig ist und den Leseerfolg verspricht. Je mehr Leichen, je mehr Verbrechen, je mehr Spannung, desto größer der Widerhall vonseiten der Leserschaft, desto höhere Verkaufszahlen 20 . Krimis werden oft als Span- 15 Nusser, Der Kriminalroman, S. 22 ff. 16 Bertolt Brecht, „Glossen über Kriminalromane“, in Bertolt Brecht, Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1. Berlin; Weimar, Aufbau, 1966, S. 32. 17 Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromans“, S. 35. 18 Alida Bremer, Kriminalistische Dekonstruktion. Zur Poetik der postmodernen Kriminalromane, Würzburg, Königshausen & Neumann, 1999, S. 54. 19 Vgl. ebd., S. 11. 20 „Man neigt zu der Feststellung, daß der Kriminalroman wohl eine Art. Ventil darstelle, durch das gewisse uralte menschliche Instinkte und Triebkräfte harmlos und gefahrlos abreagiert werden könnten. […] Zu ihrer Befriedigung scheit nun der Kriminalroman beizutragen, der diese Urprobleme widerspiegelt, der alten Sehnsucht der Menschen nach Aufspürung und Auflösung der Welträtsel entgegenkommt und dadurch dem Bedürfnis breiter Massen weitgehend entspricht“ (Rudolf Röder, „Zur Frage des Kri- Statt eines Vorwortes 11 nungsliteratur deklariert - und auch diskreditiert - und somit werden sie nicht selten in das enge Kostüm der Abenteuerromane, die nicht belehren, sondern nur unterhalten wollen und demnach dem Aufruf von Horaz nach prodesse et delectare nicht nachkommen, gesteckt. Zwar sind Kriminalromane auch Abenteuerromane 21 , sie übernehmen allerdings eine zusätzliche Funktion statt nur die Gemüter zu erheitern und ihnen eine lockere, leichte Lesekost anzubieten. Jochen Vogt, der sich mehrmals in den krimipoetischen Diskurs einmischte, bemerkt, dass Krimis als „primitives Lesefutter“ betrachtet und auf diesem Wege marginalisiert wurden 22 . Schon Kracauer deutete auf das Anti- Kunstwerk-Profil des Detektivromans hin mit dem Vermerk, dass es vielmehr ein wahres, reines „Antlitz“ der entwirklichten Gesellschaft sei 23 . Der Krimi verfüge über die Potenz einer „wahrhaft mimetischer Kunst“, so Bart Keunen 24 , mit der man die Außenwelt, die Realität, die Wirklichkeit am besten widerspiegeln und auf die Systemmechanismen, auf die sozialen Missstände, auf die Ungerechtigkeit aufmerksam machen kann. Man könnte sogar die Behauptung wagen, der Krimi sei häufig mimetischer als die Mimesis selbst, denn aufgrund seiner Erzählarchitektur und Darstellungsart des Verbrechens ist er am nächsten imstande, die Erzählung der Welt in die Erzählung der Worte - oder in die Erzählung des Mordes - umzugestalten, zu transferieren 25 . Überraschen kann der Mimesis-Vermerk im Konnex mit dem Kriminalroman nicht, denn die Gattung hat ihren Ursprung in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, d.h. in Zeiten, als die Welt sich rasant schnell in Folge der Industrialisierung, Technologisierung und Verstädterung entwickelte. Mit dem Zuwachs und Ausbau von Städten, die sich zu Metropolen gemausert haben, ist allerdings gleichzeitig auch die Kriminalitätsrate gestiegen. Ernest Mandel beispielsweise verbindet den Aufschwung des Krimis mit dem Fortschritt der bürgerlichen Ideologie 26 . Für das sich emanzipierende und immer reicher werdende (reale) Bürgertum hatte der Schutz, die Verteidigung des Eigentums die allerhöchste Prio- minalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman II. München, W. Fink, 1971, S. 523-527, hier S. 524). 21 Vgl. Naumann, „Zur Typologie“, S. 248. 22 Jochen Vogt, „Krimi-international“, in Der Deutschunterricht: Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung, 2 (2007), S. 2-6, hier S. 2. 23 Kracauer, Der Detektiv-Roman, S. 22. 24 Bart Keunen, „Der Großstadtkrimi und die Diagnose der Modernität. Emotionaler und moralischer Raum in einer ‚Welt der Lügen und des Überlebens‘“, in Matteo Colombi (Hrsg.), Stadt - Mord - Ordnung. Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa. Bielefeld, transcript, 2012, S. 29-53, hier S. 51. 25 Siehe dazu Klaus Inderthal, „Selbstgemachte Notwendigkeit. Zur Geschichte und Theorie einer populären Prosa: Detektiv- und Kriminalliteratur“, in Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. München, W. Fink, 1978, S. 20-57, hier S. 55. 26 Mandel, Ein schöner Mord, S. 144. Wolfgang Brylla 12 rität. Der Besitz musste vor den Dieben beschützt werden, für diese Aufgabe brauchte man einen Ordnungshüter, der für die Einhaltung der Rechtsnormen grade stehen würde. Aus diesem Grund sind erst im 19. Jahrhundert in den europäischen Großstädten wie London, Paris oder Berlin entsprechende Ermittlungsbehörden ins Leben gerufen worden 27 . Wenn früher Ganoven und (Klein-)Verbrecher als lokale oder nationale Helden gefeiert wurden - erinnert sei nur an Robin Hood -, weil sie mit ihren Taten die gesellschaftliche Ordnung und das regierende System angriffen und zersetzten 28 , wurden sie im Zeitalter der Dampfmaschine und Eisenbahn als Störenfriede Nonplusultra verachtet. Die Institution der Polizei sollte die Halunken zur Strecke und hinter Gitter bringen. Die Aufdeckungsrate ließ anfangs noch viel zu wünschen übrig, die Verbrecher wogen sich in Sicherheit vor den Polizisten und dem Gesetz, die zwar die Handhabe besaßen, aber nicht die nötige Fachkompetenz, um die Delinquenten, geschweige denn die Schwerverbrecher und die Gangster aus dem Verkehr zu ziehen. Auf den Plan trat somit die Figur des Privatbzw. Amateurdetektivs, die nur mit logischem, rationalem Denken die Kriminellen noch vor den im Dunkeln tappenden Polizeitrupps aufspürte. Das Ressort der Polizei, wie des Scottland Yard bei A.C. Doyle, wurde meistens als Dilletantenhaufen konturiert 29 . Sherlock Holmes, Hercules Poirot, Lord Peter Wimsey oder Pater Brown bedienten sich auf ihrer Verbrecher- und Ermittlungstour des Rationalitätsapparates - alles konnte und sollte mit der Macht des Gehirns und der Vernunft, mit der Kraft der Deduktion erläutert, erklärt und gelöst werden. Das aufklärerische Credo der Ratio 30 fand Eingang in die Welt der crime-Dichtung der ersten Stunde. Auch hinter den abstrusesten und absurdesten Verbrechen, die von den bizarrsten und unglaubhaftesten Gestalten verübt wurden, musste stets ein rationaler Keim zu erkennen sein. In dieser Zeit wurden von der Schriftstellergilde erste Schreibvorschriften für die - hauptwiegend englischen - Autoren proklamiert. Ronald A. Knox 31 und S.S. van Dine 32 stellten ihre 27 Vgl. Nusser, Der Kriminalroman, S. 66 ff. 28 Eine sehr ähnliche Entwicklung ist auch in den 1920er und 30er Jahren in den USA zu erblicken, als die Gangsterbanden in der Prohibitionszeit sich untereinander und mit der überforderten Polizei Straßenkriege lieferten, die oft in einem Blutbad endeten. Ganoven, Bankräuber und Massenmörder wurden von der Presse zu schlauen Draufgängern hochstilisiert (erinnert sei nur an Bonny & Clyde). In wirtschaftsschwachen Zeiten schienen die Verbrecher die Gunst der Stunde ausgenutzt und die Öffentlichkeit für sich gewonnen zu haben, da sie nicht als diejenigen, die morden und töten, gebrandmarkt, sondern als diejenigen, die gegen das ungerechte Gesetz und das kranke ausbeutende System kämpften, zu Ikonen des Widerstandes verklärt wurden. 29 Vgl. Suerbaum, Krimi, S. 52 f. 30 Vgl. Nusser, Der Kriminalroman, S. 69 ff. 31 Ronald A. Knox, „Detective Story Decalogue”, in Robin W. Winks (Hrsg.), Detective Fiction: A Collection of Critical Essays. Woodstock, Countryman Press, 1988, S. 200-202. Statt eines Vorwortes 13 Kodizes vor, in der quasi der Werdegang der Hauptfiguren aus dem Romankosmos schon vorprogrammiert war: der Mörder durfte nicht von außerhalb der Figurenpersonnage stammen, sondern musste schon zu Beginn in die Handlung mit einintegriert werden; dem Leser durften keine falschen Informationen, Anzeichen, Signale vermittelt werden, weil, zumindest theoretisch, der Rezipient auch die Chance haben sollte, seine eigene Ermittlungsprozedur auf die Beine zu stellen und den Täter anhand von Indizien und logischem Denkvermögen ohne Hilfe des Detektivs zu entlarven. Allerdings war es möglich, sich indirekt über die Regeln hinwegzusetzen und dem Leser „die Wahrheit so zu sagen, daß der intelligente Leser dazu verleitet wird, sich selbst eine Lüge vorzusetzen“ 33 . Letztendlich jedoch war für Sayers & Co. das Fair Play von größter Bedeutung 34 . Dieses Fair Play bestand in der Strategie der richtigen Dosierung von „planmäßiger Verdunkelung“ und „planmäßiger Erhellung“ 35 . Zwischen Verdunkelung und Erhellung, zwischen Dichtmachen/ Unsichtbarmachen und Erratung/ Lösung bewegten sich mit Blick auf den strukturellen Aufbau und die Themenauswahl alle Detektivromane, in denen aber der Leser meistens, obwohl er alle Hinweise und Beweise in der Hand hielt, niemals den Tatverdächtigen aufdecken konnte. Zu brillant und zu perfekt waren die Verbrechensstories in ihrem engen Regelkorsett durchdacht und (durch-)konstruiert, in denen es auf den kleinsten Gegenstand, auf das kleinste sprachliche, verbale Detail ankam. Doyle war bspw. Meister in der Legung von falschen Fährten, den sog. red herrings 36 , trotzdem aber verstieß er nicht gegen das Fair Play-Gebot. Die US-Spielart des Krimis, der Hartgesottenen-Krimi, setzte im Gegensatz zu ihren englischen Wegbereitern nicht auf die logische Entschlüsselung des Rätsels und die Zusammenreihung von auf dem ganzen Erzählfeld verstreuten Puzzleteilen. Im Detektivroman glich das Verbrechen einem Mystery, einem Geheimnis. Im Hardboiled ist das Verbrechen schlicht und ergreifend ein Verbrechen, hinter dem häufig das Organisierte Verbrechen, Gangstercliquen, korrumpierte Politiker und Polizeiwachtmeister stehen. Der Schwarze Krimi erneuerte die verkrustete europäische Gattungsform, indem er einen private eye, der in der Ich-Erzählweise von seinen Handlungen, Erlebnissen berichtete, der nebenbei dazu auch kein Heiliger war, einführte 37 . Im Crime 32 S.S. van Dine, „Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten”, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman I. München, W. Fink, 1971, S. 143-146. 33 Dorothy L. Sayers, „Aristoteles über Detektivgeschichten. Vorlesung in Oxford am 5. März 1935“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 13-22, hier S. 19. 34 „Daß der Autor selbst eine dicke Lüge auftischen soll, widerspricht allen Kunstregeln des Detektivromans“ (ebd.). 35 Nusser, Der Kriminalroman, S. 29. 36 Suerbaum, Krimi, S. 67. 37 Mehr dazu Fredric R. Jameson, „Über Raymond Chandler“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 378-397; Tom Wolfgang Brylla 14 Noir weist der Privatschnüffler mehr Ähnlichkeiten mit den Dieben als mit den Opfern auf. Hält sich der klassische Detektivroman an die Prämisse der Rekonstruktion des Geschehens, was im Endeffekt das Herausfinden, das Herausbringen des „Unerzählten“ und des „Vor-Geschichtehaften“ 38 impliziert und somit den Handlungsverlauf der Geschichte nicht auf das Ende, sondern auf den Anfang ummodelt - so kommt es zur Akzent- und Gewichtsverschiebung - wird im amerikanischen Krimi aus der Feder eines Raymond Chandler oder Dashiell Hammett vor allem der stete Gang nach vorne großgeschrieben. Statt rationalem Denken gibt es häufig unrationales Handeln 39 . Statt Tatortbesichtigung gibt es nur Ortserkundung 40 . Statt der Wiederherstellung der alten Ordnung gibt es die Überführung des Bösen in einer bösen Welt, die weiterhin böse bleibt. Der Detektiv ist kein Welt- und Menschheitsretter, er ist nur ein Tatortreiniger, ein (nicht selten brutaler) Verbrecherbeseitiger. Die aus den Fugen geratene Welt ist er nicht in der Lage zu verbessern und zu ändern, er kann nur die Ausmaße des Verbrechens nur kurze Zeit eingrenzen und eindämmen. Außer der Detektivgeschichte und dem Hardboiled kennt die Krimiforschung auch andere verschiedene Untergruppen von Texten, in deren Mittelpunkt sich die Suche nach dem Mörder/ Verbrecher bzw. die sündhafte Tat selbst befindet. Nach 1945 erlebte die Gattung wieder einen großen Boom. Aufgegriffen wurde die Idee des sogenannten Polizeikrimis, an dem sich mehr oder minder schon Georges Simenon abarbeitete 41 und der vom Duo Maj Sjöwall/ Per Wahllöö re-kodifiziert wurde 42 . Pierre Boileau und Thomas Narcejac, indem sie dem Detektivroman den „Bankrott des Denkens“ nachsagten 43 , setzten sich mit dem Bösen, dem Verbrechen aus der Sicht der Opfer oder auch der Täter auseinander. Die Verlagerung der Perspektiven vom Detektiv zum Schuldigen/ Opfer machte sich Patricia Highsmith zueigen in ihren Ripley-Geschichten 44 . Faszinierend erwies sich Zwaenepoel, Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur. Das populäre Krimigenre in der Literatur und im ZDF-Fernsehen, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2004, S. 106 ff. 38 Ernst Bloch, „Philosophische Ansicht des Detektivromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 38-51, hier S. 41. 39 Nusser, Der Kriminalroman, S. 118; Mandel, Ein schöner Mord, S. 96. 40 Suerbaum, Krimi, S. 146. 41 Vgl. Erhard Schütz, „Verbrechensals Verstehensprosa. Überlegungen anhand der ‚Simenon-Kur‘“, in Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. München, W. Fink 1978, S. 130-141. 42 Vgl. Heinz Hengst, „Von der Krimiwirklichkeit der Kriminalität zur Wirklichkeit der Kriminalität. Maj Sjöwall und Per Wahlöö zum Beispiel“, in Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. München, W. Fink 1978, S. 155-177; Zwaenepoel, Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur, S. 61-63. 43 Pierre Boileau; Thomas Narcejac, Der Detektivroman, Berlin; Neuwied, Luchterhand, 1967, S. 158. 44 Vgl. Suerbaum, Krimi, S. 188-195. Statt eines Vorwortes 15 nicht mehr die Marschroute des Ermittlers, sondern die üble Tat, das dämonische Verbrechen selbst, das nicht immer verurteilt und bestraft werden musste. Auch der Übeltäter musste nicht immer geschnappt und verhaftet werden, häufig konnte er aus dem Hinterhalt und vor der Verantwortung fliehen. Die semantische Verlegung vom Sieg des Guten zum Sieg des Bösen fand ihren Niederschlag in den Anti-Krimis von Friedrich Dürrenmatt, in denen das theoretische Denkgebäude, das Konzept und der Sinn der Kriminalromane in Zweifel gezogen wurden 45 . Mit ihren auf Dekonstruktion geeichten Glanzleistungen, die das Krimi-Handlungsgerippe torpedierten und in Frage stellten, verdeutlichten Dürrenmatt oder Alain Robbe-Grillet den Aspekt der Theoriemissbildungen in der literarischen Krimi(lese)welt. Klaus Inderthal gibt offen zu, dass es seines Erachtens keine Theorie des Kriminalromans gebe 46 . Worauf Inderthal seine Aufmerksamkeit lenkt, ist der Mangel, trotz schon existierender Schreibverfassungen, an einer wissenschaftlich belegten Theorie der Krimiliteratur. Und Inderthal behält insoweit Recht, als man statt von einer Theorie vielmehr von Theorien sprechen muss, was zu guter Letzt doch von ästhetischen Werten, die sich auf keine(n) begrifflichen Nenner bringen lassen, zeugt und in Wirklichkeit die Debatte um die Trivialitätsmakel des Krimis ad absurdum führen. Weder der heutige Kriminalroman noch die heutige Krimiforschung können, so der Eindruck, einen einheitlichen Theorieansatz vorlegen. In Erscheinung tritt stattdessen ein farbenfrohes - meistens ist es die Farbe des Blutes - Sammelsurium von unterschiedlichen krimiorientierten Projektionsflächen und Krimiabwandlungen, die die Vielfalt der Theorien, Zugänge und Herangehensweisen signalisieren. Vor allem in Bezug auf den deutschsprachigen Kriminalroman lässt sich die Tendenz zur Kombinatorik und Vermischung verzeichnen. Da der deutsche Krimi ein „spätes Phänomen“ sei 47 , so schlussfolgert Ulrike Götting, musste der Krimi, um auf dem Laufenden zu bleiben und im Rennen mit den großen Krimimächten aus Westeuropa oder den USA standzuhalten, auf Themenbereiche und innovative Erzählweisen zurückgreifen, oder sie erfinden, dank denen er sich von seinen ‚Widersachern‘ und Mitkonkurrenten hätte absetzen und abheben können. Anleihen machte der deutschsprachige Krimi in erster Linie bei dem 45 Siehe Mirko F. Schmidt, Der Anti-Detektivroman. Zwischen Identität und Erkenntnis, Paderborn, W. Fink, 2014; Wolfgang Brylla, „Bärlach der Loser. Zur Silhouette des Detektivs in Friedrich Dürrenmatts Der Verdacht“, in Estudios Filológicos Alemanes, Bd. 19, 2009, S. 187-196. 46 Inderthal, „Selbstgemachte Notwendigkeit“, S. 20. 47 Ulrike Götting, Der deutsche Kriminalroman zwischen 1945 und 1970. Formen und Tendenzen, Marburg, Tectum, 2000, S. 29; vgl. Wolf Dieter Lützen, „Der Krimi ist kein deutsches Genre. Momente und Stationen zur Genregeschichte der Krimiunterhaltung“, in Karl Ermert; Wolfgang Gast (Hrsg.), Der neue deutsche Kriminalroman: Beiträge zur Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres. Rehburg-Loccum, Evangelische Akademie Loccum 1985, S. 162-181. Wolfgang Brylla 16 Autorenpaar Sjöwall/ Wahlöö sowie dem Hardboiled, von denen er sich hat leiten lassen 48 . Sozialwichtige Probleme, die Mitschuld an der steigenden Kriminalitätsquote hatten, wurden zum einen mit dem Haudegen-Charisma eines Privatspürhundes verknüpft, zum anderen mit der routinierten Arbeit eines Polizeiteams. Beide Lager, auf Kollisionskurs nicht nur mit dem Verbrechen, sondern auch mit dem menschlichen (Problem-)Biotop, mussten sich in urbanen Krisengebieten zurechtfinden, in denen das Böse, eine Straftat, ein kriminelles Vergehen zur Tagesordnung gehörten. Die Gesellschaft in der (mentalen, wirtschaftlichen, politischen) Krise stellte sich als vortrefflicher Nährboden für die exzessive Aus- und Fortbildung von extremen Rechtswidrigkeiten heraus. In einer von Krisen gezeichneten Welt sind die Gelüste und Begierden nur mit einer Axt oder einer Pistole zu verwirklichen. Die Situation der sich anbahnenden Krise, die Kalamität des Alltagslebens und das Gefühl der Unsicherheit tropfte sowohl auf die (Möchtegern-) Verbrechertypen als auch auf die Polizei herab. Somit erzählt der Krimi die Geschichte einer Krise. Teresa L. Ebert zog den Schluss, dass die im Krimi auftauchende Krise im Kontext des Untergangs des patriarchalischen Weltkonstrukts zu sehen ist 49 , was vermutlich jedoch zu weit greift. Die Krise, die im modernen Kriminalroman zum Ausdruck kommt, lässt sich eher als Krise des (normativen) Engpasses begreifen. Schon in den 1940er Jahren stellte Roger Callois unter Hinweis auf den modernen Kriminalroman fest, dass er keinesfalls eine spannende und angsteinjagende Geschichte zutage fördern möchte, sondern ein Problem beschreibe 50 . Der Krimi raffte sich aus freien Stücken zum Problem auf. Weil er zur Hybridisierung, zur ‚Konfusion mit anderen Gattungen‘ neigt 51 , stellt er 48 Vgl. Wilhelm Roth, „Der Bürger als Verbrecher. Materialien zum deutschen Kriminalroman“, in Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. München, W. Fink 1978, S. 76-85; Wolfgang Brylla, „‚Chandlerisierung‘ des deutschen Kriminalromans. Zu Jacob Arjounis literarischem Krimikonzept“, in Estudios Filológicos Alemanes, Bd. 26, 2013, S. 551-566. Suerbaum stellt eine Gattungsbesonderheit des neuen deutschen Krimis heraus: der Kriminalroman fungiert als Auffangbecken von verschiedenen internationalen Trends, als Gemisch von disparaten ausländischen Krimiansätzen. Im deutschen Krimi lässt sich beobachten, „was geschieht, wenn aus anderen Ländern und Nationalkulturen importierte Formen, die ursprünglich deren Denk- und Sichtweisen reflektieren, mit neuen einheimischen Materialien gefüllt werden“ (Suerbaum, Krimi, S. 200-201). 49 Teresa L. Ebert, „Ermittlung des Phallus. Autorität, Ideologie und die Produktion patriarchaler Agenten im Kriminalroman“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 461-485, hier S. 461. 50 Roger Callois, „Der Kriminalroman oder: Wie sich der Verstand aus der Welt zurückzieht, um seine Spiele zu spielen, und wie darin dennoch die Probleme der Gesellschaft behandelt werden“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 157-180, hier S. 170. 51 Siehe: Edgar Marsch, Die Kriminalerzählung. Theorie - Geschichte - Analyse, München, Winkler, 1983, S. 18. Statt eines Vorwortes 17 erneut ein definitorisches Problem dar und sei demnach noch nicht entwickelt, obwohl Suerbaum Anfang der 1980er auf dem Gegenteil beharrte 52 . Wegen des Hangs zur Variabilität und zum Variantenreichtum ist der Krimiroman stets im Werden; er kann sich zwar im literarischen System nicht mehr aufs Neue erfinden, er wird allerdings stets ‚frisiert‘. Die Krise ist auf der einen Seite als als Krise der Narration zu bezeichnen, die durch dieselbe Narration mit alt bewährten Erzählmitteln, einer Prise Modernität und literarische Avantgarde behoben werden kann, behoben werden muss und auch behoben wird. Auf das Erzählmodell selbst und seine Abnutzungserscheinungen ist die Krise nicht zu beziehen umso mehr, als das Erzählschema weiterhin besteht und das Weiterleben der Gattung gewährleistet. Auf der anderen Seite jedoch lässt sich die Krise im Hinblick auf die thematische Reichweite der Krimis als Krise des Inhalts verstehen. Morde, Erpressungen, Kavaliersdelikte, Entführungen, Massenmorde, Serienmorde, sexuelle Gewalt, Kindermissbrauch etc. pp. - in der Krimiliteratur gibt es kaum eine Sphäre, die bis dato noch nicht angeschnitten wurde. Zum Gegenstand der Kriminalromane werden meistens schon bekannte Verbrechensformen, die allerdings auf eine neue, andere, sich unterscheidende Art und Weise erzählt werden müssen, damit die Leser nach zehn Seiten das Buch nicht in die Tonne werfen. Die Ebene der narrativen Vermittlung, der modus operandi des Erzählers, die Methode seiner Schilderung der detektivischen Ermittlung und die Durchforstung von unbekannten Räumlichkeiten des Verbrechens spielen im modernen Krimi eine kaum zu unterschätzende Rolle. Krimis hatten schon immer ‚erzählerische Ambitionen‘ 53 , aber wenn früher das Wie nur als Ambition abgetan wurde, dann ist in der Gegenwart das Wie für den Krimi ein Überlebensfaktor. Es reicht sich nicht nur auf den Blickpunkt des Fahndenden zu konzentrieren; die Sichtweisen müssen sich verändern, die Täter- und Opferperspektive müssen zu Rate gezogen werden, der Handlungstusch soll am besten durch das Privatleben der Hauptfiguren ausgefüllt und ausgeleuchtet werden. Krimis sollen sich nicht nur auf den Mord, das Verbrechen und die große Abschlussszene mit der Falllösung reduzieren. Krimis sollen als wirkliche Romane ausdiskutiert werden, die einiges über die Welt von heute, über die Gesellschaftsstruktur und über den Background sowie über den Grundmovens für das Verbrechen aussagen. Der polnische Literaturwissenschaftler Mariusz Czubaj, der auch Kri- 52 Suerbaum, Krimi, S. 211 („Es gibt derzeit keine eigentliche Entwicklung der Gattung. […] Wenn es eine Entwicklung gibt, die noch vor dem Abschluß steht, so ist es die des Akzeptiertwerdens […]“). 53 So postulierte Richard A. Freeman, einer der wichtigsten britischen Erzähler von Grusel- und Detektivgeschichten, dass eine „Detektivgeschichte in bezug auf erzählerisches Interesse und stilistisches Niveau nicht hinter irgendeiner anderen Prosagattung zurückstehen“ solle (zit. nach Zwaenepoel, Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur, S. 97). Wolfgang Brylla 18 minalromane veröffentlicht, meint, dass der Krimi einen wichtigen Bestandteil des gegenwärtigen Kulturmodells bilde 54 . In der Welt des Verbrechens zu sein bedeutet gleichzeitig in der Welt der Kultur zu sein. Beide Pole sind für Czubaj fest miteinander gekoppelt. Indem eben der Krimi von Verbrechen erzähle, erzähle er von der Gesellschaft 55 , in der die Missetaten passieren und die für die Hölle auf Erden die Mitverantwortung trägt. Leider wird die gesellschafts- und kultureigene (Beschreibungs- und Deutungs-)Leistung des Krimis immer noch heruntergespielt 56 . Die Krimis seien zwar weder „realistische Romane oder Dokumentationen noch fantastische oder vollständig alltagsferne Geschichten“ 57 , allerdings infolge der Demaskierung des Fiktiven heben sie explizit die (imaginierte) Wahrheit, das (imaginierte) Faktuale hervor. Durch die Bloßstellung des Erfundenen, das als solches auch durchschaut wird, wird das Real-Mögliche in den Vordergrund geschoben. Ein Real-Mögliches, eine Fiktionsrealität, die so wahr ist, dass man vor ihr Angst kriegt. Nicht deswegen, weil sie existiert, sondern weil sie in der Nachbarschaft existiert. Wenn früher der Detektivroman als „Opium der >neuen< Mittelschichten“ apostrophiert wurde 58 , die sich gemütlich im bequemen Sessel vor dem heimlichen Kaminfeuer ein Verbrechens-Text zu Gemüte führten, dann immer in der festen Überzeugung, es handele sich um eine fiktionale Welt, die vielleicht auf wahren Begebenheiten und auf Tatsachen beruht, die jedoch noch ganz entfernt in den Armenvierteln, im Rotlichtmilieu oder in der Bettlergasse zu Hause ist. Man fühlte sich geborgen. Der Krimi vom Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts inszeniert eine Schau(er)welt, in der nichts mehr sicher ist, sondern nur flüchtig. Bebildert wird eine Welt in Krise, die mit der Märchen-Konzeption von Helmut Heißenbüttel nichts mehr gemein hat 59 . Wennschon, dann nur die Schwarz- Weiß-Malerei von Gut und Böse. Wobei es schwer fällt, eine Trennlinie zwischen dem Guten und dem Bösen zu ziehen. Alle sind böse und alle sind gut zugleich. Somit ist der Kriminalroman in der Gegenwart, in der Hohen Literatur, so die These, angelangt, weil es kein Rätselvergnügen mehr, kein Chillen, kein Ausschalten und keine Entspannung mehr garantiert, sondern 54 Siehe: Mariusz Czubaj, Etnolog w Mieście Grzechu. Powieść kryminalna jako świadectwo antropologiczne, Gdańsk, Oficynka, 2010, S. 114. 55 Ebd., S. 15. 56 Alexandra Krieg, Auf Spurensuche. Der Kriminalroman und seine Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart, Marburg, Tectum, 2002, S. 5. 57 Melanie Wigbers, Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006, S. 23. 58 Mandel, Ein schöner Mord, S. 81. 59 Vgl. Erhard Schütz, „Täter, Kommissar und Leser - Stücke aus der Kunst, es nicht gewesen zu sein. Erschwerende Vorbemerkung“, in Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. München, W. Fink, 1978, S. 7-14, hier S. 10. Statt eines Vorwortes 19 ganz umgekehrt, zum Nachdenken, zum Sinnieren, zu Reflexionen animiert. Trotz des Mordes oder eben wegen des Mordes. Die Beiträge, die im dritten Heft der Reihe Popular Fiction Studies versammelt erschienen sind, wurden für eine internationale literaturwissenschaftliche Tagung vorbereitet, die im Oktober 2014 an der Universität Zielona Góra in Polen stattfand. Unter dem Titel „Krimi. Zwischen Tradition und Innovation“ beabsichtigten die Veranstalter und Referenten sowie Referentinnen auf die Problematik der Gattung Kriminalroman näher einzugehen, sie vor dem Hintergrund der Moderne und Avantgarde textkongruent auseinander zu nehmen, um im nächsten Schritt aus den dekonstruierten Überresten und Schnipseln wieder eine konstruktive Ganzheit aufzutischen. Da der Konferenz kein wesentliches, prägendes Forschungsmotto vorangestellt wurde, das sich auf einen einzigen Ausschnitt bzw. Problemzweig des Genres kapriziert hätte, reicht die Bandbreite der zugeschickten Artikel von der Auseinandersetzung mit dem klassischen, deutschen Verbrecherresp. Krimiroman über den Referenzpunkt Anti-Krimi bis hin zum Gegenwartskrimi mit spezieller Untermalung und Exposition des sogenannten Regiokrimis, der vor allem in Deutschland nicht nur in den Bücherregalen, sondern auch im Film für Furore sorgt. Die Autoren analysieren aus unterschiedlichen Blickwinkeln vor allem deutsche Kriminaltexte, die sie einem genauen close reading-Verfahren unterziehen. Der besseren Übersichtlichkeit halber wurden alle Beiträge in thematische Subgruppen sortiert. Nach dem Abschnitt 1) „Geschichte im Krimi, Krimi in Geschichte“ folgt das Kapitel 2) „Regionalkrimis auf der Suche“. Im dritten Absatz finden sich Untersuchungen zum Antikrimi („Ein Spiel mit der Konvention: Anti-Krimi“), im vierten Teil Einzelbeiträge zu der neuesten Kriminalliteratur und der letzte Teil wurde für ein exklusives Interview mit Susanne Goga-Klinkenberg reserviert, die außer historischen Romanen auch Geschichtskrimis zu Papier bringt, die in Berlin vor 1939 spielen. Cezary Lipiński wendet sich in seinem Beitrag Karl von Holteis Ein Mord in Riga, der schon 1855 veröffentlicht wurde, zu. Der Schlesier von Holtei ist scheinbar von der Kriminalliteraturforschung völlig - zu Unrecht - vergessen worden, obwohl seine beiden Romane, neben Ein Mord in Riga auch Schwarzwaldau, zu den ersten deutschsprachigen Kriminalromanen dazugezählt werden könnten. Lipiński allerdings geht nicht von der Annahme aus, es muss sich bei von Holtei unbedingt um einen Krimi handeln. Infolge einer akribisch durchgeführten Analyse hält er fest, dass im Grunde die Verbrechens- und Lösungshandlung, die doch die aktionsreiche Hauptachse des Krimis bilden sollte, in Ein Mord in Riga in den Schatten gestellt wird zugunsten der Veranschaulichung der Gesellschaftsordnung in Riga, wo von Holtei auch einige Jahre verbracht hatte. Nicht die crime steht somit im Zentrum des Interesses von Holteis, sondern die gentry. Wolfgang Brylla 20 Mit einer Geschichtsskizzierung, jedoch aus der heutigen Perspektive, befasst sich darüber hinaus Paul Martin Langner, der Derek Meisters Mittelalter-Krimi Runholts Erbe unter die Lupe nimmt. Meisters historischer Kriminalroman könnte des weiteren als eine weitere Version des Regiokrimis in Erwägung gezogen werden, zumal er im (historischen) Raum Lübecks spielt und dementsprechend auch der Text von plastischer Erzeugung eines besonderen Lokalkolorits lebt. Langner verweist auf die Eigenspezifik des historischen Krimis, der in vielen Zügen dem modernen Roman gleicht. Auf die Frage, warum heutzutage der historische Kriminalroman solch eine Blütezeit erlebe, konstatiert Langner, dass sich die Popularität vermutlich durch den Umgang mit historischen faktualen Daten/ Angaben/ Fakten und der hiermit in Verbindung stehenden „Wahrnehmung von Differenzen zu historischen Daten“ erklären lasse. Noch tiefer in die geheimnisvollen Gefilde der Geschichte wagt sich Adam Sobek, der in seiner komparatistisch angelegten Arbeit Simone Tives’ Die Tage des Saturn und Hans Dieter Stövers Tödliche Dosis vergleicht. Der Handlungsschauplatz beider Romane ist quasi das Forum der Antike. Unter Rekurs auf das Quest-Aufbauschema Vladimir Propps ist Sobek darum bemüht, auch bei Tives und Stöver ähnliche Konstruktionsmerkmale ausfindig zu machen. Die für den Detektivbzw. Kriminalroman typischen Eigenschaften und Strukturmuster werden mit Propps Quest-Grammatik konfrontiert. Joanna Wołowska dahingegen interessiert weniger die Geschichte als solche, sondern vielmehr die Folgen und Konsequenzen der Geschichte für Verbrechen, die in der Gegenwart verübt worden sind. Sie wählt drei Texte von Anne Chaplet, Elisabeth Herrmann und Christian v. Ditfurth aus, die durch ein Prädikat verknüpft werden: die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Wołowska zeigt, dass obwohl die Ermittlungshandlungen der Romane sich in der Jetztzeit abspielen, müssen sie immer wieder auf die Vergangenheit, hier die Vergangenheit der DDR, zurückbezogen werden, weil eben im nicht mehr existierenden Ostdeutschland die Gründe, Beweismittel etc. für den Gegenwartsfall versteckt sind. Auf diesem Wege zeigt sich umso klarer, dass der Erfolg jeder Beweisführung und jeder polizeilichdetektivistischen Fahndung von der Rekonstruktion des Vergangenen abhängt. Urszula Bonters Beitrag „Stadt - Land - Mord“ lässt sich als Einführung in die (Un-)Komplexität des Regionalkrimis begreifen. Bonter nimmt sich sieben deutsche Regiokrimi-Reihen zur Brust und legt mit Beispielen die Konstruktion und den Charakter dieses Subgenres dar. Nicht ungeachtet lässt sie auch solche Gesichtspunkte wie den Tourismusmarketing, der allem Anschein nach eng mit dem kommerziellen Durchbruch des Regionalen in der Blutliteratur verflochten ist. Statt eines Vorwortes 21 In die gleiche Kerbe haut Maike Schmidt, die sich dem Berlin-Krimi seit 2000 widmet. Der Spree-Großstadt-Krimi habe sich schon fest in der Krimilandschaft etabliert und beziehe sich wegen des Metropolensujets mehr oder weniger auf seine berühmten Vorgänger wie Alfred Döblin. De facto sei der Berlin-Krimi nicht weiteres als eine andere Form der Großstadtliteratur. Allerdings, so Schmidt, lasse sich in den Berliner Krimis ein Faible für die Regionalisierung der Sachverhalte, der Verbrechen, der Ermittlungen und der Handlungsräume kaum zu übersehen. Die urbane Krimiliteratur wird provinzionalisiert. Eben am Schnittpunkt zwischen dem Großstädtischen und dem Regionalen/ der Peripherie definiert sich der moderne Berlin- Krimi. Die Wertigkeit der Regionalität unterstreicht in seinem Beitrag Rafał Biskup, der Marcin Melons auf Schlesisch verfassten Krimiroman, oder eher eine Krimiparodie, Kōmisorz Hanusik gelesen hat. Für Biskup ziele der Text auf die Festigung des oberschlesischen (Sprach-)Gefühls und der oberschlesischen (Selbst-)Identität ab, statt Kriminalfälle regelkonform, der Konventionalität der Krimigattung entsprechend, zu schildern. Demnach sei Kōmisorz Hanusik - so lässt sich sagen - ein Identitätsroman verhüllt im populären Krimigewand. Dem Filmbzw. Fernsehgenre fühlte auf den Zahn Anna Volk in ihrer Beschreibung der ZDF-Serie „Wilsberg“, die auf die Romane von Jürgen Kehrer zurückgeht. Volk stellt die narrativen Texte dem Inhalt der Fernsehserie gegenüber und macht Unterschiede deutlich. Jürgen Joachimsthaler entzog dem kollektiven Vergessen den Beststeller aus den 1950er Jahren von Joachim Maass - Der Fall Gouffé -, der sich auf echte Vorkommnisse aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stützt. Maass jedoch fokussierte sich nicht auf eine penible Wiedergabe von greifbaren Fakten und entkam somit dem dokumentarischen Pitaval-Charakter seines Werkes; dafür schnitt sich Maass die belegten Fakten zurecht. Aus dieser ‚Adaptation‘ von Bekanntem, bei der auch mit traditionellen Grundvorlagen des Detektivromans herumgespielt wurde, entstand ein bahnbrechender Meta-Krimi, ein Anti-Krimi, in dem Krimielemente nicht nur hinterfragt, sondern auch an den Pranger gestellt werden. An Vladimir Nabokov erinnert Andrey Kotin, der die banale Mordhandlung in König, Bube, Dame auf ihre narrative Machart hin überprüft und dabei der Frage nach der Banalität des Bösen, einem Begriff entlehnt von Hannah Arendt, nachgeht. Nabokovs Antikrimi, so die Schlussfolgerungen Kotins, entschleiere das Verbrechen, indem er dieses Verbrechen diskret verurteilt, nachdem es vorher quasi gerechtfertigt worden ist. In die Dunkelheit, im wahrsten Sinne des Wortes, begibt sich Agnieszka Dylewska während ihrer textgenauen Interpretation von Inka Pareis Was Dunkelheit war. Dylewskas Anliegen besteht darin, den Roman mit Blick auf das vorhandene Spektrum der Krimibesonderheiten zu sezieren. In diesem Wolfgang Brylla 22 Zusammenhang untersucht sie unter anderem die Figurenkonstellationen (Täter- und Opferperspektive) sowie die Raumfigurationen (Haus). Gerda Nogal klopft auch anhand einer ‚Krimimerkmals-Checkliste‘ Birgits Vanderbekes abgehängt ab. Wie es Nogal exponiert, wird die Reflexionswelt, die in dem Roman zur Schau gestellt wird, durch krimitechnische Nuancen und Mittel (bewusst) trivialisiert. Wolfgang Bryllas Augenmerk gilt dem für den Kriminalroman eher seltenen Motiv des Selbstmordes. In Rainer Wocheles Novelle Der Flieger bildet der Suizid den Dreh- und Angelpunkt des Fragen-Narrativs, in dem es zu einer Umschichtung der für den Krimi so prototypischen Funktionen kommt. Auf narratologische Komponenten wies außerdem Jan-Moritz Werk in seiner Analyse der Kurzgeschichten von Ferdinand von Schirach hin, in denen der Wahrheitsbegriff von Relevanz ist. Bei von Schirach würden weder das Whodunit (Tatgeschehen - Aufklärungsgeschehen) noch das Howcatchem (Tatgeschehen - Überführungsgeschehen) ins Gewicht fallen, sondern das „Kriminalgeschehen“, das sich durch die Korrelation von Tatgeschehen und Prozessgeschehen kennzeichnet. Und last but not least: das Gespräch mit Frau Susanne Goga gibt einen guten Einblick in die Werkstatt einer Krimiautorin, die sich auf historische Stoffe spezialisiert. Liege die Zukunft der Gattung eben in der Vergangenheit? Warum wird der Krimi weiterhin als bloße Unterhaltungsliteratur verrissen? Frau Goga stand uns, wie in einem Verhör, Rede und Antwort. Bibliographie Richard Alewyn, „Anatomie des Detektivromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 52-72. Karl Andres, „Der Kriminalroman“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman II. München, W. Fink, 1971, S. 533-544. Ernst Bloch, „Philosophische Ansicht des Detektivromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 38-51. Pierre Boileau; Thomas Narcejac, Der Detektivroman, Berlin; Neuwied, Luchterhand, 1967. 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(Karl von Holtei, Vierzig Jahre mit Lorbeerkranz und Wanderstab) Karl von Holteis Erzählung Ein Mord in Riga (1855) gehört(e) weder zu den beliebtesten noch bedeutendsten Leistungen des Breslauers. Und weil er sich selbst niemals darüber äußerte, wäre anzunehmen, dass sie nicht einmal in seinen eigenen Augen eine größere Aufmerksamkeit verdiente. Seine Aufwertung durch die gegenwärtige Literaturbetrachtung verdankt der Text einer reingenologischen Zuordnung als „einer der ersten Kriminalromane“ 1 . Angesichts der weit ausholenden, zu unendlichen Exkursen neigenden Diktion des Schlesiers darf dies allerdings verwundern, da abgesehen von den schönliterarischen Grenztexten einiger anerkannter Autoren - mit den in diesem Kontext standardmäßig gern angeführten Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, E. T. A. Hoffmann, Clemens Brentano u.a. - die deutsche Literatur bekanntlich bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts z. B. in August Gottlieb Meißner aus der benachbarten Lausitz einen populären Vertreter einer viel straffer und stringenter behandelten Kriminalliteratur zu bieten hatte. Der Segen der gattungstheoretischen Subsumption, die - zugegebenermaßen - Holteis Text allem Anschein nach vor dem völligen Vergessen bewahrte, hat jedoch seinen Preis. Die Erzählung, die aus der Sicht der Struktur- und Erzählprinzipien des Krimigenres ein Kuriosum darstellt 2 , wird 1 Eine Bemerkung, die auf die Titelseite der schmalen Ausgabe Karl von Holtei, Mord in Riga, Freiburg im Breisgau, Herder, 1979 (Herderbücherei Bd. 729) gesetzt wurde. 2 Vgl. Henk J. Koning, „Karl von Holtei in Riga (1837-1839) und seine Erzählung Ein Mord in Riga (1855)“, in Christian Andree; Jürgen Hein (Hrsg.), Karl von Holtei (1798- Cezary Lipiński 28 entweder auf jene acht der insgesamt zwanzig (ungleich langen) Kapitel reduziert, die die gesamte Mordgeschichte ausmachen, oder gar in verstümmelter Gestalt veröffentlicht. Das Letztere geschah im Fall der Herder- Mord-Ausgabe von 1979, in der Ein Mord in Riga auf die ersten 18 Kapitel, bis zur endgültigen Auflösung der Kriminalhandlung, gekürzt wurde. Ein gutes Fünftel der Erzählung fiel der Praxis zum Opfer. Angesichts des sich offensichtlich auf die bloße Verbrechengeschichte beschränkenden Interesses sowohl seitens der Kriminalliteraturforschung als auch des Leserpublikums will der vorliegende Beitrag dreierlei: 1) die Zuordnung zum Kriminalgenre kritisch hinterfragen, 2) den Fokus auf die bei themenzentrierten Betrachtungen im Kontext der Kriminalliteratur totgeschwiegenen narrativen Abschweifungen richten, 3) den sich aus der narrativen Struktur der Erzählung ergebenden Implikationen auf den Grund gehen. 1 Neben der vehement zum Ausdruck gebrachten Anhänglichkeit an der schlesischen Heimat wurde Holtei vom prominenten (übrigens ebenfalls aus Schlesien gebürtigen) Mediävisten Karl Weinhold eine besonders gut ausgeprägte Beobachtungsgabe attestiert, d.h. jene Eigenschaft, welche Goethe die Phantasie für die Wahrheit des Realen nannte. Holtei besitzt das scharfe Auffassungs- und Eindrucksvermögen für die Bilder des wirklichen Lebens, die in den geistigen Horizont des Dichters als bleibende Gestalten aufgenommen werden. Umgestaltet zwar, aber unverändert rücken sie in der schaffenden Seele der Darstellung entgegen 3 . Diese Erkenntnis entspricht durchaus dem schriftstellerischen Programm des Breslauer Schriftstellers, dessen Wesen er selbst zwanzig Jahre früher aus dem Bewusstsein der Stärken und Mängel seiner eigenen literarischen Tätigkeit heraus formulierte: Mögen meine Erzählungen, diese wie jene, kleine wie große, noch so unvollkommen befunden werden vor den Augen der Kritik, - immer sind sie auf Erlebtes (innerlich oder äußerlich Durchlebtes und Gesehenes) basirt [sic! ]. In jedem meiner Bücher treten Persönlichkeiten auf, die mir theuer, wert, oder wichtig und merkwürdig waren, sei‘s als Hauptfiguren, sei‘s als vorüberzie- 1880). Ein schlesischer Dichter zwischen Biedermeier und Realismus. Würzburg, Bergstadtverlag, 2005, S. 99-122, hier S. 114. 3 Karl Weinhold, Rede bei der Feier des achtzigsten Geburtstages Karl von Holteis am 24. Januar 1878 im Liebichschen Sale zu Breslau, Breslau, Eduard Trewendt, o. J., S. 18. Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum 29 hende Gestalten. Nicht, daß es ängstliche Kopien der Wirklichkeit sein wollten! Dergleichen soll es, glaub‘ ich, nicht geben 4 . Vor diesem Hintergrund erscheint die Erzählung Holteis, der oft genug betonte, „dass nur zwischen den Sudeten und der Posenschen Grenzlinie sich leben lasse“ 5 , mit Riga als dem literarischen Haupthandlungsort wie eine post festum vorgenommene Würdigung der Periode in der lettischen Hauptstadt 6 . Die Erlebnisse dieser Zeit, die nicht nur den Background des Textes, sondern auch dessen Erzählrahmen darstellen, lassen den oben gestreiften schriftstellerischen Prinzipien Holteis gemäß Ein Mord in Riga als Literarisierung des Erfahrungsschatzes des Rigaschen Zeitraums verstehen. Gleichwohl erweist sich eine genauere Überprüfung der Umstände angesichts des Schweigens des Schriftstellers über die Angelegenheiten des Textes, des langen Zeitabstands zwischen Holteis Aufenthalt im Baltikum und der Entstehung der Erzählung sowie der eindeutig auf die theatralischen Geschäfte konzentrierten (auto-)biographischen Darstellungen als schwierig. Die für die Entstehung der Erzählung konstitutive Periode wurde durch den Brief, den Heinrich Dorn, Kapellmeister des mit großer Mühe und unter beträchtlichem Kostenaufwand gegründeten deutschen Theaters in Riga, im Januar 1837 an Holtei schickte, eingeleitet. Dorn forderte dort den Schriftsteller auf, „die Direktion des Theaters daselbst zu übernehmen“ 7 , wozu jener - nach zahlreichen gescheiterten Versuchen, sich als Bühnendichter und Schauspieler zu etablieren, „müde dieser ewigen Quälereien“ 8 - keine Lust mehr verspürte. Da aber die angebotenen Bedingungen Holtei und seiner Familie „sorgenfreie, wenn auch mit Arbeit verbundene Existenz“ 9 und damit eine herbeigesehnte Wende versprachen, engagierte er sich mit „Leib und Seele“ in das Unternehmen. In der Hoffnung, im Norden das Scheitern seines bisherigen Vorhabens, ein (würdiges) Leben als Künstler aufzubauen, wettmachen zu können 10 , brachte er binnen weniger Monate 4 Karl von Holtei, Bilder aus dem häuslichen Leben, Berlin, Artistische Anstalt, 1858, Bd. 1, S. XVIII-IX. 5 Weinhold, Rede, S. 17. 6 Vgl. Koning, Karl von Holtei in Riga, 2005, S. 99-122; Gerhard Kosellek, „Karl von Holtei in Riga. Ein Beitrag zur Theatergeschichte“, in Gerhard Kosellek (Hrsg.), Silesiaca. Literarische Streifzüge. Bielefeld, Aisthesis, 2003, S. 187-221. 7 Karl von Holtei, Vierzig Jahre Lorbeerkranz und Wanderstab. Lebenserinnerungen des Schauspielers und Poeten Karl von Holtei (neu hrsg. und eingel. von Hans Knudsen), Berlin, Deutsche Buch-Gemeinschaft, [1932], S. 369. 8 Holtei, zit. nach Carl von Holtei. Eine Biographie, Prag-Leipzig, Expedition des Albums, 1856, S. 66. 9 von Holtei, Vierzig Jahre, S. 371. 10 „Und weil Deutschland kein Plätzchen für das Grab seines armen Sängers mehr übrig zu haben scheint, mag er denn am Baltischen Meere unter Rußlands Zepter Ruhe finden; nur schütze Gott, setzt auch fröstelnd hinzu, den alten Polenfreund vor Sibirien und vor der Knute! “ (von Holtei, Vierzig Jahre, S. 372). Cezary Lipiński 30 ein imponierendes Theaterprojekt zustande 11 . Es gelang Holtei tatsächlich, nicht nur „eine große Truppe für rezitierendes Drama und Oper, um Chöre, Musiker, Soufleure, Theatermeister und wer weiß was noch zu engagieren“ 12 , sondern auch ein sehr abwechslungsreiches Repertoire von anspruchsvollen klassischen Dramen bis zu publikumsorientierten (darunter auch seinen eigenen) Stücken anzubieten. Die Popularität des Theaters wuchs schnell; die Holteis waren sowohl über die Arbeitsbedingungen als auch die Gastfreundlichkeit der Rigaer und die geknüpften Kontakte, die bis zur obersten Stufe der örtlichen Prominenz, dem freundlich gesinnten Generalgouverneur, reichten, höchst erfreut und durchlebten, trotz aller Probleme, die sich aus der Theaterführung ergaben, die wohl glücklichste Zeit ihres Lebens. Diese Glückssträhne ging im Januar 1837 13 mit dem Tod Holteis zweiter Frau Julie (infolge unglücklicher Entbindung) abrupt zu Ende. Kaum hatte Holtei den Wunsch, Riga zu verlassen, ausgesprochen, mehrten sich von allen Seiten freundschaftliche Versuche, ihn nicht gehen zu lassen: Doch im Theater und fürs Theater fortzuwirken, war mir rein unmöglich. Die Führung der Direktion lag wie eine schwere Last auf mir. Die unaufhörlichen Quälereien, wie sie aus Krankheit - aus wirklicher oder gemachter -, aus Eigensinn, Rollenneid, Vernachlässigung erwachsen, die rege Sorge um Unterbrechung des Repertoirs, um Erreichung des hohen Etats, den die Ansprüche an eine gute Oper täglich höher steigerten - dies alles hatte mir oft Schlaf und Ruhe geraubt 14 . Im Februar 1839 übertrug Holtei die Theaterleitung dem befreundeten Sänger Johann Hoffmann, um noch in demselben Monat die Grenze zu Preußen zu passieren. Die wirtschaftliche und familiäre Ausbeute der Rigaer Periode schien im Nachhinein desaströs: „Ich ging in jeder Beziehung ärmer aus Riga, wie ich hingekommen“ 15 . Gleichwohl maß Holtei den damals geknüpften Bindungen und Freundschaften einen so hohen Stellenwert zu, dass er das noch 1839 geschriebene Stück Lorbeerbaum und Bettelstab oder Drei Winter eines deutschen Dichters „den Gönnern und Freunden in Riga“ widmete. In dieselbe Reihe passt auch Ein Mord in Riga, der mehrere Jahre später von der immer noch wachen dankbaren Erinnerung des Schriftstellers an die 11 Koning, Karl von Holtei in Riga, S. 109. 12 Carl von Holtei, S. 67. 13 Angabe nach: von Holtei, Vierzig Jahre, S. 377; Koning gibt das Datum 20.12.1838 an (Koning, Karl von Holtei in Riga, S. 112). 14 von Holtei, Vierzig Jahre, S. 378. 15 Ebd., S. 380. Im ähnlichen Ton beschreibt Holtei seine geistig-körperliche Verfassung jener Zeit: „Arm, einsam, nichts um zwei, um zwanzig Jahre älter geworden, […] niedergebeugt von tiefem Gramme“ (ebd.). Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum 31 im Baltikum kennen gelernten Menschen und deren Gastfreundschaft zeugt. Ein Rückblick auf die Rigaer Zeit ist nötig, um bestimmte Phänomene, die Holteis Text mitliefert, zu erklären, denn manchmal lassen sich nur aus der gesellschaftlichen Sicht heraus nicht nur gewisse Bizarrerien und Extravaganzen der Erzählung verstehen, sondern auch deren für einen Krimi eher absonderliche Erzählstruktur begründen. 2 Das Wesen des Kriminalromans liege nach Brechts Worten „in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente“ 16 . Dieser, wie es scheint, mit der allgemeinen Wahrnehmung übereinstimmenden Ansicht widerspricht nicht die Schlussfolgerung Richard Alewyns, dass „der Kriminalroman […] überhaupt keine definierbare Grenze - außer gegenüber dem Detektivroman“ habe 17 . Der Versuch, die Morphologie des Detektivromans zu beschreiben, läuft bei Alewyn auf die vielzitierte, gleichwohl sehr allgemeine, Doppeldefinition hinaus: „Der Kriminalroman erzählt die Geschichte eines Verbrechens, der Detektivroman die Geschichte der Aufklärung eines Verbrechens“ 18 . Richard Gerber stellt mit dieser formorientierten Sicht eine spezifizierende modale Betrachtung des Genres in Parallele: „Ein Kriminalroman ist […] nicht einfach ein Roman, der ein Verbrechen schildert, sondern ein Roman, der das Verbrechen auf eine ganz bestimmte Art behandelt, beschränkt behandelt. Die Beschränkung der Dimension ist das entscheidende“ 19 . Das Auseinanderhalten des Kriminal- und Detektivromans hält Gerber für eine „Pseudodistinktion“, die nur den Blick auf die eigentliche Sachlage versperrt: „In Wirklichkeit haben wir vor uns einfach die Gattung des Kriminalromans, einer Stutzform der Verbrechensdichtung“ 20 . Das komplette Variantenspektrum von Dostojewskijs Schuld und Sühne und Con- 16 Bertolt Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromane“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 33-37, hier S. 33; vgl. Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart; Weimar, J.B. Metzler, 2003, S. 9-11; vgl. Ulrich Suerbaum, Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart, Reclam, 1984, S. 9. 17 Richard Alewyn, „Anatomie des Detektivromans“, Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 52-72, hier S. 52-53. 18 Ebd., S. 53; vgl. Tom Zwaenepoel, Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur. Das populäre Krimigenre in der Literatur und im ZDF-Fernsehen, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2004, S. 17. Es wurden zahlreiche Versuche unternommen, eine Typologie der Kriminalliteratur aufzustellen. Vgl. dazu u.a. Zwaenepoel, Dem guten Wahrheitsfinder, S. 22-26; Rudolf Sieverts; Hans Joachim Schneider (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, Berlin; New York, de Gruyter, 1977, Bd. 2, S. 47-63. 19 Richard Gerber, „Verbrechensdichtung und Kriminalroman“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 73-83, hier S. 74. 20 Ebd., S. 78. Cezary Lipiński 32 rads Das Herz der Finsternis über die in der Mitte verorteten Geschichten Doyles und Christies bis zu den trivialen Reißern über allerlei „Revolveragenten“ werden hier unter dieser Oberkategorie subsumiert. Die Unterschiede und divergierende Werturteile ergeben sich aus der Weit- und Tiefensicht: „Die Verbrechensdichtung forscht nach dem Ursprung, der Wirkung und dem Sinn des Verbrechens und damit nach der Tragik der menschlichen Existenz. Der Kriminalroman aber lebt vom Motiv der Jagd“ 21 . Jene Fixation auf „die suchende Schnüffeltätigkeit“ (Detektivroman) bzw. die Verfolgung und das Zurstreckebringen des Delinquenten (Kriminalroman) seien an der Minderwertigkeit dieser Formen schuld: „Der Kriminalroman ist kastrierte Verbrechensdichtung“ 22 . Auf Holteis Erzählung appliziert, scheint keiner der theoretischen Ansätze in toto zuzutreffen. Dem Prozess der Detektion haftet zu viel Naivität, Banalität, Zufall, Ahnung, teilweise sogar Einfluss der Vorsehung an, als dass der Text als eine gute Detektivgeschichte herhalten könnte 23 . Für einen Kriminalroman ist Ein Mord in Riga wiederum viel zu weitschweifig. Auf der narrativen Ebene wird über lange Strecken kein konkreter Fokus gesetzt, dafür eine Anzahl verschiedener Themen tangiert. Die genrebestimmende Stringenz des Erzählens bleibt aus, da der Erzähler überhaupt nicht richtig in medias res gehen zu wollen scheint. Zwar könnte man dem Text bedingt „das Herz des Kriminalromans, nämlich die menschliche Kraft, die das Verbrechen und den Verbrecher unter Aufbietung aller geistigen und körperlichen Gaben von Anfang an gezielt bekämpft und am Schluß erledigt“ 24 , zugestehen, allerdings mit der Einschränkung, dass es bloß in jenen acht Kapiteln d.h. höchstens in etwa 40% der Handlung zur Anwendung kommt. Auch ein gewisser tragischer Zug, der aus dem dem Menschen inhärenten Ausgeliefertsein an sein Schicksal resultiert, haftet der Erzählung an. Daraus könnte sich auf den ersten Blick eine Möglichkeit der Zuordnung zur Verbrechensdichtung ergeben, nicht jedoch in einer Situation, wo das Verbrechen selbst, aus der Perspektive des Textganzen gesehen, sich lediglich als eine mehr oder minder schmerzliche Episode herausstellt, so dass weder von der „seelischen Zersetzung“ (Gerber) der Figuren noch einer existentiellen Durchleuchtung des Wesens der Tat die Rede sein kann. Dabei sollten Krimis eigentlich „leicht zu identifizieren“ sein, so dass niemand „ernsthafte Probleme mit der Abgrenzung des Krimis von Nicht-Krimis“ habe 25 . 21 Ebd., S. 79. 22 Ebd., S. 75. 23 Vgl. Nusser, Der Kriminalroman, S. 22. 24 Gerber, Verbrechensdichtung, S. 77. 25 Suerbaum, Krimi, S. 11. Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum 33 3 Wer die Erzählung Holteis wie einen Kriminalroman liest, kommt eher nicht auf seine Kosten. Schuld daran ist die Diskrepanz zwischen den geweckten Erwartungen und dem tatsächlichen Angebot. Bereits im Bereich des Paratextuellen sendet die Geschichte Signale aus, die gleichermaßen stark wie irreführend sind. Eins der wirksamsten ist zweifellos der Titel, der dem Leser eindeutig eine Kriminal- oder zumindest eine Verbrechensgeschichte in Aussicht stellt, jedoch das Versprechen nur bedingt einlöst. Diese Dissonanz könnte teilweise durch den Erscheinungsmodus des Textes erklärt werden. 1855 erschienen zwei Ausgaben von Ein Mord in Riga. Die erste Buchausgabe der Erzählung besorgte in Prag der Verlag von Katharina Gerzabek; im gleichen Jahr kam der Text in der Reihe der Prager und Wiener Verleger Kober und Marggraff „Album: Bibliothek deutscher Originalromane der beliebtesten Schriftsteller“ heraus. „Die Serie verstand sich als »Enzyklopädie der Unterhaltung«, ihr Schwerpunkt lag auf historischen, humanistischen und Familienromanen unter »Ausschluß des sittlich Anstößigen«, das Programm war ein moralisierender Trivialrealismus“ 26 . Das Niveau der veröffentlichten Texte lag weit unter dem der mit ihr konkurrierenden Frankfurter „Deutschen Bibliothek. Sammlung auserlesener Originalromane“ Carl Meidingers 27 . Im Vergleich zu jenem „wohl wichtigsten und vergleichsweise anspruchsvollsten belletristischen“ 28 Projekt der 1850er Jahre, warf „Album“ nur „rasch konsumierbares Lesefutter“ auf den Markt, eine Folge dessen, dass die Serie Kobers, wie übrigens ähnliche Unternehmungen der Zeit, in erster Linie ein profitorientiertes Vorhaben war. Eine Analyse des damaligen Buchmarktes ergab, dass „ein spezifisches Publikum für anspruchsvollere belletristische Neuerscheinungen fehlte“ und „die literarische Öffentlichkeit […] der zeitgenössischen Literatur […] ausschließlich Unterhaltungsfunktion zuwies“ 29 . Hypothetisch könnte angenommen werden, dass es angesichts dieser Situation nahe lag, die Aufmerksamkeit des Lesepublikums für die Erzählung zu fesseln. Niemand verstand diese Notwendigkeit besser als der sich seit eh und je mit der finanziellen Misere herumschlagende, ums Überleben auf dem Literatur- und Theatermarkt kämpfende Holtei. Der Schubs in Richtung Kriminalliteratur wäre dann mehr als eine Vermarktungsstrategie denn als die Grundlage eines durchdachten literarischen Vorhabens zu verstehen. Dass es sich im Fall von Ein Mord in Riga um eine Art Aufpfropfung (hier im Sinne der Verpflanzung aus einem Literatur- und Rezeptionskontext in ei- 26 Reinhard Wittmann, Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert: Beiträge zum literarischen Leben 1750-1880, Tübingen, Niemeyer, 1982, S. 126; vgl. ebd., S 123. 27 Ebd., S. 124. 28 Ebd., S. 123. 29 Ebd., S. 127. Cezary Lipiński 34 nen anderen) handelt, belegt eine nicht zu übersehende Spärlichkeit des Kriminalstoffes im Gesamtgefüge des Textes. Hildegard Gerlach benötigte nur drei knappe Sätze, um das ganze Kriminalhandlungsgerüst zu resümieren: Der reiche Teehändler Muschkin wird in seinem Haus in Riga ermordet aufgefunden. Verdächtig ist sein Diener Iwan, ein hübscher, fröhlicher Bursche, der nach entsprechender „Behandlung“ im Gefängnis die Tat gesteht und zu einer drakonischen Strafe verurteilt wird. Wenige Stunden vor der Exekution gerät der Polizeichef auf eine neue Spur, und es beginnt ein Wettlauf zwischen Leben und Tod 30 . Wenn also, wie auch andere Forscher zugeben, der dem Krimigenre gerechte „Inhalt dieser Geschichte […] in wenigen Strichen erzählt werden“ könne 31 , und die gesamte Kriminalhandlung von Ein Mord in Riga wenig mehr als ein Drittel des Textes umfasst, lässt sich die Frage nach dem übrigen Rest der Erzählung nicht ignorieren. Gleichzeitig muss ermittelt werden, wie angesichts der zumindest quantitativen Überlegenheit der nichtkriminellen Textsegmente die Gewichtung der einzelnen inhaltlichen Komplexe aussieht. Eine Analyse der Handlungs- und Erzählstruktur der einleitenden Kapitel soll gestatten, die Antworten auf die beiden Fragen zu finden. 30 Hildegard Gerlach, „Nachwort“, in Karl von Holtei, Ein Mord in Riga. Freiburg im Breisgau, Herder, 1979, S. 113-127, hier S. 116. 31 Bei Koning waren es immerhin fünf Sätze. Koning, Karl von Holtei in Riga, S. 114. Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum 35 Kapitelnummer Handlungsebene Erzählebene 1 (11 Seiten) Im August des Jahres 183* fährt eine Reisekutsche mit dem Rigaschen Handelsherrn und Oberältesten Singwald, seiner Gemahlin und dem Diener Simeon vor das Gasthof von Herrn Zehr in Mitau vor. Am Abend findet eine Unterhaltung „im Garten der Medem’schen Villa“ statt. Der Zivilgouverneur von Kurland in Begleitung seines 18-jährigen Neffen, eines russischen Offiziers, Herrn von Meitel, erscheinen in der Runde. Am Ende begleitet die ganze Gesellschaft den Oberältesten in sein Gasthaus. Die Singwalds kehren nach einer dreimonatigen Badekur in Böhmen (über Prag, Dresden, Berlin) nach Riga heim. Am Abend soll der Oberälteste seine Freunde (den kurländischen Staatsanwalt von Klein und den Postmeister von Joung) treffen. Warme Begrüßung durch viele prominente Mitauer. Informationen über die Topographie von Kurland und dortige vornehme Gesellschaft. Bericht über die Verkürzung der geplanten Reise, den Aufenthalt der Rigaer in Berlin, ihr Heimweh nach „der geliebten, nordischen Vaterstadt“, die Eigentümlichkeit Rigas als eine besonders offene, kosmopolitisch gesinnte und gastfreundliche Stadt, den Lokalpatriotismus und den dortigen hohen Lebensstandard („So lebt sich’s denn im Wohlstand und Wohlthun prächtig innerhalb dieser alten Festungsmauern“). Neuestes aus dem lokalen Klatsch: der Postmeister von Livland, Etatsrat von Baranoff, schaffte die Entfernung von Riga nach Mitau („samt nöthigem Aufenthalt im Olay“) unter einer Stunde und gewann damit die Wette gegen den Konsul. Reservierte Bezugnahme auf die bevorstehende Angliederung Lettlands Cezary Lipiński 36 an das russische Zarenreich. Eingehen auf einige gute Aspekte russischer Wirtschaftsordnung (Hanse- Traditionen, Zünfte u. Ä.). Kritik an der politischen Strenge Russlands (was „durch immense Vortheile aufgewogen wird“) und am Druck der Zensur (die man glücklicherweise einigen „edlen wissenschaftlichen Männern“ mit Zivilgouverneur von Kurland Herrn von Fölkersahm, einem Gönner und Kenner der schönen Literatur, an der Spitze anvertraut habe). Allgemeine Anerkennung für das Haus Singwald als ein Kultur- und Geselligkeitszentrum. Näheres über den Neffen des Zivilgouverneurs und dessen Orientkenntnisse. Erneute Erwägung der Vorzüge, die sich aus der Zugehörigkeit zu einem Weltreich ergeben. Ein Gespräch über die zur Verfügung stehenden Reisemöglichkeiten (das Schiff, die Bahn, der Reisewagen) angesichts der großen Entfernungen, die man zurücklegen muss (z. B. von Berlin nach Tilsit - 72 Stunden); Singwalds Voraussage, dass in einer absehbaren Zeit Königberg und Berlin mit einer Eisenbahnlinie verbunden werden und binnen 24 Jahre eine Reise von Kurland in die böhmischen Bäder sehr schnell vonstatten Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum 37 geht. Ein schneller Themawechsel (der Postmeister fragt Singwald nach dem „herrlichen [Karol] Lipinsky“ in Dresden und der Musik überhaupt) bereitet der Unterhaltung ein Ende. 2 (10 Seiten) Fortsetzung der schnellen Fahrt der Singwalds (nach dem viermonatigen Kuraufenthalt) nach Riga. Zu Hause angelangt, werden sie vom ältesten Diener des Hauses, einem russischen Kutscher, genannt der „alte Isaak“, „in seinem selbsterfundenen Gemisch von Russisch, Lettisch und Deutsch“, das niemand sonst verstand, begrüßt. Der Oberälteste Singwald lässt sich über den „Zustand der Geschäfte“ informieren. Zufrieden begibt er sich in den Klub („die Muße“), dessen gewöhnliche Tätigkeit durch dieses Erscheinen aus den Fugen gerät. Eine Darstellung der Dünalandschaft und Rigas. Dorchen, eine Kammerjungfer der Frau Singwald, erzählt Simeon, dem neuangestellten russischen Kammerdiener aus Petersburg, über die Brücken Rigas, das lokale Volksfest - „Hungerkummer“ (gen. zur Erinnerung an eine große Hungersnot aus der schwedischen Vergangenheit der Stadt) und die wechselvolle Stadtgeschichte. Es folgt eine Beschreibung der Reise Simeons von Petersburg, Kopenhagen, Lübeck, Hamburg, Magdeburg nach Teplitz in Böhmen. Der alte Isaak erfährt von Dorchen vom Tod des alten Dieners des Hauses (Johann) während des böhmischen Aufenthalts. Seine Stelle bekam Simeon, mit dem nun Lieschen (Köchin), „eine derbe, langhaarige, wohlgenährte Lettin“ flirtet. Der Mann lässt sich darauf auf eine plumpe Art und Weise ein. Dies entgeht Dorchen nicht, die Gefühle völlig anderer Art entwickelt und sich in ihrem Inneren von nun an „zu Cezary Lipiński 38 Simeon’s entschiedener Gegnerin“ erklärt und „dadurch vollständig auf die Seite ihrer Madame“ tritt. Simeon aber, „der Gunst des Herrn gewiß, legte wenig Werth auf jene Ungunst“. Der Erzähler berichtet weiter mit einiger Verwunderung über zwei Eigentümlichkeiten der Rigaer „Muße“, die sie von allen ähnlichen Klubs unterscheiden und selbst auf die Weitgereisten und Vielerfahrenen einen großen Eindruck machen könnten. Die erste ist die Tatsache, dass die dortige „Muße“ ein großes Theatergebäude besitzt, das sie der Öffentlichkeit kostenlos zur Verfügung stellt. Die andere bildet der dort angestellte Portier, der „jedem Eintretenden Hut, Stock, Ueberschuhe […] abnahm, ohne eine Nummer daran zu befestigen […], und diese ihm anvertrauten Gegenstände ihrem Besitzer regelmäßig wieder zustellte“. Merkwürdig daran ist, dass „binnen zehn Jahren nicht e i n e Verwechslung vorgefallen ist“. Einblicke in die gewöhnlichen Beschäftigungen in der Muße (Kartenspiel, Diskussionsrunde). Die Ankunft Herrn Singwalds als der gesellschaftliche Höhepunkt des Tages im Klub. Der Oberälteste wird eingehend über die Neuigkeiten an der Börse, Nieder- Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum 39 legung der Theaterleitung durch die bisherige Direktorin, neue theatralische Projekte der Stadt, feierliche Begehung des Jacobstages u.a. informiert. Als die größte lokale Sensation gilt der voraussichtliche Wechsel auf dem Posten des Rigaer Polizeimeisters. Als der eigentliche Grund dafür soll die Halbherzigkeit (vielleicht sogar Milde) des Obristen bei der Verfolgung der Altgläubigen gewesen sein, was die Klage des örtlichen Archimandriten in Petersburg zur Folge hatte. Anspielungen auf die überaus große Macht der orthodoxen Kirche. Befürchtungen der Runde, sie werden jetzt „gewiß einen echten Stockrussen“ bekommen. 3 (10 Seiten) Eine Woche ist vergangen. Lieschen spricht mit Simeon in der Küche. Der junge Iwan bringt Obst und Gemüse. Simeon wird durch Madame Singwald zu Muschkin geschickt, um ein Pfund Karavanentee zu kaufen. Auf dem Rückweg begegnet er dem Dilligenceführer von Tauroggen nach Riga namens Stammbauer, der ihn zu einem illegalen Uhrenhandel überredet. Lieschen erklärt Simeon, was die für Riga typischen „offenen Tafeln“ sind. Es handelt sich dabei um das Recht, im Haus, in das man früher einmal eingeladen wurde, sonntags um drei Uhr frei (ohne zusätzliche Einladung oder Voranmeldung) als Gast zu erscheinen. Dies bereitet enorme Probleme mit der Versorgung der Gäste („Heute drei, über acht Tage dreißig. Reichen muß es immer, und reichlich“). Morgen erwartet man im Haus des Oberältesten viele Gäste („morgen wird Alles kommen, was in der Stadt Cezary Lipiński 40 zugegen ist von Bekannten und Hausfreunden“). Das Erscheinen eines jungen barfüßigen Russen (Iwan) mit Obst und Gemüse liefert den Anlass für Überlegungen über das Schicksal der russischen Leibeigenen, und (erneut) die Verortung der orthodoxen Kirche im russischen Staatssystem. Mit Tränen berichtet Iwan über die Verschleppung seines Vaters in Ketten aufgrund der Beschuldigung, er sei ein Raskolnik (Altgläubiger). Man habe ihn peinlich verhört und „auf einen Wagen geworfen, mit vielen Andern“. Iwan wurde freigelassen, weil er und seine Mutter „zur heiligen Kirche“ gehören. Unter diesen Umständen will jetzt der halbverwaiste Bursche zu seiner Mutter nach Narwa zurück. Zusammen mit dem deportierten Vater zog er jeden Sommer mit Erlaubnis seines Herrn in eine Gegend, „wo mehr wächst und besser als bei ihnen zu Hause“. Es sei eine gängige Praxis und jedes Jahr komme eine Menge Leibeigenen in den Rigaer Raum, um sich ein Stück Feld zu pachten und Grünzeug anzubauen. „Zum Winter kehren sie zurück und bringen ein bischen Geld mit, davon bekommt der Herr seinen Antheil für den Urlaub“. So kennt Lieschen Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum 41 Iwans Vater seit sie bei Singwald arbeitet; sie hat auch Iwan all die Jahre aufwachsen sehen. Weil sie die Praxis des russischen Gerichtssystems kennt, tut ihr der Junge leid: „Nun haben sie ihm den Vater genommen - den sieht er nicht wieder; der kommt um, wo ihn keine Sonne bescheint“. Simeon wundert sich über die Dummheit von Iwans Vater, der nicht glauben will, „was ihm befohlen wird“. Die evangelische Köchin versteht den Alten, der sich den Glauben nicht vorschreiben lässt, während Simeon keine Bedenken hat, sich auch in religiösen Sachen ausschließlich nach seinem Profit zu richten. Simeons Teekauf bei Muschkin wird zum Anlass, in die Praktiken der russischen Handelsleute einzuführen. Detaillierte Darstellung des Hauses von Muschkins und seiner familiären Angelegenheiten (alleinstehend, ohne Kinder, lebt mit einem großen bräunlich-gelben Kater). Der auf Simeon wartende Delligencenführer erzählt, dass er vorgestern in Tauroggen einem Juden aus Tilsit, Pinkus Heimann Seelig Festenberger, begegnet sei, der Simeon Grüße habe ausrichten lassen. Er könne jetzt beim Juden Zylinder- Uhren bestellen. Dem sich Cezary Lipiński 42 gegen das Geschäft sträubenden Simeon erklärt der Postkutschenführer, dass „eine schöne Cyllinder-Uhr in Riga fünfzig Procent mehr werth […], als in Leipzig, oder Nürnberg, oder Genf“ sei, vorausgesetzt, man schmuggelt sie über die Grenze und vermeidet die Verzollung. Von Stammbauer erfährt der von Habsucht verblendete Simeon, wie das illegale Geschäft in die Wege zu leiten ist. 4 (6 Seiten) Am ersten Sonntag nach der Heimkehr von Böhmen findet in Singwalds Haus ein festliches Essen, an dem fünfundzwanzig Gäste teilnehmen, statt. Ein Bericht über den besonderen Umgang der Rigaer mit derartigen Anlässen. („Aber da bemerkte man keine Unruhe, keine Verlegenheit, kein eiliges Hin- und Herschießen der Leute, und überhaupt nichts dergleichen, was andern Ortes bei ähnlichen Fällen herkömmlich ist“). Eine Beschreibung der für das Baltikum charakteristischen durchdachten Sitzordnung bei Tisch, die von der in anderen Regionen üblichen wesentlich abweicht und deshalb bei vielen Fremden zuerst negative Reaktionen hervorrufen kann, sich aber im Nachhinein als sehr vorteilhaft („für die Geselligkeit“) herausstellt. „Sonst ist es in den Ostsee-Provinzen (in Riga entschieden) gebräuchlich, daß die Herren eine Seite, die Damen die entgegengesetzte der Tafel Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum 43 einnehmen und daß sie, anstatt wie in Deutschland ‚Bunte Reihe‘ zu bilden, sich in zwei Linien gesondert gegenübersetzen“. Es folgt eine Darstellung der Rigaer High Society, deren inoffizieller Schirmherr der Oberältester ist: „Am Singwald‘schen Sonntagstisch fand heute, wie immer, der fröhlichste Austausch von Gedanken, Ansichten, Meinungen und Erfahrungen statt. Nicht allein merkantilisches Uebergewicht wollte sich geltend machen. Auch Wissenschaft, Litteratur, Kunst und Leben wurden ihrer Rechte teilhaftig. Gelehrte, Aerzte, Prediger, Beamte vertraten die Welt der Ideen; umsichtige, viererfahrene, weitgereiste Kaufherren zeigten sich ebenso empfänglich für die musikalischen Eröffnungen des Musikdirectors Heinrich Dorn, als einige Stabsofficiere, unter ihnen ein Sohn Kotzebue's, mit Freuden vernahmen, daß Rathsherr Brederlo ein neues, kostbares Original für seine Gemälde-Sammlung erworben hatte“. Eine Schilderung des weiteren Verlaufs des Essens mit Dessert und dem ausgezeichneten Portowein. Riga stehe als „Klein-London“ in freundschaftlichen Beziehungen zu „Groß-London“, schätze aber Cezary Lipiński 44 genauso hoch die Möglichkeiten, die sich aus seiner Zugehörigkeit zum russischen Riesenreich ergeben. Die Stimmung in der Gesellschaft wird immer heiterer. Singwald erzählt von seinem verstorbenen alten Diener Johann, den er in Böhmen begraben musste und an dessen Stelle er durch Vermittlung des Generals Polliwoy „einen flotten, geschniegelten und geleckten Modediener“ Simeon nahm, mit dem er durchaus zufrieden ist, den aber seine Frau nicht leidet. Eine längere Unterhaltung über Simeon, der eigentlich ein Moskauer von deutschen Eltern ist, die nach einem Brand nach Peterburg gezogen sind und den Sohn von klein auf zum Diener ausgebildet haben sollten. Laut Herrin des Hauses heiße er eigentlich Simon, lässt sich aber Simeon nennen, um fünfmal (und nicht zweimal) im Jahr Namenstag zu feiern. Konsul entdeckt in den Zügen des Russen etwas Böses, was jenen in seinen Augen vertrauensunwürdig macht. Singwald ist anderer Meinung („In dem ehrlichen Simeon steckt kein Falsch“). Professor Müller, mit dem die Singwalds in Dresden Bekanntschaft gemacht haben, wird angemeldet. Er versprach, auf der Durchrei- Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum 45 Bereits die Analyse der ersten vier Kapitel zeigt erhebliche Diskrepanzen zwischen der Ebene der Handlung und der des Erzählens. Mit der Schlichtheit, um nicht zu sagen - Banalität, der Handlung kontrastiert die Ausführlichkeit allerlei mit dem Geschehen nur lose verbundenen Darstellungen, Beschreibungen, Erklärungen u.dgl. Jede kleinste Bemerkung kann zur wuchernden Entstehung/ Anfügung von Glossen, Digressionen und Bemerkungen, vergleichbar mit der Praxis des Schachtelromans, führen. Wie man der Tabelle entnehmen kann, lassen sich die Abschweifungen schon wegen deren Anzahl und Dichte des Vorkommens als kein Zufall, sondern als ein bewusst eingesetztes strukturierendes Prinzip ansehen. Zuweilen gibt das sogar der Erzähler selbst expressis verbis (z. B. auf S. 24, S. 87) zu. Diese Rhetorik der Abschweifung ermöglicht eine Sättigung der Erzählung mit all den vielen kulturgeschichtlichen bzw. kulturpolitischen Informationen, die (siehe die tabellarische Zusammenstellung) eigentlich das Gros des Textes ausmachen. Ihre Folge ist, mit Elisabeth Ströker gesprochen, der auf Kosten des Aktionsraums expandierende Anschauungsraum, was wiederum rückkoppelnd im schleppenden Tempo der Handlung zum Tragen kommt. Der hier von Holtei entworfene räumlich-poetische Ansatz macht die Abstriche auf der Stufe des Geschehens und der Figurenentwicklung durch die topographisch-kulturelle Versiertheit, Wahrhaftigkeit und Lebendigkeit der facetten- und kenntnisreichen Darstellung (die Assoziationen mit den im 19. Jahrhundert nach wie vor populären Reisebildern, -novellen und -berichten hervorrufen) des erinnerten Riga-Raums wett. Sowohl die Behandlung der Geographie als auch die Breite des kulturellen Horizontes, bei dem es ständig darum geht, dem Leser nicht nur eine allgemeine Vorstellung von Orten und dem an ihnen tradierten Brauchtum, sondern vielmehr ein Gefühl für deren Einzigartigkeit zu vermitteln, weisen Konvergenzen mit der Geopoetik Kenneth White’s auf. Übrigens nicht nur der programmatische Grundgedanke, mit dem der Schotte als Begründer jener Theorie und Praxis auftrat („At the limits of literature and the sciences, there are travel log book which, instead of turn in gendlessly in a semioticsor a problematic, trytoget in touchwiththeearth in a newmanner“ 32 ), sondern auch sein selbst erwähltes „intellektuelles Nomadentum“ stellen ihn in die geistige Nähe Holteis. Ein beredtes Zeugnis dessen, in welchem Maße es sich bei Ein Mord in Riga vorrangig um das Herstellen/ Imaginieren eines geographischen Raums 32 Zit. nach Omar Bsaithi, Land and Mind. Kenneth White's Geopoetics in the Arabian Context, Newcastle, Cambridge Scholars Publishing, 2008, S. 1. se nach Dörpt einige Wochen im Hause des Oberältesten zu verbringen. Cezary Lipiński 46 im literarischen Text 33 handelt, ist die narrative Heterogenität der Erzählung. Der Leser hat hier von Anfang an gegen die um sich greifenden Inkohärenzen auf dem Niveau des Erzählens zu kämpfen. In den ersten Kapiteln scheint das Ehepaar Singwald, besonders der Oberälteste, als jene Einheit spendende Instanz zu fungieren. (Gleichwohl wird dies bald durch viele Abschweifungen relativiert). Später durch die Heranziehung anderer auf der Handlungsebene aktiver Gestalten (v. a. Simeon), die aber immer noch in einer engen Beziehung zur Familie Singwald stehen, dehnt sich der Begriff des narrativen Zentrums auf das ganze Haus Singwald aus. Mit der fortschreitenden Verselbständigung Simeons (mit dem Höhepunkt im 9. und 10. Kapitel), die die relative Einheit des Singwald’schen Hauses als des narrativen Zentrums sprengt, scheint sich ein Wechsel des dominanten Subjekts anzubahnen. Wegen vielerlei Einschränkungen (Kurzzeitigkeit der Wirkung, partielle Abdeckung der Erzählebene), die mit der Dominantsetzung dieser Figur einhergehen, sollte man hier eher von einer narrativen Substitution ausgehen. Weil der schnelle ab dem 11. Kapitel eintretende Verlust der privilegierten Stellung durch den Kammerdiener zugunsten der Detektivgestalt, des bisher kaum in Erscheinung getretenen Polizeimeisters Pristaff Schloß, erfolgt, kann endlich das sich aus der Zuordnung zum Kriminalgenre ergebende Versprechen eingelöst werden und die Erzählung steuert auf eine Detektivgeschichte zu. Die Kriminalisierung des Geschehens zieht automatisch eine Aufwertung des des Mordes beschuldigten, bis dahin eher peripheren Iwan, als Figur nach sich. Zur erwarteten narrativen Einheit findet aber die Handlung erst in den beiden letzten Kapiteln (19-20), die gänzlich der Geschichte des Zwanzigjährigen ab zwei Jahren nach seiner Freisprechung gewidmet sind. In der ohnehin von einem narrativen Bruch zum anderen schreitenden Erzählung stellen sie einen besonders tiefen Einschnitt dar. Zum einen, weil sie mit nur wenigen Digressionen über Riga auskommen; zum anderen, weil durch den radikalen Sprung nach vorne (zwei Jahre) und die Raffung der Handlung die bisher in straffen Grenzen (wenig mehr als sechs Monate) gehaltene erzählte Zeit eine radikale Dehnung auf sechs Jahre erfährt; endlich weil mit der expliziten Bestimmung des 20-jährigen Iwan (18. Kap.) zur Hauptfigur 34 die bisherigen narrativen Diskontinuitäten aufhören und denen zeitlicher Art Platz räumen. Die dem Wesen von Ein Mord in Riga völlig fremde Konzentration der beiden letzten 33 Sylvia Sasse, „Literaturwissenschaft“, in Stephan Günzel (Hrsg.), Raumwissenschaften. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2009, S. 225-241, hier S. 236. 34 Diesmal wird die Hauptfigur mit überraschender Endgültigkeit sogar auf der Metaebene des Textes festgelegt: „Was würden - auch die bisher geneigt gebliebenen - Leser wohl sagen, wenn sie zu spüren anfingen, daß der neunzehnte und zwanzigste Abschnitt dieses Büchleins keinen anderen Zweck verrathen, als unseres ehrlichen Ivan’s behagliche Existenz im Singwald’schen Stalle […] an ihnen vorüber zu führen? “ (Holtei, Ein Mord in Riga, S. 194). Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum 47 Kapitel (im Gegensatz zu den kunterbunten und digressionsreichen zuvor) auf die in zügigem Tempo erzählte Geschichte des jungen Russen markiert eine nächste Stufe der Inhomogenität der Erzählung, zumal die Entwicklung, die jener in dieser Zeit durchläuft, recht exotisch anmutet. Iwan verwandelt sich hier buchstäblich in einen neuen Menschen: aus dem tief religiösen, überzeugten Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche wird jetzt ein evangelischer Christ, aus dem früheren Kutscher - ein fähiger Zimmermann; der eingefleischte Russe verwandelt sich in einen deutschsprachigen, preußischsozialisierten Menschen; der ehemalige Leibeigene, der sein Leben in bitterer Armut fristen musste, mausert sich zum anerkannten Handwerker mit gesicherter bürgerlicher Existenz. Den Höhe- und Schlusspunkt dieses wenig glaubwürdigen Lebenslaufs stellt die voraussehbare Heirat Iwan - nomen est omen - Rigas (wie er nun heißt) mit der einzigen Tochter des Zimmermeisters Lahr. 4 Die Suche nach der narrativen Kohärenz ist ein natürliches Leseverhalten. In einem Text wie Ein Mord in Riga, für den das Prinzip der Diskontinuität konstitutiv zu sein scheint, der sich in unendlichen Digressionen verliert und permanent vom Thema abschweift, der jeden Versuch, ein narratives Zentrum in Gestalt eines Protagonisten zu begründen, unterminiert, in dem schließlich verschiedene, nicht immer durch den Lauf der Handlung gerechtfertigte Strategien der Zeitbehandlung 35 zur Anwendung kommen, ist es um den bestrebten inneren Zusammenhang eher schlecht bestellt. Die Zuordnung zum Krimigenre muss als ein Versuch angesehen werden, der Erzählung eine gattungsspezifische Leseweise aufzuzwingen. Der damit einhergehende Verzicht auf etwa zwei Drittel der Handlung lässt sich aber nur schwerlich als eine effektive Lösung ansehen. Der einzige über weite Teile der Erzählung Einheit spendende Faktor ist hier die Stadt Riga. Der Text Holteis entrollt vor den Augen des Lesers ein breites historisches Gemälde, dessen Zentrum eine spezifische, seit alters her mehrsprachige, multikulturelle und multireligiöse Gemeinschaft, eingezwängt zwischen größeren politischen Mächten und nationalen Elementen, darstellt. Gezeigt wird sie in einer Umbruchszeit, am Vorabend der endgül- 35 Rund die Hälfte des Geschehens (ca. sechs Monate; Kap. 1-10) wird in einem angenehmen Tempo erzählt. In den Kapiteln, die der Aufklärung des Mordes gewidmet sind, wird die Zeit dermaßen gerafft, dass für die Darstellung weniger Wochen (genauere Zeitangaben fehlen im Text), die die Ermittlung des Falls betreffen, gleich acht Kapitel nötig wurden. Die Zeitraffung erreicht in den beiden letzten Kapiteln, die insgesamt sechs extrem abwechslungsreiche Jahre im Leben Iwans darstellen, einen Höhepunkt. Cezary Lipiński 48 tigen Einverleibung des Baltikums in das russische Zarenreich. Zwar wurde die Inkorporation politisch bereits Ende 18. Jahrhunderts nach der dritten Teilung Polens durchgesetzt, jedoch konnte die deutschsprachige Oberschicht bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre privilegierte Sonderstellung (v. a. Kultur, Sprache, Wirtschaft) im Rahmen der sog. Ostseegouvernements behalten. Das Ende des 19. Jahrhunderts sollte wesentliche Veränderungen dieses Status (z. B. Abschaffung des Deutschen als der offiziellen Amtssprache zugunsten des Russischen) bringen. Holteis Ein Mord in Riga zeichnet ein Bild dieser Gesellschaft mit ihrer gastfreien, aufgeschlossenen Art, ihrer weltoffenen Mentalität, ihrem Kulturstreben und ihren Bräuchen, die bis in die Einzelheiten der Hausführung und die Tischgewohnheiten beschrieben werden. Man spürt die Spannung, die aus den Befürchtungen wegen der Endgültigkeit der bevorstehenden Wende resultiert. Man sieht die Versuche, sich über den Verlust der Selbständigkeit mit Illusionen über all die potentiellen Vorzüge dieses Prozesses hinwegzutrösten. Der sich über weite Strecken hinziehenden Simplizität der Handlung stehen bei Holtei eposartige Merkmale gegenüber. Dargestellt wird eine im Schwinden begriffene Welt. Der Neuanfang soll mit der Annullierung der alten Werte einhergehen. Auch auf dem Niveau der Handlung kommen diese Inhalte in eine zu erwartende Metaphorik eingehüllt zum Ausdruck. Der Oberälteste Singwald, Herz und Seele dieser Gesellschaft, stirbt mit seiner Frau. Ihm wird erspart, das Ende seiner Welt zu erleben. Es gibt keine Nachkommen und keine direkten Erben. Das Vermögen, das Haus, die Dienerschaft zerstreuen sich. Es bleibt nichts übrig. Der zugegebenermaßen etwas naive Wunsch nach der Erhaltung der baltischen Werte lässt das narrative Geschehen Iwan fokussieren. In ihm soll der plastische, offene Rigaer Mensch weiterleben, wenn er nicht mehr im Baltikum anzutreffen ist. Der Russe trägt sein Profil über die Grenze nach Preußen, wo er im angenommenen Nachnamen „Riga“ symbolisch die neue Heimat mit der alten verbindet. Der Kreis schließt sich. In einem deutschen Land soll weiter das bestehen, was ursprünglich von dort ausging… Ein Mord in Riga liest sich wie eine freundschaftliche Geste, ein Andenken und eine Danksagung. Es ist aber auch ein Denkmal, das einer dem Untergang geweihten Gemeinschaft gesetzt wurde. Man kann all die historischen Tatsachen über sie in den Geschichtsbüchern nachlesen, aber über Persönliches, die Art, wie dort tatsächlich gelebt wurde, muss man sich in solchen Texten wie der Holteis informieren lassen: „Die geopoetische Literatur stellt ihr Interesse für die Geographie als Inspiration des Schreibens programmatisch aus und bekennt sich offen zum kreativen Gestus“ 36 . Das Letz- 36 Magdalena Marszałek, „Der russische Norden in der polnischen Literatur. Von Adam Mickiewicz zu Mariusz Wilk“, in Norbert Franz; Rüdiger Kunow (Hrsg.), Kulturelle Mobilitätsforschung: Themen - Theorien - Tendenzen. Potsdam, Universitätsverlag, 2011, S. 239-261, hier S. 247. Auf der Suche nach einem narrativen Zentrum 49 tere bedeutet, dass sie ein künstlerisches Endprodukt einer Entwicklungskette darstellt, die mit der „Geographie als performative Praxis“ anfängt und über die Stufe der „Textualität der Geographie“ führt 37 . So ist Riga, dessen Bild die Erzählung vermittelt, einerseits ein historischer Ort, objektiviert durch die Technik der Abschweifung, und gleichzeitig ist es das nicht. Denn es ist ein Riga Holteis, gesehen durch die Brille seiner persönlichen Erlebnisse, die eine zusätzliche Verklärung durch die inzwischen vergangene Zeit erfuhren. Das war eine Art zu schreiben, zu der er sich selbst immer bekannte: „ich produziere dabei nicht so eigentlich; vielmehr reproduziere ich; verwebe in neue Gestalten und Formen, was alte Erinnerungen mir zuführen“ 38 . Um die widerstrebenden Interessen unter einen Hut zu bringen, wandte hier der Breslauer sehr bewusst die Strategie der Hybridisierung an. Im Gegensatz zu Bachtins Konzept der „Hybridisierung der Sprache“ 39 geht es bei Holtei um eine transgressive Vermischung verschiedener generischer Konventionen - einer Kriminalerzählung mit einem Sittenroman, Reisebericht u.a. Es kam dabei ein Text heraus, der offensichtliche Schwächen im Handlungsaufbau mit wertvollen Einblicken in die Kultur einer bereits vergangenen Welt mischt. Dadurch wurden unterschiedliche Lesarten ermöglicht, unter denen die Kriminallektüre nicht unbedingt am interessantesten ist. 37 Federico Italiano, „Translatiomaris. Zur Übersetzung von Geographien bei Jules Verne“, in Birgit Wagner; Christina Lutter; Helmut Lethen (Hrsg.), Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2/ 2012, H.: Übersetzungen. Bielefeld, transcript, 2014, S. 59-70, hier S. 62. 38 von Holtei, Vierzig Jahre, S. 461. 39 Vgl. Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1979, S. 244. Cezary Lipiński 50 Bibliographie Richard Alewyn, „Anatomie des Detektivromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 52-72. Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1979. Bertolt Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromane“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 33-37. Omar Bsaithi, Land and Mind. Kenneth White's Geopoetics in the Arabian Context, Newcastle, Cambridge Scholars Publishing, 2008. Carl von Holtei. Eine Biographie, Prag-Leipzig, Expedition des Albums, 1856. Karl von Holtei, Bilder aus dem häuslichen Leben, Berlin, Artistische Anstalt, 1858. Karl von Holtei, Mord in Riga, Freiburg im Breisgau, Herder, 1979 (Herderbücherei Bd. 729). Karl von Holtei, Vierzig Jahre Lorbeerkranz und Wanderstab. Lebenserinnerungen des Schauspielers und Poeten, (neu hrsg. und eingel. von Hans Knudsen), Berlin, Deutsche Buch-Gemeinschaft, [1932]. Richard Gerber, „Verbrechensdichtung und Kriminalroman“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 73-83. Rudolf Sieverts; Hans Joachim Schneider (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, Berlin; New York, de Gruyter, 1977, Bd. 2. Federico Italiano, „Translatiomaris. Zur Übersetzung von Geographien bei Jules Verne“, in Birgit Wagner; Christina Lutter; Helmut Lethen (Hrsg.), Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2/ 2012, H.: Übersetzungen, Bielefeld, transcript, 2014, S. 59- 70. Henk J. Koning, „Karl von Holtei in Riga (1837-1839) und seine Erzählung Ein Mord in Riga (1855)“, in Christian Andree; Jürgen Hein (Hrsg.), Karl von Holtei (1798- 1880). Ein schlesischer Dichter zwischen Biedermeier und Realismus, Würzburg, Bergstadtverlag, 2005, S. 99-122. Gerhard Kosellek, „Karl von Holtei in Riga. Ein Beitrag zur Theatergeschichte“, in Gerhard Kosellek (Hrsg.), Silesiaca. Literarische Streifzüge. Bielefeld, Aisthesis, 2003, S. 187-221. Magdalena Marszałek, „Der russische Norden in der polnischen Literatur. Von Adam Mickiewicz zu Mariusz Wilk“, in Norbert Franz; Rüdiger Kunow (Hrsg.), Kulturelle Mobilitätsforschung: Themen - Theorien - Tendenzen. Potsdam, Universitätsverlag, 2011, S. 239-261. Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart/ Weimar, J.B. Metzler, 2003. Sylvia Sasse, „Literaturwissenschaft“, in Stephan Günzel (Hrsg.), Raumwissenschaften. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2009, S. 225-241. Ulrich Suerbaum, Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart, Reclam, 1984. Karl Weinhold, Rede bei der Feier des achtzigsten Geburtstages Karl von Holteis am 24. Januar 1878 im Liebichschen Sale zu Breslau (mit Prolog von Max Halbeck), Breslau, Eduard Trewendt, o. J. Reinhard Wittmann, Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert: Beiträge zum literarischen Leben 1750-1880, Tübingen, Niemeyer, 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 6). Tom Zwaenepoel, Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur. Das populäre Krimigenre in der Literatur und im ZDF-Fernsehen, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2004. Paul Martin Langner Der Reiz des Unbekannten im Bekannten Zum historischen Kriminalroman Rungholts Erbe von Derek Meister (2006) Die Hansestadt Lübeck scheint Probleme mit literarischen Schwiegersöhnen zu haben. Wie schon Thomas Mann in seinem Roman Die Buddenbrooks (1901) in einem entscheidenden Handlungsfaden das Ringen von Toni Buddenbrook mit der „Familientradition“, bis sie sich entschließt, den ungeliebten Börsenmakler Grünlich zu heiraten, der sich als insolventer Spekulant entpuppt, so zeichnet Derek Meister in seinem mittelalterlichen Kriminalroman Rungholts Erbe (2006) den Bankrotteur Attendorn, der durch die Heirat mit der Tochter des Protagonisten Rungholt, einem finanzstarken und einflussreichen Patrizier, seine eigene, drohende Katastrophe abzuwenden versucht. Eine interessante Parallele, die hellhörig werden lässt, als ob in der mentalen Karte der Bewohner der alten Hansestadt ein spezifisches Muster bereitsteht, nach dem im kaufmännischen Milieu Lübecks allem Anschein nach der Andere nicht nur als Konkurrent enthalten ist, sondern ihm von vornherein die Position des Bösen und Verbrecherischen unterstellt wird. Hier wären andere Lübeck-Romane zu befragen. Der folgende Beitrag soll darauf aufmerksam machen, wie das Unbekannte im Bekannten aufgedeckt werden kann. In der Wahrnehmung des Unbekannten im Bekannten wird eine Differenz sichtbar. Das Unbekannte wird durch das Prinzip der dichten Beschreibung greifbar 1 . Über das Prinzip der „dichten Beschreibung“ werden der Konstruktionscharakter sowohl der bekannten Lebenswelt erkennbar als auch die Konstitution des Historischen. Dem Ineinandergreifen von Beschreibung und Konstruktion gilt es mit Blick auf den historischen Kriminalroman nachzuspüren. Das Interesse, Kriminalromane im Mittelalter anzusiedeln, besteht nicht darin, das Mittelalter zu rekonstruieren, sondern durch die Auseinandersetzung mit der lang vergangenen Lebenswelt eine Position für die Gegenwart zu formulieren. 1 Clifford Geertz, „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“, in Dorothee Kimmich; Rolf G. Renner; Bernd Stiegler (Hrsg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart, Reclam, 2008, S. 513-528. Paul Martin Langner 52 Dieses Interesse am Mittelalter deckt sich weitgehend mit Ergebnissen, die seit den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch ein steigendes Forschungsinteresse der Mediävistik offengelegt wurden 2 . Danach zu fragen, wie das Mittelalter in der Geschichte und in der Gegenwart rezipiert wurde und wird, führt zu Feststellungen, dass die Rezeption des Mittelalters sich meist als Reflexionsfläche darstellt, um zeitgenössische Probleme in Parabelform zu besprechen, Stellung zu nehmen, um für die gegenwärtigen Fragestellungen eine historische Untermauerung zu finden. Verbunden waren damit Untersuchungen an Texten besonders des 19. und 20. Jahrhunderts, die in unterschiedlicher Weise auf das Mittelalter Bezug nehmen. Erinnert sei 1. an Christoph Heins Ritter der Tafelrunde 3 , 2. an die Bearbeitung des Nibelungenliedes von Franz Frühmann 4 , 3. an Ingomar von Kieseritzkis Tristanroman 5 , 4. an Dieter Kühns Übersetzung des Parzival 6 , 5. an Essays wie dem von Peter Rühmkorff zu Walther von der Vogelweide 7 und vieles andere mehr. Die Anliegen dieser Texte sind vielfältig und lassen sich nicht unter einem gemeinsamen Bedürfnis subsumieren. Wichtig erscheint jedoch die Perspektive, mit der die Autoren auf das Mittelalter blicken. Oftmals werden literarische Texte als Vorlage für Neubearbeitungen oder Umarbeitungen herangezogen. In den oben genannten Texten steht jeweils ein literarisches Werk im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Mittelalter. Ein anderer Bezug besteht in der kulturwissenschaftlichen Perspektivierung. Gerade dieser kulturwissenschaftliche Zugang zum Mittelalter ist für die Auseinandersetzung mit Kriminalromanen wichtig, die einen Bezug zum Mittelalter herstellen. Gegenüber den Kriminalromanen, die eben den kulturwissenschaftlichen Bezug betonen und damit stärker die Lebenswelt und die Mentalität des Mittelalters berücksichtigen, gestalten Romane, die zur Gattung des historischen Romans gehören, oftmals Bezüge zu literarischen Texten 2 Eine umfangreiche Darstellung dieses Forschungsinteresses bietet der von Peter Wapnewski herausgegebene Kongressbericht Mittelalter-Rezeption, Stuttgart, Metzler, 1986 (= Germanistische Symposien-Berichtsbande 6). 3 Christoph Hein, „Die Ritter der Tafelrunde“, in Christoph Hein, Die Ritter der Tafelrunde und andere Stücke. Berlin; Weimar, Aufbau-Verlag, 1990, S. 131-193. 4 Franz Fühmann, Das Nibelungenlied, neu erzählt, Berlin, Verlag Neues Leben, 1971. 5 Ingomar von Kieseritzky; Karin Bellingkrodt, „Tristan und Isolde im Wald von Morois oder der zerstreute Dialog“, in Ingomar von Kieseritzky; Karin Bellingkrodt, Tristan und Isolde. Dialoge. Graz, Droschl, 1987. 6 Dieter Kühn, Der Parzival des Wolfram von Eschenbach, Frankfurt/ M., Insel, 1986. 7 Peter Rühmkorff, Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, Reinbek, Rowohlt, 1975. Der Reiz des Unbekannten im Bekannten 53 des Mittelalters. Die Gattung der historischen Romane, die sich auf das Mittelalter beziehen, hat im deutschsprachigen Raum eine lange Tradition. Als ein frühes Beispiel eines historischen Mittelalter-Romans kann die Tetralogie von Karl August Friedrich von Witzleben über Markgraf Albrecht von Brandenburg gelten 8 . Um 1900 gab es geradezu einen Boom solcher historisierender Romane. Als Beleg kann der unsägliche, aber wirkungsstarke Roman von Josef Victor von Scheffel Ekkehard genannt werden 9 , der 1916 bereits seine 268. Auflage erlebte. Er entwickelt ein rührendes Bild des Mittelalters, das ganz der Empfindungswelt Der Gartenlaube entsprach und „erklärt“ zuletzt die Abfassung des Nibelungenliedes in einer Weise, die mit den realen Bedingungen des Mittelalters gar nichts gemein hat. Anklänge an literarische Texte finden sich in neuerer Zeit vor allem in dem internationalen Romanerfolg Im Namen der Rose von Umberto Eco 10 , der zwar kein Kriminalroman ist, wohl aber mit Mitteln des Kriminalromans spielt. Zugleich scheint mir dieser Roman mitnichten auf das Mittelalter zurückzugehen, wie allein das Wittgenstein-Zitat am Ende des Romans belegt, wobei interessant ist, dass ja gerade Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen mehrfach Bezug auf Thomas von Aquin nimmt, also seinerseits das Mittelalter rezipiert, und nun von Eco wiederum ins Mittelalter zurückgespiegelt wird. Eco gelingt mit einem solchen Bezug eine doppelte intertextuelle Vernetzung. Die weiteren, vielfältigen intertextuellen Bezüge zur Vergangenheit und Gegenwart bieten eine Fülle von Anregungen. Das Bild vom Mittelalter, das im Roman Im Namen der Rose entwickelt wird, scheint mir aber hier nur eine gedankliche Folie. Eco nutzt den Roman m.E., um seine Zeichentheorie plausibel zu machen, nicht um ein Bild des Mittelalters zu entwerfen. Literarische Anspielungen hat dagegen Donna W. Cross in Die Päpstin Johanna geschickt eingearbeitet 11 . Hier werden zugleich aber auch feministische Positionen unterschwellig thematisiert, die gleichfalls vom Denken des Mittelalters weit entfernt sind, während Anspielungen auf die „Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn“ ganz der mittelalterlichen Gelehrtenpraxis entsprechen. Einzelne Zitate aus Werken, die für das Mittelalter imminente Bedeutung haben, deuten ein Kennzeichen des historischen Romans an. Dagegen verzichtet der historische Kriminalroman 12 weitgehend auf literari- 8 A. Tromlitz, Romantische Gemälde aus dem Leben Albrechts des Kriegers, Markgrafen von Brandenburg, Dresden; Leipzig, Arnoldsche Buchhandlung, 1833, 4. Bd. 9 Joseph Victor von Scheffel, Ekkehard. Eine Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert, Stuttgart, Adolf Bonz, 1916, 268. Aufl. 10 Umberto Eco, Im Namen der Rose, München, Hanser, 1982. 11 Donna W. Cross, Die Päpstin Johanna, Berlin, Rütting und Loening, 1996. 12 Diese Gattungsklassifikation übernehme ich dem Untertitel des Romans Rungholts Erbe von Derek Meister. Paul Martin Langner 54 sche Kontexte 13 . Die Gattung schöpft aus der Lebenswelt des Mittelalters oder zumindest konstruiert sie Bilder, die der Autor als aussagekräftig für eine mittelalterliche Lebenswelt hält. Gerade für die spezifische Auswahl von kulturhistorischen Aspekten kann der Roman Rungholts Erbe von Derek Meister 14 beispielgebend herangezogen werden. Die Fabel ist kompliziert, wird aber durch die geschickt gegeneinander montierten und spannungsvollen Erzählblöcke glaubhaft. Für die Fabel und ihre Hintergründe deckt der Autor Schritt für Schritt Details des Geschehens für den Leser auf, eher alle Fakten zuletzt ein Gesamtbild ergeben, in dem Verrat, Mord, Betrug, Bestechung und Unterschlagung eine Rolle spielen. Eine Randfigur, ein unbekannter, d.h. ein stadtfremder Mann, wird in dem Roman als Erster ermordet und der Geselle des Patriziers Rungholt 15 wird als Mörder verdächtigt und inhaftiert. Dieser Geselle liegt dem Händler Rungholt besonders am Herzen, er ist für ihn fast ein Sohn-Ersatz, weshalb sich der Handelsherr für die Aufklärung des Verbrechens engagiert. Für die Aufklärung werden ihm vom Bürgermeister nur zwei Tage Zeit gelassen und mit fliegender Eile geht Rungholt den verschiedenen Spuren nach, bis deutlich wird, dass dieser Mord und eine Reihe weiterer Morde darauf abzielen, den Bau eines Kanalsystems, eine Vorform des Elbe- Lübeck-Kanals, zu verhindern, da ein anderer Lübecker Patrizier, Attendorn, von dem noch niemand weiß, dass seine Handelskette bereits bankrott gemacht hat, mit Piraten im dänischen Sund gemeinsame Sache macht. Auch der Leser erfährt erst am Ende der Handlung diese Hintergründe. Dieser Patrizier, in dessen Auftrag die Morde geschehen, ist der zukünftige Schwiegersohn Rungholts, der sich am Tag nach dem Gerichtsverfahren gegen den Gesellen mit der Tochter Rungholts verloben will. Erst im letzten Moment, nachdem Rungholt selbst unter Verdacht gestellt wird, die Morde in Auftrag gegeben zu haben, als bereits die Schlinge um dem Hals seines Gesellen liegt, erscheint Rungholt mit den entscheidenden Beweisen und entlarvt den Patrizier Attendorn vor dem Gericht und der versammelten Bevölkerung als Mordbube und Bankrotteur. Das Arsenal von Hilfsmitteln für den handlungsführenden Hobby- Detektiv Rungholt entspricht anderen Romanen. Mit der analytischen Schär- 13 Eine Ausnahme dürfte der Roman von Sibylle Urbanski Totentanz sein, in dem die Entstehung des Lübecker Totentanzes thematisiert wird, in die nach dem Willen der Autorin eine Mordserie eingearbeitet wurde. 14 Derek Meister, Rungholts Erbe, München, Blanvalet, 2006. 15 Rungholt ist ein sprechender Name, der Namen weist auf einen Ort, der bei einer großen Sturmflut 1362 vor Nordstrand in der Nordsee versunken ist. Angeblich soll man noch immer das Läuten der Glocken von der Kirche von Rungholt hören. An diese Sturmflut knüpft auch die „Biographie“ des Protagonisten an, der als einer der wenigen in der Region überlebt haben soll. Der Reiz des Unbekannten im Bekannten 55 fe seines Denkens, aber auch mit dem berüchtigten Kommissar Zufall kommt er dem wahren Täter auf die Schliche. Der argumentative Aufbau des Romangeschehens entspricht ganz der neuzeitlichen crime fiction. Von der Grundstruktur entspricht der Roman von Meister mit dem Schema Fall - Fragen - Lösung zugleich dem klassischen Gattungsmuster des Kriminalromans. Die Besonderheiten des Mittelalter-Krimis werden in den Zugaben der Darstellung erkennbar. Sie erhöhen den Anreiz der Beschäftigung mit dem Text 16 . Durch die historische Zuweisung des Falles ins Mittelalter entsteht die Konsequenz, dass eine Privatperson ermitteln muss - die Institution der Polizei war in den Jahren um 1400 erst in vagen Zügen erahnbar. Zwar gab es Gerichtsbüttel, die hoheitliche oder städtische Aufgaben erledigten, und die Besatzung eines Gefängnisses in größeren Städten, aber sie hatten noch nicht die Funktion einer Ermittlungsbehörde. Außerdem galt Mord im Mittelalter nicht als Widerstand gegen das staatliche Gewaltmonopol oder als Destabilisierung staatlicher und sozialer Ordnung, sondern als ein sündhafter Angriff auf die göttliche Schöpfungsordnung. Ein Fehlverhalten wie das eines Verbrechens oder Mordes verursachte nach dieser Auffassung eine Disharmonie in der Schöpfung. Diese Disharmonie betraf die gesamte Gemeinschaft, die durch die Handlung aus dem Lot gekommen war und erst die Sühne des Verbrechens sollte die göttliche Ordnung wieder herstellen können. Die moralisch-soziale Schieflage, in die eine Gemeinschaft durch einen Mord oder ein anderes Verbrechen geriet, konnte nicht durch ein rationalisiertes Verfahren wiederhergestellt werden, sondern nur durch ein religiöses Ritual. Die Konstellation, nach der Rungholt als Privatperson ermittelt und sich als Einzelgänger auf den Weg macht, den Täter zu entlarven, und der sich damit in gewisser Weise sogar aus der Gemeinschaft herausbewegt, ist für einen Kriminalroman mit historischer Dimension eine notwendige Konsequenz. Dennoch wird die Figur in einer Weise gezeichnet, die sie als Ermittler ungeeignet erscheinen lässt. Obwohl mit einem guten Verstand ausgerüstet, ist Rungholt von schwerer körperlicher Statur, bewegt sich schwerfällig und neigt dem hemmungslosen Alkoholgenuss zu. Gleichwohl ist er umtriebig und unerschrocken. Der Wille, seinen Gesellen zu retten und ihn nicht ungerechtfertigt hängen zu sehen, bringt Rungholt in Situationen, in denen er selbst vom überlegenen Mörder ins Visier genommen wird. Er bleibt aber unbeschadet. Dieser ermittelnde Einzelgänger hat - wie es Leser aus Sherlock Holmes kennen - einen Kollegen und Helfer. Dieser Mann, Marek, seines Zeichens Kapitän auf einem der Schiffe, die für Rungholt fuhren, hat nicht die Figu- 16 Vgl. Ulrich Suerbaum, „Kriminalroman“, in Dieter Lamping (Hrsg.), Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart, Kröner, 2009, S. 438-446. Paul Martin Langner 56 renkontur eines Dr. Watson. Er ist weder Chronist noch wohlwollender Freund. Marek bleibt ein skeptischer Beobachter des Treibens von Rungholt, erst im Laufe der Zeit wächst Anerkennung und Verständnis für den ermittelnden Patrizier. Innerhalb der Romankonstruktion scheint Marek eine Position einzunehmen, die Unschlüssigkeit, Skepsis, ja zuweilen Kritik am Handeln des ruhelosen Ermittlers erlaubt. Er steht damit dem Leser näher und macht zugleich die Handlung, durch seine langsam wachsende Zuwendung auch für den Leser nachvollziehbarer und glaubhaft. Komplex und problematisch wird die Beziehung zu anderen Patriziern in dem Roman dargestellt, die - weil sie in unterschiedlicher Weise in den verbrecherischen Vorgang involviert sind - nicht von Anfang an und eher hindernd die Aufklärungsarbeit von Rungholt begleiten. Das zeigt die Hoffnungslosigkeit des Beginnens von Rungholt, zeichnet ihn mehr und mehr als Einzelgänger und erhöht die Spannung des Romangeschehens. Spannung erzeugen außerdem Passagen, in denen die Brutalität des Sterbens und Mordens erkennbar werden 17 . Der Treffer mit einem Pfeil kann eben tödlich sein und wird vom Autor realistisch und bildhaft beschrieben 18 . Das Markttreiben, gemeinsames Essen, der Alltag erscheint immer wieder als bildhafte Illustration und Illusion dafür, sich als Leser im Mittelalter zu befinden. In diesem Rahmen ist die liebevolle und gewissenhafte Ausschmückung der Vorbereitungen der Verlobungsfeier, des sogenannten Toslach (= Zuschlag, die vertragliche Vereinbarung zur ehelichen Verbindung gleicht schon in der Wortwahl dem Abschluss eines Handelsgeschäfts), wie sie im spätmittelalterlichen Lübeck genannt wurde, ein weiteres wichtiges Element 19 . Die Methoden mittelalterlicher Folterverfahren in Gefängnissen werden angedeutet 20 . Meister beschreibt Kleidung 21 und Haartracht ganz so, wie sie Gemälden und Grafiken dieser Zeit zeigen. An einer Stelle werden Besonderheiten des Böttcherhandwerks erwähnt 22 . Auch Andeutungen zum medizinischen Wissen der Zeit werden von Meister realistisch beschrieben. In diesem Bereich war die Harnprobe, die ein Arzt aufgrund der Säftelehre des Hippokrates nahm, von großer Bedeutung 23 ; sie wird vom Autor im Roman glaubhaft eingebaut 24 . Es entsteht ein Kolorit von Andersartigkeit, die dem Roman für den Leser anregend und interessant macht. 17 Meister,Rungholt, S. 328. 18 Ebd., S. 114 f. 19 Ebd., S. 20. 20 Ebd., S. 170 f. 21 Ebd., S. 314. 22 Ebd., S. 462 f. 23 Kay Peter Jankrift, Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, 2005, S. 25 ff. 24 Meister,Rungholt, S. 169. Der Reiz des Unbekannten im Bekannten 57 Einprägsame Passagen, in denen Detailwissen des Autors die Darstellung realistisch erscheinen lassen, wenn ein Händler über den Bernstein 25 spricht oder das Wissen über die damalige Holzwirtschaft 26 ausgebreitet wird, informieren den Leser nebenbei. Noch ein weiterer wichtiger Aspekt sei erwähnt. Die Lokalisierung des Romans in Lübeck macht es Meister möglich, den Stadtplan der Altstadt auf der Insel zwischen den beiden Trave-Armen in die Handlung einzubeziehen. Der Leser, sofern er Lübeck kennt, hat das Vergnügen, sich stets an der realen Lebenswelt orientieren zu können. Mehrfach werden mittelalterliche Gebäudekomplexe, Straßennamen, die Hafenanlagen erwähnt. Damit vermischt sich für den Leser der Gegenwart das historische Lübeck mit dem heutigen. Damit steigt die Faszination des Textes. Der 580 Seiten umfassende Roman rezipiert das Mittelalter genau und bietet eine Fülle von aufschlussreichen Hinweisen auf eine lange vergangene Lebenswelt. Um meine Beobachtungen an dem Debüt-Roman von Meister zu kontrollieren, wurde außerdem der Roman von Frank Goyke Der Geselle des Knochenhauers 27 herangezogen, der im mittelalterlichen Hildesheim spielt. Während die Konstruktion und viele Gestaltungsmomente kein tiefgehendes Studium des Mittelalters aufweisen, wie ihm Derek Meister zur Vorbereitung seines Romans nachgegangen ist, so ist interessant, dass Goyke für seinen Text auf eine historische Quelle zurückgeht. Ein Hildesheimer Bürger hat eine Chronik hinterlassen und aus einigen wenigen Angaben dieser Chronik hat Goyke geschickt einen Roman mit einer blutigen Mordserie konstruiert. Trotz dieser literarischen Grundlage gelingt es dem Autor nicht, ein überzeugendes Bild des Mittelalters zu schaffen. Insbesondere sprachliche Modernismen machen es schwierig, während der Lektüre an ein mittelalterliches Geschehen zu glauben. Zudem stellt Goyke den Roman an den Anfang des 16. Jahrhunderts und muss daher die Problematik der beiden christlichen Konfessionen einbeziehen (was er wahrscheinlich wegen seiner literarischen Vorlage tut). Das komplexe gesellschaftliche und theologische Problem der Reformation ist aber kein Gegenstand eines Kriminalromans. Die Reformation ist kulturell, historisch und erzählerisch schwer adaptierbar. Der Ermittler in dem Roman von Goyke ist ein nach Hildesheim zurückkehrender Geistlicher, ein Mönch, Eusebius, der noch als Außenstehender die Geschehnisse in Hildesheim wenig durchschaut, aber mit ungetrübtem Blick Morden, Ehebruch, dem drohenden Konkurs eines Patriziers auf die Spur kommt. Auch er hat einen Gehilfen, einen jungen Novizen, Johannes, 25 Ebd., S. 183 26 Ebd., S. 372. 27 Frank Goyke, Der Geselle des Knochenhauers, Hamburg, Die Hanse, 2005. Paul Martin Langner 58 der sich dem Denken des höhergestellten Geistlichen anschließt, jedoch am Ende des Romans (als immanente Wirkung der sich verstärkenden Reformation) das Kloster verlässt. Der Roman von Goyke bleibt dennoch eine fadenscheinige Fantasie, eine nicht eben überzeugende Paraphrase einer nicht verifizierbaren textlichen Vorlage, die mit wenig einleuchtenden Mitteln und Stereotypen zum Mittelalter operiert. Die Berufung auf alte Quellen und Dokumente war ja schon im Realismus ein beliebtes Instrument, um die Glaubwürdigkeit des geschilderten Geschehens zu erhöhen 28 . Dennoch sollten die Beobachtungen an einem weiteren Roman überprüft werden, der nicht von Meister geschrieben wurde, etwa in der gleichen Zeit publiziert wurde und der sich außerdem auf eine andere deutsche Stadt bezieht. Gemeinsam ist beiden Romanen, dass sich die Handlung an einer konkreten mittelalterlichen Stadt entwickelt, die auch in der Gegenwart existiert. Eine starke Ortsbindung zeichnet diese Romane aus. Sie eröffnen dem neuzeitlichen Leser die Chance, sich in der Altstadt des jeweiligen Ortes zu orientieren. Straßennamen und Hinweise auf historische Gebäude bilden einen mentalen Kontext, den der Leser, sofern er die Städte kennt, leicht aktualisieren kann. Gerade diese Lokalisierbarkeit der Handlung im Stadtbild der Städte Lübeck und Hildesheim dürfte den Reiz abgeben, einen mittelalterlichen Kriminalroman zu schreiben. Damit können die Beobachtungen zu Kriminalromanen mit historischem Bezug zusammengefasst werden. Sowohl die inhaltliche Ebene, wie die strukturelle Dimension von Krimis mit historischem Hintergrund gleich in vielem den modernen Romanen. Handlungsschema und Verlauf der Handlung ist der anderer moderner Romane ähnlich. Auch das Beziehungsgeflecht verschiedener Figurengruppen ist dem moderner Romane verwandt. Vergleichbare Konstruktionen von zentralen Figuren, wie dem Ermittler und seinem Gehilfen, lassen diese Texte ebenfalls modernen Texten nahe kommen. Eine zusätzliche Gestaltungsebene des historischen Kriminalromans ist die kulturhistorische Einbettung. Dabei entscheidet beim Autor das Fachwissen über den jeweiligen historischen Kontext und damit die Glaubwürdigkeit des Romans. Die anderen mentalen und gesellschaftlichen Bedingungen, die verschiedenen technischen Gegebenheiten, auf die ein Autor Rücksicht nehmen muss, sprachliche Besonderheiten der Figurenrede bilden das kulturelle Umfeld, in dem der Text Wirkung entwickelt. Eine weitere Komponente ist die lokale Verortung des Geschehens in einem Lebensraum, der auch für Leser der Gegenwart aktuell und erfahrbar ist. 28 Die Eingangsszene in der Novelle Das Amulett von Konrad Ferdinand Meyer ist ein Beleg für diesen Realitätsnachweis. Der Reiz des Unbekannten im Bekannten 59 Der historische Kriminalroman scheint daher die Wirkung durch weitere Ebenen zu intensivieren. Neben der inhaltlichen Ebene (mit Handlungsaufbau, Erzeugung von Spannung, Figurenzeichnung etc.) und der strukturellen Dimension (mit Figurenkonstellation, schrittweise Erhellung des Tathergangs für den Leser, psychologische Komponenten etc.) treten die Dimensionen der kulturhistorischen Einbettung hervor. Je präziser und umfassender dieses Wissen für den Leser aufbereitet wird, desto intensiver erlebt er das Geschehen mit und kann sich in die vergangene Zeit hineinversetzen. Dieser Identifikationsprozess wird verstärkt durch die lokalen Bezüge, auf eine aktuelle und erlebbare Erfahrungswelt der Gegenwart, die die Glaubwürdigkeit des Geschehens erhöht und dem Leser die Identifikation erleichtert. In der Aneignung eines kulturellen Raumes über einen Text, der mit Elementen eines bekannten Lebensraumes arbeitet, erhält die durch den Roman initiierte Imagination des Mittelalters eine wesentliche Spannung. Die vielfältigen Angaben zu den Lebensbedingungen, den Handlungsmustern, den mentalen Verarbeitungsmustern erinnern an ein Prinzip ethnografischen Arbeitens, das Clifford Geertz als „dichte Beschreibung“ 29 bezeichnet hat. Je komplexer diese Beschreibung ausfällt, umso intensiver wird die Imagination des Unbekannten, Fremden sein. Zugleich werden dadurch Differenzen zur Gegenwart nachvollziehbar. Die imaginierten Vorstellungen der historischen Lebenswelt schaffen ein Bild eines Lebensraumes, der in der Gegenwart vermeintlich bekannt scheint. Dieses Bild lässt im Bekannten ein Unbekanntes greifbar werden, es macht die Faktizität des Gegebenen, in dem wir uns mühelos orientieren und alltäglich bewegen, fadenscheinig und deutet auf eine historische Dimension, die sich im Faktischen verbirgt. Das zeigt aber, dass sich aus der Differenz der Unbekannten zum Bekannten ein weites mentales Muster ergibt. Das Gegebene wird sowohl durch das Verdecken der historischen Dimension zu einer Konstruktion als auch das Historische, das aus der Konfrontation mit dem Faktischen gegeben ist. Der Konstruktionscharakter des Historischen, die Zuordnung und Verbindung von Informationen wird im historischen Kriminalroman, sofern er mit der Darstellung von mentalen, lebensweltlichen und kulturhistorischen Momenten arbeitet, deutlich. Dieses Ergebnis steht wiederum nicht isoliert da. In einer Zeit, in der sich eine Informationsmentalität dem Prinzip des „Anything goes“ (Paul Feyerabend) annähert, weil bei der hohen Angebotsdichte von Informationen und der fehlenden Zeit ihrer Verifizierung und Verarbeitungsmöglichkeit die Kontextualisierung von Daten zu Ordnungsmustern zunehmend desavouiert werden und Beliebigkeit provoziert, bietet man u.a. dem historischen Kriminalroman eine Sinnkonstruktion und -konstitution durch die 29 Geertz, Beschreibung, S. 516 f. Paul Martin Langner 60 Verhandlung des Unbekannten im Bekannten. Wie sehr diese Verhandlung auf der Qualität der Daten, von der Dichte der Informationen abhängig ist, wird erkennbar, wenn man die Konstruktion der Bilder des Mittelalters in Rungholts Erbe mit der in dem Roman von Frank Goyke vergleicht. Wer die kulturelle Differenz aushält, gestaltet und zur Basis eines kohärenten Gesamtbildes verdichtet, entwickelt ein Sinnangebot. Wer als Autor diese Differenz unterläuft, mit der Verwendung von Stereotypen argumentiert, das Fremde im Bekannten leugnet und negiert, wird schnell einen faden Text liefern, der ausschließlich handlungsorientiert, nicht aber kulturhistorisch relevant ist. Denn von der Qualität der Textur von Informationen, die sich aus den Angaben und Bildern bildet, hängt ab, ob die Differenz des Bekannten vom Unbekannten und die gegenseitige Erhellung glaubwürdig erscheinen. Die Möglichkeit von Sinnkonstruktion durch den spielerischen Umgang mit Faktischem und die Wahrnehmung von Differenzen zu historischen Daten könnte zugleich eine Erklärung für die Popularität der historischen Romane im Allgemeinen und historischen Kriminalromanen im Besonderen leisten. Die Sinnkonstruktion und Verbindlichkeit dieser Orientierung im historischen Kriminalroman stellen einen Widerspruch zur alltäglichen Datenüberflutung dar, sie gewährt die Kontextualisierung des Faktischen einerseits, andererseits aber auch die Wahrnehmung von Differenz. Beides könnte als Deutungsmuster für die Aktualität des historischen Kriminalromans oder auch des historischen Romans angenommen werden. Bibliographie Donna W. Cross, Die Päpstin Johanna, Berlin, Rütting und Loening, 1996. Umberto Eco, Im Namen der Rose, München, Hanser, 1982. Franz Fühmann, Das Nibelungenlied, neu erzählt, Berlin, Verlag Neues Leben, 1971. Clifford Geertz, „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“, in Dorothee Kimmich; Rolf G. Renner; Bernd Stiegler (Hrsg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart, Reclam, 2008, S. 513-528. Frank Goyke, Der Geselle des Knochenhauers, Hamburg, Die Hanse, 2005. Christoph Hein, „Die Ritter der Tafelrunde“, in Christoph Hein, Die Ritter der Tafelrunde und andere Stücke. Berlin; Weimar, Aufbau-Verlag, 1990, S. 131-193. Kay Peter Jankrift, Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, 2005. Ingomar von Kieseritzky; Karin Bellingkrodt, „Tristan und Isolde im Wald von Morois oder der zerstreute Dialog“, in Ingomar von Kieseritzky; Karin Bellingkrodt, Tristan und Isolde. Dialoge. Graz, Droschl, 1987. Dieter Kühn, Der Parzival des Wolfram von Eschenbach, Frankfurt/ M., Insel, 1986. Derek Meister, Rungholts Erbe, München, Blanvalet, 2006. Peter Rühmkorff, Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, Reinbek, Rowohlt, 1975. Der Reiz des Unbekannten im Bekannten 61 Joseph Victor von Scheffel, Ekkehard. Eine Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert, Stuttgart, Adolf Bonz, 1916, 268. Aufl. Ulrich Suerbaum, „Kriminalroman“, in Dieter Lamping (Hrsg.), Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart, Kröner, 2009, S. 438-446. A. Tromlitz, Romantische Gemälde aus dem Leben Albrechts des Kriegers, Markgrafen von Brandenburg, Dresden; Leipzig, Arnoldsche Buchhandlung, 1833, 4. Bd. Peter Wapnewski (Hrsg.), Mittelalter-Rezeption, Stuttgart, Metzler, 1986 (= Germanistische Symposien-Berichtsbande 6). Adam Sobek Quest Kreisförmiges Handlungsschema in Simone Tives’ Kriminalroman Die Tage des Saturn und Hans Dieter Stövers Tödliche Dosis Der Kriminalroman handelt vom logischen Denken und verlangt vom Leser logisches Denken. […]. Dementsprechend hat er ein Schema und zeigt seine Kraft in der Variation 1 . Der Reiz an der Ermittlung eines Falles und dessen vorheriger Darlegung, die letztendlich zu dessen Lösung führen muss, ist an sich fast so nachvollziehbar, wie auch die natürliche Neugier der menschlichen Wahrheitssuche. Die lange Geschichte der Gattung beweist wohl das Interesse des Lesers daran, dem Rätselspiel mit all seinen bestimmten Funktionen nachzugehen, das reiche und mysteriöse Figurenensemble eingehend zu hinterfragen, um schließlich sich selbst als bester Ermittler, Detektiv oder auktorialer Erzähler mit seinem umfassenden Faktenreservoir zu behaupten. Die Zeit des Goldenen Alters des Detektivromans, also die zwei Jahrzehnte zwischen 1920- 1940 2 , scheint nach wie vor ihren Fortbestand zu beweisen. Die Entwicklung der Gattung erlebt zwar gewisse Flauten, die aber nur als kurzweilige Atempausen zu deuten sind. Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg sind Zeugen einer verstärkten Rezeption narrativer Texte, die die Kurzgeschichten als Standardform der Kriminalgeschichte ablösten 3 . Die Tendenz wird mit Veröffentlichungen von Frank Aarnau (1894-1976) und von Louis Weinert-Wilton (1875-1945) bestätigt, die zu den wenigen Textproduzenten gehören, die sich der fehlenden Kriminalromantradition in Deutschland widersetzten 4 . Die Dichotomie zwischen Krimirezeption und Krimiproduktion ist um so verblüffender, wenn man bedenkt, wie einfallsreich und produktiv die Reihe der jüngeren deutschen Autoren in den 1960er Jahren in 1 Bertolt Brecht, „Über Popularität des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink, 1971, Bd. II, S. 315-321, hier S. 315. 2 Vgl. Ulrich Suerbaum, Eine Analyse der Gattung, Stuttgart, Reclam, 1984, S. 74. 3 Vgl. ebd.. 4 Vgl. Wilhelm Roth, „Der Bürger als Verbrecher. Materialien zum deutschen Kriminalroman“, in Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. Berichte, Analysen, Reflexionen zur neueren Kriminalliteratur. München, W. Fink, 1978, S. 76-86, hier S. 79. Adam Sobek 64 der BRD wurde. Zu nennen sind Hansjörg Martin (1920-1999), dessen Kriminalromane beträchtliche Auflagen erreichten, der in Flensburg geborene Arzt Thomas Andresen (1934-1989), Friedhelm Werremeier, dem es gelang, eine, dem Publikum durch die „Tatort“-Serie bekannte handelnde Figur des Hamburger Hauptkommissars Trimmel zu schaffen. Die erneute Neugier und das Interesse am Kriminalroman sieht Wilhelm Roth im Ende der Ära Adenauer und der Zeit der Außerparlamentari schen Opposition und begründet seine These folgendermaßen: Sicher hatte jeder der Autoren seine eigenen, oft höchst individuellen Antriebe, Krimis zu schreiben. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie, mehr oder weniger, eine Veränderung unserer Gesellschaft für wünschenswert oder notwendig halten. Die Erschütterungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft werden in den Krimis, manchmal nur wie ein fernes Donnergrollen, doch spürbar 5 . In meinem Beitrag kommt es darauf an, die Attraktivität und die Unendlichkeit antiker Stoffe mit deren unzähligen Auslegungsoptionen auf sinnlicher Ebene in den Detektivgeschichten aufzuzeigen. Grundlage dafür bilden sowohl Geschehen und Geschichte, als auch die Ebene des Diskurses in Hans Dieter Stövers Kriminalroman Tödliche Dosis (1986) und Simone Tives’ Prosatext Die Tage des Saturn (2012). Ausgangspunkt der Überlegungen ist hierbei die Frage nach den Funktionen des narrativen Schemas der „hohen Kultur“ in den Texten, die der populären Literatur und folgerichtig der populären Kultur zuzuordnen sind. In den beiden narrativen Texten bildet das Figurenensemble - im Gegensatz zu Arthur Conan Doyles Geschichten 6 - einen recht breites Fächerspektrum und es umfasst nicht nur den Hauptermittler und seine Assistenz, neben den Opfern und Nebenfiguren, sondern auch die ganze Romangesellschaft, d.h. die des altertümlichen Roms und jene des neu gegründeten Novaesiums. In beiden Texten spielen jeweils mindestens zehn Personen die tragende Rolle, die graduell, mit Vorsatz oder auch „unbeabsichtigt“ 7 zur Klärung der Mordfälle beitragen. Der Krimitext Tödliche Dosis (1986) beginnt mit einer ausgedehnten Darstellung von Einzelfiguren. Der auktoriale Erzähler versucht somit den Zusammenhang zwischen ihnen und der Gesellschaft als solcher zu erklären. Es ist eine Gesellschaft, die man in den „poin- 5 Ebd., S. 79 f. 6 Vgl. dazu: Suerbaum, Eine Analyse der Gattung, S. 75. 7 Über die unbeabsichtigte Mordfalllösung sowie den Zufall in den Detektivromanen schreiben genauer Doroty Sayers, „Aristoteles über Detektivliteratur“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink, 1971, Bd. I, S. 123-139 und Włodzimierz Bialik, „Der Zufall in den Detektivgeschichten von Friedrich Dürrenmatt“ in Studia Germanica Posnaniensia V, Poznań 1976, S. 37-61. - Quest 65 tierten Kriminalromanen“ 8 des klassischen Typs antrifft. Das Beispiel des sozialen Hintergrunds belegt die Tendenz zur Darstellung eines breiten Bildes der Gesellschaft, die man quasi als Abbild der Mußegesellschaft liest. Der milieuhafte Anschlag erfüllt eine pragmatische Funktion; er soll alle möglichen Leserkreise ansprechen, indem man in den Figuren sein Abbild erkennt und zumindest partielle Identität findet. Es wird eine adelige Großfamilie des antiken Roms vorgestellt, in der mehrere Teilfamilien und Generationen zusammenleben, die außerdem noch eine Reihe von Gästen, Handwerkern und Sklaven aufgenommen hat. In dem Text sind alle sozialen Stände vertreten: der Adel, freie Bürger Roms, Freiberufler mit ihrer Aufgabe, zwischen den extremen Gesellschaftsschichten, Brücken zu bauen, Handwerker und Sklaven, die - im Gegensatz zu ihrem sozialen Status - sehr oft nicht die geringste Rolle spielen. Die Limitierung des Ortes scheint ebenfalls eine Grundvoraussetzung für einen Kriminalfall zu sein. So wie die Gleichheit der Zeit für die antike Tragödie kennzeichnend war, bewegen sich die handelnden und erlebenden Figuren auf einer weitgehend reduzierten Zeitachse, so wie im beschränkten Raumparadigma. Die Reduktion des Räumlichen und des Temporalen verleiht dem Erzählten im Unterschied zu der bunten Figurenkonstellation unbestrittene Dynamik, dank der „die portraitierten Wahrheitssucher, Verdächtigten, Informationsträger mit den potentiellen Tätern, Opfern, schlauen Spurenverwischern in einer Welt […], die aufs engste begrenzt bleibt, einem Ensemble physisch-materieller Fragen“ 9 in Kontakt treten. Quest als Aufbruch zum Abenteuer Die Detektivgeschichten bzw. die Kriminalgeschichten stellen nichts Weiteres als eine These über die Welt dar 10 . Damit ist der anthropologische Wert und Ansatz zugleich erfüllt, denn literarische, fiktionale Erzählungen mit deren fiktiven Figuren, Handlungen und Milieus transportieren immer eine bestimmte Weltanschauung und haben immer ein bestimmtes Thema. Wendet man sich dem Handlungsschema zu, so erkennt man darin den „Ausdruck einer existentiellen Problemlösungsaktivität“ 11 . Die Handlung wird 8 Vgl. dazu: Ulrich Schulz-Buschhaus, „Leonardo Sciascia oder die Beunruhigung des Kriminallesers“, in Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. Berichte, Analysen, Reflexionen zur neueren Kriminalliteratur. München, W. Fink, 1978, S. 142-154, hier S. 142. 9 Ebd. 10 Matias Martinez; Michael Scheffel, Einführung in der Erzähltheorie (3. Auflage), München, C.H. Beck, 2002, S. 134. 11 Ebd., S. 154. Adam Sobek 66 also in drei aufeinanderfolgende Hauptteile eingeteilt, die sich, wie dargestellt, paraphrasieren lassen: 1. Auszug von zu Hause, der unter Umständen mit einem Aufbruch aus dem geordneten und ruhigen Alltag umschrieben werden kann. In dem Textabschnitt wird oft der Hintergrund der Erzählung skizziert; Figuren werden vorgestellt, ein Mord wird begangen, der eine Bestimmung einer ermittelnden Instanz zur Folge hat; 2. Erfüllung einer Aufgabe, die der Ermittlung, der Fahndung und schließlich der überraschenden Entdeckung des Täters gleichgestellt wird. Die primäre Spannung wird durch weitere Wendepunkte zugespitzt, die Leselenkung wird vom Erzähler durch mehrere Andeutungen in bestimmte Richtungen vorgenommen, die mit der analytischen Aufklärung zurückliegender Ereignisse von der ermittelnden Instanz kompensiert werden; 3. Rückkehr. Die dritte Handlungssequenz krönt die abenteuerliche Suche nach dem Mörder, die eine Art Beschwörung des prequestorischen Zustands bedeuten soll, aber nur teilweise kann, denn die Wahrheitserforschung hat sowohl den Leser, als auch das dargestellte Figurenensemble um neue Einsichten und Erlebnisse bereichert. Diese Handlungssequenz betrachtet man als eine Entladung der angestauten Tatsachen mit deren explanativem Potenzial, das den Auszug von zu Hause als den einzig richtigen Schritt der Hauptfiguren auslegt. Vergleicht man Vladimir Propps Handlungsschema, das von Walter Burkert mit einem überkulturellen allgemeinen Programm, das Erlebnisse organisieren soll 12 , etikettiert wurde, mit charakteristischen Strukturteilen einer Detektivgeschichte, so ist darin ein auffallender Zusammenhang zu erblicken: 1. Exposition mit Darlegung des Falles - es werden Figuren, deren soziale Verhältnisse und schließlich das Delikt mit dessen Opfer vorgestellt; 2. Ermittlung - Zusammenstellung der Gruppe, die an der Klärung des Falles mitarbeiten soll, Besichtigung des Tatortes, Sammlung und Auswertung von aufgetauchten Indizien; 3. Lösung - der überraschende Wendpunkt befreit den Ermittler von weiteren Aktionen der in Auftrag gegebenen Suche. Die Hauptfiguren sehen die Lösung als Triumph intellektueller Anstrengung und geistiger Überlegenheit dem Straftäter gegenüber an. Stützt man sich auf Dorothy Sayers’ These, so lautet 12 Vgl. ebd. Quest 67 die Erklärung folgendermaßen: „Die Ereignisse kommen am besten nicht zufällig, sondern durch eine harmatia, einen Fehler aufseiten des Betroffenen zustande“ 13 . Die narrative Struktur beider Kriminalgeschichten ist somit diejenige der abenteuerlichen Suche, der quête. Wie im Abenteuerroman treten die handelnden Figuren in Begleitung mit dem Überraschenden, manchmal Erschreckenden und Entsetzenden in Kontakt. Sie bilden eine Gruppe, die an der Lösung des Kriminalfalls arbeiten soll, indem sie sowohl das urbane, als auch das rurale Ambiente mit bisweilen bukolischen Zügen zur Schau stellen. Der narrative Raum ist keineswegs auf ein fiktives Toponym beschränkt, sondern wird im Zentrum mundi, im vorchristlichen Rom sowie in der einst von Römern gegründeten Lagerung Novaesium dargelegt, die bis heute unter dem Namen Neuss existiert. Die Geschlossenheit des sowohl sozialen als auch des physischen Raums bestätigt das berühmte Problem des locked-room-murder 14 , das den komplizierten Apparat des Aufklärungsspiels attraktiv gestaltet. Der Mord passiert an einem überschaubaren Ort und kann nach entschleiernden Indizien vom Leser erschlossen werden. Zum Inhalt des Prosatextes Tödliche Dosis (1986) 15 In diesem Prosastück beginnt der deutsche Schriftsteller und Historiker vorsichtig mit dem statement of the case 16 . Zuerst wird eine der Hauptfiguren vorgestellt, und zwar der griechische, seit zwanzig Jahren in Rom lebende und behandelnde Arzt Athenodoros, der die höchste römische Elite behandelt: Seine Haupteinnahmen kamen aus den Händen der reichen und neureichen Gentes [Schreibweise originell - A.S.] alten und neuen Adels, und da sein Ruf so groß war, konnte er es sich leisten, Bittgesuche aus den höchsten Kreisen abzuschlagen 17 . Der anfangs im Vordergrund stehende Held tritt im Laufe der Handlung zugunsten einer anderen Figur in den Hintergrund. Die Hauptrolle übernimmt in dem Text der Gaius Volcatius Tullus als Currilischer Aedil. Nach der Ersterwähnung eines gewissen Aullus Gellius Pobliola weiß der Leser noch nicht, welche überraschenden Endlösungen auf ihn zukommen kön- 13 Sayers, „Aristoteles über Detektivliteratur“, S. 131. 14 Vgl. dazu: Schulz-Buschhaus, „Leonardo Sciascia oder die Beunruhigung des Kriminallesers“, S. 142. 15 Hans-Dietrich Stöver, Tod auf dem Forum. Tödliche Dosis. Zwei Romane in einem Band, Bonn, Boccola Krimi Verlag, 2012. 16 Vgl. dazu: Suerbaum, Krimi, S. 76. 17 Stöver, Tödliche Dosis, S. 227. Adam Sobek 68 nen. Trotz fürsorglicher Behandlung gelingt es dem berühmten Arzt in Rom nicht, „einen der Führer im großen Sklavenkrieg vor zwanzig Jahren“ 18 zu heilen. In seiner Verzweiflung holt sich Athenodoros den Rat seines Kollegen Themison, der in gewisser Konkurrenz zu den Diensten des Griechen steht. Der Arzt erkennt schnell, dass es sich um eine Vergiftung handelt. Sein Argwohn wird bestätigt, als ihm Drohbriefe zugestellt werden. So erreicht der Detektivroman den höchsten Grad an struktureller Komplexität nicht nach langer Entwicklung, sondern gleich in seiner ersten Phase. Der griechische Arzt Athenodoros wendet sich an Gaius Volcatius Tullus, den Currilischen Aedil, der mit der Aufsicht über das römische Geschäftsleben betraut ist. So beginnt das Enthüllungsabenteuer, das von mehreren Männern unternommen wird: Alexander - dem ehemaligen Kampfkameraden des Aedils, Archelaos - dem besten Freund Alexanders, Selenus, Cornificius, Skamandros - dem Sekretär des Gellius. Ihre Handlungen zielen darauf ab, die Tötungsmotive im Umfeld von Poblicola zu entlarven. Die bunte Gesellschaft ist nicht gering: Calpurnia - Frau und bald Witwe nach Gellius Poblicolas tragischem und verfrühtem Tod; Hortensia - kluge und traurige Tochter von Calpurnia, die zugleich Poblicolas Tochter ist; Calpurnia - Gemahlin Cäsars und Cousine der verwitweten Calpurnia; Eudoxos - Großhändler, der Waren aus dem Orient besorgt, einschließlich Gift; Theokritos - Drogenhändler bei Argiletum in Rom, Menippos - auch Drogenhändler, der von einem unbekannten Spurenverwischer und Killer ermordet wird. Simone Tives bedient sich in ihrem Kriminalroman eines komplexeren Konstrukts, weil sie drei Gruppen als Untersuchungsobjekte bestimmt. Das sind die Römer in Castrum Novaesium, die Germanen, die von den Römern einst erobert, jetzt mit ihnen zusammenarbeiten und schließlich die aufständischen Germanen Bataver, deren Anführer zum Haupthelden kreiert wird. Die Handlung wird mit einem feierlichen Fest 69 n. Chr. eröffnet, während dessen dem Leser die ersten Spannungen zwischen dem Statthalter Marcus Flaccus und den anderen Amtsträgern in der römischen Provinz auffallen. Der Statthalter ist Freund des neuen römischen Kaisers, Vespasians, was seinen Gefolgsleuten nicht ganz gefällt, denn die Soldaten fühlen sich dem alten Kaiser Vitellius durch einen Treueschwur verpflichtet. Als der Statthalter Obergermaniens, Marcus Flaccus, ermordet aufgefunden wird, gerät Julius Civilis, der Anführer der Bataver in Verdacht, weil er in unmittelbarer Nähe vom Tatort gesehen wurde. Da der mutmaßliche Mörder so rasch vor die römische Justiz gestellt wird, lässt an der Korrektheit des Fahndungsverfahrens zweifeln, denn eine Detektivgeschichte erträgt solch eine voreilige Lösung nicht, außerdem erfolgt die „Rekonstruktion des Unerzählten“ 19 18 Ebd., S. 228. 19 Richard Alewyn, „Anatomie des Detektivromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink 1971, Bd. II, S. 372- 404, hier S. 375. Quest 69 durch die konsequente Suche und muss durch den Ermittler logisch erschlossen und begründet werden. Festgenommen und verhört ist er Zeuge eines raffinierten Spiels, das vom Legaten Gaius Dillius Vocula unternommen wird, um den Mörder möglichst schnell zu überführen und die Ordnung in der östlichen Provinz wieder herzustellen. Dem Bataver gelingt es jedoch zu entkommen. Die Flucht und die Rückkehr zu seinem Stamm nutzt er nun, um sein Ziel zu erreichen, nämlich seine Unschuld zu beweisen und den wahren Mörder zu überführen. Die abenteuerliche Suche führt er mit seiner Gruppe durch, um seinen Namen nicht nur vor den Römern, sondern auch vor seinem eigenen Stamm und sonstigen germanischen Stämmen weiterhin unbescholten führen zu dürfen. Zusammen mit Berwin, seinem Gefährten, Veleda - einer Seherin, Tullia - einer Römerin, die zu den Germanen übergelaufen ist, und schließlich mit Drusa - einer Sklavin, die Dienerin bei Marcus und später bei Vocula wird, kommt er der korrupten Verwaltung des römischen Lagers, dunklen Geschäften und sonstigen Klüngeleien in der Stadt, dem Sklavenhandel sowie ethisch fragwürdigen und abstoßenden Riten, die vom römischen Priester der Göttin Kybele gnadenlos ausgeführt werden, auf die Spur. Nach unzähligen Finten und Wendepunkten, Entführungen und wiederholtem Mord gelingt es dem Hauptverdächtigten, sich von Schuld und Mordvorwürfen zu befreien. Die wahren Mörder - überraschenderweise Drusa, die Marcus umgebracht hatte, ihr Bruder Rufus, der dem Numisius wegen Erpressung per Zufall seinen Tod herbeibrachte und schließlich der griechische Arzt Philippos, der von Anfang an Mitwisser und Berater war, werden der Justiz zugestellt 20 . Vielschichtiges Rätselspiel In beiden Detektivromanen werden die Leser mit einem komplexen und kaum überschaubaren Dickicht von offenen Detailfragen konfrontiert, die die „Kunst der falschen Kontextualisierung“ nach der Christie’schen Art ausmachen 21 . Nach Suerbaum ist der Grundsatz eines Rätselspieles, das verschachtelt, vielschichtig, verwirrend und komplex sein soll, die Voraussetzung für strukturelle Komplexität und unterhaltsame Enträtselungsspiele: Ein Mord [ist] als Teil einer Tiefenhandlung, von der im narrativen Oberflächenverlauf wesentliche Komponenten - Täter und Tatmodus - zunächst nicht erkennbar sind; eine Ermittlung, in der die Lösung nicht sichtbar wird, 20 Philippos kommt bei einem selbst gelegten Brand um, indem er von einer hohen Leiter in die Tiefe stürzt. Vgl. Simone Tives, Die Tage des Saturn. Historischer Roman, Köln, Emons Verlag, 2012, S. 275. 21 Vgl. Suerbaum, Krimi, S. 81. Adam Sobek 70 aber sämtliche Bestandteile der Lösung mehrfach falsch kontextualisiert erscheinen; eine zusammenhängende Lösung, die alle Tiefenhandlungen - vom Mord bis zur heimlichen Liebe - aufdeckt und die vorher im Text markierten Frageobjekte bis zum letzten Wachsflecken erklärt 22 . Die Vielteiligkeit macht den Gesamttext zu einem Konstrukt, das einem Rätselgeflecht ähnelt, in dem die Summe aller Details, fälschlich eingeordneten Spuren, lösungsrelevanten Indizien immer wieder neue Ermittlungsmöglichkeiten bildet. Simone Tives und Hans Dietrich Stöver werden sehr wohl die Taktik eingeschätzt haben, denn sie geben sich mit großer Vorliebe der Kunst hin, den Leser an der Nase herumzuführen und mit der Vereitelung einer vorzeitigen Lösung zu überraschen. So verfährt etwa H.D. Stöver in seinem Kriminalroman, in dem der Leser schon Mitte des Erzählstrangs die Sicherheit gewinnt, den Straftäter identifiziert zu haben, um über weitere Verdacht ablenkende Prozesse zu staunen. Der Mord scheint von einem Drogenhändler, Menippos, begangen worden zu sein, alle Indizien, die früher auf seine Schuld hindeuteten, landen durch dessen eigenen Tod, der ebenfalls durch einen Mord verwirklicht wird, in ein Sammelbecken der sogenannten ‚blinden Spuren‘. Dabei scheint auch die bewusst eingesetzte Mechanik der Ambivalenz von strukturell-narrativer Bedeutung zu sein. Sowohl Tives als auch H.D. Stöver verwenden mögliche Doppeldeutigkeiten, um die irreführende Kontextualisierung zu gestalten. Es handelt sich sowohl um sprachliche Ambivalenz, als auch um die von Gegenständen. In Verdacht geraten nicht nur die Drogen- und Salbenhändler mit ihren zwielichtigen Geschäften am Ufer des Tibers, die neben ihren Waren auch das im Zentrum der Ermittlung stehende Gift Akoniton Aconitum Indicum aus dem fernen Osten einführen, sondern auch die Ehefrau des im Leiden verstorbenen Poblicola, die zu Heilzwecken eine Salbe mit geringem Akoniton-Gehalt anwendet, so wie auch der griechische Arzt selbst, der einen uneingeschränkten Zugang zu dem Patienten und den Salbenhändlern hat. Die sprachliche Ambivalenz trägt zur Überwindung der Statik durch ziemlich häufige Wiederholung des Prinzips von Handlungsfiguren jeder Provenienz: „es kommt immer auf die Dosis an“ 23 . So wird bei jeder Feststellung dieser Art das Interesse geweckt, die Aufmerksamkeit auf eine konkrete Person zu konzentrieren, wobei man als Leser Gefahr läuft, andere lösungsrelevante Handlungsfiguren, sowie Indizien im Aufmerksamkeitsschatten unbeachtet gelassen zu haben. Die Lösung kann somit kein Leser erraten, aber dies bringt den Autor nicht davon ab, umfangreiche Tarnmanöver vorzunehmen. In der Reihe der zu klärenden Fragen spielt nach der Giftidentifizierung vor allem die Art der Giftverabreichung eine wichtige Rolle. Während umständlich nach Personen 22 Ebd., S. 80. 23 Stöver, Tödliche Dosis, S. 228. Quest 71 gefragt und gesucht wird, die vor seinem Tod in der direkten Umgebung des Opfers waren, wird mühsam die Annahme aufgegeben, den A. Gellius Poblicola, den römischen Ritter und Steuerpächter, mit einer zu großen Dosis umgebracht zu haben, sondern durch systematische und wohl durchdachte Verabreichung, nach der das kumulierte Gift den von manchen erwünschten Tod erwirkt hat. Schon zu Anfang, als über den Tatverlauf noch wenig bekannt ist, werden die ersten Spekulationen über den Täter vorgebracht. Es sind zwar nicht alle verdächtig, sondern jede der Personen, die einen Vorwand haben dürfte, wird mindestens einmal von dem Fahnder oder von an der Ermittlung interessierten Personen in einer hypothetischen Rekonstruktion der Tat als Mörder eingesetzt. Somit beginnt zwangsläufig das gesellschaftliche Enthüllungsspiel, denn es zeigt sich bald, dass die Figuren neue Geheimnisse haben, dass die Mitglieder der Familie fragwürdige Beziehungen zu Menschen aus niedrigen Gesellschaftsschichten unterhalten, von denen sie nur ungern erzählen, die sie aber im Laufe der Geschichte preisgeben müssen. Zur Detektivfunktion im Enthüllungsspiel Jeder Detektiv sieht sich vor die Aufgabe gestellt, Motive und Gelegenheiten aufzuspüren, die zur Katastrophe, d.h. dem Mord geführt haben. Bertolt Brecht hebt die Zwangsläufigkeit der Beleuchtung des Kausalnexus hervor und macht die eigentliche und hauptsächlich intellektuelle Vergnügung, die der Kriminalroman dem Leser bietet, von der Fixierung der „Kausalität menschlicher Handlung“ abhängig 24 . In H.D. Stövers Detektivroman hat man gewisse Schwierigkeiten, den eigentlichen Detektiv festzusetzen. Im Vordergrund steht die Hauptfigur C.V.T. mit dem Auftrag, die verlorene zeitliche und kausale Ordnung der Dinge wiederherzustellen, dem mehrfachen Mörder auf die Spur zu kommen, um am Schluss die verborgene und durchbrochene Ordnung in eine sichtbare und plausible Ordnung zu bringen. Der Figur misst der Leser besondere Bedeutung bei, denn er ist Betreuer des römischen Geschäftslebens 25 und im weiteren Geschichtenverlauf wird er mit einer exekutiven Vollmacht ausgestattet 26 , von der er „nach Gutdünken Gebrauch machen kann(st)“ 27 . Neben ihm aber treten seine Assistenten auf, die auch eine führende Rolle spielen: sie wirken aktiv am Erklärungsmodus mit, indem sie die Anweisungen ihres Vorgesetzten umsetzen, um der Wahrheit einen Schritt näher zu kommen. Man muss sich jedoch dem Eindruck entziehen, es ginge in dem Prosatext um einen kollek- 24 Vgl dazu: Brecht, „Über Popularität des Kriminalromans“, S. 320. 25 Vgl. dazu: Stöver, Tödliche Dosis, S. 8 und S. 224. 26 Vgl. dazu: ebd., S. 397. 27 Ebd. Adam Sobek 72 tiven Ermittler. Das Haupt der Untersuchung bleibt C.V.T. weil er wie ein Sammelbecken alle Tatsachen und neuen Erkenntnisse ansammelt, auswertet und in einen zeitlich-kausalen Zusammenhang stellt. Das Tandem scheint ein sich perfekt ergänzendes Team zu bilden. Alexandros, „Sohn aus Theben“ und ehemaliger Kämpfer, stellt das Gegenteil zum kultivierten und hohes Ansehen genießenden C.V.T. dar. Er ist primitiv, sprachlich ungeschickt, dafür aber gut gebaut und kräftig. Die Eigenschaften spielen mit dem intellektuellen Enthüllungsspiel des vorgefundenen Wirrwarrs, das vom Currilischen Aedil vorgenommen wird, ideal zusammen. Das, was der Hauptentschlüsseler denkt, hält er geheim. Das wird jedoch dank den Anweisungen und Erklärungen an Alexandros und Archelaos plausibel gemacht. Innerhalb dieser Enthüllungsfunktion nimmt C.V.T. eine konkrete Aufgabe bei der Steuerung des Rezeptionsprozesses wahr, vor allem die des Anführers „durch das Labyrinth der Spuren und lösungsvorbereitenden Sequenzen“ 28 . Es lässt sich darüber diskutieren, ob man die Geschehnisse „irreführend kontextualisiert im Mittelfeld“ 29 unterbringt, denn die Hauptfigur des Ermittlers erleichtert das Vorzeigen und das Verstecken wesentlich. Dem Rang entsprechend ist die Verheißung der Lösung dem C.V.T. vorbehalten - ein stilistisch-ästhetischer Eingriff, der den Fall Poirot evoziert 30 . Suerbaum subsumiert die figurale Auswirkung des aus Belgien stammenden Ermittlers mit folgender Konstatierung: Poirot [nimmt] einige konkrete Aufgaben bei der Steuerung des Rezeptionsprozesses wahr, vor allem durch das Labyrinth der Spuren und lösungsvorbereitenden Sequenzen. Auch ohne Detektiv ließen sich beliebig viele Lösungsbestandteile irreführend kontextualisiert im Mittelteil unterbringen, aber die Führerfigur erleichtert das Vorzeigen und das Verstecken ungemein 31 . Je näher die Lösung kommt, desto schneller entwickelt sich die Situation, dank derer der Hauptermittler darauf verweist, dass ihm jetzt nur das letzte Bindeglied in der Kettengeschichte fehlt. Der Detektiv entschlüsselt nicht nur das Täterrätsel, also die nagende Frage: Wer ist es gewesen? , sondern auch das komplizierte und verschachtelte Indizienspiel des Wie wurde es gemacht? Analysiert man die Merkmale des Detektivromans Die Tage des Saturn (2012), so erfüllen die Eigenschaften den Grundsatz, den Richard Alewyn in 28 Suerbaum, Krimi, S. 86. 29 Ebd. 30 Da Poirot als einzige kriminalistische Autorität in den Krimis auftritt, lässt ihn die Autorin Agatha Christie mit ein paar Sätzen eine alte Verdachtsrichtung blockieren oder auf eine neue verweisen. Zu Poirots Hauptfunktion gehört gerade die Verkündung der Lösung. Vgl. dazu: ebd. 31 Ebd.. Quest 73 seiner Untersuchung Anatomie des Detektivromans festsetzt. Der Autor des Beitrags legt folgenden Unterscheidungsversuch vor: „Der Kriminalroman erzählt die Geschichte des Verbrechens, der Detektivroman die Geschichte der Aufklärung des Verbrechens“. 32 Auch wenn die Autorin Simone Tives den Roman mit dem Untertitel Historischer Kriminalroman versieht, entzieht man sich als aufmerksamer Leser kaum dem Eindruck, dass das Hauptanliegen der Geschichte die durch die Denkaufgabe des mit-ermittelnden Lesers 33 vorausgesetzte Detektion des Verbrechers und die Aufspürung der Motive und Hintergründe für das begangene Delikt ist. Zum Hauptermittler wird der Hauptverdächtigte Jullius Caius der Bataver bestimmt, der sich in einer noch schwierigeren Situation befindet. Er muss nicht nur den Mörder finden, sondern auch sich selbst von möglichem Verdacht befreien, um seinen Führungsanspruch bei den Batavern zu behaupten. Dazu unternimmt er den gefährlichen Versuch, in der Informationsdichte als entlaufener und verfolgter Häftling am Erklärungsprozess im römischen Lager Novaesium und außerhalb der Festung zu agieren. Dabei wird die gesellschaftliche Position der Detektivfigur bedacht. Bei den Römern tritt er als Verbrecher und Geächteter auf, bei den germanischen Stämmen genießt er zwar seinen unbescholtenen Ruf aus der Vergangenheit, muss aber die durchbrochene Ordnung durch die Entdeckung des Mörders aus formellen Gründen in eine sichtbare und Ordnung bringende Struktur überführen. Simone Tives lässt ihre Hauptfigur - im Gegensatz zu Stövers Hauptprotagonisten - als Geheimagenten auftreten, der mit Hilfe seiner Untersuchungsgruppe und der Zuträger „die Indizien zusammen[trägt], durch Kombination das Ganze [erstellt] und durch logische Deduktion den Fall [löst], so kompliziert dieser auch sein mag; das Irrationale ist ausgeschlossen“ 34 . In dem narrativen Prosatext tritt das handelnde und erlebende Ich ebenfalls in einem erfassbaren und überschaubaren Raum auf, in dem die Identifikation des Verbrechers mit einer überraschenden Wirkung erfolgt. Ulrich Schulz-Buschhaus begründet den Grundsatz des begrenzten Handlungsraums mit folgender Prämisse: Soll der Kriminalroman also wie eine änigmatische Spielform funktionieren, muss er das Feld seines Spiels auf einen möglichst schmalen Realitätsausschnitt beschränken, und in der Tat unterscheiden sich die pointierten Rätselromane […] vom anderen Typus des kriminalistischen Abenteuerromans durch ihre Vorliebe für scharf abgegrenzte und leicht zu überblickende Schauplätze: eine Insel, ein Flugzeug, einen Eisenbahnwagen, […]. In dieser Vorliebe für zumal ländliche oder dörfliche Räume befriedeter Ordnung ist 32 Alewyn, „Anatomie des Detektivromans”, S. 375. 33 Siehe dazu: Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromans“, S. 318. 34 Günter Bien, „Abenteuer und verborgene Wahrheit. Gibt es den literarischen Detektivroman? “, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink, 1971, Bd. II, S. 45-472, hier S. 465. Adam Sobek 74 […] strukturelle Notwendigkeit des insgesamt zum Konservativen neigenden Romantyps 35 . Daran anschließend kann man den Raum des antiken Novaesium aufgrund zahlreicher deiktischer Angaben als ein abgegrenztes Untersuchungsfeld 36 , eine überschaubare Insel, auffassen, die sich durch ihre Mauern und Wachttürme von der barbarischen Grenzlosigkeit distanziert. The locked-roommurder muss von einem Bewohner der Insel, Mitglied der Gemeinschaft verübt worden sein, der sich genauso, wie der Mörder im Eisenbahnwagen des Orient Express verhält, in einem der Rätselromane von Agatha Christie. Im geschlossenen Groß-Raum erkundet er sowohl topographische Einheiten wie Verkehrswege, Gewässer, architektonische Orte, als auch topologische Objekte 37 wie das Römische Reich, in dem räumliche Relationen und Strukturen des damaligen Staates vom auktorialen Erzähler im erzählten Raum dargelegt werden. Fazit Das Markenzeichen beider Darstellungen mit den von der Kriminalliteratur gebotenen stilistisch-ästhetischen Mitteln ordnet sich in den Typus der fiktionalen Geschichte einer durch logische Schlussfolgerung vollzogenen Detektion ein. Der Erklärungsprozess durchläuft bestimmte einem gewissen Paradigma untergeordnete Etappen, die nicht mit der Szene der Lösungsverkündung durch den Detektiv, sondern durch die eines Spannungsabbaus in Form einer Wiederherstellung der gesellschaftlich-wirtschaftlichontologischen Ordnung enden. Trotz aller irreführenden Kontextualisierungen ergibt sich das prinzipielle „Immer dasselbe“ 38 , dessen ungebrochene, eiserne und unanfechtbare Grundsätzlichkeit auf der Herbeiführung der Gerechtigkeit beruht. Das Streben nach Gerechtigkeit wird in den Detektivromanen mit folgenden Hauptteilen exemplifiziert: 35 Schulz-Buschhaus, „Leonardo Sciascia oder die Beunruhigung des Kriminallesers“, S. 143. 36 Siehe dazu: Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromans“, S 319. 37 Siehe dazu: Stephan Günzel, „Raum-Topographie-Topologie“, in Stephan Günzel (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld, transcript, 2007, S. 13-29, besonders S. 21-27 und Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes, Berlin, De Gruyter, 2009, S. 53 ff. 38 Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromans“, S. 315 f. Quest 75 Tödliche Dosis Die Tage des Saturn 1. Auszug von zu Hause bzw. Aufbruch aus dem geordneten und ruhigen Alltag, der durch ein Delikt gestört wurde • Berichterstattung von Athendoros sowie von Hortensia vor C.V.T. • C.V.T. bleibt zwar nach wie vor in Rom, verlässt aber für längere Zeit das Haus am Pallatin und wendet sich hauptsächlich - nach anfänglicher Skepsis - der Lösung des Mordfalls zu. • Er stellt sein Untersuchungsteam zusammen, indem er die Aufgaben auf Alexandros und Archelaos verteilt und im späteren Handlungsverlauf die Unterstützung von Cornificius zu schätzen weiß. • Jullius verlässt sein Lager und begibt sich in die römische Lagerstadt. • Zusammenstellung der Truppe: Berwin - sein Kampfgenosse schließt sich ihm treu an; Tullia - die römische Bürgerin, die ihren Mann verlässt und die Bataver unterstützt. 2. Erfüllung der Aufgabe, die der Ermittlung, der Fahndung und schließlich der überraschenden Entdeckung des Täters gleichgestellt wird • Theokritos gerät wegen des Handels mit Giftwaren in Verdacht. • Skamandros wird nach vorliegenden Indizien ebenfalls in den Kreis der Verdächtigten gestellt. • Im Speicher des Eudoxos wird Skamadros von den Fahndern gefesselt vorgefunden. • Rufus Plautius - Hortensias Verlobte entkommt einer Provokation auf dem Schiff von Eudoxos. • Calpurnia - die Witwe des Verstorbenen und vergifteten A. Gellius Poblicola wird als Liebhaberin von Rufus Plautius entlarvt. • Der Selbstmord der zwei letzten wird als Erklärung des Mordfalles und Überführung der Schuldigen hingestellt. • Auf Umwegen wird die Beziehung von Drusa mit dem Ermordeten Marcus Flaccus, sowie ihre listenreiche Handlung und Kontaktpflege mit dem griechischen Arzt Phillipos ans Tageslicht gebracht. • Entlarvung der ambivalenten Stellung von Rufus. Er hilft zwar Berwin, aber an einer anderen Stelle versucht er ihn umzubringen. • Entdeckung des Handels mit Jugendlichen und Bloßstellung des römischen Priesters. Adam Sobek 76 3. Rückkehr bzw. Lösung des Mordfalles. Freistellung des Ermittlers von weiteren Untersuchungsaufgaben • Rückkehr nach Hause am Pallatin. • Aufnahme der üblichen Hauptangele genheiten. • W iederherstellung der Ordnung im Geschäftsleben Roms. • Freistellung Jullius’ von allen Vorwürfen. • Rückkehr ins Land der Bataver und Wiedererlangung der Stammesführung. • Wiederholte Flucht Tullias von ihrem durch Korruption verdorbenen Mann und Rückkehr ins Lager der Nicht-Römer. In den beiden narrativen Texten lässt sich also der Grundsatz der Detektivgeschichte nachweisen. So wie S. S. van Dine (Willard Huntington Wright) in seinem Aufsatz Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten postuliert, verfahren die beiden deutschen Schriftsteller bei der Darstellung der Welt der literarischen Fiktion nach folgender Forderung: „Der Täter muss durch logische Schlussfolgerung ermittelt werden, nicht durch Zufall oder ein unmotiviertes Geständnis“ 39 . Bertolt Brecht paraphrasiert den Grundsatz und spricht von der Zwangsläufigkeit des logischen Denkens. Der deutsche Dramatiker steht auf dem Standpunkt, man müsse dem Leser diese Art der intellektuellen Beschäftigung zumuten und sie von ihm verlangen. Die Variation gewährleistet die Dynamik von intellektuellen Prozessen 40 . Für solch ein kombiniertes Spiel ist die dargestellte Gesellschaft ein perfektes Konstrukt. Das umfangreiche aber doch limitierte Figurenensemble lässt die Prämisse zu, dass der Täter zum Figurenstamm der geschlossenen Gesellschaft in der Detektivgeschichte gezählt werden muss. Diese Vorbedingung erhöht dabei das Spannungs- und Unterhaltungspotential des klassischen Detektivromans, der, so wie Suerbaum ausführt, „von der Spannung zwischen dem gesellschaftlichen Status und der menschlich moralischen Substanz der Figuren und zwischen den sichtbaren sozialen Beziehungen der Menschen und ihren wahren Verhältnissen zueinander[lebe]“ 41 . Die von Brecht postulierte Denkaufgabe besteht unter anderem darin, das soziale Geflecht zu hinterfragen und Motive herauszufinden, um die Frage zu beantworten, was war geschehen, bevor die Katastrophe passiert ist. 39 S.S. van Dine, „Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink, 1971, Bd. I, S. 143-147, hier S. 143. 40 Vgl. dazu: Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromans“, S. 315. 41 Suerbaum, Krimi, S. 78. Quest 77 Die Darstellung von den der Katastrophe vorangehenden Ereignissen und antiken gesellschaftlichen Umständen mit dem rezeptionsästhetischen Potenzial auf der Ebene der histoire kann beim Leser den Eindruck des Abstrakten oder zumindest der entfernten Wirklichkeitsabbildung erwecken, wodurch die Aussagekraft des Moralischen im Detektivroman verringert wird. Das muss jedoch nicht der Fall sein. Im Gegenteil, trotz der zivilisatorischen Entwicklung der Moral bleiben die Urmotive und Urlösungen praktisch gesehen gleich. Die Autoren skizzieren die archetypischen Charakterzüge samt den Verhaltensweisen und zeigen somit die überzeitlichen Leidenschaften auf, die Katastrophen zur Folge haben. Mit dem Vorhaben ist der Universalitätsanspruch der Detektivromane aufgrund der „moralischen Stärke“ 42 erfüllt, die den definitorischen Gehalt in der Maxime erschöpft: „To play a game ist Ehrensache“ 43 . Der Leser, der den Katastrophen äußerst kritisch gegenübersteht und der ermittelnden Instanz mit uneingeschränkter Willigkeit folgt, soll moralisch zum Nachdenken gebracht werden und eigene Urteile fällen können. Auch wenn Heinz Hengsts These zuzustimmen ist, dass „die Rezeption von Verbrechen nur dann Genuss verschaffe, wenn die Welt des Verbrechens klar von der des Rechts und der Sittlichkeit geschieden sei“ 44 , so darf über den ethischen Ansatz bei der genussvollen Lektüre des Detektivromans nicht hinweggesehen werden. Bibliographie Richard Alewyn, „Anatomie des Detektivromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink, 1971, Bd. II, S. 372-404. Włodzimierz Bialik, „Der Zufall in den Detektivgeschichten von Friedrich Dürrenmatt“, in Studia Germanica Posnaniensia V, Poznań 1976, S. 37-61. Günter Biel, „Abenteuer und verborgene Wahrheit. Gibt es den literarischen Detektivroman? “, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink, 1971, Bd. II, S. 457- 472. Bertolt Brecht, „Über Popularität des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink, 1971, Bd. II, S. 315-321. Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes, Berlin, De Gruyter, 2009. S.S. van Dine, „Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink, 1971, Bd. I, S. 143-147. Stephan Günzel, „Raum-Topographie-Topologie“, in Stephan Günzel (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld, Transcript, 2007, S. 13-29, 42 Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromans“, S. 316. 43 Ebd.. 44 Heinz Hengst, „Von der Krimiwirklichkeit der Kriminalität zur Wirklichkeit der Kriminalität“ in Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. Berichte, Analysen, Reflexionen zur neueren Kriminalliteratur. München, W. Fink, 1978, S. 155-176, hier S. 155. Adam Sobek 78 Heinz Hengst, „Von der Krimiwirklichkeit der Kriminalität zur Wirklichkeit der Kriminalität“, in Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. Berichte, Analysen, Reflexionen zur neueren Kriminalliteratur. München, W. Fink, 1978, S. 155- 176. Matias Martinez; Michael Scheffel, Einführung in der Erzähltheorie (3. Auflage), München, C.H. Beck, 2002. Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart, Reclam, 2003. Wilhelm Roth, „Der Bürger als Verbrecher. Materialien zum deutschen Kriminalroman“, in Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. Berichte, Analysen, Reflexionen zur neueren Kriminalliteratur. München, W. Fink, 1978, S. 76-86. Dorothy Sayers, „Aristoteles über Detektivliteratur“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink, 1971, Bd. I, S. 123-139. Ulrich Schulz-Buschhaus, „Leonardo Sciascia oder die Beunruhigung des Kriminallesers“, in Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. Berichte, Analysen, Reflexionen zur neueren Kriminalliteratur. München, W. Fink, 1978, S. 142-54. Erhard Schütz (Hrsg.), Zur Aktualität des Kriminalromans. Berichte, Analysen, Reflexionen zur neueren Kriminalliteratur, München, W. Fink, 1978. Hans-Dietrich Stöver, Tod auf dem Forum. Tödliche Dosis, Zwei Romane in einem Band, Bonn, Bocola Krimi Verlag, 2012. Ulrich Suerbaum, Eine Analyse der Gattung, Stuttgart, Reclam, 1984. Simone Tives, Die Tage des Saturn. Historischer Roman, Köln, Emons Verlag, 2012. Joanna Wołowska Die Aufklärung des Verbrechens liegt in der „Geschichte“ der DDR Am Beispiel der Romane von Anne Chaplet, Christian v. Ditfurth und Elisabeth Herrmann „Die Kriminalliteratur der DDR existiert nicht mehr. Als abgeschlossenes Kapitel der Literaturgeschichte ist sie wohl nur noch für Historiker, für Germanisten und allenfalls für passionierte Krimisammler von Interesse“, schrieb Wolfgang Mittmann im Jahre 1997 1 . Dieses Urteil trifft zu und dennoch ist die DDR noch nicht ganz aus dem Fokus der Autoren der Kriminalliteratur geraten. Krimis, die als Schauplatz die DDR wählen oder die unmittelbar mit der Geschichte der sowjetischen Besatzungszone verbunden sind, werden noch heute verfasst. Man bezeichnet sie nicht mehr als DDR-Krimis, sondern sie fallen unter den Begriff ‚historische Kriminalromane‘. Wolfgangs Schreyers Kriminalroman Großgarage Südwest aus dem Jahr 1952, signalisiert die Geburt der Kriminalliteratur in der DDR; dies geht aus mehreren wissenschaftlichen Quellen hervor. Mittmann behauptet jedoch, dass alles mit einer Heftreihe begann und, der bis heute unbekannte Autor, Hannes Elmen Begründer der Kriminalliteratur der DDR war 2 . Die Etablierung des Kriminalromans in Ostdeutschland erwies sich als problematisch, denn „Schund- und Schmutzliteratur“ 3 aus dem Westen hatte in der geordneten Welt des Sozialismus nichts zu suchen. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte viel Bedenken, die Gesellschaft unmittelbar mit solchen Begriffen wie Mord und Verbrechen zu konfrontieren. Gemäß der marxistischleninistischen Definition lag das Verbrechen nicht in der „Natur“ des Menschen, es war gesellschaftlich motiviert 4 . Man befürchtete, der Krimi könnte eine Anregung für Verbrecher sein, denen er fertige Szenarien für Missetaten liefern könnte. Die gängige Etikettierung des Krimis als „triviale Unter- 1 Vgl. Wolfgang Mittmann, „Es begann mit einer Heftreihe. Anmerkungen zur Kriminalliteratur in der DDR“, in Nina Schindler (Hrsg.), Das Mordsbuch. Alles über Krimis. Hildesheim Claassen Verlag 1997, S. 114-127, hier S. 114. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Vgl. Sandra Schaur, „Die Verbindung Militarismus und Kapital wird offen-kundig - Zum Geschichtsrekurs in Friedrich Karl Kauls DDR-Kriminalroman Mord im Grunewald (1953)“, in Barbara Korte; Sylvia Paletschek (Hrsg.), Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln; Weimar; Wien, Böhlau, 2009, S. 205-226, hier S. 206. Joanna Wołowska 80 haltungsliteratur, die kleinbürgerliche und faschistische Ideologie vermittelt“ 5 , machte den Durchbruch gerade nicht leichter. Der Kriminalroman hatte in der DDR prinzipiell einen schweren Stand: „Romane hatten nur eine Chance - abgesehen von qualitativen Gesichtspunkten - verlegt zu werden, wenn sie bestimmten ideologischen Grundsätzen folgten“ 6 . Die DDR-Krimis wurden nach einer bestimmten Schablone geschrieben; man versuchte diese „Unterhaltungsliteratur mit einer erzieherischen Funktion zu versehen“ 7 . Die DDR wurde idealisiert, die menschenfreundliche Rechtsstaatlichkeit betont. Das Ziel der Resozialisierung der Täter und dadurch auch der Leser wurde verfolgt - sozialistisches Denken und Fühlen des Lesers sollten entwickelt werden 8 . Die Vermittlung der sowjetischen Werte wie Kollektivarbeit, Dank und Treue dem Staat gegenüber und Humanität wurden im DDR-Krimi dem Ermittler zugeschrieben. In jedem Krimi kommt ein positiver Held zum Vorschein, der sich als vorbildlicher DDR-Bürger ausgibt. Die politische Prägung der Literatur war nicht zu übersehen: diskursive Erklärungen und Propagandasprüche wurden in die Handlung geschickt eingebaut. Ulrike Götting bemerkt, dass der Krimi „gleichgültig“, was für ein Thema ihm vorlag, immer „gegen Faschismus und Kapitalismus sprechen musste“ 9 . Natürlich hat sich der DDR-Kriminalroman im Laufe der Zeit verändert. Hinsichtlich der sich verändernden Geschichte und des Jahre andauernden Diskurses beobachtet man einen Wechsel vom Krimi, der Problemlagen tabuisiert hat, zum Kriminalroman, der nüchtern und kritisch die Realität beurteilt hat 10 . Das Fazit von Reinhard Hillich lautet: Es gab im DDR-Krimi seit den 70er Jahren einen beachtlichen Trend zur Realitätsnähe, zur Wirklichkeitserkundung. Das kritische Potenzial beschränkte sich freilich auf Symptomkritik. Systemkritik, also eine fundamentale Kritik am gesellschaftlichen System in der DDR mit dem Ziel, es abzuschaffen, gab es nicht 11 . Abgesehen von den Merkmalen, die einen DDR-Krimi kennzeichnet haben, muss man die beachtliche Anzahl der Leser ansprechen. Dorle Gelbhaar stellte fest, dass „soweit bisher feststellbar, werden alle Genres der DDR- 5 Ebd., S. 114. 6 Vgl. Ulrike Götting, Der deutsche Kriminalroman zwischen 1945 und 1970. Formen und Tendenzen, (2. unveränderte Auflage), Marburg: Tectum Verlag 2000, S. 239. 7 Vgl. Schaur, „Die Verbindung“, S. 206. 8 Mittmann, „Es begann mit einer Heftreihe“, S. 115. 9 Götting, Der deutsche Kriminalroman, S. 239. 10 Reinhard Hillich, „Krimi in der DDR - DDR im Krimi“, in Franz Huberth (Hrsg.), Die DDR im Spiegel ihrer Literatur. Beiträge zu einer historischen Betrachtung der DDR- Literatur. Berlin, Duncker & Humbolt GmbH, 2005, S. 105-116. 11 Ebd., S. 115. Die Aufklärung des Verbrechens 81 Kriminalliteratur von den Lesern in der DDR favorisiert” 12 . Das „Leseland DDR”, wie es des Öfteren genannt wurde, verleihe dem DDR-Krimi einen besonderen Platz in ihrer Hausbibliothek. Ob jedoch das Bedürfnis nach Unterhaltung, Spannung und Informationen gestillt wurde, ist fraglich. Mittmann meint, die DDR-Kriminalliteratur sei schon ein abgeschlossenes Kapitel 13 . Ob diese Behauptung der Wahrheit entspricht? Der historische Kriminalroman erlebt in den letzten paar Jahren eine hohe Konjunktur, dessen Ende nicht hervorzusehen ist. Neben den Mittelalterthemen oder der Aufarbeitung der Vergangenheit des Dritten Reiches bildet die Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik immer öfter den Hintergrund für diverse Krimistoffe. Sylvia Paletschek und Barbara Korte unterscheiden in ihrem Band Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften aus dem Jahre 2009 zwischen zwei Grundarten von historischen Kriminalromanen. Einerseits wird der Handlungsraum der Krimis in die historische Zeit versetzt, andrerseits spielt sich das Geschehen in der Gegenwart ab, aber die Missetaten sind eng mit der Vergangenheit verbunden. Die ermittelnde Person wird dazu gezwungen, neben der Aufklärungsarbeit noch eine geschichtliche Recherche durchzuführen 14 . Klaus Walther bemerkte schon früh, dass der DDR- Kriminalroman nicht nur „[…] Darstellung von Ursache und Wirkung des Verbrechens [bildet, sondern auch] zugleich ein Bild von Zeit und Gesellschaft geben kann“ 15 . Zwei Jahrzehnte später und in Hinsicht auf historische Krimis bezogen, kommen Korte und Paletschek auf das gleiche Fazit zurück: Der Anspruch auf (Sozial-)Realismus bedingt detaillierte und häufig gut recherchierte Schilderungen alltags-, sozial-, kultur- und geschlechtergeschichtlicher Sachverhalte. Kriminalromane bieten aufgrund ihres Interesses an gesellschaftlicher Ordnung stets Hinweise auf gesellschaftliche Werte und Normen zur Zeit ihrer Entstehung 16 . Der Leser wird in eine Welt transportiert, die ihm historische „Authentizität“ und „Faktentreue” suggeriert 17 . Es ist die Mischung aus Unterhaltung und „Wissen“, die diese Krimis so spannend und erfolgreich macht: „Über 12 Vgl. Dorle Gelbhaar, „Warum Kriminalliteratur erforschen? Versuch über Spezifik und Wirkungsmöglichkeiten unserer Kriminalliteratur“, in Reinhard Hillich, Tatbestand. Ansichten zur Kriminalliteratur der DDR 1947-1986. Berlin, Akademie Verlag, 1989, S. 210-230, hier S. 211. 13 Mittmann, „Es begann mit einer Heftreihe“, S. 114. 14 Barbara Korte; Sylvia Paletschek, „Geschichte und Kriminalgeschichte(n): Texte, Kontexte, Zugänge“, in Barbara Korte; Sylvia Paletschek (Hrsg.), Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln; Weimar; Wien, Böhlau, 2009, S. 7-27. 15 Klaus Walther, „Der Krimi lebt! “, in Reinhard Hillich, Tatbestand. Ansichten zur Kriminalliteratur der DDR 1947-1986. Berlin, Akademie Verlag, 1989, S. 108-114, hier S. 108. 16 Korte; Paletschek, „Geschichte und Kriminalgeschichte(n)“, S. 11. 17 Ebd., S. 12. Joanna Wołowska 82 fiktionale Figuren können die Leser die vergangene Welt erfahren und so eine simulierte Insiderperspektive auf die Geschichte einnehmen“ 18 . Die Geschichte in historischen Krimis wird meistens am Rande erzählt, aus der Sicht einfacher Bürger, die nach den Regeln der Krimi-Kunst gezielt gewählt werden: Geschichtskrimis können im Vergleich zur akademischen Geschichtsschreibung auch eine alternative Version der Geschichte bieten, tabuisierte oder verdrängte Aspekte womöglich früher aufgreifen als die öffentliche Diskussion und die offiziellen Institutionen der Geschichtskultur 19 . Die Vergangenheit der DDR wird in den von mir ausgewählten Kriminalromanen: Caruso singt nicht mehr (1997) von Anne Chaplet, Mit Blindheit geschlagen (2004) von Christian v. Ditfurth und Zeugin der Toten (2011) von Elisabeth Herrmann retrospektiv aufarbeitet. In der Danksagung, der jeweils hier genannten Autoren, werden die Leser darauf hingewiesen, wovon schon Korte und Paletschek geschrieben haben, nämlich auf die gründliche historische Recherche. Elisabeth Herrmann berichtet: Die Entstehung dieses Buches wurde für mich zu einer ganz besonderen Reise in die Vergangenheit. Sie führte nicht nur nach Sassnitz und Malmö 20 , sondern auch in Archive und Ministerien, auf versteckte Dachböden, in verfallene Ruinen, zu verschwundenen Häfen und alten Fabriken, und sie ging zurück in die achtziger Jahre und in die gern verschwiegene Geschichte der Geheimdienste vor und hinter dem Eisernen Vorhang 21 . Nach dieser Information folgen viele Danksagungen an verschiedene Personen und Institutionen, ohne man den Kriminalroman nicht hätte schreiben können. Aus den Nachbemerkungen von Christian v. Dithfurth erfährt der Leser, dass der Autor sich mit Menschen getroffen hat, die in der DDR-Zeit in Gefängnissen saßen oder Orte besucht hat, wo noch bis heute die Stasi- Geschichte rekonstruiert werden kann. Anne Chaplet geht in ihren Anspielungen noch einen Schritt weiter, sie schreibt: An dieser Geschichte ist alles erfunden - Personen, Orte, Taten. Nur nicht die deutsche Geschichte. Die Geschichte der DDR und ihres Nachlasses, all die Aktenberge und Papiersäcke, in denen noch viele Schicksale verborgen liegen 22 . Durch mühsame Recherchen in der Geschichte der DDR und Detailtreue wird dem Leser das Gefühl vermittelt, sich in die „wirkliche“ Vergangenheit 18 Ebd., S. 16. 19 Ebd., S. 17. 20 Sassnitz und Malmö sind Orte, die als Schauplatz in dem Kriminalroman von Elisabeth Herrmann Zeugin der Toten vorkommen. 21 Elisabeth Herrmann, Zeugin der Toten, Berlin, Ullstein, 2011, S. 427. 22 Anne Chaplet, Caruso singt nicht mehr, München, Wilhelm Goldmann, 2006, S. 319. Die Aufklärung des Verbrechens 83 zu vertiefen. Die Autoren erschaffen „Brücken” für diejenigen, die ohne historische Krimis nicht mal annähernd sich an die vergangene Zeit getraut hätten. Wichtig bei den historischen Krimis sind nicht nur die Funktionen: Unterhaltung, indirekte Wissensvermittlung, Belehrung, sondern auch Identitätsstiftung. Anne Chaplet, die mit eigentlichen Namen Cora Stephan heißt, wurde im Jahre 1951 in Norddeutschland geboren. Sie studierte in Hamburg und Frankfurt/ M. und absolvierte ein Lehrerexamen. Danach promovierte sie in Politikwissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Geschichte. Cora Stephan, alias Anne Chaplet, ist also von Beruf Historikerin, die bis 1998 zehn wissenschaftliche Bücher zum Thema Politik und Geschichte verfasst hat. Seit dem Jahre 1998 schreibt sie Kriminalromane 23 . Der Krimi Caruso singt nicht mehr von 1998 bildet den ersten Band der Buchreihe um Paul Bremer, einen Ex- Werbefachmann und die leidenschaftliche Staatsanwältin Karen Stark. Paul Bremer, ein Stadtmensch, der nach einer gescheiterten Ehe alle Brücken hinter sich lässt, zieht in das idyllische Klein Rhoda. Der Roman beginnt, als der Ex-Werbefachmann schon einige Zeit in dem Dorf verweilt und durch ländliche „Reize“ geplagt wird. Auch Verbrechen gehören zu dieser Kulisse. Chaplet führt in ihrem Kriminalroman eine Unterteilung in ländliche und städtische Verbrechen ein. Brandstiftung und Pferdemorde werden den „ländlichen Spezialitäten” 24 zugeordnet; ein richtiger Mord ist hingegen eine Tat, die jemand von „außen“ verübt haben muss. Das Dorf wird mit einem Staatssystem verglichen, die Nachbarn überwachen sich gegenseitig, die Menschen sind ständiger Kontrolle von Anderen ausgesetzt, Außenseiter und Zugereiste gehören nicht zum System. Anne Chaplet erweckt den Eindruck, im Dorf regiert ein Regime wie eben in der ehemaligen DDR. Die Menschen waren der Überzeugung, „[…] daß alles Übel der Welt aus der Großstadt herüberschwappte“ 25 . Chaplet bedient sich in ihrem Roman einer geschickten Manier. Das Bild der Deutschen Demokratischen Republik wird nicht nur in Rückblenden präsentiert. Gleichzeitig wird das Gefühl erweckt, die Protagonisten seien noch immer vom Regime umgeben. Die Aufarbeitung der Vergangenheit beginnt mit dem Mord an Leo Matern, dem Mann von Anne, die ehemalige BRD-Politikerin ist und derzeit einen Bio-Hof verwaltet. Im Kühlhaus auf dem Bio-Hof wird die Leiche gefunden: „Jemand hatte Leo erwürgt. Und dann in ihre Kühlkammer gehängt. Wie das Schlachtvieh. […] Auf der einen der beiden eingefallenen Pobacken der Leiche prangte leuchtend blau etwa, das wie das Prüfsiegel des Fleischbeschauers aussah“ 26 . Der Polizei-Kommissar Gregor Kosiński beginnt mit der 23 Siehe hierzu: http: / / www.krimi-couch.de/ krimis/ anne-chaplet.html (letzter Zugriff am 14. September 2014). 24 Vgl. Chaplet, Caruso singt nicht mehr, S. 13. 25 Ebd., S. 275. 26 Ebd., S. 33. Joanna Wołowska 84 Ermittlung. Korte und Paletschek bemerken, dass die Detektivarbeit ähnlich wie die historische Recherche durchgeführt wird und „[b]eide Praxen […] Elemente des Rückwärtsdenkens und der Detektion gemeinsam [haben] und […] anhand von Fakten, Spuren und Indizien zu einer wahren Aussage über die Vergangenheit kommen [wollen]“ 27 . Wobei in diesem Roman nicht der Kommissar die Rolle des Detektivs übernimmt. Es ist Karen Stark, die Staatsanwältin aus Frankfurt, die relativ spät sich als Detektivin entpuppt, die am Ende gute Detektionsarbeit geleistet hat und anhand von Indizien und gezogenen Schlüssen den Mörder überführt hat. Retrospektiv bedient sich der Kriminalroman einer wahren Begebenheit und schneidet sie sich dann für den Handlungsverlauf zurecht. Bei Chaplet geht es um die bekannte Aktion „Romeo“. „Romeo“ war ein nachrichtendienstlicher Ausdruck für männliche Agenten des MfS, die zur Spionagezwecken eine Beziehung zu einer weiblichen Zielperson vorgetäuscht hatten und auf diese Weise an wichtige Informationen gelangen konnten. Die Staatssicherheit hat sich dieser Methode sehr oft bedient: „Frauen glauben nicht an so große Angelegenheiten wie den Staat. Oder den Sozialismus. Oder die Sache. Sie glauben an ihre Gefühle“ 28 . Anne Chaplet greift in ihrem Kriminalroman auf ein tabuisiertes Thema zurück und versehrt ihre Protagonisten mit Rollen und Eigenschaften, die die Geschichte wieder „aufleben“ lassen sollen. Der Ermordete war in der DDR-Zeit ein Romeo-Agent und musste im Auftrag der Staatssicherheit Anne Burau, eine westliche Politikerin, im Auge behalten musste. In Rückblenden werden ihre Treffen und ihr späteres eheliches Leben bildhaft dargestellt. Der Detailreichtum verschiedener Kleinigkeiten lässt wieder auf den „Wahrheitsfaktor“ hoffen 29 . Die Seilschaften des Opfers mit der DDR werden untersucht und dem Leser wird das Gefühl vermittelt, es seien „alte Rechnungen“, die Leo den Tod gebracht haben. Als das Mordmotiv schon fast erraten ist, wird die Handlung nochmals aufgemischt. Fast am Ende des Romans kommt es zur Begegnung zwischen Karen Stark und David Wlassow, einem Akrobat aus der Sowjetunion. Wlassow entpuppt sich als Täter und legt ein Geständnis ab. Die Anknüpfung an die ehemalige DDR wird sichtbar. Stereotypisch ist das Mordmotiv eine gescheiterte Liebesbeziehung - „Auf Liebe nahm die Grenze zwischen Ost und West keine Rücksicht“ 30 . Der Spitzel Leo Matern hat die Freundin von Wlassow verraten. Die Frau kam in ein DDR-Gefängnis, wo sie Selbstmord begangen hatte. Christian v. Dithfurth ist ähnlich wie Cora Stephan von Beruf Historiker. Er wurde 1953 in Würzburg als Sohn des Journalisten, Arztes und Fernsehmoderators Hoimar v. Dithfurth geboren. Er lebt als freier Autor und Lek- 27 Vgl. Korte; Paletschek, „Geschichte und Kriminalgeschichte(n)“, S. 20. 28 Vgl. Chaplet, Caruso singt nicht mehr, S. 312. 29 Siehe dazu: Korte; Paletschek, „Geschichte und Kriminalgeschichte(n)“, S. 12. 30 Vgl. Chaplet, Caruso singt nicht mehr, S. 121. Die Aufklärung des Verbrechens 85 tor 31 . Der Kriminalroman Mit Blindheit geschlagen ist Teil der Buchreihe ‚Stachelmannkrimis‘ und ist als zweites Buch aus diesem Zyklus im Jahre 2004 erschienen. Der Held von Dithfurth, Josef Maria Stachelmann, ist Dozent für Geschichte an der Uni Hamburg und kommt mit seiner Habilitationsschrift nur mühsam voran. Der Roman beginnt mit einer Szene im Gefängnis, wobei sich der Gefangene in einer intimen und peinlichen Situation befindet. Dem Leser wird noch nicht bewusst, wer die Person ist, aber eines wird klar - es ist kein DDR-Gefängnis. Ähnlich, wie im Kriminalroman von Chaplet wird die Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone in Rückblenden präsentiert, aber es ist keiner von den Protagonisten, der sich an diese Szenen erinnert. Die Rolle des Detektivs wird von Anfang bis Ende von Stachelmann besetzt. Es ist kaum zu übersehen, dass es sich hier um einen klassischen Detektivkriminalroman handelt. Stachelmanns Ermittlungen beginnen mit der Suche nach einem verschwundenen Professor, mit deren Frau er ein One-Night-Stand hatte und enden schließlich mit der Suche nach dem Mörder. Die Polizei, die auch von Stachelmann als Störfaktor angesehen wird, erschwert dem Detektiv die Nachforschungen. Alles deutet darauf hin, dass Stachelmann selbst der Mörder ist, obwohl er sich „eigentlich“ sicher ist, mit der Tat nichts zu tun zu haben. Er wird verhaftet, weil nicht nur die Leiche in seinem Kofferraum gefunden wird, aber auch präparierte Beweise in seinem Wagen auf seine Schuld deuten. Die Detektion führt ihn zu verschiedenen Personen aus der Vergangenheit des ermordeten Professors aus der DDR-Zeit. Er spricht mit ehemaligen Fluchthelfern und Flüchtlingen, die verraten wurden und in den DDR-Knast kamen. Die Komplexität historischer Ereignisse, die in dem Krimi präsentiert wird, verweist auf zwei geschichtliche Spuren - Fluchthelfer im Osten und die Kommunistische Partei in Westdeutschland. Der Kriminalroman ist strukturiert, durchdacht und regt den Leser, anhand von ihm bekannten Indizien und historischen Verknüpfungen, selbst ein „Spurenleser“ 32 zu werden. Spionage, IM 33 , Agenten und Fluchthelferaktionen ziehen den Krimifreund in den Bann der Geschichte, wenn auch nur mit fiktionalen Geschehnissen. Die Detektion Stachelmanns führt ihn letztendlich zum Mörder und es kommt zu einer großen Offenbarung der DDR-Vergangenheit: Die DDR gibt es noch, jedenfalls Reste der Stasi. Was glauben Sie, wie viele Spione noch nicht enttarnt wurden? Verbrannte Akten, die Hauptverwaltung Aufklärung 34 hat sich am Ende ihres tschekistischen Daseins mit nichts ande- 31 Siehe dazu: http: / / www.krimi-couch.de/ krimis/ christian-von-ditfurth.html (letzter Zugriff am 14. September 2014). 32 Siehe dazu: Korte; Paletschek, „Geschichte und Kriminalgeschichte(n)“, S. 20. 33 (IM) ist Inoffizieller Mitarbeiter des Ministerium für Staatssicherheit. 34 Die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA, MfS-intern HV A) war der Auslandsnachrichtendienst der DDR und gehörte zum Ministerium für Staatssicherheit. Joanna Wołowska 86 rem beschäftigt, als Akten zu verbrennen, mit Billigung der Bürgerbewegungen. Auch der NVA-Geheimdienst hat gekokelt, was das Zeug hielt, mit Erlaubnis des Ministers. Deswegen werden viele nie gefasst werden, die im Westen für die DDR spitzelten 35 . Professor Griesbach wurde ermordet, weil er lange Zeit nach der Wende die Wahrheit über sich und seine Genossen ans Licht bringen wollte. Die Vergangenheit wird ihm zum Verhängnis: Wir haben es für einen Staat getan, der seine Bürger einsperrte und Menschen ins Gefängnis steckte, weil sie anderer Meinung waren oder mit den falschen Leuten sprachen. […] Ein marodes Land, regiert von machtgeilen Greisen, die qua Amt unfehlbar waren. Den Frieden haben beide Seiten bedroht 36 . Der Mordplan wurde von seiner Frau ausgehegt und von einem ehemaligen Kollegen in die Tat umgesetzt. Der Tod hat in diesem Kriminalroman keinen individuellen Charakter. Elisabeth Herrmann ist die einzige Autorin, von den hier drei präsentierten, die keine historische Ausbildung genossen hat und deren Kriminalroman nicht Teil einer Buch-Reihe bildet. Sie wurde 1959 in Marburg geboren und kam erst auf Umwegen zum Schreiben. Sie arbeitete zunächst als Betonbauerin und Maurerin, bis sie dann in Frankfurt ihr Abitur nachholte und ein Studium absolvierte 37 . Herrmann vermittelt dem Leser am Anfang ihres Romans, die DDR sei als Schauplatz der Handlung ausgewählt worden. Die ersten dreißig Seiten des Krimis zeigen den Alltag der Kinder in einem DDR-Kinderheim in Sassnitz an der Ostsee: Sassnitz. Vor 1990 noch in der alten Schreibweise, mit Eszett. Hafenstadt. Umschlagplatz. Sperrgebiet. Kein Jahrhundertwendecharme, keine nennenswerte Kaiserbäderarchitektur. Schwer bewachter Transit für Touristen, Wirtschaftgüter und die Sowjetarmee 38 . Der Leser wird gleich Zeuge einer Stasi-Konspiration, in der einem fünfjährigen Mädchen eine andere Identität verpasst wird. Nach dreißig Seiten beginnt das erste Kapitel. Es wird das Leben einer einfachen Putzfrau mit einer bewegenden Vergangenheit erzählt. Langsam ahnt der Leser, dass es sich um das Mädchen mit der vertauschten Identität handelt. Der Mord an Christine Borg, einer schwedischen Bürgerin, löst eine Lawine von Ereignis- 35 Christian v. Dithfurth, Mit Blindheit geschlagen, (2. Auflage), Köln, Kiepenheuer & Witsch 2006, S. 326. 36 Ebd., S. 396. 37 http: / / www.krimi-couch.de/ krimis/ elisabeth-herrmann.html (letzter Zugriff am 15. September 2014). 38 Vgl. Herrmann, Zeugin der Toten, S. 164. Die Aufklärung des Verbrechens 87 sen aus und zwingt Judith, ihre Rolle zu wechseln. Aus einer Putzfrau, auch Tatort-Cleanerin genannt, wird eine Detektivin: „[…] [ins] Fadenkreuz der Interessen verhedderte sich ausgerechnet eine Putzfrau, die mehr wusste, als sie wissen durfte. Rosenholz. Rose wood“ 39 . Im Laufe der Ermittlungen erinnert sie sich an ihren zehnjährigen Aufenthalt in dem Kinderheim Juri Gagarin. Die Geschichte der DDR und der Stasi wirkt in diesem Krimi omnipräsent. Herrmann präsentiert viele verschiedene Perspektiven der vergangenen Zeit. Der BND 40 , die CIA und die ehemaligen MfS-Mitarbeiter präsentieren jeweils ihre Version der Dinge zu DDR-Zeiten. Alte Wunden, Kontakte und DDR-Geheimnisse kommen ans Licht. Das Bild der Verzwicktheit der jüngsten Geschichte, die Auswahl der Figuren und der Machtkampf zwischen zwei Geheimdiensten verursachen, dass die historische Realität mit der Fiktion vermischt wird. Die Autorin spricht Themenkomplexe an wie: Kinderheime in der DDR, Agenten des MfS, Staatverrat und Spionage in dem von der Sowjetunion beeinflusstem Staat. Immer wieder wird auf das Jahr 1985 hingewiesen und die Akte Rosenholz. Diese Dateien bilden das Mordmotiv in diesem Kriminalroman, das viele Opfer mit sich bringt. Elisabeth Herrmann wagt, eine heikle Angelegenheit der deutschen Geschichte anzusprechen. Die Akte Rosenholz wurde erst im Jahre 2004 der deutschen Bevölkerung zur Verfügung gestellt und jeder Bürger kann Akteneinsicht beantragen. Die historischen Begebenheiten werden in den historischen Kriminalroman von Herrmann gut eingebracht. In allen drei von mir untersuchten Romanen wird die Geschichte der DDR bearbeitet und den Regeln des historischen Kriminalromans angepasst: „Destabilisierende Narrative […], [die in diesen Kriminalromanen erzeugt wurden, zeugen von nicht wirklich] lösbaren Störungen im gesellschaftlichen Ordnungssystem“ 41 . Im Unterschied zu den DDR-Kriminalromanen beinhalten die historischen Krimis die Gesellschaftskritik eines untergegangenen Systems. Die spielerischen Erzählmuster und der ständige Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit lässt auf eine Komposition der Kriminalromane schließen, wo nur schwer der Unterschied zwischen Realität und Fiktionalität zu finden ist. Die drei Detektivtypen - Karen Stark, Joseph Stachelmann und Judith Kepler - müssen sich auf eine Reise in die Vergangenheit begeben und historische Recherchearbeit leisten. Damit spitzen sie die gängigen Eigenschaften der Kriminalliteratur zusätzlich zu, es handelt sich um eine zweifache Reise in die Vergangenheit. Denn wie Korte und Paletschek bemerken: „In den Kriminalroman ist das Lesen von Spuren der Vergangenheit als erkenntnisgenerierendes Modell strukturell eingeschrieben“ 42 . In allen drei Romanen ist das Verbrechen stets mit der Ge- 39 Vgl. ebd., S. 205. 40 Bundesnachrichtendienst. 41 Siehe dazu: Korte; Paletschek, „Geschichte und Kriminalgeschichte(n)“, S. 18. 42 Siehe dazu: ebd., S. 20. Joanna Wołowska 88 schichtsaufarbeitung der DDR verbunden und der Tod hat daher keinen individuellen Charakter. Die letzte Instanz ist in diesen Fällen nicht ein einzelner Mörder, sondern das System. Bibliographie Anne Chaplet, Caruso singt nicht mehr, München, Wilhelm Goldmann, 2006. Christian v. Dithfurth, Mit Blindheit geschlagen, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2006. Dorle Gelbhaar, „Warum Kriminalliteratur erforschen? Versuch über Spezifik und Wirkungsmöglichkeiten unserer Kriminalliteratur“, in Reinhard Hillich, Tatbestand. Ansichten zur Kriminalliteratur der DDR 1947-1986. Berlin, Akademie Verlag, 1989, S. 210-230. Ulrike Götting, Der deutsche Kriminalroman zwischen 1945 und 1970. Formen und Tendenzen (2. unveränderte Auflage), Marburg, Tectum Verlag, 2000. Elisabeth Herrmann, Zeugin der Toten, Berlin, Ullstein, 2011. Reinhard Hillich, „Krimi in der DDR - DDR im Krimi“, in Franz Huberth (Hrsg.), Die DDR im Spiegel ihrer Literatur. Beiträge zu einer historischen Betrachtung der DDR- Literatur. Berlin, Duncker & Humbolt GmbH, 2005, S. 105-116. Barbara Korte; Sylvia Paletschek, „Geschichte und Kriminalgeschichte(n): Texte, Kontexte, Zugäng“, in Barbara Korte; Sylvia Paletschek (Hrsg.), Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln; Weimar; Wien, Böhlau, 2009, S. 7- 27. Wolfgang Mittmann, „Es begann mit einer Heftreihe. Anmerkungen zur Kriminalliteratur in der DDR“, in Nina Schindler (Hrsg.), Das Mordsbuch. Alles über Krimis. Hildesheim, Claassen Verlag 1997, S. 114-127. Sandra Schaur, „Die Verbindung Militarismus und Kapital wird offen-kundig - Zum Geschichtsrekurs in Friedrich Karl Kauls DDR-Kriminalroman Mord im Grunewald (1953)“, in Barbara Korte; Sylvia Paletschek (Hrsg.), Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften, Köln; Weimar; Wien, Böhlau, 2009, S. 205-226. Klaus Walther, „Der Krimi lebt! “, in Reinhard Hillich, Tatbestand. Ansichten zur Kriminalliteratur der DDR 1947-1986. Berlin, Akademie Verlag, 1989, S. 108-114. Internetseiten http: / / www.krimi-couch.de/ krimis/ anne-chaplet.html (letzter Zugriff am 14. September 2014). http: / / www.krimi-couch.de/ krimis/ christian-von-ditfurth.html (letzter Zugriff am 14. September 2014). http: / / www.krimi-couch.de/ krimis/ elisabeth-herrmann.html (letzter Zugriff am 15. September 2014). TEIL II: REGIONALKRIMIS AUF DER SUCHE Urszula Bonter Stadt - Land - Mord Einige Bemerkungen zu den aktuellen deutschen Regionalkrimis Regionalkrimis machen in den letzten Jahren Furore. Jede Region und praktisch jedes deutsche Städtchen haben inzwischen mindestens einen eigenen Detektiv vorzuweisen. In vielen Buchhandlungen werden die eigenen Regionalkrimis in speziellen Abteilungen exponiert und als ein bewährtes Mittel zum Ortsmarketing eingesetzt. Das Feuilleton hingegen wird immer kritischer gegenüber dieser Mode und zieht geschlossen und pauschal über die ganze Gattung her. Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse 2012 stellte die Süddeutsche Zeitung eine Liste der Dinge, Trends und Themen zusammen, „die wir nie mehr lesen, sehen, kaufen wollen“. Unter den Büchern, „die sich zum Ärgernis entwickelt haben“, rangierten die Regionalkrimis auf Platz eins 1 . Zeitgleich spottete der zum Hause gehörende Kolumnist Axel Hacke über das Genre und seine Autoren: „Erst wenn der letzte deutsche Lehrer und der letzte deutsche Journalist einen Regionalkrimi geschrieben haben werden, werdet ihr merken, dass man’s auch übertreiben kann“ 2 . In ihrem Verdammungseifer dehnen die Journalisten den Gattungsbegriff allerdings ins Unendliche aus und erklären fälschlicherweise alle Krimis mit einem festen Handlungsort schlicht und einfach zu Regionalkrimis. So führt Matthias Stolz im Zeit Magazin auf seiner Karte der Regionalkrimis z.B. auch Friedrich Ani mit, der unter keinen Umständen dieser Gruppe zuzurechnen ist 3 . Vor diesem Hintergrund drängen sich gleich mehrere Fragen auf: Was macht diese Subgattung eigentlich aus? In welcher Tradition ist sie verankert? Warum wird sie dermaßen intensiv gepflegt, gelesen und zugleich kräftig abgelehnt? Gibt es überhaupt ein festes Schema für einen Regionalkrimi oder haben wir es hier vielmehr mit Romanen zu tun, die ziemlich gegensätzlichen Tendenzen folgen? 1 Zehn Vetos gegen den Trend: http: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ frankfurterbuchmesse-zehn-vetos-gegen-den-trend-1.1488269 (letzter Zugriff am 20. Juli 2014). 2 Axel Hacke, „Das Beste aus aller Welt“, in Süddeutsche Zeitung Magazin, H. 34/ 2012: http: / / sz-magazin.sueddeutsche.de/ texte/ anzeigen/ 38041/ Das-Beste-aus-aller-Welt (letzter Zugriff am 20. Juli 2014). 3 Matthias Stolz, „Regionalkrimis“, in ZEITmagazin Nr. 03/ 2013, 16. Januar 2013: http: / / www.zeit.de/ 2013/ 03/ Deutschlandkarte-Regionalkrimis (letzter Zugriff am 20. Juli 2014). Urszula Bonter 92 Am Anfang der Gattung steht zweifelsohne der in Duisburg geborene Journalist und Sachbuchautor Michael Preute, der seit 1989 unter dem Pseudonym Jacques Berndorf seiner Wahlheimat Eifel ein liebevoll-humoristisches Denkmal setzt 4 . Die meisten seiner Geschichten tragen den Namen der Gegend schon im Titel: Eifel-Blues, Eifel-Schnee, Eifel-Liebe, Eifel-Krieg usw. Diesem Prinzip bei der Titelgebung folgten dann zahlreiche andere Autoren, die ihre Regionalkrimis ebenfalls als Reihen konzipierten. Die Region als Ort der Handlung und zugleich wichtiger Akteur wird oft signalartig genannt. Nur einige Beispiele: Gisa Paulys Krimis führen immer denselben Untertitel „Ein Sylt-Krimi“, Klaus-Peter Wolf folgt dem Berndorfschen Muster (Ostfriesenkiller, Ostfriesenblut, Ostfriesengrab usw.) ebenso wie Wolfgang Burger in den ersten Folgen seiner Heidelberger Reihe (Heidelberger Requiem, Heidelberger Lügen, Heidelberger Wut). Genauso wie beim Prototyp Berndorf leben alle Regionalkrimis von einem tiefen und persönlichen Verhältnis der ortskundigen Autoren zur eigenen Region. Auch die Helden identifizieren sich in starkem Maße mit ihrer Umgebung: Das hier war ihr Ostfriesland. Die Felder weit und ohne Zäune. Sie mochte die saftigen Wiesen, in denen die Köpfe vom Löwenzahn leuchteten wie kleine gelbe Sonnen. Um diese Jahreszeit war die Landschaft hier in sattes Gelb getaucht 5 . Der Leser übernimmt diese Perspektive und wird automatisch in den Bann der Ortschaften und Landstriche gezogen. Gattungsspezifisch erscheint zudem die bildungsbürgerliche Komponente. Die Autoren gewähren gerne einen Blick in die Geschichte und die Kulturgeschichte der Region. In der Reihe von Susanne Mischke übernimmt das jüngste Mitglied des Ermittlungsteams - das höhere Töchterchen Jule - diesen Part. Da die Hannoveraner Stadtgeschichte ihr Steckenpferd ist, nervt sie ihre Kollegen, allen voran den etwas machohaften Spanier Fernando, mit kleinen Vorträgen zu diesem Thema: ,Wer ist das? ‘, fragt Fernando. ,Mann mit Pferd‘, antwortet Jule. ,Ach! Jule Wedekin, unser lebendiges Geschichtslexikon weiß nicht, wer das ist‘, staunt Fernando. ,Das ist das noch erlebe! ‘ ,Die Figur heißt ,Mann mit Pferd‘, sie stammt aus den Fünfzigern Jahren und weist lediglich darauf hin, dass hier mal eine Pferdetränke war‘, erklärt Jule mit souveräner Geduld. […] Es ist nicht das erste Mal, dass Jule Wedekin Fernando Nachhilfe in Stadtgeschichte gibt. ,Im Turm und im Zeughaus ist das Historische Museum unterge- 4 Zu Berndorf: Melanie Wigbers, Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006, S. 204-216. 5 Klaus-Peter Wolf, Ostfriesenkiller, Frankfurt/ M., Fischer Taschenbuch, 2012, S. 60. Stadt - Land - Mord 93 bracht. Das solltest du dir dringend mal ansehen‘, rät sie nun ihrem Kollegen 6 . Die Autoren und Verlage von Regionalkrimis stehen meist in einer profitablen Wechselbeziehung zum Tourismusmarketing. Ein Paradebeispiel an Einfallsreichtum und Effizienz bildet in dieser Hinsicht Klaus-Peter Wolf. In seinen Krimis, die von Anfang an im renommierten Fischer Taschenbuch Verlag erschienen, werden zunehmend Formen der Versinnbildlichung Ostfrieslands eingesetzt. Die ersten drei Bände der Reihe waren noch neutral gestaltet. Seit dem vierten Band schmückt eine detaillierte Karte der Region die Innenseite des Covers. Angefangen mit dem sechsten Band werden die einzelnen Kapitel zusätzlich durch kleine Abbildungen von regionalen Symbolen getrennt: Seesterne, Muscheln und Robben. In den letzten zwei Bänden wurde schließlich die Landkarte versetzt, die Innenseite des Covers liefert nun ein großes und entsprechend stilisiertes Foto des Autors. Vor dem Hintergrund der ostfriesischen Küste wirkt der Autor Wolf hier wie ein richtiger Seewolf. Der Verlag treibt den Kult um den Schriftsteller mit zusätzlichen Werbemaßnahmen weiter. Dazu gehört etwa eine Beilage des Ostfriesland-Magazins, welche gänzlich Klaus-Peter Wolf und seinem Arbeitsumfeld gewidmet ist. Die Leser bekommen hier nicht nur ein Interview mit dem Autor, einen Bericht über die jüngste Buchpremiere oder eine Leseprobe aus dem neuesten Band. Zur Sprache kommen auch andere Personen, die den Erfolg der Reihe vorantreiben: die Verlagslektorin Wolfs und der Produzent seiner Hörbücher. Die Kampagne nutzt die gesamte Bandbreite des modernen Marketings: „Legendäre Sätze aus den Büchern von Klaus- Peter Wolf gibt es jetzt auch auf T-Shirts, Pullovern, Tassen und Regenschirmen gedruckt“ und mit einer neuen App kann man „gemeinsam mit Klaus-Peter Wolf die Tatorte seiner Ostfriesenkrimis erkunden“ 7 . Der Autor revanchiert sich für die ihm zugeteilte Aufmerksamkeit und lässt die Grenzen zwischen der Phantasiewelt seiner Krimis und dem ostfriesischen Alltag stellenweise verschwimmen. Der Chefredakteur des erwähnten Ostfriesland Magazins Holger Bloem erscheint in den meisten Romanen in Person als zuverlässiger Ansprechpartner der Hauptheldin und wird mit der Zeit zum Freund des ganzen Ermittlungsteams 8 . 6 Susanne Mischke, Tod an der Leine, München; Zürich, Piper 2012, S. 70 f. 7 [ohne Autor], „Ostfrieslandkrimis. Klaus-Peter Wolf“, in Ostfriesland Magazin, Jg. 6 (2014), Nr. 1, S. 1 [Beilage]. 8 Paradoxerweise distanziert sich der Verlag zugleich - wohl angesichts der aktuellen negativen Presse - vom Begriff „Regionalkrimi“. So wurde dem neuesten Band von Klaus-Peter Wolf eine Minianalyse angehängt, deren Autor wohl nicht zufälligerweise die Zugehörigkeit der Reihe zu diesem Genre in Frage stellt. Lars Schafft, „Zum Erfolg von Klaus-Peter Wolfs Kriminalromanen“, in Klaus-Peter Wolf, Ostfriesenfeuer, Frankfurt/ M., Fischer Taschenbuch, 2014, S. 523-525, hier S. 525: „Zugegeben, durch Klaus- Peter Wolfs Nomenklatur seiner Krimis ist eine Einsortierung in diese Schublade Urszula Bonter 94 Neben der sorgfältig und kenntnisreich ausgearbeiteten lokalen Kulisse zeichnen sich praktisch alle Regionalkrimis durch eine vertiefte Figurendarstellung und zugleich einen Zug ins Humoristische aus. Das Privatleben der Helden erscheint in vielen Fällen wichtiger als die Aufklärung des Falles, was einen klaren Gegenentwurf zum klassischen Detektivroman bedeutet 9 . In den Sylt-Krimis von Gisa Pauly prallen die Temperamente des zurückhaltenden norddeutschen Kommissars Erik und seiner lebensfrohen, lauten italienischen Schwiegermutter Mamma Carlotta ständig aufeinander. Die ungleichen heranwachsenden Kinder des Polizisten mit ihren privaten Sorgen geben weiteren Anlass zu komischen Episoden. Alleinerziehende Elternteile mit pubertierenden Kindern stehen in dieser Gattung hoch im Kurs, genauso wie der Single auf der Suche. Der Heidelberger Kriminalrat Alexander Gerlach macht mit seinen Zwillingen jede Phase der Adoleszenz durch und findet dabei noch Zeit für eine leidenschaftliche Affäre mit der Ehefrau seines Chefs. In den Hannoveraner Geschichten von Susanne Mischke wird der Leser mit zahlreichen privaten Abenteuern und den Liebesgeschichten des vierköpfigen Ermittlerteams konfrontiert, dessen Mitglieder sich durch ihr Alter, ihre soziale Herkunft und ihre jeweiligen Macken stark voneinander unterscheiden. Die Figuren kämpfen gegen ihre kleinen, banalen Probleme und sind keinesfalls mit den typischen Helden aus dem sozialkritischen Polizeikrimi zu verwechseln 10 . In den Taunus- Romanen von Nele Neuhaus begegnet der Leser wiederum der geschiedenen wohlhabenden Ex-Hausfrau Pia Kirchhoff und dem adligen Kommissar Oliver von Bodenstein. Während sich Pia in einen Zoodirektor glücklich verliebt, geht die Ehe ihres Kollegen langsam in die Brüche. In Oberbayern ermitteln schließlich der schüchterne und immer frierende Kommissar Wallner und der trinkfreudige und rabiate Streifenpolizist Kreuthner, der es mit dem Gesetz nicht so eng nimmt. Der sexuell überaktive Großvater Wallners sorgt in jedem Band für Missverständnisse und skurrile Situationen: [Regiokrimi] naheliegend. Auch durch die vielen realen Orte und Menschen, die er erwähnt, kann man schnell zu diesem Schluss kommen. Nur: Liest man Wolfs Texte genau, spielt die Umgebung gar keine so große Rolle. Tauschte man die Städte-, Restaurants und Familiennamen beliebig aus, es hätte auf den Roman kaum eine Wirkung. Ostfriesland ist Klaus-Peter Wolfs Bühne, seine Figuren sind die Stars. Ob der Erfolg für ihn weitergeht, wird maßgeblich davon abhängen, wie er mit ihnen umgeht“. 9 Zum klassischen Detektivroman: S. S. Van Dine (Willard Huntington Wright), „Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München, W. Fink, 1971, T. 1, S. 143-147; Ernest Mandel, Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans, Frankfurt/ M., Athenäum, 1988, S. 32-39. 10 Zum Genre des sozialkritischen Polizeikrimis: Stefanie Abt, Soziale Enquête im aktuellen Kriminalroman. Am Beispiel von Henning Mankell, Ulrich Ritzel und Pieke Biermann, Wiesbaden, Dt. Univ.-Verl., 2004. Stadt - Land - Mord 95 Etwa hundert Meter waren es noch bis zu seinen Großeltern, als Wallner am Haus der Familie Höbermann vorbeikam. […] Aus dem Haus hörte Wallner ziemlich eindeutige Geräusche, die darauf hindeuteten, dass die Höbermanns noch immer ein aktives Intimleben praktizierten. Es war freilich im ganzen Haus kein Licht zu sehen. Wallner fragte sich, ob die Ursache dafür Prüderie war oder die Freude an der Heimlichkeit. Die Geräusche, die an sein Ohr drangen, sprachen eher gegen die Prüderievariante. Mit einem Lächeln ging Wallner weiter. Das Lächeln wich ihm allerdings schlagartig aus dem Gesicht, als Resi Höbermann in Extase ,O Manfred‘ stöhnte. Herr Höbermann hieß nämlich nicht Manfred, sondern Peter. Sollte es ein geschmackloser Zufall sein, dass Resi Höbermann beim Fremdgehen ausgerechnet den Vornamen seines Großvaters in die Novembernacht hinausröhrte? 11 Trotz des starken Akzents auf dem Privatleben der Protagonisten unterscheiden sich die Ermittler in den deutschen Regionalkrimis auffällig von den Helden bei den skandinavischen Größen der sozialkritischen Kriminalliteratur Henning Mankell, Stieg Larsson oder Jo Nesbø. Der deutsche Regionalkrimi meidet kaputte Gestalten am Rande des Zusammenbruchs und setzt auf harmlose, nicht selten etwas trottelige Figuren. Das neue Erfolgsrezept heißt Durchschnittlichkeit. Paradebeispiele sind hier die Sylter-Reihe von Pauly und die Heidelberger Krimis von Wolfgang Burger. Burgers Charakteristik seines Helden aus dem Nachwort, das er jetzt manchen Neuauflagen seiner Krimis anhängt, trifft ebenfalls auf viele andere zu: Kriminalrat Alexander Gerlach, mein Protagonist, ist kein verlorener Trinker, kein am Leben und seinem Job Verzweifelter, kein von Chef und Kollegen gemobbter einsamer Wolf, sondern ein Mensch wie Sie und ich. Er hat seine Probleme, er hat auch seine Stärken. Er hat seine Sorgen und Nöte und auch seine Erfolge und schönen Momente. Manchmal mogelt er sich durch wie wir alle, hin und wieder ist er sogar richtig gut. Oft wächst ihm alles über den Kopf, aber irgendwie klappt es dann am Ende meistens doch 12 . Allerdings kennt die Gattung auch Vorstöße in eine gegensätzliche Richtung. Die ostfriesische Kommissarin Ann Kathrin Klaasen bei Klaus-Peter Wolf erinnert in mancher Hinsicht an skandinavische Vorbilder. Als gescheiterte Ehefrau und Mutter rappelt sie sich erst im Laufe der Reihe langsam auf und findet zu einer größeren inneren Ruhe und einem bescheidenen Glück. Im ersten Band - Ostfriesenkiller - von 2007 wird sie von Minderwertigkeitskomplexen und negativen Emotionen regelrecht zerfressen und spioniert ihrem Exmann und dessen neuer Freundin nach: 11 Andreas Föhr, Totensonntag, München, Knaur, 2013, S. 229 f. 12 Nachwort in Wolfgang Burger, Heidelberger Requiem, München; Zürich, Piper, 2013, S. 254-256, hier S. 255 f. Urszula Bonter 96 Es sollte ja Frauen geben, die sich mit der neuen Geliebten ihres Ehemannes anfreundeten, sogar zusammen in Urlaub fuhren. Sie hatte diese zur Schau gestellte Lockerheit nie geglaubt. Vielleicht musste man ein alter 68er sein, um so leben zu können. Sie war voller Eifersucht, Missgunst und Hass. Ja Hass 13 . Ausgedehnte Schilderungen des Privatlebens und zahlreiche humoristische Abschweifungen gehen in der Regel auf Kosten der Spannung. Die Aufklärung des Mordes mutiert in vielen Regionalkrimis zu einer Nebensache und wird weniger durch harte und konsequente Arbeit als durch Zufälle vorangetrieben. In dem neuesten Band des Vaters der Gattung, in Jacques Berndorfs Eifel-Krieg von 2013, erfährt der Protagonist, der kauzige Journalist Siggi Baumeister, dass in seiner Gegend ein junger Mann, genannt Blue, vermisst wird. Daraufhin fährt er ins Tal, in dem sich der Junge gern aufgehalten hatte, raucht seine Pfeife, beobachtet die Landschaft und entdeckt aufs Geratewohl auch schnell die Leiche: Ich suchte nach Auffälligkeiten, nach Farbflecken, die nicht in das Tal gehörten. Zuerst lief ich eine Zeit lang unschlüssig umher, mir was nicht klar, in welcher Richtung ich suchen sollte. Dann sah ich auf dem linken Hang irgendetwas unter einem Haselbusch, das blau war, konnte aber nicht erkennen, was es genau war. Ich schlenderte dorthin 14 . Die mangelnde Spannung ist in vielen Fällen eine direkte Folge der gewählten Erzählperspektive. Berndorf schreibt seine Eifel-Geschichten in der ersten Person und verharmlost durch den betulich-ironischen Blick seines Helden auch noch den schlimmsten Mord. In Eifel-Krieg wird Siggi Baumeister ein paar Tage später von seinen Freunden bei der Polizei über das Auffinden eines weiteren Mordopfers informiert. Als Ortsansässiger genießt er eine privilegierte Behandlung: Im Unterschied zum Rest der Presse wird er sogar zum Fundort vorgelassen und darf der Arbeit des ihm bestens vertrauten Ermittlungsteams zusehen: Ich grinste also dem Uniformierten zu und marschierte an ihm vorbei. Nichts in seinem Gesicht regte sich. Kischkewitz sah mich und murmelte: ,Das hier ist ein Quiz, Junge. Und du kriegst einen Orden, wenn du das löst.‘ Der Tote auf der Bank hatte kein Gesicht mehr. Vor seinem Bauch lag ein weißes DIN- A4-Blatt mit großen, schwarzen Buchstaben darauf. Dort stand: Schöne Grüße! Fritz Dengen fotografierte den Leichnam mit der ihm eigenen Gründlichkeit. Er hob nur kurz den Kopf und lächelte schmal. ,Schöne Sauerei.‘ Patt kniete vor dem Toten, rutsche mehrmals hin und her, verschob seine Position nur um zehn oder zwanzig Zentimeter und hatte in der rechten Hand eine sehr große Pinzette, mit der er an der Kleidung des Toten herumzupfte. Wie üblich sprach er beruhigend mit sich selbst, war aber nicht zu verstehen. 13 Wolf, Ostfriesenkiller, S. 117. 14 Jacques Berndorf, Eifel-Krieg, Hillesheim, KBV, 2013, S. 19. Stadt - Land - Mord 97 Kischkewitz saß merkwürdigerweise auf einem Segeltuchschemel und machte einen sehr abgehobenen Eindruck, als wäre er gar nicht vorhanden 15 . Eine ähnliche Perspektive eigneten sich auch viele andere Autoren von Regionalkrimis an. Burger schreibt seine Heidelberger Romane genauso wie Berndorf in der Ich-Form, die Sylter Morde von Pauly werden aus der Sicht des Kommissars Erik und seiner enervierenden italienischen Schwiegermutter dargestellt und von beiden paritätisch gelöst. Bei Susanne Mischke darf der Leser abwechselnd alle vier Mitglieder des Hannoveraner Teams bei ihrer Arbeit begleiten, und in den ersten Romanen von Nele Neuhaus schwankt die Perspektive ziemlich symmetrisch zwischen den beiden Kommissaren. Dadurch entsteht eine eigenartig geborgene und gemütliche Grundstimmung. Der Leser erlebt das Verbrechen gemeinsam mit den harmlosen, teilweise recht täppischen Helden aus der Distanz, von außen, und bleibt genauso wie diese eher unangetastet. Eine Ausnahme bildet hier wieder Klaus-Peter Wolf mit seinen ostfriesischen Mordgeschichten. Er erweitert die Sicht seiner Heldin nicht nur um die Erlebnisse ihrer Kollegen, sondern benutzt auch konsequent die Täter- und Opferperspektive. Beides gehört zu den bewährten Mitteln zur Spannungssteigerung im Thrillergenre 16 . Bereits im ersten Band der Reihe - Ostfriesenkiller aus dem Jahre 2007 - bekommt der Leser einen genauen Einblick in die skrupulösen Vorbereitungen des nebulösen Mörders: Fein säuberlich standen auf rosa Löschpapier sechs Namen untereinander. Der oberste, Ulf Speicher, wurde durchgestrichen. Der nächste Name lautete Kai Uphoff. Das Gewehr stand wieder im Schrank, neben den anderen. Es hatte seinen Dienst getan. Eine gute Waffe. Präzise und tödlich. Sie wussten jetzt, dass es ihnen an den Kragen ging. Vielleicht würden sie versuchen, sich aus dem Staub zu machen. Der nächste Schlag musste schnell erfolgen. Sie durften keine Ruhe finden und nicht herausbekommen, wer ihre Pläne durchkreuzte. Noch heute Nacht sollte der Nächste sterben 17 . Erst auf den letzten Seiten des Romans entpuppt sich dieser eiskalte Mörder als eine geistig zurückgebliebene, irregeleitete junge Frau, die dem Leser aus der Sicht der Kommissarin Ann-Kathrin Klaasen längst als trauriger Sozialfall bekannt war. Auf dem Weg zur Lösung des Rätsels erlebt der Leser zudem die letzten Lebensmomente und Ängste der Opfer mit: Als Kai am Deich ankam, war es stockfinster. Er stellte sein Fahrrad am Zaun ab und öffnete das Schafgatter. Er lief die Treppen zur Deichspitze hoch und 15 Ebd., S. 136. 16 Jochen Vogt, „Triumpf des Thrillers? Wiederkehr des Bösen? Einige (nicht nur) erzähltheoretische Beobachtungen zur neueren Entwicklung des Kriminalromans“, in Edgar Marsch (Hrsg.), Im Fadenkreuz. Der neue Schweizer Kriminalroman. Zürich, Chronos- Verl., 2007, S. 39-53. 17 Wolf, Ostfriesenkiller, S. 47 f. Urszula Bonter 98 sah sich um. Er wusste, dass er nicht allein war, er fühlte die Anwesenheit einer Person. Aber er konnte sie nicht sehen. […] Hier standen mindestens zweihundert Schafe auf der Weide, aber das Geräusch hinter ihm kam nicht von einem Schaf. Kai drehte sich um. Die Klinge von einem Schwert zerfetzte die Luft und zertrümmerte seinen Schädel 18 . Wie unterschiedlich der Regionalkrimi mit dem nächsten klassischen Mittel zur Steigerung der Spannung - der Vorausdeutung - umgehen kann, zeigt ein Vergleich zwischen Wolf und Burger. Beide Autoren beginnen nämlich den jeweils ersten Band ihrer Reihe mit einem vorgreifenden Satz. Wolf bereitet sein Publikum sofort auf einen baldigen Mord vor: „Ulf Speicher wusste nicht, dass er nur noch vier Stunden zu leben hatte“ 19 . Danach begleitet der Leser den Todgeweihten bis zu seiner Erschießung am Anfang des zweiten Kapitels. Im Zentrum der Vorausdeutung bei Burger steht jedoch nur anscheinend das Verbrechen: Erst Wochen später, als wir längst im tiefsten Schlamassel steckten, wurde mir bewusst, dass ich die Frau mit der Perlenkette in den Minuten zum ersten Mal sah, als Patrick Grotheer seinem Mörder die Tür öffnete 20 . Die geheimnisvolle Unbekannte hat mit dem Kriminalplot jedoch gar nichts zu tun. Theresa ist die extravagante Ehefrau des direkten Vorgesetzten von Kriminalrat Gerlach und hat anstelle ihres unentschiedenen Mannes nach der Lektüre von Bewerbungsunterlagen - und nicht ohne Hintergedanken - über dessen Berufung nach Heidelberg entschieden. Fast hundert Seiten später taucht sie im Buch zum zweiten Mal auf und verführt zielsicher ihren nichts ahnenden Protegé. Von nun an erscheint sie als pikante Zugabe in jedem Band. Einfallsreicher als die meisten seiner Kollegen zeigt sich auch Andreas Föhr in seiner Miesbacher Reihe, in der er ähnlich wie Klaus-Peter Wolf eine größere Palette an Perspektivenvariationen benutzt. In seinem neuesten Band Totensonntag von 2013 geht er auf eine doppelte Weise in die Vergangenheit zurück. Nach vier um 2010 spielenden Folgen zeigt er seine beiden Haupthelden als blutjunge Polizisten im Herbst 1992 und verbindet ihren aktuellen Fall mit dem Mord an einer jungen Frau in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges. Die Passagen aus der Kriegszeit nähern sich dem tragischen Finale abwechselnd aus der Sicht des späteren Opfers Frieda, welche Anfang Mai 1945 einem Todesmarsch Richtung Alpen entfloh, und ihrer SS-Verfolger. Das nächste Charakteristikum des Regionalkrimis ist, dass der Mord hier ähnlich wie im klassischen Detektivroman als eine Ausnahmeerscheinung fungiert und die Gemütlichkeit der Handlung und das Bild einer heilen Welt 18 Ebd., S. 49. 19 Ebd., S. 7. 20 Burger, Heidelberger Requiem, S. 5. Stadt - Land - Mord 99 kaum beeinträchtigt. Mamma Carlotta stolpert auf Sylt über jede Menge Leichen, welche jedoch nicht imstande sind, die angeborene Heiterkeit ihres Gemüts zu trüben. Auch in den anderen Reihen hinterlassen die zahlreichen Verbrechen in der Regel keine tieferen Spuren bei den Mitgliedern des Ermittlungsteams. Die gute Laune des Regionalkrimis verträgt sich schwer mit Reflexionen über die soziale Dimension des Verbrechens. Einen interessanten Versuch stellt in dieser Hinsicht der neueste Band von Nele Neuhaus dar - Böser Wolf von 2013, der auch in Punkto Spannung alle bisherigen weit überragt. Mit diesem Buch, welches von einem internationalen Kinderschänderring handelt, stellt sich die Autorin in die Tradition der amerikanischen Großstadtkrimis mit seinem sozialkritischen Impetus 21 . Die lokalen Honoratioren vergehen sich unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit an Schutzbefohlenen, betreiben ein gefängnisartiges Kinderbordell in den Katakomben eines mondänen Palais und vertreiben im großen Stil selbstgedrehte Filme mit Kinderpornographie. Angesichts dieser Verbrechen kann sich die Polizistin Pia Kirchhoff nach der Lösung des Falles nur bedingt zufrieden zeigen: „Ich sollte mich freuen, dass wir einen wirklich großen Kinderschänderring zerschlagen können. Aber ich kann es nicht. Kindermissbrauch wird nie aufhören“ 22 . In der „Danksagung“ berichtet die Autorin, dass sie für dieses Buch viel tiefer als sonst recherchiert hatte. Das Thema Pädophilie und das Leid der wirklichen Opfer hatten sie sehr berührt. Mit ihrem Krimi will Neuhaus auch eine Botschaft in die Welt setzen: „Ich hoffe, dass ich meinerseits mit diesem Roman vielleicht ein klein wenig dazu beitragen kann, dass dieses Tabu-Thema nicht in Vergessenheit gerät“ 23 . Wohl wegen dieser persönlichen Betroffenheit entschied sich die Autorin ausnahmsweise für einen Schluss, der eigentlich die Grenzen der traditionell verstandenen Kriminalliteratur sprengt. Der Bösewicht wird nicht bestraft, ein moralisches Happy End bleibt aus. Der Kopf der ganzen Bande stirbt nicht wie allgemein angenommen nach seinem Sprung in den Fluss, sondern landet im Epilog in Stockholm, ausgestattet mit einem argentinischen Diplomatenpass. Hier wird er von seinen schwedischen Komplizen in Empfang genommen und denkt schon an den Neuaufbau seines Unternehmens. Mit diesem Ende mimt Neuhaus den amerikanischen Klassiker Das Böse von Alex Kava ziemlich präzise nach. Und dennoch fallen auch in diesem Regionalkrimi die üblichen Verniedlichungstendenzen auf. Die entführte siebenjährige Enkelin des Lebenspartners von Pia Kirchhoff wird im letzten Moment gerettet und schläft nun 21 Zu den klassischen amerikanischen Großstadtkrimis etwa: Fredric R. Jameson, „Über Raymond Chandler“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 378-397; Friedrich A. Kittler, „Über die Kunst mit Vögeln zu jagen. ‚Der Malteser Falke’ von Dashiell Hammett“, in ebd., S. 416-427. 22 Nele Neuhaus, Böser Wolf, Berlin, Ullstein, 2013, S. 469. 23 Ebd., S. 474. Urszula Bonter 100 „wie ein Murmeltier, erschöpft vom größten Abenteuer ihres jungen Lebens“ 24 . Dem Leser wird auch versichert, dass das Mädchen dank ihrer robusten Verfassung von dem traumatischen Erlebnis keinen dauerhaften Schaden davongetragen wird. Eine genauso positive Prognose wird für die von ihrem Opa missbrauchte Tochter einer Freundin der Kommissarin gestellt: „Pia dachte an Louisa. Sie hatte liebevolle Eltern und war jung genug, um das, was sie erlebt hatte, vergessen zu können“ 25 . Selbst die äußerst brutal vergewaltigte Fernsehmoderatorin Hanna Herzmann, aufgrund ihrer Skrupellosigkeit auch „Herz-los“ genannt, wird genesen und aus dem Geschehenen eine Lehre ziehen. An der Seite ihres neuen Freundes, der infolge der Manipulationen der Kinderschänder ein paar Jahre im Gefängnis unschuldig verbringen musste, schaut sie einer besseren Zukunft entgegen: Auch Hanna war aus ihrer Welt der Oberflächlichkeit gerissen und vom Schicksal unsanft in die tiefsten Abgründe der Hölle gestoßen worden. Doch sie würden es beide überstehen, sich wieder ans Licht emporarbeiten, aber sie würden das, was ihnen das Leben schenkte, nie mehr für selbstverständlich halten 26 . Näher betrachtet hat der Regionalkrimi doch viele verschiedene Facetten und gibt sich stellenweise durchaus experimentierfreudig und entwicklungsfähig. Das Ende des Booms ist nicht abzusehen. Die Qualitätsunterschiede zwischen einzelnen Reihen sind allerdings beträchtlich. Bibliographie Stefanie Abt, Soziale Enquête im aktuellen Kriminalroman. Am Beispiel von Henning Mankell, Ulrich Ritzel und Pieke Biermann, Wiesbaden, Dt. Univ.-Verl., 2004. Jacques Berndorf, Eifel-Krieg, Hillesheim, KBV, 2013. Wolfgang Burger, Heidelberger Requiem, München; Zürich, Piper, 2013. Andreas Föhr, Totensonntag, München, Knaur, 2013. Fredric R. Jameson, „Über Raymond Chandler“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 378-397. Friedrich A. Kittler, „Über die Kunst mit Vögeln zu jagen. ‚Der Malteser Falke‘ von Dashiell Hammett“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 416-427. Ernest Mandel, Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans, Frankfurt/ M., Athenäum, 1988. Edgar Marsch (Hrsg.), Im Fadenkreuz. Der neue Schweizer Kriminalroman. Zürich, Chronos-Verl., 2007, S. 39-53. Susanne Mischke, Tod an der Leine, München; Zürich, Piper 2012. Nele Neuhaus, Böser Wolf, Berlin, Ullstein, 2013. 24 Ebd., S. 468. 25 Ebd., S. 469. 26 Ebd., S. 453. Stadt - Land - Mord 101 Lars Schafft, „Zum Erfolg von Klaus-Peter Wolfs Kriminalromanen“, in Klaus-Peter Wolf, Ostfriesenfeuer. Frankfurt/ M., Fischer Taschenbuch, 2014, S. 523-525. Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte, München, W. Fink, 1998. Klaus-Peter Wolf, Ostfriesenkiller, Frankfurt/ M., Fischer Taschenbuch, 2012. Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München, W. Fink, 1971. Jochen Vogt, „Triumpf des Thrillers? Wiederkehr des Bösen? Einige (nicht nur) erzähltheoretische Beobachtungen zur neueren Entwicklung des Kriminalromans“, in Edgar Marsch (Hrsg.), Im Fadenkreuz. Der neue Schweizer Kriminalroman. Zürich, Chronos-Verl., 2007, S. 39-53. Melanie Wigbers, Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006. Internetseiten http: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ frankfurter-buchmesse-zehn-vetos-gegen-dentrend-1.1488269 (letzter Zugriff am 10. Oktober 2015). http: / / sz-magazin.sueddeutsche.de/ texte/ anzeigen/ 38041/ Das-Beste-aus-aller-Welt (letzter Zugriff am 10. Oktober 2015). http: / / www.zeit.de/ 2013/ 03/ Deutschlandkarte-Regionalkrimis (letzter Zugriff am 10. Oktober 2015). Maike Schmidt Berlin-Krimis seit 2000 Von der Metropole zur Provinz Einleitung Berlin gilt, traut man den Medien, als aufregendste Stadt der Welt, als größte Baustelle Europas, als Machtzentrum und Werkstatt der deutschen Einheit, als Touristenmagnet und als kultureller Schmelztiegel 1 . Bei der Spree- Metropole handelt es sich also um eine Stadt der Superlative. Diese besondere Rolle Berlins spiegelt sich auch in der Literatur wieder, aktuell - und das mag angesichts der geschürten Erwartungen überraschen - vor allem auf dem Regionalkrimisektor. Der vorliegende Beitrag möchte die seit dem Jahr 2000 erschienenen Berlin-Krimis auf aktuelle Tendenzen und Themen hinuntersuchen. Im Mittelpunkt soll vor allem die Regionalisierung des Hauptstadt-Krimis stehen, die schließlich in den explizit als Provinzkrimi aus Berlin betitelten Roman Wo der Hund begraben liegt von Beate Vera mündet 2 . Wie grenzen sich die Krimis der Gegenwart von denjenigen in der Forschung bereits in Ansätzen analysierten Nachwende-Krimis ab? Welches Bild entwerfen die aktuellen Krimis von der Groß- und Hauptstadt Berlin? Durch welche Konstruktions- und Ästhetisierungsstrategien zeichnen sich die Krimis aus? Um Innovationen und Traditionen in den aktuellen Berlin-Krimis herausarbeiten zu können, sollen zunächst die gängigen Merkmale und Konzepte der Berlin-Romane sowie der Regionalkrimis herausgearbeitet werden, um dann konkret auf den Berlin-Krimi einzugehen. Berlin-Romane Die aktuellen Berlin-Krimis knüpfen an Themen und Motive an, die sich unter dem Genre des Berlin-Romans etabliert haben. Diese literarischen Texte, die sich mit Berlin auseinandersetzen, sind zunächst unter dem all- 1 Vgl. Matthias Harder; Almut Hille, „Berlin - Literatur - Geschichte. Literarisches Leben und Stadtentwicklung in Berlin, in Matthias Harder; Almut Hille (Hrsg.), „Weltfabrik Berlin“. Eine Metropole als Sujet der Literatur. Studien zu Literatur und Landeskunde. Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006, S. 9-34, hier S. 9. 2 Beate Vera, Wo der Hund begraben liegt. Ein Provinzkrimi aus Berlin, Berlin, Jaron, 2014. Maike Schmidt 104 gemeineren Stichwort Großstadtliteratur in die Literaturgeschichte eingegangen: Diese hat sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt, zunächst bezogen auf London und Paris. Mit der Reichsgründung und Etablierung als Wirtschafts- und Kulturmetropole ist innerhalb kürzester Zeit aber auch Großstadtliteratur mit dem Handlungsort Berlin entstanden 3 . Die Berlin- Literatur lässt sich in der Fortsetzung das ganze 20. Jahrhundert hindurch verfolgen mit ihrem ersten Höhepunkt während der Weimarer Republik 4 . Hier lässt sich vor allem im Feuilleton eine Stilisierung Berlins zur Metropole feststellen. Das literarische Interesse für Berlin erwacht erneut unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg 5 , bleibt aber auch in den 1970er und 1980er Jahren erhalten 6 . Der Standort Berlin wird hier ideologisch, topographisch und mentalitätsgeschichtlich verarbeitet. Ein bis heute anhaltender Boom an Berlin-Romanen setzt in den 1990er Jahren ein 7 , wie die Werke u.a. von Volker Braun, Tanja Dückers, Jakob Hein, Judith Hermann, Matthias Hettche, Ulrich Peltzer, Sven Regener, Uwe Tellkamp oder Moritz von Uslar zeigen, um nur einige wenige Autoren hervorzuheben. Im Feuilleton wächst spätestens 1990 die Erwartung nach ‚dem‘ Berlin-Roman: Der Ruf nach dem Berliner Metropolenroman bzw. einer wie auch immer beschaffenen Großform der Stadtdarstellung […] muss im Kontext der Erwartungen an die deutsche Nachwendeliteratur gesehen werden, bei denen es in massiver Weise um die Proklamation eines neuen ‚wirklichkeitshaltigen‘ Erzählens ging 8 . Gegeben hat es ‚den‘ Berlin-Roman aber nicht; zu aufgeladen ist die Diskussion im Feuilleton geführt worden, als dass es eine ernsthafte Chance gegeben hätte: „Mittlerweile haben wir den ‚Berlin-Roman‘ satt, bevor er wirklich geschrieben wurde“ 9 . 3 Vgl. Christoph Jürgensen, „Berlin Heinrichplatz, Berlin Potsdamer Platz - Die Textstädte Ulrich Pelzers“, in Katja Carrillo Zeiter; Berit Callsen (Hrsg.), Berlin - Madrid. Postdiktatoriale Großstadtliteratur. Berlin, Erich Schmidt, 2011, S. 67-83, hier S. 67. 4 Vgl. Michael Bienert, Die eingebildete Metropole. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Stuttgart, Metzler, 1992. 5 Vgl. u.a. Ursula Heukenkamp (Hrsg.), Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945-1949, Berlin, Erich Schmidt, 1996. 6 Vgl. u.a. Walter Delabar, „Letztes Abenteuer Großstadt. (West)Berlin-Romane der achtziger Jahre“, in Walter Delabar (Hrsg.), Neue Generation - Neues Erzählen. Deutsche Prosa-Literatur der achtziger Jahre. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1993, S. 103-125. 7 Vgl. Jörg Magenau, „Berlin-Prosa“, in Erhard Schütz; Jörg Döring (Hrsg.), Text der Stadt - Reden von Berlin. Literatur und Metropole seit 1989. Berlin, Weildler Buchverlag, 1999, S. 59-70. 8 Susanne Ledanff, Hauptstadtphantasien. Berliner Stadtlektüren in der Gegenwartsliteratur 1989-2008, Bielefeld, Aisthesis Verlag, 2009, S. 157. 9 Katharina Döbler, „Des Teufels Elixiere. Georg Klein schickt in Barbar Rosa einen Detektiv auf den Psychotrip“, in Die Zeit vom 22. März 2001. Berlin-Krimis seit 2000 105 Susanne Ledanff hat in ihrer Monographie Hauptstadtphantasien rund 140 Berlin-Romane und 40 Kurzgeschichten analysiert, die zwischen 1989 und 2008 publiziert worden sind. Schon der Umfang an Primärliteratur zeigt die Beliebtheit des Themas Berlin in der Gegenwartsliteratur. Ledanff und andere Literaturwissenschaftler, die die Zeit um die Jahrtausendwende in den Blick nehmen, beobachten in den Jahren 1998/ 1999 - Berlin ist inzwischen Hauptstadt Gesamtdeutschlands geworden und viele Großbauprojekte sind realisiert - auf mehreren Ebenen eine Zäsur in der Berlin-Literatur: Auffällig ist beispielsweise die junge Debütantenliteratur von der Generation der 30- Jährigen, die sich in diesen Jahren etabliert 10 . Thematisch und mentalitätsgeschichtlich lassen sich innerhalb der Berlin-Literatur Veränderungen bemerken, indem beispielsweise das neue Stadtbild in den Mittelpunkt rückt. Haben die Ost- und Westberliner Wenderomane vor 1998 die Stadt aus verschiedenen Perspektiven beschrieben, kommt Berlin nach dieser Zäsur eindeutig als gesamtdeutsche Metropole zur Sprache. Re-etabliert werden nun auch Berliner Gesellschaftsbzw. Familienromane von Autoren wie Kathrin Schmidt oder Uwe Timm, die neue Räume und neue gesellschaftliche Entwicklungen zum Thema machen 11 . Aufgrund der langen Tradition der Berlin-Literatur und der Beliebtheit des Genres lassen sich zahlreiche Kategorien nennen, die sich als kennzeichnend erweisen für die Verarbeitung der Stadt Berlin in der Literatur. Da die Berlin-Krimis als Subgenre des Berlin-Romans ebenfalls mit diesen Kategorien arbeiten, sollen hier - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - in Anlehnung an die Arbeit von Susanne Ledanff einige repräsentative Kategorien für die Berlin-Romane aufgeführt werden: - Berlin als (postmodernes) Palimpsest bzw. als postmoderne Stadt; - Berlin als Geschichtsstadt (National- und Stadtgeschichte, aber auch Geschichtslosigkeit durch Kriegszerstörungen); - die Flanerie (seit Walter Benjamin); - Mythos Berlin (nostalgisches Erinnern an die Vorwendezeit, Mythologie der Brache, Insel-Mythos Westberlin); - Berlin als Spektakel-Stadt (Erlebnismarkt, kulturelle Großereignisse, Ausstellungen, Events, Präsenz und Vitalität); - Re-Metropolisierung Berlins (Berlin als Europa- und Weltmetropole, Neuerfindung Berlins) 12 . 10 Vgl. Ledanff, Hauptstadtphantasien, S. 407-458. Vgl. dazu auch: Volker Wehdeking, „Mentalitätswandel in der Berlin-Literatur der letzten zwei Dekaden: Der Stadtroman unter neuen medialen und mentalen Vorzeichen“, in Katja Carrillo Zeiter; Berit Callsen (Hrsg.), Berlin - Madrid. Postdiktatoriale Großstadtliteratur. Berlin, Erich Schmidt, 2011, S. 33-50. 11 Vgl. Ledanff, Hauptstadtphantasien, Kapitel 3 und 4. 12 Vgl. ebd., Kapitel 1. Maike Schmidt 106 Neben diesen zahlreichen positiv gelagerten Berlin-Motiven lassen sich - als Gegentrend - auch negative Konnotationen finden: inhaltlich etwa durch die Thematisierung von Krisensymptomen durch Satellitenstädte oder sprachlich durch eine Anti-Berlin-Polemik wie in Tristesse Royale (1999) oder Generation Golf II (2003) 13 . Größte Gemeinsamkeit der Berlin-Romane bleibt aber, wie es typisch ist für Großstadtliteratur, die Relation von Ich und Stadt 14 , also der Individuationsprozess im urbanen Raum. Regionalkrimis Das zweite relevante Subgenre für die Analyse der Berlin-Krimis stellt der Regionalkrimi dar, dessen wissenschaftliche Aufarbeitung nach dem rasanten Aufstieg dieses Genres mit hohen Auflagen und schneller Verbreitung über die verschiedenen Regionen hinweg gerade einsetzt 15 . Es konnten einige genretypischen Merkmale herausgearbeitet werden, die die Regionalkrimis - zusätzlich zu den formalen Mustern des Krimis - auszeichnen. Diese Merkmale, die im Folgenden als Analysekategorien zur Anwendung kommen, sollen hier kurz vorgestellt werden. Der Schwerpunkt ‚Region‘ tritt auf mehreren Ebenen zutage. So zeichnen sich die Regionalkrimis beispielsweise durch ein Lokalkolorit aus, das sich als funktional für die Aufklärung der Verbrechen erweist. Die Beschreibung der Region schließt sowohl die Hervorhebung geographischer, historischer und sprachlicher Besonderheiten ein als auch die Schilderung von Stereotypen zur Charakterisierung der Protagonisten. Die detaillierten Angaben zum regionalen kulturellen Erbe der Region dienen der Belehrung der Leser, tragen dazu bei, authentisches Material mit der fiktionalen Handlung zu verweben, und bieten den Protagonisten Identifikationsmöglichkeiten mit der zumeist als Heimat wahrgenommenen Region. Sie bietet damit gleichsam einen Schutz vor der Anonymität, die das Globalisierungszeitalter mit sich bringt 16 . 13 Vgl. beispielsweise Stefan Welzk, „Der todsichere Boom“, in Kursbuch 137, 1999, S. 179- 191. 14 Vgl. Jürgensen, „Berlin Heinrichplatz, Berlin Potsdamer Platz - Die Textstädte Ulrich Pelzers“, S. 68. 15 U.a. lassen sich hier anführen Silke Leuendorf, Der Regionalkrimi im Westen von Deutschland. Poetik und Entwicklung eines Genres, Saarbrücken, Verlag Dr. Müller, 2008 oder Erhard Schütz; Jochen Vogt, „Krimi-Kulisse Kohlenpott“, in Erhard Schütz; Jochen Vogt (Hrsg.), Schimanski & Co - Krimiszene Ruhrgebiet. Essen, KVR, 1996, S. 44-47. Siehe auch den Beitrag von Urszula Bonter in diesem Band. 16 Vgl. für das Beispiel Nordfriesland Maike Schmidt, „Morden im Norden. Regionalkrimis am Beispiel von Nordfriesland“, in Philologia Frisica Anno 2012, Ljouwert, Fryske Akademy, 2014, S. 114-123. Berlin-Krimis seit 2000 107 Als weiteres Kennzeichen der Regionalkrimis lässt sich festhalten, dass sie das Verbrechen zu aller erst vor die eigene Haustür bringen, also in die konkrete Region hinein. Die Idealisierung der Region, durch die sich die Krimis auszeichnen, lässt sich allerdings auf den ersten Blick mit der Störung dieser Ordnung durch das Verbrechen nicht vereinbaren. Das Konzept des Regionalkrimis, also des Mordfalls in der Region, geht jedoch auf, da sich am Ende, mit der Auflösung des Mordes, die Ordnung wieder herstellen lässt und eine Ent-Spannung eintritt 17 . Das Verbrechen weckt also das Interesse für die Region, ohne dass diese dadurch einen Schaden erleidet. Die Regionalkrimis arbeiten darüber hinaus stärker noch als andere Subgenres der Kriminalliteratur mit Realitäts- und Wahrscheinlichkeitsindikatoren, auf die sich der Leser verlassen kann. Die dargestellte Welt funktioniert nach den Regeln der Alltagslogik, zeichnet sich durch Plausibilität aus und regt die Identifikationsfähigkeit des Lesers an. Vor allem, wenn die Leser mit der jeweiligen Region vertraut sind, können sie die geschilderten regionalen Merkmale nachvollziehen und auf ihre Stringenz prüfen 18 . Die Exaktheit der topographischen Angaben sowie der Verzicht auf Fiktionalitätssignale bei der Raumbeschreibung führen dazu, dass der Unterschied zwischen realer und fiktiver Region bewusst unkenntlich gemacht wird. Dieses Spiel mit Authentizitätswie Fiktionalitätssignalen regt u.a. eine Beschäftigung mit der Konstruktion von Identitäten an - sowohl innerals auch außerliterarisch. Regionalkrimis arbeiten mit dem Merkmal der Authentizität. Es kommt zur Vermischung von fiktionalen Texten und realen Ereignissen. Grundsätzlich gilt natürlich: Literarische Texte sind keine Sachtexte, sie spiegeln die Realität nicht wider, sie referieren nicht auf sie - vielmehr bauen sie ihre eigene Realität auf und fügen diese der Wirklichkeit hinzu 19 . Die Regionalkrimis spielen mit dieser Grenze, bleiben aber literarische Konstruktionen und Verdichtungen auf einen Raum. Der Leser soll sich durch die Annäherung an die eigene Lebenswelt stärker mit den Figuren des Romans identifizieren und hat lehrreiche Krimis vor sich, mit denen er etwas 17 Zur genrespezifischen Konzeption des Krimis im Allgemeinen vgl. Peter Nusser, Der Kriminalroman (4., aktualisierte und erw. Auflage), Stuttgart, Metzler, 2009; Edgar Marsch, Die Kriminalerzählung. Theorie - Geschichte - Analyse (2. Auflage), München, Winkler, 1983. 18 Vgl. Maike Schmidt, „Nordfriesische Regionalkrimis - Zwischen Wirklichkeit und Fiktion“, in Zwischen Eider und Wiedau. Heimatkalender für Nordfriesland, 2013, S. 106- 112. 19 Christoph Bode, „Krimis als Sozialgeschichte einer Metropolis: Die Los Angeles- Romane von Raymond Chandler, James Ellroy und Walter Mosley“, in Barbara Korte; Sylvia Paletschek (Hrsg.), Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln, Böhlau, 2009, S. 151-164, hier S. 154 f. Maike Schmidt 108 über die Geschichte der Region erfahren kann. Darüber hinaus eröffnen sich die Krimis mit Touristen eine neue Leserschaft. Paratexte stellen ein weiteres Merkmal des Regionalkrimis dar: Kartenmaterial, Personenverzeichnisse, Glossare, aber auch Kochrezepte dienen den Lesern als Hilfsmittel, um die geschilderte Romanhandlung geographisch und historisch leichter einordnen zu können. Doch auch wenn die Paratexte als Authentizitätsindikatoren fungieren, müssen gleichzeitig die Fiktionalitätssignale beachtet werden. Als zentrale Themen der Regionalkrimis erweisen sich demnach die Auseinandersetzung mit Identifikationsmöglichkeiten und mit Räumen, die sich mit Hilfe der Intertextualität auch auf literarischer Ebene vollzieht: Die für eine Region typischen Schriftsteller, Werke und Mythen werden ebenso zitiert wie regionale Fernsehsendungen und mediale Ereignisse. Berlin-Krimis Der Tatort als Schauplatz des Verbrechens ist bei der Analyse von Krimis schon immer von Bedeutung gewesen 20 . Ebenso wie die Berlin-Romane blicken auch die Berlin-Krimis auf eine lange Tradition zurück, die die erfolgreichen Paris- oder London-Krimis des 19. Jahrhunderts auf Deutschland transferieren - das bekannteste Beispiel dürfte Alfred Döblin geliefert haben. Durch ihren Handlungsraum knüpfen die Berlin-Krimis an den amerikanischen Großstadtkrimi der hard-boiled school z.B. von Dashiell Hammett mit Handlungsort San Francisco und Raymond Chandler mit Handlungsort Los Angeles an: Zentrale Merkmale dieser Krimis sind die Alltäglichkeit und Komplexität des Verbrechens, ein feindseliges und gefährliches Umfeld von alltäglicher Kriminalität, Schauplätze als Machtbereiche der Täter, ein komplexes Spiel mit Identitäten sowie die hohe Dynamik, Geschwindigkeit und Überwindung weiter Strecken. Allerdings möchten diese Krimis - im Unterschied zu der Mehrzahl der Berlin-Krimis - keine Dokumentation faktischer Großstadt-Zustände erreichen, sondern eine artifizielle Realität schildern 21 . Einen erneuten Aufschwung haben die Berlin-Krimis seit der Wende erfahren. Hier mischt sich erstmals der Tatort Großstadt mit der regionalen Begrenzung des Krimis. In der Bibliographie zum Sammelband Text der Stadt - Reden von Berlin sind für den Zeitraum von 1989 bis 1999 insgesamt 57 Romane explizit als Berlin-Krimis angeführt, ohne dass diese Liste einen 20 Vgl. zu den verschiedenen Krimi-Orten Melanie Wigbers, Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006. 21 Vgl. Bode, „Krimis als Sozialgeschichte einer Metropolis“, S. 151-164; Wigbers, Krimi- Orte im Wandel, S. 88-101. Berlin-Krimis seit 2000 109 Anspruch auf Vollständigkeit behaupten würde 22 . In diesem Zeitraum entstehen auch die ersten Krimi-Reihen, die sich auf Berlin-Krimis spezialisieren, beispielsweise die „Reihe Berlin-Crime“. Mit dem Jahr 1998 endet, so das Ergebnis der bisherigen Forschung von Christan Jäger, der in den 1990er Jahren dominierende Berlin-Krimi, der die Wiedervereinigung und die ersten Jahre nach der Wende in der wiedervereinigten Stadt thematisiert. In dieser ersten Phase von Berlin-Krimis zwischen 1989 bis 1998 fällt auf, dass von der Wende abgesehen keine gesamtberliner Themen behandelt werden. Motive wie das Organisierte Verbrechen, die Verzahnung von Politik und Kriminalität sowie die Spekulationen um Grund und Boden, die bereits aus der Berlin-Literatur bekannt sind, werden nur selten thematisiert, was aus heutiger Sicht verwundert. Auch historische Krimis bzw. solche, die die Geschichte Berlins mit der Gegenwart verknüpfen, gibt es in den 1990er Jahren kaum, was ebenfalls mit den Erwartungen bricht 23 . Die Verunsicherung durch die Wende und Ängste vor der Zukunft bestimmen vor allem in den frühen 1990er Jahren nicht nur das gesellschaftliche Leben in Berlin, sondern auch die Berlin-Krimis: Berlin ist also [nach dem Mauerfall] etwas anderes geworden, und diese Änderung produziert Unsicherheit, eine Unsicherheit, die sich schon darin zeigt, daß überhaupt so viele Autoren zum Genre Kriminalroman greifen, zu einer Erzählform, die relativ fixe Strukturen und Erzählkonventionen aufweist und genau darin ein Stück Sicherheit bietet 24 . Die Krimis vertreten, wie es allgemein für die Berlin-Romane dieser Zeit typisch ist, meistens eine westdeutsche Perspektive und auch die Autoren stammen überwiegend aus Westdeutschland. Häufig kommt der Täter von außen nach Berlin, sodass mit der Überführung des Täter die Identitätsbedrohung auf der Ebene der erzählten Welt abgewendet werden kann. Diese Wirkung wiederum lässt sich durch das Krimi-Genre auch auf die außerliterarische Realität übertragen: Mit der Überführung des Täters wird die Spannung aufgelöst und das heile Weltbild wieder hergestellt. Dies gilt aber nicht für die Berliner Randbezirke, in deren schlechteren die Kriminalität zum Alltag gehört und damit Normalität geworden ist 25 . Die Krimis dieser ersten Phase spielen mit den Wiedervereinigungsängsten des Westens, indem ein 22 Vgl. Regine Jaszinski, „Bibliographie ‚Berlin in der Prosa‘ (1989-1999), in Erhard Schütz; Jörg Döring (Hrsg.), Text der Stadt - Reden von Berlin. Literatur und Metropole seit 1989. Berlin, Weildler Buchverlag, 1999, S. 186-196. 23 Vgl. Mark E. Schmidt (= Christian Jäger), „Der große Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte oder die Krimi-Kapitale. Berlin-Krimis der neunziger Jahre“, in Erhard Schütz; Jörg Döring (Hrsg.), Text der Stadt - Reden von Berlin. Literatur und Metropole seit 1989. Berlin, Weildler Buchverlag, 1999, S. 136-154, hier S. 137. 24 Ebd., S. 149. 25 Ebd., S. 146 f. Maike Schmidt 110 Misstrauen gegenüber dem Osten formuliert und das neue Berlin als fremd wahrgenommen wird. Großstädtisches Leben kommt in den Krimis dieser Zeit immer dann zum Ausdruck, wenn es um die Pflege sozialer Kontakte geht, wofür sich diverse Bars usw. anbieten. Durch die größere räumliche Trennung von Verwandten und Freunden in einer Großstadt beschäftigt sich das private Leben der Protagonisten häufig mit Beziehungsaufbau und -pflege. Die Weltgewandtheit der Protagonisten wird durch ihre Reisen bezeugt, die sie in den Krimis häufig unternehmen: andere europäische Haupt- und Großstädte stehen dabei ganz hoch im Kurs 26 . Darüber hinaus bringen die frühen Berlin-Krimis eine Vorliebe für schillerndes Personal zum Vorschein. Überraschend häufig treten Fälle auf, die sich mit Sexualverbrechen beschäftigen und in verschiedenen Szenen des Rotlichtbereichs spielen. Doch auch die linksalternative Szene bietet sich in den 1990er Jahren als gesellschaftliche Ebene für Krimihandlungen an 27 . Damit greifen die Krimis Themen auf, die das gesellschaftliche Leben der Zeit geprägt haben und bieten in der erzählten Welt eine Lösung an, die dem Leser Sicherheit vermittelt: das Böse wird besiegt. Jäger kritisiert an den Krimis dieser Phase vor allem die dilettantischen Erzählstrukturen, die hinter den verhandelten Themen zurückstehen. Wichtiger als das erzählerische Geschick scheint zu dieser Zeit die Wendethematik zu sein, die die Krimis verhandeln 28 . Doch auch positive Beispiele lassen sich für diese erste Phase der Berlin-Krimis anführen: Thematisch und narrativ überzeugen können beispielsweise die Romane von Pieke Biermann, Leo Ard, Frank Goyke, Heiner Rank und natürlich Horst Bosetzky 29 . Themen und Tendenzen der Berlin-Krimis ab 2000 Es lässt sich festhalten, dass das Phänomen der Berlin-Krimis sehr früh aufgetreten ist im Vergleich mit anderen räumlich festgelegten Krimis, die sich in den 1990er Jahren entwickeln 30 . Dies mag sicher an der im Vergleich ho- 26 Ebd., S. 140, S. 148. 27 Ebd., S. 138 f. Bei Schmidt bzw. Jäger finden sich auch Angaben zu den entsprechenden Berlin-Krimis. 28 Vgl. Christian Jäger, „Vom Wende-Krimi zur Krimiwende. Berlinkrimis der letzten Jahre“, in Europolar. Krimis für Europa 2005, einzusehen unter http: / / www.europolar.eu/ europolarv1/ 2_dossiers_articles_jager_de.htm (letzter Zugang am 15. Februar 2015). 29 Vgl. Schmidt (= Jäger), „Der große Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte oder die Krimi-Kapitale“, S. 144. Zu den sozialkritischen -ky-Krimis siehe auch Wigbers, Krimi- Orte im Wandel, S. 136-151. 30 Frühe Regionalkrimis stellen beispielsweise die Eifel-Krimis von Jacques Berndorf dar. Vgl. dazu Wigbers, Krimi-Orte im Wandel, S. 204-216. Berlin-Krimis seit 2000 111 hen Anzahl von Großstadt-Krimis einerseits und der Popularität der Berlin- Romane andererseits liegen. Der Boom an Berlin-Krimis nimmt daher auch parallel zur Entwicklung der Regionalkrimis seit etwa dem Jahr 2000 zu und übernimmt einige diesem Subgenre inhärenten Merkmale. Auf Berlin bezogen lässt sich diese Entwicklung beispielsweise mit einem Blick auf die Verlagslandschaft belegen: Seit dem Frühjahr 2001 gibt es als Imprint des be.braverlags den berlin.krimi.verlag, der sich auf Krimis spezialisiert hat 31 . In den Berlin-Krimis dieses Zeitraums ändern sich parallel zu den Entwicklungen in der Berlin-Literatur die Erzählstrukturen ebenso wie die verhandelten Themen: Als ästhetische Strategie stellt Jäger eine zunehmende Intertextualität fest. Verbrechen kommen jetzt nur scheinbar von außen 32 . Die Krimis setzen sich häufig mit der Vergangenheit auseinander. Von der Weimarer Republik über die NS-Zeit und die Teilung Berlins bis zur Wiedervereinigung: Berlins Geschichte bietet zahlreiche Ereignisse, die in den Krimis auf die Gegenwart einwirken oder in historischen Krimis verarbeitet werden. Neben der Verwebung der Krimihandlung mit der Stadtgeschichte beobachtet Jäger aber auch, dass die Krimis ab 2000 über den Stadtrand hinausgehen. Neben der zeitlichen Ausweitung findet also auch eine räumliche statt, die in erster Linie Orte der ehemaligen DDR betrifft 33 . Insgesamt gilt für den Berlin-Krimi ab 2000: Ob historische Mordserie oder moderner Wirtschaftskrimi: Es reicht gewiss nicht aus, die Handlung ans Brandenburger Tor zu verlegen und mit ein paar korrekt gezeichneten Straßenzügen an die Nostalgie des Lesers zu appellieren. Es gilt immer, vielschichtige Charaktere zu zeichnen und mit einem spannenden Plot die Ermittlungen des Helden unterhaltsam zu gestalten. Berlin ist jedoch für die Fantasie der Autoren eine breite Spielwiese, auf der weder ein kauzig-sonderbares Figurenensemble noch das wildeste Intrigengeflecht unglaubwürdig erscheinen 34 . Die von Jäger geäußerte Kritik, dass viele Berlin-Krimis der 1990er Jahre „versuchen, ein Gutteil der sozialen Realität zu beschreiben“ 35 , gehört mittlerweile zum Label ‚Regionalbzw. Berlin-Krimi‘ dazu. Die ästhetische Stra- 31 http: / / www.bebraverlag.de/ editionen/ berlin-krimi; aber auch andere Krimi-Verlage führen eine eigene Sparte mit Berlin-Krimis wie der Emons-Verlag (http: / / www.emons-verlag.de/ programm/ krimis/ berlin-krimi) oder der Gmeiner Verlag (http: / / www.gmeiner-verlag.de/ suche/ regionalsuche.html) (letzter Zugriff am 15. Februar 2015). 32 Vgl. Jäger, „Vom Wende-Krimi zur Krimiwende“. 33 Ebd. 34 Steffi Sandkaulen,„Heimatkrimis aus Berlin liegen voll im Trend“, in tip-Berlin vom 8. Mai 2013. 35 Schmidt (= Jäger), „Der große Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte oder die Krimi-Kapitale“, S. 142. Maike Schmidt 112 tegie, die Grenzen zwischen Fiktionalität und Wirklichkeit spielerisch aufzulösen, hat sich damit auf dem Regionalkrimisektor längst etabliert. Vom Großstadtzum Provinzkrimi Das Krimi-Debüt von Beate Vera, das unter anderem deshalb zustande kam, weil der Verlag laut ihrer Aussage nach einer weiblichen Krimiautorin unter 50 gesucht hat 36 , fällt bereits durch seinen Untertitel auf, der zunächst widersprüchlich erscheint: Ein Provinzkrimi aus Berlin. Das Feuilleton unterstellt der Autorin damit nicht nur eine detaillierte Milieubeschreibung 37 , sondern auch das Schaffen eines neuen Krimi-Subgenres 38 . In der Tat weicht der Berlin-Krimi Wo der Hund begraben liegt in einigen Punkten von dem ab, was man von einem Großstadtroman erwartet: Statt in die Welt der Berliner Metropole taucht der Leser in die Lebenswelt einer Reihenhaussiedlung ein, deren Protagonistin Lea Storm bei einem Besuch des Berliner Stadtzentrums feststellt: „Mir sind hier zu viele Menschen, ich bin die Innenstadt nicht mehr gewohnt“ 39 . Statt über Berliner Szene-Clubs informiert der Roman über schottische Whiskysorten, die bei einem gemütlichen Abendessen in den eigenen vier Wänden verköstigt werden. Statt entlang der beliebtesten Sehenswürdigkeiten zu flanieren, joggt der Leser mit der Protagonisten entlang des BUGA-Wanderwegs an der ehemaligen Grenze entlang. Der Krimi zeigt also, dass es kein Widerspruch ist, einen Regionalkrimi zu schreiben, der in Berlin spielt. Die Konzepte der Metropole Berlin und der regionalen Abgeschiedenheit schließen sich nicht aus. Vielmehr zeigt der Krimi, wie sich das Modell des Regionalkrimis auf einen Stadtteil der Großstadt Berlin übertragen lässt. Damit folgt der Roman im Gegensatz zu Jägers Beobachtung einer räumlichen Ausdehnung der Tendenz zu einer stärkeren Konzentration auf immer kleinere topographische Räume. Das Chargieren zwischen Regional- und Großstadt-Krimi wird nicht nur auf der Analyseebene deutlich, sondern auch auf der Handlungsebene: Kommissar Martin Glander ermittelt offiziell in Brandenburg, setzt sich aber hier mit seinen Ermittlungen, die am Rande der Legalität stehen, gegen die Berliner Hauptstadt-Kollegen durch 40 . Dass der Kommissar auf eine zerrüttete Ehe zurückblicken kann und in permanentem Streit mit seinen Vorge- 36 Vgl. Simone Gogol, „Lichterfelde ist einen Mord wert: Beate Vera veröffentlicht Krimi aus ihrem Kiez“, in Stadtrand Nachrichten. Online-Zeitung für Steglitz-Zehlendorf vom 28. Januar 2014. 37 Vgl. Nikolaus Triantafillou, „Tod am Mauerweg. Krimi aus dem Berliner Südwesten“, in Der Tagesspiegel vom 4. Februar 2014. 38 Vgl. Gogol, „Lichterfelde ist einen Mord wert“. 39 Vera, Wo der Hund begraben liegt, S. 234. 40 Vgl. ebd., S. 60, S. 109, S. 245 f. Berlin-Krimis seit 2000 113 setzten steht, gehört zu den traditionellen Krimi-Motiven, die hier routinemäßig in den Handlungsplot eingeflochten werden. In dem Krimi Wo der Hund begraben liegt zieht das Verbrechen - mehrere alteingesessene Bewohner kommen zu Tode - in die idyllische Reihenhaussiedlung am Berliner Stadtrand in Lichterfelde Süd ein: Die Bewohner leben seit Jahrzehnten nebeneinander, kennen sämtliche Familiengeschichten, führen langjährige Freundschaften oder pflegen versteckte Feindschaften. Die Gärten der Siedlung sind ebenso gepflegt wie die Häuser und Autos 41 . Man führt ein gesundes Leben an der frischen Luft und mit ausreichend Sport. Nur der erhöhte Alkoholkonsum stellt ein kleines Laster dar, das die Protagonisten aber zugleich menschlicher erscheinen lässt. Eingerahmt ist die Siedlung von grünen Flächen, die nur unterschwellig an die kriegerische Stadtgeschichte erinnern wie der Truppenübungsplatz und der Mauerstreifen. Dass ausgerechnet hier „am Stadtrand“ die Kriminalität einzieht, nicht etwa „in der Innenstadt, in Mitte oder in Charlottenburg“ 42 , wo man es erwartet hätte, zeigt auf, wie sehr die Welt aus den Fugen gerät und die bisherige Ordnung zerstört wird: „Der Täter musste sich auskennen in der Gegend, es war kein zufällig gewählter Tatort. Der Mörder wollte den Frieden stören“ 43 . Dass der Täter am Ende sogar ein enger Freund des verstorbenen Mannes von Lea Storm ist, bringt die heile Welt der idyllischen Siedlung ins Wanken. Doch das Motiv der Morde liegt in der internationalen Immobilienspekulation verborgen: Ein ehemaliges Militärgelände der amerikanischen Streitkräfte soll neu bebaut und die angrenzenden Sieglungen gleich mit aufgekauft und modernisiert werden - gegen den Willen der Bewohner versteht sich 44 . So ist es nur schlüssig, wenn die New Yorker Immobilienfirma ihren aus den Rudern laufenden Mitarbeiter richtet, bevor es die örtliche Polizei machen kann - die Ordnung wird am Ende also gemäß des traditionellen Krimischemas wieder hergestellt. Gleichzeitig rekurriert die Krimihandlung mit der Immobilienspekulation und den Großbauprojekten auf zentrale Themen der Berlin-Literatur seit den 1990er Jahren. Provinz- und Großstadtsymbolik verschmelzen miteinander. Die Handlung des Romans bezieht sich auf ein gesamtdeutsches Berlin, wie es nach den Forschungen von Christian Jäger typisch ist für den Berlin- Krimi nach 1999. Die Wende spielt ebenso wenig wie das Leben in der ehemaligen DDR eine Rolle innerhalb der erzählten Welt. An Todesstreifen und Maueropfer erinnern nur noch Denkmäler, zwischen denen sich ein neues Berlin voller Vitalität entfaltet. Nur beiläufig, geradezu unreflektiert, erfährt man etwas über den US-Truppenübungsplatz direkt an der Grenze zwi- 41 Diesen Eindruck vermittelt auch das Cover des Romans, das eine von in regelmäßigen Abständen gepflanzten Stiefmütterchen gesäumte Auffahrt zeigt. 42 Vera, Wo der Hund begraben liegt, S. 209. 43 Ebd., S. 145. 44 Vgl. ebd., S. 258. Maike Schmidt 114 schen dem ehemaligen Ost- und Westberlin, von dem Kinder „früher Patronenhülsen“ sammelten, und dafür „über den Bahndamm, der damals noch zum Hoheitsgebiet der DDR gehörte“ kletterten 45 . Trotz der Fokussierung auf die provinzielle Reihenhaussiedlung führen die Protagonisten - im Unterschied zu vielen Regionalkrimi-Figuren - ein weltoffenes Leben: Berlin stellt zwar Leas Heimat dar, doch wie auch ihr Mann hat sie mehrere Jahre im Ausland verbracht und genießt nicht in erster Linie die Berliner Küche, sondern thailändisches und spanisches Essen - nicht zu vergessen ist darüber hinaus die Pflege der Whisky-Kultur, die im Krimi extensiv behandelt wird. Das Lokalkolorit wird durchgängig bedient: Der BUGA-Wanderweg an der ehemaligen Grenze, die Kirschbaumallee, der ehemalige US- Truppenübungsplatz, der Parkfriedhof, Lichterfelde Süd, der Teltowkanal, die Post am Hindenburgdamm, der Charité-Campus und das Adria-Kino sind nur einige lokale Attraktionen, die man bei einem Spaziergang durch Lichterfelde entdecken kann, wobei die meisten geographischen Angaben ihre Richtigkeit haben. Ein weiteres Authentizitätssignal stellt der Berliner Dialekt dar, der von einigen Figuren gesprochen wird 46 . Dem Leser werden ausreichend Orientierungsmöglichkeiten geboten, um die Schauplätze des Romans zu identifizieren. Dass das Eifelviertel im realen Berlin unter dem Namen ‚Neue Heimat-Siedlung‘ existiert, soll daran keinen Abbruch tun. Vielmehr zeigt sich hier die Verschmelzung von Fiktionalitäts- und Authentizitätssignalen, die für die Regionalkrimis charakteristisch ist. Zur Vermischung von fiktionalem Text und realen Ereignissen kommt es nämlich unter anderem auch deshalb, weil es für die als Vorbild für das Eifelviertel dienende Wohnsiedlung tatsächlich ein Bauvorhaben gegeben hat, wie die Autorin in ihrem Nachwort betont 47 . Ein wichtiges Merkmal der Regionalkrimis stellt der Bezug auf regionale Literatur, Werke der Krimi-Literaturgeschichte sowie auf regionale Medien dar. Gleiches konnte Christian Jäger für den Berlin-Krimi nach 1999 nachweisen. In Wo der Hund begraben liegt lassen sich viele intertextuelle und selbstreferentielle Anspielungen finden: So vergleicht der Mörder Lea Storm, die sich ihrerseits als Liebhaberin britischer Kriminalliteratur entpuppt 48 , mit Miss Marple 49 , während Kommissar Martin Glander „in seinem etwas heruntergekommenen Flair“ an Schimanski erinnert 50 . Der Mörder weist darüber hinaus eine besondere Schwäche für die Vorabendserie Berlin 45 Ebd., S. 115. 46 Vgl. ebd., S. 41, S. 133 f. 47 Vgl. ebd., S. 287 f. 48 Vgl. ebd., S. 7, S. 86. 49 Vgl. ebd., S. 238. 50 Ebd., S. 179. Berlin-Krimis seit 2000 115 Tag und Nacht auf 51 . Hinter den Anspielungen lässt sich allerdings keine doppelte Codierung erkennen, die Textstellen geben also beispielsweise keine versteckten Hinweise auf die Lösung des Krimirätsels. Die Anspielungen verdeutlichen allerdings die Artifizialität des Romans, der sich möglicherweise mit den genannten Werken auf eine Stufe stellen möchte. Wie für Regionalkrimis typisch bietet auch Wo der Hund begraben liegt eine Reihe von Paratexten für den interessierten Leser: Es gibt Kochrezepte, einen Ausschnitt aus einem (hier allerdings fiktiven) Stadtplan sowie Adressen von einigen im Roman erwähnten Restaurants, Geschäften und Pubs. Gleichzeitig bestätigen die Paratexte noch einmal die Mischung zwischen Großstadt- und Regionalliteratur: präsentiert wird nämlich nicht regionale Hausmannskost, wie es für die Regionalkrimis kennzeichnend ist, sondern mediterrane Gerichte 52 . Darüber hinaus betonen die Paratexte die Glaubwürdigkeit des Erzählten, indem sie explizit die im Roman behandelten Themen aufgreifen. Damit wird die Vermischung von fiktionalem Text und realen Ereignissen im außerliterarischen Bereich ebenso gepflegt wie zuvor innerhalb der erzählten Welt. Dass die Autorin dann in den Paratexten, aber auch in der Presse von den Parallelen zwischen der Protagonistin und ihrer Person berichtet, fördert noch einmal den authentischen Eindruck, den die Regionalkrimis hinterlassen sollen 53 . Fazit Neben einer Tendenz zu historischen Berlin-Krimis, die sich mit der wechselvollen Geschichte der Stadt in den 1920er Jahren, während der Zeit des Nationalsozialismus und in den 1990er Jahre begründen lässt, findet auf dem Berlin-Krimi-Markt eine stärkere Regionalisierung statt: Die neuen Krimis versuchen einerseits die Themen zu verarbeiten, die Berlin als Metropole auszeichnen, berufen sich aber andererseits auch auf die Provinzialität des jeweiligen Handlungsraums. Die Schauplätze, die in den Untertiteln der Krimis genannt werden, verlagern sich immer weiter an den Rand der Stadt, in bestimmte Stadtteile oder Siedlungen. Vor allem die Berlin-Krimis vollführen in Bezug auf diesen Aspekt eine Gradwanderung: Einerseits stehen die Krimis in der Tradition der Großstadtliteratur, andererseits folgen sie dem Trend der Regionalisierung. Das hat zur Folge, dass die die Globalisierung betonenden Handlungsverläufe entweder auf der Ebene der erzählten Welt in die Vergangenheit der Protagonisten transferiert werden oder in den Paratexten zum Ausdruck kommen. 51 Vgl. ebd., S. 28, S. 63, S. 88. 52 Vgl. ebd., S. 283-285. 53 Vgl. Nikolaus Triantafillou, „Beate Vera: Abgründe in Lichterfelde Süd“, in Qiez vom 31. Januar 2014. Maike Schmidt 116 Als charakteristisches Merkmal der Berlin-Krimis hat sich die auf drei Räume konzentrierte Struktur der Werke etabliert: Der spezifische Stadtteil verhält sich zur Stadt, die Stadt wird wiederum zur Welt in Beziehung gesetzt. Als Besonderheit der Berlin-Krimis lässt sich anführen, dass sie sich an vielen Stellen mit den literarischen Traditionen der Berlin-Literatur auseinandersetzen und gleichzeitig innovative Ideen in die Literatur einbringen. Berlin stellt in den Krimis nämlich nicht länger die (negativ-)Folie dar, vor der das ruhige und beschauliche Leben in der Region gespiegelt wird, sondern bietet bei aller weltstädtischen Offenheit auch Geborgenheit vermittelnde Rückzugsorte. Damit gelingt dem Berlin-Krimi eine innovative Erweiterung des Regionalkrimischemas. Bibliographie Michael Bienert, Die eingebildete Metropole. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Stuttgart, Metzler, 1992. Christoph Bode, „Krimis als Sozialgeschichte einer Metropolis: Die Los Angeles- Romane von Raymond Chandler, James Ellroy und Walter Mosley“, in Barbara Korte; Sylvia Paletschek (Hrsg.), Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln, Böhlau, 2009, S. 151-164. Walter Delabar, „Letztes Abenteuer Großstadt. (West)Berlin-Romane der achtziger Jahre“, in Walter Delabar (Hrsg.), Neue Generation - Neues Erzählen. Deutsche Prosa- Literatur der achtziger Jahre. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1993, S. 103-125. Katharina Döbler, „Des Teufels Elixiere. Georg Klein schickt in Barbar Rosa einen Detektiv auf den Psychotrip“, in Die Zeit vom 22. März 2001. Simone Gogol, „Lichterfelde ist einen Mord wert: Beate Vera veröffentlicht Krimi aus ihrem Kiez“, in StadtrandNachrichten. Online-Zeitung für Steglitz-Zehlendorf vom 28. Januar 2014. Matthias Harder; Almut Hille: „Berlin - Literatur - Geschichte. Literarisches Leben und Stadtentwicklung in Berlin, in Matthias Harder; Almut Hille (Hrsg.), „Weltfabrik Berlin“. Eine Metropole als Sujet der Literatur. Studien zu Literatur und Landeskunde. Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006, S. 9-34. Ursula Heukenkamp (Hrsg.), Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945-1949, Berlin, Erich Schmidt, 1996. 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Rafał Biskup Zwischen Kriminalkomödie und Regionalidentität Kōmisorz Hanusik von Marcin Melon Einführung Heutzutage muss es schon etwas mehr sein als ‚nur‘ ein Mord. Unter den gegenwärtigen Verfassern von Kriminalromanen gibt es einerseits eine „Gruppe von Autoren“, die „aufregende Kriminalstory mit Kritik an sozialen Verhältnissen, Spannung mit aufklärerischem Anliegen“ verbindet 1 . Aufklärung also auf einem bestimmten Gebiet, die Vermittlung von bestimmten Inhalten ist das Ziel vieler Kriminalautoren. Andererseits werden „die Handlungsschemata durch exakte Milieuschilderungen“ angereichert 2 . Die regionalen und räumlichen Komponenten eines Krimis verleihen ihm einen besonderen Touch. Die ARD-Fernsehserie „Tatort“ - in verschiedenen deutschen Städten zu Hause - ist das wohl beste Beispiel dafür. Wie die eben angeführten Punkte auf die Kriminalkomödie Kōmisorz Hanusik (Kommissar Hanusik) von Marcin Melon 3 bezogen werden können, soll der vorliegende Aufsatz zeigen. Keine andere literarische Gattung verkauft sich besser als Krimi. Wenn ein Autor sein Werk mit der Bezeichnung ‚Krimi‘ versehnt, kann er sich sicher sein, dass sich das Buch umso einiges besser verkauft als ein ‚durchschnittlicher‘ Roman. Dies führt dazu, dass Autoren sich für eben dieses Genre entscheiden, um verschiedene Ideen zu propagieren und diese zu verbreiten. Dass ein moderner „Krimi“ sich nicht so ganz an die eben dieser Gattung zugeschriebenen Merkmale hält, wird oft zur Nebensache. Wir befinden uns ja im Zeitalter „post-avantgardistischer Literatur“ 4 . Ulrich Schulz-Buschhaus fasste diese Tendenz folgend zusammen: 1 Peter Nusser, „Aufklärung durch den Kriminalroman“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 486-498, hier S. 487. 2 Ebd., S. 486. 3 Vgl. Marcin Melon, Kōmisorz Hanusik, Kotōrz Mały, Silesia Progress, 2014. Die in diesem Aufsatz verwendeten Zitate wurden von R.B. aus dem Schlesischen bzw. Polnischen ins Deutsche übersetzt. 4 Ulrich Schulz-Buschhaus, „Funktionen des Kriminalromans in der postavantgardistischen Erzählliteratur“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 523-548, hier S. 523. Rafał Biskup 120 Eben die Überwindung und Aufhebung der Gattungen hatte ja das Telos einer „longue durée’ moderner Literatur gebildet. Man könnte sie seit dem Ende des - auch literarischen - „Ancien Régime“ in drei idealtypische Etappen gliedern, bei denen es jeweils um eine bestimmte Art der Befreiung von klassischen Gattungsordnungen wie schließlich vom Generischen überhaupt geht: zunächst um eine Befreiung gattungsmischender Wirklichkeitsdarstellung [Hervorhebung - R.B.] […]; dann um eine Befreiung des zugleich individuellen und (möglichst) universalen Ausdrucks […]; am Ende um eine Befreiung des Signifikanten, oder allgemeiner: des sprachlichen (literarischen) Zeichens, von der Referenz […] 5 . Die drei erwähnten Punkte ließen sich ohne größere Schwierigkeiten auf Kōmisorz Hanusik und dessen Autor beziehen. Die Mischung von Gattungen oder der individuelle Stil führen, so Schulz-Buschhaus weiter, vor allen zu einem, nämlich: zu der „Ermöglichung von Authentizität“ 6 . Auch in diesem Fall liegt der Wissenschaftler richtig: Melons Werk gewinnt erst durch den Gebrauch der schlesischen Sprache an Ausdruckskraft und Authentizität. Im Falle von Kōmisorz Hanusik handelt es sich - wie das Buchcover (! ) bereits verrät - um die „Erste Kriminalkomödie in (ober)schlesischer Sprache“ 7 . Die erwähnten „aufklärerischen Anliegen“ werden also schon auf der Titelseite vorgenommen, denn die Forderung nach der Anerkennung des (ober-)schlesischen Dialektes als einer Regionalsprache ist eines der wichtigsten Postulate schlesischer Regionalaktivisten. Mithilfe der auf Schlesisch verfassten Aufsätze und Bücher soll sich das Idiom emanzipieren; gesteigert werden soll seine Wertschätzung unter den Bewohnern/ Einwohnern der Region 8 . 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Peter Nusser schreibt in diesem Kontext: „Einige suchen die Eintönigkeit beider Formen (Detektivroman und Thriller - R.B.) parodistisch durch die Häufung von Unwahrscheinlichkeiten zu durchbrechen, andere sind sich in dem Bemühen einig, den Kriminalroman mit mehr Wirklichkeit, mit größerer Wahrscheinlichkeit auszustatten“ (vgl. Nusser, „Aufklärung durch den Kriminalroman“, S. 486). 8 Wie bereits erwähnt, stammen die übersetzten, hochdeutschen Zitate vom Autor dieses Beitrags. Es scheint unmöglich, das Kolorit, den Klang, das Wesen des Wasserpolnischen, der oberschlesischen Sprache, einem deutschen Leser zu vermitteln. Zu verweisen wäre jedoch auf die lange Tradition der deutschen, regionalen Dialektdichtung, angefangen bei Johann Peter Hebel und seinen Alemannischen Gedichten. Für die Region Schlesien wären Karl von Holteis Schlesische Gedichte zu nennen. Vgl. Rafał Biskup, „Karl von Holteis Schlesische Gedichte und sein / ihr Einfluss auf die schlesische Mundartdichtung“, in Leszek Dziemianko; Marek Hałub (Hrsg.), Karl von Holtei (1798- 1880). Leben und Werk. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag, 2011, S. 252-284. Zwischen Kriminalkomödie und Regionalidentität 121 Handlung und Figuren Im Falle von Kōmisorz Hanusik handelt es sich um einen Detektivroman. Hanusik ist ein „professionell ermittelnder Polizeioffizier“ 9 , der vor dem Hintergrund der postindustriellen Landschaft Oberschlesiens 10 mysteriöse Kriminalfälle löst. Hervorgehoben werden muss besonders die Tatsache, dass sich das Buch in elf kurze Abschnitte gliedert. Der Aufbau des Werkes unterscheidet sich also von dem konventionellen Detektivroman insofern, als das es nicht einen Handlungsstrang gibt, sondern - der Anzahl der Erzählungen entsprechend - elf: jeder Abschnitt beinhaltet einen mysteriösen Fall, der durch den Kommissar gelöst wird. Dieser Eingriff wirkt sich negativ auf den Spannungsaufbau einzelner Stränge aus, der nicht ausreichend zur Entfaltung gelangt. Es fehlt an Verworrenheit der Geschehnisse, dem Leser wird relativ schnell bewusst, wer hinter den einzelnen Taten steht. An sich ist Hanusik also viel mehr eine Regiokomödie als ein Regiokrimi. Der Humor spielt in diesem Werk eine äußerst wichtige Rolle, besonders wenn es um die Skizzierung regionaler Differenzen zwischen den ortsansässigen Schlesiern und den Menschen außerhalb der Region geht und der damit verbundenen sprachlichen Differenzen. Seinen aus Warschau stammenden Partner etwa - Igor Motyl (Schmetterling) - spricht Hanusik mit dem Wort „Szmaterlok“ an. An einer anderen Stelle reden die beiden während eines Gespräches aneinander vorbei, da schlesische Wörter den polnischen ähnlich klingen, jedoch eine vollkommen andere Bedeutung haben 11 . Peter Nusser bezeichnet, sich auf Nicholas Blake berufend, „zwei Extreme […], wenn er schreibt, daß den Autoren von Kriminalromanen nichts übrigbleibt, als entweder unrealistische Charaktere in realistische Situationen zu stellen oder realistische Charaktere in phantastische Situationen“ 12 . Der ersten Möglichkeit erliege der Detektivroman, der zweiten der Thriller. Im Falle des Hanusik werden darüber hinaus - was im folgenden Beitrag noch zur Sprache kommt - Elemente des Phantastischen in die Handlung mit einbezogen. 9 Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart, Metzler, 2003, S. 38. 10 „In der Tat gibt es eine ausgeprägte Traditionslinie von Kriminalromanen, die als ihre wesentliche Aufgabe weniger die virtuose Erzeugung von Spannungseffekten als vielmehr die Erschließung signifikativer, doch nicht unbedingt evidenter Realitätsverhältnisse begreifen. Dabei handelt es sich um Romane, die insbesondere an zwei Archetypen orientiert sind: an der Schilderung des Berufsalltags der Polizei […] und am Bericht von den abenteuerlichen Arbeiten eines professionellen Privatdetektivs […]. Gemeinsam ist den Romanen, welche sich einer solchen Traditionslinie verpflichtet fühlen, daß sie in der Regel keine übermäßigen Spannungseffekte auslösen können (und wollen)“ (vgl. Schulz-Buschhaus, „Funktionen des Kriminalromans“, S. 531). 11 Melon, Kōmisorz Hanusik, S. 45-46. 12 Nusser, Der Kriminalroman, S. 10. Rafał Biskup 122 „Der Detektiv ist die zentrale Figur jeglichen Detektivromans“, schreibt Nusser 13 . Ob Kommissar Hanusik als Vertreter der „eher realistisch gezeichneten Polizeioffiziere“ 14 eingestuft werden kann, ist jedoch fraglich. Seine Gestalt ist nur oberflächlich konstruiert, was dem Charakter des gesamten Werkes entspricht. Es erfolgt keine tiefenpsychologische Beschreibung des Kommissars. Charakterisiert wird er am Anfang folgend: „Schlauer als Sherlock Holmes! Geschickter als James Bond! Und trinken kann er mehr als die Lumpen bei euch auf dem Vorhof“ 15 . Er ist ein bad boy, der vor Frauen und Alkohol nicht scheut. Der Anfang der Buches erinnert stark an Szczepan Twardochs Roman Morphin 16 , als Konstanty Willemann aufwacht und versucht, nach einer durchzechten Nacht zu sich zu kommen. Auch in der Kriminalkomödie schildert der Autor in den Anfangsätzen, wie Hanusik aufwacht und - total verkatert - über Kopfschmerzen klagt: „Richtig, schon seit langem hatte er keinen so großen Kater, und verkatert war er fast jeden einzelnen Tag, denn er trank - wie jeder ordentlicher Schlesier - einfach gerne“ 17 . Nusser schreibt: Exzentrik und Isolation (Außenseitertum) sind die typischen Merkmale der Gestalt des Detektivs: Aus der Norm fallende Angewohnheiten (z.B. Verdunkelung der Zimmer, Rauschgiftgenuß, künstlerische Neigungen) verfremden ihn und umgeben ihn mit der Aura des Außergewöhnlichen, die ihn aus der Monotonie des Alltäglichen heraushebt 18 . Hanusik arrangiert sich nur schwer mit den Menschen aus seiner Umgebung. So richtig wohl fühlt er sich nur bei seiner Oma, die ihm am Sonntag Rouladen mit schlesischen Klößen serviert. Marcin Melon spielt mit altbewährten Stereotypen über Oberschlesien, wie etwa raue Gemütsart, Neigung zum Alkohol, aber auch Arbeitsmythos und -moral, denn: seine Arbeit bei der Polizei nimmt Hanusik - trotz seines Hanges zu Frauen und Alkohol - sehr ernst. Wie bereits erwähnt fügt Marcin Melon in seine Handlung imaginäre Figuren aus dem schlesischen Sagenschatz ein. Damit verschiebt sich natürlich die Wahrnehmung der Geschehnisse voll und ganz aus dem Realen ins Imaginäre. Im ersten Teil des Buches entpuppt sich ein Utopek als Mörder. Über die Gestalt des Utopeks, „dessen Vorfahren vom Planeten Utopia auf die Erde übergesiedelt waren“ 19 , schreibt Jürgen Joachimsthaler im Nachwort zu Leszek Liberas Der Utopek folgendes: 13 Ebd., S. 38. 14 Ebd., S. 38-39. 15 Melon, Kōmisorz Hanusik, S. 7. 16 Vgl. Szczepan Twardoch, Morphin, Berlin, Rowohlt, 2014. 17 Melon, Kōmisorz Hanusik, S. 9. 18 Nusser, Der Kriminalroman, S. 40. 19 Jürgen Joachimsthaler, „Utopek lesen. Ein Nachwort“, in Leszek Libera, Der Utopek. Dresden, Neisse Verlag, 2011, S. 245-259, hier S. 245. Vgl. ebenfalls: „[e]r (der Utopek - Zwischen Kriminalkomödie und Regionalidentität 123 In der polnischen Tradition ist der Utopiec bzw. Utopek ein oft böswilliger Wassergeist, der die Gestalt von Menschen annehmen kann; besonders verbreitet ist er in schlesischen Märchen und Sagen. Utopki, so der Plural, entstehen aus Wasserleichen oder abgetriebenen Föten. In Liberas Roman deckt ein solcher Utopek mit dem verdrehten Blick des Außenseiters ohne Rücksicht auf kulturell bedingte Tabugrenzen und Denkverbote die Eigentümlichkeiten des Provinzlebens auf, in das er hineingeraten. Lesern, die diese Welt nicht kennen, mag sie noch eigentümlicher anmuten, als der Held der Geschichte selbst 20 . Ernest, der Utopek, ist zweifellos böse: er ermordete acht Menschen. Den Moment, als Hanusik Ernest zum ersten Mal erblickt, schildert Melon folgend: Plötzlich passierte etwas so außergewöhnliches, dass Kommissar Hanusik selber nicht wusste, ob er träumt oder nicht. Aus diesem dreckigen Wasser ging ein Mann heraus. Er war nicht wie ein Taucher angezogen, er sah mehr wie ein gewöhnlicher Arbeitsloser aus. Er hatte einen grünen Pullover an, seine Harre dagegen waren fett und mit Matsch überklebt. Auf seinem Kopf trug er eine komische, rote Mütze. Damit sah er wie ein Hampelmann aus 21 . Darüber hinaus ist Ernest ein Schlesier mit radikalen politischen und autonomistischen Ansichten. Für seine Morde rechtfertigt er sich folgendermaßen: „Wie lange sollen wir noch vortäuschen, dass es uns nicht gibt? Wie lange werden wir uns noch vor ihnen fürchten? Die sollen sich vor uns fürchten, nicht wir vor ihnen“ 22 . Die Anderen das sind diejenigen, die den Schlesiern das Recht zur Selbstbestimmung verweigern, aber auch diejenigen, die meinen, dass es keine Schlesier (im Sinne einer Ethnie oder Nation) gäbe: Die Polen kamen hierher und was ist geworden? Hat jemand Achtung vor uns? Erinnert sich jemand an uns? Sogar Kinder unterrichtet man nicht von uns! Weißt du, was die Kleinen lernen? Sie lernen über goldene Enten und R.B.) lebt von Flüssigkeit und meidet feste und ölige Nahrung, sein Stoffwechsel kennt keinen Stuhlgang, was seine ‚Matka‘, seine von ihm gehaßte Mutter, ‚die ein böses Weib war und von den meisten Menschen für meine leibliche Mutter gehalten wurde‘ (S. 135), verstört und zu immer neuen Versuchen führt, einen solchen mit Hilfe von Einläufen auszulösen. Stattdessen gibt der Utopek Seifenblasen von sich. Sein Leben zerfällt in zwei Teile: In ihrer ersten Lebensphase sind die bei Libera ausschließlich männlichen Utopeks Geschichtenerzähler, in der zweiten widmen sie sich nur noch der Fortpflanzung […] Utopeks können Menschen sogar unbemerkt „übernehmen“ und in deren Haut schlüpfen […]. Dieser Utopek ist keine ‚gute‘ Figur, er scheut vor Grausamkeit und Gewalt nicht zurück und ist nicht unbedingt einfühlsamer als seine Umgebung […]“ (ebd., S. 252-253). 20 Ebd., S. 245. 21 Melon, Kōmisorz Hanusik, S. 27. 22 Ebd., S. 28. Rafał Biskup 124 Wawel-Drachen. So ein Quatsch! Glaubst du, dass einer dieser Acht, die ich ertränkt habe, sich dessen klar wurde, wer ich bin? Bis zuletzt wusste es keiner! Sie machten aus mir einen einfachen Mörder 23 . Als Täter wird er auch nicht bestraft. Im Rapport von Hanusik stand, dass der Mitwisser der Taten, Jōzef Walynciok, der Mörder war. Der wahre Täter, Ernest, der Utopek, wird nicht überführt. Somit bewohnt er weiterhin die Teiche und Seen Oberschlesiens. Die Kenntnis des oberschlesischen Sagenschatzes erlaubt es dem Leser, in manchen Erzählungen von Melon sehr früh zu erkennen, wer hinter einem Mord steht. So in der Erzählung Genau zu Mittag. Antek Szyndzielorz, ein junger Anwaltsgehilfe, bekommt eine gute Arbeit in der Anwaltskanzlei Pluta. Dem Jungen schien es, dass in der Kanzlei „nur kluge und arbeitsame Menschen arbeiten“ 24 , er überzeugte sich aber sehr schnell von dem Gegenteil. Die Mitarbeiter vertrödelten dort ihre Zeit, besonders die Mittagspausen. Eines Tages wird der größte Nichtstuer der Kanzlei, Markowski, tot aufgefunden. Der erste Verdacht fällt auf Szyndzielorz, dem es angeblich missfiel, dass Markowski mit Trudka Nowok, einer Sekretärin in der Kanzlei, flirtete. Als Szyndzielorz verhaftet werden soll, wirf sich die Frau flennend auf den Boden und schreit: „Er ist doch unschuldig! Ich habe ihn ja [Markowski - R.B.] umgebracht“ 25 . Auf die Frage, warum sie es getan habe, antwortet sie: „Ich konnte nicht mehr zusehen, wie dieser Schmarotzer Geld bekommt, und nur so tut, als ob er arbeitet“ 26 . Spätestens seit diesem Moment ginge einem Kenner der schlesischen Sagen ein Licht auf. Warum? Es stellt sich heraus, dass Trudka die Tochter einer Mittagsfrau (Połednica) und eines Faulpelzes ist - eine „explosive Mischung“, wie Melon in seiner Anmerkung zu der Erzählung schreibt. Mittagsfrauen sind weibliche Naturgeister, die Nichtstuer, besonders in der Mittagsstunde, umbringen, da ihre Faulheit sie rasend macht. Der Kommissar sagt: Ich habe da so eine Theorie, aber ich sage es gleich, dass sie etwas merkwürdig klingen wird […] Bestimmt hast du gehört, dass es bei uns in Schlesien ein Haufen Mittagsfrauen gab. Es waren Gestalten, die durch Felder zogen, und als sie sahen, dass jemand schläft und nicht arbeitet, dann warfen sie sich auf ihn und erdrosselten ihn 27 . Der Spürsinn des Kommissars kommt pausenlos zum Vorschein: als der Partner von Hanusik (Wilym Kluska) meint, dass Mittagsfrauen ununterbrochen nach den größten Schmarotzern suchen, sagt Hanusik: „Wilym, du hast Recht! Wir flitzen zum Arbeitsamt! Dort wird heute Arbeitslosengeld 23 Ebd., S. 29. 24 Ebd., S. 68. 25 Ebd., S. 71. 26 Ebd., S. 72. 27 Ebd., S. 78. Zwischen Kriminalkomödie und Regionalidentität 125 an die Arbeitslosen ausgezahlt! “ 28 . Sie verspäten sich jedoch, da die Mittagsfrauen im Arbeitsamt bereits zehn Männer gekidnappt haben, diese wollen sie dann einen nach dem anderen umbringen, „bis auf der Welt nur arbeitsame Männer übrig bleiben“ 29 . Während der Lektüre des Kōmisorz Hanusik gewinnt der Leser oft den Anschein, dass die Elemente des Genres Krimi (bzw. Kriminalkomödie) in den Hintergrund rücken und dafür viel deutlicher Aspekte des Regionalen zum Vorschein kommen. Sie legitimieren das Werk, geben ihm einen besonderen Touch. Und: Das Regionale war der Hauptgrund für die Entstehung dieses Werkes. Wie bereits erwähnt wurde, wird Hanusik als die erste Komödie in schlesischer Sprache bezeichnet. Die Betonung liegt eben auf dem Wort Sprache, nicht Dialekt. Es ist eines der Werke, das infolge emanzipatorischer Bestrebungen schlesischer Regionalisten entstanden ist. Über das Wasserpolnisch äußert sich Jürgen Joachimsthaler wie folgt: In Oberschlesien trafen deutsche und polnische Kultur aufeinander und überlagerten und durchdrangen sich mit dem Ergebnis, daß hier die Bevölkerung jene oft abwertend als „wasserpolnisch“ bezeichnete Mischsprache entwickelte, die, wie es im Roman [Der Utopek - R.B.] heißt, „weder polnisch noch deutsch war“ (S. 17), sondern ein Drittes, fließend wie das Wasserwesen Utopek. Diese uneinheitlich aus zahlreichen dialektalen Varianten bestehende „Sprache“ wirkte sowohl aus nationalpolnischer als auch aus deutscher Sicht als „fehlerhaft“ […] 30 . Die Narration ist auch für einen Nicht-Schlesier verständlich, trotz einer Vielzahl vorkommender Bohemismen und Germanismen. Melon „verwässert“ das Deutsche (deswegen die Bezeichnung ‚Wasserpolnisch‘ für das oberschlesische Idiom). Er verwendet Wörter wie: Yntlich 31 , Cygareta 32 , Kałguma 33 , Byrna 34 , Gyfil 35 , Cufal 36 , Briftriger 37 . Melon spielt mit altbewährten Stereotypen von „Hanyse“ (Bezeichnung für ortsansässige Oberschlesier) und „Gorole“ (Bezeichnung für zugewanderte Oberschlesier). Auch die- 28 Ebd., S. 80. 29 Ebd., S. 81. 30 Joachimsthaler, „Utopek lesen“, S. 247. 31 Endlich, S. 13. 32 Zigarette, S. 14 33 Kaugummi, S. 14. 34 Birne, S. 18. 35 Gefühl, S. 21. 36 Zufall, S. 21. 37 Briefträger, S. 60. Rafał Biskup 126 se lokale Unterscheidung zielt deutlich auf eine Festigung regionaler Identität der Oberschlesier und auf eine Abgrenzung seitens der Anderen 38 . Der Autor entwirft fiktive Szenarien, berührt aber damit reale Probleme. In der Erzählung Der letzte Beuthener, die über das Verschwinden eines BBC- Teams handelt, zeichnet er das Bild einer Geisterstadt (Beuthen), „in der nicht mehr als vier Tausend Menschen lebten“ 39 . Das Team wollte Hanek Rybka, das Kind eines Utopeks und einer Frau, also einen „Bastard“, interviewen. Rybka war ein aus Beuthen stammender Schwimmmeister. Das Szenario ist geradezu postapokalyptisch. Schuld daran sind… die Polen, jedoch nicht im Sinne des von Hubert Orłowski verbreiteten Stichwortes der „Polnischen Wirtschaft“. Melon berührt das sehr aktuelle und emotionsgeladene Problem der Zentralisierung Polens. In dieser Narration ist Polen ein zentralisiertes Land, das von Warschau aus alles und jeden steuert. Diesem Modell wird das föderalistische Staatsmodell gegenübergestellt, bei dem die Regionen selbst viel mehr Einfluss auf die Entscheidungen haben. Der polnische Innenminister fragt empört den schlesischen Polizeikommandanten, ob Hanek Rybka nicht etwa „gespritzt“ wurde: Ich freue mich, sie wissen schon, sie verstehen, über Erfolge jedes polnischen Bürgers - sagte der Minister - aber gerade dieser Rybka… Sie wissen schon, sie verstehen. Es ist kein optimales Ergebnis aus der allgemeinpolnischen Perspektive. Nicht deswegen haben wir das Nationale Schwimmer-Zentrum eröffnet. Viel Geld ist da drauf gegangen 40 . Die Augen der Welt sollen auf polnische Zentren gerichtet werden. Oberschlesien, und in dieser Erzählung Beuthen, gehören nicht dazu: Sie wissen schon, sie verstehen, Beuthen ist keine Stadt, mit der Polen prahlen könnte. Es ist keine gute Visitenkarte für das Land. […] Ich weiß, dass Beuthen eine schwierige Geschichte hinter sich hat, aber… diese Stadt ist schon am Ende! Dort wohnt fast niemand mehr. Es wird besser, wenn wir vergessen, dass so eine Stadt einst existierte 41 . 38 „Nicht die verwickelte Geschichte freilich macht das Besondere der Region aus, sondern ihre ‚wasserpolnische‘ Bevölkerung, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen die Fronten der Nationalismen geriet. Sowohl das Deutsche Reich als auch die polnische Nationalbewegung beanspruchten die Menschen in Oberschlesien für sich und wollten sie germanisieren bzw. polonisieren. Die Region wurde ein Gebiet erbitterter nationaler Auseinandersetzung, Kultureinrichtungen, Schulen, Bibliotheken etc. sollten eine Bevölkerung im Sinne des jeweiligen Nationalgedankens formen, die eigentlich ganz andere Sorgen hatte, bitter arm war und in ihren Familoki, den kleinen proletarischen Arbeiterhäuschen, ums tägliche Überleben kämpfen mußte“ (vgl. ebd., S. 248). 39 Melon, Kōmisorz Hanusik, S. 53. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 54. Zwischen Kriminalkomödie und Regionalidentität 127 In der Erzählung Der letzte Beuthener verschwindet das Team des britischen Senders BBC. Auch hier findet der Leser keine labyrinthartigen Fahndungen nach dem/ den Mörder(n). Hanusik reist nach Beuthen und findet in einer Schenke den alten Pytlok (er ist „der letzte Beuthener“ aus dem Titel), den letzten menschlichen Bewohner Beuthens. Nachdem dieser Hanusik die Veränderungen in der Stadt erklärt (Beuthen wurde infolge massenhafter Auswanderung zum Ziel der Utopeks aus ganz Oberschlesien) gelangt der Leser sogleich zur Auflösung des Falles. Als Hanusik Beuthen verlassen will - er hat schon alle wichtigsten Informationen - wird er von einer Bande von Utopeks überfallen. In diesem Moment geht der alte Pytlok dazwischen und ruft: „Und was werdet ihr jetzt machen, ihr Dummköpfe! Ihn umbringen wie die Engländer? Er ist doch ein Schlesier, genauso einer wie wir. Wir wohnen hier genauso lange wie ihr. Wir sind doch bei uns, oder? “ 42 . Die Tatsache, dass Hanusik Schlesier ist, bewirkt, dass die Utopeks von ihm ablassen. Der Ausklang der Geschichte ist ebenfalls fiktiv: als Hanusik mit einem Sonderkommando der Polizei die Stadt durchquert, ist sie schon vollkommen menschenleer. Auch Pytlok ist nicht mehr vor Ort. Sein weiteres Schicksal ist ungewiss. Im Laufe der Handlung treten weitere Gestalten der schlesischen Mythenwelt auf. Diese Gestalten kämpfen nämlich um das regionale Kollektivgedächtnis, da sie nur darin eine Überlebensmöglichkeit sehen. Es ist somit ein Kampf um Erinnerungsräume, um das kulturelle Erbe der Region. Nusser stellt fest, dass das dritte (und letzte) „tragende inhaltliche Element der Handlung des Detektivromans […] die Lösung des Falles und die Überführung des Täters (der Täter)“ ist 43 . Im Falle des Kōmisorz Hanusik werden die Täter-Gestalten aus der schlesischen Sagenwelt schon in den einzelnen Phasen des Romans überführt. Erst am Ende erfährt der Leser, warum die Morde begangen wurden. Fazit Am Ende der Beitrags wäre die Frage berechtigt, ob es sich im Falle von Kōmisorz Hanusik überhaupt um einen Krimi handelt. Schulz-Buschhaus schreibt: Trotzdem stößt man bei näherer Betrachtung des reichen Inventars postavantgardistischer Kriminalromane, die oft eher Metabzw. Anti- Kriminalromane zu nennen wären, auf eine erstaunliche Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Effekte. Sie erklären sich dadurch, daß die Reprisen aus dem Arsenal der Gattungstradition ja mit immer wieder anderen Absichten 42 Ebd., S. 66. 43 Nusser, Der Kriminalroman, S. 22. Rafał Biskup 128 durchgeführt werden: in der Intention des Pastiche, der Verfremdung, der Parodie, der Kombinatorik, der Umkehrung, der Falsifikation usw. 44 . In einer Nachricht an den Autor dieses Beitrages äußerte sich Marcin Melon über das Buch folgend: Es ist ein bisschen so ein falscher „Krimi”, mehr ein Pastiche (ein Nachahmungswerk; lacht). Mir ging es vor allem darum mir selbst zu beweisen, dass man etwas auf Schlesisch verfassen kann. Dass es nicht nur eine Sprache der Dialoge ist (mit denen ich schließlich erzogen wurde), sondern dass es machbar ist, in dieser Sprache eine Narration zu führen. […] Man kann hier schwer von Inspiration sprechen, Hanusik lebt doch im gegenwärtigen Schlesien. Gelegen vielleicht in einer etwas alternativen Wirklichkeit, aber immer noch in einer gegenwärtigen 45 . Das Werk von Melon ist nur durch das Prisma der Aktivität (ober-) schlesischer Aktivisten interpretierbar. Die Gattung Krimi tritt, mit all ihren Merkmalen und Wesenszügen, an sich in den Hintergrund. Aspekte wie Sprache, Kultur, Tradition spielen für den Autor eine bedeutendere Rolle. Kōmisorz Hanusik ist an sich zu empfehlen. Dem Leser wird darin ein bis dato ungewöhnliches Bild Oberschlesiens dargeboten, da es mithilfe des schlesischen Idioms konstruiert wird. Das Hanusik ein Erfolg war beweist die Tatsache, dass kurz vor Beendigung des vorliegenden Aufsatzes die Fortsetzung der Geschichte erschienen ist 46 . Dass in der Fortsetzung die Autonomiebestrebungen schlesischer Autonomisten noch mehr im Zentrum stehen, lässt der Untertitel - Im Geheimdienst des schlesischen Volkes - erahnen. Die Hauptziele, wie die Verbreitung der schlesischen Sprache und Steigerung regionaler Identität, scheint Hanusik bereits erzielt zu haben. In der Ausgabe von Nowa Trybuna Opolska, einer Regionalzeitung im Raum Oppeln, vom 22. April 2015 schreibt Mirosław Dragon über die Verfilmung des Hanusik folgendes: Eine Gruppe junger Enthusiasten aus der Umgebung von Olesno 47 drehte eine Verfilmung des ersten Krimis in schlesischer Sprache „Komisorz Hanusik“ aus der Feder von Marcin Melon […] Regisseur des Streifens unter dem Titel „Komisorz Hanusik und der Warschauer“ ist Mateusz Pawełczyk, ein 21-jähriger Student der Kulturwissenschaften. - Die Bilder drehten wir in Olesno, Dobrodzień und in einer verlassenen Ziegelei in Wysoka - sagt Ma- 44 Schulz-Buschhaus, „Funktionen des Kriminalromans“, S. 526. 45 Nachricht von Marcin Melon an den Verfasser dieses Beitrag vom 12. Oktober 2014. Übersetzung - R.B. 46 Vgl. Marcin Melon, Komisorz Hanusik. We tajnyj sużbie ślōnskij nacyje, Kotōrz Mały, Silesia Progress, 2015. 47 Deutsch: Rosenberg. Zwischen Kriminalkomödie und Regionalidentität 129 teusz Pawełczyk. - Mit der Arbeit haben wir im Januar angefangen und Anfang April hatten wird schon einen fertigen Film 48 . Der Film ist auf youtube.com abrufbar. Es ist zwar kein „Tatort“, aber immerhin sehenswert. Bibliographie Rafał Biskup, „Karl von Holteis Schlesische Gedichte und sein / ihr Einfluss auf die schlesische Mundartdichtung“, in Leszek Dziemianko; Marek Hałub (Hrsg.), Karl von Holtei (1798-1880). Leben und Werk. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2011, S. 252-284. Miroslaw Dragon, Komisorz Hanusik na tropie, in Nowa Trybuna Opolska, 22. April 2015. Jürgen Joachimsthaler, „Utopek lesen. Ein Nachwort“, in Leszek Libera, Der Utopek. Dresden, Neisse Verlag, 2011, S. 245-259. Leszek Libera, Der Utopek, Dresden, Neisse Verlag, 2011. Marcin Melon, Komisorz Hanusik, Kotōrz Mały, Silesia Progress, 2014. Marcin Melon, Komisorz Hanusik. We tajnyj sużbie ślōnskij nacyje, Kotōrz Mały, Silesia Progress, 2015. Peter Nusser, „Aufklärung durch den Kriminalroman“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 486-498. Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart, Metzler, 2003. Ulrich Schulz-Buschhaus, „Funktionen des Kriminalromans in der post-avantgardistischen Erzählliteratur“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 523-548. Szczepan Twardoch, Morphin, Berlin, Rowohlt, 2014. 48 Mirosław Dragon, „Komisorz Hanusik na tropie”, in Nowa Trybuna Opolska vom 22. April 2015, S. 5. Übersetzung - R.B. Anna Volk Adaptationen von regionalen Krimis im Fernsehen Das Beispiel Wilsberg Der Regionalkriminalroman Das Rezept für einen Regionalkriminalroman könnte folgend lauten: man nehme einen sympathischen Detektiv, einen nicht allzu komplizierten Fall, die Handlung spiele in einer konkreten Region und das Detektivfieber kann beginnen. Jedoch der Begriff Regiokrimi birgt eine weitere Facette in sich. Der Krimi ist heutzutage eine der offensten Formen der Literatur. Der Regionalkrimi ist ein bekanntes Subgenre der Kriminalliteratur. Ende der 1980 Jahre erschienen erstmals im Grafit Verlag Krimis mit deutschen Handlungsorten. Praktisch jede deutsche Provinz besitzt heute ihren Detektiv, angefangen vom Schwarzwald bis zum Hiddensee. Die Autoren nutzen die Ermittlungen ihrer Charaktere, um das Gebiet, die Kultur sowie die Gesellschaft in der Geschichte zu verankern. Die ethnographischen Vorteile der Region werden in den Vordergrund gestellt. Die spezifischen regionalen Merkmale spielen eine große Rolle bei der Formgestaltung und Kreierung des kriminellen Spiels. Die Gattung genießt großes Ansehen unter den Krimiliebhabern. Der Gedanke an einen Mord vor der Haustür des Nachbarn stellt sich als reizvoll dar und zugleich überschreitet er die Grenzen des Erdenklichen. Ausschlaggebend ist nicht die Tat selbst, sondern die Art und Weise der Entblößung des Täters. Der Detektiv und sein Team bringen die Idylle der Stadt durch die genaue Fahndung wieder ins Gleichgewicht: „Im Kontrast zum klassischen Kriminalroman, kann der Detektiv aus dem Kreis der Verdächtigen stammen und als Täter in Frage kommen“. 1 Die Gestaltungsmöglichkeiten der Handlung sich dadurch offen und lassen dem Autor einen großen Spielraum. Die Regionalkrimis im Fernsehen Klaus Kenzog versteht das Medium Film als einen Teil der Studien an der neuen deutschen Literatur. Die Filmadaptation war und ist bis heute eine der wichtigsten Formen der Veränderung der Literatur in andere Medien. 1 Helmut Heißenbüttel, „Spielregeln des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink, 1998, S. 111-120, hier S. 120. Anna Volk 132 Die Geschichte dringt zum Empfänger nicht durch den Aufbau des Textes, sondern durch die Abfolge von Bildern 2 . Man darf jedoch nicht vergessen, dass die Literatur schon immer aus dem Wort heraus gelebt hat. Der Kriminalfilm besteht aus einer Anzahl von Subgenres: Angefangen mit dem Polizeifilm, über die Gerichtsfilme bis hin zur Krimiserie. Gemein haben sie alle das Konzept des whodunit - wer ist es gewesen? -, den damit verbundenen Handlungsablauf und die spezifische Figurenkonstellation. Wichtig ist es zu erläutern, wie die Medien mit dem Thema Kriminalliteratur umgehen. Die liebevolle Ausarbeitung der Figuren sowie die Mordgeschichten mit Lokalkolorit sind einer der Gründe, warum sich das Genre fabelhaft auf der Plattform zweierlei Medien beweist. Die Krimilandschaft hat Gefallen am Medium Fernsehen gefunden, was man an der ältesten Krimireihe „Tatort“ beobachten kann: Die Serie wird seit 1970 im deutschsprachigen Fernsehen ausgestrahlt. Der Sender ZDF hat es der ARD im Jahre 1998 nachgemacht und schuf die Krimiserie Wilsberg. Die Idee kam durch die fesselnden Bücher von Jürgen Kehrer, der seit 1990 Regionalkrimis aus dem Münsterland schreibt. Die Fabel spricht Zuschauer in jedem Alter an. Sie können sich in der Serie wiederfinden und mit Georg Wilsberg auf Tätersuche gehen; sie wagt sich in das Genre der Krimikomödie und erreicht bemerkenswerte Einschaltquoten. Der Humor des Schauspielers Leonard Lansink spiegelt sich in der Serie wieder. Er ist wie geboren für die Rolle des sympathischen Detektivs. Die Zuschauer zwischen achtzehn und neunundvierzig Jahren verbringen ihren Samstagabend gerne mit der beliebten Krimiserie Wilsberg: „Die Einschaltquoten zählen 6 Mio. Zuschauer pro Serie. Sie ist zum Kult geworden, denn kaum eine Gattung erfreut sich im deutschen Fernsehen größerer Beliebtheit. Es ist das erfolgreichste Programm des Senders“ 3 . Der Detektiv als Fremdenführer Der Detektiv ist mit der Region auf einer beruflichen sowie privaten Ebene eng verbunden. Man kann ihn mit einem Fremdenführer vergleichen, der auf der Spur des Verbrechens den Leser durch die Ecken der Region führt. Auf diese Weise wird der Schauplatz zu einem eigenständigen Element der Handlung und verfügt über einen einzigartigen Wert. Durch die Humanisierung des Detektivs wird er als ein positiver und außergewöhnlicher Charakter geschildert. Anstelle des traditionellen Heldenschemas bzw. des allwissenden und übermenschlichen Detektivs fungiert hier eine private Person aus dem Alltagsleben. Der Leser kann sich mit der Hauptfigur identifizieren und anfreunden. Die Krimis vom Journalisten und Schriftsteller 2 Klaus Kenzog, Einführung in die Filmphilologie, München, Schadig & Ledig, 1997, S. 59. 3 www.schwäbische.de/ leute/ artikel (letzter Zugriff am 5. Oktober 2014). Adaptationen von regionalen Krimis im Fernsehen 133 Jürgen Kehrer bilden eine optimale Grundlage für die Serie über den bekanntesten Schnüffler des Münsterlands - Georg Wilsberg. Er ist Buchantiquar im westlichen Teil der Stadt Münster. Er übt den Beruf des Privatdetektivs aus, um seine finanzielle Lage zu verbessern. Erfahrungen konnte er zuvor in einer Kanzlei als Rechtsanwalt sammeln und dort seinen Schnüfflerinstinkt entwickeln. Er wurde wegen Unterschlagung von Geldsummen entlassen und suchte sich ein anderes Lebensziel und wurde somit zu Sherlock Holmes des Münsterlandes. Er durchlebt eine midlife crisis und stolpert durch den tückischen Alltag eines Einzelgängers. Der Film- und Fernsehschauspieler Joachim Król verkörperte einmalig in der ersten Folge Und die Toten lässt man ruhen den Detektiv Wilsberg. Sein Aussehen gleicht dem Haupthelden der Zeichentrickserie „Inspector Gadget“. Er trägt einen langen dunklen Mantel und eine charakteristische Mütze. In dieser sowie in den weiteren Drehfolgen erkennt man die gravierenden Unterschiede zwischen dem Buch und der Serie. In der zweiten Verfilmung In alter Freundschaft, die drei Jahre später ausgestrahlt wurde, spielt nicht mehr Joachim Król, sondern der in Hamm geborene Münsteraner Leonard Lansink den Privatdetektiv. Der Wechsel der Hauptfigur war, wie die Zuschauer betonten, eine sehr gute Entscheidung. Die Verbindung Lansinks Schauspieltalents mit Charme und Kreativität führen zu einem fabelhaften Ergebnis. Seit 1998 ist Lansink zum Aushängeschild von Münster geworden. Wenn man an die Wilsberg-Krimis denkt, sieht man gleich das Bild des deutschen Schauspielers vor sich. Er wurde an die Rolle angepasst und verkörpert sie mit Leib und Seele. Das Aussehen des Detektivs wird im Buch eher negativ beschrieben. Es ist die Rede von Alkoholabhängigkeit und einem schrecklichen Juckreiz an seinem ganzen Körper. Diese Informationen werden aus ästhetischen und sozialen Gründen in der Serie nicht erwähnt. Im Buch und auf der kleinen Fernsehleinwand lebt er ein Singleleben, das sehr realistisch dargestellt wird. Das Aussehen des Antiquariats spiegelt die Psyche des Protagonisten wieder. Die Situationen des alltäglichen Lebens werden in den Vordergrund gestellt. Liebesszenen, Rachsucht und Eifersucht sind die Leitmotive der Geschichte. All diese Beispiele beweisen, dass der Regionalkrimi von der klassischen Heldenkonstruktion zurücktritt. Die Darstellung von sozialen Beziehungen und Verhaltensweisen wird in den Vordergrund gerückt. Das Team Das Team spielt eine ausschlaggebende Rolle für den Ablauf und die Gestaltung der Geschichte. Es ist ein erzähltechnisches Mittel, dem Leser bzw. Zuschauer in Form von Dialogen Informationen zu überbringen. Die Zu- Anna Volk 134 sammenstellung der Charaktere ist der nächste gravierende Unterscheidungspunkt zwischen der Serie und den Büchern von Jürgen Kehrer. Die wichtigste Gestalt neben dem Detektiv ist sein Gefährte, der als Fragensteller im Schatten des Helden fungiert. Er ist für die Kleinarbeit zuständig, aber er kann den Detektiv aus jeder brenzligen Lage retten. Diese Konstellation kann man ausschließlich in der Serie beobachten. Manni ist in der Stadtverwaltung als Beamter tätig und kann seinem alten Schulfreund keine Bitte abschlagen. Er spielt den Informanten und Autoverleiher von Wilsberg. Gemeinsam schlagen sich die beiden Singlemänner durch den Alltag in der Verwaltungsstadt Münster. Seit der fünfzehnten Folge ersetzt ihn der Steuerprüfer Ekki, der eigentlich die Finanzen von Wilsberg prüfen sollte. Nach einiger Zeit entdeckt er seine Leidenschaft für die Ermittlungen und wird ins Team aufgenommen. Die weibliche Fraktion besteht aus der Nichte und Anwältin Alex, die während des Studiums im Antiquariat aushalf und dadurch in die Ermittlungen hineingezogen wurde. Die zweite Dame ist die langjährige Freundin sowie Verehrerin von Wilsberg - die Hauptkommissarin Anna Springer. Wilsberg und sie ermitteln in den gleichen Fällen und kommen sich gegenseitig in die Quere. Die Personenkonstellation im Buch gestaltet sich dahingegen ohne den traditionellen Gefährten. Wilsberg arbeitet auf eigene Faust und bekommt die benötigten Informationen vom Hauptkommissar und zugleich guten Bekannten Stürzenbecher. Er verlässt sich auf die noch erhaltenen Kontakte aus der Zeit als Anwalt. Die weibliche Gruppe wird durch seine Mitarbeiterin Franka, die Exfrau Ilse und Tochter Sarah repräsentiert. Es kommen auch andere Frauen ins Spiel, die mit den Fällen etwas gemein haben und sich als alte Bekannte des Detektivs entpuppen. Die Zensur der Sex- und Gewaltszenen Bedeutend ist das Wort Zensur bei der Gegenüberstellung von Buch und Serie. Handlungen und Vorgänge werden in einem sozialunterschiedlichen Kontext präsentiert. Die Bilder werden dem Zuschauer in der Serie von vornherein vermittelt, er muss seine Vorstellungskraft nicht anstrengen, um sich die emotionalen Szenen vor Augen zu führen. Die Gewalt ist ein interessanter Aspekt bei der Eingliederung der Krimis in zweierlei Medien. Die brutalen Szenen machen die Handelsweisen rasant und stellen die Züge des Bösen dar. Die im Roman vorkommenden Gewaltszenen werden mit Einzelheiten beschrieben: In der Abwärtsbewegung traf mich sein Knie an der Nase und, auf dem Boden liegend, spürte ich eine Schuhspitze zwischen den Rippen und an anderen empfindlichen Stellen […], dann schmeckte ich eine Mischung von Blut Adaptationen von regionalen Krimis im Fernsehen 135 und Kotze und wurde ohnmächtig 4 , […] Ich flog hin und her wie ein Gummiball, kurz darauf verlor ich die Besinnung 5 , […] Ein klatschendes Geräusch neben meinem Ohr und ein heißes Kribbeln auf der Wange sagte mir, dass ich eine Ohrfeige bekommen hatte 6 , […] Ponto versetzte ihr plötzlich eine Ohrfeige, dann warf ich mich mit meinem Körpergewicht gegen die Scheibe. Es krachte und splitterte und ich segelte der Länge nach auf den Teppichboden, unter meinem linken Auge brannte es fürchterlich, da knallte es knapp unter meinen Augen. Ich spürte nichts, aber alles wurde rot, dann grün dann schwarz 7 , […] In diesem Moment nahm ich seinen Kopf in beide Hände und donnerte ihn gegen das Wagendach. Es war ein klassischer Knock-out 8 , […] Der Gummiknüppel traf mich in der Nähe der Halsschlagader. Der Schmerz nahm mir den Atem und die Konzentration 9 . Die Gewalt wird auch durch Beleidigungen zur Schau gestellt: Und meinen sie Wilma diese Schlampe 10 , […] Wie soll man als normaler Staatsbürger auf den Gedanken kommen, dass die Justiz die Hure der Macht ist 11 , […] Scheißdrauf 12 , […] Bevor mein Bruder dieser Idiot, sie aus diesem miesen Friseurladen raus geholt hat 13 . Mit Worten wird gekämpft und dies wird als verbale Verletzung angesehen. Die zitierten Szenen werden auf der Leinwand verharmlost, denn das Fernsehen erzielt eine breitere Masse von Zuschauern in jeder Altersklasse: „Die Kontrolle über Form und Inhalt ist in der Filmbranche ausgeprägter als in der Literatur. Die Darstellungsmöglichkeit von strafbaren Handlungen ist begrenzt“ 14 . Der Zensur werden auch Situationen unterzogen, die Nacktszenen oder sexuelle Handlungen darstellen. Als Beispiel kann man die Beziehung des Protagonisten zu der Tochter der Arbeitgeberin, im Roman und der gleichnamigen Serie Und die tote lässt man ruhen, nennen. In der Filmabschlussszene küssen sie sich harmlos am See, wiederum im Buch wird die Liebesszene genauer beschrieben und es kommt zum Geschlechtsverkehr zwischen Katharina und Georg: 4 Jürgen Kehrer, „Und die Toten lässt man ruhen“, in Jürgen Kehrer, Wilsberg. Wie alles begann. Dortmund, Grafit Verlag, 2013, S. 9-170, hier S. 56. 5 Jürgen Kehrer, „In alter Freundschaft“, in Jürgen Kehrer, Wilsberg. Wie alles begann, Dortmund, Grafit Verlag 2013, S. 171-306, hier S. 223. 6 Kehrer, „In alter Freundschaft“, S. 287. 7 Ebd., S. 245. 8 Ebd., S. 255. 9 Ebd., S. 137. 10 Ebd., S. 17. 11 Ebd., S. 15. 12 Jürgen Kehrer, Der Minister und das Mädchen, Dortmund, Grafit Verlag, 1998, S. 123. 13 Ebd., S. 19. 14 Joachim Peach, Literatur und Film, Stuttgart, J.B. Metzler, 1997, S. 26. Anna Volk 136 Und irgendwann war die Distanz zwischen uns geschrumpft, auf nichts weiter als das bisschen Kleidung, das wir am Leib trugen. Und auch das wurden wir los, als wir ins Schlafzimmer überwechselten 15 . Im Roman Der Minister und das Mädchen schläft der Protagonist mit seiner Arbeitgeberin: „Als sie sich neben mich setzte, streifte ihre linke Brust zufällig meinen Arm […] als sie ins Bett kam roch sie nach Zimt […] Ich wusste nicht was ich gerade erlebte - den Beginn einer Affäre oder das Ende eines One-Night-Stands“ 16 . Das Thema wird während der Adaptation nicht aufgenommen. Die Sexszenen werden durch den Drehbuchautor ausgelassen. Die Serie nimmt dadurch eine andere Zielgruppenrichtung an. Sprache und Lokalkolorit Wie es belegt wurde, ist das grundlegende Ziel der Sprache die Kommunikation im Sinne von Übermittlung von Gefühlen und Gedanken. Dies hat einen unvergleichbaren Stellenwert in der Literatur. In den Krimis von Jürgen Kehrer fungiert ein ausgeklügeltes Wortspiel in Form von Redewendungen und Sprichwörtern. Die Auswahl und Zusammenstellung des Wortschatzes bildet den Charakter der Geschichte, die mit Ironie bestrahlt wird. Im Buch wird vor allem die saloppe Sprache verwendet: „Aber soweit sie es tut, wird es wie Hundescheiße auf uns herabregnen“ 17 , „zu einem blasierten Lackaffen Champagner schlürfen zu gehen“ 18 . Redewendungen werden an bestimmten Stellen eingesetzt, um die Aussage zu beteuern: „Nur ich konnte mir keinen Reim darauf machen“ 19 , „Das was er sagt, darfst du nicht für bare Münze nehmen“ 20 , „Christian schwört Stein und Bein“ 21 . Die Sprache wird mit viel Schlagfertigkeit und Unbekümmertheit ausgedrückt: Zwischendurch hatte ich ein paar Steine hochgehoben und jede Menge Käfer weg rennen sehen. Jeder mittelmäßige Detektiv hätte aus den Spuren der Käfer seine Schlüsse gezogen 22 . Die ausgewählten Zitate spiegeln den Kern der Erzählung wieder. Das Spiel mit der Sprache macht den Regionalkriminalroman aus. Die Dialoge und Aussagen geben der Handlung eine einzigartige regionale Note. Die Kultur und das Lokalkolorit werden in zweierlei Medien auf differenzierte Weise eingeführt. Der Leser zeigt Interesse für die Region durch 15 Kehrer, Der Minister und das Mädchen, S. 168. 16 Ebd., S. 60. 17 Ebd., S. 16. 18 Ebd., S. 45. 19 Ebd., S. 123. 20 Ebd., S. 99. 21 Ebd., S. 12. 22 Ebd., S. 123. Adaptationen von regionalen Krimis im Fernsehen 137 das Wiedererkennen einst besuchter Plätze; es entsteht eine Situation des Fremden im Vertrauten. Der dargestellte Mord wird auf gut bekanntem Boden begangen. Es entsteht eine topographische Durchdringung, durch die Eingliederung der Handlung in die Region: Der Leser wird mit den lokalen Besonderheiten konfrontiert. Sie besitzt eine unverkennbare und doppelbödige Identität. Das Lesen der Stadt hat die Geschichte des Genres geprägt und beeinflusst 23 . Es entsteht eine Bindung zwischen dem Leser und der dargestellten Region. Es werden unter anderem die bekanntesten Orte in Münster wie der Prinzipalmarkt, der Ort des ältesten Mordes in der Geschichte Münsters, oder das Stadtmuseum in den Romanen beschrieben: Der Domplatz, mitten im Herzen der Stadt gelegen, hätte eigentlich der schönste Platz Münster sein können. Wäre er nicht auf drei Seiten von tristen Bank- und Verwaltungsgebäuden umstellt gewesen. Abgesehen vom Wochenmarkt, der traditionell auf dem Domplatz stattfand, pulsierte das Leben anderswo 24 . Vor dem Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte bog er nach links […] Renaissance oder Moderne Kunst […] eine russische Landkarte von Europa, im Nebenraum marschierten Soldaten […] Dreitagebart lag auf einer Miniatur - Fluglandebahn 25 . Nicht nur Sehenswürdigkeiten wie das Schloss und der weitbekannte Aasee sind eine Quelle für die Gestaltung der Geschichte, aber auch Stammkneipen, Cafés und Restaurants tragen zur lokalen Kultur bei. Die Charaktere bewegen sich zwischen den Räumen. In der Krimiserie wiederum wurde auf die Darstellung der Landschaft großer Wert gelegt. Die Natur bildet einen Kontrast zu der reich belebten Fahrradstadt Münster. Und die Toten lässt man ruhen: Wie alles begann Im ersten Buch von Jürgen Kehrer unter dem Titel Und die Toten lässt man ruhen aus dem Jahre 1990 wird ein Mordfall, der vor sechzehn Jahren begangen wurde, bearbeitet. Wilsberg soll beweisen, dass der Geschäftsmann Pobradt keinen Selbstmord begangen hat, sondern aus finanziellen Gründen umgebracht wurde. Der Roman des Autors wurde 1995 erstmals in das Medium Film umgesetzt. Der Drehbuchautor war Jürgen Kehrer persönlich. Während der knapp neunzig Minuten Spielfilmlänge hat der Regisseur Dennis Satin versucht, 170 spannende Seiten Krimigeschichte darzustellen. 23 Melanie Wigbers, Krimi-Orte im Wandel, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2006, S. 127. 24 Kehrer, Der Minister und das Mädchen, S. 114 25 Ebd., S. 150 f. Anna Volk 138 Die Länge der Serie scheint nicht genügend zu sein, um alle wichtigen Einzelheiten, die im Buch enthalten sind, wiederzugeben. Es wird vieles ausgelassen oder kompakt übermittelt. In der Serie steht die Bild- und Körpersprache im Mittelpunkt. Durch den Bildablauf werden variierte Informationen auf einmal vermittelt. Im Buch befindet sich die Wortgewandtheit im Fokus, der Autor muss die Handlung detaillierter beschreiben, damit der Leser sich den Ablauf mit Einzelheiten vorstellen kann. In alter Freundschaft: Die Zielgruppe Im Roman In alter Freundschaft werden drei Fälle durch den Detektiv aufgedeckt. Ein verwöhnter Teenie Tanja, die vor seinen spießigen Eltern nach Holland flieht, ein Discobesitzer, der seine gestohlenen Instrumente zurück ergattern möchte, und der Tod der Ex-Freundin Ines. In der gleichnamigen Krimiserie steht der Fall Tanja im Mittelpunkt. Während neunzig Minuten Spielfilmlänge wurden die einzelnen Personen aus dem Buch übernommen, sie spielen jedoch andere Charakterrollen. Es scheint ein völlig anderer Fall zu sein. Der Drehbuchautor setzt auf planmäßige Übersichtlichkeit, deswegen beschäftigt sich der Detektiv nur mit einem Fall. Die einzelnen Szenen werden in die Länge gezogen und intensiver dargestellt. Die Charaktere spielen am Set eine wichtige Rolle. Jeder einzelne erzählt seine Lebensgeschichte und zusammen bilden sie das Team des Haupthelden. Der Minister und das Mädchen: Das Leitmotiv Der Minister und das Mädchen wurde im Jahre 1998 veröffentlicht und sechs Jahre später verfilmt. Es wurde eine geringe Anzahl von Motiven durch den Drehbuchautor Ralf Löhnhardt übernommen. Das Leitmotiv bei diesem Fall ist Politik mit einem Hauch von Intrige. Das Buch handelt von einem Vergewaltigungsfall. Christian Schwarz, der Sohn des zukünftigen Ministers, wird beschuldigt, eine Frau misshandelt zu haben. Georg deckt die vorgetäuschte Vergewaltigung auf. Es kommt zu einem Wendepunkt der Handlung: Der Arbeitgeber von Wilsberg wird zum Verdächtigen und letztendlich zum Mörder einer jungen Studentin. Zur Serie übergehend wurde die Handlung an den Zuschauer angepasst. Der Politiker wird während der Folge mit einem Pokal durch seinen eigenen Schwiegervater ermordet. Aus dem Buch übernommen wurden ausschließlich zwei Namen und das Motiv der politischen Intrige. Der Regisseur wollte nicht nur die Krimiliebhaber ansprechen, aber auch Personen, die eine Vorliebe für Seifenopern haben. Ausgedrückte Emotionen gewinnen an Bedeutung. Die gespielten Szenen versuchen den Kern des Romans wieder- Adaptationen von regionalen Krimis im Fernsehen 139 zugeben, es fehlen jedoch sehr viele Einzelheiten, die im Buch enthalten sind. Fazit Die Adaptation des regionalen Krimis durch das Fernsehen ist ein voller Erfolg. Die Bücher von Jürgen Kehrer sowie die Krimireihe bilden eine aussichtsreiche Möglichkeit, das Lokalkolorit spritzig und dezent zu übermitteln. Es entsteht eine Beziehungsebene zwischen den Büchern und dem Medium Film. Die Verfilmungen bilden ein eigenständiges Medium. Die Ersterscheinungen von Jürgen Kehrer wurden als Basis für das spritzige Drehbuch verwendet. Übernommen wurde lediglich die Hauptfigur mit ihren spezifischen Charakterzügen. Die Krimiserie strebt durch eine veränderte Ideenrichtung eine breitere Zielgruppe an. Sie versucht, aus jedem gespielten Charakter eine eigenständige Geschichte zu kreieren. Das Bekannte wird zum Neuen und der Mordfall zur Nebensache. Der Leser wiederum mobilisiert mit Hilfe realer Schauplätze sein Vorstellungsvermögen: „Es ist ein Spiel der beweglichen Bilder und des Königreiches der Worte“ 26 . Es ist ein „dreidimensionales Fenster, das auf einer Ebene gezaubert wurde“ 27 . Der regionale Kriminalroman versucht, die Realität nachzuahmen und eine materielle Welt zu reproduzieren. Bibliographie Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, C.H. Beck 1997. Alida Bremer, Kriminalistische Dekonstruktion, Würzburg, Königshausen u. Neumann, 1999. Ingrid Brück, Der deutsche Fernsehkrimi. Eine Programm und Produktionsgeschichte von den Anfängen bis heute, Stuttgart, J.B. Metzler, 2003. Helmut Heißenbüttel, „Spielregeln des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. München, W. Fink, 1971, S. 111-120. Gabriela Holzmann, Schaulust und Verbrechen. Eine Geschichte des Krimis als Mediengeschichte, Stuttgart, J.B. Metzler, 2001. Jürgen Kehrer, Und die toten lässt man ruhen, Dortmund, Grafit Verlag, 1990. Jürgen Kehrer, In alter Freundschaft, Dortmund, Grafit Verlag, 1991. Jürgen Kehrer, Der Minister und das Mädchen, Dortmund, Grafit Verlag, 1998. Jürgen Kehrer, „In alter Freundschaft“, in Jürgen Kehrer, Und die toten lässt man ruhen. Dortmund, Grafit Verlag, 1990, S. 171-306. Tomasz Małyszek, Światłopisanie, Wroclaw, ATUT, 2013. 26 Tomasz Małyszek, Światłopisanie. Film Niemiecki 1895-2010, Wrocław, ATUT, 2013, S. 343. 27 Ebd., S. 337. Anna Volk 140 Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart, J.B. Metzler, 1997. Joachim Peach, Literatur und Film, Stuttgart, J.B. Metzler 1997. Sandra Poppe, Visualität in Literatur und Film: Eine medienkomparatistische Untersuchung in Literatur und Film, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2007. Heinrich Veit, Gib jedem seinen eigenen Tod, Wien, Paul Zsolnay Verlag, 2001. Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik. Theorie. Geschichte, München, W. Fink, 1998. Melanie Wigbers, Krimi-Orte im Wandel: Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart, Würzburg, Königshausen u. Neumann, 2006. TEIL III: EIN SPIEL MIT DER KONVENTION: ANTI-KRIMI Jürgen Joachimsthaler Krimi - Antikrimi - Metakrimi Joachim Maass: Der Fall Gouffé In der 1949 im „Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer“ veröffentlichten Geheimwissenschaft der Literatur, unter welchem Titel Joachim Maass (1901- 1972) 1 seine seit 1940 im amerikanischen Exil am Mount Holyoke College in South Hadley (Massachusetts) gehaltenen Vorlesungen zur Anregung einer Ästhetik des Dichterischen zusammenfasst, heißt es abwertend über das Genre Kriminalliteratur: Ausdrücken, ich meine: symbolisieren tut weder eine der Figuren noch eines der Ereignisse irgend etwas; das Ganze ist nur dazu da, den Leser oder Betrachter zu ‚spannen‘; er wird mit einer Art Puzzle- und Horror- Hanswurstiade genasführt, von einer blödsinnigen Spekulation zur nächsten gelockt und dabei durch den Haut-gout des Leichenstanks […] gereizt. Von einem echten Symbol für das Leben und Erfahren des Menschen auf Erden kann bei der ganzen scheußlichen Veranstaltung nicht die Rede sein 2 . Das für Kriminalliteratur typische Spiel aus Rätsel, Spannung und Auflösung erscheint hier als bloß oberflächliche Zerstreuung. Durch monotone Variation des Immergleichen kann das Genre weder zu Erkenntnis noch zu tatsächlichen Problemen vordringen. Es begnügt sich damit, den Rezipienten durch eine kalkulierte Verrätselungs- und Entschlüsselungsdramaturgie zu geleiten, deren restlose Aufklärung von Anfang an feststeht und zu keinen anderen Ergebnissen führen kann als zu denen, die der Autor bereits einkalkuliert hat: Immer gleichmäßig gibt es ein ganzes Rudel von Personen, die des geschehenen Verbrechens schuldig sein könnten; wird in dem Hause des Verbrechens irgendeine Tür geöffnet, so fällt ein frisch Ermordeter heraus; die Person, die offenbar überhaupt kein Motiv zu dem Verbrechen und keine Möglichkeit zur Ausführung des Verbrechens hatte, ist endlich die schuldige, 1 Zur Biographie vgl. Dieter Sevin, „Joachim Maass. Exil ohne Ende“, in Colloquia Germanica 14, 1981, S. 1-25; Uwe Laugwitz, „Maass, Joachim“, in Neue deutsche Biographie, Bd. 15, Berlin, Duncker & Humblot, 1987, S. 598 f. (hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). 2 Joachim Maass, Die Geheimwissenschaft der Literatur. Acht Vorlesungen zur Anregung einer Ästhetik des Dichterischen, Berlin, Suhrkamp Verlag vormals S. Fischer, 1949, S. 45. Jürgen Joachimsthaler 144 während die vor aller Augen belastetste am Schlusse von rührender Unschuld strahlt 3 . Dieses Urteil kann nicht einfach als ressentimentgeladene Ablehnung eines populären Genres durch einen versnobten Bildungsbürger abgetan werden, da Maass 1939 während seiner Überfahrt nach Amerika seinerseits an einem Kriminalroman zu schreiben begonnen hatte. Die Arbeit daran beschäftigte ihn zeitlich parallel zu seinen Vorlesungen über Jahre, bis er 1952 endlich mit überwältigendem Erfolg unter dem Titel Der Fall Gouffé bei S. Fischer erscheinen konnte. Er wurde von der Kritik hochgelobt, mehrfach aufgelegt und in zahlreiche Sprachen übersetzt 4 . Maass‘ Krimi-Kritik ist zu lesen als Selbstpositionierung in einem literarischen Feld, dem er zu dieser Zeit selbst zuarbeitete. Nicht umsonst folgt im Text der Vorlesungen sogleich ein korrigierender Hinweis auf „hochqualifizierte Fälle“ 5 anspruchsvoller Literatur mit kriminalistischen Elementen, die Maass‘ Anforderungen genügte und zeigt, in welche Reihe er sich und seinen Roman einschreiben wollte: Er nennt Stevensons Dr. Jekyll and Mister Hyde, Dostojewskis Brüder Karamasoff, George Bernanos, Fontane, Poe, die Droste, E.T.A. Hoffmann, Kleist und Schiller, also Hauptwerke und Autoren (und eine Autorin) der Weltliteratur, die in ihrer Mehrheit nicht den Gepflogenheiten des Genres wie dem analytischen Standardaufbau der Detektivgeschichte oder dem Action-Plot des Thrillers folgen, sondern Handlungsgefüge entwerfen, die mit der (gelegentlich gar nicht erfolgenden) Identifikation eines Täters keineswegs erschöpft sind und schnell ad acta gelegt werden könnten. Auch (aber nicht nur) kriminalistisch relevante Stoffe werden in diesen „hochqualifizierten Fällen“ geformt und verdichtet zu dem, was für Maass Literatur ausmacht, zu Vorstellungswelten von archetypischer Wucht, zu einem „Symbol“, einer „Ur-Erfahrung“ von „vor- oder auch meta-logische[r] Bewußtseins-Beschaffenheit“ 6 . Dennoch greift er in seinem eigenen Roman auf genretypische Erzählmuster zurück, die Handlungen auf die Suche nach einem Täter verkürzen, mit dessen Überführung sie abgeschlossen scheinen: Der inhaltlich in drei Teile gegliederte, auktorial erzählte Roman setzt ein als um eine Ermittlerfigur zentrierte Detektivgeschichte, die von einer ausführlich erzählten Gerichtsverhandlung fortgesetzt wird, und endet als Psycho- Thriller. Maass arbeitet damit die drei dominanten Narrationsstrategien des Kriminalgenres, fein säuberlich voneinander getrennt, nacheinander ab - nicht jedoch, um sie nach seiner Kritik an ihnen zu rehabilitieren, sondern 3 Ebd., S. 44. 4 Vgl. die Bibliographie von Gitta Schaaf, Joachim Maass, Hamburg, Christians, 1970, S. 24-40, hier S. 27-30. 5 Maass, Die Geheimwissenschaft der Literatur, S. 45. 6 Ebd., S. 51. Krimi - Antikrimi - Metakrimi 145 um sie zum Scheitern zu bringen und zu transzendieren auf jene besondere Bedeutungsebene hin, deren Fehlen er dem Gros der Kriminalromane vorwirft. Der Roman reflektiert so das vom Autor kritisierte Genre, indem er dessen Techniken gegen dieses selbst wendet. Bereits die äußere Gliederung des Romans steht in unverkennbarer Spannung zu dessen inhaltlichformaler Dreiteilung: Maass teilt den Roman in zwei Bücher ein. Detektivgeschichte und Prozess bilden zusammen das erste Buch und umfassen zusammen ca. 420 Seiten, der Thriller ist ausgelagert in ein eigenes „Zweites Buch“, welches ca. 250 Seiten umfasst. Er wird durch diese Disproportion besonders hervorgehoben. Das erste Buch wiederum besteht aus drei Hauptkapiteln, deren erstes, nicht einmal zehn Seiten lang, der Einführung des Detektivs dient, während das zweite (ca. 150 Seiten) zwar „Das Verbrechen“ heißt, aber nicht dieses berichtet, sondern dessen Aufklärung, und das dritte unter dem Titel „Der Prozess“ auf seinen ca. 260 Seiten den Prozess selbst nur auf den letzten hundert Seiten darstellt (zuvor die Untersuchungen und Verhöre nach Inhaftierung der Angeklagten). Auch in diesem ersten Buch fällt so eine Reibung auf zwischen äußerer Gliederung und tatsächlichem Inhalt. Die eigentlich standardisierten Erzählmuster, die Maass nutzt, verlieren ihre scheinbare Selbstverständlichkeit, weil die Ordnung, zu der sie sich auf inhaltlicher Ebene fügen, nicht der äußeren Ordnung des Romans entspricht. Die Handlung orientiert sich an einem spektakulären historischen Fall, der in den Jahren 1889-91 Paris, Frankreich und die internationale Öffentlichkeit in Atem hielt 7 : Der Gerichtsvollzieher Gouffé wurde von seinem Schwager Landry bei der Pariser Polizei als vermisst gemeldet und konnte trotz mehrerer Suchaktionen und Presseaufrufe lange nicht gefunden werden, bis ein in der Nähe von Lyon aufgefundener Leichnam trotz zunächst scheinbar abweichender Körpermerkmale dank guter Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Untersuchungsbehörden und einem renommierten Gerichtsmediziner als Gouffé identifiziert werden konnte. In der Nähe des offensichtlich Ermordeten befindliche Reste eines Koffers, in dem der Tote transportiert worden war, führten auf die Spur der Täter, einen Michel Eyraud und dessen Geliebte Gabrielle Bompard. Nach beiden wurde international gefahndet. Die Bompard stellte sich nach einiger Zeit überraschend selbst und versuchte, Eyraud als alleinigen Täter darzustellen, der Gouffé aus Eifersucht getötet hätte, verstrickte sich aber in ihren Aussagen mehr und mehr in Widersprüche. Eyraud wurde schließlich in den USA verhaftet und an Frankreich ausgeliefert. Er gestand zwar den Mord, beharrte aber auf der Mitschuld der Bompard. Der Fall behielt etwas Rätselhaftes, vieles 7 Ich folge hier der sehr genauen Darstellung von Anja Sya, Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse. Joachim Maass‘ Roman „Der Fall Gouffé“ und sein Verhältnis zur historischen Vorlage, Baden-Baden, Nomos, 2001. Jürgen Joachimsthaler 146 deutete auf ein Eifersuchtsdrama im Affekt hin, Indizien wie der unter großem Aufwand im Ausland besorgte überdimensionale Koffer aber auf ein langfristig geplantes Verbrechen mit dem Ziel, Gouffé zu ermorden und auszurauben. Dies alles gab der Presse zu umfangreichen Spekulationen Anlass, die Bompard, knapp über zwanzig, wurde zum Objekt erotisch faszinierter Imagination, Eyraud, 45 Jahre alt, erschien als unangenehmer alternder Lüstling. Ein Ortsbegehungstermin in Lyon unter Beteiligung der Beschuldigten geriet, zumindest in der Darstellung der internationalen Presse, zu einem Triumphzug der Bompard durch von ihr begeisterte Menschenmassen. Die allgemeine Sympathie für sie führte zu der Vermutung, sie sei von Eyraud hypnotisiert worden, also gar nicht schuldfähig gewesen. In dem von der internationalen Presse verfolgten Gerichtsverfahren, in dem Gouffés zwei Töchter als Nebenklägerinnen fungierten, wurde die Hypnose- These ausführlich diskutiert, aber schließlich von der Verteidigung fallengelassen. Beide Angeklagte wurden schuldig gesprochen, Eyraud zum Tode verurteilt, die Bompard aufgrund einer entsprechenden Empfehlung des Staatsanwalts unter Berücksichtigung ihres Geschlechts und ihres jungen Alters zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Das Urteil gegen Eyraud wurde am 3. Februar 1891 vollstreckt, die Bompard wurde 1905 wegen guter Führung vorzeitig aus dem Zuchthaus entlassen. Maass war auf diesen Fall schon als Jugendlicher durch ein Buch aufmerksam geworden, als zeitweiser Redakteur der Vossischen Zeitung, die seinerzeit umfangreich über den Fall berichtet hatte, hatte er in den 1920er Jahren Zugriff auf deren Archiv. Zwar lässt sich nicht mehr nachweisen, dass er dieses tatsächlich für Recherchen zu diesem Fall nutzte, doch zeigen viele Details im Roman, dass er den historischen Fall - und den Umgang der Presse mit ihm - penibel erforscht hat. Er beabsichtigte jedoch keinen historischen Roman und nutzte die historischen Details nur als Anregung zu einer von allem Zufälligen befreiten Komposition, um durch den bloßen Kriminalfall hindurch zu einem existenziellen Bedeutungskern hindurchzustoßen. Ihn interessierte die Frage, wie sich Rechtsgefühl, Wahrheitssinn und echte Sittlichkeit verhalten, wenn sie sich Phänomenen gegenübersehen und sich in Triebregungen verstrickt finden, die der unaufrichtigen Gefühligkeit der Konvention ärgerlich und peinlich sein mögen, aber nichtsdestoweniger unausweichliche Teile und wesentliche Kräfte unserer menschlichen Existenz bedeuten 8 . Im Interesse einer psychologischen Vertiefung der Figuren und einer Überhöhung der Handlung ins Mythisch-Symbolische variierte er die historischen Tatsachen und baute sie um. Sie sollten in Bereiche hineinreichen, die 8 Unveröffentlichte Notiz aus Maass‘ Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach, zit. nach ebd., S. 75. Krimi - Antikrimi - Metakrimi 147 sich der vordergründigen Rationalität ergebnisorientierter Kriminalaufklärung entziehen. Aus rechtshistorischer Perspektive hat Anja Sya diese Veränderungen bereits penibel aufgelistet. Uns interessieren hier freilich nicht so sehr Abweichungen von der Wirklichkeit (und ihre juristische Bewertung) als die Bedeutungsdimensionen in Maass‘ Darstellung des Falles. Deshalb seien die wichtigsten Änderungen hier nur kurz referiert: Bei Maass hat Gouffé keine Kinder, einziger Verwandter (und Erbe) ist sein Schwager, den Maass Edmond Jaquemar nennt. Jacquemar tritt nicht als Nebenkläger auf (im Gegensatz zu Gouffés Töchtern im historischen Fall). „Dies legt dem Leser […] die Annahme nahe, daß es Jacquemar gar nicht so sehr um den Strafprozeß [geht] […], sondern er das Geschehen aus den Händen“ 9 gibt - zumindest das Geschehen vor Gericht. Das in der Wirklichkeit komplexe, harmonische und erfolgreiche Zusammenspiel der französischen Untersuchungsbehörden zieht Maass zusammen zur Figur Goron, der im Roman als Chef der Pariser Sicherheitspolizei den Fall allein und gegen den Widerstand seiner Vorgesetzten vorantreibt. Er kann nicht verhindern, dass die Bompard freigesprochen wird, wobei sie im Roman - entgegen der historischen Wirklichkeit - nicht einmal wegen Mordes angezeigt wird, sondern nur wegen des rechtlich wie sachlich unsinnigen Vorwurfs, die Ermordung Gouffés nicht sofort zur Anzeige gebracht zu haben. Trotz dieser Anklage wird während des Prozesses im Roman „kaum über den von der Anklage vorgebrachten Schuldvorwurf der Nichterstattung der Anzeige, sondern über den - prozessual - nicht verhandelten Schuldvorwurf an der Ermordung Gouffés […] gesprochen“ 10 . Bompards Aussagen sind im Roman in sich schlüssig, die Frage der Hypnose stellt sich gar nicht, allerdings insistiert Eyraudt (wie Maass ihn schreibt) darauf, von der Bompard beeinflusst, wo nicht gar völlig beherrscht gewesen zu sein. Vor dem Todesurteil bewahrt ihn das nicht. Die historischen Sympathien der Öffentlichkeit für die Bompard und die reale Ungleichbehandlung zu ihren Gunsten spitzt Maass in seinem Roman radikal zu, doch geht es ihm dabei nicht nur um Kritik des historischen Prozesses: Die Bompard muss im Roman freigesprochen werden, um die völlig erfundene Handlung des zweiten Buches zu ermöglichen. Jacquemar folgt ihr dort nach Amerika, um ihr eine Schuld nachzuweisen, die weit über das hinausgeht, was vor Gericht verhandelbar gewesen wäre (weshalb Jacquemar der Gerichtsprozess auch als sinnlos erscheint). Diese Änderungen dienen jener Sinndimension, die Maass in seinen Poetik-Vorlesungen als Kennzeichen guter Literatur genannt hatte: Literarische Gestalten müssen Ideen verkörpern, die „Schicksals-Potentialität“ 11 des 9 Ebd., S. 247. 10 Ebd., S. 259. 11 Maass, Die Geheimwissenschaft der Literatur, S. 37. Jürgen Joachimsthaler 148 Menschen ausdrücken und dadurch intensiver und bedeutsamer wirken als vom Alltag beeinträchtigte reale Menschen - „die Gestalt […] ist eine versinnlichte Idee. Eine versinnlichte Idee nun nennt man nach althergebrachtem Sprachgebrauch ein Symbol“ 12 . Dieser Symbolcharakter der Figuren wird bereits zu Beginn deutlich, im kurzen ersten Teil des ersten Buches, in dem Goron eingeführt wird. Seine Charakterisierung stellt zugleich eine erste Auseinandersetzung mit dem Krimi-Genre dar, denn Goron erscheint hier als Inkarnation der genre-typischen Detektiv-Figur und ihres Rationalitätsprinzips, dem zu Folge (so Peter Nusser in seinem Buch über den Kriminalroman) das Denken des Detektivs in der Regel methodisch verläuft. Deduktionen, Kombinationen usw. basieren auf genauen Beobachtungen, Messungen, Zeugenaussagen und werden - womöglich durch Experimente - überprüft. Die Romanautoren popularisieren dadurch die Arbeitstechniken und das Ethos der Naturwissenschaften, damit zugleich die Hoffnung auf die Durchschaubarkeit alles Faktischen und die Bewältigung der Wirklichkeit 13 . Entsprechend rational ist das Weltbild, das Maass Goron zuschreibt. Er glaubt an die Verbesserbarkeit der Welt, seine Aufgabe ist es, „das Böse“, über dessen Ursprung und Wesen er sich weiter keine Gedanken macht, zu beseitigen: das Böse war in der Welt, es sollte aus der Welt, seine Repräsentanten mußten unschädlich gemacht, nach Möglichkeit vernichtet werden. Keine Metaphysik, keine Psychologie - daß die Welt ihre dämonischen Hintergründe hat, ging ihn nichts an, er war diesseits; daß im dunklen Grunde der menschlichen Seele Gut und Böse ungetrennt ineinander ruhen, war ihm unbekannt, er war naiv. Diese Naivität war seine Kraft - und sie sollte ihm zum Verhängnis werden 14 . Gorons einsinnigen Machbarkeitsoptimismus zeichnet mangelndes Bewusstsein für all das aus, worum es Maass in seinem Schreiben geht. Durch die knappe, aber eindeutige Prolepse weiß der Leser von Anfang an, dass diese „Naivität“ nicht aufgehen wird (in eklatantem Widerspruch zur historischen Wirklichkeit wird Goron am Ende in den Ruhestand gedrängt, auch ist der Fall durch den Freispruch der Bompard für ihn nicht gelöst; ihm bleibt nur Resignation). Die Detektivgeschichte scheitert im Roman gerade an den Eigenschaften des Ermittlers, die im Genre einen mustergültigen Detektiv auszeichnen. 12 Ebd., S. 39. 13 Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart; Weimar, Metzler, 2009, S. 44. 14 Joachim Maass, Der Fall Gouffé. Ein Roman in zwei Büchern, Frankfurt/ M., Fischer, 1952, S. 17. Krimi - Antikrimi - Metakrimi 149 Dabei ist Goron entgegen seiner Selbsteinschätzung komplexer, als es sein eigenes rationales Weltbild zulässt. Seine zeitweisen Erfolge insbesondere bei der Identifizierung des im Roman in der Nähe von Marseille gefundenen Leichnams beruhen (gegen die historische Wirklichkeit) nicht auf logischer Auswertung von Daten, sondern auf Intuition. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit und ohne jeden Anhaltspunkt beharrt Goron im Roman nach Lektüre einer Zeitungsmeldung über einen unbekannten Toten darauf, dass dies der Leichnam Gouffé sei und erzwingt gegen viel Widerstand entsprechende Untersuchungen, die ihn dann bestätigen. Solche Intuition stört das rationale Krimi-Schema, das sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Durch Indizien soll der Leser, darauf beruht der Erfolg des Genres, in gleicher Weise wie der Detektiv dem Mörder auf die Spur kommen können 15 . Im Idealfall darf es keinen Informationsrückstand zwischen Leser und Detektiv geben. Handlungstechnisch wirkt solche Intuition aus Sicht des Genres deshalb wie eine misslungene Beweisführung. Wenn Maass nun den auch in der historischen Wirklichkeit stets rationalen Gang der Untersuchungen in seinem Roman ins Irrationale wendet und nur diesen Erfolg zeitigt, zweifelt er an der Beweiskraft der kriminalistischen Methode. Der Detektiv wird fündig, gerade weil er nicht dem Verstand, sondern seinem Instinkt folgt. Nun kann Intuition trotz ihres arationalen Charakters in der Kriminalliteratur vorkommen; unabhängig davon, ob man dies als Schwäche in der Motivation wertet oder nicht, hat sie dann affirmative Funktion: „Den Lesern wird suggeriert, dass transzendente Gewalten im Bunde mit dem ‚Guten‘ stehen, dass die Welt sinnvoll determiniert sei“ 16 . In Maass‘ Roman jedoch wird am Ende nichts als „sinnvoll determiniert“ erscheinen, die Intuition dient nicht beruhigender Einbindung der Handlung in eine Welt, die „in Ordnung“ ist, sondern als Hinweis auf einen vom Menschen nicht beherrschbaren, beunruhigenden Seinsgrund. Der Detektiv hat (vorübergehenden) Erfolg nur, weil er sich - entgegen seinem Weltbild - diesem überlässt, ohne dass dadurch ein gutes Ende der Ereignisse zu sichern wäre. Noch in dem „Im Schatten des Ruhmes“ betitelten kurzen Vorspann kündigt Maass seine Gegenfigur zu dem (im Roman) berühmten Goron an. Diese wird zunächst ohne Namensnennung nur „ein Mensch“ 17 genannt und durch diese Benennung zur Inkarnation der Menschheit. Dieser Mensch, so wird bereits auf das zweite Buch vorausgedeutet, werde nach Gorons öffentlichem Scheitern den Fall im Geheimen übernehmen, nachdem er ihn Goron ja bereits zugetragen habe. Es handelt sich um Jacquemar, die 15 Vgl. Franco Moretti, „The Slaughterhouse of Literatur“, in Franco Moretti, Distant Reading. London, Verso, 2013, S. 63-105. 16 Nusser, Der Kriminalroman, S. 62. 17 Maass, Der Fall Gouffé, S. 17. Jürgen Joachimsthaler 150 eigentliche Hauptfigur des Romans. Der Vorspann endet kontradiktorisch zu seinem Ruhm evozierenden Titel: „Die Welt, gottlob, erfährt niemals von den wirklichen Kämpfen derer, die berufen sind, ob sie nun siegen oder fallen“ 18 . Das Ende der Gesamthandlung bleibt damit an dieser Stelle noch offen, nicht offen bleibt, dass sie aus dem von Detektiv und Gericht geprägten institutionalisierten Bereichen des Kriminalgenres in geheimere, grundsätzlichere Dimensionen führen wird. Der Wille, dem Geschehen besondere Bedeutung zu unterlegen, beginnt bereits vor diesem Vorspann mit einem dem Roman vorangestellten Motto aus dem Gilgamesch-Epos, das seit seiner Wiederentdeckung (1853) lange Zeit als ältester Text und damit als eine Art mythischer Ur-Text der Menschheit gehandelt wurde 19 . Bereits in seinen Poetik-Vorlesungen hatte sich Maass darauf berufen: „Wer auch möchte bezweifeln, daß das älteste epische Werk, welches in unserem Besitze ist, einen unzerstörbaren Wert darstellt? “ 20 . Den spezifischen „symbolischen“ Wert des Gilgamesch-Epos sieht er in dessen Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit des Menschen als unausweichlichem Teil der conditio humana: Wenn in dem alten Epos der kraftstrotzende, weibergewaltige Gilgamesch um seinen Gefährten, den Urmenschen Engidu [sic! ] klagt und mit dem Bilde des Leichnams in seinem Sinn durch die Welt rennt und heult: ‚In meinem Schlafgemach wohnt der Tod, und wo ich hinfliehe, ist er, der Tod‘ - ist da nicht ein seelisch-geistiges Erlebnis symbolisiert, welches wir alle zu erfahren haben? Ist das nicht ein Symbol dafür, daß eines Tages in unserem Leben die naive Urkraft des Jungseins von uns weichen wird und wir gezwungen sein werden, die unabdingbare Schicksalsfügung des Todes, des Sterbenmüssens, in unser Bewußtsein und unser Lebensgefühl einzubeziehen 21 ? Exakt die hier aus dem Epos zitierten Worte setzt er dann seinem Roman als Motto voran: „In meinem Schlafgemach wohnt der Tod, / und wo ich hinfliehe, ist er, der Tod“ 22 . Entgegen der subkutan beruhigenden Tendenz der Kriminalliteratur, den erzählten Tod als eine durch Verbrecher begangene Straftat identifizieren und zwar nicht rückgängig machen, durch Auflösung des „Falles“ aber entschärfen (und durch Inhaftierung der Täter eindämmen) zu können, unterlegt dieses Motto dem Roman schon vorab eine düstere Sinndimensi- 18 Ebd., S. 18. 19 Vgl. Jürgen Joachimsthaler, „Die Rezeption des Gilgamesch-Epos in der deutschsprachigen Literatur“, in Sascha Feuchert et. al. (Hrsg.), Literatur und Geschichte. Festschrift für Erwin Leibfried. Frankfurt/ M., Lang, 2007, S. 147-161. 20 Maass, Die Geheimwissenschaft der Literatur, S. 20. 21 Ebd., S. 41. 22 Maass, Der Fall Gouffé, S. 3. Der Textabgleich mit den diversen Gilgamesch- Übersetzungen zeigt, dass Maass die Fassung benutzte aus Die Religion der Babylonier und Assyrer. Übertragen und eingeleitet v. Arthur Ungnad, Jena, Diederichs, 1921. Krimi - Antikrimi - Metakrimi 151 on, die ihm auch im weiteren Textverlauf systematisch einverwoben ist. Immer wieder wird explizit auf das Gilgamesch-Epos verwiesen, Jacquemar und seine Freundin Madame Cottin lesen es gemeinsam und zitieren daraus: „Sagte ich dir die Ordnung der Erde, die ich schaute, du würdest dich niedersetzen und weinen“ 23 . Jacquemar erinnert sich, in einem Gespräch über Gouffés geliebte verstorbene Frau (Jacquemars Schwester) zu Gouffé in Anlehnung an das Epos gesagt zu haben „alles geht so schnell vorüber - gestern waren wir noch Kinder, heute lieben wir eine Frau, morgen sind wir vielleicht schon tot“ 24 und Gouffés Situation nach dem Tod seiner Frau mit der von Gilgamesch verglichen zu haben, der nach dem Tod seines Freundes Enkidu aufbricht aus der Welt der Lebenden in die der Toten 25 . Manche Gespräche wirken stellenweise wie eine Reduplikation des Epos. So antwortet Jacquemar auf Gouffés Frage, ob er ewige Jugend suche: „vielleicht such ich auch die ewige Jugend. Ich will das Wirkliche sehen“ 26 . Im Gilgamesch- Epos ist dieses „Wirkliche“ der Tod. Edmond Jacquemar wird durch intertextuelle Verweise mit Gilgamesch geradezu gleichgesetzt, in einem nachgelassenen Brief Gouffés wird er explizit „Gilgamesch-Edmond“ 27 genannt. Eigentliche Gegenfigur Jacquemars ist nicht so sehr Goron als die Bompard. Anders als Jacquemar wird sie nicht zur Reinkarnation einer konkret einzelnen mythischen Figur. Maass hebt, dem tatsächlichen Umgang der zeitgenössischen Öffentlichkeit mit ihr folgend, den „Ruhm ihrer abenteuerlichen Schönheit“ 28 hervor und leitet ihre Bedeutung aus ihrer Wirkung, dem Faszinosum ihrer verstörenden Schönheit ab. In seinen Poetik-Vorlesungen hatte er, mit Blick wohl auch auf den gleichzeitig entstehenden Roman, berühmte Verse aus Rilkes Erster Duineser Elegie zitiert: „Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören“ 29 . Diese Schrecklichkeit beruht bei Rilke nicht auf Bosheit, sondern auf der Wirkung einer durch nichts Menschliches berührbaren Unerreichbarkeit jener „Engel“, denen Rilke diese Schönheit zuschreibt. Sie löst fatale Wirkungen aus ohne Zutun derjenigen, die sie auslösen. Als „Engel“ sind sie weder schuldig noch unschuldig, sondern bewegen sich in einer Zone jenseits menschlicher Moral. Bereits vor diesem Rilke-Zitat greift Maass auf das archetypische Muster der femme fatale zurück und betont die mögliche Diskrepanz zwischen Charakter und äußerer Erscheinung mit Blick auf unangenehme Wirkungen, die das Faszinosum Schönheit auslösen kann: „das 23 Maass, Der Fall Gouffé, S. 54. 24 Ebd., S. 60. 25 Ebd., S. 72. 26 Ebd., S. 60. 27 Ebd., S. 109. 28 Ebd., S. 159. 29 Maass, Die Geheimwissenschaft der Literatur, S. 23. Jürgen Joachimsthaler 152 schöne junge Mädchen hat […] keine Bedeutung, und ihr Schönheitseffekt stiftet nach vielfacher Erfahrung eher Verwirrung als besondere Geistesklarheit“ 30 . Die Bedeutungslosigkeit solcher Schönheit steht in auffälligem Kontrast zu der „Verwirrung“, die sie stiften kann - erotischer Wirkung muss nicht unbedingt eine innere Substanz der Person entsprechen, die diese Wirkung auslöst. Diese Überlegungen wirken wie eine Blaupause für die Gestaltung der Bompard im Roman. Ihrer Anmut und ihrer erotischen Anziehungskraft entspricht nichts, was Gewissheit darüber gäbe, was tatsächlich in ihr vorgeht - der Text hält ihre Darstellung systematisch ambivalent, um in den anderen Figuren (und im Leser) Fragen auszulösen, die nicht beantwortet werden: Ist sie naiv und unschuldig, ist sie kalt berechnend und bösartig, ist sie innerlich einfach nur leer oder vielleicht doch voller kaum ausgedrückter intensiver Emotion? Zunächst fällt ihre Unverfrorenheit auf. Bei Maass meldet sie sich bei der Polizei, wird jedoch von einem ungläubigen Polizisten abgewiesen und wendet sich deshalb an Jacquemar, um die von diesem ausgesetzte Belohnung auf ihre Ergreifung in Empfang zu nehmen. Sie bringe sich selbst ja gleich mit und benötige das Geld. Jacquemar ist bereits bei dieser ersten unerwarteten Begegnung fasziniert von ihr, obwohl er sie (im Gegensatz zu anderen) von Anfang an für substanzlos, amoralisch und gefährlich hält. Doch berührt ihn, ohne dass er sich dagegen wehren könnte, daß rätselhafter […] Weh und Wollust in dem lebenden Antlitz diesen Lächelnshauch hervorzauberten, etwas Sphinxhaftes, ein bleiches Mona-Lisa- Lächeln, das wirklich wohl gar nichts Inneres ausdrückte, sondern nur einem Spiel der leiblichen Natur sein Dasein verdankte 31 . Die Frage, ob sie so etwas wie Gewissen, Gefühle, ein menschliches Innenleben habe, wird ihn fortan umtreiben, hängt daran doch nicht zuletzt die Frage nach ihrer möglichen Mitverantwortung für die Ermordung Gouffés. Alle Verdächtigungen und Vorbehalte ihr gegenüber verhindern jedoch nicht, dass sie bei Jacquemar neben Verachtung und Abscheu zugleich auch Sehnsucht und Begierde auslöst: „aber ihre Schönheit erzeugte ein unabweisbares, namenloses Dürsten, das, wenn es geschlechtlich war, dem Geschlecht eine neue Bestimmung in der Welt zu geben schien“ 32 . Dass ihr Anblick dem Geschlecht „eine neue Bestimmung in der Welt“ zu geben verspricht, verweist auf lockend Unerahntes, auf das gewohnte menschliche Maß übersteigende Bedürfnisse und Befriedigungen, die in Kombination mit den zugleich vorhandenen negativen Gefühlen ihr gegenüber genau Maass’ Absicht entsprechen, „Triebregungen“ zu evozieren, „die der unaufrichti- 30 Ebd., S. 24. 31 Maass, Der Fall Gouffé, S. 161. 32 Ebd., S. 161 f. Krimi - Antikrimi - Metakrimi 153 gen Gefühligkeit der Konvention ärgerlich und peinlich sein mögen, aber nichtsdestoweniger unausweichliche Teile und wesentliche Kräfte unserer menschlichen Existenz bedeuten“ 33 - und mithin in genau jene Abgründe führen, die der von Maass abgelehnte Standard-Krimi mit seiner Schablonenhaftigkeit nicht zu erfassen vermag. Um dies zu verdeutlichen, muss die Figur Bompard durch die narrativen Muster Detektivgeschichte und Gerichtsverhandlung hindurchgehen, ohne von ihnen erfasst werden zu können - ihr Freispruch ist auch eine narratologische Aussage über die Zugriffskraft von Erzählmustern und verweist über die Grenzen des mit diesen Verfahren überhaupt Erzählbaren hinaus. Dabei fungiert die Bompard vorrangig als bloße Auslöserin von Vermutungen und Gefühlen in Jacquemar (und seinen Zeitgenossen). Der ansonsten auktoriale Erzähler vermeidet jeden Blick in ihr Inneres und produziert so erst ihre Rätselhaftigkeit. Die unauflösbare Widersprüchlichkeit der von ihr gleichzeitig in ihm hervorgerufenen gegensätzlichen Emotionen macht Jacquemar hilflos, und er fühlte: was ihm seinen Haß zu entmannen drohte, war etwas, dessen er sich niemals gewärtig gewesen wäre, bis es ihm in dieser Sekundenfrist wie Unwiderstehlichkeit und Unbesieglichkeit ins Herz brandete - es war eine Unschuld in dieser Person, die er am Tod Gouffés schuldig nicht glaubte, sondern wußte, nämlich mit jenem Wissen, das des Beweises so wenig bedarf wie das Atmen des Entschlusses 34 . Spätestens an diesem Punkt unterläuft der Roman jede genre-übliche Unterscheidbarkeit von Schuld und Unschuld. Jacquemars Gewissheit über die Bompard beruht - wie die Gewissheit Gorons über die Identität des bei Marseille gefundenen Leichnams - auf purer Intuition, die durch keine Indizien und tatsächlichen Beweise gestützt wird. Im Gegensatz zu Goron öffnet er sich freilich der Widersprüchlichkeit seiner Wahrnehmungen und Eindrücke - der Roman erreicht in der Figur Jacquemars jene psychologische Tiefe, die Maass in seinen Poetik-Vorlesungen dem Genre entgegengesetzt hatte. Dass anfangs angekündigt wurde, der „Mensch“ (Jacquemar) werde Goron, den Detektiv, ablösen, lässt sich so auch als poetologische Aussage in Maass’ Auseinandersetzung mit dem Genre begreifen. Jacquemar ist Anti- Detektiv, dieser Kriminalroman Anti-Krimi. Nicht nur Jacquemar, auch die Erwartungen der Leser soll die Bompard verstören. Sie bestreitet im Verhör nicht, Gouffé ins Haus gelockt zu haben und berichtet, ihm in spielerischer Neckerei jenen Strick um den Hals gelegt zu haben, mit dem Eyraudt Gouffé dann unmittelbar darauf erstickte, all dies unter 33 Unveröffentlichte Notiz aus Maass‘ Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach, zit. nach Sya, Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse, S. 75. 34 Maass, Der Fall Gouffé, S. 162. Jürgen Joachimsthaler 154 Dreingabe kompromittierendster Einzelheiten, zu denen sie am Ende nicht einmal genötigt war und die also ihre Wahrheitsliebe in ein um so auffälligeres, grelles Licht rückten, mit naiver Hartnäckigkeit nicht sowohl auf ihrer Unschuld als geradezu auf dem Recht ihrer Unschuld 35 . bestehend, so dass alle Schuld allein Eyraudt treffen soll, der seinerseits nur immer wieder hilflos betont: „Ich war vollkommen in ihrer Gewalt! “ 36 . Viele Einzelheiten bis hin zu ihrer überraschenden Äußerung, Gouffé sei letztlich selber schuld und hätte sein Schicksal vermeiden können, hätte er sich eindeutig zu einer festen Beziehung mit ihr entschieden, werden mit ungerührter Naivität geäußert und lösen selbst in dem seiner Sache sonst so sicheren Goron ratlose Verzweiflung aus über ihre Persönlichkeit, diese perverse Süße mit dem unverschämten Strahlen, das bei den scheußlichsten Nebengeständnissen nicht aufhörte und wohl gar nicht aufhören konnte, was ihrer grundsätzlichen Leugnung das rätselhafte, verstimmende Gewicht verlieh 37 . Sie ist die durch keine Zweifel beeinträchtigte Selbstgewissheit, eine eigenartig amoralische „Unschuld“ noch inmitten grausigsten Geschehens, das ohne sie nicht hätte stattfinden können. Ihre öffentliche Wirkung (auch bei Maass wird sie von den Massen umjubelt 38 ) beruht nicht zuletzt auf der Ratlosigkeit, die sie auslöst. Weil Gültiges über sie nicht gesagt werden kann, wird sie zur Projektionsfläche vom dunklen Geheimnis angestachelter Bedürfnisse, ein Air des Legendären wob sich um dieses junge Weib, nach deren Fleisch es heimlich jeden auf seine Art gelüstete, unerachtet oder auch gerade im Genuß des süßen Schauers, daß ihre Umarmung Verderben versprach, wie die der Gottesanbeterin, die in der Begeisterung der Liebe ihren Gatten verzehrt, denn einen älteren Reim als Liebe und Tod kennt kein lebendes Wesen 39 . Was sie auslöst, sind ans Perverse, an die Bereitschaft zur Selbstaufgabe reichende Gelüste, die in ein Form- und Grenzenloses jenseits aller Moral und Alltäglichkeit drängen, wo Mord voll Zärtlichkeit ist und Liebe in Grausamkeit und Kannibalismus übergeht. Animalisches regt sich, düstere Triebe erscheinen als geheimer Untergrund allen menschlichen Seins. Die Bompard erzeugt dies alles nicht, sie rührt es nur an, weckt es auf. Es ist da, auch ohne sie. So wie sie Jacquemar aufwühlt, erregt der ganze Fall (und nicht nur sie allein) in den Pariser Massen dies unkontrollierbar Archa- 35 Ebd., S. 178. 36 Ebd., S. 353. 37 Ebd., S. 179. 38 Ebd., S. 281. 39 Ebd., S. 194. Krimi - Antikrimi - Metakrimi 155 ische. Noch vor Klärung des Verbrechens lösen erste Pressartikel Massenhysterie aus, vom Erzähler in einer Passage voller intertextueller Anspielungen auf Thomas Manns Doktor Faustus beschrieben als „das wüste Treiben […], dieser Hexensabbat von Scharlatanerie, Perversion, Perfidität und versuchtem Betrug“ 40 . Maass‘ Erzähler versucht, dieses Gären an einer Stelle auch im Leser auszulösen, der durch inneren Nachvollzug unmittelbar physisch in sich spüren soll, was da vorgeht. Die körperliche Wirkung der Ereignisse wird dort nicht mehr einer konkreten Figur zugeschrieben, sondern suggestiv als eine allgemeinmenschliche Reaktion dargeboten, die unvermeidlich bei jedem Menschen eintritt, weil die Faszination des Bösen (seit alters stärker als die des Guten) […] heimliche Schauer zwischen den Schulterblättern und in der Magengrube verhieß, die einzige Reizung, die die Süße der Wollust erreicht und womöglich übertrifft 41 . Der empirische Autor nahm sich selbst davon keineswegs aus: Maass hatte zunächst so große Schwierigkeiten mit der Beschreibung der Bompard, dass er die für sie vorgesehenen Textstellen vorerst einfach leer ließ - bis er seine spätere Geliebte und schließlich Ehefrau traf. Der Eindruck, den sie bei ihrer ersten Begegnung auf ihn machte, floss in seine Beschreibung der Bompard ein 42 . Mit biographischen Informationen ist vorsichtig umzugehen: Diese Einschreibung einer für ihn zentralen erotischen Begegnung in die Figur der Bompard zeigt, wie bewusst Maass sie auflud mit Eigenschaften, die auch ihn, den Autor selbst, existenziell anrührten. Im Text soll ja mit allen Mitteln, und sei es unter Verwertung von intim Privatem, eine alle Vernunft auslöschende Wirkungsmacht evoziert werden, der kein Gerichtsprozess der Welt beikommen kann. Jedes Urteil über die Bompard, egal wie es ausfällt, soll eine hoffnungslos oberflächliche Verkürzung sein. In der im Roman erzählten Gerichtsverhandlung verfängt das Verfahren sich denn auch in unauflösbaren Paradoxien: Zurechtgestutzt zur lächerlichen Minimalanklage wegen nicht erstatteter Anzeige wird gegen die Bompard gleichwohl verhandelt, was gar nicht zur Debatte steht, ihre Schuld oder Unschuld - nicht mehr unbedingt nur an der Ermordung Gouffés, sondern darüber hinaus grundsätzlich eine Schuld oder Unschuld, von der nicht mehr spezifiziert wird, woran denn nun genau sie eigentlich schuldig oder unschuldig sein soll. Es geht um Schuld und Unschuld an sich. Für die Charakterisierung der Bompard von besonderem Gewicht ist das Plädoyer ihres Verteidigers. Dieses nimmt 36 Seiten im Roman ein 43 und damit ca. ein Drittel der Prozessbeschreibung, obwohl der Prozess gegen sie 40 Ebd., S. 90. 41 Ebd., S. 138. 42 Sya, Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse, S. 76 f. 43 Maass, Der Fall Gouffé, S. 363-396. Jürgen Joachimsthaler 156 nur wegen unterlassener Anzeige eher eine Marginalie im Mordverfahren gegen Eyraudt ist. Ihr Verteidiger unterstellt ihr „[e]ine Unschuld sehr hohen Grades, eine Wesensunschuld“ 44 . Seine Vorstellung von „Unschuld“ lädt er auf mit erotischen Projektionen, die übergehen in mythisierende Wunschbilder von heiliger Sexualität in archaischen Religionen: Ja, eine unio mystica ist ihr, wenn ich richtig sehe, die geschlechtliche Vereinigung und kann gerade deswegen vielleicht zu exzessiv gar nicht sein, ähnlich wie je wilder desto gottgefälliger einst die bacchantischen Weiberhorden ihre Brunst und die ithyphallische Gier der Männer stachelten, ähnlich auch wie in andern alten Religionen Priesterinnenschaft und Prostitution aus heiligen Gründen Hand in Hand gingen und die der Göttin Geweihten die Hingabe an jedweden als heilige Pflicht ausübten 45 . Eine eigenartig wilde, grausame „Unschuld“ ist das, die der Verteidiger da entwirft, genährt von diffusen (mittlerweile umstrittenen) Vorstellungen von Tempelprostitution, die noch für Maass zum unhinterfragten Bildungsschatz über die frühen Hochkulturen Mesopotamiens gehörten. Indem der Verteidiger die Bompard assoziativ derart anreichert, wird auch sie in den mythischen Vorstellungsbereich eingelagert, den das Gilgamesch-Epos eröffnet, allerdings wird sie nicht so eindeutig mit einer der Figuren des Epos identifiziert wie Jacquemar mit Gilgamesch. Eher wird sie zu einem naturimmanenten, fast schon kosmischen Prinzip überhöht, das Sexualität ebenso einschließt wie Leben und Tod. Ihr Verteidiger bringt sie denn auch in Verbindung mit verbreiteten Vorstellungen einer matriarchalen „großen Göttin“, die seit Bachofen und Ranke-Graves zu den in mythische Vorzeiten projizierten Mythen der Moderne gehört. Stellenweise ist nicht einmal mehr klar, ob der Verteidiger noch von der Bompard spricht, oder nur die Gelegenheit nutzt, sein mythologisches Wissen auszubreiten, das sich natürlich dennoch auf die Bompard abbildet: Jungfräulich und mütterlich war sie seit eh und je, und peinliche, wenngleich geheiligte Nachrede will, daß die Jungfräuliche in grauer Vorzeit nicht nur mit einem Sohn niederkam […], sondern skandalöserweise mit ihm ein Liebesverhältnis unterhielt, welches einen üblen Aufgang nahm; denn […] sie entmannte und zerstückelte ihn. Es war, kurz gesagt, Mutter Natur oder schlechthin die Natur 46 . Diese Mythisierung bleibt jedoch zwiespältig und ambivalent, wird die Bompard doch dadurch verknüpft mit der sakralen Grausamkeit in vorgestellten matriarchalen Kulten. Im Kontext dieser pseudo-archaischen modernen Mythen impliziert „Natur“ naive Grausamkeit und grausame Naivi- 44 Ebd., S. 376. 45 Ebd., S. 386. 46 Ebd., S. 386 f. Krimi - Antikrimi - Metakrimi 157 tät. Die Bompard wird damit aller Kultur entrückt und zu einem nicht mehr wirklich menschlichen Wesen, das den von seinen zivilisatorischen Banden eingeengten Kulturmenschen mit eben dem zugleich anlockt und verschreckt, was er in sich spürt, aber nicht zulässt - bis es die Bompard erweckt: „Ihre ‚Schuld‘ besteht darin, daß vor ihr jedermann wird, was er ist“ 47 . Ein derartiges Plädoyer nach einer (offensichtlich falschen) Anklage wegen einer nicht erstatteten Anzeige sprengt jedes juristisch vernünftige Maß. Es geht nicht mehr um den Gerichtsprozess, Maass nutzt diesen nur, um mit dessen textuellen Mitteln ein Bild der Bompard zu entwerfen, das nicht in die Textsorten Plädoyer und Prozessbericht passt und diese sprengt. Das Gericht weiß (im Roman) der Bompard nichts entgegenzusetzen. Im kürzeren zweiten Buch des Romans verlagert sich der Schauplatz nach Amerika, in die Weite einer oft kaum berührten Natur. Die Bompard kommt nun in jene „natürliche“ Ursprünglichkeit, mit der sie von ihrem Verteidiger gleichgesetzt wurde. Jacquemar verfolgt sie in der Absicht, ihr Geheimnis zu ergründen und ihre Schuld zu beweisen. Dabei kommt er ihr so nahe wie möglich, beginnt gar eine Liebesbeziehung mit ihr und kann sich immer weniger ihrem Sog entziehen, ohne doch je die Schuldfrage eindeutig beantworten zu können. Letztlich begegnet er auf der Suche nach ihrem wahren Wesen nicht ihr, sondern sich selbst. Das erste Kapitel des zweiten Buches trägt den bedeutungsschweren Titel „Jacquemars Aufbruch und Überfahrt“ 48 und erinnert an die literarische Tradition der Höllen- und Hadesfahrt, wie sie in der zwölften Tafel des Gilgamesch-Epos, aber auch in der Nekyia im 11. Gesang der Odyssee, in Vergils Aeneis, in Thomas Manns Zauberberg, in Hermann Kasacks Stadt hinter dem Strom (1947), Hans Erich Nossacks Nekyia (1947) und vielen anderen Texten evoziert wird. Die Begegnung mit der Bompard wird für Jacquemar zur Begegnung mit seiner eigenen Existenz und deren Vergänglichkeit, höchste Lebensfülle im Liebesakt und Untergang gehen unmittelbar ineinander über: Jacquemar liebte sie auf dem Bett, er fühlte sich heiß und eng umschlossen, und sein ganzes Wesen bestand aus nichts mehr als dem Drange, ein Überfülliges in seinem Leibe loszulassen in diese unsäglich reizhafte, zuckende, melkende Umschließung, denn aus dem Schoße kommen wir, zum Schoße drängen wir und haben keine Heimat sonst für unsre Lebensnot, um die ganze Erde würden wir pilgern für diese einzige, unaussprechliche Erfüllung, in der, wie in einem magischen Lichtbogen, Ich und Welt zusammenschießen: einmal EINES, was sonst zweierlei, zu unsrer Qual getrennt und einander zuwider ist. Nie inniger in seinem Leben hatte Jacquemar sein Ich 47 Ebd., S. 391. 48 Ebd., S. 427. Jürgen Joachimsthaler 158 gespürt, nie wollüstiger es an die Nacht verloren: denn es war die Nacht, das Dunkel und das Nichts, woran er sich verlor 49 . Der Kriminalfall verwandelt sich spätestens jetzt zu jener Suche nach dem Leben und dem Reich des Todes, die schon dem Gilgamesch-Epos sein existenzielles Gewicht verleihen. Die Beziehung zwischen beiden ist (aus seiner Sicht) durchzogen von Zweifeln und Verdächtigungen und schließt Gewalt (von beiden Seiten! ) nicht aus. Die äußere Handlung dieses Beziehungs-Thrillers ist eine unter Anleitung der Bompard vorgenommene Reisebewegung vom Osten der USA durch immer entlegenere, abenteuerlichere, zugleich aber immer stärker sakral aufgeladene Landschaften in den Westen, an die Pazifikküste, während derer die Bompard mehr und mehr der mythisierenden Beschreibung durch ihren Verteidiger zu entsprechen beginnt - sie ist Natur, nicht „gute“ Natur, sondern amoralische Natur, zärtlich und grausam in einem, lockend und gefährlich, naiv, ohne jedes moralische Gefühl für Schuld und Unschuld und gnadenlos egoistisch. Die letzte, finale Szene des Romans spielt am westlichen Ende des amerikanischen Kontinents, sozusagen am äußersten Punkt des „Abendlandes“, von dem aus, mythologisch betrachtet, der Weg nur noch durch das Reich des Todes in das neue Morgen des Orients führen kann, am Rand des Festlandes, quasi der Welt. Bei einem symbolisch hoch aufgeladenen letzten Mahl spricht Jacquemar zu ihr Worte, die wie eine Fortsetzung der Worte ihres Verteidigers wirken - und fast wie ein Gebet, der Anruf einer grausamen Göttin, von der Jacquemar nach wie vor annimmt, dass sie womöglich trotz all ihrer Macht substanzlos sei, nichtig, innerlich leer: Du, die ich nie bei Namen nannte, du Namenlose du, hab Dank, du hast mich viel gelehrt. Zog ich doch aus nur um des Rechtes willen und, wenn’s das Recht nicht sein konnte, so sollte es die Wahrheit sein. Recht, Wahrheit, Urteil und Geständnis, das alles ist zerschellt an meiner Schwäche, deiner Nichtigkeit! […] Statt aller Antwort, die ich so begehrt, keucht nur das Stöhnen deiner Lust mir im Ohr. Wir ewig Unvollendbaren, was soll uns unsres Geists Durst! […] Ich hab‘ kein Recht mehr, dich zu richten, in deiner Liebe ward selbst das zunichte 50 . Am Ende und gewissermaßen zum Höhepunkt des Mahls, nach dem er sich von ihr trennen will, schießt sie auf ihn und gibt sich damit zumindest soweit zu erkennen, dass sie eines Mordes sehr wohl fähig ist (ohne dass dies bereits letzte Aufklärung für den Fall Gouffé mit sich brächte). Jacquemar überlebt, von ihr unbemerkt, verletzt und schleppt sich, nachdem sie den Schauplatz verlassen hat, fort. Unklar ist, ob er dauerhaft überlebt. Das Buch 49 Ebd., S. 508. 50 Ebd., S. 668. Krimi - Antikrimi - Metakrimi 159 endet mit dem Bewusstsein seiner Sterblichkeit, unaufgelöst, offen. Maass lässt, juristisch betrachtet, den Leser hilflos zurück mit dem ‚richtigen‘ Ergebnis, die Bompard sei der Nichterstattung der Anzeige nicht schuldig und der unbefriedigenden Leere, die sich hinsichtlich einer Tatbeteiligung der Bompard auftut 51 . Doch was, wenn es um die Erzeugung gerade dieser „unbefriedigenden Leere“ geht? Gezielt unterläuft der Roman jedenfalls die plot-Muster, die er nutzt: Die Detektivgeschichte führt zu unzureichender Aufklärung, der Gerichtsprozess letztlich zu nichts, und auch der Thriller endet mit Ungewissheit sogar über das Überleben des Protagonisten. Was aus der Bompard wird, entzieht sich jeder Vermutung und Vorstellung. Die Schuldfrage ist in unerreichbare Ferne gerückt genau in dem Moment, in dem sie beantwortet zu sein scheint - der Held selbst ist kontaminiert durch das, was er zu bekämpfen auszog und kann sich nicht mehr wirklich davon unterscheiden. Begründet der traditionelle Krimi seinen Erfolg durch „eine kleine Modellkrise, die verwirrende Unbestimmtheit erzeugt und darin einen Moment von Freiheit aufscheinen lässt, bevor er am Ende mit der banalisierenden Problemlösung wieder verschwindet“ 52 , so verweigert sich Der Fall Gouffé jeder Problemlösung. Der Roman lässt nirgendwo wirklich „einen Moment von Freiheit aufscheinen“, er evoziert in Anlehnung an das Gilgamesch-Epos die Ausweglosigkeit des Todes und existenzielle Verworren- und Verworfenheit. Dass Maass Krimistrukturen nutzt, um deren ungenügende Funktionsfähigkeit vorzuführen, erhebt diesen Anti-Krimi zugleich zum Meta-Krimi, der auf struktureller Ebene auch ein Roman über das Genre selbst ist. Er will zeigen, wie wenig es zu erfassen vermag, indem er über es hinausverweist in Bereiche, in deren Richtung der mit genre-Mitteln agierende Text zwar zeigen und drängen, in die er aber mit diesen Mitteln nicht mehr vordringen kann. 51 Sya, Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse, S. 270. 52 Dieter Wellershof, „Vorübergehende Entwirklichung. Zur Theorie des Kriminalromans“, in Dieter Wellershof, Literatur und Lustprinzip. Essays. München, dtv, 1975, S. 77-138, hier S. 105. Jürgen Joachimsthaler 160 Bibliographie [Gilgamesch-Epos], Die Religion der Babylonier und Assyrer. Übertragen und eingeleitet v. Arthur Ungnad, Jena, Diederichs, 1921. Jürgen Joachimsthaler, „Die Rezeption des Gilgamesch-Epos in der deutschsprachigen Literatur“, in Sascha Feuchert et. al. (Hrsg.), Literatur und Geschichte. Festschrift für Erwin Leibfried. Frankfurt/ M., Lang, 2007, S. 147-161. Uwe Laugwitz, „Maass, Joachim“, in Neue deutsche Biographie, Bd. 15, Berlin, Duncker & Humblot, 1987, S. 598-599. (hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). Joachim Maass, Die Geheimwissenschaft der Literatur. Acht Vorlesungen zur Anregung einer Ästhetik des Dichterischen, Berlin, Suhrkamp Verlag vormals S. Fischer, 1949. Joachim Maass, Der Fall Gouffé. Ein Roman in zwei Büchern, Frankfurt/ M., Fischer, 1952. Franco Moretti, „The Slaughterhouse of Literatur“, in Franco Moretti, Distant Reading. London, Verso, 2013, S. 63-105. Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart; Weimar, Metzler, 2009. Gitta Schaaf, Joachim Maass, Hamburg, Christians, 1970. Dieter Sevin, „Joachim Maass. Exil ohne Ende“, in Colloquia Germanica, 14, 1981, S. 1- 25. Anja Sya, Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse. Joachim Maass‘ Roman „Der Fall Gouffé“ und sein Verhältnis zur historischen Vorlage, Baden-Baden, Nomos, 2001. Dieter Wellershof, „Vorübergehende Entwirklichung. Zur Theorie des Kriminalromans“, Dieter Wellershof, Literatur und Lustprinzip. Essays. München, dtv, 1975, S. 77-138. Andrey Kotin Das Böse der Banalität Vladimir Nabokovs König, Dame, Bube als künstlerischer Antikrimi Wort vs. Mord - Nabokov und Kriminalromane Vladimir Nabokov, einer der eigenartigsten Außenseiter der Weltliteratur, mochte weder Krimis noch Deutschland. Trotzdem - oder vielleicht eben deshalb - sind alle drei Hauptfiguren seines zweiten russischsprachigen Romans König, Dame, Bube Deutsche und im Zentrum der Handlung steht ein geplanter Mord. Der Plot an sich ist so simpel, dass er sich in einem Satz zusammenfassen lässt. Franz, jung und arm, kommt aus seiner provinziellen Heimatstadt nach Berlin, um im Laden seines wohlhabenden Onkels Dreyer zu arbeiten, verliebt sich in dessen Frau Martha, verfällt ihrem gefährlichen Charme, beschließt zusammen mit ihr, Dreyer zu töten, aber der Versuch scheitert, und schließlich stirbt Martha an einer äußerst schicksalhaften Lungenentzündung. Nabokovs Antipathie Deutschland gegenüber ist ein viel zu komplexes und vielseitiges Thema (Franz Kafka hat er immerhin als einen der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gepriesen) 1 , um es hier explizit zu beschreiben. Auf einige Aspekte seines höchst subjektiven Deutschlandbildes, die ihre Widerspiegelung im gewählten Text fanden, wird des Weiteren zwar eingegangen, im Zentrum der Analyse steht aber vor allem die Art und Weise, auf die Nabokov die klassischen Genre-Klischees präpariert und zu Zwecken benutzt, die in radikaler Opposition zur weit verstandenen Trivialliteratur stehen. Ein damit unmittelbar verbundenes Randthema ist auch Nabokovs Verhältnis zum Verbrechen als solchem, seine ,Philosophie des Verbrechens‘, denn Nabokov ist ein überwiegend philosophischer Autor. Dieses wegweisende und heute schon unbestrittene Element von Nabokovs Prosa wurde bei der Rezeption seiner Bücher längere Zeit missachtet und erlebt erst seit letzten zwei Jahrzehnten sein etwas verspätetes Aufblühen 2 . 1 Vladimir Nabokov, „Nabokov o Nabokove i prochem“ [„Nabokov über Nabokov und Sonstiges“], in Nezavisimaja Gazeta, 2002, S. 172. 2 Darunter werden in erster Linie die Arbeiten von Gennady Barabtarlo, Vladimir Alexandrov, Brian Boyd, Donald Barton Johnson und Leszek Enkelking gemeint. Andrey Kotin 162 Auf den ersten Blick mag Nabokovs Abneigung gegen Krimiliteratur typisch für einen ,großen Autor‘ scheinen - ein Verhalten, das immer eine Prise Snobismus in sich hat. So liest man z.B. in einem seiner Interviews: „Es gibt einige Art erzählender Prosa, die ich nie anrühre - Kriminalromane beispielsweise, die mir ein Greuel sind“ 3 . Nichts wäre jedoch falscher als darin das übliche schriftstellerische Misstrauen in Bezug auf die Unterhaltungsliteratur zu sehen. Nabokov war ja selbst der Meinung, die Kunst sei ein „göttliches Spiel“ - ein Spiel, weil jedes literarische Werk eine Fiktion sei; göttlich, weil der Schaffensprozess den Menschen seinem Schöpfer annähert 4 . Er lehnte das Krimigenre also keineswegs deshalb ab, weil die Kriminalromane sich nicht mit ernsten Themen beschäftigen, etwa den sozialen oder politischen Problemen. Nichts war Nabokov so fremd wie die ,engagierte Literatur‘ mit ihrem hervorstechenden humanistischen Pathos und kühnen Weltveränderungsambitionen. Was er aber nicht leiden konnte, waren sämtliche Erzählungsschemata - alles, was sich unter dem Oberbegriff der Banalität versteckt. Dabei geht es mehr um die Form des Erzählens als um die im Text beleuchtete Problematik, wobei man unterstreichen sollte, dass Form und Inhalt in Nabokovs Kunstvision eng verzahnt sind. Den Kriminalromanen warf er nicht die Oberflächigkeit ihrer Handlung vor, sondern das ,Genrehaftige’ (und damit Banale) an ihnen. Interessant ist, dass Bertolt Brecht eben aus demselben Grund das Kriminalgenre der sogenannten ,hohen’ bzw. ‚schönen‘ Literatur zuzählte: Die Tatsache, daß ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau. Es ist eines der Merkmale eines kultivierten Literaturzweigs. […] Es gibt eine Menge von Schemata für den Kriminalroman, wichtig ist nur, daß es Schemata sind 5 . Diese „Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente“ war genau das, was Nabokov als öde Schablonenmixtur zu entlarven suchte, indem er behauptete, die Kriminalliteratur sei, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine „Art Collage, die mehr oder weniger originelle Rätsel mit konventioneller und mittelmäßiger künstlicher Technik kombiniert“ 6 . Das Schlüsselwort ist hier: Technik. Nabokov sagt nichts über den Inhalt von Kriminalromanen. Die Technik aber ist wichtig, und zwar verurteilt er an dieser Technik diejenigen Kunstgriffe, die für Brecht das Kennzeichen eines „kultivierten 3 Vladimir Nabokov, Deutliche Worte, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1993, S. 76. 4 Vgl. Vladimir Nabokov, Lekcii po russkoj literature [Vorlesungen über die russische Literatur], St. Petersburg, Azbuka, 2009, S. 176. 5 Bertolt Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman II. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München, W. Fink, 1971, S. 315-321, hier S. 316. 6 Nabokov, Deutliche Worte, S. 206. Das Böse der Banalität 163 Literaturzweigs“ ausmachen. Mit einfachen Worten: nach Brecht, ist das Kreieren der Schemata eine der wichtigsten Aufgaben der Literatur; nach Nabokov besteht ihre Kraft in ihrer eigensinnigen Originalität. Nabokovs Kunstcredo lautet somit: je freier von jeglichen Erzählungsmustern, desto literarischer. Das blinde Dreieck - Zur Figurenkonstellation und Erzählstrategien in König, Dame, Bube In seinem zweiten Roman König, Dame, Bube setzt Nabokov alle möglichen Genreschablonen ins Spiel, nicht nur die eines mustergültigen Krimis. Banal ist allein das erprobte Dreieck ,Mann-Frau-Liebhaber‘. Dazu kommt noch die Tatsache, dass Franz viel jünger und viel ärmer als Dreyer ist. Gekrönt wird der Klischeeweihnachtsbaum schließlich mit dem geplanten Mord des Ehemannes, obwohl diese Idee erst ungefähr in der Hälfte des Romans auftaucht. Der Erzählstil ist dagegen alles andere als banal, wovon bereits der einladende prophetisch-poetische Anfang zeugt: Der riesige schwarze Uhrzeiger steht noch still, wird aber gleich seine Einmal-pro-Minute-Geste vollziehen; und dieser federnde Ruck wird eine ganze Welt in Bewegung setzen. Das Zifferblatt wird sich langsam abwenden, voller Verzweiflung, Verachtung und Langeweile, so wie einer nach dem anderen die Eisenpfeiler vorbeiwandern und das Gewölbe der Bahnstation als gleichmütige Gebälkträger fortschleppen werden […] Es waren mehr Frauen da als Männer, wie immer bei den Abschieden. Franzens Schwester, die Blässe der frühen Stunde auf ihren schmalen Wangen […] und seine Mutter, klein, rundlich, wie ein kompakter kleiner Mönch. Sieh die Taschentücher, wie sie zu flattern beginnen 7 . Bereits der erste Satz überrascht mit seiner erfrischenden Doppeldeutigkeit. Der „federnde Ruck“ wird nämlich nicht nur „eine ganze Welt“, sondern zwei Welten „in Bewegung setzen“. Erstens, ist es derjenige künstlerische Raum, in dem sich der Protagonist Franz befindet, d.h. der abfahrende Zug; zweitens, ist es die Welt des Romans, die Story selbst, die erst mit dieser Zugabfahrt ihren Lauf nimmt 8 . Gleich danach bekommt man eine eingehende Charakteristik, was für ein Mensch Franz ist: Franz erreichte das Ende des Wagens und blieb dann, von einem außerordentlichen Gedanken durchzuckt, stehen. Dieser Gedanke war so süß, so kühn und aufregend, daß er seine Brille abnehmen und sie putzen mußte. „Nein, kann ich nicht, kommt nicht in Frage“, flüsterte Franz und war sich doch bereits klar, daß er der Versuchung nicht widerstehen konnte. Dann 7 Vladimir Nabokov, König, Dame, Bube, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1999, S. 7-8. 8 Vgl. L. L. Lee, Vladimir Nabokov, London, Twayne, 1976, S. 41. Andrey Kotin 164 prüfte er den Knoten seiner Krawatte mit Daumen und Zeigefinger […] und betrat mit einem auserlesenen sackenden Gefühl in der Magengrube den nächsten Wagen. Es war ein Schnellzugwagen zweiter Klasse, und für Franz war die zweite Klasse etwas strahlend Anziehendes, sogar leicht sündig […] Von der ersten Klasse konnte man nicht einmal träumen - die war Diplomaten, Generälen und nahezu unirdischen Schauspielerinnen vorbehalten! Die zweite aber… die zweite… 9 Ein junger Mann aus der Provinz, der nicht nur dem ganz und gar stereotypen Denken verfallen ist („unirdische Schauspielerinnen“), sondern das Leben ausschließlich in dessen materiellen, lieferbaren Dimension zu schätzen weiß. Nicht die Reise an sich regt ihn an, sondern die damit verbundenen sozioökonomischen Privilegien, die manchmal eine beinahe lyrische Färbung bekommen, wie z.B. im folgenden erbarmungslos ironischen Ausruf: „Berlin! Schon in dem Namen der noch unbekannten Hauptstadt, im Gerumpel und Geratter der ersten Silbe und im leichten Klingen der zweiten war etwas, das ihn erregte wie die romantischen Namen guter Weine und schlechter Frauen“ 10 . Die erste Klasse eines Schnellzuges macht den Gipfel seiner Bestrebungen aus. Als Franz dieser ersten Versuchung nachgibt, gerät er in die Falle der zweiten Versuchung, diesmal ausgesprochen sinnlicher Natur: Das Abteil, in das Franz mit einer schweigenden unbeachteten Verbeugung eintrat, war von nur zwei Personen besetzt - einer schönen Dame mit strahlenden Augen und einem mittelalten Mann mit getrimmtem lohfarbenem Schnurrbart. […] Betäubt vom Luxus hielt er die ausgebreitete Zeitung vor sich und betrachtete hinter ihr hervor seine Mitreisenden. Oh, sie waren bezaubernd. Die Dame trug ein schwarzes Kostüm und einen winzigen schwarzen Hut mit einer kleinen diamantenen Schwalbe. Ihr Antlitz war ernst, ihr Auge kalt, ein feiner dunkler Flaum, das Zeichen der Leidenschaft, schimmerte über ihrer Oberlippe […] 11 Es ist äußerst wichtig, dass das erotische Verlangen aus der allgemeinen prachtvollen Atmosphäre resultiert. Franz betrachtet Martha „betäubt von Luxus“. Sein Verhältnis zu ihr ist von Anfang an rein physisch, von einem tieferen Gefühl oder gar emotioneller Bindung kann in seinem Fall keine Rede sein, was in weiteren Kapiteln noch deutlicher gezeigt wird. Es handelt sich dabei aber auch um keine primären, animalischen Instinkte. Weder haltlose Lüsternheit noch wilde Leidenschaft führen ihn zu seiner späteren Liebhaberin. Martha bildet einen Teil dieser großen glühenden reichen Welt, von der Franz schon immer geschwärmt hat. Nun ahnt er die Möglichkeit 9 Nabokov, König, Dame, Bube, S. 12-13. 10 Ebd., S. 23. 11 Ebd., S. 14. Das Böse der Banalität 165 voraus, diese Welt zu erobern, die von der anziehenden Frau im „winzigen schwarzen Hut“ verkörpert wird: Franz, der sich bisher hinter seiner Zeitung in einem Zustand glückseliger Nichtexistenz versteckt […] hatte, begann nun, sich bemerkbar zu machen, und blickte die Dame offen und fast arrogant an. […] In dem Augenblick, da er der Macht, die seinen Gaumen aufzwängen wollte, nicht mehr widerstehen konnte und krampfhaft den Mund aufriß, geschah es, daß Martha ihn ansah, und unter Zähnefletschen und Weinen wurde ihm bewußt, daß Martha bewußt wurde, daß er sie angeschaut hatte. Die morbide Glückseligkeit, die er kurz zuvor empfunden hatte, als er ihr sich auflösendes Gesicht betrachtete, wandelte sich in scharfe Verlegenheit. […] als sie sich abwandte, berechnete er im Geiste, als ob seine Finger sich über die Zahlenrillen eines geheimen Rechenbrettes bewegten, wie viele Tage seines Lebens er dafür gäbe, diese Frau zu besitzen 12 . Das Verb „besitzen“ wird dabei natürlich nicht zufällig benutzt. Martha ist für Franz eine Art Ware im exklusiven Einkaufszentrum - eine Ware, die er sich früher nie hätte leisten können, jetzt aber fühlt er sich selbstsicher und bereit, die zweite Klasse der Existenz hinter sich zu lassen und ein neues, glanz- und qualitätsvolles Leben zu feiern. Ein Menschentypus, wie man ihn aus mehreren Werken europäischer und amerikanischer Literatur kennt. Auch Martha stellt als Figur eine hoffnungslos banale Variante einer gelangweilten und unerfüllten Ehefrau dar. Ihren Mann hat sie nie richtig geliebt, aber eine Heirat mit erfolgreichem Geschäftsmann schien ihr vernünftig und vorschriftsmäßig zu sein 13 . Dass ihre Ehe unglücklich ist, wird bereits aus dem ersten wortkargen Dialog zwischen den Beiden klar: Franz hängte seinen Regenmantel auf und setzte sich sorgsam nieder. Der Mann mußte, nach dem weichen Kragen und dem Tweedanzug zu schließen, ein Ausländer sein. Hier aber irrte Franz. […] „Ich habe Durst“, sagte der Mann mit Berliner Akzent. „Schade, daß wir kein Obst haben. Diese Erdbeeren waren wirklich zu lecker.“ „Da bist du selber schuld“, antwortete die Dame mit unzufriedener Stimme […] Dreyer warf einen kurzen Blick himmelwärts, antwortete aber nicht. […] „Egal“, sagte sie, „es lohnt sich nicht, darüber zu reden.“ Dreyer wußte, daß sein Schweigen Martha unsagbar irritierte 14 . Als Meister prägnanter Schilderungen braucht Nabokov keine weiteren Erläuterungen vorzuweisen. Der Leser sieht gleich ein, dass es hier um kei- 12 Ebd., S. 20-21. 13 Vgl., ebd. 14 Ebd., S. 14-15. Andrey Kotin 166 nen üblichen Familienstreit geht, sondern um den permanenten Stand der Dinge. Die ganze Ausgangssituation zusammenfassend könnte man den Eindruck gewinnen, mit einem klassischen Dreieck zu tun zu haben: langweiliger Ehemann, liebesdurstige Ehefrau und jünger Liebhaber. Schenkt man jedoch den drei Hauptfiguren einen näheren, aufmerksamen Blick, so kommen einige bedeutende Nuancen zum Vorschein. Um diese bemerken und bewerten zu können, sollte man sich der in kleinsten Einzelheiten durchdachten Figurenkonstellation und Erzählsituation zuwenden. Dabei ist ein kurzer Satz aus der oben zitierten Passage durchaus relevant: „Franz irrte sich“. Diese scheinbar nebensächliche Bemerkung, die sich darauf bezieht, dass Marthas Mann kein Ausländer, sondern ein gebürtiger Berliner ist, bezieht sich zugleich auf alle im Abteil sitzenden Personen. Dies bringt Grigorij Hasin, ein russischer Literaturwissenschaftler und Übersetzer aus New York, perfekt auf den Punkt: Unsere Passage zeichnet sich dadurch aus, dass alle drei Passagiere sich ständig gegenseitig betrachten. […] Der grundlegende Faktor, der die Analyse auf dieser Ebene bereichert, besteht im Folgenden: alle drei Figuren täuschen sich in Wahrnehmungen und Bewertungen voneinander („ Наш эпизод выделяется тем , что все три персонажа постоянно наблюдают друг за другом […] Фундаментальный факт , немедленно открывающийся анализу на этом уровне , состоит в следующем : все три персонажа ошибаются в своих восприятиях и оценках друг друга ”) 15 . Dabei ist Franz’ Irrtum der harmloseste. Am meisten täuscht sich Dreyer, der, Franz betrachtend, glaubt, er lese die Zeitung, während in der Tat Franz Dreyers Frau heimlich und gierig mustert. Auch Martha täuscht sich, denn Dreyer ist langweilig nur aus ihrer Perspektive. Sparsame, aber vielsagende Informationen, die dem Leser über Marthas Ehemann serviert werden, deuten auf einen nicht nur gebildeten, sondern auch interessanten und feinen Menschen hin: Er las aufmerksam und mit Vergnügen. Nichts existierte außerhalb der sonnenbeschienenen Buchseite. […] Für Martha war jenes fröhliche Strahlen nur die stickige Luft in einem schaukelndem Eisenbahnwagen. Es wird vorausgesetzt, daß sie in einem Wagen stickig ist: Das ist so üblich und daher gut. Das Leben sollte nach Plan vorgehen, streng und strikt und ohne launische Drehungen und Zuckungen. Ein elegantes Buch auf einem Tisch im Salon, das ist in Ordnung. Im Eisenbahnwagen kann man gegen die Langeweile irgendwelche billige Illustrierte durchfliegen. Aber etwas dermaßen einzusaugen und zu genießen… Gedichte auch noch… in kostbarem Einband… Wer sich selber Geschäftsmann 15 Grigorij Hasin, Teatr lichnoj tajny. Russkie Romany V. Nabokova [Das Theater des privaten Geheimnisses], Moskau; St. Petersburg, Letnij Sad 2001, S. 8, S. 11. Übersetzt von A.K. Das Böse der Banalität 167 nennt, kann, soll, darf so etwas nicht tun. […] Wie schön das wäre, ihm das Buch aus der Hand zu reißen und im Koffer einzuschließen 16 . Ab dieser Stelle nimmt das Banale langsam und diskret ab. Die reizvolle, nach sexueller Erfüllung strebende Ehefrau sowie der sie bewundernde junge Mann erscheinen wesentlich oberflächlicher, prosaischer und trivialer als der enthusiastische mittelalte Geschäftsmann mit Sinn für Poesie und heiterem abenteuerlichem Lebensgefühl. Sein einziger, aber schwerwiegender Mangel ist seine geistige Blindheit gegenüber seiner nächsten Umgebung. So denkt er z.B., seine Frau sei frigid, wobei Martha eine überaus leidenschaftliche Frau ist, deren sexuelle Bedürfnisse zu erwecken und zu befriedigen, Dreyer einfach nicht imstande ist. Diese dreifache gegenseitige Blindheit analysierend, kommt Hasin zu einem innovativen narratologischen Schluss, der sich auf die Art und Weise bezieht, wie Nabokov diesen Effekt der totalen Täuschung erreicht, ohne dabei zu gängigen Erzählmethoden zu greifen: Die Unwahrheit […] erscheint dadurch, dass das Erzählen aus begrenzten Sichtpunkten geführt wird. In Gennettes terminologischem System ist hier die unzuverlässige Instanz nicht die Stimme (das Erzählen), sondern der Modus (das Sehen). […] Den Stimmen der Figuren kann man völlig vertrauen, ihre Perspektiven sind dagegen begrenzt und werden als falsche enthüllt. In unserer Passage haben wir mit der unzuverlässigen Fokalisierung zu tun. […] Es geht nicht um eine beabsichtigte Täuschung, sondern um natürlicherweise begrenzte Points of View („ Неистинность […] возникает из за того , что повествование ведется с ограниченных точек зрения . В терминах теории Женетта , ненадежной инстанцией здесь является не Голос ( рассказывание ), а Модус ( видение ). […] Голосам персонажей можно полностью доверять , но их перспективы ограничены и выявлены как ложные . В нашем эпизоде мы имеем дело с ненадежной фокализацией . […] Мы имеем дело не с намеренным обманом , но с естественными ограничениям точки зрения ”) 17 . Mit dieser bahnbrechenden Bemerkung zeigt Hasin, wie in Nabokovs Roman eine völlig neue Erzählstrategie fast unbemerkbar, jedoch gezielt und konsequent eingesetzt wird. Nicht der Erzähler, sondern die Fokalisierung erweist sich als unzuverlässig. Mehr noch: der Text signalisiert dadurch die globale Unzuverlässigkeit jeder Fokalisierung, denn jede persönliche Betrachtungsperspektive ist immer begrenzt. Eben diese unüberwindliche Begrenztheit menschlicher Beobachtungs- und Bewertungsweise führt sowohl zu diversen Anziehungen und Neigungen als auch zu sämtlichen Missverständnissen und Konflikten. Und manchmal führt sie auch zum Verbrechen. 16 Nabokov, König, Dame, Bube, S. 18-19. 17 Hasin, Teatr lichnoj tajny, S. 14-15, S. 19. Übersetzt von A.K. Andrey Kotin 168 Sex & Crime - Eros und Thanatos in König, Dame, Bube Im zehnten Kapitel des Romans gibt es eine Szene, die für das bessere Verständnis von Dreyers Persönlichkeit sowie für die Gesamtaussage der erzählten Geschichte essenziell ist: In einem Anbau des Gerichtsgebäudes hatte die Polizei eine Kriminalausstellung eingerichtet. […] Dreyer, der immer befürchtete, etwas Unterhaltsames zu versäumen, bummelte durch alle Räume. Er untersuchte die Gesichter von Verbrechern, vergrößerte Photographien von Ohren, verschmierte Fingerabdrücke, Küchenmesser, Stricke […] und alles war so schäbig, so geistlos, daß Dreyer lächeln mußte. Wie talentlos, dachte er, mußte man sein, was für ein schlechter Denker oder hysterischer Narr, um seinen Nachbarn umzubringen. Das Todesgrau der Ausstellungsgegenstände, die Banalität des Verbrechens, bürgerliche Möbelstücke […] Ach, der amerikanische Zahnarztstuhl. […] Der Strom wird eingeschaltet. Hopp-hopp, wie über eine holprige Straße. Was für trübsinnige Narren! Eine Sammlung idiotischer Gesichter und gequälter Dinge 18 . Dreyers Gedanken über die „Banalität des Verbrechens“ - 30 Jahre vor Hannah Arendt! 19 - sind nicht nur ein weiterer Beweis für sein überdurchschnittliches geistiges Vermögen. Fernerhin stehen seine Bemerkungen in signifikanter Übereinstimmung mit dem, was Nabokov selbst zu diesem Thema in seinem Essay Literarische Kunst und gesunder Menschenverstand schreibt: Verbrecher sind in der Regel Menschen ohne Einbildungskraft, deren Entwicklung sie, sogar nach den Gesetzen des gesunden Verstandes, vom Bösen abwenden würde, indem sie einen Kupferstich mit realen Handschellen in ihrem Bewusstsein schilderte; künstlerische Einbildungskraft würde sie dagegen zur Trostsuche in der Fiktion bewegen, sodass sie ihre Figuren zum Erfolg in demjenigen Unternehmen führten, bei dem sie selber im realen Leben scheiterten. Doch einfallslos, begnügen sie sich mit schwachsinnigen Banalitäten wie ein triumphaler Einzug nach Los Angeles in einem schicken gestohlenen Wagen mit einer ebenso schicken Blondine, die bei der Zerstückelung des Autobesitzers geholfen hatte („ Преступники - обычно люди без воображения , поскольку его развитие , даже по убогим законам здравого смысла , отвратило бы их от зла , изобразив гравюру с реальными наручниками ; а воображение творческое отправило бы их на поиски отдушины в вымысле , и они вели бы своих персонажей к успеху в том деле , на каком сами бы погорели в реальной жизни . Но , лишённые подлинного воображения , они обходятся слабоумными банальностями вроде триумфального 18 Nabokov, König, Dame, Bube, S. 274-277. 19 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen, München, Piper, 1986. Das Böse der Banalität 169 въезда в Лос - Анджелес в шикарной краденой машине с шикарной же блондинкой , поспособившей искромасть владельца машины “) 20 . Nabokov sagt dem Mörder jegliche psychologische Tiefe ab. In seinem Weltbild ist das Verbrechen immer durch triviale, materielle Motivationen untermauert. Das Böse und das Banale bleiben stets ein unzertrennliches Zwillingspaar. Es geht dabei um zwei bedeutsame Aspekte. Erstens, fehlt es dem Traum eines Verbrechers an Originalität. Teures Auto, schicke Blondine - alles laute Schablonen aus derjenigen Unterhaltungsliteratur, wo das Triviale klischeeartig romantisiert wird. Zweitens, ist das Streben, die erträumte Wirklichkeit ins reale Leben umzusetzen, als solches banal. In König, Dame, Bube gelingt Dreyer, die Banalität des Bösen zu erblicken, aber trotzdem bleibt er zu blind, um die wahren potenziellen Verbrecher zu entdecken. Nach dem Besuch der Kriminalausstellung macht Dreyer einen kurzen Spaziergang durch die Berliner Straßen, der in eine tragikomisch kurzsichtige Feststellung mündet: Es war herrlich draußen, ein satter Wind wehte. […] Wie schön und blau und voller Wohlgerüche ist unser Berlin im Sommer. […] Arbeiter besserten faul das Pflaster aus. Wieviel Spaß es machen würde, dachte er, in den Gesichtern dieser Arbeiter, dieser Fußgänger nach den Gesichtsausdrücken zu suchen, die er gerade in ungezählten Photographien gesehen hatte. Und zu seiner Überraschung erkannte Dreyer in jedem, der ihm begegnete, einen früheren, gegenwärtigen oder künftigen Verbrecher; bald hatte ihn dieses Spiel dermaßen in seinen Bann gezogen, daß er begann, sich für jeden ein besonderes Verbrechen auszudenken. […] Dann wurde er des Spiels müde, fühlte Hunger und Durst und beschleunigte den Schritt. Als er sich der Pforte näherte, bemerkte er im Garten seine Frau und seinen Neffen. […] Und er empfand eine angenehme Erleichterung, endlich zwei bekannte, zwei vollkommen normale menschliche Gesichter zu sehen 21 . Das Banale und das Böse - Nabokovs ,Verbrechensphilosophie‘ Peter Nusser postulierte 1980, die Kriminalliteratur sei von der sogenannten Verbrechensliteratur abzugrenzen. Im Unterschied zu einem Krimi, der sich um die bloße logische Aufklärung eines Mordes bemüht, sucht die Verbrechensliteratur nach dem Ursprung, dem Sinn des Verbrechens 22 . Ihr Ziel ist es, „die Motivationen des Verbrechers, seine äußeren und inneren Konflikte, seine Strafe zu erklären. Zur Verbrechensliteratur gehören Kunstwerke wie der ‚König Ödipus‘ des Sophokles oder Dostojewskis ‚Schuld und Sühne‘ 20 Nabokov, „Nabokov o Nabokove i prochem“, S. 472-473. Übersetzt von A.K. 21 Nabokov, König, Dame, Bube, S. 277. 22 Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart, Metzler, 1980, S. 1. Andrey Kotin 170 […]“ 23 . Es ist äußerst interessant, dass Nusser ausgerechnet Dostojewski als Paradebeispiel der Verbrechensliteratur erwähnt, denn Nabokovs Verhältnis zum russischen Klassiker schwankte zwischen herablassender Ironie und feuriger Abneigung. Hier einige seiner Aussagen zu diesem Thema: ‚Habe wieder Tolstoj und Dostojevskij gelesen. Letzterer ist ein drittklassiger Schriftsteller, und sein Ruhm ist mir unbegreiflich‘ 24 . ‚Er war ein Prophet, ein schwafelnder Journalist und ein schludriger Komödiant. Ich räume ein, daß einige seiner Szenen, eine seiner gewaltigen, farcenhaften Streitereien außerordentlich lustig sind. Aber seine empfindsamen Mörder und gemütvollen Huren hält man keinen Augenblick aus - ich jedenfalls nicht‘ 25 . Für Nabokov gibt es also keinen Unterschied zwischen Kriminal- und Verbrechensliteratur. In seinem ästhetisch-philosophischen System erweist sich die Suche nach dem Sinn des Verbrechens als fruchtlos, denn ein Verbrechen ist, streng genommen, immer sinnlos und banal. Er glaubt an keine „empfindsamen Mörder“, weil ein empfindsamer Mensch (welcher mit einem sentimentalen Menschen nicht verwechselt werden darf) zu einem Mord einfach nicht fähig wäre: sowohl aus ästhetischen als auch aus moralischen Gründen. Daher war Dostojevskis Prosa für Nabokov eine Art verschleierte Kriminalliteratur, deren psychologische Unglaubwürdigkeit dank steigernder Spannung, unerwarteten Handlungswendungen und ein paar metaphysischen Dekorationen verdeckt wird. Das Böse ist banal, die Banalität führt früher oder später zum Bösen - so lautet Nabokovs unausgesprochene Maxime. Nach einem tieferen Ursprung eines Mordes zu suchen, heißt, den Mörder gewissermaßen zu rechtfertigen, und damit das Verbrechen, und dadurch das Banale. Deshalb meint Nabokov, ein wahrer Künstler würde eigene kriminelle Phantasien in ein packendes spannendes Buch verwandeln. Dieses Buch wäre aber kein klassischer Krimi, sondern eben eine diskrete Verurteilung des Verbrechens - ein moralisches Urteil, das mittels ästhetischer Demaskierung vollzogen wird. Ein solches Buch, ein Antikrimi schlechthin, ist König, Dame, Bube. 23 Ebd. 24 Vladimir Nabokov, Briefwechsel mit Edmund Wilson, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1995, S. 384. 25 Nabokov, Deutliche Worte, S. 73-74. Das Böse der Banalität 171 Bibliographie Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen, München, Piper, 1986. Bertolt Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman II. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München, W. Fink, 1971, S. 315-321. Grigorij Hasin, Teatr lichnoj tajny. Russkie Romany V. Nabokova [Das Theater des privaten Geheimnisses], Moskau; St. Petersburg, Letnij Sad, 2001. L. L. Lee, Vladimir Nabokov, London, Twayne, 1976. Vladimir Nabokov, Deutliche Worte, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1993. Vladimir Nabokov, Briefwechsel mit Edmund Wilson, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1995. Vladimir Nabokov, König, Dame, Bube, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag, 1999. Vladimir Nabokov, Lekcii po russkoj literature [Vorlesungen über die russische Literatur], St. Petersburg, Azbuka, 2009. Vladimir Nabokov, „Nabokov o Nabokove i prochem“ [„Nabokov über Nabokov und Sonstiges“], in Nezavisimaja Gazeta, 2002. Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart, Metzler, 1980. Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman II. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München, W. Fink, 1971. TEIL IV: DAS VERBRECHEN VON HEUTE Agnieszka Dylewska Ein Krimi ohne Auflösung? Zu Inka Pareis Roman Was Dunkelheit war Einleitung Eine erneute Faszination für Kriminalliteratur wächst im 21. Jahrhundert von Jahr zu Jahr und betrifft alle ihre Untergattungen. Über Jahrzehnte hinweg wurde dieses Genre als trivial und minderwertig verurteilt und seine Erforschung wurde vernachlässigt. Auf eine gewisse Ambivalenz der Kriminalliteratur weist die Tatsache hin, dass eine einheitliche Definition bisher nicht existiert. Die Konturen der Kriminalliteratur sind unscharf und ihre Subgenres streifen oft andere Literaturgattungen. So schwer es ist, die Kriminalliteratur zu definieren, so populär und beliebt ist sie. Aus der Komplexität und zahlreichen Erscheinungsformen der Kriminalliteratur ergibt sich das Ziel des vorliegenden Beitrags. Es besteht darin, den konstitutiven Motiven der Kriminalliteratur im psychologischen Roman Was Dunkelheit war 1 von Inka Parei nachzuspüren. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, welche Funktionen und Aufgaben die der Kriminalliteratur entnommenen Motive im Roman haben. Die Welt und die Figuren des Romans sollen dabei analysiert und mit charakteristischen Merkmalen der Kriminalliteratur in Beziehung gesetzt werden. Zur Kriminalliteratur und ihren Subgenres Zur Auseinandersetzung mit dem Thema des vorliegenden Beitrags ist es zunächst erforderlich, wesentliche Begriffe zu präzisieren. Es wurden bis heute zahlreiche Versuche unternommen, Kriminalliteratur, mit all ihren charakteristischen Merkmalen, treffend zu beschreiben. Aufgrund ihrer Vielfalt, der großen Spannweite und vielfältiger Erscheinungsformen ist die Kriminalliteratur schwer zu definieren. Nicht zufällig wird sie von der Literaturwissenschaftlerin Alexandra Krieg als der „unübersichtlich geworden[e] Urwald“ bezeichnet 2 . Im Gegensatz zur Verbrechensliteratur, die sich zum Ziel setzt „Motivationen des Verbrechers, seine äußeren und inneren 1 Inka Parei, Was Dunkelheit war, München, Random House, 2007. 2 Alexandra Krieg, Auf Spurensuche: der Kriminalroman und seine Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart, Marburg, Tectum, 2002, S. 6. Agnieszka Dylewska 176 Konflikte [und] seine Strafen zu erklären“ 3 , beschäftigt sich die Kriminalliteratur mit der Aufklärung von Verbrechen. Akzentuiert werden dabei die „Anstrengungen“ 4 des Ermittlers, die „zur Aufdeckung des Verbrechens und zur Überführung und Bestrafung des Täters“ führen 5 . Der Terminus Kriminalliteratur hat sich allgemein als Oberbegriff durchgesetzt, der mannigfaltige Untergattungen und ihre Sonderformen wie etwa Detektivroman, Kriminalroman, Thriller, Kriminalerzählung und viele andere umschließt. In der Kriminalliteratur kann man mehrere Entwicklungstendenzen unterscheiden. Sie hängen mit der Frage zusammen, auf welche Art und Weise die Bemühungen des Ermittlers (Wer? Wie? Warum? ) dargestellt und erzählt werden 6 . Im vorliegenden Artikel wird kein Anspruch erhoben, auf alle Untergattungen der Kriminalliteratur ausführlich einzugehen. Fokussiert und veranschaulicht werden nur diejenigen Subgenres und ihre Sonderformen, die sich im analysierten Roman widerspiegeln. Nach neuesten literaturwissenschaftlichen Forschungen lässt sich die Kriminalliteratur in zwei idealtypische Subgenres einteilen: den Detektivbzw. Kriminalroman und den Thriller. Bei näheren Definitionsversuchen stößt man jedoch auf gewisse Schwierigkeiten, weil die Begriffe Detektivroman und Kriminalroman entweder synonym oder getrennt verwendet werden. Für Peter Nusser sind die Begriffe Detektiv- und Kriminalroman deckungsgleich. Als Detektivroman versteht Nusser eine analytische Geschichte, in der ein Ermittler (ein Detektiv oder eine Detektivin) den Hergang eines Verbrechens untersucht, rekonstruiert und klärt, um letztendlich den Täter zu entlarven 7 . Auch Birgit Althans und Anke Tammen verweisen darauf hin, dass die Grenzen zwischen dem Detektiv- und Kriminalroman unscharf und beide Begriffe in der deutschen Tradition bedeutungsähnlich sind 8 . Andere Literaturforscher, wie etwa Richard Alewyn, weisen auf die zahlreichen Differenzen zwischen beiden literarischen Formen hin. Der Kriminalroman, so Alewyn, „erzählt die Geschichte eines Verbrechens, der 3 Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart, Weimar, Metzler, 2003, S. 1. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Kira Stiehr; Lisa Müller; Frano Dolo, Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane: Erläuterungen zu „Justiz“, München, München Science Faktory, 2013, S. 12. 7 Nusser, Der Kriminalroman, S. 2-3. 8 Birgit Althans; Anke Tammen, „Das Begehren am Kriminalroman“, in Tanja Jankowiak; Karl-Josef Pazzini et. al. (Hrsg.), Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen: zur „Rücksicht auf Darstellbarkeit“ in der Psychoanalyse. Bielefeld, transcript Verlag, 2006, S. 133-151, hier S. 134. Ein Krimi ohne Auflösung? 177 Detektivroman die der Aufdeckung eines Verbrechens“ 9 . Ein zentraler Unterschied zwischen dem Kriminal- und Detektivroman besteht nach Alewyn darin, dass [i]m Kriminalroman wird der Verbrecher dem Leser früher bekannt als die Tat und der Hergang der Tatfrüher als ihr Ausgang. Im Detektivroman dagegen ist die Reihenfolge umgekehrt. Wenn dem Leser der Täter bekannt wird, ist unweigerlich der Roman zu Ende, und auch den Ausgang der Tat erfährt er früher als ihren Hergang, und diesen Hergang nicht als Augenzeuge sondern durch nachträgliche Rekonstruktion 10 . Wilma und Richard Albrecht fügen weitere unterscheidende Merkmale hinzu. Für die Handlung des Kriminalromans sollen mehrdimensionale Charaktere von Bedeutung sein, während die Figuren des Detektivromans eher oberflächlich angelegt sind. Der Protagonist des Kriminalromans ist meistens eine Person, der „gewisse Unerklärlichkeiten geschehen“ 11 . Der Hauptheld des Detektivromans ist ein Detektiv. Die Methode des Mordes oder des Verbrechens ist im Kriminalroman einfach, im Detektivroman dagegen kompliziert. Das im Kriminalroman nicht so wichtige Rätsel, bildet den Höhepunkt des Detektivromans. Im Gegensatz zum Detektivroman spielt die „Einvernahme der gesellschaftlichen u. Außenwelt“ 12 im Kriminalroman eine wichtige Rolle. Schließlich soll der Kriminalroman „eher sozialkritisch“ 13 , der Detektivroman „eher sozialaffirmativ“ sein 14 . Als zweite idealtypische Untergattung der Kriminalliteratur gilt der Thriller, auch kriminalistischer Abenteuerroman genannt. Er zeichnet sich durch eine spannende, aktionsgeladene Handlung aus, der „die […] Verfolgungsjagd eines schon bald identifizierten oder von vornherein bekannten Verbrechers“ zugrunde liegt 15 . Im Gegensatz zum Kriminalroman rückt die Aktion, die aus einer Kette von nervenaufreibenden Ereignissen besteht, im Thriller in den Vordergrund. Während ein Mord schon am Anfang der Ge- 9 Richard Alewyn, „Ursprung des Detektivromans“, in Richard Alewyn, Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a. M., Insel, 1974, S. 341-360, hier S. 343. Zit. nach: Ellen Schwarz, Der phantastische Kriminalroman: Untersuchungen zu Parallelen zwischen roman policier und gothic novel, Marburg, Tectum, 2001, S. 124. 10 Richard Alewyn, „Das Rätsel des Detektivromans“, in Adolf Frisé (Hrsg.), Definitionen. Frankfurt a. M., Klostermann 1963, S. 117-136, hier S. 119. 11 Wilma Albrecht; Richard Albrecht, „‚Krimi‘- und Literaturwissenschaft. Zu einigen literaturwissenschaftlichen Diskussionsschwerpunkten um fiktionale Verbrechensliteratur“, in Literatur in Wissenschaft und Unterricht 13, 1980, S. 124-142, hier S. 126. Zit. nach: Ulrike Götting, Der deutsche Kriminalroman zwischen 1945 und 1970: Formen und Tendenzen, Gießen, Kletsmeier, 1998, S. 16. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Tom Zwaenepoel, Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur: das populäre Krimigenre in der Literatur und im ZDF-Fernsehen, Würzburg, Königshausen Neumann, 2004, S. 20. Agnieszka Dylewska 178 schichte im Kriminalroman ein Muss ist, „ist er beim Verbrechen im Thriller quasi hautnah dabei“ 16 . Da der Leser schon von Anfang an den Täter kennt, braucht die Vorgeschichte und die Beweisführung nach der Ergreifung des Verbrechers nicht mehr rekapituliert zu werden 17 . In puncto Struktur ist ein häufiger Perspektivenwechsel für den Thriller charakteristisch, während im Kriminalroman eine einheitliche Figurenperspektive dominiert 18 . Da sich der vorliegende Beitrag zum Ziel setzt, im analysierten Roman von Inka Parei den universellen „kriminalhaften“ Motiven und Merkmalen nachzugehen, erweist sich die von Ulrich Suerbaum vorgeschlagene, elementare Definition des „Krimis“ für die Problemstellung des Beitrags als besonders geeignet. Wie es Suerbaum formuliert: Unter dem Begriff „Krimi“ verstehe ich […] in Übereinstimmung mit der Alltagssprache alle Werke der Kriminalliteratur, einerlei ob sie erzählend oder dramatisiert dargeboten werden und ob sie einen Ermittler als Zentralfigur haben oder nicht 19 . Nach der Analyse der typischen Merkmale zweier Subgenres der Kriminalliteratur lassen sich Eigenschaften zusammenbringen, die für die ganze Kriminalliteratur typisch sind: 1. Die Handlung wird um einen Täter, ein Opfer und einen Ermittler konstruiert. Die ermittelnde Figur steht meistens im Mittelpunkt der Geschichte. Ihre Persönlichkeit, der soziale Hintergrund und die Vergangenheit und andere wesentliche Merkmale werden bestimmt und hervorgehoben. 2. Es gibt einen Kreis der Verdächtigen. 3. Das Zentrum der Handlung bildet ein Verbrechen, das entweder erfasst und aufgeklärt oder verhindert werden soll. 4. Eine bedeutende Rolle spielt ein bestimmter Raum, in dem ein Verbrechen begangen wurde. Man kann wohl die Behauptung aufstellen, dass die oben genannten Merkmale sich im Rahmen der Gattung „Kriminalliteratur“ durch ein hohes Maß an Universalität auszeichnen und ein komplexes Phänomen dieses Genres ausmachen. 16 Enrico Nitzsche, Krimi auf der ganzen Welt - Die ganze Welt im Krimi: Eine komparatistische Auseinandersetzung mit Krimis auf drei Kontinenten, Hamburg, Diplomica Verlag, 2013, S. 11. 17 Ebd. 18 Nusser, Der Kriminalroman, S. 183. 19 Ulrich Suerbaum, „Warum Macbeth kein Krimi ist: Gattungsregeln und gattungsspezifische Leseweise“, in Poetica 14, 1982, S. 116. Zit. nach: Stiehr; Müller; Dolo, Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane: Erläuterungen zu „Justiz“, S. 11. Ein Krimi ohne Auflösung? 179 Was Dunkelheit war Im Roman Was Dunkelheit war wird eine düstere Geschichte erzählt, in der Erinnern und Verdrängen, Realität und Halluzination ineinander übergehen. Ein alter Mann, der sich am Ende seines Lebens befindet, hat von seinem Kriegskameraden ein schäbiges Wohn- und Geschäftshaus am Stadtrand Frankfurts am Main geerbt. Weil der Alte gehbehindert ist, beschränkt sich seine Welt fast ausschließlich auf ein paar Räume, in denen er lebt. Von seiner kleinen Wohnung aus beobachtet er die Umgebung, die Geschehnisse auf der Straße und im Hinterhof und die anderen Hausbewohner. Er lauscht den Hausgeräuschen. Eines Tages stößt er im Hausflur auf einen Fremden, den er zu kennen glaubt, weiß aber nicht mehr woher. Von diesem Tag an verwandelt sich sein Leben in eine kriminalistische Spurensuche nach der verdrängten Vergangenheit. In der verschwommenen Geschichte wimmelt es von Fragen, Rätseln und Geheimnissen: 1. Wer ist Herr Müller, der dem Hauptprotagonisten das Haus vererbt hat? 2. Warum hat der geheimnisvolle Erblasser dem Siebzigjährigen das Haus überhaupt überlassen? 3. Warum verlässt der alte Protagonist Berlin und zieht in eine fremde Stadt um, obwohl er altersschwach und leidend ist und obwohl er in Frankfurt niemanden kennt? 4. Warum verkauft er das heruntergekommene Haus nicht, warum ist er damit einverstanden, in der kalten ungemütlichen Wohnung zu leben, die er wegen seiner Behinderung kaum verlassen kann? 5. Wer ist der Fremde? Warum hat sein Auftauchen den Alten derart aufgeschreckt und verstört? 6. Was planen seine Nachbarn, der Metzger und der Hauswirt? 7. Was befindet sich im Keller, aus dem sich merkwürdige Geräusche vernehmen lassen? Nicht ohne Bedeutung für die Rezeption des Romans ist der Zeitpunkt, zu dem sich die Handlung abspielt. Es ist September 1977, der deutsche Herbst der Terroristen. Der Arbeitgeberpräsident Schleyer wird durch die RAF entführt und die Fahndung nach den RAF-Mitgliedern beginnt. Die ungelösten Unstimmigkeiten, die unbeantworteten Fragen, die Rätselhaftigkeit und das Unerforschte im Roman, dazu die dunkle Jahreszeit und die finstere Stimmung liegen einer bestimmten Aura zugrunde, die für mehrere Sonderformen der Kriminalliteratur typisch ist. Agnieszka Dylewska 180 Das Verbrechen „So verschiedenartig Kriminalromane angelegt und gestaltet sind, im Zentrum eines jeden Krimis - oder wenigstens an seiner Peripherie - steht ein Verbrechen“, lesen wir in einem elektronischen Ratgeber für Krimischriftsteller 20 . Das Verbrechen ist ein wichtiges Motiv der Kriminalliteratur und erscheint in mehreren Variationen, worauf Enrico Nitzsche aufmerksam macht: „Es muss kein Mord sein, vor allem nicht im Thriller, aber jeder Krimi weist ein Verbrechen auf“ 21 . Gleichzeitig ist das Phänomen des Verbrechens mit der Frage nach conditio humana, nach Schuld, Sühne und Gerechtigkeit eng verbunden. In mehreren Texten der Kriminalliteratur hat das Verbrechen „etwas Verborgenes und Geheimnisvolles an sich“ 22 . Der alte Mann wird mit einem wahrscheinlichen Verbrechen konfrontiert, wenn er seltsame Geräusche aus dem Keller hört und gleich danach dem geheimnisvollen, ihm merkwürdig bekannten Fremden begegnet. Von nun an wird er in den Strudel der rätselhaften Ereignisse hineingezogen. Mit der Zeit kommt er zur Überzeugung, dass der junge Fremde einem Mann ähnelt, den er auf dem Plakat „Gefährliche Terroristen“ gesehen hat und dass es sich in seinem Fall um einen der Schleier-Entführer handeln würde. Nebenher beginnt der Alte seine Nachbarn, den Metzger und den Wirt, zu beobachten. Ihre Aktivitäten scheinen dem Greis seltsam verdächtig zu sein. Er glaubt, die Vorbereitungen zu einem Mord beobachtet zu haben und vermutet, dass die Wanne im Keller eine Leiche enthält. Nachdem der alte Mann sich entschlossen hat, das Geheimnis des Kellerraumes zu enthüllen und dem vermeintlichen RAF-Terroristen nachzuspüren, wird er zum Detektiv wider Willen. Der Detektiv auf Krücken In der Kriminalliteratur kommen mehrere Ermittlertypen vor, die sich auch verschiedener Arbeitsmethoden bedienen, um das Verbrechen aufzuklären. Tom Zwaenepoel unterscheidet drei Detektivtypen: den Detektiv mit polizeilicher Lizenz, den Privatdetektiv und den Amateurdetektiv 23 . Abgesehen davon, was für einen Typ ein jeweiliger Detektiv verkörpert, gibt es Eigen- 20 http: / / krimi-schreiben.de/ kriminalroman/ index.php (letzter Zugriff am 15. November 2014). 21 Nitzsche, Krimi auf der ganzen Welt - Die ganze Welt im Krimi: Eine komparatistische Auseinandersetzung mit Krimi auf drei Kontinenten, S. 88. 22 Kevin Keijo Kutani, Der Kriminalroman als Medium für (allgemeine) Gesellschaftskritik: Am Beispiel des schwedischen Autors Henning Mankell, Hamburg, Diplomica Verlag, 2013, S. 22. 23 Zwaenepoel, Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur: das populäre Krimigenre in der Literatur und in dem ZDF-Fernsehen, S. 119. Ein Krimi ohne Auflösung? 181 schaften, die für alle Detektivarten gemeinsam sind. Der Detektiv ist meistens ein Außenseiter, der sich von den Mitmenschen distanziert 24 . Er verfügt über große intuitive Fähigkeiten wie etwa Menschenkenntnis und psychologische Einfühlung und/ oder eine überdurchschnittliche Intelligenz, die es ihm erlauben, scharfsinnige Schlussfolgerungen zu ziehen 25 . Er ist derjenige, der die Welt erklären kann, sie und ihre Gesetzmäßigkeiten anerkennt und dadurch zum „Herrscher über eine Versuchsanordnung im geschlossenen Raum“ wird 26 . Demzufolge agiert er nach dem Prinzip Ursache und Wirkung. Die Hauptaufgabe des Ermittlers ist es, in der durch das Verbrechen beeinträchtigten Welt, wieder die Ordnung herzustellen 27 . Der an der Grenze der geistigen Umnachtung stehende Alte steht in einem scharfen Gegensatz zum klassischen Detektiv, dessen Verstandesfähigkeiten übermenschlich wirken und der letztendlich immer dem Verbrecher überlegen ist. Der verkrüppelte alte Mann unterscheidet sich auch in vielfacher Hinsicht von dem „Detektivpolizisten“, der ihm an körperlicher Kraft und Tüchtigkeit, an Mut, Intelligenz und Ausdauer überlegen ist. Aufgrund seiner Unbeholfenheit, Hilflosigkeit und seiner Interessen erweist sich der Alte auch als Amateurdetektiv als absolut untauglich. Es lässt sich wohl behaupten, dass er ein verzerrtes Bild eines Detektivs darstellt: seine Mobilität ist eingeschränkt, weil er sich auf Krücken bewegen muss. Er kommt mit seinen physischen Anfälligkeiten schlecht zurecht. Im Gegensatz zu dem höchstintelligenten und scharfsinnigen Detektiv, der oft blitzschnell Entscheidungen treffen muss, sinkt die geistige Leistungsfähigkeit des Alten von Tag zu Tag. Dazu sind sein Denken und sein Gedächtnis zunehmend beeinträchtigt, so dass er an der Grenze der Altersdemenz steht und seinen Alltag kaum bewältigen kann: Der alte Mann grübelte. […] Ich habe den Faden verloren, dachte er. Er spürte, dass er sich nicht gut fühlte. Er sah alles, wie durch ein Grau. Mal schien es ein Flimmern zu sein, und dann eine Schraffur, die wie Stoff in der Luft hing, den Raum zwischen ihm und den nächtlichen Umrissen des Zimmers ausfüllte und alles, was für ihn sonst immer so nah gewesen war - die Möbel, die Wände, der Weg zum Flur -, unerreichbar erschienen ließ 28 . Vielmehr ähnelt der alte Mann einem vierten, bisher nicht erwähnten, von Ulrike Götting ausgesonderten Detektivtypus: einem Durchschnittsmen- 24 Ebd., S. 134. 25 Ebd., S. 127. 26 Walter Göbel, „Die Negation des historischen Fortschritts im afroamerikanischen Kriminalroman oder die Faszination des Absurden“, in Barbara Korte; Sylvia Paletschek (Hrsg.), Geschichte im Krimi: Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln; Weimar; Wien, Böhlau, 2009, S. 165-180, hier S. 165. 27 Zwaenepoel, Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur, S. 133. 28 Parei, Was Dunkelheit war, S. 53. Agnieszka Dylewska 182 schen als Detektiv. Er selbst soll meistens ein Betroffener sein, der in Verdacht gerät. Für ihn „ist die Lösung des Falles keine intellektuelle Herausforderung, kein Spiel, sondern eine Existenzfrage“ 29 . Dieser Mensch, so Götting „steht meist allein da, kann niemanden um Hilfe bitten“ 30 . So wird der alte Mann zu einem Detektiv, der gegen die ihn umgebende desolate Wirklichkeit und gegen die innere Düsterkeit kämpft und der auf seiner kriminologischen Spurensuche nicht mehr fähig ist, seine Wachträume und Halluzinationen von der Realität zu unterscheiden. Die Klärung des Falles Einsam und auf sich selbst gestellt, von Schwächeanfällen und Schwindelgefühlen geplagt, findet der alte Mann eine Telefonzelle und wählt die Nummer, die auf dem Terroristenplakat steht: Sie haben ihn gefangengenommen, flüsterte er in den Hörer, Sie müssen ihn retten. Ja, natürlich. Von wem sprechen Sie denn? Von dem Mann auf dem Bild. […] Sie glauben also, dass Sie einen der Terroristen erkannt haben, nach denen gefahndet wird? Ja. Ein Mann auf dem Fahndungsplakat? […] Das Plakat „Gefährliche Terroristen“? Ja. Die Person unten. Das ist nicht möglich. Ich weiß genau, dass ich ihn erkannt habe. Die Person rechts unten Sagen Sie? Ja, ich bin mir sicher. Das ist eine Frau 31 . Der Alte scheitert an dem Versuch, den Gefangenen zu retten. Seine Beobachtungen und Halluzinationen verzahnen sich, so dass er nicht in der Lage ist, logisch zu denken, und sich an das Vergangene präzise zu erinnern. Die Person am Hörer gibt ihm zu verstehen, dass er sich irrt. Hilflos und gedemütigt muss er seine Niederlage anerkennen. 29 Götting, Der deutsche Kriminalroman zwischen 1945 und 1970: Formen und Tendenzen, S. 20. 30 Ebd. 31 Parei, Was Dunkelheit war, S. 123-124. Ein Krimi ohne Auflösung? 183 Nebenbei wird der Alte zum Detektiv und Auftraggeber in einem. Er ernennt sich selbst zum Ermittler, um seinen eigenen Fall aufzuklären. Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Müller begibt er sich auf eine biographische Reise in die eigene Vergangenheit. Diese „innere Reise“ führt zurück zu bedrückenden, beängstigenden und manchmal auch traumatischen Erlebnissen. Seine Erinnerungen an den Krieg kommen wieder hoch und rufen die Bilder voller Blut, Elend und Grausamkeit hervor. Trotzdem lassen sich seine Wissenslücken nicht schließen. In der inneren Zone des Gedächtnisses hat der alte Mann mehrere Müllers getroffen. Das Haus als vermeintlicher Tatort Der Ort oder der Schauplatz hat im Krimi-Genre eine zentrale Position und wird meistens durch gattungstypische Besonderheiten geprägt 32 . In dem Roman Was Dunkelheit war ist das Haus genauso wichtig wie der Handlungsträger, der es bewohnt. Das Gebäude als vermeintlichen Tatort und den Hauptprotagonisten als Detektiv wider Willen verbindet eine gewisse Beziehung. Sie ähnelt einem Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem topographischen Ort und seinem Detektiv. Melanie Wigbers beschreibt dieses Verhältnis wie folgt: Für den Detektiv ist der Ort nicht nur ein Raum, in dem er sich während seiner Aufklärungsarbeit bewegt, sondern er ist zugleich ein bedeutsamer Gegenstand der Untersuchung, der konzentrierte Aufmerksamkeit erfordert: Der Raum fungiert traditionell als Spurenträger; er kann eine breite Fläche von Bedeutung sein, die der Protagonist gründlich kennen und kontrollieren muss […] 33 . Obwohl man das Haus nur als Teil eines größeren Schauplatzes (im Roman ist es die Stadt Frankfurt/ M.) betrachten kann, spielt das Gebäude eine durchaus bedeutendere Rolle als die es umgebende Großstadt, die nur fragmentarisch und marginal beschrieben wird. Wegen seiner eng begrenzten Räumlichkeit wird das Haus zum hermetischen Raum, in dem sich der größere Teil der Handlung abspielt und sich die Hauptfigur bewegt: [Das Haus] hatte eine Nachkriegsfassade, schmutzig und ausdruckslos. Wahrscheinlich war es Ende der fünfziger Jahre das letzte Mal gestrichen worden. Der Putz an der Vorderfront bestand aus rauhen wurmförmigen Kerben, in denen sich der Dreck der Jahrzehnte eingelagert und schwarze Rillen gebildet hatte. Es war ein Eckhaus mit einer Gaststätte und einem 32 Melanie Wigbers, Krimi-Orte im Wandel: Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006, S. 13. 33 Ebd., S. 21-22 Agnieszka Dylewska 184 Metzgerladen im Erdgeschoss, und die Straße Alt-Rödelheim, in der er stand, war eng und gewunden 34 . Die innen-räumliche Topographie des Hauses ist verunsichernd und mehrschichtig. Dadurch wird das Haus zu einer Kulisse, die für Spannung und eine düstere Stimmung sorgt. Sein labyrinthischer Charakter wird durch das Gefühl des Eingeengtseins und der körperlichen und psychischen Ausgegrenztheit des Protagonisten betont. Es wird zum Raum, in dem sich das reale Leben und die Projektionen des alten Mannes unauflöslich miteinander verbinden, in dem Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander verflochten und zueinander in Beziehung gesetzt wird. Dort muss sich der Hauptheld mit den ihn quälenden Erinnerungen auseinandersetzen. Gewissensbisse und die seelische Pein des Protagonisten erreichen dort ihren Höhepunkt. Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Müller wandert der Mann durch das alte, heruntergekommene Haus. Indem er durch düstere Hausräume irrt, verstrickt er sich immer mehr in seinen Träumen, Wachträumen und Halluzinationen. Sein Hinabsteigen in immer tiefere Hausetagen bekommt eine symbolische Dimension, die vom mühsamen Hindurchkämpfen durch Erinnerungsschichten begleitet wird. Der kriminelle Teufelskreis Das stundenlange Herumirren des Alten durch das Haus, mal im Traum, mal in Wirklichkeit, beeinträchtigt seine physischen und psychischen Kräfte und lässt ihn aus einer anderen Perspektive wahrnehmen. Der alte Mann kann als Opfer des Hauses und das Haus dagegen als eigentlicher Mörder angesehen werden. Von Anfang an kann sich der Alte im kalten unfreundlichen Haus nicht zurechtfinden. Die graue feuchte Wohnung stimmt ihn pessimistisch. Zudem wird das Haus an seine Behinderung und an seine Lebensphase nicht angepasst. Es erfüllt auf keinen Fall sein Bedürfnis nach Sicherheit. Schmale Stufen und steile Treppen stellen für den Alten auf Krücken ein unüberwindbares Hindernis dar. Dazu kommen noch hohe Schwellen und der viel zu glatte Fußboden. Sich im Haus zu bewegen, wird für den alten Mann beinahe lebensgefährlich. Im unheimlichen Gebäude, das dem Schauerroman entnommen sein könnte, lauert auf den Protagonisten der Tod: Eine seltsame Wärme herrschte hier, eine Stickigkeit wie ohne Sauerstoff. Er hörte das Geräusch eines Gebläses, aber er konnte es nicht sehen. Es schien hinter der Wand versteckt zu sein, er sah nur den Wind, den es hervorbrachte […], sah schwarze Gespinste, seltsam ineinander verwobene Fäden und formlose, zittrige Gewächse, die von diesem Wind durch den Gang getrieben 34 Parei, Was Dunkelheit war, S. 7. Ein Krimi ohne Auflösung? 185 wurden, in der heißen Luft ein kurzes Stück schwammen […]. Und einige schienen auch an ihm haftenzubleiben, sich auf seine Haare zu legen und auf seine Brust. […] Er schluckte und bildete sich ein, sie auch dort zu spüren, die Schmutzgewäsche, auf seiner Zunge, bildete sich ein, dass sie dieses seltsame Kratzen hervorbrachten, das jetzt in seinem Hals steckte, es anschwellen ließ 35 . So wird das Haus zu einem Ort, in dem es zur Umwertung der Krimigesetze kommt. Die Evolution des Protagonisten hört aber bei dieser Umwandlung nicht auf. Indem der Alte eine Wehrmachtsuniform im Keller findet, übernimmt er die Verantwortung für seine Kriegsverbrechen als Soldat und später als Wächter eines polnischen Gefangenenlagers. Diese Umwandlung des Protagonisten ähnelt einem in der fiktiven Kriminalliteratur immer populären „Teufelskreis“, in dem „Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern stilisiert [werden]“ 36 . Der Keller wird dabei zu einem Katharsis-Ort, wo der Protagonist seine Schuld begreift und seine Taten bereut. Indem sich aber der Täter schuldig bekennt, kommt es zu seiner Begnadigung und Hinrichtung zugleich: Er kommt auf dem Kohlenhaufen um. Eine Leiche im Keller Die Leiche im Keller ist ein grundlegender Bestandteil der Kriminalliteratur, sowohl im sprichwörtlichen als auch im wortwörtlichen Sinne. Um mit Willard Huntington Wright zu sprechen: „Im Detektivroman muß es ganz einfach eine Leiche geben, und je toter sie ist, desto besser […]”. 37 Nach Reinhard Hillich sei es erst die Leiche, die den Täter so interessant mache 38 . Im Roman Was Dunkelheit war wird die Leiche zum Hauptrequisit eines erbärmlichen, beinahe grotesken Spiels, an dem der Protagonist unbewusst teilgenommen hat. Der alte „Detektiv“ entdeckt schließlich einen Leichnam, der in der Badewanne versteckt war und jetzt in der Tiefkühltruhe aufbewahrt wird. Mit Entsetzen und Abscheu stellt er aber fest, dass die vermeintliche Leiche in Wirklichkeit ein mit Blut beschmiertes totes Schwein ist, das der Metzger unter der Hand verkaufen wollte: Das Glas war zum Teil beschlagen, er konnte die Umrisse eines gehäuteten Tierkopfes ausmachen und weitere Fleischstücke, Rippen, Füße, Gliedmaßen; 35 Ebd., S. 139. 36 Krieg, Auf Spurensuche: der Kriminalroman und seine Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart, S. 8. 37 S. V. Dine (Willard Huntington Wright), Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten. Zit. nach: Stefan Riedlinger, Tradition und Verfremdung: Friedrich Dürrenmatt und der klassische Detektivroman, Marburg, Tectum, 2000, S. 33. 38 Reinhard Hillich, Tatbestand: Ansichten zur Kriminalliteratur der DDR 1947-1986, Berlin, Akademie Verlag, 1989, S. 186. Agnieszka Dylewska 186 […] Er ging in die Knie, erbrach sich. Ein ründlicher, glänzender Schweinekopf. Je länger er ihn ansah, desto mehr kam es ihm, als ob er sich bewegte, er verfärbte sich und wuchs in die Länge […] 39 . Der alte Mann hat sich also im wirklichen Leben nicht als Detektiv bewährt. Er eilte von Niederlage zu Niederlage, bis er völlig scheiterte. Zusammenfassung Es lässt sich nicht leugnen, dass die Kriminalliteratur andere literarische Gattungen mehr oder weniger beeinflusst. In literarischen Lesestoffen sind zahlreiche „kriminalhafte“ Motive zu finden. Im weiteren Sinne kann der Roman Was Dunkelheit war von Inka Parei als ein Krimi ohne Auflösung angesehen werden, weil seine zentralen Fragen unbeantwortet bleiben. Er endet aber nicht wie es das Schema des klassischen Krimis verlangt, mit einem Happy End. In dieser Hinsicht ähnelt er eher dem französischen Roman noir, das im Prinzip nie gut endet und zeigt, dass die scheinbar individuellen Verbrechen der Gegenwart aus ungesühnten Verbrechen der Geschichte herrühren. Und er gibt die Hoffnung nicht auf, dass ein Subjekt, wie sehr auch immer durch die Gesellschaft deformiert, in der Lage ist, zumindest die Zusammenhänge zu erkennen 40 . Der Hauptprotagonist des Romans ist eine höchst tragische Figur: Opfer und Täter zugleich. Die Tatsache, dass er dazu noch die Rolle des Ermittlers übernimmt, wird ihm zum Verhängnis. Nach seinem detektivischen Rekonstruktionsversuch ist er sich darüber im Klaren, dass nicht sein Kriegskamerad Müller und auch nicht der geheimnisvolle terroristische Entführer, sondern er selbst die größte Schuld trägt. Nicht zu übersehen ist die Funktion des Hauses als Bewegungs- und Handlungsschauplatz. Das Gebäude wird im Roman zu einer düsteren Handlungskulisse und gleicht einem Geisterhaus aus dem Schauerroman. Das Haus garantiert keinen Schutz vor äußerer Bedrohung, sondern stellt selbst eine Bedrohung dar. Das verunsichernde Gebäude ist durch eine spezifische Verfremdungsaura geprägt und erzeugt die Stimmung des Schauderhaften und des Unheimlichen. Das Haus hat auch eine Verbindungsfunktion zwischen zwei Welten, der der Träume und Halluzinationen und der der Wirklichkeit. Die Klärung des Falles, die nicht nur in der Realität, sondern (vor allem) im Inneren des Protagonisten, der mit seinen psychischen 39 Parei, Was Dunkelheit war, S. 162. 40 Elfriede Müller; Alexander Ruoff, „Interpreten des Grauens. Geschichte und Verbrechen im französischen Roman Noir“, in Jungle World, Nr. 3, 10. Januar 2001.: http: / / jungle-world.com/ artikel/ 2001/ 02/ 26494.html (letzter Zugriff am 16. November 2014). Ein Krimi ohne Auflösung? 187 Grenzzuständen kämpft, stattfindet, lässt Inka Pareis Roman mit einem Psycho-Thriller vergleichen. Das düstere Ambiente wird zusätzlich durch eine von der Autorin bewusst eingeführte Doppelbödigkeit der Realität verstärkt. Demnach lässt sich zusammenfassend feststellen, dass der Roman Was Dunkelheit war ein vielschichtiges Konstrukt ist, das Motive aus mehreren Subgenres der Kriminalliteratur miteinander verbindet. Bibliographie Wilma Albrecht; Richard Albrecht, „‚Krimi‘- und Literaturwissenschaft. Zu einigen literaturwissenschaftlichen Diskussionsschwerpunkten um fiktionale Verbrechensliteratur“, in Literatur in Wissenschaft und Unterricht 13, 1980, S. 124-142. Richard Alewyn, „Ursprung des Detektivromans“, in Richard Alewyn, Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a. M., Insel, 1974, S. 341-360. Richard Alewyn, „Das Rätsel des Detektivromans“, in Adolf Frisé (Hrsg.), Definitionen. Frankfurt a. M., Klostermann 1963, S. 117-136. Birgit Althans; Anke, Tammen, „Das Begehren am Kriminalroman“, in Tanja Jankowiak; Karl-Josef Pazzini et. al. (Hrsg.), Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen: zur „Rücksicht auf Darstellbarkeit“ in der Psychoanalyse. Bielefeld, transcript Verlag, 2006, S. 133-151. Walter Göbel, „Die Negation des historischen Fortschritts im afroamerikanischen Kriminalroman oder die Faszination des Absurden“, in Barbara Korte; Sylvia Paletschek (Hrsg.), Geschichte im Krimi: Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln; Weima; Wien, Böhlau, 2009, S. 165-180. Reinhard Hillich, Tatbestand: Ansichten zur Kriminalliteratur der DDR 1947-1986, Berlin, Akademie Verlag, 1989. Alexandra Krieg, Auf Spurensuche: der Kriminalroman und seine Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart, Marburg, Tectum, 2002. Kevin Keijo Kutani, Der Kriminalroman als Medium für (allgemeine) Gesellschaftskritik: Am Beispiel des schwedischen Autors Henning Mankell, Hamburg, Diplomica Verlag, 2013. Elfriede Müller; Alexander Ruoff, „Interpreten des Grauens. Geschichte und Verbrechen im französischen Roman Noir“, in Jungle World, Nr. 3, 10. Januar 2001, URL: http: / / jungle-world.com/ artikel/ 2001/ 02/ 26494.html (letzter Zugriff am 16. November 2014). Enrico Nitzsche, Krimi auf der ganzen Welt - Die ganze Welt im Krimi: Eine komparatistische Auseinandersetzung mit Krimis auf drei Kontinenten, Hamburg, Diplomica Verlag, 2013. Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart; Weimar, Metzler, 2003. Inka Parei, Was Dunkelheit war, München, Random House, 2007. Stefan Riedlinger, Tradition und Verfremdung: Friedrich Dürrenmatt und der klassische Detektivroman, Marburg, Tectum, 2000. Ellen Schwarz, Der phantastische Kriminalroman: Untersuchungen zu Parallelen zwischen roman policier und gothic novel, Marburg, Tectum, 2001. Agnieszka Dylewska 188 Ulrich Suerbaum, „Warum Macbeth kein Krimi ist: Gattungsregeln und gattungsspezifische Leseweise“, in Poetica 14, 1982. Kira Stiehr; Lisa Müller; Frano Dolo, Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane: Erläuterungen zu „Justiz“, München, München Science Faktory, 2013. Melanie Wigbers, Krimi-Orte im Wandel: Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006. Tom Zwaenepoel, Dem guten Wahrheitsfinder auf der Spur: das populäre Krimigenre in der Literatur und im ZDF-Fernsehen, Würzburg, Königshausen Neumann, 2004 Internetseiten http: / / krimi-schreiben.de/ kriminalroman/ index.php (letzter Zugriff am 15. November 2014). Gerda Nogal (Selbst)Reflexion des Schreibprozesses zwischen Krimi- und Komikansätzen Zu Birgit Vanderbekes abgehängt (2002) 1. Kriminalliteratur und ihre Bauformen „Der Autor eines Kriminalromans“ - so betont der Literaturkritiker Richard Kämmerlings - „trägt die schwere Last, für den Sinn und die logische Kohärenz seiner Welt selbst verantwortlich zu sein“ 1 . In der Tat scheint die ‚logische Anlage‘ in kriminalistischen Erzählungen eine fundamentale Rolle zu spielen, da hier Ursache und Wirkung, Tat und Motiv, ein rätselhafter Fall und dessen Aufklärung sinnhaft gekoppelt werden. Damit ein Text als gattungstypisch gilt, bedarf es ‚musterhafter‘ Fiktionsakteure, zu denen genuin die Figur eines Täters bzw. Verbrechers zählt und dem die Instanzen des Opfers und die eines ‚Detektivs‘ gegenüberzustellen sind. Dem letzteren kann - und damit ist der Gattungsbegriff wesentlich breiter angelegt - der Habitus einer Privatperson verliehen werden. Wenn dem so ist, dann sind die wesentlichsten Kennzeichen der - ohnehin als populär bzw. trivial zu bezeichnenden Erzählgattung - an stark schematisierten Erzählformen und einem begrenzten Figurenarsenal anzusehen 2 . Eine Möglichkeit zur Schematisierung der Bauformen der Kriminalerzählung legt unter anderem Edgar Marsch vor, indem er auf drei konstituierende Elemente der Gattung, die Vorgeschichte, den Fall und die Detektion hinweist 3 . 1 Richard Kämmerlings, „Kriminalistische Literatur: Hat der Autor ein Motiv? “, http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ themen/ kriminalistische-literatur-hat-derautor-ein-motiv-1882055.html (letzter Zugriff am 7. August 2014). 2 Hier geht es vor allem um Popularität als einen Aspekt, der - im Unterschied zu Literarizität - als eine Spannung und gute Unterhaltung versprechende Variation standardisierter Erzählmuster zu begreifen ist. Vgl. Jochen Vogt, Kriminalroman, in Volker Meid (Hrsg.), Literatur Lexikon. Begriffe, Realien, Methoden, Bd. 13. München, Bartelsmann, 1992, S. 495-498, hier S. 495. 3 In Abhängigkeit davon, wie diese drei Elemente im Krimi angeordnet sind und an welcher Stelle der „Erzähleinsatz“, also der Punkt der Handlung, an dem der Erzähler zu erzählen beginnt, erfolgt, ergeben sich für Marsch vier typologische Sonderfälle der Kriminalerzählung. Vgl. Edgar Marsch, Die Kriminalerzählung. Theorie - Geschichte - Analyse, München, Winkler, 1983, S. 82-87. Zum Schema und Strukturteilen im Krimi vgl. auch Ulrich Suerbaum, Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart, Reclam, 1984, S. 74 f. Gerda Nogal 190 Erfasst man die Textstruktur in solch einer ‚tektonischen‘ Form, so scheint die Annahme über eine Handlungsgrammatik in Kriminalerzählungen gerechtfertigt und durchaus produktiv zu sein 4 . Auszugehen ist von überschaubaren, ja vereinfachten Strukturgesetzmäßigkeiten und Handlungsschemata, mit denen die Struktur der Texte erschließbar gemacht und im Sinne von Algirdas J. Greimas Aktanten abgegeben werden 5 . Mit Birgit Vanderbekes Erzähltext abgehängt, der zum Gegenstand der vorgelegten Analyse wird, liegt zweifelsohne ein psychologisch engagiertes Prosastück vor, in dem die Innenwelt der Protagonistin in den Vordergrund und - somit - ein hoher Anteil an Reflexivmomenten in Erscheinung tritt, wodurch eine Dominanz der Geschichte über das Geschehen aufzuzeigen ist. Und dennoch: abgehängt geht, einer klassischen Kriminalgeschichte nicht unähnlich, von einem zu Beginn der Geschichte berichteten Rätselfall aus: In dem spektakulären in-medias-res-Einstieg meldet sich eine anonyme, wenn auch „freundliche [und] warme Männerstimme“ zu Wort. Der Drohanruf wird aus der Perspektive der Protagonistin und Ich-Erzählerin wie folgt vermittelt: Ich hab dich auch gestern gesehen, sagte die Stimme. Mit wem spreche ich bitte, sagte ich. Du Sau, sagte die Stimme, dir werde ichs zeigen. Ich legte auf 6 . Der Auftakt könnte mit vielem Recht als eine „Exposition mit Darlegung des Falles“ im Sinne von Ulrich Suerbaum gelten 7 . Es fällt auf, dass die männliche Nebenfigur ohne ein Appellativum konstituiert wird, was offensichtlich narrativen Zwecken der Spannungserzeugung dient. Damit führt der Text- 4 In diesem Kontext werden von Algirdas J. Greimas Begriffe „Tiefensemantik“ und „Tiefengrammatik“ geprägt, durch die Erzähltexte generell determiniert wären. Algirdas Julien Greimas, „Elemente einer narrativen Grammatik“, in Heinz Blumensath (Hrsg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1972, S. 47-67, hier S. 49. 5 Das so genannte Aktantenmodell wurde von Algirdas J. Greimas aus einer Neuinterpretation der von Vladimir Propp vorgeschlagenen Typisierung der Handlungsträger im russischen Volksmärchen entwickelt. Greimas geht von Oppositionen abstrakter Konzepte, wie gut/ böse, tot/ lebendig aus, die verzeitlicht und von Aktanten dargestellt werden. Zum Beispiel: Der gute Held tötet den bösen Gegenspieler. An der Oberfläche des Textes kann diese Tiefenstruktur durch verschiedene Arten von Helden (einzelner oder Gruppe, männlich oder weiblich) und verschiedene Handlungen (verschiedene Todesarten, die schnell zu einem Ergebnis führen oder erst nach langer Zeit) repräsentiert werden. Vgl. Algirdas Julien Greimas, Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen, Braunschweig, Friedr. Vieweg + Sohn, 1971, S. 157-239. 6 Birgit Vanderbeke, abgehängt, Frankfurt am Main, Fischer, 2001, S. 7. 7 Suerbaum, Krimi, S. 75. (Selbst)Reflexion des Schreibprozesses 191 anfang in einer direkten Linie zum Kriminalroman Die Venus und das Superding von Jerry Cotton, in dem - ebenfalls in einem Telefonat am Textanfang - eine der Nebenfiguren mit der Bezeichnung „eine weibliche Stimme“ etabliert wird 8 . Damit soll aber nicht gesagt werden, dass mit der sprachlichen Interaktion von Vanderbekes Protagonistin mit der „Männerstimme“ eindeutig ein Verbrechen hervorgebracht wird. Bedenkt man jedoch, dass der Fiktion ein Zitat von Christoph Deutschmann vorausgeschickt ist, in dem die „Ausführung eines Mordes“ und die „Kommunikation der abgeschlossenen Handlung »Mord«“ erwähnt und verglichen werden, so wird eines augenfällig: Die Autorin stellt ihre Figuren in einen episodenreichen, ja kriminalistisch gefärbten Kontext, der auf den klassischen Ablauf einer Kriminalerzählung schließen lässt. Suggeriert wird eine lineare, abenteuerliche und vordergründige Plotentfaltung, die auf eine Aufklärung ‚des Falls‘ hinzielt, wie sie mit der sukzessiven bzw. abduktiven Ermittlung des Täters - hier des anonymen Anrufers - realisierbar ist. Allein diese Erkenntnis erlaubt es, dem Erzähltext von Birgit Vanderbeke das Potential der Kriminalliteratur abzugewinnen. Entsprechend besteht das Anliegen der Analyse darin, herauszustellen, 1) aus welchen krimiverwandten bzw. -ähnlichen Besonderheiten sich das Textrepertoire speist und wie sie im Handlungsgerüst organisiert werden. In diesem Zusammenhang erweist es sich als relevant, 2) die Bezüge zu dem Genre der Kriminalerzählung auf deren Funktions- und Wirkungspotential hin zu befragen. Es ist zu erörtern, ob die in abgehängt eingesetzten kriminalistischen Motive, die zweifelsohne eine textübergreifende Resonanz haben, in ihrer Konzeption gleichzeitig als sinnkonstituierend und handlungsfunktional einzustufen sind. 2. Zu kriminalistischen Handlungs- und Strukturelementen in abgehängt Wenn es etwas gibt, was ich langweilig finde, dann sind das Krimis und Eitelkeit. (Birgit Vanderbeke, abgehängt) Über den verbalen Angriff des anonymen Anrufers, der im Text der Geschichte völlig abrupt vermittelt wird, verfügt die Handlungseröffnung offensichtlich über Merkmale, die in eine Kriminalbzw. Detektiverzählung Einzug fänden. Dies um so mehr, als dass die Episodendarstellung auf der semantischen Ebene mit umgangssprachlichen Jargonformulierungen reali- 8 Jerry Cotton, Die Venus und das Superding, Bastelei, Lübbe, 1996, S. 5. Zit. nach Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin; New York, 2004, S. 146. Gerda Nogal 192 siert wird, die an Mittel der Unterhaltungsbzw. Trivialliteratur grenzen („Du Sau. Dir werd ichs zeigen“) 9 . Das Geschehensmoment, das selbst durch die Verortung im Texteingang hervorgehoben wird, wird nachfolgend in die Konstruktion der gesamten Geschichte einbezogen, indem es als Auslöser für vertiefte Reflexionen und Ängste der Erzählerin ausgegeben wird. Als die Erzählsituation wird - ähnlich wie in modernen Krimis - die Ich-Erzählweise gewählt, die - da sie eingeschränkt ist, ein höheres Maß an Spannung ermöglicht. Demnach wird im Kontext einer durchaus harmlosen Begebenheit - eines Bank- und Postbesuchs der Protagonistin - Folgendes notiert: Auf dem Rückweg fing es an zu regnen. Die Einkaufsstraßen sind dann trotzdem voller Leute, aber die anderen waren leer. Jedenfalls waren hinter mir keine Schritte zu hören. Trotzdem hatte ich dieses kalte Gefühl im Rücken, als wenn mich einer von hinten ansehen und mir folgen würde 10 . Sichtbar wird, dass der point of view von der Außenweltdarstellung auf die Ausleuchtung der Innenwelt der Hauptfigur wechselt, wodurch ihre steigenden Angstzustände manifest werden. An dieser Vermittlungsweise zeigt sich - und das ist zu betonen -, dass die erfasste Ich-Erfahrung kein bedrohliches Ereignis, sondern lediglich dessen Antizipation ist. Und dennoch wird auf der Rezeptionsebene der Eindruck aufrechterhalten, dass derartige Sequenzen, wie sie nahezu durchgängig in die Handlung aufgenommen werden, handlungsfunktional seien und der Nachstimmung auf das Folgende dienten. In der Tat wird ferner durch Rückblenden, mit denen die Erzählgegenwart durchbrochen wird, eine rationale Erklärung für die ichhafte Konfusion geliefert: Die Hauptfigur ist eine erfolgreiche Autorin von Erzähl- und Theaterstücken und dauernd auf Theatertouren. In diesem Zusammenhang wird auf eine Aufführung in Hamburg verwiesen, vor der sie einen „Umschlag ohne Absender“ zugesandt bekommt, in dem sie ihr eigenes zerrissenes Foto findet 11 . Was somit implizit zutage tritt, ist der Umstand, dass die Theaterskripts und -stücke der Protagonistin unbeliebt bzw. kontrovers sein können. Dementsprechend heißt es im situativen Kontext der Theatervorstellung in Hamburg: Im Publikum sitzen so viele, hatte ich gedacht, und du bist ziemlich einzeln gegen die vielen, und wer sagt dir eigentlich, dass die sich das alles so ruhig erzählen lassen, was du ihnen da sagst. Könnte schließlich sein, einer sitzt da 9 Es mag unbestritten sein, dass Texte der Krimiliteratur unter Aspekten von literarischer Wertung mit dem Vermerk des Trivialen versehen werden, was sowohl an den stofflichen wie auch sprachlichen Merkmalen festzumachen ist. Suerbaum, Krimi, S. 11-16. 10 Vanderbeke, abgehängt, S. 10. 11 Ebd., S. 110. (Selbst)Reflexion des Schreibprozesses 193 drin und hat schon immer mal vorgehabt, jemand abzuknallen. Könnte ja sein, einer sitzt da drin und hat schon immer mal vorgehabt, ausgerechnet dich abzuknallen 12 . Offensichtlich soll die Preisgabe der Erzählerin als eine ‚Prominente‘ ihre - anscheinend subjektive - Erkenntnis legitimieren, den Gefahren verbaler und körperlicher Angriffe ausgesetzt zu sein. Dies veranschaulicht, dass es bei der Hinführung auf den beruflichen Handlungsrahmen der Hauptfigur ebenso zum Einsatz von inhaltlich-formalen Mitteln kommt, die der Fiktion eine kriminelle Schattierung verleihen (sollen). Besonders deutlich wird es an der Bedeutung, die einem der Bücher der Hauptfigur, das viel „Anstoß erregte“, zukommt 13 . Der erwähnte Roman geht auf die Realität der Protagonistin und - somit - auf eine ‚wahre‘ Begebenheit zurück, den mysteriösen Tod des Musikers Eddie. Die Informationsvergaben zu dem männlichen Antagonisten erfolgen in abgehängt durch zerstreute unabgeschlossene Gedankenströme der Erzählerin, in denen zwischen der Vergangenheits- und Gegenwartsebene des Erzählens changiert wird. Wie es zutage tritt, handelt es sich bei Eddie, der „in Kokaingeschichten verwickelt wäre“ und - nach einem seiner Konzerte - „tot im Hotelzimmer“ gefunden wurde, um einen Freund und Bandkollegen des figürlichen Lebensgefährten Serge 14 . Ähnlich wie bei den Berichten über die Drohanrufe geht es bei dem Eddie-Strang um Geschehenszusammenhänge, bei denen der Anteil an rätselhaften und Spannung erzeugenden, somit auch krimiverwandten Mitteln erheblich ist. Für die Darbietung jener Handlungsmotive gilt überdies, dass hierbei eine Trennung zwischen der empirischen Realität der Protagonistin und dem Stoff ihrer schriftstellerischen Werke unklar oder zumindest schwer ist. Entsprechend heißt es in Hinsicht auf die anonymen Anrufe, die - parallel zu den Eddie-Strängen - kontinuierlich in das Geschehen einfließen: Nach dem letzten Missverständnis und Irrtum, dessen Folgen jetzt als Theaterskript auf dem Sessel lagen, hatte jemand etliche Male angerufen und gesagt er würde unsere Katze massakrieren, und ich hatte jedes Mal aufgelegt, wenn er das sagte 15 . Wie es zutage tritt, sind die rätsel- und grauenhaften Ich-Erlebnismomente nicht nur im Rahmen Vanderbekes fiktionaler Welt zu verorten, sondern gleichzeitig zentrale Problemkonstellationen, über die ihre Erzählerin im Rahmen eigener Textproduktion zu berichten hat. Insofern handelt es sich 12 Ebd., S. 8. 13 Ebd., S. 44. 14 Ebd., S. 31 f. 15 Ebd., S. 36. Gerda Nogal 194 bei den Passagen mit der drohenden Männerstimme sowie denen, die um Eddies Tod kreisen, um Motive, die aus heterogenen Blickpunkten hergeleitet und fokussiert werden. Mit einem so erzeugten Spiel mit der Fiktionalität hängt eine Doppelschichtigkeit des Handlungsgerüsts zusammen: Die krimiähnlichen Bezugspunkte der Erzählung reichen somit in zwei Dimensionen der Fiktion hinein, d.h. in die Erzählgegenwart der Erzählerin sowie in die Binnengeschichten, die in abgehängt als narrativer Stoff der figürlichen Textproduktion bzw. Schreibtätigkiet, also eine Fiktion innerhalb der Fiktion, vergeben werden. Anders ausgedrückt: Die umspannten Ereignisse sind gleichzeitig zwei Bereichen zuzuschreiben - dem von der Protagonistin Erlebten oder dem von ihr Beschriebenen, also ihrer künstlerischen Erfindung. Spätestens an dieser Stelle ist zu bemerken, dass die so vermittelten Konstituenten der fiktionalen Welt auf keine sukzessive, logisch veranlagte Plotentfaltung zulaufen, wie sie zum Wesen einer Kriminalerzählung gehören sollte. Weder den telefonischen Angriffen noch dem ungeklärten Tod des Musikers Eddie wird in abgehängt eine zu erwartende konkretisierende Sinngebung nachgeliefert. Selbst dann, wenn die geheimnisvolle Telefon- Geschichte eine Steigerung erfährt und mit der anonymen Männerstimme verkündet wird: „Die Kleine [die Tochter der Protagonistin, Simmy - G.N.] ist in der Schule“. Es kann von keiner „Handlungsgrammatik“ gesprochen werden, die sich als eine schematisierte Ereignisstruktur verstehen ließe. Zu den Zuständen, die als eine logisch-kausale - aber keinesfalls dynamische - Abfolge des Anrufs vergeben werden, zählt höchstens, dass die vom Ich verspürte Androhung von Gewalt nun auf den kontextuellen Rahmen seiner Familie ausgeweitet wird. In dem Sinne heißt es figursensibel: Der Unterschied zwischen Angst und Entsetzen ist, daß Entsetzen von vorn kommt, während die Angst den Rücken hoch ins Genick schleicht und einen im Genick eiskalt festhält, und ich mußte außerdem überlegen, was ich anziehen würde […] und die Haare sollte ich auch rasch noch waschen, während Simmy in der Schule ist und ich morgen Eierkuchen mit Spinat machen werde, damit alles ist, als könnte Simmy nichts passieren, weil Eierkuchen und Spinat in eine Kindheit gehören, ob man sie mag oder nicht […] 16 . Mit der Sorge der Protagonistin um die Tochter, die mit der Darstellung täglicher routinierter Handlungs- und Gedankenabfolgen konterkariert, liegt offenkundig eine zur gelenkten Rezeption tendierende Erzählkonvention vor. Auffällig ist, dass die nüchterne Explikation der Angst durch das Mittel der Komik und den selbstironischen Stil der Narration eingelöst wird, was eine reflexive Distanz des Ichs zu dem Beschriebenen ermöglicht. Infolge dessen stehen derartige Textsequenzen, mit denen die gesamte Fiktion so gut wie überladen ist, keinesfalls im Dienste einer „Detektion“ bzw. Ent- 16 Ebd., S. 59. (Selbst)Reflexion des Schreibprozesses 195 krampfung des Rätselhaften. Dies trifft ebenso wenig für die Szene zu, in der die Hauptfigur sich einbildet, dass ein Mann, der „mit dem Blick bei [ihr] hängenblieb“, wohl „zu der Stimme an Telefon passte“ 17 . Statt dessen ist festzuhalten, dass die so erzeugten Situationen ab einem bestimmten Zeitpunkt weder spannend noch beängstigend wirken. Vielmehr trifft für diese Erzählweise zu, dass sie - anstatt zu einer „Spannung des Ratens“ im Sinne von Ernst Bloch 18 - zu einer verwirrenden Auflösung jeglicher Bestimmtheit der Handlung und somit zu einer rezeptiven Orientierungslosigkeit beiträgt. Das Funktions- und Wirkungspotential, das den textlichen Bezügen zur Kriminalität beizumessen ist, wird de facto im Text selbst aufgezeigt, wenn es mit seinem Erzähl-Ich heißt: „Wenn es etwas gibt, was ich langweilig finde, dann sind das Krimis und Eitelkeit“ 19 . Auf welchen thematischen Bereich dieser Befund zu beziehen ist, wird kenntlich, sobald es zu einem Gespräch der Protagonistin mit ihrem Herausgeber Meyer-Bromberger kommt. Die Figurenbegegnung macht zwei divergente, ja antagonistische Sichtweisen auf die Literatur zugänglich: Der anspruchsvollen „künstlerischen Freiheit“ 20 , zu der Vanderbekes Erzählerin tendiert, wird das populistische Anziehen der Leserschaft entgegen gesetzt, das von ihrem Herausgeber angestrebt wird. Was sich laut dem männlichen Antagonisten als ein durchaus zu erwartetes Zugriffs- und Erzählmuster anbieten würde, sei - und daran wird die zentrale Textaussage transparent - ein Schlüsselroman bzw. ein Krimi 21 . Sichtbar ist, dass Vanderbeke über die Symbolik ihrer fiktiven Welt auf das Handlungssystem Literatur Bezug nimmt, indem sie ihrer Hauptfigur Reflexionen über die Avantgarde zumutet, die der Kategorie der sog. ‚hohen Kunst‘ bzw. Literarizität entspricht. Im Plot der Fiktion würde jene Avantgarde zwar zur Bedeutung des Werkes, aber nicht zum Erfolg seiner Vermarktung beitragen. Auch wenn diese Befunde primär auf den situativen Kontext und künstlerischen Bereich der Musik zu beziehen sind, so wird eines impliziert und ausdrücklich: Die Autorin, so könnte man folgern, setzt die Möglichkeiten der kriminalistischen Form ein, um ein „Spiel mit dem Niveau“ zu treiben 22 . In der Konvention, abgehängt als eine Kriminalerzählung zu stilisieren, spiegelt sich ihr Anliegen, die Maßnahmen einer genuin psychologisch angelegten Erzählwelt bewusst zu sprengen, um der Wirkung 17 Ebd., S. 67 f. 18 Ernst Bloch, „Die Form der Detektivgeschichte und die Philosophie. Ein Vortrag“, in Merkur, 71 Jg. 1960, S. 665-683, hier S. 669. Zit. nach Marsch, Die Kriminalerzählung, S. 81 f. 19 Vanderbeke, abgehängt, S. 8. Vgl. auch S. 77. 20 Ebd., S. 75. 21 Vgl. ebd., S. 77. 22 Ebd., S. 83. Gerda Nogal 196 der Kriminalgattung einen kritischen Spiegel vorzuhalten. In der Tat hat es bei den krimiähnlichen Textpartien, Erzählmitteln und -motiven in abgehängt den Anschein, als würde die Autorin - dies in Analogie zu einem ihrer männlichen Antagonisten - „gern herausfinden, wie weit man das Niveau senken könne, ohne daß jemand etwas merkt“ 23 . 3. Zu Reflexions- und Komikanteilen in abgehängt Ich ahnte, wie es sich anfühlen muß, wenn man nicht lesen und schreiben kann, und schließlich kaufte ich ein Fertiggericht mit Nudeln, weil ein Etikett mit einer englischen Gebrauchsanweisung draufgeklebt war. (Birgit Vanderbeke, abgehängt) Parallel zu den krimiähnlichen Plotelementen wird das psycho-soziale Konstrukt der weiblichen Hauptfigur entwickelt. An den gedanklichen und kriminellen Darstellungssequenzen sind - und darüber kann Einigkeit herrschen - nicht zwangsläufig zwei entgegenzusetzende Kategorien anzusehen. Mit der Erzählkonvention, psychologische Momente zu schildern, bieten sich in kriminalistischen Erzählungen Möglichkeiten, Motive bzw. Milieubeschreibungen zu liefern, die insbesondere die Täter-Figur antreiben, mithin deren ‚Psycho-Profil‘ charakterisieren können. Dies kann durchaus Gelegenheit für anspruchsvolle Literatur bieten, zu der manch ein Krimi tendiert. abgehängt geht von einer - für Vanderbeke nicht untypischen - Grundkonstellation aus, der Partnerachse ihrer Protagonistin, einer Schriftstellerin um die 40. Ihr Lebensgefährte Serge ist Jazzmusiker und dauernd auf Auslandstourneen. Im kontextuellen Rahmen des Familienalltags gilt das Augenmerk der Erzählerin der zwölfjährigen Tochter Simmy, wobei das generative Konzept der Mutter-Tochter-Achse in klischeehaften, bis hin zu groben Zügen angerissen wird. In dem Sinne heißt es in einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter: Bine [Simmys Freundin - G.N.] hat sich einen Schmetterling tätowiert. So einen zum Wiederabziehen, sagte ich, aber Simmy war empört, weil er nicht zum Wiederabziehen, sondern richtig echt war, echt in die Haut tätowiert […] Bevor sie mir die natürliche Schlussfolgerung aus der Tatsache beibringen konnte […], sagte ich rasch, wir sprechen morgen über Schmetterlinge, und 23 Ebd. (Selbst)Reflexion des Schreibprozesses 197 erfuhr immerhin, daß wir morgen erst um viertel nach acht darüber sprechen würden, weil die erste Stunde ausfallen würde 24 . Derartige Informationen bauen einen Rahmen auf, in den die krimiverwandten Handlungsmotive eingespeist werden. Auffällig ist, dass sie nicht nur etwas über die Hauptfigur sondern auch - und vor allem - über die räumlich-zeitliche Situierung der Handlung aussagen, somit den Rang von Zeitindikatoren haben 25 . Durch den Einsatz von solchen Wiedererkennungseffekten - die Protagonistin wird mit ähnlichen Problemen wie der heutige Leser konfrontiert - scheinen die kriminalistischen Anteile der Handlung authentischer und überzeugender zu wirken. Damit ist die Anlage der Figur eine mehrdimensionale, was das Spannungs- und Gewaltpotential des Textes abmildern kann. So verhält es sich auch mit solchen Textpartien, in denen das Erzähl-Ich zu existentiellen Reflexionen neigt, die von den leitenden Plotsträngen gänzlich abweichen. In dem Sinne heißt es figursensibel: Manchmal guckt mich einer im Zug aufdringlich neugierig an, und dann […] denke [ich], ich habe irgendwo einen Fleck auf dem Mantel oder irgendwas Komisches an mir. Natürlich haben sie auch früher aufdringlich neugierig geguckt oder sich umgedreht und mir manchmal auch hinterhergepfiffen, aber das machen sie bei vielen Frauen, und irgendwann hört das auf. Es hatte auch schon fast aufgehört, als ich um die Vierzig war, und im Grunde war ich sogar ein bißchen beleidigt, daß es aufgehört hatte […] 26 . Das scharfsinnige satirische Beobachtungsvermögen des Erzähl-Ichs wird in seinen zynischen autoironischen Kommentaren ausdrücklich und hat wohl zum Ziel, die Anspannung aufzulockern, die im Text durch den Telefonterror und die figürlichen Angstzustände sukzessiv aufgebaut wird. Gleichwohl hat dieser Wahrnehmungs- und Erzählmodus zur Folge, dass die - ohne dies schwer abzugewinnende - Sukzession der Handlung in abgehängt redundant durchbrochen wird. Dies um so mehr, als dass die Konstatierungen der Erzählerin zeitlich stark auseinanderraffen, da sie bis in die Kindheit der Figur hineinreichen. Demnach wird von ihr in einer Rückschau notiert: Als Kind habe ich oft, wenn ich nachts wach wurde, an all die Leute gedacht, die jetzt auch wach wären, und ich habe mir gewünscht, sie alle zu versammeln, weil ich mir vorstellte, dass sie durch das Wachsein alle etwas Gemeinsames hätten. Manchmal habe ich mir auch gewünscht, alles, woran sie denken, während sie wach liegen, sehen zu können, aber später wußte ich, daß 24 Ebd., S. 34. 25 Vgl. dazu ebd., S. 9, S. 29, S. 34 f., S. 64. 26 Ebd., S. 9. Gerda Nogal 198 das mit schlaflosen Gemeinsamkeiten so wenig stimmt wie mit den meisten anderen […] 27 . Einsichtig wird, dass sich der berichtende Erzählton zu Gunsten eines weniger pointierten differenzierteren Reflektierens ändert, womit offensichtlich auf Darstellungsmittel und Themen abgezielt wird, die in den psychologischen Roman Einzug fänden 28 . Aber anders als in diesem Romantyp öffnet sich die Ausleuchtung der Innenwelt von Vanderbekes Hauptfigur nicht nur ins Existenzielle und Philosophische, sondern stets ins Satirische und Absurde. In diesem Sinne wird von der Erzählerin Folgendes verzeichnet: Im Grunde ist ein Mißverständnis ja nichts anderes, als dass jemand denkt, er hat etwas über einen blauen Elefanten gelesen, während er in Wirklichkeit etwas über ein grünes Nilpferd gelesen hat, und fortan besteht er auf einem blauen Elefanten, und ein Irrtum ist nichts anderes, als daß jemand denkt, er weiß, wie etwas ist, und wenn es dann anders ist, als er vorher gedacht hat, daß es ist, wird er ungeduldig mit dem, wie es ist, und versucht, es dazu zu bringen, so zu sein, wie er vorher gedacht hat, daß es ist und jetzt immer noch denken möchte, wie es ist, und wenn es viele Leute sind, die sich denken, daß jemand, dessen Foto in Zeitungen gewesen ist [ein Künstler, Schriftsteller etc. - G.N.], gern von anderen Schicksale erzählt und Bücher geschickt bekommen möchte, dann schicken viele Leute so jemandem Schicksale und Bücher, und der Irrtum ist immer größer, je mehr Schicksale und Bücher so jemand erhält, der ja im übrigen nicht so jemand ist, sondern bloß er selbst […] 29 . Die psychologisch-reflexive Aussagekomponente von abgehängt, wie sie mit der schlagartigen Ermittlung der emotionalen Befindlichkeit und Nachdenklichkeit des Ichs hervorgebracht wird, geht selbst in der Raffiniertheit des Erzählvollzugs über: Auf der semantischen Vermittlungsebene werden die existentiellen Gedankenströme der Figur mit einer irritierenden ‚Langatmigkeit‘ der Sätze beinahe ad absurdum geführt. Dies kann den Schluss nahe legen, dass die Erfahrungen und Gedanken der Protagonistin ein weitgehendes Eigenleben entwickeln: Was in den Vordergrund rückt, ist ja nicht die äußere Struktur der Handlung, sondern die Bedeutung, die dem subjektiven Ich-Erlebnis zukommt. Bezeichnenderweise werden die existentiellen Ich-Befunde aber stets auf Ereignisse und Umstände geführt, die auf die Protagonistin von Außen einwirken. Die Ich-Perspektive entpuppt sich als ein subjektiver und sensibler Blickwinkel des heutigen Künstlers, deren Existenz in der Gesellschaft Züge eines Ausgesetzt-Seins gegenüber seinem 27 Ebd., S. 37 f. 28 Hierfür würde nicht zuletzt der Umstand sprechen, dass die subjektive und individuelle Einsicht des Ichs in die eigene Befindlichkeit über die krimi-verwandten Handlungsstränge durchaus Züge einer psychischen Ausnahmesituation hat. 29 Ebd., S. 25. (Selbst)Reflexion des Schreibprozesses 199 Publikum und den Medien annimmt. Was bei der Selbstreflexion und der Reflexion des Schreibprozesses Gestalt gewinnt, ist die Erkenntnis, dass die Erwartungen der Leserschaft, die - so Meyer-Bromberger - „nun man den Skandal“ 30 will, und die des Autors schwer abzustimmen sind 31 . Diese Erkenntnis findet in der Konstatierung der Erzählerin Ausdruck, die unmittelbar auf das Gespräch mit ihrem Agenten folgt: „Ich ahnte“, heißt es in der Ich-Perspektive, „wie es sich anfühlen muß, wenn man nicht lesen und schreiben kann, und schließlich kaufte ich ein Fertiggericht mit Nudeln, weil ein Etikett mit einer englischen Gebrauchsanweisung draufgeklebt war“ 32 . Dass im Plot man sich für eine Sprache entscheidet, die nicht jedem ‚Leser‘ zugänglich und verständlich ist, lässt sich - den literarischen Vermarktungsmaßnahmen und -zwecken zuwider - als Vanderbekes implizite Bekenntnis zur anspruchsvollen (versus unterhaltsamen) Lektüre auslegen. 4. Fazit „Das Verfassen eines Buches ist“, so ließe sich mit Monika Fludernik behaupten, „noch lange nicht genug, um es einem Leser zukommen zu lassen“. In Verbindung damit ist auf Produktions- und Verkaufsaspekte literarischer Texte hinzuweisen, die „ganz vom Geschmack des Publikums“ abhängen würden 33 . Unter dieser Perspektive nimmt es nicht Wunder, dass Kriminalerzählungen - so Ulrich Suerbaum - durch ihren konstanten Anspruch auf Unterhaltung eine große Lesbarkeit erreichen würden 34 . Schließt man sich Richard Kämmerlings an, so sei für die „fiktionalen Darstellungen der Gegenwart“ zu berücksichtigen, dass sie mittlerweile „gar nicht mehr ohne Kriminalität“ würden auskommen können 35 . Dies könnte dazu verführen, jeden Text, der aus Möglichkeiten der Gattung schöpft, als einen Krimi zu identifizieren. Sicher trifft zu, dass in abhängt aus den „Möglichkeiten der kriminalistischen Form“ geschöpft wird: Im Text sind stoffliche und narratologische Mittel aufzuweisen, die in unmittelbarer Korrespondenz zu der Gattung der Kriminalerzählung stehen. Insofern scheint es gerechtfertigt, an dieser Verfahrensweise das Anliegen der Autorin zu erkennen, ihre reflexiv engagierte Studie des Schreibprozesses in eine spannende, zeitaktuelle Kriminalgeschichte zu verpacken und - somit - aufzulockern. Gekoppelt an Darstellungsweisen, die für eine psy- 30 Ebd., S. 8. 31 Vgl. dazu ausführlich Punkt 2 der Analyse. 32 Ebd. 33 Vgl. dazu ausführlich Monika Fludernik, Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006, S. 25-31. 34 Suerbaum, Krimi, S. 196-201. 35 Kämmerlings, „Kriminalistische Literatur“. Gerda Nogal 200 chologisch angelegte Erzählung kennzeichnend sind, könnte dieses Erzählverfahren im Dienste einer Rezeptionslenkung bzw. purer Unterhaltung stehen, indem beim Leser Spannung oder Schaudern erzeugt wird. Und dennoch: Was anfangs als eine Verrätselung des Erzählten wirkt, entpuppt sich mit dem Fortschreiten der Handlung als eine anvisierte Sprengung von Logik und Sinnkohärenz. Mit Jürgen H. Petersen ließe sich sagen, dass hier „Diffusionen inszeniert und Inkohärenzen ins Werk gesetzt [werden], die lediglich der Sinnzertrümmerung dienen und deshalb jede Rezeption erlauben“ 36 . Literarästhetisch erfasst bedeutet es, dass dem Text nur schwer ein übergreifender Zusammenhang abzugewinnen ist, der der Handlungsebene zugrunde liegt. Wenn dem so ist, dann kann es leicht fallen, sich den übergreifend kritischen Rezensionen zu abgehängt anzuschließen und den Text als ein „sehr beengtes Stück Literatur“ (Frankfurter Rundschau vom 11. Mai 2001) 37 oder „Schlampereien im Literarischen“ (Die Tageszeitung vom 13. März 2001 ) 38 abzustempeln. Es ist aber auch berechtigt, die Frage nach dem Funktionspotential der im Plot enthaltenen „Krimi- und Francoise-Sagan-Motive“ (Neue Zürcher Zeitung vom 10. März 2001) 39 auf die Instanz des implizierten Autors zu beziehen und mit der Frage nach der Qualität der heutigen Literatur schlechthin zu verbinden. Dass hier an Phänomene der Kriminalliteratur angeknüpft wird, ist nicht handlungsfunktional, sondern eine Art Abschirmung von unterhaltsamen Erzählformen. Hierbei erschöpft sich der Text nicht - wie es erzählanalytisch nachgewiesen wurde - im Ausstellen der Kritik trivialer Kunst- und Literaturformen, die den Fiktionsakteuren in den Mund gelegt wird. Es wird vielmehr beinahe empirisch vor Augen geführt, wie die erzählte Welt durch Mittel der kriminalistischen Gattung trivialisiert werden kann. Wenn die Krimi-Motive bei Vanderbeke keine Anziehungskraft besitzen, dann nicht ohne Grund. Denn: Was in abgehängt leitmotivisch eingesetzt und bewusster Reflexion zugänglich gemacht wird, ist die Erkenntnis, dass sich eine psychologische und reflexive Dichte in Erzähltexten äußerst schwer mit vordergründiger Unterhaltung zusammenfügen lassen. Auch wenn die Vertriebs-, Vermark- 36 Jürgen H. Petersen, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart; Weimar, Metzler, 1993, S. 40. 37 Anton Thuswaldner, „Rezensionsnotiz“, in Frankfurter Rundschau, 31.05.2001, zit. nach http: / / www.perlentaucher.de/ buch/ birgit-vanderbeke/ abgehaengt.html (letzter Zugriff am 6. Februar 2015). 38 Angelika Ohland, „Rezensionsnotiz“, in Die Tageszeitung, 13.03.2001, zit. nach http: / / www.perlentaucher.de/ buch/ birgit-vanderbeke/ abgehaengt.html (letzter Zugriff am 6. Februar 2015). 39 Hanns-Josef Ortheil, „Rezensionsnotiz“, in Neue Zürcher Zeitung, 10.03.2015, zit. nach http: / / www.perlentaucher.de/ buch/ birgit-vanderbeke/ abgehaengt.html (letzter Zugriff am 6. Februar 2015). (Selbst)Reflexion des Schreibprozesses 201 tungs- und Verkaufsaspekte derzeit zunehmend mit Unterhaltungsmodi zusammenhängen, so ist die Avantgarde - und mit der Konstatierung wird Vanderbekes Erzähl-Ich zitiert und das Resümee abgerundet - „doch noch nicht so gründlich abgehängt“ 40 . Bibliographie Ernst Bloch, „Die Form der Detektivgeschichte und die Philosophie. Ein Vortrag“, in Merkur, 71 Jg. 1960, S. 665-683. Jerry Cotton, Die Venus und das Superding, Bastelei, Lübbe, 1996. Algirdas Julien Greimas, „Elemente einer narrativen Grammatik“, in Heinz Blumensath (Hrsg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 1972, S. 47-67. Monika Fludernik, Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006. Algirdas Julien Greimas, Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen, Braunschweig, Friedr. Vieweg + Sohn, 1971. Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin; New York, 2004. Richard Kämmerlings, „Kriminalistische Literatur: Hat der Autor ein Motiv? “, http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ themen/ kriminalistische-literatur-hatder-autor-ein-motiv-1882055.html (letzter Zugriff am 6. Februar 2015). Edgar Marsch, Die Kriminalerzählung. Theorie - Geschichte - Analyse, München, Winkler 1983. Volker Meid (Hrsg.), Literatur Lexikon. Begriffe, Realien, Methoden, Bd. 13., München, Bartelsmann 1992, S. 495-498. Angelika Ohland, „Rezensionsnotiz“, in Die Tageszeitung, 13.03.2001, http: / / www.perlentaucher.de/ buch/ birgit-vanderbeke/ abgehaengt.html (letzter Zugriff am 6. Februar 2015). Hanns-Josef Ortheil, „Rezensionsnotiz“, in Neue Zürcher Zeitung, 10.03.2015, http: / / www.perlentaucher.de/ buch/ birgit-vanderbeke/ abgehaengt.html (letzter Zugriff am 6. Februar 2015). Jürgen H. Petersen, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart; Weimar, Metzler, 1993. Ulrich Sauerbaum, Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart, Reclam, 1984. Anton Thuswaldner, „Rezensionsnotiz“, in Frankfurter Rundschau, 31.05.2001, http: / / www.perlentaucher.de/ buch/ birgit-vanderbeke/ abgehaengt.html (letzter Zugriff am 6. Februar 2015). Birgit Vanderbeke, abgehängt, Frankfurt am Main, Fischer, 2001. Jochen Vogt, „Kriminalroman“, in Volker Meid (Hrsg.), Literatur Lexikon. Begriffe, Realien, Methoden, Bd. 13. München, Bartelsmann 1992, S. 495-498. 40 Vanderbeke, abgehängt, S. 96 f. Wolfgang Brylla Ist der Detektiv passé? Narrative Ermittlung des Selbstmordes in Rainer Wocheles Novelle Der Flieger 1. Krimi - kein Krimi? Vergebens sucht man in den Buchhandlungen in der Krimiecke, geschweige denn auf den Bestsellerlisten, Rainer Wocheles Novelle Der Flieger. Der schlichte Grund dafür lautet: der 2004 im Verlag Klöpfer & Meyer veröffentlichte Text scheint auf den ersten Blick nicht viele Gemeinsamkeiten mit der heutzutage so populären Gattung des Kriminalromans zu haben. Es gibt ja in der Handlung keinen Detektiv, kein Morddelikt, das man enträtseln muss und keinen Täter, der zur Strecke gebracht werden soll, damit der Gerechtigkeit Genüge getan werden kann. Obwohl Wocheles Geschichte über den Sportflieger Richard Recknagel vom Feuilleton viel beachtet worden ist, nahm die Literaturwissenschaft die Novelle nicht unter die Lupe. Dies mag an der Unkonventionalität der Erzählweise von Wochele liegen. Mario Andreotti verwies beispielsweise in seiner Buchbesprechung auf die Ähnlichkeiten der Recknagal-story mit Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob vor allem im Hinblick auf die praktizierte Erzählästhetik, die Nuancen der verwendeten Sprache und die nonkonform-originelle Erzählstruktur 1 . Der Flieger könne man, so Andreotti, wegen der „raffinierten Erzählweise“ auch mit dem Werk von Alfred Döblin vergleichen 2 . Trotz dieser und anderer Lobsprüche wurde jedoch der Flieger-Novelle keine allzu große Aufmerksamkeit geschenkt. Auch die Krimiforschung nahm sich dieses Textes nicht an, trotz immer wieder in den Kritiken auftauchenden Behauptungen, man habe es im Falle von Wochele mit einer gewieften, überdurchschnittlich kreativen Detektiverzählung zu tun 3 . Andreotti liest die Novelle als eine „spannende Detektivgeschichte“ 4 , die Stuttgarter Zeitung interpretiert sie als eine „Art 1 Mario Andreotti, „Zu Rainer Wocheles Novelle Der Flieger“, http: / / www.rainerwochele.de/ pressestimmen/ peter-o-chotjewitz-und-prof-dr-marioandreotti-zum-flieger (letzter Zugriff am 12. März 2015). 2 Ebd. 3 Vgl. Christiane Matter, „Der Flieger will nicht mehr. Ein ungewöhnlicher Krimi von Rainer Wochele“, in St. Galler Tagblatt vom 23. Mai 2005, S. 22; [Rezension], „Flieger Recknagels Tod. ‚Literatur im Gespräch‘ mit Rainer Wochele“, in Stuttgarter Zeitung vom 7. Februar 2005. 4 Andreotti, „Zu Rainer Wocheles Novelle Der Flieger“. Wolfgang Brylla 204 Krimi“, in dem der „Erzähler detektivisch“ dem Geschehen nachgeht 5 . Und Wochele selbst spricht in einem Zeitungsinterview für die Eßlinger Zeitung, dass er bewusst und gezielt mit einer Erzählfigur gearbeitet habe, deren man Merkmale eines „Kriminalkommissars“ zuschreiben könnte 6 . Das Anliegen des folgenden Beitrags besteht darin, Wocheles Novelle Der Flieger auf ihr ‚Krimipotential‘ zu hinterfragen. Inwieweit lässt sich die Selbstmördergeschichte nicht nur mit Blick auf den Plot, d.h. auf die histoirie (die Was-Ebene), sondern vor allem mit Blick auf den discourse (die Wie- Ebene) als einen Krimi bzw. als einen krimiorientierten Text, also einen Text, der Anleihen beim genretypischen Kriminalroman macht, begreifen? Welche Rolle spielt bei der Inszenierung und Darstellung des Suizids der Erzähler? Werden die Rezipienten durch die Erzählstimme in die Irre geführt? Wer schlüpft in die Rolle der Ermittelnden, ohne den doch die klassische Krimigeschichte nicht funktionieren würde? 2. Fragendes Erzählen als ‚neues Schema‘ Ulrich Suerbaum stellt fest, dass eine Detektivgeschichte immer ein vorgegebenes Thema habe, und zwar „die Aufklärung (detection) eines Verbrechens, in der Regel eines Mordes“ 7 . Allerdings seien Selbstmordfälle unzulässig 8 , weil somit der Grundmovens und die Hauptmotivierung einer Kriminalerzählung abhanden kämen und sie an ihrer generellen Ausrichtung Substanz verlieren würde. Ein Selbstmord gehöre zum Genre Krimi einfach nicht dazu. Als Schemaliteratur in die Nische der Unterhaltung verbannt, müsse sich der Krimi an spezifische, normative Schreibregeln halten, für die schon unter anderem Dorothy L. Sayers plädierte 9 . Aber jeder schablonenhaften Dichtung wohnt auch der Drang zur Variabilität inne, der zur Veränderung von diversen scheinbar in Stein gemeißelten Formen und Richtlinien führen kann. Der Krimi sei einerseits eine Art konservative Rasterliteratur, andererseits definiere er sich eben durch seine Fähigkeit zur Ummodellierung. So hat Bertolt Brecht in seinem bekannten Aufsatz Über die Popularität des Kriminalromans den folgenden Satz geprägt: „Der Kriminalroman handelt vom logischen Denken und verlangt vom Leser logisches Denken. Er steht dem Kreuzworträtsel nahe, was das betrifft. Dementspre- 5 „Rezension zu Der Flieger“, in Stuttgarter Zeitung vom 14. September 2004. 6 „Gespräch mit Rainer Wochele“, in Eßlinger Zeitung vom 12. August 2004. 7 Ulrich Suerbaum, „Der gefesselte Detektivroman. Ein gattungstheoretischer Versuch“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 84-96, hier S. 86. 8 Ebd., S. 88. 9 Vgl. Dorothy L. Sayers, „Aristoteles über Detektivgeschichten. Vorlesung in Oxford am 5. März“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 13-23. Ist der Detektiv passé? 205 chend hat er ein Schema und zeigt seine Kraft in der Variation“ 10 . Ein gewisser schematischer Aufbau, der dem Krimi zugrunde liegt, ist unabdingbar einerseits, aber andererseits verleihe die Musterform dem „ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau“, so Brecht weiter 11 . In diesem Sinne diffamiert Helmut Heißenbüttel den Krimi-Schematismus und betont, dass dieser Schematismus zwar nichts bewirken kann, „aber er garantiert die unendliche Variabilität der einen Geschichte. Die Rekonstruktion der Spur des Unerzählten lässt im Gerüst ihres rigoros auskalkulierten Schemas eine immer neue Kombinatorik der möglichen Füllungen zu“ 12 . Weil das poetologische Grundwesen des Krimis eben in seiner Wandelqualität und im Spiel sowie der Brechung mit der Förmlichkeit und mit der Tradition liegt, ist es zumindest denkbar, dass auch ein verübter Selbstmord zum Gegenstand des Erzählens werden kann, zumal Selbstmord auch in gewisser Hinsicht Mord sei. Ein Mord am eigenen Ich; eine Tragödie, eine Folge von unglücklichen Lebensverstrickungen und -fügungen sowie Schicksalsschlägen. Nicht nur anhand und aufgrund eines geschilderten Fremd-Mordes und dessen Lösung ließe sich ein Text als Krimi erkennen, sondern hauptsächlich wegen seiner erzählerischen Konstruktivität, worauf schon Roger Callois hingedeutet hatte. Der Krimi stellt die Chronologie auf den Kopf. Sein Ausgangspunkt entspricht exakt dem Endpunkt des Abenteuerromans: Es ist ein Mord, der ein Drama beendet, das zuvor nicht dargestellt wurde, sondern erst jetzt rekonstruiert wird. Denn im Kriminalroman hält sich die Erzählung an die Reihenfolge der Entdeckungen 13 . Das umgekehrte Erzählprinzip, das sich weniger auf Linearität, sondern viel mehr auf Erzählkausalität und Logik stützt, ist auch in Der Flieger von Belang, der ebenfalls mit einem (Selbst-)Mord anfängt, der im Laufe der Handlung wiederhergestellt bzw. rekonstruiert wird. Auf die Suche nach den Ursachen für die Selbsttötung macht sich jedoch nicht eine künstliche, entworfene omnipräsente und allwissende Detektivfigur wie Holmes oder Poirot 14 . Die Fahndung wird von einem Erzähler geleitet, der in „einem 10 Bertolt Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 33-37, hier S. 33. 11 Ebd. 12 Helmut Heißenbüttel, „Spielregeln des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 111-120, hier S. 115. 13 Roger Callois, „Der Kriminalroman oder: Wie sich der Verstand aus der Welt zurückzieht, um seine Spiele zu spielen, und wie darin dennoch die Probleme der Gesellschaft behandelt werden“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 157-180, hier S. 158. 14 Dazu mehr u.a. in: Ulrich Suerbaum, Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart, Reclam, 1984, S. 30-160. Wolfgang Brylla 206 literarischen Ermittlungsverfahren“ 15 Schritt für Schritt Recknagels Werdegang nachskizziert, für die Untersuchung relevante Fragen stellt, auf die er selbst eine Antwort finden muss. In seiner berühmt gewordenen Niederschrift fasst Tzvetan Todorov den Kriminalbzw. Detektivroman unter dem Gesichtspunkt des „Rätselromans“ zusammen, unter dem er in erster Linie den klassischen Masterkrimi auffasst, der in der Zwischenkriegszeit seine Blütezeit erlebte 16 . Todorov greift in seinen theoretischen Überlegungen unter anderem auf Michel Butors Verbrechensprosa zurück und sieht sich dazu verpflichtet, auf eine bipolare für die Gattung Krimi eigentümliche Erzählstruktur hinzuweisen. Die Erzählung sei nämlich aus zwei Zeitebenen, zwei Zeitplattformen gebaut; diese Zeitfolgen bestehen zum einen aus den „Tage[n] der Ermittlung, die mit dem Verbrechen beginnen, und [den] Tage[n] des Dramas, die zum Verbrechen geführt haben“ 17 . Im Falle von Der Flieger, da im Mittelpunkt kein ‚echter‘ Krimi steht, spielen die von Todorov ins Gespräch gebrachten Zeitparameter auch eine signifikante Rolle, aber auf eine andere Art und Weise. Denn bei Wochele gibt es keine zwei parallel geführten Zeit- Erzählfolgen, sondern nur eine einzige, die die „Tage der Ermittlung“ und die „Tage des Dramas“ zusammenführt. Charakteristisch für die Krimidichtung sei die Tatsache, dass die Geschichte vom Schluss her anfängt; man erzählt von hinten, um an den Anfang zu gelangen 18 . Erzähltechnisch gesehen könnte man solch eine Textanfangsvariante als in ultimas res rubrizieren. Wocheles Der Flieger beginnt auch vom Ende her. Schon in den ersten einleitenden Sätzen werden die Leser mit einer Frage konfrontiert. Und mehr: es ist nicht nur eine Frage, sondern gleich zwei Fragen, auf die noch Dutzende andere folgen werden: „Warum? Warum wollte sich Richard Recknagel töten? “ 19 . Der Erzähler redet - salopp gesagt - nicht um den heißen Brei herum, er ist nicht darauf aus, pas a pas Spannung aufzubauen, weil die Spannung schlichtweg schon da ist und sich in dem ersten Satz verbirgt. Eingeführt wird die Hauptfigur Richard Recknagel, der, wie man es im Verlaufe der weiteren Handlung wird erfahren können, von Beruf Sprengmeister war, der sich allerdings für sein Leben lang der Fliegerei verschrieben hatte. Als Rezipient wird man schnipselsweise vom Erzähler mit anderen Informationen zu Recknagels 15 Mario Andreotti, „Zu Rainer Wocheles Novelle Der Flieger“. In der Der Flieger- Rezension von Iris Frey, „Novelle mit Zünd-Stoff“, in Cannstatter/ Untertürkheimer Zeitung vom 17. November 2004 ist bspw. die Rede vom „Kommissarverfahren“. 16 Tzvetan Todorov, „Typologie des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 208-215, hier S. 209. 17 Ebd. 18 Siehe: Matias Martinez; Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München, C.H. Beck 2005, S. 38-39 (die sogenannte ‚analytische Erzählung‘). 19 Rainer Wochele, Der Flieger, Tübingen, Klöpfer & Meyer, 2004, S. 7. Ist der Detektiv passé? 207 Vita gefüttert. Jedoch am Anfang verfügt man nur über einen Namen; einen Namen, der keinen anderen Namen töten wollte, sondern sich selbst. Im Grunde wird somit vom Er-Erzähler ein Figuralsubjekt eingesetzt, das zum Zeitpunkt des Erzählaktes nicht mehr existiert. Angepeilt wird eine Rekonstruktion der Geschehnisse und Umstände, die zur Entscheidung Recknagels, Selbstmord zu begehen, beigetragen haben. Wer jedoch Sorge für die Aufarbeitung der letzten Tage von Hobbypiloten Richard trägt, ist kein ambitionierter Detektiv-Gott im Sinne Siegfried Kracauers 20 oder ein Ermittlerteam des lokalen Polizeireviers. Für die Nachbildung des Recknagel’schen Werdeganges bürgt kaum kein anderer als der Erzähler in persona, der hiermit die Funktion des ‚Spürhundes‘ übernimmt. Seine Aufgabe ist allerdings nicht darauf reduziert, die Täter, die indirekt oder auch direkt zum Suizid beigesteuert haben, zu denunzieren und sie narrativ aus dem Verkehr zu ziehen. Die heterodiegetische Erzählstimme ist viel mehr auf die Plakatierung und Wiedergabe des ‚Tathergangs‘ aus. Bewerten oder beurteilen - mit solchen Handlungsweisen hält sich der Erzähler nicht auf, weil für ihn von größerer Wichtigkeit das Erzählen selbst ist. Er braucht das Erzählen, um überhaupt die Vielzahl an gestellten Fragen im Text zu beantworten. Das Erzählen fungiert in Wirklichkeit nur als Vorwand der Fragestellung und der Antwortgebung; das Erzählen sei mit anderen Worten eine große Fragerei. Eben an den Fragen orientiert sich der Erzählfluss, die den Kern und das Haupterzählgefüge der Novelle ausmachen 21 . Ohne Fragen gäbe es kein Erzählen, ohne Erzählen gäbe es keine Rekonstruktion der Ereignisse. Für die Krimipoetik habe die Frage die allerhöchste Priorität. Richard Alewyn konstatiert unter Rekurs auf den klassischen Detektivroman der englischen Schule, dass die Frage das Zentrum der Erzählung bilde: „Die zentrale Frage im Detektivroman ist die Frage: Wer ist der Täter? Oder: Whodunit? […] Sie ist nicht immer die Frage, die zuerst gestellt wird, aber stets diejenige, die zuletzt beantwortet wird“ 22 . In Der Flieger wird allerdings nicht die whodunit-Regel ausgespielt, weil der ‚Täter‘, sprich der Selbstmörder Recknagel, schon identifiziert wurde. Zur Geltung kommt eher eine Nebenform - howcatchem, in der es nicht um die Bloßstellung des sündigen Verbrechers geht, sondern um die Verbalisierung und Reaktualisierung des 20 Vgl. Siegfried Kracauer, Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1979, S. 50-64. 21 „Fragend, in konzentrischen Kreisen nähert sich der Erzähler dem Geschehen, scheinbar sorglos zwischen den Perspektiven, den Zeiten wechselnd, Unscheinbares zusammentragend, Erzählversionen variierend und trotz solcher Puzzlearbeit die Spannung stetig hochtreibend, je tiefer er in die Gefühlsökonomie der Akteure eindringt“ (Dorothea Dieckmann, „Richard Recknagels Fall in die Wirklichkeit. Rainer Wocheles Novelle Der Flieger“, in Neue Zürcher Zeitung vom 16. Februar 2005). 22 Richard Alewyn, „Anatomie des Detektivromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 52-72, hier S. 57. Wolfgang Brylla 208 Verbrechensablaufes 23 . Solch ein auf das howcatchem-Verfahren getrimmter Krimitext gerät in die Nähe der crime novel, in der dem Leser kein blauer Dunst vorgemacht wird 24 . Der Täter bildet kein Geheimnis mehr, das es zu entzaubern gilt; das Opfer stellt nicht nur das Problem, den Anstoß für die Ermittlungen dar. Das Opfer sowie der Täter sind die Initialzündung für das Erzählen, wie in Der Flieger, in dem der Täter und das Opfer, zumindest oberflächlich betrachtet, eine und dieselbe Person sind. Der Anreiz für den Erzähler, die Lebensgeschichte Recknagels wiederzugeben, liegt nicht in der Überzeugung, dem Täter-Opfer-Flieger Rechenschaft abzulegen, sondern in der Lust am Erzählen selbst. Wocheles fiktionale Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten, die sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Föhren bei Trier abgespielt haben 25 . Damals hat Ingo Schwoon, der für Recknagel Modell stand, nach der Ausweisung aus seinem Aero-Klub sich auf dem Landebahn-Areal in die Luft gesprengt. Wocheles referiert auf dieses dramatische Geschehnis, indem er es fiktionalisiert. Die Namen der agierenden Figuren werden geändert, die Handlung wird ins Schwabenland versetzt; der Hauptprotagonist wird mit einer komplizierten Familiengeschichte ausstaffiert, deren Wurzeln in Niedersachsen und im bayerischen Raum liegen. Es ergibt sich nämlich, dass Recknagel im Lebensborn geboren wurde, d.h. in den Nazi-Heimen für alleine lebende Mütter, in diesen „Nazi-Puffs“ 26 . Die Erinnerung an die Kindheit und die Kriegszeit, an den fehlenden Vater, der vermutlich an der Front gefallen war, üb(t)en einen starken Einfluss auf die psychische, mentale und physische Konstituiertheit von Richard aus. Äußerlich wurde die Erinnerung an den Lebensborn-Abschnitt gelöscht, im Unterbewusstsein ist sie allerdings die ganze Zeit latent vorhanden. Schon am Anfang seiner erzählerischen Rekonstruktion vermag der Erzähler die Erinnerungspotentialität bei Recknagel anzusprechen: Man kann fliegen. Kann Frauen lieben. Wenn man es kann. Kann gut essen. Die Alkoholwärme spüren. Kann jemandem beim Plätzchenbacken zusehen. Dabei besten Rotwein trinken. Man kann sich erinnern an die Nähe einer Stimme. An die Ferne einer Stimme. Und wie es gerochen hat, dort, in den Fluren, auf den Gängen, von den hohen, hohen Treppen herab, von der Haupttreppe herab mit ihrem wuchtigen Geländer, dieser unvergessliche 23 Vgl. Enrico Nitzsche, Krimi auf der ganzen Welt - Die ganze Welt im Krimi. Eine komparatistische Auseinandersetzung mit Krimis aus drei Kontinenten, Hamburg, Diplomica, 2013, S. 33. 24 Vgl. Suerbaum, Krimi. Eine Analyse der Gattung, S. 184 ff. 25 Siehe: Andrea Anstädt, „Aus dem Leben gegriffen“, in Reutlinger Generalanzeiger vom 7. Februar 2005. 26 Wochele, Der Flieger, S. 51. Ist der Detektiv passé? 209 Duft, Mischung aus Heugeruch und Schmieröl; das Bohnerwachs, das Bohnerwachs 27 . Das Bohnerwachs dient als olfaktorisches Artefakt, das an die Nazi-Heime erinnert, in denen die Flure mit dem Bohnerwachs gewienert wurden. Inwieweit die nationalsozialistische Vergangenheit einen Stempel auf die emotive Verfasstheit von Recknagel aufgedrückt hatte und vielleicht ihn auch zu dem Selbstmordakt geleitet hatte, bleibt ungewiss. Aber der Hinweis auf das Bohnerwachs im fünften Textabschnitt stellt eine wichtige Ausrichtung bzw. ein Merkmal des Erzählers unter Beweis. Der Erzählende ist allwissend; er kennt Recknagels Lebenslauf in- und auswendig, bewegt sich problem- und reibungslos durch diesen Dschungel an Lebensverstrickungen. Der Erzähler weiß zu gut, was mit Richard passiert ist, kennt die Einzelheiten der Vorgeschichte, kann sie brillant handhaben und zu einem Erzählgeflecht zusammentragen. In Wirklichkeit personifiziert er einen Puzzlespieler, der alle Teilchen aneinanderreiht, um ein ganzes, profiliertes und lückenloses Gesamtbild hinzubekommen und den Lesern servieren zu können. Im Gegensatz zu den Detektiv-Erzählern aus den klassischen Detektivgeschichten oder den hardboiled-Romanen werden die Puzzleelemente nicht erst im Laufe der Ermittlungen und der Polizeiarbeit aufgedeckt; in solchen Krimi-Kontexten ist der Erzähler an den Erkenntnishorizont des Fahndenden gebunden. Der Erzähler in Der Flieger hat schon alle Puzzleteilchen zusammen und braucht sie nur niederzuschreiben, zu verbinden oder besser gesagt, nachzuerzählen. Die Betonung in diesem Zusammenhang fällt auf das Erzählen, denn man wird den Eindruck nicht los, dass bei Wochele ein spezifischer Erzähler-Typus in Erscheinung tritt. Es hat den Anschein, als würde durch die ganze Recknagel-Geschichte kein textlicher Erzähler, sondern ein oraler Erzähler führen, dessen mündliche Stammtischgespräche und -erzählungen in der schwäbischen Provinz aufgezeichnet und später schriftlich fixiert wurden. Die Erzählkomposition von Der Flieger basiert auf scheinbar wenig zusammenhängenden Szenen, die planlos zusammengeflochten wurden, auf einer schlichten Sprache und einem noch schlichteren Kommunikationsweg. Der Erzähler beschreibt, der Leser/ Zuhörer liest/ hört zu, was sein Gegenüber zu sagen hat. Im Krimi ist die Komponente der Kommunikation, was Alewyn herausstellte, von Belang: Jedes Erzählen ist der Prozess einer Kommunikation. Als Prozeß spielt es sich zwischen zwei Zeitpunkten ab, einem Anfang und einem Ende. Als Kommunikation spielt es sich ab zwischen zwei Personen, einem Erzähler 27 Ebd., S. 7. Wolfgang Brylla 210 und einem Leser (bzw. Zuhörer). Am Anfang weiß der Erzähler schon alles, der Leser noch nichts 28 . In Wocheles Flieger-Geschichte taucht ein besonderer Typ des Erzählers auf, der sich in die von Elisabeth Schulze-Witzenrath konzipierte duale Teilung nicht einordnen lässt. Schulze-Witzenrath hat für den Kriminalroman zwei Erzählformen hervorgehoben. Einerseits operiert ein „in seinen Wahrnehmungen beschränkter Ich-Erzähler“, andererseits ein manipulierender (Er-) Erzähler 29 . Wocheles Erzählinstanz ist ganz klar auf der Ebene der Heterodiegese zu verorten, sie ist mit einer Nullfokalisierung ausgestattet; sie ist God himself, in ihrer Uneingeschränktheit verleitet sich immer wieder direkt Recknagel, der im Moment des Erzählens, in der Erzählgegenwart nicht mehr am Leben ist, anzusprechen. Die Du-Anreden wie „das hast du gemacht, das hast du gemacht“ 30 oder „hörst du, Richard Recknagel“ 31 evozieren Nähe zum Erzählten; der Erzähler geht nicht auf Distanz zu Recknagels Schicksal, sondern möchte Anteilnahme erzeugen. Recknagels Suizid- Geschichte ist einzigartig und kann nicht vergessen werden, aber in ihrer Einzigartigkeit wird sie auch mehr oder weniger zur Normalität. Sozusagen zum Jedermann-Schicksal. Der Flieger-Text fußt auf einem Erzählrahmen, der nicht den Anfang mit dem Ende kohäriert, sondern gleichzeitig das Ende und der Anfang ist, der Anfang und das Ende. Ebenso wie die Novelle mit einer Frage beginnt, ebenso schließt sie auch: „Warum? […] Was wissen wir voneinander? “ 32 . Die Hauptachse der Handlung dreht sich immer wieder um Fragen, alles, was dazwischen hineinimplantiert ist, ist nur Nebensache. Ein Zusatz, der Erklärungen liefert und das psychische Relief Recknagels sowie die porträtierte Geschichte konkretisiert. Der Rahmen ist gleichzeitig die novellistische unerhörte Begebenheit; der Rahmen resp. die Frage sei Sinn und Form der Erzählung; der Rahmen sei Selbstmord und ‚Ermittlung‘; der Rahmen sei Täter und Opfer; der Rahmen sei Grund für das Erzählen und Legitimation für das Erzählen, wobei einer konsekutiven Fundierung das Erzählen nicht bedarf. Man erzählt, weil man erzählen kann und darf. Und das Wie des Erzählens ist von der Aufmachung und Organisation des Erzählers abhängig. Da ein mündlicher Erzähler das Sagen hat, muss es natürlicherweise auch zu mündlichen Beschreibungssequenzen kommen. Abrupt abschließende Sätze, vereinfachte Syntax, Unterbrechungen/ Stornierungen, die allerdings die Reziprozität des Erzählten nicht stören, unerwartete Szenen- 28 Alewyn, „Anatomie des Detektivromans“, S. 54. 29 Elisabeth Schulze-Witzenrath, „Die Geschichten des Detektivromans. Zur Struktur und Rezeptionsweise seiner klassischen Form“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 216-238, hier S. 221. 30 Wochele, Der Flieger, S. 8. 31 Ebd., S. 146. 32 Ebd., S. 235. Ist der Detektiv passé? 211 wechsel, unerwartete informative Einrückungen gehören zur Erzähl- Tagesordnung. Sogar vor dem Konjunktiv scheut der Erzähler nicht. Wenn er die Auskunft über Richards Vorbereitungen, sich in die Luft mit dem aus seiner Heimfirma gestohlenen Sprengstoff zu jagen, schildert, greift er auf die wäre-Erzählprozedur zurück. Hätte, wenn, aber - anvisiert wird an manchen Textstellen eine ultimative und alternative Erzählung nach dem Motto, was wäre passiert, wenn … Wäre Antonello Baldini (Richards Freund, Hauswirt) in diesen Augenblicken in der Tür des Casinos erschienen, vielleicht, weil er ausnahmsweise zu dieser frühen Tageszeit bereits da war, Montag hatte er Ruhetag, um den Elektriker für den wieder einmal defekten Pizzaofen zu erwarten, bitte, das darf man fragen, hätten dann die Ereignisse nicht doch einen anderen Verlauf genommen 33 ? Oder: Wären Lämmle und Kratz in diesem Moment zu Recknagel […] hinübergegangen, hätten Recknagel wegen eines solch riskanten Passagierfluges mit einem unangeschnallten Kind zusätzlich an Bord zur Rede gestellt, es hätte gewiss Streit gegeben […]. Doch so war es nicht 34 . Doch so war es nicht. Niemand hat sich die Mühe gemacht, Recknagel aufzuhalten, ihm ins Gewissen zu reden. Niemand aus seinem nächsten Umfeld wusste von seinen Depressionen und seiner instabilen psychischen Konstruktion. Der ihm infolge des massiven Alkoholproblems erteilte Flugverbot, den Recknagel seinen Widersachern Lämmle und Kratz zu ‚verdanken‘ hatte, die ihm genommene Freiheit und Möglichkeit, sein Leben hoch in der Luft zu genießen und heranwachsende Piloten auszubilden, versetzten ihm den Todesschlag. Das Fass wurde zum Überlaufen gebracht. Es blieb nur der einzig reale Ausweg: der Selbstmord, der sich am 25. September 1997 ereignete. Vom Er-Erzähler wird die Selbsttötung als eine Art Mischung von Perspektivenwechsel, Analepsen, Fragen/ Antworten und Zeitsprüngen vorgestellt. Er kombiniert unterschiedliche Figurenblickwinkel miteinander und veranschaulicht, wo sich die anderen Protagonisten befanden, als Recknagel am Flugplatz aus seinem geliehenen Lkw herausstieg mit der festen Absicht, in wenigen Minuten das Zeitliche zu segnen. Wer hörte die Explosion, die die ganze Ortschaft erschütterte? Wer verlor den Gedanken, dass etwas Schlimmes hätte passieren müssen? „Lämmle hörte die Detonation. Kratz hörte sie. […] Yvonne Liebig vernahm um diese Zeit, acht Uhr einunddreißig, nichts als das Prasseln des Wassers auf ihrer tief über die Ohren gezo- 33 Ebd., S. 14. 34 Ebd., S. 210. Wolfgang Brylla 212 genen Duschhaube“ 35 . Durch die Zusammenschließung von disparaten figurativen Sichtweisen und durch die Engführung verschiedener einzelner Zeitebenen, die analog zueinander liefen vor dem Hintergrund des Kulminationspunktes in Form des Selbstmordes von Recknagel, wird vom Erzähler der Versuch unternommen, eine gewisse Objektivität in den Erzählstrang ‚hineinzupflanzen‘. Allerdings lässt es sich nicht übersehen, dass die Erzählstimme offenkundig mit dem Flieger und Sprengmeister Recknagel sympathisiert; sie ergreift für ihn zwar nicht die Partei, aber sie ist ihm gegenüber von vornherein freundlich und friedlich eingestellt. Wenn sich schon der Erzähler für die Schilderung des Geschehens aus einer Perspektive entscheidet, dann wird in der Regel die von Recknagel bevorzugt. In diesen polyperspektivähnlichen Fragmenten wird oft auch die Zeitform des Erzählens verändert. Statt des Präteritums bzw. des Perfekts kommt die Gegenwartsform des Präsens zum Einsatz. Durch das Präsens-Erzählen wird die Vergangenheit der Handlung an die Gegenwart der Rezipienten herangezogen. Der Erzähler geht nicht auf Distanz zum Erzählten, sondern er beschränkt diese Distanz aufs Minimum und schafft somit Nähe, dank der die subjektiv wahrgenommenen Sympathiewerte der Hauptfigur steigen. Am Morgen des 25. Septembers, dem Tag, an dem Richard Recknagel sich töten wird, es ist ein Montag, sieht man bereits zu dieser frühen Stunde ein paar Wolken am blassblauen Himmel. […] Blick durch die Autofenster. Kein Mensch zu sehen. Nur drüben auf der Kreisstraße sieht man ab und an ein Auto vorüberfahren. Als Recknagel dann in die Brusttasche seines moosgrünen Militärblousons greift, berühren seine Finger ein Kuvert, eine Packung Zigaretten, es sind Gauloises, einen Kulli, ein blaues Mäppchen mit Schecks, immer hat er dieses Mäppchen mit Schecks bei sich, als müsse er jederzeit Geld zur Verfügung haben; […] Kurz darauf sieht man Recknagel mit einigen Gegenständen in der Hand über den Parkplatz gehen 36 . Es stapeln sich Fragen über Fragen, die laut ausgesprochen werden. Nicht die Antworten sind wichtig, sondern eben nur die Fragen. Man darf keine Angst haben, sie zu stellen. Man darf keine Angst haben, eine Replik oder Erklärung zu hören, die vielleicht das bis dato zementierte Weltbild zerstören können. Bei der Fragerei und der Suche nach der Antwort handelt der Erzähler als Zeitungsjournalist, als Interviewer. Die Überhäufung der Fragen kann auch die Überstrapazierung des Gemüts verursachen. Es gibt solche und solche Fragen. Die einen können nicht weh tun, die anderen ganz im Gegenteil: sie flößen Furcht ein, man muss auf der Hut vor dem Fragesteller bleiben: Für wen? Und wofür? Und warum solches Zeichen, man könnte sagen, hingeschrieben auf das Fluggelände Fuchswasen nahe Friedrichsburg? Und, 35 Ebd., S. 16-17. 36 Ebd., S. 27, S. 29. Ist der Detektiv passé? 213 Herr Staatsanwalt, gaben die Vernehmungen, die hinterlassenen Briefe, das Testament Aufschlüsse über Absichten, Motive? Und welche Beweiskraft müsste man solchen Absichten und Motiven schließlich beimessen? Ist, so muss man fragen dürfen, derjenige, um den es da geht, in jedem Falle die beste Auskunftsquelle für Gründe, Ursachen solchen Handelns, Herr Staatsanwalt 37 ? Der Erzähler wendet sich auf der Metaebene an den Staatsanwalt, der für die Ermittlungen zuständig war. Aber unterschwellig appelliert er an den Leser/ Zuhörer, sich gemeinsam mit ihm auf die Reise in die Vergangenheit zu begeben, um die Hintergründe des Lebensweges von Recknagel durchzuleuchten. Die Rekonstruktion fängt an. Natürlicherweise mit einem weiteren Bündel an Fragen, die zwar rhetorischer Provenienz sind, auf die aber der Erzähler immer eine Antwort in der Hinterhand hält. Wie hat das alles begonnen? Für wen? Für ihn? Wie hat begonnen, was an jenem Montagmorgen, dem Tag an den Recknagel tötetet, so lautstark und grässlich sein Ende fand? Für Yvonne Liebig? Für Lämmle vielleicht? Kratz etwa 38 ? Fast jedes Kapitel fängt mit einer Frage ein, die mehr oder weniger ausdiskutiert, besprochen und auf die eine Antwort geliefert wird. Die Textstruktur gleicht einem Verhör. Auf der einen Seite sitzt der Ermittlererzähler, der Erkundigungen und Informationen einholen will, auf der anderen Seite ist der Antwortenerzähler zu finden. Der Erzähler hat eine doppelte Funktion inne; er ist die Einheit von Frage und Antwort. Ob die Antworten der Wirklichkeit und Wahrheit entsprechen, ob sie nachvollziehbar sind, bleibt wegen des dualen Erzählverhältnisses ungeklärt. Als Außenstehender ist man auf die Erzählkompetenzen des Berichtenden angewiesen, dem man sein Vertrauen aussprechen muss, weil andersrum man die ganze Erzählung, die ganze Suiziduntersuchung und geschichtliche Tatsachenerforschung wortwörtlich in Frage stellen müsste. Andererseits wird allerdings eben durch das Zusammenspiel Frage/ Antwort Wahrhaftigkeit, Wahrheitstreue und letztendlich die bloße Wahrheit simuliert, die durch die vom Erzähler hineingeschleusten Figurenzitate bestärkt wird. An manchen Stellen nämlich werden Äußerungen von Recknagels Zeitgenossen in die Haupthandlung miteinintegriert, in denen man sich hauptsächlich positiv an den Verstorbenen erinnert: „Der war ein ganz korrekter Mensch“; „Der war einsam“; „… dachte nach, und dann machte etwas“; „… war ein ganz korrekter…“; „… echter Mensch, ein echter Mensch war der“; „… echter Mensch“; „… überlegte, … machte etwas“ usw. 39 37 Ebd., S. 30. 38 Ebd., S. 31. 39 Ebd., S. 120, S. 160-161. Wolfgang Brylla 214 Die narrative Rekonstruktion der Geschehnisse vor dem Selbstmordtag gründet auf einem analeptischen Aufbau. In Rückblenden wird Recknagels Kindheit in einem bayerischen Dorf nach der Flucht aus dem Lebensborn- Heim bei Bremen wegen der Bombardementgefahr thematisiert. Auch seine Jugend- und Schulzeit finden im an das Gewesene sich haltenden Erzählgang Erwähnung. Recknagels Fliegertraum, seine ersten ‚Abenteuer‘ nicht nur mit den Flugmaschinen, sondern auch sexueller Natur werden problematisiert. Seine ‚Liebesbeziehung‘ mit dem Schnaps und anderen Alkoholika wird vertextlicht. Die Analepse dient dem Erzähler dazu, die Sorte, den Menschen Recknagel zu erklären, aber nicht zu entschuldigen; die Rückwendung zur Geschichte kann man mit einem Flug in den Wolken in Verhältnis setzen. Ebenso wie man in der Luft von oben auf die Erde herunterschauen kann, ebenso kann man auch in den Analepsen, in den Erinnerungsbruchstücken, auf das Vergangene zurückblicken. Es handelt sich dabei allerdings um keine Distanzzunahme zum Erzählten, nur um eine klare Sicht auf die Verzwickungen, Irrungen und Wirrungen in dem nicht einfachen Leben von Recknagel. Die Flieger-Perspektive des Kommissar- Erzählers lässt die Bewandtnisse und Vorkommnisse in der Vergangenheit Revue passieren; der Erzähler deutet die von Recknagel hinterlassenen Zeichen, bemüht sich sie zu entcodieren und auf die Gegenwartsebene des Selbstmordes zu beziehen. Recknagels Tat wird von ihm weniger verständlich und verdaulicher gemacht, ale mehr nur veranschaulicht. Es ist keine Läuterung, nur eine Erläuterung. Somit werden die Ebene des Verbrechens (Selbstmord) und die Ebene der Ermittlung (Erzähler) verbunden: „Die Geschichte der Verbrechens wird im Diskurs der detektivischen Ermittlung vermittelt; die Geschichte der detektivischen Untersuchung ihrerseits wird durch den Diskurs des Erzählers vermittelt“, meint Peter Hühn 40 . Anders aber als in der herkömmlichen Krimigeschichte werden in Der Flieger die beiden Semi-Geschichten nicht voneinander gehalten und nur vom Erzähler koordiniert, denn die „detektivische Ermittlung“ wird schon vom Ermittlererzähler geschultert. Mit einem sehr ähnlichen Konzept arbeiteten schon die Autoren des amerikanischen tough guy-Romans wie Chandler, die häufig einen Ich-Detektiverzähler ins Spiel brachten 41 . Wochele gibt den Vorzug einem Er-Erzähler, der gleichzeitig, was nochmals unterstrichen werden muss, kein Detektiv ist; einstufen könnte man ihn als einen Fragenerzähler. Das von Alewyn für den Krimi akklamierte antagonistische Prinzip des fragenden Lesers - verschweigenden Erzählers wird ad absurdum ge- 40 Peter Hühn, „Der Detektiv als Leser. Narrativität und Lesekonzepte in der Detektivliteratur“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 239-254, hier S. 240. 41 Dazu mehr in: Suerbaum, Krimi. Eine Analyse der Gattung, S. 127-160; Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart, J.B. Metzler, 2004, S. 48-65, S. 118-128. Ist der Detektiv passé? 215 führt 42 ; die Unterscheidung und Ambivalenz erlebt eine semantische Ummodelung. Der Leser ist da, um schweigend zuzuhören; der Erzähler ist da, um zu fragen. Die Fragen wiederholen sich, sie müssen sich sogar wiederholen, weil je weiter sich der Erzähler in Recknagels Vergangenheit vertieft und seine Biographie durchforstet, desto mehr Heimlichkeiten kommen ans Licht und die vor der Rekonstruktion gestellten Fragen müssen wieder gestellt werden mit der Hoffnung, dass sie diesmal beantwortet werden. Die Erzählstruktur widerspiegelt diese narrative Tendenz zur Repetition und Aufnahme des schon Gesagten, aber eben nicht zu Ende Gesagten. Jede neu-alte Frage bringt theoretisch den Erzähler während seiner Untersuchung bei der Wahrheitsfindung weiter und lässt das Puzzle an Gestalt und Profil annehmen. Jede Frage ist das Ergebnis der Antwort auf eine ältere vorangegangene Frage und impliziert die Möglichkeit einer neuen Frage. Der Erzähler dreht sich im Fragenkreis, dies ist aber bitter nötig, wenn man auf der völligen Rekonstruktion der selbstmörderischen Tat insistiert. Deswegen kommt der Erzähler auf einige Lebensstadien von Recknagel mehrmals zu sprechen, rekapituliert sie häufig mit denselben Worten. Aus dieser Resümmeprogrammierung des Erzählens resultiert allerdings ein polyvalenter Mehrwert. Erstens gerät die Erzählung nicht ins Stocken, sondern sie wird am Laufen gehalten und nach vorne gepuscht. Zweitens werden die Puzzleteile immer aufs Neue überprüft und miteinander verknüpft. Drittens wird der Charakter der mündlichen Erzählweise stabilisiert, denn ein mündlicher Kommunikationsprozess wird durch die Wiederkehr des schon Ausgesprochenen gekennzeichnet. Und viertens wird der auf einer Fragenstruktur fundierter Erzählkomplex untermauert. Zum Schluss des Rekonstruktions- und Frageprocederes dominiert eine zeitdeckende Erzählform, da schon die Geschichte und die Ereignisse beleuchtet wurden. Der Erzähler beschreibt fast jede Handbewegung von Recknagel, der selbstbewusst und ohne Zögern gleich in den Tod gehen wird: Was sind das für Gegenstände, die Recknagel da bei sich hat? Nun, der silbrige Kasten ist eine Handzündmaschine, wie sie Sprengmeister für kleinere Angelegenheiten verwenden. Die zugehörige Kurbel. Ein Stück roter, daumentstarker Sprengschnur, die mit einer Zündkapsel und einer Zündpille präpariert ist und an der zwei lange dünne ummantelte Kabel hängen, deren Enden blau geschält wurden. Alles geht schnell. Handzündmaschine auf den Boden gesetzt, Kurbel in die vordere der beiden seitlich angebrachten Öffnungen gesteckt, sich die rote Sprengschnur um den Kopf gewickelt und verknotet. Die Enden der beiden Kabel mit Plus- und Minuspol verschraubt. Recknagel, die Zündmaschine in der Hand, richtete sich auf, pfiff jetzt auch 42 Alewyn, „Anatomie des Detektivromans“, S. 59. Wolfgang Brylla 216 wieder Defiliermarsch, wie er ihn beim Herauffahren gepfiffen hat, sah, aus der Entfernung betrachtet, mit seinen von Wind zerzausten Haaren und mit der roten, um den Kopf gewickelten Sprengschnur ein wenig aus wie ein Indianer […] Strom floss. Strom floss 43 . Von der Formel „Strom floss“ - mit dem Zusatz „Zündung“ - wird vom Erzähler noch einmal Gebrauch gemacht, als er die ganze Geschichte voll und ganz abwickelt. Mit „Strom floss. Zündung“ endet das diesseitige Leben von Recknagel. Mit „Strom floss. Zündung“ wird allerdings auch die Ursache, der Auslöser für das Erzählen an sich gegeben. Der Selbstmord wird zum Anlass für die Geschichte, die die Rekonstruierung des Verbrechensablaufes nach sich zieht. Ohne einen Detektiv, nur mit einem Erzähler. 3. Fazit Zurückgehend auf die im Titel dieses Beitrags auftauchende Frage, ob der Detektiv in den gegenwärtigen Kriminaltexten ausgedient hatte und passé sei, lässt sich keine eindeutige Antwort geben. Die deutschsprachige Krimiprosa der Moderne scheint auf die Präsenz einer Ermittlerfigur zurechtgeschnitten und durch sie bedingt zu sein. Es reicht schon auf die beliebte TV- Serie „Tatort“ am Sonntagabend zu schauen, um sich zu vergewissern, dass ein Verbrechensplot ohne einen Fahndenden nicht auskommen kann. Auch die populären Autoren wie Wolf Haas, Bernhard Schlink und der 2013 verstorbene Jakob Arjouni griffen auf einen (Ex-)Detektiv zurück, der das kriminelle Rätsel lösen musste und die zum Teil aus den Fugen geratene Welt erretten sollte. Natürlicherweise gibt es auch Ausnahmen wie z.B. Tannöd von Andrea Maria Schenkel, die unter Verzicht auf den Detektivhelden eine neue Qualität des Krimis entwickelte 44 . In Bezug auf Schenkel könnte man sogar von einem Erzählkrimi sprechen, in dem statt des Ermittlers das Erzählen oder der Erzähler selbst den Fall zu Ende bringt 45 . In dieselbe Richtung geht des Weiteren Wocheles Der Flieger, wobei die Novelle nicht vollkommen der Gattung Kriminalroman zugeordnet werden kann. Man müsste sich vielmehr bei Wochele auf das Prädikat ‚Novelle mit Krimielementen‘ einigen und festlegen. In Der Flieger wird der Hauptakzent nicht auf die Überführung der Täterpersonen, die Recknagel zum Verhängnis wurden und wegen denen bei dem Piloten Selbstmordgedanken aufkeimten, gelegt, 43 Wochele, Der Flieger, S. 193-194. 44 Vgl. Wolfgang Brylla, „Ein Mosaik des Verbrechens. Narrative Konstruktion des Mordes im Krimiroman Tannöd von Andrea Maria Schenkel“, in Acta Philologica, 39 (2011), S. 213-228. 45 Wolfgang Brylla, „(Post-)Moderner Mord oder Wiederholung des Schemas? Erzähltendenzen, Erzählstrukturen und Erzählmotive im zeitgenössischen Krimi“, in Linguae Mundi, 2012, 6/ 2011/ 2012, S. 103-126. Ist der Detektiv passé? 217 sondern im Grunde auf die Überführung des Erzählens durch das Erzählen. In diesem Sinne klassifiziert Christiane Matter die Wochele-Erzählung als „ungewöhnlichen Krimi“ 46 also als einen Krimi, der nicht den Regeln und Reglements gerecht wird. Wocheles sprachliches und narratives Experiment bildet offensichtlich ein Novum in der literarischen Krimiszene 47 ; es ist ein Phänomen und eine Einzelerscheinung, die sich aufgrund der Erzähltechnik und des Erzählkonzepts von allen anderen Krimis und krimiähnlichen Textstücken unterscheidet. Der Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich, das ‚Ressort‘ und die Domäne des Detektivs werden in Der Flieger dem Erzählen als Akt verstanden zugebilligt. Nicht einer untersuchenden und recherchierenden Figur, sondern der Narrativität. Bibliographie Richard Alewyn, „Anatomie des Detektivromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 52-72. Mario Andreotti, „Zu Rainer Wocheles Novelle Der Flieger“, http: / / www.rainerwochele.de/ pressestimmen/ peter-o-chotjewitz-und-prof-drmario-andreotti-zum-flieger (letzter Zugriff am 12. März 2015). Andrea Anstädt, „Aus dem Leben gegriffen“, in Reutlinger Generalanzeiger vom 7. Februar 2005. Bertolt Brecht, „Über die Popularität des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 33-37. Wolfgang Brylla, „Ein Mosaik des Verbrechens. Narrative Konstruktion des Mordes im Krimiroman Tannöd von Andrea Maria Schenkel“, in Acta Philologica, 39 (2011), S. 213-228. Wolfgang Brylla, „(Post-)Moderner Mord oder Wiederholung des Schemas? Erzähltendenzen, Erzählstrukturen und Erzählmotive im zeitgenössischen Krimi“, in Linguae Mundi, 2012, 6/ 2011/ 2012, S. 103-126. Roger Callois, „Der Kriminalroman oder: Wie sich der Verstand aus der Welt zurückzieht, um seine Spiele zu spielen, und wie darin dennoch die Probleme der Gesellschaft behandelt werden“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 157-180. Dorothea Dieckmann, „Richard Recknagels Fall in die Wirklichkeit. Rainer Wocheles Novelle Der Flieger“, in Neue Zürcher Zeitung vom 16. Februar 2005. Iris Frey, „Novelle mit Zünd-Stoff“, in Cannstatter/ Untertürkheimer Zeitung vom 17. November 2004. Helmut Heißenbüttel, „Spielregeln des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 111-120. „Gespräch mit Rainer Wochele“, in Eßlinger Zeitung vom 12. August 2004. 46 Matter, „Der Flieger will nicht mehr“, S. 22. 47 Susanne Mayer, „[Rezension]”, in Die Zeit vom 30. Juni 2005 betrachtet den Text von Wochele aus der Sicht der Sprache als einen „Text, in dem sich Düsteres mit Handfestem in einer erstaunlichen sprachlichen Schwebe hält“. Wolfgang Brylla 218 Peter Hühn, „Der Detektiv als Leser. Narrativität und Lesekonzepte in der Detektivliteratur“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschchichte. München, W. Fink, 1998, S. 239-254. Christiane Matter, „Der Flieger will nicht mehr. Ein ungewöhnlicher Krimi von Rainer Wochele“, in St. Galler Tagblatt vom 23. Mai 2005. Susanne Mayer, „[Rezension]”, in Die Zeit vom 30. Juni 2005. Enrico Nitzsche, Krimi auf der ganzen Welt - Die ganze Welt im Krimi. Eine komparatistische Auseinandersetzung mit Krimis aus drei Kontinenten, Hamburg, Diplomica, 2013. Peter Nusser, Der Kriminalroman, Stuttgart, J.B. Metzler, 2004. [Rezension], „Flieger Recknagels Tod. ‚Literatur im Gespräch‘ mit Rainer Wochele“, in Stuttgarter Zeitung vom 7. 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Matias Martinez; Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München, C.H. Beck 2005. Rainer Wochele, Der Flieger, Tübingen, Klöpfer & Meyer, 2004. Siegfried Kracauer, Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1979. Jan-Moritz Werk „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ Die Kurzgeschichten von Ferdinand von Schirach Auf den ersten Blick scheint die Frage nach der übergeordneten Thematik in den Stories Ferdinand von Schirachs trivial, schließlich ist der erste Band mit Verbrechen, der zweite mit Schuld betitelt. Und tatsächlich: die 27 Kurzgeschichten des Berliner Strafverteidigers werfen Fragen nach der Schuld (zwischen Recht und Moral), des Wesens des Verbrechens und des Verbrechers oder der Verbrecherin sowie nach deren Ursachen auf 1 . Diese Themenkomplexe spielen sicherlich eine wichtige Rolle in den Stories. Ein zentrales Element des Werks von Schirachs verbirgt sich allerdings - wie so oft - hinter den vordergründigen Gegenständen der Erzählungen, in der Struktur und der Art und Weise des Erzählens. Denn während Ferdinand von Schirach die oben genannten Themen aus der Sphäre des Rechts durchaus bespricht und thematisiert, zeigt sich der hier zu behandelnde zentrale Komplex erst auf den zweiten Blick - einem Blick der sich weniger auf das Was, sondern auf das Wie richtet. Bereits zwei frühe Zeitungsrezensionen 2 verweisen, kurz nach dem Erscheinen des ersten Erzählbändchens, auf den hier angesprochenen großen Topos der Geistesgeschichte, dessen Ferdinand von Schirach weder in seinen Fallgeschichten noch in zahlreichen Zeitungsinterviews müde zu werden scheint: die Wahrheit. Mit den Worten von Jan Drees gesprochen: In den Erzählungen des „Rechtsanwalts Ferdinand von Schirach geht es um die Wahrheit - nichts als die Wahrheit“ 3 . Da das Thema der Wahrheit, wie oben erwähnt, nicht explizit - sondern erst implizit, in der Struktur - sichtbar wird, soll im Folgenden (vor allem anhand des Beispiels der Kurzgeschichte Volksfest 4 ) eine narratologische Analyse des Erzählschemas der Stories vorgelegt werden, die in ihrer Me- 1 Vgl. Gerhard Neumann, „Ferdinand von Schirach. Verbrechen. Stories. Schuld. Stories“, in Arbitrium 30/ 1, 2012, S. 118-127. 2 Vgl. Jan Drees, „Man muss den Menschen Laster lassen“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.08.2009, Nr. 194, S. Z4; vgl. Oliver Jungen, „Anwalt seiner selbst“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.09.2009, Nr. 203, S. 30. 3 Drees, „Man muss den Menschen Laster lassen“, S. Z4. 4 Diese Geschichte steht beispielhaft für all jene Erzählungen von Schirachs, die sich des hier beschriebenen Schemas bedienen, was zwar für einen Großteil der Erzählungen gilt, aber längst nicht für alle. Ausnahmen stellen zum Beispiel die Geschichten Geheimnisse, Liebe und Der Igel dar. Jan-Moritz Werk 220 thodik dem Ansatz von Matias Martinez und Michael Scheffel folgt 5 . Abschließend sollen eine autoreflexive Passage aus den Stories sowie einige Paratexte (Auszüge aus Interviews sowie die Mottos zu Beginn und zu Ende der Erzählbände) herangezogen werden, welche die vorgeschlagene narratologische Analyse und die daraus resultierende These dieses Artikels stützen sollen. Die These dieses Artikels lautet: Von Schirachs homodiegetische Ich- Erzählerfiguren und die immer wieder wechselnden internen Fokalisierungen erzeugen ein Spannungsverhältnis, das den Leser oder die Leserin zur Reflexion seines bzw. ihres Wahrheitsverständnisses nötigt und letztlich nahe legt, dass - auch wenn die Dinge zwar sind, wie sie sind - unser Wissen von den Dingen (Wahrheit) jedoch immer begrenzt und an unsere beschränkte Perspektive gebunden bleibt. Im Folgenden soll zunächst auf einige formal-strukturelle Gesichtspunkte der histoire (das Was der Erzählungen) eingegangen werden, bevor der discours (das Wie der Erzählung) genauer untersucht wird. Die erzählten Welten der Kriminalliteratur - und die der Stories bilden hier keine Ausnahme - sind zumeist an die Gegebenheiten unserer Welt angelehnt 6 , sie sind homogen, sowohl logisch als auch physikalisch möglich, stabil und die in ihr stattfindenden Ereignisse sind kausal motiviert. Die Ereignisse in Kriminalerzählungen lassen sich zudem als doppelte Histoire 7 beschreiben: Zunächst gibt es ein Verbrechen (Tatgeschehen 8 ), das im weiteren Verlauf aufgeklärt (Aufklärungsgeschehen) oder dessen Täter überführt werden (Überführungsgeschehen) soll. Im ersten Fall gilt es, den Täter oder die Täterin zu finden („whodunit“). Im zweiten Fall steht der Täter oder die Täterin fest und das Augenmerk liegt auf dem Nachweis der Tat („howcatchem“). Auch die Stories weisen solche doppelte Histoire auf, wobei hier weder ein Aufklärungsgeschehen noch ein Überführungsgeschehen im Mittelpunkt steht. Denn anders als in typischen Kriminalgeschichten werden die Leserinnen und Leser, neben dem Tatgeschehen, nicht mit der Aufklärung oder Überführung, sondern mit einem Prozessgeschehen kon- 5 Vgl. Matias Martinez; Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München, C.H. Beck, 2009. 6 Diese Tatsache ist wenig überraschend, wenn man sich vor Augen führt, dass die im Krimi erwünschte Spannung in hohem Maße davon abhängig ist, dass der Leser die beschriebenen Ereignisse als möglichst wahrscheinlich wahrnimmt. 7 vgl. Tzvetan Todorov, „Typologie des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 208-215. Sowie Wolfgang Brylla, „(Post-)Moderner Mord oder Wiederholung des Schemas? Erzähltendenzen, Erzählstrukturen und Erzählmotive im zeitgenössischen Krimi“, in Linguae Mundi 6/ 2011/ 2012, 2012, S. 103-126, hier S. 107. 8 In diesem Artikel soll die Rede von ‚Geschehen‘ sein, wenn es um die Ereignisse innerhalb der erzählten Welt geht, während von ‚Erzählung‘ die Rede ist, wenn die Art der Darstellung und Vermittlung des Geschehens untersucht wird. „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ 221 frontiert, in dem es einerseits um den Nachweis, vor allem aber um die Beurteilung der Tat geht. Schematisch lässt sich dies so darstellen: - „whodunit“: Tatgeschehen - Aufklärungsgeschehen - „howcatchem“: Tatgeschehen - Überführungsgeschehen - Ferdinand von Schirachs Kurzgeschichten: Tatgeschehen - Prozessgeschehen Nachdem einige zentrale Elemente der formalen Beschaffenheit des Kriminalgeschehens geklärt sind, gilt es nun die erzählerische Verbindung der beiden Teilgeschehen (Tat - Prozess) zu untersuchen. Im Folgenden wird es dabei zunächst um das Wie von klassischen Krimierzählungen gehen, um dann einen Blick auf die Erzählstrategie in den hier zu behandelnden Erzählungen zu werfen. In den beiden oben erwähnten klassischen Krimischemata („whodunit“ und „howcatchem“) gilt es, die beiden Geschehen (Tat - Aufklärung / Überführung) erzählerisch zur Deckung zu bringen, d.h. die Leerstellen im Tatgeschehen durch eine Aufklärungserzählung zu rekonstruieren 9 . Entscheidend ist, dass die Tat hier als feststehendes Faktum (oder Ereignis) innerhalb der erzählten Welt aufgedeckt werden soll. Mit anderen Worten: Krimis folgen zumeist einem Rekonstruktionsschema 10 . Dieses Schema lässt sich wie folgt beschreiben: Durch das Verbrechen tritt ein Ereignis innerhalb der erzählten Welt ein, dass zu Beginn der Erzählung zunächst ein Rätsel darstellt - oder anders: in der Epistemologie der erzählten Welt kommt etwas ontologisch zum Vorschein, das für die (ansonsten schlüssige, d.h. der Ontologie der erzählten Welt entsprechende) Epistemologie der erzählten Welt eine Herausforderung darstellt. Schließlich ist es die Aufgabe der Erzählung, die Harmonie zwischen Ontologie und Epistemologie wieder herzustellen, indem die Lücken geschlossen werden. Mit anderen Worten: Die Tat liegt - ontologisch gesprochen - als Ereignis bereits vor, allerdings haftet ihr - epistemologisch gesprochen - (noch) etwas Rätselhaftes an. Die Aufgabe des Ermittlers oder der Ermittlerin ist es, dieses Rätselhafte innerhalb der Aufklärungserzählung bzw. Überführungserzählung zu enträtseln. Der Erzähler begleitet den Ermittler und rekonstruiert mit ihm gemeinsam, was passiert ist (bzw. rekonstruiert mit ihm die Identität des Täters). Das Resultat der Erzählung ist die Auflösung des Rätsels. An dieser Stelle ist es wich- 9 Die Art der Leerstellen variiert je nach Subgenre: Während der Ermittler in der klassischen Detektivgeschichte nur mit dem Ergebnis der Tat (z.B. der Leiche) konfrontiert wird, ist es im Thriller durchaus üblich, dass der Leser den Täter samt seiner Gedanken während der Tat begleitet und als Leerstelle nur die Identität des Täters bleibt. 10 Vgl. Ernst Bloch, „Philosophische Ansicht des Detektivromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München, W. Fink, 1971, S. 322-343, hier S. 327 und S. 334. Jan-Moritz Werk 222 tig zu betonen, dass wir es hier - im Gegensatz zu den Geschichten von Schirachs - mit einer gesicherten epistemologischen Repräsentation der Ontologie der Erzählwelt zu tun haben. Denn wie zu zeigen sein wird, spielt der Aspekt der Rekonstruktion (bzw. Konstruktion) -auch bei Ferdinand von Schirach eine zentrale Rolle, jedoch auf ganz andere Art und Weise. Wenden wir uns nun, nach diesem kurzen Exkurs zu den klassischen Krimischemata wieder den Stories zu. Analog zu der „doppelten Histoire“ lässt sich bei Ferdinand von Schirach ein „doppelter Discours“ ausmachen, den man zuweilen auch in anderen Kriminalerzählungen findet. Während in der Detektivgeschichte die Tat gerade nicht als Erzählung, sondern nur als Geschehen und in der Gestalt des zu lösenden Rätsels auftaucht, wird in vielen Thrillern ganz explizit von der Tat erzählt, wobei „nur“ die Identität des Täters rätselhaft bleibt 11 . Die Geschichten von Schirachs sind also in der Regel zweigeteilt. Analog zum Tatgeschehen gibt es, wie im Thriller, auch eine Taterzählung. Diese Taterzählung setzt in den verschiedenen Stories zu verschiedenen Zeitpunkten innerhalb der erzählten Welt ein: mal am Tag der Tat (Volksfest) und mal 48 Jahre vor der Tat (Fähner). Innerhalb der jeweiligen Erzählung ist die Taterzählung der Prozesserzählung fast immer vorangestellt. Der Modus der Taterzählungen ist meist ein dramatischer, d.h. der Leser wird ganz nah an die Ereignisse herangeführt. Charakteristisch für die Taterzählungen sind daher auch „funktional überschüssige Details“ 12 , die das Gefühl der Gegenwärtigkeit erzeugen, also das, was Roland Barthes effets de réel (Realitätseffekte) genannt hat 13 . Durch das Berichten von Details, die für den weiteren Verlauf der Erzählung irrelevant sind, wird die Erzählung lebhaft und erzeugt den Eindruck des „Dabeiseins“. In der Erzählung Volksfest, die von der brutalen Vergewaltigung einer jungen Bedienung durch eine größere Gruppe von Musikanten handelt, heißt es zu Beginn zum Beispiel: Der erste August war selbst für diese Jahreszeit zu heiß. Die Kleinstadt feierte ihr sechshundertsechzigjähriges Bestehen, es roch nach gebrannten Mandeln und Zuckerwatte, und der Bratdunst von fettigem Fleisch setzte sich in den Haaren fest. Es gab alle Stände, die es immer auf Jahrmärkten gibt: Es war ein Karussell aufgestellt worden, man konnte Autoscooter fahren und mit Luftgewehren schießen. Die Älteren sprachen von „Kaiserwetter“ und „Hundstagen“, sie trugen helle Hosen und offene Hemden 14 . 11 Vgl. z.B. Jiliane Hoffman, Retribution, New York, Putnam, 2004. 12 Martinez; Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 117. 13 Vgl. Roland Barthes, „L’Effet de Réel“, in Roland Barthes, Œuvres complètes. Tome 2: 1966-1973. Paris, 1994, S. 479-484. 14 Ferdinand von Schirach, Schuld, München, Pieper, 2010, S. 7. „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ 223 Die erwähnten Details, wie der Geruch von gebrannten Mandeln und Zuckerwatte, die Hitze und der Bratendunst, sind für den Fortgang der Handlung von sehr geringer Relevanz, sie dienen einzig und allein der Erzeugung des oben beschriebenen Realitätseffekts. Diese Passage ist aber auch aus einem anderen Grund wichtig. Sie lässt erste Rückschlüsse auf den Erzähler zu, der nun genauer untersucht werden soll. Der Erzähler verfügt über Detailwissen. Er weiß Dinge, die man eigentlich nur wissen kann, wenn man das Erzählte selbst miterlebt hat. Für den Erzähler dieser Geschichte gilt weiterhin, dass er über verschiedene Innenperspektiven verfügt. So lässt er die Leserschaft an einer Stelle wissen, dass das weibliche Opfer „fand, dass der Mann lustig aussah“ 15 . Später berichtet er, dass der Polizist, dem Mann nicht „geglaubt“ habe, der von einem Münztelefon anrief und die Tat meldete. Gemeinsam mit dem Polizisten, der schließlich doch einmal unter der Volksfestbühne nachsieht, betreten die Leserinnen und Leser den Tatort: „Unter der Bühne war es dunkel und feucht. Sie lag dort, nackt und im Schlamm, nass von Sperma, nass von Urin, nass von Blut“ 16 . Zusammenfassend kann man daher für das Schema der Taterzählungen bei Schirach von einer „dispersen Fokalisierung“ 17 oder einer „Nullfokalisierung“ 18 sprechen. Der Taterzählung folgt in den Stories in der Regel eine Prozesserzählung 19 , in der die Geschehnisse der Tat rechtlich bewertet und eingeordnet werden und die Gelegenheit geboten wird, verschiedene rechtsphilosophische Probleme zu besprechen. Für die Leserinnen und Leser sowie für die Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen stellt sich hier jedoch ein anderes Problem: In einer Erzählsituation, die bisher alle Merkmale eines allwissenden Erzählers aufgewiesen hat, entpuppt sich der Erzähler im zweiten Teil plötzlich als ein homodiegetischer Ich-Erzähler, und zwar in der Gestalt des Anwalts der Angeklagten. Im Beispiel der oben erwähnten Geschichte heißt es, ohne dass zuvor auch nur die geringste Spur eines Ichs zu finden gewesen wäre: Ein Studienfreund rief an und fragte, ob ich bei einer Verteidigung mitwirken wolle, man brauche noch zwei Anwälte. Natürlich wollte ich, es war ein 15 Ebd., S. 9. 16 Ebd., S. 10. 17 Brylla, „(Post-)Moderner Mord oder Wiederholung des Schemas? “, S. 113. 18 Martinez; Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 64. 19 Unter Prozesserzählung wird hier nicht nur die Erzählung des eigentlichen Gerichtsprozesses, sondern die gesamte intern-fokalisierte „Anwaltserzählung“ verstanden, die sich mit der rechtlichen Auseinandersetzung der Tat auseinandersetzt und rund um den Prozess vor Gericht gegliedert ist. Jan-Moritz Werk 224 erster großer Fall, die Zeitungen waren voll davon, und ich glaubte, das sei mein neues Leben 20 . Das Problem besteht darin, dass die bisher geäußerten „mimetischen Sätze“ 21 , welche die Erzählung (und die erzählte Welt) vor den Augen der Leserinnen und Leser erzeugen sollen, von einer Erzählerinstanz geäußert werden, die erstens während des Tatgeschehens nicht anwesend war und zweitens, als Anwalt der Angeklagten, auch noch parteiisch ist. Die naheliegendste Erklärung ist, dass es sich in den Stories um einen Fall von unzuverlässigem Erzählen handelt. Martinez und Scheffel charakterisieren dieses Phänomen wie folgt: Für unzuverlässiges Erzählen bieten sich besonders Texte mit einem […] Erzähler […], der ein Bewohner der erzählten Welt ist […] an, weil ein Erzähler, der als Figur an der erzählten Welt teilnimmt, gegenüber den anderen Figuren nach dem logischen System der literarischen Fiktion nicht privilegiert ist 22 . Der von Martinez und Scheffel vorgeschlagenen Typologie des unzuverlässigen Erzählens folgend, könnte man die Erzählstrategie von Schirachs als „mimetisch unentscheidbares Erzählen“ 23 klassifizieren, denn nachdem der zuvor allwissend anmutende Erzähler sich als Figur der erzählten Welt und dazu noch als parteiische Figur zu erkennen gegeben hat, wird das in der Taterzählung beschriebene Geschehen „in eine grundsätzliche Unentscheidbarkeit bezüglich dessen, was in der erzählten Welt der Fall ist“ 24 , gerückt. Allerdings verfahren die Stories anders als die von Martinez und Scheffel beschriebenen Beispiele, in denen entweder verschiedene Variationen des gleichen Geschehens erzählt werden oder kein klares, sondern nur ein fragmentarisches Bild des Erzählten erzeugt wird. In den hier behandelten Texten werden nämlich weder verschiedene Versionen des Geschehens noch unklare Bilder erzeugt. Im Gegenteil: Die mimetischen Sätze in den Taterzählungen erzeugen ein gestochen scharfes, ja ein geradezu realistisches Bild. Die Unentscheidbarkeit wird allein durch die vom Erzähler offen zur Schau gestellte Perspektivität (und Befangenheit) hergestellt, und zwar an einer Stelle, wo zuvor der Anschein absoluter Objektivität geherrscht hatte 25 . 20 von Schirach, Schuld, S. 12. 21 Martinez; Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 99 f. 22 Ebd., S. 101. 23 Ebd., S. 103. 24 Ebd. 25 Was jedoch gegen die Annahme spricht, dass es sich bei der Erzählstrategie von Schirachs um unzuverlässiges Erzählen handelt, ist die bereits angedeutete Tatsache, dass es hier eine ganz andere Art der Unzuverlässigkeit vorliegt. Für den Fortgang der Argumentation ist die Frage, ob man den Erzähler in den Stories nun unzuverlässig „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ 225 Anders ausgedrückt: Im ersten Teil wird die Leserschaft ganz nah herangeführt an die Ereignisse (Realitätseffekt), nur um unsere Skepsis im zweiten Teil umso größer ausfallen zu lassen, wenn wir erfahren, dass der Erzähler keine extradiegetische Instanz, sondern selbst Teil der erzählten Welt ist. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen klassischen Erzählschemata soll hier keine gesicherte epistemologische Repräsentation der Ontologie der erzählten Welt wiederhergestellt werden. Im Gegenteil, die Möglichkeit einer solchen gesicherten Repräsentation wird durch die beschriebene Darstellung von Perspektivität grundsätzlich infrage gestellt. Dennoch besteht weiterhin die Frage: Woher weiß der Ich- Erzähleranwalt von den Geschehnissen? Die Antwort ist im Grunde recht einfach: Er konstruiert sie. Vor allem aus den Erzählungen der Beteiligten (aber auch aus Akten, Fotos, Berichten, Dokumenten etc.) schafft er sich eine Perspektive. In zehn von 27 Erzählungen ist ganz explizit von der Tat als Erzählung die Rede. In der oben besprochenen Erzählung heißt es, z.B.: „Er [der Mandant] erzählte […] vom Volksfest“ 26 . In anderen Geschichten findet man ähnliche Verweise, wie: „Die jungen Männer erzählten mir ihre Geschichte“ 27 , „[S]ie saß fast sieben Stunden vor den beiden Ermittlungsbeamten und diktierte ihr Leben ins Protokoll“ 28 , „Nach und nach öffnete er sich ein wenig und erzählte langsam seine Geschichte“ 29 , „Es dauerte lang, bis er mir seine Geschichte erzählte“ 30 , „Ich saß drei Stunden in ihrem Zimmer. Sie erzählte ihre Geschichte.“ 31 , „Er erzählte mir, was passiert war“ 32 . Vieles spricht dafür, dass der Erzähler sein Wissen über die Ereignisse - wie ein Anwalt - aus den Aussagen seiner Klienten, Zeugen und Akten (re-) konstruiert. Natürlich könnte man einwenden, dass es sich hier schlicht um eine Ich-Erzählsituation nach Stanzel handelt, in der der Ich-Erzähler die Ereignisse durchaus „von den eigentlichen Akteuren des Geschehens in Erfahrung gebracht“ haben kann 33 . Letztlich lässt sich diese Annahme jedoch nur bedingt halten. Denn obwohl wir es mit einem Ich-Erzähler zu tun haben, der die Ereignisse aus zweiter Hand erfahren haben muss, werden die Taterzählungen zu Beginn der jeweiligen Kurzgeschichte aus einer Nullfokalisierung heraus erzählt. Wie bereits erwähnt, ist es eben der zu Beginn geschaffene Schein von Objektivität, der den Leser oder die Leserin nennen möchte oder nicht, von geringer Relevanz und würde eine genauere Typologie und Erläuterung dieses komplexen narrativen Phänomens erfordern. 26 von Schirach, Schuld, S. 14. 27 Ferdinand von Schirach, Verbrechen, München, Pieper, 2009, S. 36. 28 Ebd., S. 57. 29 Ebd., S. 199. 30 von Schirach, Schuld, S. 60. 31 Ebd., S. 180. 32 Ebd., S. 49. 33 Martinez; Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 91. Jan-Moritz Werk 226 erschüttert, sobald er oder sie feststellt, dass es sich um eine konstruierte Geschichte handelt. Nachdem nun die Struktur des Erzählschemas beschrieben und in seiner Wirkung umrissen ist, wird im Folgenden eine autoreflexive Passage aus den Stories angeführt, die - wie die abschließend zu behandelnden Paratexte - das bisher Gesagte stützen und plausibel machen, sowie die Wirkung derselben weiter ausleuchten soll. In Der Äthiopier, der letzten Geschichte von Verbrechen, spricht der Erzähler, anlässlich einer Aussage des Angeklagten, über die Wahrheit von Geschichten. Dort heißt es: Er [der Staatsanwalt] sagte, dass er nicht glaube, dass die Geschichte, die [der Angeklagte] erzählt habe, stimme. Sie sei „zu phantastisch und vermutlich frei erfunden.“ […] Fakt sei nur, dass Michalka einen Banküberfall begangen habe. […] Niemand ist so objektiv, dass er Vermutung und Nachweis immer auseinander halten kann. Wir glauben, etwas sicher zu wissen, wir verrennen uns, und oft ist es alles andere als einfach, wieder zurückzufinden [Hervorhebung von J.-.M.W.] 34 . Was hier gesagt wird, gilt natürlich vor allem für die Wahrheitssuche vor Gericht. Aber sie ist auch ein weiterer Verweis auf das narrative Verfahren, das in der hier vorgelegten Analyse freigelegt werden sollte. Denn auch die Leserinnen und Leser erliegen zu Beginn der Erzählungen von Schirachs (während der Taterzählung) der Versuchung, das Erzählte für „Fakt“ zu halten, d.h. es sicher zu wissen. Die in den Stories vorgelegte Epistemologie ist aber eine, in der der epistemische Akt „etwas sicher zu wissen“, nur in der Modalität des Glaubens/ Vermutens vorkommt: „Wir glauben, etwas sicher zu wissen“ 35 . Eine ähnliche Auffassung finden wir auch in den drei Mottos zu den beiden Erzählbänden, den wir uns nun zuwenden möchten. Dem ersten Band stellt Ferdinand von Schirach folgende kantisch geprägte Sentenz Werner Karl Heisenbergs voran, die den hier vorgestellten Perspektivismus bekräftigt: „Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich“. 36 Nicht ganz so offensichtlich ist das Motto am Ende des gleichen Bandes: „Ceci n’est pas une pomme“ 37 , ein Zitat aus dem berühmten La trahison des images von René Magritte. Große geistesgeschichtliche Bedeutung hat diese Reihe von Gemälden nicht zuletzt durch die Interpretation Michel Foucaults erlangt 38 , die dargelegt hat, dass uns das Bild eines Apfels, das behauptet selbst kein Apfel zu sein, nicht nur dazu zwingt, im Ergebnis 34 von Schirach, Verbrechen, S. 203. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 5. 37 Ebd., S. 207. 38 Vgl. Michel Foucault, This Is Not a Pipe, Berkeley, Berkeley University Press, 1983. „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ 227 zu erkennen, dass das Reale von der Abbildung (oder mit Kant gesprochen: der Erscheinung) zu trennen ist, sondern auch einen Prozess anstößt, der uns dazu bringt, die Kategorie der Realität einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Wenn die hier vorgeschlagene Analyse des Erzählschemas zutrifft, dann liegt die Deutung dieses Mottos auf der Hand: Ähnlich einer Malerin, die den Abbildungscharakter ihres Werkes (und damit aller Bilder) zur Schau stellt, legt Ferdinand von Schirach den narrativen Konstruktionscharakter seiner Geschichten (und damit aller Versprachlichung des Realen) offen, indem er zunächst vortäuscht, die Dinge so darzustellen, wie sie - wenigstens innerhalb der erzählten Welt - sind, nur um kurz darauf zu zeigen, dass wir es stets immer nur mit einer Sicht auf die Dinge (hier mit der des Anwalts) zu tun haben. Abschließend sei das Motto zu Eingang von Schuld angeführt, das Aristoteles zugeschrieben wird: „Die Dinge sind, wie sie sind“. Dieses Motto ist - trotz seiner scheinbaren Widersprüchlichkeit zur vorliegenden Interpretation - von großer Bedeutung. Denn man könnte kaum mehr irren, als in der hier vorgestellten Position (Perspektivismus) einen Relativismus zu vermuten. In dem oben erwähnten epistemologischen Verfahren, spielt das Faktum (wörtlich: das Gegebene) durchaus eine wichtige Rolle. Die Dinge sind, wie sie sind, sie sind uns (vor-)gegeben. Allerdings sind sie uns eben auch in einer anderen Hinsicht unverfügbar. Für den Anwalt (aber auch für die Leserschaft und uns alle) gilt: Die Dinge liegen uns zwar vor, werden uns aber immer nur durch unsere Augen, unsere Perspektive zugänglich. Der Blick und die (mentale) Repräsentation, oder Narrative, ist von dem, worauf sich der Blick richtet, zu unterscheiden. Oder mit den Worten von Schirachs (aus einem Gespräch mit Jan Drees): Wir stellen Theorien über die Wirklichkeit auf, und das Beste, was wir über diese Theorien sagen können, ist, dass es vielleicht gute Theorien sind. Aber wir wissen nicht, ob sie wahr sind - sie bleiben immer widerlegbar. Nur müssen wir uns das auch klarmachen: Nie können wir sicher sein, dass wir im Besitz der Wahrheit sind 39 . Es ist, als wollten die Erzählungen, die Stories Ferdinand von Schirachs sagen: „Dies ist keine Erzählung“. Leider ist dieser Platz durch den naiven Realismus der sogenannten true stories bereits besetzt, so dass ein eventueller ironischer magrittescher Verweis (wie z.B.: „Die Ereignisse in diesem Buch sind wahr und keine Erzählungen“) innerhalb des Erzählwerks auf wenig fruchtbaren Boden fallen würde. Doch Ferdinand von Schirach findet durchaus andere Wege, dieser epistemologischen Ironie Ausdruck zu verleihen. In einem gut komponierten Interview allerdings behauptet der Autor, dass die Geschichten „wahr“ seien 40 . An anderer Stelle betont er, die 39 Drees, „Man muss den Menschen Laster lassen“, S. Z4. 40 Vgl. Johanna Adorján, „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“, in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.08.2009, Nr. 33, S. 25. Jan-Moritz Werk 228 ‚Figuren‘ hätten das, was er geschrieben habe, wirklich erlebt 41 . Zum Ende seines ersten Romans Tabu finden wir schließlich auch ein echtes Pendant zum erwähnten Werk Magrittes, in dem der Erzähler (oder der Autor? ) in folgenden Dialog mit seiner Hauptfigur tritt: Die Ereignisse in diesem Buch beruhen auf wahren Begebenheiten. „Wirklich? “ fragte Biegler 42 . Bibliographie Johanna Adorján, „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“, in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.08.2009, Nr. 33, S. 25. Roland Barthes, „L’Effet de Réel“, in Roland Barthes, Œuvres complètes. Tome 2: 1966- 1973. Paris, 1994, S. 479-484. Ernst Bloch, „Philosophische Ansicht des Detektivromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman, Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München, W. Fink, 1971, S. 322-343. Wolfgang Brylla, „(Post-)Moderner Mord oder Wiederholung des Schemas? Erzähltendenzen, Erzählstrukturen und Erzählmotive im zeitgenössischen Krimi“, in Linguae Mundi 6/ 2011/ 2012, 2012, S. 103-126. Jan Drees, „Man muss den Menschen Laster lassen“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.08.2009, Nr. 194, S. Z4. Michel Foucault, This Is Not a Pipe, Berkeley, Berkeley University Press, 1983. Jiliane Hoffman, Retribution, New York, Putnam, 2004. Oliver Jungen, „Anwalt seiner selbst“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.09.2009, Nr. 203, S. 30. Matias Martinez; Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München, C.H. Beck, 2009. Gerhard Neumann, „Ferdinand von Schirach. Verbrechen. Stories. Schuld. Stories.“, in Arbitrium 30/ 1, 2012, S. 118-127. Ferdinand von Schirach, Verbrechen, München, Pieper, 2009. Ferdinand von Schirach, Schuld, München, Pieper, 2010. Ferdinand von Schirach, Tabu, München, Pieper, 2013. Tzvetan Todorov, „Typologie des Kriminalromans“, in Jochen Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman, Poetik - Theorie - Geschichte. München, W. Fink, 1998, S. 208-215. 41 Drees, „Man muss den Menschen Laster lassen“, S. Z4. 42 Ferdinand von Schirach, Tabu, München, Pieper, 2013. TEIL V: INTERVIEW Wolfgang Brylla „Kriminalromane sind das vielseitigste Genre überhaupt“ Gespräch mit Susanne Goga-Klinkenberg Wolfgang Brylla: Frau Goga-Klinkenberg, erlauben Sie eine ziemlich banale Frage: wieso Krimi? Susanne Goga-Klinkenberg 1 : Die Frage ist nicht banal, aber lassen Sie mich etwas ausholen. Ich wollte immer historische Romane schreiben, damit hat alles begonnen. Mich hat die Idee fasziniert, Geschichte in Geschichten lebendig werden zu lassen. Berlin in der Weimarer Republik ist ein sehr spannender Stoff, und als ich zu schreiben begann, war das Thema in der deutschen Belletristik kaum vertreten, schon gar nicht im Krimibereich. W.B.: Stichwort: Weimarer Republik. 2005 erschien Ihr Debütroman Leo Berlin. Ein Buch, das sich quasi in diesen Historizitätstrend einreiht, der sich seit den 1990er Jahren und Boris Akunin abzeichnet. Wieso entschieden Sie sich für einen historischen Tusch, für eine historische Kulisse Ihrer Geschichten? S.G.-K.: Da Kriminalromane das vielleicht vielseitigste Genre überhaupt sind, da sie in jeder Zeit und jedem Milieu funktionieren, kam ich auf die Idee, einen 1920er-Jahre-Berlinkrimi zu schreiben. Aber mein vorrangiges Interesse galt der Geschichte, nicht dem Wunsch, einen Kriminalroman zu schreiben. Oder anders gesagt: Ich schreibe auch historische Romane, die keine Krimis sind, kann mir zurzeit aber keinen Kriminalroman vorstellen, der nicht historisch ist. W.B.: Hat dabei, außer Ihrem Interesse für die Geschichte, auch eine wichtige Rolle gespielt, dass Sie Übersetzerin sind aus dem Französischen und 1 Susanne Goga-Klinkenberg (geb. 1967) verfasst seit 2005 unter ihrem Geburtsnamen (Susanne Goga) historische Kriminalromane, die in Berlin in der Zwischenkriegszeit spielen. Bis 2015 erschienen im Münchener dtv-Verlag vier Krimis mit Kommissar Leo Wechsler in der Hauptrolle (Leo Berlin, Tod in Blau, Die Tote von Charlottenburg, Mord in Babelsberg). 2007 wurde sie mit dem Moerser Literaturpreis ausgezeichnet für die Geschichte Zigarettenmädchen. Susanne Goga-Klinkenberg ist darüber hinaus auch als Übersetzerin aus dem Französischen und Englischen aktiv. 232 Wolfgang Brylla Englischen, wo der Kriminalroman seit eh und je (Christie, Simenon) sehr populär ist und nicht als Massenware wahrgenommen wird? S.G.-K.: Eigentlich nicht. Beeinflusst haben mich vielmehr meine Erfahrungen als Leserin, vor allem der britischen Kriminalromane des 19. und 20. Jahrhunderts, dabei vorzugsweise Dorothy L. Sayers, die als eine der ersten Autorinnen Kriminalhandlung und Privatleben des Ermittlers miteinander verband. Ihre Romane um Lord Peter Wimsey und Harriet Vane lese ich immer wieder mit großem Vergnügen. Ich habe eine ganze Reihe von Krimis und Thrillern übersetzt, darunter die Roy-Grace-Reihe von Peter James, würde aber sagen, dass meine Leseerfahrung deutlich größeren Einfluss auf mein Schreiben hatte als meine Übersetzungen. Das gilt aber nur für die Wahl des Genres, nicht für die Arbeit am Text. Da habe ich beim Übersetzen viel gelernt und lerne noch immer. W.B.: Die Zahlen belegen, dass der Krimi in Deutschland zum beliebtesten und meist gelesenen Genre überhaupt gehört. Die Einkaufszahlen gehen allerdings nur selten auf positive Kritiken über. Krimi wird weiterhin als Unterhaltungsliteratur subsumiert und somit auch in gewisser Weise diskreditiert. Haben Sie als Erzählerin, die in diesem Krimi-Metier arbeitet, eine passable Antwort für diesen „deutschen Sonderweg“? S.G.-K.: Ich glaube, dieser „Sonderweg“ betrifft nicht nur den Kriminalroman. In Deutschland besteht leider generell die Tendenz, zwischen ernster und Unterhaltungsliteratur zu unterscheiden, was z.B. in den angelsächsischen Ländern so nicht stattfindet. Ähnliches gilt auch für Filme. Werke können entweder unterhalten oder den Geist anregen/ eine Botschaft vermitteln/ Kunst sein, beides zusammen geht angeblich nicht. Diese Trennung ist unsinnig und macht vielen Künstlerinnen und Künstlern das Leben unnötig schwer. Ein Beispiel, dass es auch anders geht, ist die Comic-Rezeption in Frankreich und Belgien, wo ein Genre, das in Deutschland gemeinhin der Trivialliteratur zugerechnet wird, durchaus als künstlerisch hochwertig empfunden wird. W.B.: In der Krimiforschung gibt es mehr oder weniger zwei Differenzierungsversuche in Bezug auf den historischen Kriminalroman, der oft Retro-Krimi genannt wird, obwohl man das Merkmal ‚retro‘ nur auf einen spezifischen geschichtlichen Abschnitt beziehen kann. Einerseits werden Romane verfasst, deren Handlungen vollkommen in der Vergangenheit spielen. Andererseits sind auch solche Texte zu finden, in denen von der Gegenwartsebene zuerst - in einer zeitlichen Rückwendung - auf das Geschehene zu sprechen kommt. Sie vertreten die erste Richtung. „Kriminalromane sind das vielseitigste Genre überhaupt“ 233 S.G.-K.: Für mich kam es nicht in Frage, die Zeitebenen zu mischen. Ich wollte eine vergangene Epoche so genau wie möglich nachzeichnen, sowohl was die politischen Hintergründe angeht als auch Alltagsleben und Kultur. Für diesen Ansatz wäre eine Gegenwartsebene in meinen Augen nicht hilfreich gewesen. Es gibt hervorragende Romane, die so arbeiten, mein Konzept sieht einfach anders aus. Ich bemühe mich, so weit es überhaupt möglich ist, die Figuren als Menschen ihrer Zeit agieren zu lassen. Den distanzierten Blick hat das Publikum ohnehin, da es die Geschichte aus einer Entfernung von fast hundert Jahren erlebt. W.B.: Über Leo Berlin schrieb Rebeca Gablé, man habe es mit einem „außergewöhnlichen, authentischen“ Roman zu tun. Wenn wir schon beim Kriterium der Authentizität sind. Wenn man Ihre Bücher liest, fällt es auf, dass Sie penibel auf die kleinsten Details achten, die ein gewisses Zeit- und Geschichtsfeeling verbreiten. Wie sehen Ihre Recherchen vor jedem Roman aus? S.G.-K.: Ich recherchiere nicht nur vorher, sondern vor allem während des Schreibens, weil viele Fragen erst spontan auftreten. Am Anfang steht eigentlich immer eine Grundidee, für die ich dann einen passenden zeitlichen Rahmen suche. Der kann sich aus einer interessanten historischwirtschaftlichen Situation z. B. galoppierende Inflation - oder aber auch einem authentischen fallbezogenen Hintergrund ergeben - z.B. bei Mord in Babelsberg, wo Gennats Ermittlungen in Breslau einbezogen werden. Bei meinen Recherchen geht es oft um Details: Wohnverhältnisse, Unterhaltungskultur, Polizeiarbeit, die historische Geographie Berlins (Wie hieß welche Straße? Welches Gebäude wurde wann errichtet oder abgerissen? ) Dazu finde ich viel im Internet, sehe mir aber auch bei meinen Besuchen immer wieder Dinge an. Es hilft beim Schreiben generell sehr, wenn man Orte aufsuchen kann, sofern sie noch vorhanden sind. Und selbst ihr Fehlen, d.h. die Vergänglichkeit, weckt Gedanken und Gefühle, die in meine Arbeit einfließen. W.B.: Im Zentrum von Leo Berlin befindet sich ein Knopf, zumindest so viel sei gesagt. Allerdings kann man als Leser schon früh, ungefähr nach der Hälfte des Romans, den Täter identifizieren. War das Ihre Absicht oder eher eine ungewollte Lösung? S.G.-K.: Gute Frage. Es war mein erstes Buch überhaupt, daher will ich nicht bestreiten, dass die frühe Aufdeckung nicht ganz gewollt war. Gemeinsam mit meiner Lektorin habe ich dann aber überlegt, dass es auch funktioniert, wenn die LeserInnen dem Ermittler einen Schritt voraus sind und ihn bei 234 Wolfgang Brylla der Arbeit beobachten können. Daher betrachte ich es mittlerweile als legitime Erzählvariante und nicht als handwerklichen „Unfall“. W.B.: In den Gegenwartskrimis, auch in deutscher Sprache z.B. bei Andrea Maria Schenkel, ist ein Spiel mit der Narration, mit diversen Erzählansätzen und -strukturen zu beobachten. Sie verzichten in Ihren Romanen auf solche Erzählgriffe, Ihr Erzählen ist eher ‚klassisch‘, was natürlich kein Vorwurf ist. Haben Sie keine Lust auch mit der Form ein wenig herumzuexperimentieren? S.G.-K.: Im Grunde schon, aber nicht in diesem Rahmen. Bei einer Serie erscheint es mir problematisch, den Erzählansatz mittendrin zu ändern und mit verschiedenen Erzählformen zu spielen. Das würde ich wohl eher bei meinen in sich abgeschlossenen Romanen versuchen, falls es sich einmal anbietet. Ich sage aber ganz ehrlich, dass mir das klassische Erzählen mehr liegt. Ich könnte mir eher eine experimentelle Kurzgeschichte als einen derartigen Roman vorstellen. W.B.: Zurück zum Inhalt: Ihr Kommissar Leo Wechsler ermittelt in Berlin der Goldenen Zwanziger. Was hat Sie an Berlin fasziniert? Der Glamour der 1920er Jahre? S.G.-K.: Ich bin über die Zeit zum Ort gelangt. Die Weimarer Jahre in Deutschland sind eine faszinierende Zeit voller Widersprüche, und wenn man darüber schreiben möchte, kommt man an Berlin kaum vorbei. Die Stadt war DIE Metropole Mitteleuropas, die zahlreiche Besucher aus anderen Ländern und Kontinenten anzog. Die Kriminalpolizei, die in meinen Roman eine wichtige Rolle einnimmt, genoss einen so guten Ruf, dass sogar amerikanische Kollegen anreisten, um die Methoden zu prüfen und auch zu übernehmen. Außerdem zeigt Berlin wie ein Brennglas, was wir mit dieser Zeit verbinden: Modernität, Avantgarde, Frauenemanzipation, politische und sexuelle Offenheit, Meinungsfreiheit, aber eben auch - und als umso größeren Kontrast - die Anfänge der NS-Diktatur und das Ende der ersten deutschen Republik 1933. Die eigentliche Spannung erwächst erst aus dem Kontrast zwischen Glanz und sozialem Elend, zwischen Toleranz und Faschismus, und um das zu schildern, gibt es wohl keinen besseren Schauplatz als Berlin. W.B.: Bis dahin haben Sie vier Kriminalromane mit Wechsler in der Hauptrolle zu Papier gebracht. Alle rekurrieren eben auf das Berlin kurz vor der Hitler-Zeit. Gibt es einen Grund dafür? Oder weigern Sie sich ein wenig davor, Wechsler im Dritten Reich agieren zu lassen? „Kriminalromane sind das vielseitigste Genre überhaupt“ 235 S.G.-K.: Ganz und gar nicht. Aber wie ich schon sagte, gab es 2003, als ich mit Leo Berlin angefangen habe, so gut wie keine Kriminalromane, die in dieser Epoche spielten. Ich fand es spannend, nicht 1933 anzusetzen, sondern auch den Weg dorthin nachzuzeichnen. Hitler ist schließlich nicht vom Himmel gefallen. Ereignisse wie der Rathenau-Mord 1922, die Inflation und der Pogrom im Scheunenviertel 1923, die ersten SA-Ausschreitungen 1927 verweisen alle auf das, was später folgte, und haben es verdient, dass man sie literarisch aufarbeitet. Ich kann mir durchaus vorstellen, mich der NS- Zeit weiter anzunähern oder auch in diese „hineinzuschreiben“. Es ist ohnehin ein Thema, das mich von Anfang an begleitet hat, und der Gedanke, dass vieles, was ich beschreibe, nach 1933 nicht mehr möglich oder verboten sein oder verfolgt werden wird (im fünften Band geht es unter anderem um Homosexualität) verleiht den Büchern einen ganz eigenen Beigeschmack. Das bestätigen mir viele LeserInnen, und das empfinde ich beim Schreiben auch ganz stark. W.B.: Sie bewerten nicht, Sie stellen „nur“ dar. Sie geben ein komplexes Bild, ein Zeitdokument, wobei dieses Dokument im 21. Jahrhundert entstand, von einer Epoche, die schon vergangen ist, die allerdings trotzdem sehr „lebhaft“ wirkt. S.G.-K.: Ich glaube schon, dass man meinen eigenen Standpunkt herauslesen kann. Leo Wechsler steht politisch eher links und kollidiert des Öfteren mit Kollegen aus dem rechten Lager. Er ist in gewisser Weise mein Sprachrohr, wobei ich natürlich versuche, ihn nicht als allwissenden, überlegenen Propheten darzustellen. Er ist ein anständiger Mensch mit einem Gewissen. Andererseits versuche ich auch, Figuren, die andere Ansichten vertreten, in ihrer Menschlichkeit zu erfassen und sie nicht zu verurteilen. Denn sie sollen auf glaubwürdige Weise in ihrer Zeit leben und diese nicht mit den Augen und dem Wissen des 21. Jahrhunderts betrachten. W.B.: Nicht nur Sie schreiben historische Krimis, es gibt ja eine Anzahl von anderen Schriftstellern, die sich der Geschichte gewidmet haben wie Volker Kutscher oder Horst Bosetzky, um die bekanntesten zu nennen. Bosetzky spezialisierte sich auf eine Variante des Geschichtskrimis, die man in der Regel als Doku-Krimi bezeichnet. Haben Sie sich vielleicht Gedanken darüber gemacht, solch einen Krimi zu verfassen, der auf wahren Begebenheiten ruht? Oder kam das nie infrage, weil Sie einen großen Wert auf das Fiktionalisierungsverfahren legen? S.G.-K.: Da meine Hauptfigur fiktiv ist, fände ich es schwierig, einen wahren Fall in den Mittelpunkt zu stellen. Ich würde eher einen interessanten wahren Fall abwandeln oder aber ihn als Nebenstrang laufen lassen, wie ich es 236 Wolfgang Brylla in Mord in Babelsberg mit dem Kindermord in Breslau gemacht habe. Generell reizt es mich, den Kriminalfall selbst zu entwickeln, aber ich habe natürlich über wahre Fälle gelesen, wobei mich vor allem die Ermittlungsmethoden und die Polizeiarbeit allgemein interessieren. W.B.: Über Mord in Babelsberg, der mit dem Goldenen Homer für den besten Krimi des Jahres 2014 ausgezeichnet wurde, schrieb die Bild Woche, es sei ein „Nostalgiekrimi“. Ehrlich gesagt hatte für mich die Handlung nicht viel mit Nostalgie zu tun. Wie erklären Sie sich dieses Nostalgie-Urteil? S.G.-K.: Ich glaube, das ist ein Etikett, das man aufgeklebt hat, mehr nicht. Denn ich betrachte meine Romane nicht als nostalgisch. Eine Verklärung der Vergangenheit liegt mir fern, und ich versuche, solche Klischees tunlichst zu vermeiden. In den meisten Rezensionen taucht das Wort auch nicht auf, das halte ich für ein gutes Zeichen. Natürlich geht es in Mord in Babelsberg unter anderem um die Welt des Stummfilms, die in Deutschland durchaus Glanz besaß, aber eben nicht nur und nicht in einer Weise, die beschönigt und verklärt. Daher halte ich den Begriff im Grunde für falsch gewählt. W.B.: Denken Sie, dass die Zukunft des Krimis in dessen Vergangenheit liegt? Mit anderen Worten: wird es dazu kommen, wie bspw. in Russland, dass in Deutschland nur historische Krimis veröffentlicht werden? Sie „produzieren“ auch historische (Kostüm-)Romane, die sich auch einer großen Beliebtheit erfreuen. Wieso scheinen sich die Leser von heute so stark für Geschichte zu interessieren? S.G.-K.: Das sehe ich, was Deutschland betrifft, nicht so. Insgesamt betrachtet dominieren bei uns dann doch die Gegenwartskrimis, und zwar sowohl in der deutschen als auch in der übersetzten Literatur. Davon zeugen z.B. die so genannten deutschsprachigen Regionalkrimis, der anhaltende Boom skandinavischer Krimis, die praktisch ausnahmslos in der Gegenwart angesiedelt sind, und die gesamte Krimi-Fernsehproduktion. In Großbritannien und Irland ist das anders: Dort werden Kriminalromane und Fernsehkrimis gern in anderen Jahrhunderten angesiedelt, was mir persönlich gut gefällt und was ich im deutschen Fernsehen als Variante vermisse. Im Bereich des historischen Romans sieht es anders aus. Dort ist die Historizität sozusagen Programm, sie ist der Kern der Geschichte, der Roman ist ohne den historischen Hintergrund nicht denkbar. Nach einem mehrjährigen Mittelalterboom erfolgt in letzter Zeit eine stärkere Hinwendung zum 19. und frühen 20. Jahrhundert, die mir persönlich entgegenkommt. Ich glaube, es fasziniert viele Menschen, sozusagen an die Hand genommen und literarisch in eine andere Epoche entführt zu werden. Und das hat nichts mit Verklärung zu „Kriminalromane sind das vielseitigste Genre überhaupt“ 237 tun, ganz im Gegenteil, es kann auch spannend sein zu lesen, wie sich die Gegenwart in der Vergangenheit spiegelt oder aus der Vergangenheit ergeben hat. W.B.: Vielleicht liegt der Grund darin, dass, wenn man sich die Gegenwartsromane zu Gemüte führt, nur in den seltensten Fällen man auf Gewaltszenen stößt, die bei solchen Klassikern wie Dashiell Hammett oder Raymond Chandler im Mittelpunkt standen. Das historische Gewand der Geschichtskrimis erlaubt es, eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen und auf diesem Wege auch Brutalität zu Rate zu ziehen, die doch mit den 1920ern und 30ern Jahren verbunden wird (Gangster, organisiertes Verbrechen usw.). Gewaltsequenzen bei Akunin oder Marek Krajewski sind keine Seltenheit, sondern Normalität. Ist die heutige Gesellschaft immun gegen die Alltagsgewalt geworden und deshalb wird sie in der „Blutliteratur“ Krimi nicht in Szene gesetzt? S.G.-K.: Das sehe ich etwas anders. In Gegenwartskrimis und -thrillern (wie z.B. von Mo Hayder oder Thomas Harris oder Jean-Christophe Grangé in Frankreich) gehen die dort beschriebenen Verbrechen und Perversionen weit über das hinaus, was Chandler oder Hammett geschildert haben. Wenn man beispielsweise die Bücher von Mo Hayder betrachtet, übertrifft die darin geschilderte Gewalt die Gangsterszenarien der Schwarzen Serie bei weitem. Ich glaube, da werden Tabus gebrochen, die von den „klassischen Autoren“ nicht angetastet wurden. Das hat sicher auch damit zu tun, dass es schwerer geworden ist, gegen Grenzen zu verstoßen, da diese immer weiter gefasst werden. Andererseits glaube ich nicht, dass der Alltag als solcher gewalttätiger geworden ist, nur wird es heute mehr als früher toleriert, wenn Gewalt jeglicher Art künstlerisch verarbeitet wird. W.B.: Und letzte Frage: wie lange haben Sie noch vor, Geschichtskrimis bzw. Krimis zu schreiben? Macht es Ihnen weiterhin Spaß? S.G.-K.: Auf jeden Fall. Der fünfte Band erscheint im Januar 2016, und ich habe noch einige Ideen. Solange die Leserinnen und Leser Leo auf seinem Weg begleiten möchten, werde ich weiterschreiben. W.B.: Schönen Dank für das aufschlussreiche Gespräch. Autorenverzeichnis Rafał Biskup Uniwersytet Wrocławski Instytut Filologii Germańskiej pl. Nankiera 15b 50-140 Wrocław (Polen) Urszula Bonter Uniwersytet Wrocławski Instytut Filologii Germańskiej pl. Nankiera 15b 50-140 Wrocław (Polen) Wolfgang Brylla Uniwersytet Zielonogórski Instytut Filologii Germańskiej al. Wojska Polskiego 71a 65-672 Zielona Góra (Polen) Agnieszka Dylewska Uniwersytet Zielonogórski Instytut Filologii Germańskiej al. Wojska Polskiego 71a 65-672 Zielona Góra (Polen) Jürgen Joachimsthaler Universität Marburg Institut für Neuere deutsche Literatur Wilhelm-Röpke-Str. 6a 35032 Marburg Andrey Kotin Uniwersytet Zielonogórski Instytut Filologii Germańskiej al. Wojska Polskiego 71a 65-672 Zielona Góra (Polen) Paul Martin Langner Uniwersytet Pedagogiczny Instytut Neofilologii ul. Studencka 5 31-116 Kraków (Polen) Cezary Lipiński Uniwersytet Zielonogórski Instytut Filologii Germańskiej al. Wojska Polskiego 71a 65-672 Zielona Góra (Polen) Gerda Nogal Uniwersytet Zielonogórski Instytut Filologii Germańskiej al. Wojska Polskiego 71a 65-672 Zielona Góra (Polen) Maike Schmidt Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien Leibnizstraße 8 24118 Kiel Adam Sobek Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu Instytut Filologii Germańskiej al. Niepodległości 4 61-874 Poznań (Polen) Anna Volk ul. Chopina 102 47-260 Zakrzów (Polen) Jan-Moritz Werk Uniwersytet Marii Curie-Skłodowskiej Instytut Germanistyki i Lingwistyki Stosowanej pl. Marii Curie-Skłodowskiej 4a 20-031 Lublin (Polen) Joanna Wołowska ul. Daszyńskiego 1 47-230 Kędzierzyn-Koźle (Polen) Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Eva Parra-Membrives / Albrecht Classen (Hrsg./ Eds.) Literatur am Rand Perspektiven der Trivialliteratur vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert Literature on the Margin Perspectives on Trivial Literature from the Middle Ages to the 21st Century Popular Fiction Studies, Vol. 1 2013, 304 Seiten, €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6764-2 Literatur setzt sich aus vielen verschiedenen Texten zusammen - solchen, die zum Literaturkanon gerechnet werden, und solchen, die trotz ihres quantitativen Gewichts am Rande angesiedelt sind, d.h. insbesondere Trivialliteratur, die wir gerade aus literatursoziologischer Sicht nicht ignorieren dürfen. Das Schlagwort ‚trivial‘ fällt leicht, aber es genau zu definieren erweist sich als problematisch. Gab es z.B. Trivialliteratur auch schon in der Vormoderne? Warum entstehen überhaupt triviale Texte? Welche Bedürfnisse befriedigen sie? Welche Gestaltungstechniken werden dort eingesetzt? Was sagt die Trivialliteratur über das Lesepublikum bzw. deren Autoren aus? Diese und weitere Fragen werden von den Beiträgern zu diesem Band kritisch unter die Lupe genommen und anhand von exemplarischen Fällen sorgfältig analysiert. Der Kriminalroman ist en vogue. Schon ein flüchtiger Blick auf die Bestsellerlisten reicht, um sich der Popularität der Gattung bewusst zu werden. Trotzdem wird der Krimi von den Literaturbzw. Kultur- oder Medienwissenschaftlern immer noch als bloße Unterhaltungs- und Trivialware angesehen, der ein gewisser schematischer Strukturaufbau zugrunde liegt. Als Kitschliteratur in die Ecke der Belletristik verbannt macht vor allem die Literaturforschung immer noch einen großen Bogen um das Genre. Nach wie vor scheint der vielsagende Satz von Richard Alewyn zu gelten, der Ende der 1960er Jahre konstatierte: „Das Lesen von Detektivromanen gehört zu den Dingen, die man zwar gerne tut, von denen man aber nicht gern spricht.“ Dieser Band greift die Frage nach dem entgegen aller Erwartungen weit gefassten, von Vielfalt und Verschiedenartigkeit getragenen Gesamtbild des Krimis auf und bietet eine literaturwissenschaftliche Untersuchung des Variantenreichtums der Gattung. Popular Fiction Studies 3