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Bilder im Fremdsprachenunterricht

2015
978-3-8233-7949-2
Gunter Narr Verlag 
Carola Hecke
Carola Surkamp

Der Band beinhaltet Beiträge, die das Potenzial von Bildern im Fremdsprachenunterricht beleuchten. Im Zentrum steht nicht allein das Sprachlernen, sondern auch die Förderung des Sehverstehens sowie weitere Ziele des Literatur- und Kulturunterrichts. Zur Veranschaulichung dient eine Vielzahl von Bildtypen: Buchillustrationen, Karikaturen, Plakate, Tafelbilder und Bildkunst ebenso wie das darstellende Spiel, Filme, Computerspiele, Fotos, Skulpturen und Schülerzeichnungen. Einige Artikel sind theoretisch ausgerichtet, andere beschreiben Unterrichtsmodelle und bieten konkrete Vorschläge für die rezeptive und produktive Bildarbeit.

Carola Hecke/ Carola Surkamp (Hrsg.) Bilder im Fremdsprachenunterricht Neue Ansätze, Kompetenzen und Methoden 2. Auflage Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik Bilder im Fremdsprachenunterricht GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho Carola Hecke / Carola Surkamp (Hrsg.) Bilder im Fremdsprachenunterricht Neue Ansätze, Kompetenzen und Methoden 2., unveränderte Auflage Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 2., unveränderte Auflage 2015 1. Auflage 2010 © 2015 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-6949-3 5 Inhaltsverzeichnis C AROLA H ECKE & C AROLA S URKAMP Einleitung: Zur Theorie und Geschichte des Bildeinsatzes im Fremdsprachenunterricht .................................................. 9 Grundlegendes zum Bildeinsatz W OLFGANG H ALLET Viewing Cultures: Kulturelles Sehen und Bildverstehen im Fremdsprachenunterricht....................................................................... 26 S TEPHAN B REIDBACH Ein geigender Radfahrer ist ein geigender Radfahrer ist ein geigender Radfahrer? Kommunikativer Englischunterricht und visual literacy im Rahmen der Diskussion um Bildungsstandards und fremdsprachliche Grundbildung.......................................................... 55 J ANICE B LAND Bilderbücher als Tor zu Literalität und Lesefreude junger Sprachlernender............................................................................... 76 G ABRIELE B LELL Der Leser als ‚Grenzgänger‘: Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen ........................................................................ 94 Visualisierungsformen zur Wissens- und Lernorganisation U DO O.H. J UNG Tafelbild und Tafelanschrieb: Stiefkinder der Fachdidaktik ................... 111 W OLFGANG G EHRING Unterrichtsposter als Lehr- und Lernmedien für fremde Sprachen ......... 127 6 Bilder im Literaturunterricht E VA L EITZKE -U NGERER Standbilder zum Sprechen bringen: Eine szenisch-visuelle Annäherung an literarische Texte........................ 147 C AROLA H ECKE Zum Gewinn bildproduktiven Arbeitens im fremdsprachlichen Literaturunterricht ................................................ 165 B RITTA F REITAG Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht: Lernerorientierte Zugangsweisen zu Andrea Levys Roman Small Island in Schule und Hochschule ................................................... 181 K ATRIN T HOMSON Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom: Überlegungen zur Förderung von Lesekompetenzen durch die bildgestützte Behandlung literarischer Texte........................... 199 R AINER W ENRICH William Shakespeare und die Inszenierte Fotografie: Ein interdisziplinärer Ansatz zur Vermittlung von Text- und Bildkompetenzen ..................................................................... 225 Bilder im Kulturunterricht P ETER F REESE Die amerikanische Einwanderungsgeschichte im fortgeschrittenen Englischunterricht anhand von politischen Karikaturen und Werbeanzeigen .................................................................................. 239 J AN -A RNE S OHNS Kunst, Kommerz und kollektive Identität: Amerikanische Landschaftsmalerei im englischsprachigen Kulturunterricht .................. 254 7 J UTTA R YMARCZYK Kraftvolle Bilder: Ein intermedialer Beitrag zur Friedenserziehung im Englischunterricht ausgehend von Kienholz’ Tableau The Portable War Memorial .................................................................... 273 M ONIKA S EIDL SlashSit und andere Geschichten vom Sitzen: Geschlechterstereotype in Bildmedien und Computerspielen und ihre Untersuchung im Fremdsprachenunterricht............................... 294 Bewegte Bilder im Fremdsprachenunterricht E NGELBERT T HALER Media literacy durch britische sketch comedy: Die Fernsehserie Little Britain im Englischunterricht ............................. 313 H ELENE D ECKE -C ORNILL „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“: Filmanfänge als Wegbereiter von film literacy ........................................ 325 M ARIA E ISENMANN Die Funktion von bewegten Bildern für die Erschließung eines literarischen Textes: Shakespeares Komödie The Taming of the Shrew und die Film-Adaption 10 Things I Hate About You .......... 341 C AROLA S URKAMP & K ATJA Z IETHE Perspektivierte Bilder von Wirklichkeit in Bowling for Columbine: Welche Geschichten erzählen Dokumentarfilme und wie gehen wir damit im Unterricht um? ................................................... 362 Autorinnen und Autoren ....................................................................... 383 8 Danksagung Ohne die Mitwirkung einer Vielzahl von engagierten Personen hätte dieser Band nicht entstehen können. Zunächst danken wir den Beiträgerinnen und Beiträgern der interdisziplinären Göttinger Tagung „Der Einsatz von Bildern im Fremdsprachenunterricht“ (06.-08. März 2008) für ihre kenntnisreichen und erhellenden Vorträge sowie für zahlreiche anregende Diskussionen, die sicherlich zu Überlegungen und Einsichten geführt haben, die auch in die Artikel des vorliegenden Bandes eingeflossen sind. Darüber hinaus danken wir den Beiträgerinnen und Beiträgern ganz besonders für ihre Bereitschaft, umgehend auf Nachfragen zu reagieren, und für ihre konstruktive Zusammenarbeit. Großer Dank gebührt des Weiteren den vielen fleißigen und vorausschauenden Helferinnen und Helfern im Hintergrund - namentlich Editha Ernst, Helga Güther, Lotta König, Felix Loebell, Friederike Macke, Rebecca Scorah und Jan Zimmermann -, die unsere Tagung zu einem nicht nur fachlich, sondern auch persönlich wertvollen Austausch der fremdsprachendidaktischen Disziplinen gemacht haben. Der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) und der Georg-August- Universität Göttingen danken wir, dass sie die Tagung durch finanzielle und räumliche Unterstützung ermöglicht haben. Ein herzliches Dankeschön geht an die sorgfältigen Korrekturleserinnen Rebecca Scorah, Leonie Tuitjer und Lotta König (die die einzelnen Artikel auch zuverlässig formatiert hat) sowie insbesondere an Adrian Haack für die kompetente Erstellung der Druckvorlage. Den Herausgeberinnen und Herausgebern der Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik danken wir schließlich für die Aufnahme unseres Bandes in ihre Reihe. Göttingen, im November 2009 Carola Hecke & Carola Surkamp 9 C AROLA H ECKE & C AROLA S URKAMP Einleitung: Zur Theorie und Geschichte des Bildeinsatzes im Fremdsprachenunterricht Die Frage, ob Bilder Unterrichtsmedium des Fremdsprachenunterrichts sein sollen, stellt sich aus fremdsprachendidaktischer Sicht nicht mehr: Bilder sind längst fester Bestandteil in verschiedenen Bereichen des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das geprägt ist von bildungspolitischen Neuerungen (Stichwort ‚Kompetenzorientierung‘) einerseits und kulturellen Paradigmenwechseln wie den verschiedenen cultural turns oder dem visual turn andererseits, geht es vielmehr um die Fragen, welche Bilder wozu und wie im Fremdsprachenunterricht eingesetzt werden können bzw. eingesetzt werden sollten. Diese Fragen stellen sich in der Theorie und Praxis aller Fremdsprachendidaktiken gleichermaßen. Daher wurde vom 6. bis 8. März 2008 von der Englischdidaktik der Georg-August-Universität Göttingen eine interdisziplinäre fremdsprachendidaktische Tagung zum Thema „Der Einsatz von Bildern im Fremdsprachenunterricht“ veranstaltet, die die Diskussion dieser Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven anregen und den Austausch der verschiedenen Fremdsprachendidaktiken ermöglichen sollte. Der vorliegende Band enthält ausgewählte Beiträge zu dieser Tagung. Die Artikel behandeln die Möglichkeiten, Zielsetzungen und Bedingungen der fremdsprachlichen Bildarbeit auf allgemeiner Ebene, z.B. im Hinblick auf das (inter)kulturelle Lernen (vgl. Hallet), im Kontext der Diskussion um die Bildungsstandards (vgl. Breidbach) oder zur Ausbildung spezifischer Lese- und Sehkompetenzen (vgl. die Beiträge von Bland und Blell). Darüber hinaus wird der Einsatz einzelner visueller Medien im Fremdsprachenunterricht diskutiert (vgl. Jung zum Tafelbild, Gehring zum Unterrichtsposter, Leitzke-Ungerer zu Standbildern, Hecke und Freitag zu Schülerzeichnungen, Thomson und Sohns zu Gemälden, Wenrich zu Fotografien, Freese zu Karikaturen, Rymarczyk zu Skulpturen, Seidl zu Computergrafiken, Thaler zur Fernsehserie, Decke-Cornill zu Filmanfängen, Eisenmann zur Literaturverfilmung und Surkamp/ Ziethe zum Dokumentarfilm). Carola Hecke & Carola Surkamp 10 1. Bildtypen im Fremdsprachenunterricht Wenn man Bilder im Fremdsprachenunterricht verwenden möchte, so sollte man sich zunächst der Existenz verschiedener Bildtypen bewusst sein. Marcus Reinfried (2003: 416) definiert visuelle Medien wie folgt: „Visuelle Medien im weiteren Sinne sind alle im Unterricht genutzten Informationsträger, die von den Lernenden mit dem Gesichtssinn erfasst werden können.“ Dazu zählen Bilder aus drei der vier klassischen Kunstgattungen: Gemälde (zentrales Merkmal: Flächengestaltung durch Farbe), Grafik (zentrales Merkmal: Flächengestaltung durch Linie) und Skulptur (aus dem Material herausgearbeitet) bzw. Plastik (modelliert) (zentrales Merkmal: Dreidimensionalität). 1 Hinzu kommen die neueren Genres bzw. Medien Comic (zentrales Merkmal: narrative Bilderfolge, enthält zumeist Sprechblasen) und Karikatur (zentrales Merkmal: Übertreibung)‚ Computerbild oder -kunst (zentrales Merkmal: Digitalität), Film (zentrales Merkmal: Bewegung) und Fotografie (zentrales Merkmal: [scheinbarer] Abbildcharakter). Da auch das darstellende Spiel eine visuelle Komponente besitzt, wird es ebenfalls zu den Bildtypen des Fremdsprachenunterrichts gezählt. Eine weitere Form der Bildkategorisierung ist die Aufteilung materieller Bilder in Abbildungen, logische Bilder und visuelle Analogien (vgl. Issing 1990: 239ff.). Eine Abbildung zeichnet sich dadurch aus, dass die zentralen Merkmale von Darstellung und Dargestelltem übereinstimmen (wie z.B. bei Porträtfotos). Ein logisches Bild ist die räumliche, in der Regel nicht gegenständliche Visualisierung von Zusammenhängen auf der Basis von Darstellungskonventionen (z.B. Diagramme, die häufig im bilingualen Sachfachunterricht zum Einsatz kommen). Und die visuelle Analogie ist ein Modell, das einen neuen Sachverhalt mit Hilfe bekannter Elemente bildlich darstellt (z.B. ein Plantetensystem aus großen und kleinen Bällen). Solche Bildkategorisierungen sind keine bloßen kunst- oder bildwissenschaftlichen Exkurse, sondern auch für den Fremdsprachenunterricht von Bedeutung, weil die Wirkungs- und Funktionsweise eines Bildes maßgeblich von dessen Eigenschaften abhängt. So hat die Bildwissen- 1 Die vierte Kunstgattung Architektur kommt im Schulunterricht kaum direkt, sondern i.d.R. in der Form von Fotos zum Einsatz und fällt dann in diese Bildkategorie. Einleitung 11 schaft gezeigt, dass spezifische Bildmerkmale und -strukturen bestimmte Effekte hervorrufen und bestimmte Funktionen erfüllen können. Gegenständliche Bilder, die Menschen zeigen, rufen beispielsweise eher affektive Reaktionen hervor als logische Bilder, weil sie direkt Assoziationen wecken. Logische Bilder hingegen können dazu beitragen, dass komplexe Zusammenhänge durch Visualisierung leichter verstanden werden. Da Bildmerkmale Bildkategorien konstituieren, erlaubt die Zuordnung eines für den Unterricht ausgewählten Bildes zu einer Kategorie eine - wenn auch vage - Prognose des Nutzens, den die Lernenden aus dem Bild und seiner Bearbeitung für das Erreichen der Lernziele eines modernen Fremdsprachenunterrichts ziehen können. Es heißt ‚vage Prognose‘, weil die Wirkung eines Bildes nicht nur von den Bildeigenschaften abhängt, sondern auch von den individuellen Voraussetzungen der Lernenden als Betrachterinnen und Betrachter sowie den jeweiligen Lernumständen (z.B. der Aufgabenstellung oder der Dauer der Bildarbeit). Die Aufsätze dieses Bandes zeigen und diskutieren exemplarisch, mit welchen Bildern sich welche Ziele des Fremdsprachenunterrichts in welchem Kontext wie erreichen lassen. Eine andere wichtige Unterscheidung verschiedener Bildtypen für den Fremdsprachenunterricht ist die zwischen authentischen und didaktisierten Bildern (vgl. Rymarczyk 1998: 45, 48). Während authentische Bilder um ihrer selbst willen hergestellt werden, werden didaktisierte Bilder speziell für sprachliche Lehr- und Lernzwecke produziert - etwa zur Veranschaulichung von Textinhalten im Lehrbuch oder zur Erläuterung lexikalischer oder grammatischer Phänomene. Authentische Bilder eignen sich nicht nur deshalb für den Unterricht, weil sie der Bildtyp sind, dem die Lernenden im Alltag zuhauf begegnen. Darüber hinaus sind sie in der Regel komplexer und damit interessanter als didaktisierte Bilder, so dass sie produktivere Sprechanlässe liefern können als didaktisierte Bilder. Nicht zuletzt können sie als Dokumente ihrer Entstehungszeit Aufschluss über (fremd- )kulturelle Wirklichkeiten geben und stellen damit wertvolles Material für den fremdsprachlichen Kulturunterricht dar (vgl. die Beiträge von Freese, Rymarczyk, Seidl und Sohns). Für den fremdsprachlichen Literaturunterricht ist zudem die Differenzierung zwischen so genannten eigenständigen authentischen Bildern und solchen, die einen Bezug zu einem literarischen Werk aufweisen, sinnvoll. Karl-Heinz Hellwig (1989) und Jutta Rymarczyk (1998) verwenden in diesem Zusammenhang die Begriffe ‚mediumextern‘ und ‚mediumintern‘, mit Carola Hecke & Carola Surkamp 12 denen sie die Art der Verbindung zwischen Bild und Sprache verdeutlichen: Sofern ein Bild sich nicht […] dem selben Gegenstand widmet wie ein fremdsprachiger Text, kann die Verknüpfung von Sprache und Bild immer nur mediumextern und im Unterricht erfolgen, beispielsweise durch ein Gespräch über das Bild. Im Gegensatz dazu besitzt ein Bild mit mediuminterner Verknüpfung zum Text, wie etwa eine Illustration, bereits den direkten inhaltlichen Bezug zu beispielsweise einem literarischen Werk. (Rymarczyk 1998: 49) Mediuminterne Kunstbilder können insofern in einem Bezug zu einem literarischen Werk stehen, als sie den Inhalt des Textes visualisieren, in dem Text selbst erwähnt werden oder als Grundlage bzw. Inspiration für das Verfassen eines literarischen Textes gedient haben (vgl. Hellwig 1989: 4). Wie sich Bezüge zwischen mediumexternen oder -internen Bildern und literarischen Texten mit Schülerinnen und Schülern im Fremdsprachenunterricht untersuchen und für das Erreichen fachspezifischer Lernziele im fremdsprachlichen Literaturunterricht nutzen lassen, zeigen die Beiträge von Thomson und Wenrich (vgl. auch Rymarczyk 1998 und Hecke/ Surkamp 2009). 2. Bildfunktionen und Gründe für den Einsatz von Bildern im Fremdsprachenunterricht Wie im vorliegenden Band gezeigt wird, kann der Bildeinsatz das Lehren und Lernen im Fremdsprachenunterricht positiv beeinflussen - und das in unterschiedlichen Kontexten, zu unterschiedlichen Zwecken und durch unterschiedliche bildliche Erscheinungsformen. Textillustrationen, wie sie z.B. in Bilderbüchern vorkommen, können Schülerinnen und Schüler zum Lesen motivieren und ihnen einen Zugang zu fiktionalen Welten eröffnen (vgl. Bland). Auf ähnliche Weise können Gemälde, Fotografien oder Filmbilder Zugangsmöglichkeiten zu fremdsprachlichen Texten schaffen und das Textverständnis unterstützen (vgl. Thomson, Wenrich und Eisenmann). Bildproduktive Aktivitäten wie das darstellende Spiel, das Collagieren, das Malen und Zeichnen sowie das Fotografieren dienen der Handlungsorientierung im Fremdsprachenunterricht, führen bei der literarischen Textarbeit Einleitung 13 auf anschauliche Weise zu eigenen Lesarten und intensivieren insgesamt die Lernerfahrung (vgl. Leitzke-Ungerer, Freitag, Hecke und Wenrich). Logische Bilder wiederum unterstützen die Wissensorganisation und verarbeitung sowie die Behaltensleistung von Gelerntem (vgl. Jung und Gehring). Das bewusste Sehen kann an Gebrauchs- und Medienbildern (vgl. Freese, Seidl) sowie anhand von Kunst (vgl. Rymarczyk, Sohns) und Filmbildern (vgl. Decke-Cornill, Thaler, Surkamp/ Ziethe) trainiert werden und damit zur Ausbildung und Ausdifferenzierung der Medienkompetenz der Lernenden beitragen (vgl. Surkamp/ Ziethe). Zur Medienkompetenz zählt auch ein Bewusstsein für Intermedialität, d.h. dafür, dass die Bedeutung eines Bildes oder Textes durch die Existenz eines anderen Bildes oder Textes bedingt sein kann (vgl. Blell, Hallet, Rymarczyk). Nicht zuletzt lässt sich sowohl mit unbewegten als auch mit bewegten Bildern, mit bildrezeptivem und bildproduktivem Arbeiten (inter)kulturelles Lernen initiieren (vgl. Freese, Freitag, Hallet, Rymarczyk, Sohns und Thaler). Ein wichtiges Ziel des Bildeinsatzes im Fremdsprachenunterricht besteht darin bzw. sollte darin bestehen, die Lernenden bei der Ausbildung einer visuellen Kompetenz zu unterstützen. Wurden Bilder in der Vergangenheit primär für die Fremdsprachenlehre instrumentalisiert, so wird seit den 1980er Jahren dem Lernziel ‚Sehkompetenz‘, gewissermaßen als fünfter Fertigkeit neben dem Hören, Lesen, Schreiben und Sprechen, verstärkt Bedeutung eingeräumt (vgl. Schwerdtfeger 1989: 24). Angelehnt an die internationale visual literacy-Forschung lautet eines der Lernziele der Bildarbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts, visual literacy bzw. visuelle Kompetenz zu erwerben. 2 Da dieses Lernziel nicht nur zur Vermeidung inhaltsleerer Bildarbeit, sondern auch im Sinne einer ästhetischen und kulturellen Grundbildung für den Fremdsprachenunterricht zentral ist (vgl. Breidbach und Hallet) und allen Beiträgen des Sammelbandes zugrunde 2 Wie wichtig die Schulung des Sehverstehens ist, hebt der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen schon 1993 hervor: „Unsere Schule ist traditionell vornehmlich eine Schule des Sprechens, Lesens und Schreibens. Die kulturelle Tradition der Bilder wird bei der Einschätzung dessen, was unsere Schülerinnen und Schüler für eine allgemeine Bildung lernen sollen, weit weniger geachtet, als dies der Geltung und der Wirksamkeit von Bildern in der abendländischen Kultur bis heute und verstärkt heute entspricht.“ (zit. in Rymarczyk 1998: 47) Vgl. auch Bamford (2003: 2): „Pictures exist all around us. They surround us. The economy relies heavily on visual representation and a sense of design, style and ‚feel‘. Understanding pictures is a vital life enriching necessity. Not to understand them is visual illiteracy.“ Carola Hecke & Carola Surkamp 14 liegt, soll es im Folgenden ausführlich definiert werden. Dies ist nicht zuletzt deshalb notwendig, weil trotz der Bedeutung, die dem Lernziel ‚visuelle Kompetenz‘ auch von fremdsprachendidaktischer Seite beigemessen wird, bislang erstaunlicherweise so gut wie keine curricularen Hinweise zum Bildeinsatz im Fremdsprachenunterricht vorliegen (vgl. Breidbach). 3. Lernziel ‚visuelle Kompetenz‘ Als ‚visual literacy‘ bzw. ‚visuelle Kompetenz‘ wird - im Sinne von Franz Weinerts Kompetenzdefinition (2001: 27) 3 - die Fähigkeit bezeichnet, visuell zu kommunizieren, d.h. „visuelle Informationen zu extrahieren und zu verstehen, aber auch selbst visuelle Informationen erstellen und mit anderen kommunizieren zu können“ (Lewalter 1997: 44, vgl. auch Bamford 2003: 1). Visuelle Kompetenz ist nicht gleichbedeutend mit der genetisch veranlagten Fähigkeit, Dinge visuell wahrzunehmen. Sie ist weder angeboren, noch entwickelt sie sich durch Reifung (im Gegensatz etwa zur Wahrnehmungsfähigkeit); sie muss vielmehr erlernt werden (vgl. Pettersson/ Ab 1988: 302). Daher sollte bei der Bildarbeit im Unterricht zum einen auf der inhaltlichen Ebene gearbeitet werden: Zur visuellen Kompetenz gehört die Fähigkeit, Bildinhalte verbalisieren zu können (vgl. Sober 1976: 114). Zum anderen müssen Lernende darin geschult werden, neben den Bildinhalten auch die Darstellungsmittel eines Bildes zu identifizieren, Inhalt und Form in Bezug zueinander zu setzen und dabei auch den Bildkontext zu berücksichtigen. 4 Denn die Rezeption wird in erheb- 3 „Unter Kompetenz verstehen wir die bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernten kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Probleme in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ (Weinert 2001: 27) 4 Zum Bildkontext zählt Erwin Panofsky (1975) die dem Bild zugrunde liegende Literatur, damalige Moden, Stil und Eigenschaften der Künstlerinnen und Künstler, Eigenschaften der Auftraggeberinnen und Auftraggeber, Bildzweck, historische Umstände, also „die politischen, poetischen, religiösen, philosophischen und gesellschaftlichen Tendenzen der Person, der Epoche und des Landes, die zur Debatte stehen“ (ebd.: 49). Einleitung 15 lichem Maße durch bildimmanente Strukturen gesteuert: Nicht nur die inhaltliche, sondern auch die formale Ebene eines Bildes trägt zu dessen Bedeutungspotenzial bei. 5 Das visuell kompetente Betrachten unterscheidet sich vom bloßen Wahrnehmen also dadurch, dass die visuellen Reize kritisch begutachtet und bewusst unter Bezugnahme auf Gestaltungsweise und Kontext des Bildes gedeutet werden. Die Untersuchung des Zusammenwirkens von Inhalt und Form im Unterricht kann den Lernenden verdeutlichen, dass Bilder (auch Fotografien! ) Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern aus einer bestimmten Perspektive präsentieren und somit immer eine Interpretation des Dargestellten liefern. Diese Einsicht ist für Lernende deshalb von Bedeutung, weil sie in ihrem Alltag einer Flut von Bildern begegnen und weil Bilder das Verhalten von Menschen steuern können, ohne dass diese sich dessen bewusst sind. 6 Die Ausbildung visueller Kompetenz ist daher wichtig, um Lernenden im Sinne einer Grundbildung einen bewussten Umgang mit dem Medium Bild zu ermöglichen. Aufgrund der ständigen Weiterentwicklung von Bildtypen und der zunehmenden Präsenz von Bild-/ Text-Kombinationen ist zudem die Fähigkeit zur interpretierenden Zusammenführung von Bild und Text (wie sie z.B. für die Rezeption von Comics, illustrierten Sachtexten oder Postern relevant ist) zur visuellen Kompetenz zu rechnen (vgl. Blell). Neben der rezeptiven Komponente umfasst die visuelle Kompetenz eine produktive Komponente. Wie in der oben aufgeführten Definition schon angemerkt wurde, gehört zur visuellen Kompetenz dazu, selbst visuelle Informationen erstellen zu können, um auf diese Weise mit anderen zu kommunizieren. Für eine erfolgreiche visuelle Kommunikation müssen die Bildproduzierenden zunächst einen geeigneten Bildtypen 5 Gunther Kress und Theo van Leeuwen (2006) weisen z.B. darauf hin, dass eine in einem Gemälde dargestellte Handlung sich etwa von links nach rechts entwickelt, d.h., die Auslöser sind links im Bild angeordnet, Reaktionen oder Resultate finden sich rechts davon (vgl. ebd.: 179ff.). Durch die Verwendung von Frosch- oder Vogelperspektive lassen sich Machthierarchien zum Ausdruck bringen, denn von oben betrachtet wirken Dinge klein, während sie von unten betrachtet groß und eher Ehrfurcht einflößend aussehen (vgl. ebd.: 129ff.). 6 Vgl. Mittlmeier (2006: 62): „Die Neurowissenschaft hat nachgewiesen, dass große Bereiche des Gehirns von den nicht-wahrgenommenen, unbewussten Sehreizen aktiviert werden können. Ein Großteil unseres Verhaltens kann also vom Sehen gelenkt werden, ohne dass das Bewusstsein (‚die Intelligenz‘) wirklich beteiligt ist.“ Carola Hecke & Carola Surkamp 16 wählen. Die Auswahl beruht zum einen auf ihrer Kenntnis der Effekte, die einzelne Bildtypen hervorrufen können, zum anderen auf der Verfügbarkeit unterschiedlicher Bildtypen in der jeweiligen Kommunikationssituation (manchmal z.B. sind Gesten das einzig verfügbare Mittel). Sodann müssen die Bildproduzierenden entscheiden, welche Bildinhalte auf welche Weise dargestellt werden sollen. Dabei sollten sie berücksichtigen, dass wichtige Bildinhalte visuell akzentuiert werden können, z.B. durch die Verwendung auffälliger Farben, ihre Platzierung in der Bildmitte, ihre überdimensionale Größe, eine besondere Belichtung oder die Geste des Zeigens auf sie. Für die Bildgestaltung gilt es außerdem zu berücksichtigen, mit welchen Darstellungskonventionen die Empfängerinnen und Empfänger der visuellen Botschaft wohl vertraut sind, um Missverständnisse zu vermeiden. Das Trainieren einer erfolgreichen Bildproduktion ist insofern von Bedeutung auch für den Fremdsprachenunterricht, als dass die produktive visuelle Kommunikation die Sprachproduktion unterstützen kann, etwa wenn Vorträge von Grafiken oder verbalsprachliche Äußerungen von angemessener Mimik und Gestik begleitet werden. Darüber hinaus gewinnt die Visualisierungsfähigkeit auch im Berufsleben zunehmend an Bedeutung. Nicht zuletzt sollte die Bildproduktion im Fremdsprachenunterricht trainiert werden, weil es kulturbedingt Abweichungen in der Verwendung von Darstellungskonventionen gibt, z.B. sind mimische und gestische Signale oftmals kulturspezifisch. Ihre Kenntnis sowie ein Bewusstsein für eigenkulturelle Darstellungskonventionen kann im Fremdsprachenunterricht durch bildproduktives Arbeiten ausgebildet werden (zu konkreten Möglichkeiten des bildproduktiven Arbeitens vgl. Freitag, Hecke, Leitzke-Ungerer und Wenrich). Da sowohl die Bildrezeption als auch die Bildproduktion vor einem kulturellen Hintergrund ablaufen, gilt es bei der Bildarbeit ferner, den kulturellen Einfluss zu berücksichtigen, der sich im Bild selbst, aber auch in seiner Deutung widerspiegelt. Zum einen prägen die Bildtraditionen einer Kultur (z.B. Leserichtung und Symbolik) sowohl die Bildproduktion als auch die Bildinterpretation. Zum anderen beziehen sich Bildinhalte auf den kulturspezifischen Kontext der Bildschaffenden und/ oder Bildrezipierenden. Jörg Roche (2005: 232) erläutert diese Zusammenhänge an eingängigen Beispielen: Auch die Wahrnehmung von Bildern ist nicht kulturfrei. […] Bilder sind mentale Konstrukte und keine Eins-zu-eins-Abbildungen von Wirklichkeit. Ihre Wahrnehmung ändert sich von Einleitung 17 Betrachter zu Betrachter und ist kulturspezifisch geprägt. Selbst einfache, objektiv erscheinende Darstellungen erlauben unterschiedliche Lesarten. Währen das Zebra in Deutschland als weißes Tier mit schwarzen Streifen gilt, betrachtet man es in Afrika als schwarzes Tier mit weißen Streifen. In Bildern, Cartoons, Comics oder Filmen kommen in westlichen Kulturen die positiven Charaktere (Protagonisten) von links nach rechts ins Bild, analog zur Leserichtung. Die Antagonisten betreten dagegen die Szene von rechts nach links, also entgegen der Leserichtung. In anderen Kulturen wie in Japan ist es genau umgekehrt. […] Als kulturelle Produkte eröffnen Bilder wichtige Einblicke in die Denkweisen anderer Menschen und Kulturen. Wenn man den Zeichencode nicht kennt, kann man ähnliche Probleme erleben, wie sie in der sprachlichen Kommunikation auftreten können. Kulturspezifische Aspekte sind daher für ein Bildverständnis im Sinne der Bildintention (z.B. einer Werbebotschaft aus einer Zielkultur des Fremdsprachenunterrichts) in Bilddeutungen einzubeziehen, um Missverständnisse und die Projektion eigener kultureller Werte bei der Interpretation zu vermeiden. Darüber hinaus werden bisweilen die ästhetische Wertschätzung (vgl. Curtiss 1987: 3) sowie das Wissen um die bewusste Nutzung von Bildern zu bestimmten Zwecken (vgl. Baca 1990: 65) zu den Komponenten der visuellen Kompetenz gezählt. ‚Ästhetische Wertschätzung‘ bezeichnet die Fähigkeit, Bildwirkungen unter Berücksichtigung des Bildzwecks zu bewerten und ein Urteil über die Leistung der Bildproduzierenden abgeben zu können. Das Erlernen der ästhetischen Wertschätzung kann zur Ausbildung allgemeiner ästhetischer Kompetenzen beitragen, also das ergänzen, was die Lernenden z.B. im Literaturunterricht in Bezug auf schriftsprachliche Texte entwickeln sollen. Die Einsicht in die Tatsache, dass Bilder zu bestimmten Zwecken (kommerziell, politisch, propagandistisch etc.) eingesetzt werden können, trägt zum einen zur Entwicklung einer kritischen Medienkompetenz bei, die die Lernenden nicht nur in Bezug auf bewegte, sondern auch auf nicht-bewegte Bilder ausbilden sollten. Sie ist somit ein Bestandteil bzw. eine Grundlage der rezeptiven visuellen Kompetenz. Zum anderen bedingt diese Einsicht auch den Erfolg produktiven Bildhandelns, da sie die gezielte Auswahl eines geeigneten Bildtyps bzw. bestimmter bildlicher Darstellungsverfahren ermöglicht. Carola Hecke & Carola Surkamp 18 Zusammenfassend lassen sich also die folgenden Aspekte von visueller Kompetenz herausstellen: 7 - Visuelle Kompetenz ist erlernbar; zu ihr gehören über die bloße Wahrnehmung von visuellen Zeichen hinaus die rezeptiven Fähigkeiten der Interpretation und kritischen Reflexion von Bildern; sie besitzt eine produktive Komponente; sie schließt die Berücksichtigung der Kulturspezifik bei der Bildproduktion und -rezeption mit ein; sie bedeutet die ästhetische Wertschätzung visuellen Materials; sie umfasst auch das Wissen um den bewussten Einsatz von Bildern in bestimmten Kontexten zum Erreichen bestimmter Zwecke. Die visuelle Kompetenz erweitert die funktionalen kommunikativen Kompetenzen, die im Fremdsprachenunterricht erworben werden sollen, um eine wichtige Komponente, denn Menschen kommunizieren eben nicht nur sprachlich, sondern auch in Form von Bildern bzw. visuell kodierten Botschaften. Daher müssen wir lernen, auch visuell zu kommunizieren - rezeptiv wie produktiv. Da visuelle Kompetenz erlernbar ist, lässt sie sich problemlos in den kompetenzorientierten Lernzielkatalog des Fremdsprachenunterrichts einfügen. Sie ist - da Bilder zu den im Fremdsprachenunterricht eingesetzten Medien zählen - außerdem Bestandteil der zu entwickelnden Medienkompetenz. Für die Ausbildung einer visuell-kommunikativen Kompetenz im Fremdsprachenunterricht gilt es daher, Lernenden Methoden der Bilderschließung und Bildproduktion zu vermitteln. Hinsichtlich der Bildarbeit im Fremdsprachenunterricht sind zwei zentrale Fragen noch nicht abschließend beantwortet. Erstens: Wie lassen sich durch den Einsatz von Bildern die Ziele eines modernen, kompetenzorientierten Fremdsprachenunterrichts erreichen? Zweitens: Wie ist die 7 Eine Untersuchung unterschiedlicher Konzepte von visual literacy ließ Youn- Ju Ko Huang (2000: 11f.) zu folgendem Schluss bezüglich der Komponenten von visueller Kompetenz kommen: „Visual Literacy ist die erlernte Fähigkeit, visuelle Produkte oder Botschaften in verschiedenen Medien verstehen, erkennen, interpretieren, sinnhaft in der sozialen Wirklichkeit verwenden, selbst herstellen, analysieren, evaluieren und mit anderen kommunizieren zu können.“ Einleitung 19 Bildarbeit zu gestalten, damit Lernende sprachliche, (inter)kulturelle und visuelle Kompetenzen entwickeln können? Der Bildeinsatz allein zu Sprachlernzwecken erreicht dies nicht, wenn sich die Bildarbeit in der Thematisierung inhaltlicher Aspekte erschöpft und die Bildlichkeit des Mediums nicht berücksichtigt wird. Die vorliegenden Aufsätze nehmen die Diskussion dieser beiden zentralen Fragen auf, indem sie - wie der Untertitel des Bandes verdeutlicht - neue, bild-, medien- und kulturwissenschaftliche Ansätze und Methoden im Hinblick auf die Bildarbeit im Fremdsprachenunterricht vorstellen und die dabei zu erwerbenden Kompetenzen weiter ausdifferenzieren. Wie lang der Weg bis zu diesem Punkt der fremdsprachendidaktischen Diskussion über das Thema ‚Bildeinsatz‘ war, soll abschließend ein Überblick über dessen Geschichte im Fremdsprachenunterricht in Deutschland zeigen. Der Überblick soll außerdem verdeutlichen, woran die im vorliegenden Band zusammengestellten Beiträge didaktisch und methodisch anknüpfen und worin das Innovative ihrer jeweiligen Konzeptualisierungen besteht. 4. Zur Geschichte des Bildeinsatzes im Fremdsprachenunterricht in Deutschland Der Einsatz von Bildern im Sprachunterricht hat in Europa eine lange Tradition. Bereits im 15. Jahrhundert dienten Federzeichnungen der Illustrierung und Semantisierung von Vokabelverzeichnissen (vgl. Reinfried 1992: 25) und Pädagogen wie Juan Luis Vives (1492-1540) diskutierten die Anschaulichkeit des Unterrichts. Das erste bebilderte Fremdsprachenlehrwerk Europas, das auch in Deutschland Verwendung fand, veröffentlichte Johann Amos Comenius (1592-1670) im Jahre 1658. Sein Orbis sensualium pictus enthielt lateinische Lesetexte, ihre muttersprachliche Übersetzung und illustrierende Abbildungen, die den Lernenden die barocke, religiös bestimmte Weltordnung vor Augen führen sollten. Die Bilder sollten es den Schülern ermöglichen, mit allen Sinnen zu lernen, damit sich das zu Lernende besser einpräge. So schreibt Comenius in seiner zwischen 1628 und 1632 verfassten, aber erst 1849 erstmalig veröffentlichten Böhmischen Didaktik: Carola Hecke & Carola Surkamp 20 Damit das Gelernte auch haftet, sollen die Kinder alle nur möglichen Sinne auf die vorgetragenen Gegenstände anwenden. So zum Beispiel gehören immer zusammen das Gehör und das Sehvermögen, die Sprache und die Hände. Man soll den Schülern also nicht nur das Erforderliche mündlich in die Ohren sagen, sondern zugleich auch deutlich vor ihren Augen ausmalen. Die Schüler sollen frühzeitig lernen und danach trachten, die Sache auszusprechen, sie aufzuschreiben oder zu zeichnen, - sie auch zu lehren, und zwar solange, bis sie fest haftet in Ohren und Augen, in ihrem Verstand und Gedächtnis, in ihrer Hand. Zu diesem Zweck soll man alles, was in einer Klasse behandelt wird, an ihren Wänden aufhängen, indem man die wichtigsten Disziplinen mit einem Text, sei es eine Disposition oder seien es deren oberste Grundsätze, darlegt oder sie durch Figuren und mannigfaltige Abbildungen gefällig vor Augen stellt. (1970 [1849]: 122, vgl. auch 145, 154) Comenius’ Lehrbuch erwies sich als Erfolg, wurde wiederholt neu aufgelegt, verändert, erweitert und um einen zweiten Band ergänzt. Der Einsatz bebilderter Lehrbücher bzw. Bilder per se im Fremdsprachenunterricht setzte sich zwar nicht durch, der anschauliche Unterricht wurde jedoch weiter diskutiert. Johann Bernhard Basedow (1724-1790) und die Dessauer Philantropen beschäftigten sich intensiv mit dem Thema ‚Anschauung‘, und Basedow veröffentlichte nicht nur ein bebildertes Lehrbuch (1770), sondern riet auch zur Einrichtung von Realienkabinetten. Bilder waren bei den Befürwortern einer anschaulichen Lehre Bestandteil des Unterrichts in der Fremdsprache und dienten als Sprech- und Schreibanlässe. Mit der Entwicklung geeigneter Druckverfahren nahm die Menge der im Fremdsprachenunterricht verwendeten Bilder zu (vgl. Reinfried 2008): Ab 1830 hielten Schulwandbilder Einzug in deutsche Klassenzimmer (vgl. auch Müller 1994: 10). Die Bilder wurden in den muttersprachlichen Unterricht einbezogen und sollten im Fremdsprachenunterricht das Sprechen in der Fremdsprache fördern. Dazu wurden für die Lehrenden Handreichungen für den Fremdsprachenunterricht gedruckt (vgl. z.B. Berlitz 1926). Diese Handreichungen enthielten Fragen, Texte und Vokabellisten, mit deren Hilfe Bildinhalte in der Fremdsprache behandelt werden konnten. Die Bildlichkeit des Mediums spielte in der Regel keine Rolle. Die Ausbildung einer Sehfähigkeit wurde nicht für notwendig erachtet und zählte daher nicht zu den Unterrichtszielen. Einleitung 21 Im reformierten Fremdsprachenunterricht ab den 1860er Jahren spielte die Anschaulichkeit des Lernstoffs eine große Rolle (vgl. Haß 2006: 17). Bilder wurden eingesetzt, um Sprachbedeutungen zu visualisieren. Danach ging der Bildeinsatz mit der audiolingualen Methode ab Mitte der 1940er Jahre wieder zurück. Zum einen verlangte die neue Methode nicht unbedingt den Bildeinsatz, zum anderen galt die Arbeit an Wandbildern inzwischen als überholt. Erst im Rahmen der audiovisuellen Methode ab den 1960er Jahren wurden sie zum festen Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts: Sie dienten der Semantisierung von Hörtexten sowie der Veranschaulichung von Sprachkontexten, -funktionen und -inhalten (vgl. Lingsch/ Bauer 1971). Bilder galten außerdem als förderlich für die Motivation, für die Wiederholung von Informationen, für die Aufmerksamkeitssteuerung und für die Leistungssteigerung (vgl. Dale 1946: 150-157). Insgesamt ist festzustellen, dass Bilder in dieser Zeit für die Sprachlehre instrumentalisiert wurden: Zum einen kamen sie bei der Sprachrezeption zum Einsatz, indem sie die Sprachverarbeitung unterstützten; zum anderen dienten sie der Sprachanwendung, indem sie den Transfer des Gelernten auf neue Situationen fördern sollten (vgl. Ziegesar 1978: 7). Im kommunikativen Fremdsprachenunterricht der 1970er und 1980er Jahre dienten Bilder vornehmlich dazu, die Lernenden zur Unterrichtsbeteiligung zu motivieren und Sprech- und Schreibanlässe in der Fremdsprache zu schaffen (vgl. Lademann 1993: 148). Es ging zentral um Bildinhalte; formale Bildeigenschaften sowie der Weg zur Bilddeutung wurden kaum beleuchtet. Diese Auslassungen blieben nicht unentdeckt: Ende der 1980er Jahre forderten erste Stimmen eine Bildarbeit, die zu einem Bewusstsein für die Eigenschaften des Mediums Bild selbst führt (vgl. Schwerdtfeger 1989: 24ff.). Zentrales Argument war, dass auch die kompetente Bildinterpretation Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts sein muss, wenn Bilder beim Lehren und Lernen einer fremden Sprache zum Einsatz kommen und Ausgangspunkt für bedeutungsvolle Sprachhandlungen sein sollen. Der auf den kommunikativen Fremdsprachenunterricht folgende interkulturelle Fremdsprachenunterricht mit seinem Lernziel der ‚interkulturellen kommunikativen Kompetenz‘ nutzt Bilder vor allem zur Initiierung von Sprachlernprozessen und zur Verschaffung von Einsichten in andere Kulturen. Der Fokus liegt weiterhin eher auf dem Bildinhalt, über den die Fremdsprache sowie interkulturelle Inhalte vermittelt werden sollen. Dazu trägt auch die Kontextualisierung des visuellen Materials bei, wenn sich Carola Hecke & Carola Surkamp 22 die Lernenden - initiiert durch das Bild - Wissen über die Zielkultur erarbeiten. Die Bildform bleibt bei diesem Vorgehen allerdings ebenso ausgeklammert wie Prozesse der individuellen Bildverarbeitung. Gegenwärtig ist ein Wandel im Umgang mit Bildern im Fremdsprachenunterricht spürbar. Hervorgerufen durch die fortschreitende Medialisierung unserer Alltagswelt kommt es zu einer neuen Hinwendung zu Bildmaterialien und zu einem Überdenken der Funktionen von Bildern auch im fremdsprachlichen Klassenzimmer. In Anerkennung der Entwicklung weg vom Wort und hin zum Bild riefen nach 1990 Kulturbzw. Bildwissenschaftler eine Bildzeitenwende (genannt pictorial turn, iconic turn oder visual turn) aus und reagierten bei aller Differenz im Kern in gleicher Weise auf die nicht zu übersehende technische und kommunikative Entwicklung: Sie erkannten die Zunahme des Visuellen in der Medienwelt an. In dieser ‚visuellen Zeitenwende‘ (Frey 1999: 27) verschob sich die Balance von Bild und Text zugunsten des Bildes. Die Bildwissenschaftlerin Christa Maar spricht 2006 von einer „Omnipräsenz der Bilder“ (ebd.: 11). Sie schreibt: „Es gibt so gut wie keinen Lebensbereich mehr, in dem bildliche Darstellungen von Sachverhalten und die Informations- und Wissensvermittlung durch Bilder nicht eine wichtige Rolle spielen.“ (ebd.) Diese Entwicklung findet auch Eingang in den Fremdsprachenunterricht: Bilder werden zunehmend stärker unter semiotischen Aspekten betrachtet und als eigenständige Texte angesehen, die bedeutungstragend sind, Aufschluss über außerbildliche Wirklichkeiten liefern und daher interpretatorisch - über eine Untersuchung bildformaler Eigenschaften - erschlossen werden müssen. Es erscheint daher notwendiger denn je, dass wir uns eingehender mit der Bedeutung von Bildern für das Lehren und Lernen fremder Sprachen und Kulturen auseinandersetzen. Dass in dieser Hinsicht ein großer Diskussionsbedarf vorhanden ist, zeigten nicht zuletzt die große Resonanz auf unseren Call for Papers und das große Interesse an unserer Tagung. Quellen Baca, J.C. (1990). 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Ziegesar, Detlef von (1978). „Das Bild als Motivation zum kommunikativen Sprechen.“ Englisch 78/ 1, 7-15. 25 G RUNDLEGENDES ZUM B ILDEINSATZ 26 W OLFGANG H ALLET Viewing Cultures: Kulturelles Sehen und Bildverstehen im Fremdsprachenunterricht 1. Die Visualisierung der kulturellen Wirklichkeit und des Fremdsprachenunterrichts Die zunehmende Visualisierung des gesamten Fremdsprachenlernens ist unübersehbar. Wie ein Blick in die Englisch-Lehrwerke der neueren Generationen zeigt, füllen visuelle Darstellungen aller Art den größten Teil der Lehrbuchseiten aus, darunter Fotos, fotorealistische, kolorierte Zeichnungen, comic-artige Bildsequenzen, Darstellungen einzelner Lehrwerkfiguren oder Objekte, Illustrationen und grafische Elemente zu Grammatikübungen oder icons, die der Benutzerführung durch die Lehrwerkteile oder der Anleitung zu bestimmten activities dienen. Außer dieser visuellen Durchformung des Lehrbuchs verfügen heute alle Lehrwerke über eigenständige Bildmedien, darunter Foliensätze zu Lehrwerktexten und Übungen und - in der jüngsten Generation beinahe schon als Standard - Videos auf DVD mit dokumentarischen Filmaufnahmen oder mit kleinen, oft quasi-dokumentarischen Spielhandlungen der Lehrwerkfiguren. Es kommen des Weiteren standardmäßig Verweise auf die Arbeit mit dem Internet hinzu, die die Zahl der individuell und kollektiv von der Lerngruppe genutzten Bilder ins Unendliche vervielfachen. Schließlich und nicht zuletzt gehört zum Phänomen der Visualisierung auch, dass, beflügelt durch die DVD als komplexes Speicher- und bedienungsfreundliches Abspielmedium, durch Video-Plattformen im Internet und durch die Download-Technologie, fremdsprachige Fernsehsendungen wie z.B. TV soaps, dokumentarische Filme und Spielfilme Einzug in den Fremdsprachenunterricht gehalten haben. Man kann also bei einer solch herausgehobenen Rolle der Bilder im Fremdsprachenunterricht kaum noch vom bildgestützten Fremdsprachenlernen sprechen; vielmehr handelt es sich um die vollständige Visualisierung des gesamten Fremdsprachenunterrichts. Der Umgang mit Bildern gehört, zumindest in der Primarstufe und in der Sekundarstufe I, zum Alltag im fremdsprachlichen Klassenzimmer, und der Grad der Gewöhnung Viewing Cultures 27 ist so hoch, dass man von einer ‚natürlichen‘ Verwendung und Vorkommensweise von Bildern sprechen kann - mit allen Nutzen und Gefahren. Wo der Grad der Gewöhnung hoch ist und Bilder auf naturalisierte Weise verwendet werden, ist auch die Gefahr mangelnder didaktischer Funktionalität und Reflexion besonders hoch. In der herausgehobenen Rolle visueller Medien im Fremdsprachenunterricht spiegelt sich unübersehbar die medienkulturelle Revolution, die sich als vollständige Visualisierung der gesamten kulturellen Kommunikation und als Omnipräsenz von Bildern in allen Lebensbereichen darstellt. Von der alles beherrschenden Rolle der Bilder in politischen Wahlkämpfen und der Werbung über die Bedeutung des Fernsehens als Produzent visueller Wirklichkeiten und Internet-Plattformen von social networks wie Facebook, MySpace oder StudiVz bis hin zu Video-Spielen: Unsere gesamte kulturelle Wirklichkeit ist bildmedial durchformt. Eine in pädagogischen und didaktischen Zusammenhängen bedeutsame Entwicklung jüngsten Datums (d.h. der letzten ca. zehn Jahre) hat das kulturelle Potenzial der Bilder nochmals erhöht: Die Digitalisierung der Bilder und die Möglichkeit ihrer sekundenschnellen globalen elektronischen Zirkulation, seit neuerem erneut beschleunigt durch die Foto-Handy-Technik und die useraktive Web 2.0-Technologie sowie bedienerfreundliche Software haben die Heranwachsenden in die Lage versetzt, Bilder nicht nur zu rezipieren, sondern diese selbst zu gestalten und in verschiedenen, selbst gewählten Kontexten zu platzieren. Schon ist es gut denkbar, dass die visuelle Selbstdarstellung auf social networks-Plattformen im Internet, mit ihrer „combination of photographs, music, art, video, blogs, comments from other My- Spacers, pictures of the Top 8 friends, a count of all friends, and more“ (Rosen 2007: 76), auf erhebliche Weise zur Identitätskonstitution zumeist jüngerer Menschen beiträgt. Wenn nicht alles trügt, handelt es sich dabei weniger um bildmediale Repräsentationen, sondern eher um visuelle Selbstkonzepte oder -entwürfe, mittels derer individuelle Identitäten konstituiert, soziale Gruppenzugehörigkeiten definiert, Lebensstile etabliert und bei allem immer zugleich kommuniziert werden. Der amerikanische Medienpädagoge Larry D. Rosen (ebd.: 64) fasst aufgrund empirischer Studien die identitätsstiftende Rolle von social networks und den Anteil der visuellen Selbstdarstellung so zusammen: The Internet, in general, and MySpace in particular, provide a unique forum for adolescent identity development. A MySpace profile expresses an ‘individual’s digital representation.’ My- Wolfgang Hallet 28 Spacers supply multiple photographs of themselves and their friends; self-descriptions of likes and dislikes; evidence of their tastes in fashion, music, and other media; results of personality quizzes; blogs expressing their views, ideals and values; and hosts of other clues to their adolescent identity. Die Liste der populärsten MySpace activities (88% aller Nutzer) wird dabei nach den Befunden Rosens (ebd.: 78) vom Hochladen von Bildern und Videos angeführt. Diese aktive Nutzung von Bildern hat also nicht nur den Charakter eines medienkulturellen, sondern auch eines soziokulturellen und identitätspsychologischen Umbruchs. Hierin liegt die eigentliche Dringlichkeit begründet, sich eingehender als jemals mit der Rolle von Bildern im Fremdsprachenunterricht zu beschäftigen. Freilich ist aus kulturanalytischer Perspektive zugleich zu bedenken, dass in Kontexten kultureller Kommunikation Bilder so gut wie nie für sich stehen und Bedeutung nie ausschließlich visuell erzeugt oder kommuniziert wird. Vielmehr stehen Bilder stets in einem diskursiven Kontext, der ihre Bedeutung auf anderen, meistens verbalsprachlichen Wegen mitkonstituiert und zu dem sie ihrerseits beitragen. Selbst die in Bilderausstellungen und Museen gängige Praxis, Bilder mit einer Minimalbeschriftung mit Angabe der Urheberschaft, des Entstehungsjahrs und (meistens) eines Titels zu versehen, weist auf eine diskursivierende Kontextualisierungspraxis hin, die im Falle von Kunstausstellungen in Ausstellungskatalogen, in den Feuilletons und in kunstwissenschaftlichen Interpretationsangeboten ihren sprachlich-diskursiven Niederschlag findet. Das Prinzip der Bedeutungskonstitution gilt für beinahe alle kulturell wirksamen Bilder, vom Nachrichtenfoto über das visuell dominierte Werbeposter bis hin zur Webseite: Bilder sind in der Regel eingebettet in eine Vielzahl anderer medialer Wege der Kommunikation und der Bedeutungskonstitution. Das Bild von einem Fußball-Star ist (beinahe) nichtssagend für jemanden, der über keinerlei weitere Informationen zur Karriere, zu den aktuellen Leistungen und Erfolgen oder zum sportlichen oder gesellschaftlichen Wirkungskreis des Fußballers verfügt. Das Gesamtbild von diesem Sportler entsteht aus dem Zusammenwirken einer Vielzahl medialer und modaler Darstellungen, vom Zeitungsfoto und der Sportsendung über das Radiointerview bis zum Star-Poster im Fußballmagazin. Bilder sind daher stets Teil eines größeren Diskurszusammenhangs, der multimodal verfasst ist, also im Zusammenspiel verschiedener Texte, medialer Darstellungen und Kommunikationsmodi entsteht. Diese Multimodalität Viewing Cultures 29 kultureller Diskurse 1 ist überhaupt erst der Grund, warum dem Bildverstehen und dem Umgang mit Bildern im Fremdsprachenunterricht eine wichtige Bedeutung zukommt: Die Fähigkeit der aktiven Teilhabe an fremdsprachigen Diskursen beruht heute nicht mehr nur auf der Nutzung verbalsprachlicher Kommunikationsmittel. Vielmehr muss auch der Fremdsprachenunterricht die Lernenden auf das Verstehen und auf das aktive Erzeugen eines Zusammenspiels verschiedener Medien und Modi sowohl in einzelnen Kommunikationsakten als auch in größeren Diskurszusammenhängen vorbereiten, wie sie bei der Verhandlung wichtiger gesellschaftlicher Fragen entstehen. 2 Lernende müssen in die Lage versetzt werden, in der Alltagskommunikation außer fremdsprachlichen Äußerungen auch andere Darstellungsformen und Symbolisierungen anzuwenden, zuvorderst natürlich Bilder und visuelle Darstellungen aller Art, aber z.B. auch andere grafische Elemente oder Farben und Typografien, wie sie heute in der Textverarbeitungs-Software standardmäßig integriert sind. 3 In Schüleraufgaben, die die Gestaltung eines Wandposters 4 oder einer Web-Seite beinhalten, kommt diese Art der multimodalen Kommunikation auch im Fremdsprachenunterricht zur Anwendung, allerdings meist auf eher intuitive und unreflektierte Weise. Es ist nicht verwunderlich, dass die dominante kulturelle Rolle von Bildern ihren Niederschlag auch in den didaktischen Arrangements für den Englischunterricht und im Design von Lehrwerken finden. Meist referiert die didaktische Art der Verwendung von Bildern aber nicht auf deren oben dargestellte Rolle in kulturellen Alltagsdiskursen, sondern sie beruht auf allgemeineren, eher verdeckten Annahmen über die Funktion von Bildern in fremdsprachlichen Lernprozessen. Die allgemeinste dieser Annahmen dürfte sein, dass bei der kulturellen Omnipräsenz von Bildern ein Sprach- 1 Zum Begriff und zu den theoretischen Zusammenhängen des Konzepts vgl. Hallet (2008d). 2 Vgl. im Einzelnen Hallet (2008a, 2008b, 2008c, 2009a) sowie zur Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen den Beitrag von Gabriele Blell im vorliegenden Band. 3 Dieser Wandel von der rein verbalsprachlichen zur multimodalen Kommunikation führt auch zu einem gewandelten Textbegriff, demzufolge Texte nun eher als ‚Designs‘ denn als Exemplare sprachlich-textueller Genres aufgefasst werden (vgl. Hallet 2009b). 4 Zum Einsatz von Postern im Fremdsprachenunterricht vgl. den Beitrag von Wolfgang Gehring im vorliegenden Band. Wolfgang Hallet 30 lehrgang, der diese Visualisierung aller kulturellen Kommunikation nicht mitvollzieht, bei den Lehrenden und Lernenden nicht auf Akzeptanz stößt; die Abwesenheit von Bildern würde, ähnlich wie bei journalistischen Zeitschriften und Magazinen und unabhängig von allen didaktischen oder pädagogischen Erwägungen, als Defizit und als kulturelle Rückständigkeit aufgefasst werden; 5 es handelt sich gleichsam um die Synchronisierung von Lernarrangements mit den Modi der kulturellen Kommunikation. Dass diese Analogisierung noch kaum konzeptualisiert ist, sondern eher intuitiv geschieht, zeigt sich u.a. darin, dass das Konzept der Multimodalität der kulturellen Kommunikation und des Fremdsprachenlernens (jedenfalls in Deutschland) nicht besonders verbreitet ist. Offensichtlich spielen aber auch didaktische und lernpsychologische Annahmen über die Förderlichkeit von Bildern für das Fremdsprachenlernen eine Rolle. Die Annahme, dass Bilder das Fremdsprachenlernen unterstützen oder erleichtern, wurde ausweislich des Begriffs im Grunde erst durch die audiovisuelle Methode theoretisch begründet 6 und hat sich seitdem zu einer medialen Dominanz im Fremdsprachenunterricht entwickelt, ohne dass die Vielzahl möglicher Funktionen ausreichend theoretisiert und, was die lernpsychologischen Effekte angeht, empirisch gesichert wäre. Dies hat seinen Grund vermutlich nicht nur darin, dass die gesprochene und geschriebene Sprache nach wie vor (naturgemäß) das Zentrum des fremdsprachlichen Lernens darstellt, sondern auch darin, dass zumindest in der Fremdsprachendidaktik und den mit ihr verbundenen Philologien die Auffassung vorzuherrschen scheint, dass ‚Kommunikation‘ und ‚Bedeutung‘ im Wesentlichen verbaler Natur sind, bedienen wir uns doch, um etwas zu sagen, mitzuteilen oder zu verhandeln, überwiegend des Mediums der menschlichen Sprache. Dies erklärt sich natürlich aus der besonderen Leistungsfähigkeit dieses Symbolsystems, u.a. also daraus, dass nur dieses 5 Es muss in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass die visuelle Revolution im Bereich der Printmedien im Grunde eine relativ neue Erscheinung ist: Viele Tageszeitungen erscheinen erst seit ca. zehn oder fünfzehn Jahren mit farbigen Fotos oder Illustrationen; Wochenzeitungen und Magazine wie Die Zeit oder Der Spiegel haben im gleichen Zeitraum ihr Layout von weitgehend schwarz-weiß bedruckten und bebilderten Seiten auf ein farbiges Layout umgestellt. Insofern ist die kulturelle visuelle Revolution allerjüngsten Datums. 6 Für einen historischen Überblick vgl. Reinfried (2008). Viewing Cultures 31 Zeichensystem bestimmte kognitive Operationen ermöglicht, z.B. die Begriffs- und Kategorienbildung oder eindeutige logische Verknüpfungen. Im Fremdsprachenunterricht schlägt sich die ungebrochene didaktische Dominanz der menschlichen Sprache in der Fokussierung auf die notorischen four skills nieder; selbst in den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz für die ersten Fremdsprachen werden die kommunikativen Kompetenzen im Wesentlichen mit Lesen und Schreiben, Sprechen und Hören (plus Sprachmittlung) gleichgesetzt. 7 Zwei Thesen bilden daher den Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen. Zum einen könnte man zugespitzt sagen: Sofern andere Medien und Bilder im Besonderen in fremdsprachendidaktischen Zusammenhängen ihren Platz finden, handelt es sich gängigerweise um lern- und wahrnehmungsunterstützende, instrumentale Funktionen; Bilder stehen im Dienst des Erwerbs der Fremdsprache und sind Medien des Sprachenlernens. Dieser funktionale Bildbegriff ist fest verankert und bestimmt das didaktische und methodische Handeln im Unterricht. Die andere, dem entgegenstehende These ist, dass sowohl in der Alltagskommunikation als auch im fremdsprachlichen Klassenzimmer in jeden einzelnen Akt der Kommunikation und der Bedeutungserzeugung immer auch andere semiotische, vor allem visuelle Ressourcen einfließen und sprachliche Mittel der Kommunikation ihre volle Bedeutung stets nur im Verbund mit diesen entfalten (vgl. Hallet 2008a, 2008b). Bereits am Ende dieser einführenden Überlegungen wird sichtbar, dass die Möglichkeiten der Nutzung von Bildern und anderer visueller Gestaltungsmittel in der kulturellen Alltagskommunikation, im individuellen Leben der jungen Menschen und im Fremdsprachenunterricht beinahe unbegrenzt sind - die Möglichkeiten der Fehlkommunikation und des Missbrauchs allerdings auch, wenn man z.B. nur an die weithin unbedachte Zirkulation von privaten Bildern im Internet oder an die intuitive didaktische Verwendung von Bildern im Unterricht oder in Lehrwerken denkt (zu Letzterem vgl. Hallet 2006). Es zeichnet sich daher ab, dass unabhängig von allen Funktionen im Lernprozess und im Fremdsprachenunterricht eine Ethik und Pädagogik der Bildnutzung und -kommunikation eine generelle und permanente Aufgabe der Schule und aller Fächer in der Erziehung junger Menschen ist. Die Erziehung zur kommunikativen Nutzung von 7 Vgl. zu dieser Problematik den Beitrag von Stephan Breidbach im vorliegenden Band. Wolfgang Hallet 32 Bildern im Englischunterricht muss also in den Kontext der Bildungsaufgabe der Schule gestellt werden, der zufolge die Ausbildung einer fremdsprachlichen multimodalen Diskursfähigkeit ein Bestandteil der Entwicklung der generellen Fähigkeit junger Menschen ist, an multimodal und visuell geprägten Akten und Diskursen kultureller Kommunikation teilzuhaben; die Entwicklung der Fähigkeit, den kommunikativen Gehalt von Bildern zu verstehen und aktiv kommunikativ zu nutzen (visual literacy), eine allgemeinere didaktische und pädagogische Aufgabe der Schule (und der Lehrerbildung! ) darstellt; - ‚learning to read visual texts‘ eine spezifische Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts ist in dem Sinne, dass Lehrende und Lernende die jeweilige Rolle von Bildern im Kontext ihrer eigenen fremdsprachlichen Kommunikation und im sprachlichen Lernprozess bestimmen und sinnvoll gestalten können. Wenn im Folgenden (Abschnitt 2) zunächst die Funktion von Bildern im Fremdsprachenunterricht kritisch befragt wird, so deshalb, weil die Allgegenwart von Bildern ein so großes Maß an Selbstverständlichkeit gewonnen hat, dass sie uns als notwendig und ‚natürlich‘ erscheinen. Nichts aber ist reflexionswürdiger als ein quasi naturalisierter Gebrauch von Bildern, der nicht mehr nach ihrem Ort und nach ihrer Funktion fragt. Damit soll auch die didaktische (d.h. die didaktisch instrumentalisierende) Kultur des Sehens als eine besondere, eine didaktische viewing culture problematisiert werden. Dieser didaktischen Instrumentalisierung von Bildern soll ein Bild- und Sehbegriff entgegengestellt werden, der das Sehen als eine kulturelle Praxis betrachtet und das darin enthaltene Potenzial nutzt, um einen erfahrungsorientierten Zugang zu Bildern zu eröffnen, das ,kulturelle Sehen‘ (Abschnitt 3). Ein solcher Zugang geht davon aus, dass in der Dekodierung von Bildern bis zu einem bestimmten Grad dieselben semiotischen Prozeduren zur Anwendung kommen wie bei allem Sehen in lebensweltlichen Zusammenhängen auch. Andererseits ist es wichtig, wenn von Bildern als visuellen Texten die Rede ist, die materialen, medialen und ästhetischen, also die bildsemiotischen Merkmale dieser Texte in den Blick zu nehmen, durchaus auch im Sinne einer Grammatikalität, und damit visuelle Repräsentationen und Symbolisierungen zu thematisieren, die als eine bildästhetische viewing culture (Abschnitt 4) eingeübt und als visual literacy Teil Viewing Cultures 33 einer umfassenden Diskursfähigkeit sind, zu der auch die Kommunikation mittels Bildern gehört. Abschließend (Abschnitt 5) soll der Versuch unternommen werden, zusammenfassend den didaktischen Ort von Bildern im Fremdsprachenunterricht zu bestimmen. 2. Funktionen von Bildern im Fremdsprachenunterricht Eine didaktische Bestandsaufnahme der Rolle von Bildern im Fremdsprachenunterricht lässt sich am besten und repräsentativsten anhand von Lehrwerken untersuchen und systematisch unterscheiden. 8 Allerdings lassen sich diese Funktionen auch in allen anderen Medien des Fremdsprachenlernens identifizieren, also sowohl in thematischen Textbüchern, wie sie in der Oberstufe verwendet werden, als auch auf Web-Seiten für den Englischunterricht als auch in lehrwerkunabhängigen Materialsammlungen für den Englischunterricht auf allen Stufen. Lehrwerke aber stellen nach wie vor das zentrale Unterrichtsmedium dar, über das einerseits Bilder beständig in den Fremdsprachenunterricht eingespeist werden und das andererseits durch seine Leitfunktion den Umgang mit Bildern entscheidend formt. Am Beispiel der Lehrwerke lässt sich am besten zeigen, dass sich hinsichtlich der Funktion von Bildern ein überwiegend instrumentaler Bildbegriff entwickelt hat, der zwar als Symptom eines allgemeinen kulturellen visual turn zu lesen ist, also als ein Vordringen von Bildern auch in didaktische Kontexte und in Lehr-/ Lernprozesse, der aber andererseits diesen kulturellen visuellen turn mitvollzieht, ohne die Lernenden als kulturelle Aktanten ernst zu nehmen, die sich in Kulturen des Sehens einüben müssen. 2.1 Die illustrative Funktion Eine der häufigsten Verwendungsweisen von Bildern in Lehrwerken ist die der Illustration; hier erscheinen Bilder als bloße Beigabe und Appendix zu einem fremdsprachlichen Text; sie bebildern ihn oder lockern ihn durch ein visuelles Element auf. Im günstigen Fall kann daraus eine (bei dieser Funktion nicht intendierte) Entlastung des Textes resultieren, im gar nicht so seltenen Fall können illustrierende Darstellungen aber auch in einer 8 Vgl. den Vorschlag einer Systematik bei Reinfried (2003). Wolfgang Hallet 34 nicht leicht erkennbaren und daher problematischen Beziehung zum Text stehen und so das Textverstehen erschweren oder die Aufmerksamkeit auf eher unwichtige Textelemente lenken. Kennzeichnend für die illustrative Funktion ist auf jeden Fall die Redundanz, und zwar derart, dass der Text und die zugehörigen Aufgaben auch bei Verzicht auf das Bild und seine Nutzung vollauf verständlich und funktionsfähig bleiben, das Bild also keine Funktion im Lernprozess erfüllt. Illustrativ verwendete Bilder werden in den Aufgaben oder Arbeitsanweisungen nicht thematisiert und nicht als Texte aus eigenem Recht behandelt, sondern ihre Bedeutung und Funktion bleibt implizit und dem intuitiven Verstehen der Lernenden überlassen. Dies dürfte eines der häufigsten Verfahren im Fremdsprachenunterricht und in Lehrwerken sein, eine Symptomatik, in der sich die Visualisierung als wenig reflektierte fremdsprachendidaktische Praxis zeigt und sich dadurch auch in ihrer problematischen Dimension offenbart. 2.2 Die semantische Funktion Anders verhält es sich mit einer sehr dominanten und sehr häufig anzutreffenden Gruppe von Bildern, die Situationen, Handlungen, Menschen oder Objekte darstellen zu dem Zweck, von den Lernenden in fremdsprachliche Äußerungen transformiert zu werden oder einzelne Wörter oder Sachverhalte des fremdsprachlichen Textes dem Verstehen (besser) zugänglich zu machen, weil die Lernenden noch nicht über den entsprechenden Wortschatz oder ausreichende sprachliche Mittel für das Verstehen komplexerer sprachlich vermittelter Sachverhalte verfügen. In diesem Fall spielen die mit Bildern verbundenen semiotischen Prozesse selbst eine Rolle, da der Inhalt der Bilder verstanden werden muss und Bildbedeutungen dekodiert werden müssen. Sprachproduktiv wird die semantisierende Funktion von Bildern genutzt, um z.B. durch das Zeigen von flashcards, auf denen Gegenstände zu sehen sind, die entsprechenden fremdsprachigen Wörter zu evozieren oder auch, um Lernertexte wie z.B. Beschreibungen oder Erzählungen zu initiieren. Sehr geläufig sind comicartige Bildsequenzen oder photo stories, die Szenen, Ereignisse oder ganze Geschichten zeigen, die die Lernenden in der Fremdsprache verbalisieren sollen. Bei dieser Verwendungsweise wird den Lernenden in der Regel die intuitive Dekodierung solcher visuellen Narrative oder Darstellungen abverlangt, und in der Regel wird vom Lehrbuch oder von der Lehrperson unterstellt, dass solche Bilder oder Bildsequenzen unmittelbar verständlich sind. Aus verschiedenen Gründen, z.B. wegen des fehlenden kulturellen oder Weltwissens der Lernenden, wegen ungewohnter Darstellungsweisen oder Perspektiven Viewing Cultures 35 oder, nicht selten bei comicartigen Sequenzen, wegen unklarer Zusammenhänge (z.B. wegen zu großer gaps zwischen den Bildern) und uneindeutiger Darstellungen (z.B. ‚ankommender‘ oder ‚abfahrender‘ Zug? ), kann die Dekodierung von Bildern und visuellen Narrativen den Lernenden aber erhebliche Probleme bereiten. In der Regel wird auch bei dieser semantischen Funktion ein weitgehend naturalisierter, nicht-reflexiver Umgang mit visuellen Darstellungen sichtbar, der unterstellt, dass Bildbedeutungen sich auf intuitive Weise erschließen lassen. Dies liegt darin begründet, dass das eigentliche didaktisch-methodische Interesse den sprachlichen Prozessen und Aktivitäten der Lernenden, den zu semantisierenden Texten oder sprachlichen Elementen gilt. Dies kann dazu führen, dass Probleme beim Bildverstehen kaum reflektiert oder thematisiert werden und dass als Folge davon fremdsprachliche Fehlleistungen oder Schwächen dem mangelnden fremdsprachlichen Können der Lernenden angelastet werden, in Wirklichkeit aber durch eine unzureichende (z.B. durch Übersehen eines Bilddetails) oder abweichende Dekodierung des Bildes verursacht sind (z.B. durch eine andere Interpretation einer im Bild dargestellten Körperhaltung oder eines Gesichtsausdrucks). An dieser Art der Bildverwendung wird besonders gut die instrumentale (didaktisierte) Rolle deutlich, die Bildern im Fremdsprachenunterricht beinahe durchweg zukommt und die mit einer Vernachlässigung der eigentlichen Bildinhalte einhergeht. Deren fehlende Beachtung kann dazu führen, dass kulturell oder sozial problematische Denkweisen, Vorstellungen und Stereotype, z.B. von gender-Rollen in der Familie oder von social class (die berühmte Lehrbuch-Mittelklassen-Familie), unreflektiert erzeugt und visuell suggeriert oder perpetuiert werden. Die Bilder werden didaktisch und methodisch im Hinblick auf die durch sie evozierten fremdsprachlichen Äußerungen, Strukturen und lexikalischen Einheiten reflektiert, nicht aber als (visuelle) Texte betrachtet, die selbständig Inhalte und Bedeutungen kommunizieren. 2.3 Die repräsentationale Funktion Der semantischen Funktion von visuellen Elementen ist die repräsentationale verwandt, die dem kulturellen, landeskundlichen und interkulturellen Lernen im Fremdsprachenunterricht dient. Hierbei handelt es sich um Abbildungen und Darstellungen, die Ausschnitte einer fremdsprachigen Kultur, kulturhistorische Sachverhalte oder Lebensweisen und -stile auf anschauliche Weise vermitteln sollen. Um den Bildern Authentizität zu verleihen, handelt es sich in den meisten Fällen um (heute stets farbige) fotografische oder fotorealistische grafische Darstellungen. Heute können Wolfgang Hallet 36 Fotos von den Protagonistinnen und Protagonisten eines Lehrwerks (die Lehrwerk-Familien, peers, Schulklassen) auch auf ‚wirkliche‘ Menschen referieren, die zum Teil auch tatsächlich kontaktiert werden können, während Lehrwerkfiguren früher ‚fiktional‘ waren und nur zeichnerisch, meist in der Art von Comic-Figuren, dargestellt wurden. Mit dieser Art von Referenzialität auf eine kulturelle Wirklichkeit außerhalb des Klassenzimmers ist der Anspruch verbunden, im Lehrwerk und in anderen Unterrichtsmedien ,wirkliche‘ kulturelle Sachverhalte, Verhaltensweisen und Besonderheiten zu repräsentieren. Die Bildinhalte können daher, je nach Thema einer Lerneinheit, so gut wie alle Ausschnitte der kulturellen Wirklichkeit fremdsprachiger Kulturen betreffen. Sie reichen von der Abbildung von berühmten Wahrzeichen, Stadtansichten oder Landschaften bis hin zu Lebens- und Alltagssituationen. Oft, vielleicht sogar in der Regel, beanspruchen solche Bilder Repräsentativität in dem Sinne, dass das dargestellte Objekt so ‚aussieht‘ oder so ‚ist‘ wie im Foto dargestellt oder ‚typisch‘ ist für eine Kultur. Der Anspruch, eine kulturelle Wirklichkeit - im zweifachen Sinn - zu repräsentieren, wird dadurch verstärkt, dass zu Lehrwerken der jüngsten Generation auch Videofilme gehören, die ,wirkliche‘ Menschen in ihren kulturellen Umgebungen zeigen und damit den Naturalisierungseffekt fotografischer Darstellungen weiter verstärken. Es liegt auf der Hand, dass Bilder mit einem solchen kulturrepräsentativen Anspruch eine besondere Problematik entwickeln, denn Bilder im Besonderen tragen leicht zu stereotypisierenden Vorstellungen, selektiven Wahrnehmungen oder Dominantsetzungen bei, etwa derart, dass ein einzelnes Bauwerk das Bild von einer ganzen Stadt prägt, eine bestimmte ethnische Konstellation als repräsentativ oder eine Verhaltensweise als typisch für eine Kultur angenommen wird. Auffällig ist, dass auch hier explizite Thematisierungen in der Regel unterbleiben und dass offenbar unterstellt wird, dass die Lernenden solche Fotos intuitiv verstehen und richtig ‚lesen‘. 2.4 Die kognitive Funktion Von den vorangehenden Funktionen lässt sich der Fall einer kognitiv anregenden Rolle von Bildern unterscheiden. Damit wird zugleich ein besonders brisantes Feld des herkömmlichen Fremdsprachenunterrichts berührt, das hier nicht weiter thematisiert werden kann. Hypothetisch muss aber davon ausgegangen werden, dass, anders als in Sachfächern, ‚Kognition‘ im Fremdsprachenunterricht in aller Regel nicht auf die vermittelten In- Viewing Cultures 37 halte bezogen wird. Zum Beispiel ist das richtige Verstehen einer kartografischen Darstellung, anders als im Erdkundeunterricht, nicht Gegenstand der Vermittlung und Ziel des Lernprozesses. In kognitiver Hinsicht dienen Bilder und Visualisierungen im Fremdsprachenunterricht daher vor allem dazu, sprachliche Strukturen und Phänomene dem Verstehen und dem Lernen zugänglich zu machen, die damit verbundenen kognitiven Prozesse zu unterstützen und im Gedächtnis zu verankern. Mit grafischen Darstellungen können etwa Zeitrelationen, wie sie z.B. für das Verständnis des Past Perfect nötig sind, oder räumliche Relationen, wie sie für die richtige Verwendung von Präpositionen erforderlich sind, anschaulich und somit dem kognitiven Verstehen zugänglich gemacht werden. Es können aber auch ganzheitliche Vorstellungen von kommunikativen Akten veranschaulicht werden, etwa von Dialogsequenzen, die durch Sprechblasen in einem Foto visualisiert werden, oder von textuellen Genres wie dem Tagebuch, einem handgeschriebenen Brief oder einer E-Mail, die in quasi-dokumentarischer Manier abgebildet werden. Solche Visualisierungen dienen dazu, die Entwicklung und Festigung kognitiver Schemata, die mit sprachlichen und textuellen Strukturen oder deren situativem Gebrauch verbunden sind, zu unterstützen. 2.5 Die instruktive Funktion Auf praktisch allen Seiten des Textbuchs und der übrigen Lehrwerksteile finden sich Ikonisierungen, die eine didaktisch-instruktive Funktion haben. In der Regel handelt es sich um fest kodierte, in einer Leseanleitung definierte icons und Piktogramme, die die Schülerinnen und Schüler zu bestimmten Lerntätigkeiten oder Aufgaben anleiten oder mithilfe bestimmter Symbole auf andere Lehrwerksteile verweisen. So verweist z.B. die (nicht immer auf Anhieb als solche erkennbare) stilisierte Darstellung einer CD auf eine Hörverstehensübung, ein Schreibstift auf eine Schreibtätigkeit oder eine grafisch gestaltete Abkürzung auf einen anderen Lehrwerksteil wie ein Schülerarbeitsheft. Auch bestimmte Sozial- und Arbeitsformen, die mit einer Aufgabe oder Übung verbunden sind, können auf diese Weise angezeigt werden. So kann z.B. ein Zwei-Personen-icon auf eine Dialog- Übung oder auf Partnerarbeit verweisen, ein stilisierter Bühnenvorhang kann ein role play oder eine szenische Darstellung anzeigen oder die grafische Darstellung eines Ordners soll einen Eintrag im persönlichen Schreibordner der Lernenden initiieren. Auch die mittlerweile am oberen oder am seitlichen Rand beinahe in allen Schülerbüchern zu findende Navigationsleiste stellt eine instruktive Ikonisierung dar. Dieses an den elektronischen Wolfgang Hallet 38 Hypertext angelehnte Design-Element soll die Lernenden über die didaktische Funktion des aktuell bearbeiteten Lektionsteils ins Bild setzen und auf diese Weise auch eine Orientierung im und ein Bewusstsein vom Sprachlernprozess erzeugen (‚Lernen lernen‘). Besonders in Lehrwerken für den Anfangsunterricht mit jüngeren Lernenden finden sich auch häufig durchgehend auftretende Comic-Figuren, die als ‚Lernfreunde‘ die Arbeit im und mit dem Lehrwerk begleiten, einen Vertrautheitseffekt erzeugen und so eine affektiv günstige Lernsituation zumindest mit befördern sollen. 2.6 Die bildästhetische Funktion Den im Vorangehenden beschriebenen Funktionen von Bildern in Lehrwerken und im Fremdsprachenunterricht ist gemeinsam, dass Bildern eine instrumentale, dienende Rolle im Prozess des fremdsprachlichen Lernens zugewiesen wird, dass sie also nicht selbst Gegenstand, sondern Medium des Lernens sind. Dies ist auf einfache Weise daran erkennbar, dass die kognitive, auf Verstehen zielende Verarbeitung von Bildinhalten oder Bildmerkmalen in der Regel nicht Teil der Aufgabenstellung oder gar einer Übung ist. Angesichts der eingangs beschriebenen allgemeinen Visualisierung des gesamten kulturellen Lebens ist es allerdings einigermaßen erstaunlich, dass diese explizite Beschäftigung mit Bildern im Sinne eines Lerngegenstandes oder im Sinne eines bildtextuellen Verstehens im Fremdsprachenunterricht so gut wie keine Rolle spielt. Es lassen sich aber hier und da seltene Beispiele dafür finden, dass Bilder als visuelle und ästhetische Texte behandelt werden. Es kann sich dabei z.B. um spielerisch zu nutzende Vexierbilder handeln oder auch um (mehr oder weniger bekannte) Gemälde (also um high art), die die künstlerische Annäherung an ein Unterrichtsthema zeigen. Hinter solchen bildkulturellen Einsprengseln steckt offenbar der Wille, auch im Fremdsprachenunterricht Bilder als visuelle Artefakte zu behandeln. Da auch die meisten Lehrkräfte nicht geschult oder erfahren im Umgang mit visuellen Dekodierungsverfahren sind, hält sich der Tiefgang der aktiven Beschäftigung mit solchen Artefakten allerdings meist in Grenzen. Wenn daher einmal die ästhetische Dimension von Bildern thematisiert wird, so kann die Konfrontation der Lernenden mit visuellen Artefakten der high art ohne jede Vorbereitung und Kontextualisierung leicht eine Überforderung darstellen. Diese kritische Einschätzung verdeutlicht aber lediglich, dass visuelle Texte als Gegenstände des Fremdsprachenunterrichts einer fachspezifischen Didaktik und Methodik bedürfen, damit visual literacy auf fremdsprachendidaktisch Viewing Cultures 39 adäquate Weise entwickelt werden kann und keine überambitionierten Ziele verfolgt werden. 9 Die eigentliche Problematik liegt aber nicht darin, dass Bilder in der einen oder anderen Funktion auf einer Lehrbuchseite oder einmal in einer Unterrichtsstunde vorkommen. Vielmehr besteht die Problematik darin, dass all die im Vorangehenden unterschiedenen Verwendungsweisen von Bildern sich in einer bunten Mischung auf einer einzigen Lehrbuchdoppelseite finden (visuell wird ja nicht die Einzelseite, sondern die Doppelseite wahrgenommen). Die Komplexität der von den Lernenden geforderten visuellen Dekodierungsleistungen und der mit der Vielzahl der ikonischen Elemente verbundenen intermedialen Relationierungen ist also enorm. Denn es sind ja nicht nur die Bilder je für sich zu verstehen, sondern erwartet wird auch noch, dass sie in ihrem Zusammenhang untereinander und in ihrer jeweiligen Relation zu den Verbaltexten verstanden werden (vgl. im Einzelnen Hallet 2006). Verallgemeinernd und vorbehaltlich einer quantitativen empirischen Absicherung lässt sich die Funktion von Bildern im Fremdsprachenunterricht wie folgt zusammenfassen: - Bilder und Visualisierungen spielen quantitativ gesehen im Fremdsprachenunterricht eine prominente Rolle; ihnen kommt aber im Wesentlichen eine dienende, instrumentale Funktion zu, die sich an den Zielen des Fremdsprachenlernens und an den jeweils erwünschten sprachlichen Aktivitäten und Fähigkeiten orientiert. - Es wird in der Regel unterstellt, dass sich Bildinhalte ‚von selbst‘ vermitteln und dass die Lernenden diese intuitiv ,richtig‘, d.h. in der von den Lehrwerkautoren oder -produzenten intendierten Weise dekodieren. - Die durch visuelle Texte vermittelten Inhalte sowie die kommunikative und kulturelle Leistung von Bildern werden so gut wie nicht thematisiert; sie sind kein expliziter Gegenstand des Unterrichts und des Lernens. - Den Lernenden werden im Fremdsprachenunterricht keine Dekodierungs- und Verstehensstrategien an die Hand gegeben, mittels derer 9 Wie eine Beschäftigung mit bildästhetischen Merkmalen im Unterricht gelingen kann, zeigen die Beiträge von Jutta Rymarczyk, Jan-Arne Sohns und Katrin Thomson im vorliegenden Band. Wolfgang Hallet 40 sie visuelle Symbolisierungen verstehen und reflektieren können. Insofern ist visual literacy bis heute keine didaktische Dimension des Fremdsprachenunterrichts. - In der Ausbildung der Lehrkräfte sind visual literacy und die didaktische Kompetenz zur Initiierung und Anleitung von Bildverstehensprozessen noch keine fest verankerte Dimension. Insgesamt ergibt sich aus dieser eher knappen und nicht repräsentativen Beschreibung der Funktion von Bildern im Fremdsprachenunterricht, dass es eine ganz spezifische didaktische viewing culture gibt, aber nicht im Sinne einer entwickelten Didaktik des Bildverstehens und des reflektierten Umgangs mit Bildern im Fremdsprachenunterricht, sondern im Sinne einer reinen didaktischen Instrumentalisierung. Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es seit längerem angesichts der kulturellen Dominanz und Allgegenwart von Bildern immer wieder vereinzelte Versuche gegeben hat, bildmediale Darstellungsweisen didaktisch zu konzeptualisieren (vgl. z.B. das Themenheft von Hilger 1999) und Bilder als eigenständige kulturelle Symbolisierungen auch im Fremdsprachenunterricht zu thematisieren. Dazu gehören sowohl die Untersuchung fotografischer Darstellungen, z.B. unter dem Gesichtspunkt der visuellen Repräsentation von gender oder von Machtverhältnissen (vgl. z.B. Decke-Cornill 1998, Blell 1999, Rymarczyk 2004) als auch didaktische Ansätze zur Behandlung populärer Bildmedien wie Musikvideoclips (Thaler 2002) oder Filme (Surkamp 2004, Thaler 2007) im Unterricht. Auch für die repräsentationale Funktion von Bildern und deren Nutzung für das kulturhistorische Lernen im Fremdsprachenunterricht liegen bereits Ansätze vor (vgl. z.B. Hebel/ Moreth-Hebel 2003). Ohne dass hier eine auch nur annähernd differenzierte Einzelkritik der vorliegenden, verdienstvollen Ansätze geleistet werden kann, sei jedoch die These gewagt, dass sich trotz dieser Anstrengungen zwei Desiderate identifizieren lassen: Dies ist zum einen die Integration von visual literacy in ein allgemeines, übergreifendes Bildungskonzept unter Einschluss des Fremdsprachenlernens, also die Frage, wie die Schule visuelle Kompetenzen ausbilden und auf welche Weise der Fremdsprachenunterricht dazu beitragen kann. Zum anderen ist dies die Frage, welcher Art die visuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten sind oder sein sollen, die im Fremdsprachenunterricht entwickelt werden können. Denn natürlich handelt es sich bei visual literacy nur um einen Teil eines ganzen Bündels von Kompetenzen, die heute im Sinne einer Multiliteralität in der Schule und in jedem einzelnen Unterrichtsfach vermittelt werden müssen (vgl. umfassend Cope/ Kalantzis 2000). Daher kann auch nur mit der Rezeption der kulturwissen- Viewing Cultures 41 schaftlichen visual culture studies ein Theorierahmen entstehen, der eine fremdsprachliche Bilddidaktik ermöglicht. Als paradigmatisch für diesen kulturwissenschaftlichen Zugang zur visual literacy im Fremdsprachenunterricht kann das Themenheft Visual Literacy. Bilder verstehen von Der fremdsprachliche Unterricht Englisch gelten (Seidl 2007a, darin Seidl 2007b, 2007c, 2007d), das dieses bildkulturwissenschaftliche framework systematisch entwickelt und fremdsprachendidaktisch nutzt. Wenn es um Bildverstehen im Fremdsprachenunterricht geht, ist es allerdings eine berechtigte Frage, woher das Know how dazu in einer Lehrerausbildung kommen soll, die sich traditionellerweise mit verbalsprachlichen Texten und Äußerungen befasst und Mühe genug hat, bei den Lehrenden didaktische Kompetenzen des fremdsprachlichen Textverstehens und Textproduzierens zu entwickeln. Es gilt daher einen Weg zu finden, der den Lehrenden wie den Lernenden einen kompetenten Umgang mit Bildern ermöglicht, diesen in den Prozess des fremdsprachlichen Lernens einbettet und zugleich im Auge behält, dass im Fremdsprachenunterricht immer auch (inter-)kulturelles Lernen stattfinden muss. Die folgenden beiden Abschnitte möchten zeigen, dass bei diesem Unterfangen auf ein allseits vorhandenes, allerdings kaum bewusstes und noch weniger reflektiertes kulturelles Wissen rekurriert werden kann. 3. Kulturelles Sehen Die Überschriften dieses Beitrags und dieses Abschnitts nehmen bewusst Bezug auf die Tatsache, dass das Sehen im Alltag eine so permanente und omnipräsente Wahrnehmungstätigkeit ist, dass sie automatisiert und naturalisiert ist und kaum als kulturelle Praxis reflektiert oder problematisiert wird: Wir müssen der Effizienz und der Alltagspraktikabilität halber annehmen, dass das, was wir sehen, auch die Wirklichkeit ist. Tatsache ist aber, dass es sich auch bei von uns als unmittelbar erfahrenen visuellen Wahrnehmungen stets um symbolische Formgebungen und um damit verbundene Bedeutungszuschreibungen handelt, also um Vorgänge der Bedeutungskonstitution. Wir verleihen auf der Grundlage kultureller Codes und individueller Erfahrungen dem visuell Wahrgenommenen eine Bedeutung. 10 Zur Illustration soll ein ,einfaches‘ Bild dienen mit einem voll- 10 Zur semiotischen Konstitution von Wirklichkeit am Beispiel der Raumwahrnehmung vgl. im Einzelnen Hallet (2009b). Wolfgang Hallet 42 posture social situation physical features ethnic features objects relation between objects and person(s) facial expression dress setting, location body language gender features social class activity kommen unspektakulären, alltagskulturellen Inhalt, das manchem vielleicht bekannt vorkommt (vgl. Abb. 1). In einem universitären Seminar wurde der Zugang zu diesem Bild über die einfache, aber wirksame Frage „What do we see? “ gesucht. Diese auf den schulischen Fremdsprachenunterricht direkt übertragbare Erschließungsfrage wurde zum einen deshalb gewählt, weil wir dazu neigen, vermeintlich einfache Inhalte gar nicht weiter zu befragen, ja geradezu zu übersehen und z.B. mit dem Satz „A man in the bathroom“ zu erledigen. Wenn man aber die einzelnen Bildinhalte und die in diesem Bild repräsentierten kulturellen Praktiken genauer analysiert, so schließt sich eine Vielzahl von Einsichten auf. Abb. 1: Codes kulturellen Sehens Erstens handelt es sich bei der hier zu sehenden Tätigkeit um eine ritualisierte tägliche Verrichtung, wie sie jedermann in unserem kulturellen Kontext vertraut ist. Dieser Mann beginnt oder beschließt seinen Tag, vielleicht einen Arbeits- oder einen Urlaubstag, und hat dafür bestimmte Gewohnheiten entwickelt (oder erlernt). Jedenfalls ist diese Situation eingebettet in ein relativ starres kulturelles und soziales Muster; die dargestellte Situation ist daher stark kulturell kodiert, bis in die Organisations- und Zeitstruktur einer ganzen Gesellschaft hinein. Dies wird besonders deutlich, sobald dieses Bild durch ein oder zwei andere Bilder zum Familien- oder Arbeitsleben kontextualisiert wird oder als Teil eines beinahe stereotypen, kulturell kodierten Narrativs nach dem Muster „A day in the life of …“ erscheint. Das Bild gewährt also einen ziemlich weitgehenden Einblick in die Lebensweise und die Gewohnheiten eines Menschen und seines kulturellen Kontextes. Wichtig ist auf jeden Fall, dass wir als Be- Viewing Cultures 43 trachter mit dieser Situation vertraut sind, sie also wie in der Wirklichkeit ‚lesen‘ können, dass sie andererseits in der visuellen Repräsentation und Ausschnitthaftigkeit von uns distanziert und damit einer ethnografischen Betrachtungsweise zugänglich, d.h. entnaturalisiert wird. Diese ,befremdliche‘ Erfahrung stellt sich umso stärker ein, je weiter die eigenen kulturellen und individuellen Praktiken von den dargestellten entfernt sind. Zweitens ist vielleicht der Hinweis interessant, dass das Bild ein ganz bestimmtes Verhältnis des dargestellten Menschen zu seiner Körperlichkeit repräsentiert. In diesem engen, ohnehin abgeschlossenen Raum, in dem er sich offenbar alleine befindet, ist sein Körper durch den Schlafanzug noch einmal dem Zugriff des fremden Blicks, vielleicht auch des eigenen, und der Reflexion im Spiegel entzogen. Dieses distanzierte Verhältnis zum eigenen Körper ist besonders auffällig, wenn wir es mit anderen Kulturen der Körperlichkeit vergleichen, etwa mit der Kultur öffentlicher Nacktheit in westlichen Gesellschaften oder mit dem gänzlich anderen Umgang mit dem nackten Körper in anderen Kulturen. Drittens zeigt uns natürlich auch der Raum selbst eine sehr spezifische Kultur der festen Behausung, des raumgeteilten Wohnens und der sanitären Hygiene, die uns vertrauter Alltag ist und die wir naturalisiert haben. Ihre Außergewöhnlichkeit wird sofort deutlich, wenn wir sie z.B. mit einem historischen Bericht aus dem England des 19. Jahrhunderts vor der großen Reformgesetzgebung mit dem Londoner Sewage Disposal Act von 1858 oder dem Public Health Act von 1866 vergleichen oder z.B. mit den Erfahrungen einer Schulreisegruppe während eines Partnerschaftsbesuchs in Indien, wo sich sanitäre Bedingungen als ein Alltagproblem und die Herstellung hygienischer Lebensbedingungen als zentrale Unterstützungsaufgabe erweisen. Dies ist keine moralisierende Betrachtungsweise (obwohl man hier gar nicht ohne ethisches Urteil bleiben kann), sondern ein Nachweis kulturell geprägter Schematisierungen, mit denen wir dieses Bild dekodieren. Das Bild ist, anders gesagt, eine relativ eindeutige Repräsentation einer ganz bestimmten und sehr spezifischen, westlichen Form des Wohnens und eines way of life. Damit hängt viertens zusammen, dass wir den hier zu sehenden Menschen und seine Umgebung auch sozial zuordnen. Zum Beispiel empfinden wir dieses Bad und die damit verbundene Lebensweise überhaupt nicht als luxuriös, auch nicht als besonders komfortabel; das Ganze kommt eher sparsam-spartanisch daher, und wir ordnen den Menschen vermutlich der ganz normalen, nicht einmal gehobenen Mittelklasse zu. Wolfgang Hallet 44 Wenn wir noch genauer hinsehen und das Interieur dieses Bades mit den neuesten Hochglanzprospekten der Sanitärindustrie vergleichen, erkennen wir hier, fünftens, auch einen bestimmten historisch fixierbaren sanitär-technologischen Standard und ein Bad-Design, das uns nicht fremd ist, aber das altmodisch und veraltet anmutet. Vielleicht kann man es den sechziger oder siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zuordnen. Jedenfalls würden wir das Bad (und diesen Menschen) nicht als modern empfinden, sondern als etwas outdated. Dieser relativ knappe Blick auf das Bild sollte einerseits zeigen, dass wir beim Betrachten eines Bildes automatisch auf kulturell erworbene codes zurückgreifen. Solche Codes kann man mit Roland Posner (2003: 42) verstehen als „eine Menge von Signifikanten, eine Menge von Signifikaten und eine Menge von Regeln, die diese einander zuordnen“. Wenn eine gewisse Menge von Menschen die Signifikanten, hier also die visuellen Zeichen (Bildelemente), und die Signifikaten, also das Dargestellte, in etwa in gleicher Weise einander zuordnet, so kann man mit Posner sagen, dass sie der gleichen ,mentalen Kultur‘ angehören, da sich „jede Mentalität als Menge von Codes auffassen läßt“ (ebd.: 53). Codes sind also kulturkonstitutiv und kulturspezifisch; aber gerade darum ist es so wichtig, dass ihre Benutzerinnen und Benutzer, wenn sie täglich und minütlich davon Gebrauch machen, auch eine entsprechende Kodierungs- und Dekodierungskompetenz entwickeln. Zum anderen zeigt diese Annäherung an dieses unscheinbare Bild, dass es eigentlich keines Spezialwissens bedarf, um ein Bild zu verstehen und zu analysieren, sondern dass in der Erziehung zum Bildverstehen diese Codes lediglich aktiviert, explizit gemacht und systematisiert werden müssen. Das Beispiel zeigt sogar, dass man mit den relativ wenigen Codes, wie sie in Abb. 1 in das Bild eingefügt sind, diesen visual text dekodieren und verstehen kann. Wichtig ist aber, dass die Korrespondenz zwischen den visuellen und den kulturellen Codes bewusst gemacht und freigelegt wird, wie Rose (2001: 60) in ihrer Visual Methodology bemerkt: „The codes used must depend on theorized connections between the image and the broader cultural context in which its meaning is made.“ Bildverstehen hat also zunächst einmal relativ wenig mit einem bildästhetischen Spezialwissen, dafür umso mehr mit einem bewussten, reflektierten, unter Umständen theoretisierten kulturellen Sehen zu tun. Die in das Bild in Abb. 1 eingefügten Codes sind in Anlehnung an coding categories entstanden, die Rose (2001) vorstellt. Sie bezieht sich Viewing Cultures 45 ihrerseits interessanterweise auf die interkulturelle Forschung, die ein Kategoriensystem zum Zwecke der content analysis einer großen Menge von Fotos in National Geographic zu entwickeln versucht hat. Diese Kategorien sollten dazu dienen, die Wahrnehmungen von Menschen in der nicht-westlichen Welt beim Betrachten dieser Bilder zu erfassen. Zu den dort verwendeten Codes gehören nach Rose (ebd.: 60f.) u.a. die folgenden: world location surroundings of people photographed skin colour gender of adults depicted group size wealth indicators dress style (,Western‘ or local) technological type present Die Erstellung eines ähnlichen Kategorienrasters für das kulturelle Sehen im fremdsprachlichen Unterricht ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens ist dies ein Verfahren, das sich, wie man an dem eben gezeigten Bildbeispiel sehen kann, auf relativ einfache Weise von der Lehrkraft wie von den Lernenden anwenden lässt, weil es mit relativ wenigen Kategorien auskommt und weil es - aus Sicht der Lehrenden wie der Lernenden - erfahrungsgeleitet ist. Zweitens lässt es sich als Analyseraster gut vermitteln und routinisieren. Und vor allem greift es in dieser experientiality kulturelle Sehgewohnheiten auf, die auch den Lernenden vertraut sind, die sie aber als solche bisher gar nicht wahrgenommen haben. Dieses ethnografische Sehen hat daher den sehr willkommenen und didaktisch erwünschten Nebeneffekt, dass Wahrnehmungskategorien - vom Raum über Handlungen und die Körpersprache bis zur Kleidung und zum sozialen Gruppieren - im kulturellen Alltag bewusst gemacht und daher auch soziokulturelle Erfahrungen anders und vielleicht neu gelesen werden. Aus dem ,Lesen‘ von Bildern resultieren so auch neue soziale und kulturelle Sichtweisen, Wahrnehmungen und Verstehensweisen und selbstverständlich auch interkulturelle Differenzwahrnehmungen - und damit neue, selbstreflexive Blicke der Lernenden auf sich selbst. Das erfahrungsgeleitete, kulturelle Sehen und Verstehen von Bildern reflektiert und distanziert also zugleich eine kulturelle Praxis des Sehens. Drittens lassen sich, nach einiger Übung, solche Kategorien auch von den Lernenden selbst finden und gemeinsam Wolfgang Hallet 46 entwickeln, sodass sie ihre eigenen Seherfahrungen aktivieren, reflektieren und für das Bildverstehen nutzen - auch außerhalb des Unterrichts und der Schule. Dass es sich dabei um eine notwendige Dimension schulischer Bildung handelt, ist durch die Problematisierung visueller kultureller Praktiken im einleitenden Abschnitt deutlich geworden. Das Erlernen des bewussten kulturellen Sehens - viewing cultures als eine Art, Kultur(en) zu sehen und zu erkennen - muss im fremdsprachendidaktischen Kontext also dazu dienen, Bilder als wichtige Bestandteile in multimodalen diskursiven Prozessen und kommunikativen Situationen zu verstehen oder selbst zu verwenden. Kulturelle visuelle Kompetenz ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer allgemeineren multimodalen Diskursfähigkeit. 4. Bildästhetisches Sehen Das Konzept des kulturellen Sehens sieht zunächst davon ab, dass Bilder natürlich - andererseits - gerade nicht die Wirklichkeit sind, auch nicht in der fotorealistischsten Ausprägung. Letztere ist selbst eine ganz bestimmte, vielleicht alltagsweltlich sehr geläufige Form der visuellen Repräsentation oder eine Konstruktion, die selbst eine bestimmte Wirklichkeit erzeugt. Daher ist, wenn es um das Verstehen von Bildern und um deren Einbettung in kulturelle signifying practices geht, ein bildkompositorisches, bildästhetisches Grundverständnis unabdingbar, das zugleich mit dem Inhalt immer auch die Gemachtheit und Konstruktivität aller visuellen Images wahrnimmt. Damit können Bedeutungsebenen von Bildern erfasst und reflektiert werden, die sich durch bloße content analysis nicht erschließen lassen, die aber immer mit den Inhalten zugleich wirksam sind. In der oben erwähnten Kategorienliste sind diese bildkompositorischen Dimensionen in die coding categories integriert, sodass es z.B. heißt activity level of main foreground figures activity type of main foreground figures camera gaze of main person photographed Main und foreground sind aber keine kulturellen Kategorien, sondern semiotische und relationale, die sich nur aus dem gesamten Zeichenensemble eines Bildes, aus dem Bildganzen erschließen lassen, aber natürlich entscheidend an der Bedeutungsgenerierung von Bildern beteiligt sind. Es ist aber sehr sinnvoll, mit den Lernenden auch bildästhetische coding Viewing Cultures 47 categories zu entwickeln und einzuüben, damit sie beim verstehenden Erfassen von Bildern auch diese routinemäßig anwenden. Hier muss im Auge behalten werden, dass es nicht um die Ausbildung eines bildstrukturalistischen Spezialwissens geht, wie es im Kunstunterricht bei der Bildanalyse benötigt wird, sondern um die Entwicklung einer lebensweltlich benötigten Sehkompetenz, die bis zu einem gewissen Grad die ästhetische Tiefendimension von Bildern aufschließen kann, also sozusagen die unsichtbaren Bildelemente sichtbar machen kann. Dies soll wiederum an dem oben bereits gezeigten Bild demonstriert werden (vgl. Abb. 2). Eine Seminarteilnehmerin hatte - ungefragt, immer noch auf die bloße Frage „What do we see? “ hin - wahrgenommen, dass der camera angle und der vantage point („point from which camera perceives main figures“; Rose 2001: 61), dieser Blick von schräg oben und von hinten, eine dem Beobachteten gegenüber ,höhere‘ Instanz suggeriere, die ihm überlegen sei, ihn kontrolliere, vielleicht überwache. Auch mache die Rückenansicht die Person in einem gewissen Sinne austauschbar, verleihe ihr eine gewisse Anonymität. Abb. 2: Codes bildästhetischen Sehens Wenn man das Indexikalische der Fotografie hinzunimmt, verweist der Akt des Fotografierens selbst auch auf die Anwesenheit eines Akteurs, der die abgebildete Intimität der Badezimmerszene und die vermeintliche, auch von der dargestellten Person offenbar so empfundene private Abgeschlossenheit der Situation aufhebt und zu einer Paradoxie macht: Intimität lässt sich nicht fotografieren. Interessant und von besonderer ironischer Qualität ist in diesem wie in jedem anderen (oft auch film-)fotografischen Zusammenhang, dass das margin focus foreground centre colour lighting background vantage point bounding gaze Wolfgang Hallet 48 Spiegelbild den Blick des abwesenden Anderen ersetzt oder antizipiert, die sich spiegelnde Person simuliert sozusagen in diesem gespiegelten gaze die Wahrnehmung des Selbst durch Andere, sodass die Fremdwahrnehmung als Option in dieser Szene enthalten ist, zugleich aber eine ritualisierte kulturelle Praxis darstellt, die auf die Einhaltung sozialer Normen von ,Aussehen‘ gerichtet ist (Rasur, Frisur, Reinlichkeit usw.). Die Doppelung durch das Spiegelbild ist zugleich - in einer Integration von kulturellen und bildästhetischen Codes - ein kompositorisches Element, weil es durch die leichte seitlich-diagonale Verschiebung aus dem Zentrum durch das Interesse des Betrachters an der Identität der Person besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Person selbst bildet ziemlich genau die zentrale vertikale Achse des Bildes, sie ist das einzig wirklich farbige Element in dieser ansonsten beinahe schwarz-weiß gehaltenen Darstellung, und durch das lighting wirkt sie wie durch einen Spot-Scheinwerfer in ein spezielles Licht getaucht, das deutlich mit einem umgebenden Schatten kontrastiert. Der Fokus des Bildes ist dadurch selbst im Bild repräsentiert, sodass das Bild über die genannten Merkmale hinaus eine metavisuelle und reflexive Dimension gewinnt, die die Konstruktivität, die Künstlichkeit des Fotografischen mitinszeniert. Wer das Bild erkannt hat, weiß, dass es damit eine besondere Bewandtnis hat, auf die im letzten Teil noch kurz eingegangen werden soll. Die wenigen hier benutzten coding categories für das bildästhetische Sehen führen bereits sehr weit und können auch von den Lernenden für die Verstehensroutine, vor allem aber auch für das weitgehend selbstständige systematisierte Arbeiten mit Bildern verwendet werden. Mit einiger Übung können sie weitere solche Kategorien auch selbst entwickeln und erproben. Jedenfalls war es im universitären Kontext möglich, dieses bildästhetische Sehen zur Routine der Bildverstehensarbeit zu machen, indem diese Codes in den Arbeitsauftrag integriert wurden und nach einiger Zeit auch ohne besondere Anleitung ritualisierter Teil der Bildbetrachtung wurden. Wenn man die hier vorgestellten kulturellen und bildästhetischen Codes zusammennimmt, gelangt man, auf jeden Fall nach einer Weile systematischen Übens, zu einiger Verstehenstiefe, die auch kritisches Potenzial hat. Eine dauerhafte visuelle Kompetenz im Sinne einer dauerhaften kognitiven Verfügbarkeit von Dekodierungsmitteln und -strategien kann sich jedoch nur dann entwickeln, wenn man den Erwerb von visual literacy als aufbauendes Lernen anlegt, das in der ersten Stunde des Fremdsprachenunterrichts beginnt, kontinuierlich gepflegt wird und im Sinne einer Progression von einfachen zu komplexen Bildern und von Viewing Cultures 49 basalen zu differenzierteren visuellen Dekodierungskategorien fortschreitet. 5. Kulturelle Partizipationsfähigkeit und Bildverstehen Noch einmal ist auf das Badezimmer-Bild zurückzukommen, denn es erfährt noch einen besonderen Twist, den einige Leserinnen und Leser kennen werden. Das gleiche Bild existiert auch in einem Gegenschnitt (vgl. Abb. 3); es zeigt nun das Gesicht des Mannes mit dem eigentlichen, in die Kamera gerichteten gaze. Abb. 3: Der Blick in den Spiegel als gaze Die Pointe ist, dass dieser Blick in den Spiegel live um die Welt geht, denn der abgebildete Mann ist Truman Burbank, der Held einer nach ihm benannten lebenslangen Reality Soap, der Truman Show, deren Protagonist Truman seit seiner Geburt ohne sein Wissen on air ist. Seahaven Island, wo er lebt, arbeitet und verheiratet ist, ist ein riesiges Hollywood-Studio, und 5000 versteckte Kameras zeichnen sein Leben auf. Während alle Menschen um ihn herum Schauspieler sind, ist er der einzige Unwissende; sein Leben folgt einem ihm unbekannten script, einem screen play, und Christoph, der Regisseur, ist der Gott, der von der gallery das Leben des Unwissenden lenkt. Durch die Kontextualisierung dieses Bildes in der filmischen Bilderfolge ergeben sich also zum Teil andere, ironische Lesarten: Nun ist die eigentliche Bedeutung des Bildes geprägt vom scharfen Gegensatz vermeintlicher privacy einerseits und vollständiger Öffentlichkeit andererseits. Auch die Bedeutung des Spiegels verkehrt sich ins Gegenteil: Wolfgang Hallet 50 Normalerweise erzeugt er ein völlig einzigartiges Bild des Betrachters, das niemand außer ihm selbst so wahrnehmen kann. Hier aber geht der Blick des Gespiegelten durch den Spiegel hindurch um die ganze Welt. Jetzt erkennt man auch die Bedeutung des lighting und des bounding, also des seltsam runden Schattens, der das gesamte Bild umrahmt: Diese rahmende Schattierung verweist indexikalisch auf das versteckte Kameraauge, durch das dieses wie all die anderen Bilder aus dem Alltag Trumans minutiös aufgezeichnet wird. Diese Art Fokalisierung als ständiges cinematisches device führt dem Zuschauer nach einiger Zeit die doppelte Bildlichkeit des gefilmten Films ständig vor Augen. Im Film wird diese medial ironisierte Lesart des Bad-Bildes dadurch unterstrichen, dass Truman in der allerersten Szene des Films im Selbstgespräch mit seinem Spiegel gezeigt wird, in dem er von einem ganz anderen, weniger engen Leben träumt, einer anderen, einer possible world, die es außerhalb von Seahaven Island geben muss. Dieses einfache Bild im Gegenschnitt öffnet also in seiner Kontextualisierung durch die Filmerzählung ganz andere Welten und Weltansichten, ja sogar die Frage danach, wie unsere Welten eigentlich beschaffen sind, was wir als wirklich betrachten dürfen und was konstruiert ist, in welchen Welten wir leben möchten und in welchen nicht, auch grundsätzliche Fragen nach Selbstbestimmtheit und Fremdbestimmtheit und ethische Fragen nach unserem Umgang mit medialen Wirklichkeiten oder mit den scripts, in denen uns unsere Rollen zugewiesen werden. So erlauben dieses einfache Bild vom Mann im Bad und der zugehörige Film sehr weitgehende Einblicke in die Lebenswelt als einer medial verdoppelten Wirklichkeit; die mit dem kulturellen Sehen dekodierten Lebensgewohnheiten und -situationen erweisen sich im Grunde erst bei näherer bildästhetischer Betrachtung als mediale und kulturelle scripts, denen das Leben dieses Mannes folgt. In diesem Sinne bezieht sich der Begriff der viewing cultures auch auf die zunehmende Ununterscheidbarkeit von alltagskulturell erworbenen und medial geprägten Sehgewohnheiten. Die hier vorgestellten Bilder fragen nach der medialen Determiniertheit des Sozialen, aber auch nach den Alternativen und nach den Grenzen der medialen Inszenierbarkeit der Wirklichkeit, die in diesem Film für eine Menge Humor sorgt. Viewing Cultures 51 6. Schlussbemerkungen Es sollte sichtbar geworden sein, dass der Fremdsprachenunterricht bei und mit den Lernenden eine Kultur des Sehens entwickeln muss und dass er dies dadurch tun kann, dass er (auch kulturell verschiedene) viewing cultures zugänglich, sichtbar und bewusst macht. Dabei zeigt sich, dass es sich bei der Auseinandersetzung mit Bildern regelmäßig um Verhandlungen über ,die Welt‘ und ,die Welten‘ handelt, die sie repräsentieren. Visuelle Texte (Filme und Bilder aller Art) ermöglichen es einerseits, erkennbare Wirklichkeit(en) zu verhandeln und sie zu den lebensweltlichen Erfahrungen der Lernenden in ein Verhältnis zu setzen, sie erlauben den Lernenden also nicht die bloß pragmatische Einübung in vorgestanzte Situationen und Wirklichkeiten, sondern auch den kritischen, distanzierenden Blick darauf und auf sich selbst. Unsere Lernenden leben und erleben diese visuelle Wirklichkeit täglich; sie ist heute, über die Videos und die fotografischen Selbstinszenierungen in MySpace, Facebook und YouTube, Medium der Identitätskonstruktion und der kulturellen Alltagskommunikation, und zwar sehr genau im Sinne des medialen Spiegelblicks, der im Truman- Bild anzutreffen ist. Andererseits sind für das Verstehen dieser Bilder ganz bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse gefordert, aber auch systematisch zu erlernen: ein Wissen davon, wie die Welt des Fernsehens und der künstlichen Bilder beschaffen ist; auf welche Weise, mithilfe welcher Techniken und mit welchen Texturen mediale Wirklichkeiten erzeugt werden; ein Wissen darüber, wie verschiedene Wirklichkeiten voneinander zu unterscheiden sind, wie Medien in unser Leben eindringen und mithilfe welcher Bilder sie dies tun. Erlernt und angewendet werden müssen aber auch verschiedene Fähigkeiten und Fertigkeiten, die das Verstehen dieser Bilder erst ermöglichen, die es erlauben, darüber in einen unterrichtlichen Diskurs einzutreten und die eigenen Vorstellungen dazu außerhalb des Unterrichtes in die eigene Lebenswelt zu kommunizieren. Diese Bildwelten können wir mit Hilfe metavisueller Bilder aufdecken, wie sie die Bilder der Truman Show darstellen. Es ist daher kein Zufall, dass hier als möglicher Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts Bilder und ein Film ausgewählt wurden, die die künstlich-medialen Welten des Fernsehens und die Macht der Bilder selbst beleuchten. Der Fremdsprachenunterricht als das Erlernen einer Sprache ermöglicht es so auch, sich vermittels einer Sprache von den Bildern lösen und sich über diese erheben zu können, sich Bilder und die in ihnen repräsentierte Wirklichkeit sprachlich und begrifflich verfügbar zu Wolfgang Hallet 52 machen. Bilder bedürfen der diskursiven Einbettung und Verhandlung, damit sie für uns Bedeutung annehmen, kulturell wirksam werden und der Kritik zugänglich sind. Für die Fremdsprachendidaktik und die Lehrerbildung zeichnen sich so wichtige Aufgaben ab, deren Erledigung es alleine ermöglicht, der Visualisierung der kulturellen Lebenswelt auch im Fremdsprachenunterricht gerecht zu werden. Die didaktischen und methodischen Konsequenzen für den Fremdsprachenunterricht sind vielfältig. Sie müssen auf einen verantwortlichen, bewussten Umgang mit Bildern im Fremdsprachenunterricht zielen, vor allem in den Lehrwerken und in den Unterrichtsmaterialien. Die Funktionen von Bildern müssen bewusster und gezielter genutzt werden, und die basics von visual culture und von viewing cultures müssen in die Lehreraus- und -fortbildung integriert werden. Vor allem aber muss die kompetente Nutzung von Bildern als Teil einer im Fremdsprachenunterricht auszubildenden multimodalen Diskursfähigkeit betrachtet werden. Erforderlich ist daher eine ganz neue didaktische viewing culture, die eine visuelle Kompetenz ausbildet, damit das Sehen als wichtige kulturelle Praxis eine reflexive Dimension gewinnen und Teil einer umfassenderen diskursiven Partizipationsfähigkeit werden kann, die das Ziel aller schulischen Bildung ist. Quellen Primärtext Weir, Peter (1998). The Truman Show. DVD. Paramount Pictures. Sekundärtexte Blell, Gabriele (1999). „Transgressing (Gender) Boundaries: Blickordnung und Blickwechsel.“ In: Blell, Gabriele & Krück, Brigitte (Hrsg.). Mediale Textvielfalt und Handlungskompetenz im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt a.M.: Lang, 155-173. Cope, Bill & Kalantzis, Mary (Hrsg.) (2000). Multiliteracies: Literacy Learning and the Design of Social Futures. London, New York: Routledge. Decke-Cornill, Helene (1998). „Gender (dis)play.“ Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 32/ 34, 26-41. Viewing Cultures 53 Hallet, Wolfgang (2006). „Was ist Intertextualität? 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Ihren prägnantesten Ausdruck erfährt diese Debatte durch die Formulierung nationaler Bildungsstandards für die erste Fremdsprache durch die Ständige Konferenz der Kultusminister in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland - kurz KMK (2004). Nominell fußen diese auf einem weit gefassten Begriff von kommunikativer Handlungsfähigkeit als (fremdsprachlicher) Allgemeinbildung. Im Englischunterricht, so die breit angelegte These, sollen Schülerinnen und Schüler fremdsprachliche kommunikative Kompetenzen erwerben, die für die soziale, wirtschaftliche, politische wie auch kulturelle Partizipation der nachkommenden Generation unabdingbar sind. Dass allerdings gerade der Anspruch, Grundbildungsprinzipien im Englischunterricht durch eine entsprechende Aufgabenkultur zu befördern, in der KMK-eigenen Konkretisierung der Bildungsstandards exemplarisch eher unterlaufen als befördert wird, ist einigermaßen überraschend und soll im Folgenden anhand einer Analyse der didaktischen Verwendung von Bildern in einem der KMK-Aufgabenbeispiele exemplarisch gezeigt werden. Im Anschluss daran entfalte ich die These, dass sich das Versprechen auf fremdsprachlich-kommunikative Grundbildung im Hinblick auf den Umgang mit Bildern im Fremdsprachenunterricht ehrlicherweise nur unter Bezug auf ein bildungstheoretisch begründetes Konzept von visual literacy und dementsprechend didaktisch reflektierte Lernaufgaben einlösen lässt. Stephan Breidbach 56 1. Kommunikativer Englischunterricht - Grundbildung - Standards Das Konzept der Grundbildung (im englischsprachigen Raum unter dem Begriff literacy diskutiert) ist in der deutschen Diskussion eng mit (internationalen) Schulleistungsvergleichen verbunden. Studien wie TIMSS, PISA und nicht zuletzt DESI haben die Fächer Deutsch, Mathematik, die Naturwissenschaften und schließlich auch Englisch ins Rampenlicht öffentlicher und bildungspolitischer Aufmerksamkeit gerückt. Auf die in der Öffentlichkeit als enttäuschend, wenn nicht sogar als alarmierend kommunizierten Ergebnisse von Schülerinnen und Schülern in Deutschland hat die KMK mit der Formulierung und Einführung von Bildungsstandards für die genannten Fächer reagiert. Diese werden nun mit allen der Schulverwaltungsbürokratie zur Verfügung stehenden Mitteln vorangetrieben und befinden sich auf dem besten Wege, zur zentralen normativen Folie auf allen Ebenen des Schulsystems zu werden, angefangen von der Frage nach der Legitimität von Schulbildung bis hin zu den konkreten Handlungsentscheidungen vor Ort im Unterricht. So ist es sinnvoll, die Frage nach der Verwendung von Bildern im Englischunterricht im Kontext der Standardisierungsbewegung zu betrachten. Mit den Bildungsstandards wird der Anspruch erhoben, Elemente von Grundbildung abzubilden und überprüfbar zu machen (vgl. Klieme et al. 2003: 24ff.). Wenn also die Prämisse übersetzt für den Englischunterricht lautet, dass die Bildungsstandards Elemente fremdsprachlicher Grundbildung benennen und überprüfbar machen, ergeben sich für diesen Beitrag zwei Leitfragen: 1. Welchen Stellenwert hat die Fähigkeit, mit visueller Kommunikation - also auch mit Bildern - umzugehen in einem Konzept fremdsprachlicher Bildung? 2. In welchem Maße werden die KMK-Bildungsstandards diesem Stellenwert visueller fremdsprachlich-kommunikativer Kompetenz gerecht? 1.1 Die KMK-Bildungsstandards Jenseits der oben formulierten abstrakten Prämisse drücken die Bildungsstandards für eine Fremdsprache aus, welche sprachlich-kommunikativen Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zu einem bestimmten Punkt in Kommunikativer Englischunterricht und visual literacy 57 ihrem schulischen Bildungsgang erwerben und in welcher Qualität (d.h. auf welchem Niveau) sie diese bei der Bearbeitung von Aufgaben einsetzen können sollen. Auf der operationalen Ebene sind Standards daher zunächst nichts anderes als Beschreibungen von Performanzerwartungen. Die von der KMK beschlossenen Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (KMK 2004) greifen auf das stark pragmatisch orientierte Modell kommunikativer Kompetenz des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) zurück. Dieser wurde unter der Federführung des Europarates entwickelt und fußt auf einem Modell funktionaler kommunikativer Kompetenz. Die Einführung der Bildungsstandards hat eine intensiv geführte Debatte ausgelöst (vgl. für die Fremdsprachendidaktik z.B. zuletzt Lüger/ Rössler 2008 oder Frederking 2008), die sich im Kern um die Frage dreht, welche Folgen es für die Gesamtheit der Allgemeinbildung hat, einige Aspekte - nach dem Kriterium der quantitativ-empirischen Messbarkeit - zu Grundbildungsbestandteilen zu erklären und deren Erreichen an Schulen in flächendeckenden Testungen regelmäßig zu erheben (vgl. hierzu Dörpinghaus et al. 2006: 131). Die KMK verbindet mit der Einführung von Bildungsstandards für die erste Fremdsprache drei wesentliche Ziele (vgl. KMK 2004: 6): 1. Kommunikationsorientierung des Fremdsprachenunterrichts 2. Orientierung des Unterrichts auf eine aufgabenbezogene Lernkultur 3. Schaffung einer verbindlichen Evaluationsbasis zur Vergleichbarkeit von Schulen Einige Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker sehen gerade in dem zugrunde liegenden Kompetenzmodell des GER das größte Potenzial der Bildungsstandards: Auf dem Wege der Durchsetzung der Bildungsstandards werde die kommunikative Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts nachgerade erzwungen und mit neuem Schwung und der notwendigen institutionellen Schubkraft (man kann auch hier sagen: bürokratischer Macht) in die Schulen getragen. Neben einer Reihe von Steuerungs- und Evaluationsmaßnahmen (Curricula, Vergleichsarbeiten) sollen vor allem so genannte Lernaufgaben maßgebliche Impulse setzen: „Die gewählte Auf- Stephan Breidbach 58 gabenart bestimmt also die unterrichtlichen Lernprozesse.“ (Tesch 2008: 11) 1 Funktionale kommunikative Kompetenzen Kommunikative Fertigkeiten Verfügung über die sprachlichen Mittel • Hör- und Hör-/ Sehverstehen • Leseverstehen • Sprechen an Gesprächen teilnehmen zusammenhängendes Sprechen • Schreiben • Sprachmittlung • Wortschatz • Grammatik • Aussprache und Intonation • Orthographie Interkulturelle Kompetenzen • soziokulturelles Orientierungswissen • verständnisvoller Umgang mit kultureller Differenz • praktische Bewältigung interkultureller Begegnungssituationen Methodische Kompetenzen • Textrezeption (Leseverstehen und Hörverstehen) • Interaktion • Textproduktion (Sprechen und Schreiben) • Lernstrategien • Präsentation und Mediennutzung • Lernbewusstheit und Lernorganisation Abb. 1: Kompetenzbereiche in der Sekundarstufe 1 in den KMK-Bildungsstandards Versteht man die Bildungsstandards im Sinne ihrer Befürworter als Transportmittel kommunikativer Prinzipien im Fremdsprachenunterricht, ist es sinnvoll, sich einen kurzen Überblick über die Inhalte der Bildungsstandards für die erste Fremdsprache zu verschaffen (vgl. Abb. 1). In diesen werden vier Bereiche funktionaler kommunikativer Kompetenz unterschieden. Jeder dieser Bereiche wird wiederum in einzelne Aspekte aufgeschlüsselt (vgl. KMK 2004: 11ff.): 1 Die ersten beiden der oben zitierten Ziele mögen diese Hoffnung stützen, das dritte Ziel läuft dem jedoch zuwider. Hat der GER hauptsächlich die Beschreibung und Vergleichbarkeit der sprachlichen Kompetenzen einzelner Lerner bzw. Lernerinnen im Blick, schaut die KMK mit Punkt 3 auf die Vergleichbarkeit von Schulen und stellt damit die durchschnittliche Leistung von Schülerschaften in den Mittelpunkt des Vergleichs. Ob Schulen in einer Situation, in der sie bei äußerst bescheidener Sach- und Personalausstattung in einen Wettbewerb zueinander gedrängt werden, Kommunikations- und Aufgabenorientierung nicht nur des Fremdsprachenunterrichts vorantreiben, darf zumindest als fraglich gelten. Kommunikativer Englischunterricht und visual literacy 59 Die ersten beiden Bereiche sind schnell als die traditionellen ‚fachlegitimierenden‘ Ziele des Englischunterrichts zu erkennen (vgl. Schröder 2007: 292). Der Bereich der methodischen Kompetenzen stellt in dieser Terminologie „fachgruppenspezifische instrumentelle Ziele“ (ebd.) dar. Der Bereich interkultureller Kompetenzen schließlich bewegt sich auf der Ebene von allgemeinen Bildungs- und Erziehungszielen (vgl. ebd.). 1.2 Textbegriff, Lesekompetenz und der Stellenwert des Visuellen in PISA, DESI und den KMK-Bildungsstandards Für die hier relevante Thematik der Verwendung von Bildern im Englischunterricht sind auf den ersten Blick vor allem die Bereiche 3 und 4 von Interesse. Hierbei fällt der Aspekt der „Textrezeption“ unter die methodischen Kompetenzen. Genauer bezeichnet wird dies in den Standards als Lese- und Hörverstehen verschiedener Textsorten: „Die Schülerinnen und Schüler können verschiedene Hör- und Lesetechniken auf unterschiedliche Textarten (z.B. Sachtexte, Artikel, literarische Kleinformen) anwenden [...].“ (KMK 2004: 17) Mit diesem Teilbereich methodischer Kompetenz werden dann bestimmte Lese- und Texterschließungstechniken in Verbindung gebracht: Details unterstreichen, Textstellen markieren und durch Stichworte sowie Randnotizen zusammenfassen und ordnen (vgl. ebd.). In gut erkennbarer Weise geht der den Standards zugrunde liegende Textbegriff von den Formen des geschriebenen Wortes aus. Hierin beziehen sich die Bildungsstandards folgerichtig auf den GER, in dem textbezogene Sprachverwendungssituationen ebenfalls in aller Regel an verschriftlichte Verbalsprache geknüpft sind (vgl. GER 1999: 54; auch die Expertise von Klieme et al. 2003: 21 hatte diesen Weg vorgezeichnet). Dies ist bemerkenswert insofern, als dass beispielsweise in PISA ein erheblich erweiterter, nicht logozentrischer Textbegriff vertreten wird, zu dem etwa diskontinuierliche Texte wie Karten, Diagramme, Symbole etc. zählen. Zwar wäre auch dieser verbal-visuelle Textbegriff noch um eine grafisch-visuelle Komponente zu ergänzen, wollte man die Breite visueller Kommunikation in das Modell von Lesekompetenz integrieren. In der PISA zeitlich nachfolgenden DESI- Studie wird der erweiterte Textbegriff allerdings wieder konsequent auf das geschriebene Wort eingeschränkt. Demzufolge können kompetente Leser und Leserinnen Stephan Breidbach 60 - Informationen mit Weltwissen „verknüpfen, um diese zu erkennen, zu erschließen und zu interpretieren“, - Einzelinformationen und Hauptaussagen verstehen, - Kohärenz im Gelesenen herstellen und - „unbekannte sprachliche Elemente aus dem Kontext [...] erschließen.“ (Nold/ Rossa 2007: 200) ‚Lesen‘ im Sinne des systematischen Erschließens visueller Kommunikation spielt weder in DESI noch in den KMK-Bildungsstandards (sowie in PISA nur in sehr spezifischen Formen) eine explizite Rolle. Dies ist für den Kontext eines der allgemeinen Grundbildung verpflichteten, aufgaben- und kommunikationsorientierten Fremdsprachenunterrichts aus mehreren Gründen nicht unproblematisch: Der erste Grund betrifft die bildungstheoretische Ebene, denn visuelle Kommunikation ist ein wesentlicher Teil kultureller Praxis - auch anglophoner Gesellschaften. In der täglichen Unterrichtspraxis ist dies längst angekommen: Bilder, Filme, Comics, Graffiti und andere visuelle Dokumente gehören zu den selbstverständlichen Medien (nicht nur) des Englischunterrichts. Es ist zwar richtig, dass sich aus der Präambel der Bildungsstandards schließen lässt, dass mit den Standards nur ein Ausschnitt dessen abgedeckt werde, was unter allgemeiner Bildung zu verstehen sei (vgl. KMK 2004: 3). Dies entbindet die Autoren allerdings nicht von der Pflicht, anzugeben, warum dieser und kein anderer Ausschnitt als der dort zu findende zur Standardisierung gewählt wurde. Der bloße Verweis auf die „politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung Europas“, aus der sich die Notwendigkeit für den Erwerb fremdsprachlicher kommunikativer und interkultureller Kompetenzen (vgl. ebd.: 6) ergebe, ist so allgemein, dass er kaum falsch sein kann, genügt aber schon deswegen nicht, weil er die konkrete Engführung dieser Kompetenzen auf wenige Bereiche nicht weiter begründet. Damit stellt sich die Frage nach der Nähe der Standards zur kulturellen und kommunikativen Wirklichkeit postmoderner Gesellschaften, und zwar sowohl in der Form ihrer Rekonstruktionen durch den Fremdsprachenunterricht, als auch der Lebenswelten der Lernenden selbst. Die Orientierung an der Schriftsprache verweist auf der einen Seite auf einen formalistischen Bildungsbegriff. Auf der anderen Seite blendet sie vorhandene ebenso wie die zu erwerbenden Fähigkeiten von Lernenden aus, die in einer Welt visueller Kommunikation sozialisiert sind. Die Reflexion der genannten Medien - in kultureller wie auch unterrichtsmetho- Kommunikativer Englischunterricht und visual literacy 61 discher Hinsicht - wird durch das Ausblenden visueller Kommunikation aus den in den Bildungsstandards formulierten Kompetenzen jedenfalls deutlich erschwert. Der zweite Grund, warum das Fehlen visueller Kommunikation im Lesekonzept der Bildungsstandards ein Problem darstellt, ist didaktischer Art: Denn zur Erläuterung der Standards liefert die KMK Konkretisierungen in Form von Aufgabenbeispielen. Zwar beschränken sich die Leseaufgaben auf schriftsprachliche Texte, in Aufgaben zu anderen Kompetenzbereichen spielt visuelle Kommunikation jedoch eine erhebliche Rolle. In einigen Beispielaufgaben werden von den Lernenden sogar ausdrücklich Fähigkeiten visueller Texterschließung und Textdeutung erwartet, die jedoch weder in den KMK-Bildungsstandards selbst, noch im GER beschrieben sind. Hier ließe sich einwenden, dass dies auch gar nicht nötig sei, komme es im Fremdsprachenunterricht doch auf den Erwerb sprachlicher kommunikativer Kompetenz an und dabei sei die Aufgabe einer Bildbeschreibung eben lediglich als Gesprächsanlass zu verstehen. Gegen dieses Argument ist einzuwenden, dass in einem solchen Unterricht lediglich geredet, aber sicher nicht bedeutungsvoll kommuniziert wird, weil hier Form und Inhalt des Gesprächs beliebig und dieses für die Beteiligten daher in jeder Hinsicht irrelevant ist. Da ein solcher Unterricht im Sinne der Bildungsstandards gerade nicht erwünscht ist, bleibt festzustellen, dass die angesprochenen Fertigkeiten zur Entschlüsselung visueller Kommunikation implizit Gegenstand dessen sind, was in der Beispielaufgabe tatsächlich überprüft wird. 2. Visuelle Kompetenz: der blinde Fleck der KMK-Aufgabenbeispiele Im Folgenden geht es um die nähere Betrachtung einer Beispielaufgabe, die in den Bildungsstandards unter der Rubrik ‚Sprechen‘ geführt wird (vgl. Abb. 2). Ich wähle dieses Beispiel, um deutlich zu machen, dass in den standardbezogenen Lernaufgaben nicht nur die Aufgabe über Lernprozesse, sondern auch das eingesetzte Medium über den Textbegriff entscheidet. Aus semiotischer Sicht ist dies natürlich trivial, macht aber deutlich, dass hier ein Verständnis von Kommunikation und damit kommunikativer Kompetenz praktiziert wird, das unreflektiert über die beschriebene verbal- und schriftsprachliche Einhegung hinausgeht. Stephan Breidbach 62 Das Ziel der Aufgabe ist es, dass Schülerinnen und Schüler ihre Kompetenzen zur „Teilnahme an Gesprächen“ unter Beweis stellen können. Ihnen werden dazu fünf Bilder vorgelegt. Die Bilder stehen unter der zusammenfassenden Überschrift „Funny sports“ und auf ihnen sind Menschen bei vergleichsweise abstrusen Beschäftigungen zu sehen (z.B. Geige spielend rückwärts Fahrrad fahren, Steilwandklettern mit Bügelbrett auf dem Rücken). Die Tätigkeit, die die Lernenden ausführen sollen, ist in einem ersten Schritt die „Beschreibung der Bildaussage“ vorzunehmen, in einem zweiten eigene Meinungen und Ansichten zu den Bildern auszutauschen: „Die Schülerinnen und Schüler erfassen die wesentlichen Aussagen der Bilder und beschreiben sie. Sie stellen in einfacher Form den eigenen Standpunkt dar.“ (KMK 2004: 36) Abb. 2: Aufgabe „Reacting to prompts“ aus den Bildungsstandards Kommunikativer Englischunterricht und visual literacy 63 Die dazugehörige Aufgabenstellung lautet: „Have a look at the photographs. What do you think about them? Which activity do you like best and why? “ (ebd.: 37). Die Bilder dienen hier als amüsanter, motivierend gemeinter Gesprächsimpuls, wobei es dahingestellt beleiben mag, ob eine kontextlose „Meinungsbildung“ zu diesen Bildern eine angemessene Aufgabe darstellt. 2 Gleichwohl fällt auf, dass die im Hintergrund formulierte Handlungserwartung und die konkrete Aufgabenstellung nicht unmittelbar deckungsgleich sind, weil die Fragestellung ohne Umschweife die evaluative Ebene anspricht. Wenn die Meinungen, die die Lernenden hier äußern sollen, nicht völlig bedeutungslos sein sollen, setzt der Erwartungshorizont folglich voraus, dass die Schülerinnen und Schüler über die Methodenkompetenz verfügen, eine Meinungsäußerung über die vorangehenden Schritte einer Beschreibung und Analyse des Bildes zu entwickeln. Da jedoch genau dies im Erwartungshorizont fehlt, fällt unter den Tisch, dass das Entschlüsseln von Bildaussagen eine eigene Dimension von visueller Lesekompetenz darstellt und bestimmte methodische Fähigkeiten und Texterschließungstechniken voraussetzt, dass also Schülerinnen und Schüler Bilder ‚lesen‘ können müssen, um angemessen auf eine von ihnen zu erschließende Textaussage verbalsprachlich eingehen zu können. Die Beispielaufgabe bewegt sich demnach außerhalb des von der KMK formulierten Horizontes der zu erwerbenden Kompetenzen einer basal verstandenen Grundbildung von Schülerinnen und Schülern: Der Unterricht in der ersten Fremdsprache stellt den Erwerb der angestrebten Kompetenzen fachlich und pädagogisch dadurch sicher, dass [...] den Schülerinnen und Schülern mit ausdrücklichem Bezug auf die aktive Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben auch Themen- und Handlungsfelder in ihrer literarischen bzw. ästhetischen/ gestalterischen Qualität erfahrbar gemacht werden. (KMK 2004: 7f.) Es ist sicher unstrittig, dass die Verwendung von Bildern als bloße Rede- oder Schreibanlässe keine ausreichende Gewähr für die Qualifizierung der Schülerinnen und Schüler zur Teilhabe an Handlungsfeldern bieten dürfte, die sich durch ästhetische und gestalterische Merkmale auszeichnen. An 2 Vgl. auch die bei Voigt (2006) zusammengefasste Kritik an diesem und weiteren Aufgabenbeispielen der KMK-Standards. Stephan Breidbach 64 diesem Punkt hatte bereits Helmut J. Vollmer (2005: 6) Einspruch gegen die jetzige Form der Bildungsstandards erhoben, da in ihnen ein umfassendes Bildungsverständnis zwar zur Grundlage erklärt wird, die konkreten Standards dem aber bei weitem nicht gerecht werden (zum Hintergrund siehe auch die bildungstheoretischen Ausführungen in Klieme et al. 2003: 67f.). Im vorliegenden Beispiel bleibt die Aufgabe hinter den intendierten Möglichkeiten der Bildungsstandards aus dem Grunde zurück, dass die Bilder ‚naturalisiert‘ (vgl. Hallet in diesem Band) gebraucht werden. Entsprechend wird das Phänomen der Visualität, die kommunikative Qualität des (Bild-)Textes, über den die Lernenden sprechen sollen, in der besprochenen Aufgabenstellung gerade nicht reflektiert. Dabei ließe sich ausgehend von der Art der visuellen Repräsentation zumindest einiger der Bilder ein kommunikativ wie inhaltlich gehaltvolles Gespräch anstoßen, vorausgesetzt allerdings, dass Lernende über die erforderlichen visuellen Kompetenzen verfügen. Im weiteren Verlauf möchte ich den Versuch unternehmen, das Konzept der visual literacy auf die Ziele eines kommunikativen Englischunterrichts unter dem Dach eines funktionalen und kritisch-reflexiven Allgemeinbildungsbegriffs zu beziehen. 3. Die bildungstheoretische Perspektive: re-conceptualising contemporary literacy Das Konzept der Grundbildung geht davon aus, dass es Kompetenzen beschreibt, die Menschen zur umfassenden Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, nicht zuletzt aber auch an gesellschaftlichem Wohlstand und politischer Partizipation benötigen. Vor diesem Hintergrund erhebt PISA etwa eine bestimmte Form der Lesekompetenz, und zwar das informationsentnehmende, -relationierende und kritisch-reflektierende Lesen zum Element zeitgemäßer Grundbildung (vgl. Baumert et al. 2001: 19ff., zur Lesekompetenz 22ff.). Wie schon erwähnt, verwendet PISA, ähnlich wie oben für die Bildungsstandards herausgearbeitet, einen Textbegriff, der sich am geschriebenen Wort orientiert, bezieht jedoch ausdrücklich nichtkontinuierliche Textformen wie Diagramme, Karten, Übersichten etc. ein. Dies wird damit begründet, dass die genannten Textformen als übliche Kommunikativer Englischunterricht und visual literacy 65 Kommunikationsformen der Mathematik und Naturwissenschaften angesehen werden. Dem gegenüber gehen die Sprach- und Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der New London Group (NLG 1996) in einem programmatischen Text zur Grundlegung eines zeitgemäßen Begriffs von literacy über dieses traditionell schriftsprachlich geprägte Verständnis hinaus: First, we want to extend the idea and scope of literacy pedagogy to account for the contextually and linguistically diverse and increasingly globalized societies, for the multifarious cultures that interrelate and the plurality of texts that circulate. Second, we argue that literacy pedagogy now must account for the burgeoning variety of text forms associated with information and multimedia technologies. This includes understanding and competent control of representational forms that are becoming increasingly significant in the overall communications environment, such as visual images and their relationship to the written word - for instance, visual design in desktop publishing or the interface of visual and linguistic meaning in multimedia. Es scheint mir sinnvoll, wenn über die Rolle von Bildern im Englischunterricht nachgedacht wird, hier anzusetzen und Bilder nicht nur als methodisch motivierte Medien zu betrachten, sondern als Dokumente sich verändernder gesellschaftlicher, politischer, kultureller und wirtschaftlicher Welten zu verstehen, die ihrerseits dabei sind, ihre medialen und kommunikativen Funktionen und Ausdrucksformen neu zu gestalten (vgl. NLG 1996: 3). 3 Es gehört zu den Merkmalen einer zunehmend visuell kommunizierenden Wissenskultur, dass Geltungsansprüche nicht mehr ausschließlich logozentrisch, sondern verstärkt ikonozentrisch formuliert werden - so jedenfalls argumentiert Gunther Kress (2003: 1), Mitglied der New London Group: It is no longer possible to think about literacy in isolation from a vast array of social, technological and economic factors. Two distinct yet related factors deserve to be particularly highlighted. 3 Unbestreitbar ließen sich hier mit dem Multiliteracies-Ansatz der NLG weitere Kommunikationsformen und -medien nennen, die sich allesamt durch eine Kombination von Repräsentationsformen (modes of meaning-making) auszeichnen, z.B. massen- und multimediale Kommunikation oder elektronische Hypertexte (vgl. NLG 1996: 4). Stephan Breidbach 66 These are, on the one hand, the broad move from the now centuries-long dominance of writing to the new dominance of the image and, on the other hand, the move from the dominance of the medium of the book to the dominance of the medium of the screen. These two together are producing a revolution in the uses and effects of literacy and of associated means for representing and communicating at every level and in every domain. Together they raise two questions: what is the likely future of literacy, and what are the likely larger-level social and cultural effects of that change? Kress argumentiert, dass dieser Wandel in allen soziokulturellen Bereichen stattfindet und bedeutsam ist. Dieser Wandel wird fassbar im vieldiskutierten Phänomen der möglichst fernsehtauglichen Inszenierung politischer Programme oder der zunehmenden Personalisierung von Politik. Dass die alltagskulturelle Dominanz des Bildes auch bei den Schülerinnen und Schülern angekommen ist, lässt sich für jeden Lehrer bzw. jede Lehrerin nach Unterrichtsschluss leicht nachprüfen, wenn man im Klassenraum, bevor man selbst die letzten stehen gebliebenen Stühle hochstellt, einen Blick auf die Tischkritzeleien wirft, wo z.B. Mangas längst angefangen haben, das geschriebene Wort abzulösen. Ähnliches spielt sich in der SMS- und Online-Chat-Kommunikation ab, in der die symbolische Repräsentation von Bedeutung durch das geschriebene Wort an vielen Stellen durch das ikonische Emoticon abgelöst wird. Daher ist es an dieser Stelle erforderlich, auch über den von PISA eingeführten Textbegriff, der diesen in Bezug auf das traditionelle, wortschriftlastige Verständnis bereits erweitert, noch hinauszugehen - anstatt ihn mit DESI wieder auf das traditionelle Verbal- und Schriftlichkeitsformat zurechtzustutzen - und das Verständnis von literacy auch auf visuell bzw. multimodal kommunizierende Texte zu beziehen. 4 Wenn man den Grundbildungsgedanken mit seiner Ausrichtung auf funktionale wie kritische Partizipationsfähigkeit der Menschen ernst nimmt, erscheint diese Erweiterung sogar notwendig. 4 Unbestreitbar ließen sich hier mit dem Multiliteracies-Ansatz der NLG weitere Kommunikationsformen und -medien nennen, die sich allesamt durch eine Kombination von Repräsentationsformen (modes of meaning-making) auszeichnen, z.B. massen- und multimediale Kommunikation oder elektronische Hypertexte (vgl. NLG 1996: 4). Kommunikativer Englischunterricht und visual literacy 67 4. Visual literacy und Englischunterricht Die Sicht, dass sich gegenwärtig ein tiefgreifender Wandel von der Schriftzur Bildkultur vollzieht, wird vor allem aus erziehungswissenschaftlicher Sicht vorgetragen (vgl. z.B. Avgerinou/ Ericson 1997; Stokes 2002). In der Fremdsprachendidaktik dürfte Inge-Christine Schwerdtfegers Forderung wohl am prominentesten sein, die Fähigkeit zu sehen gleichberechtigt neben die etablierten four skills (reading, listening, speaking, writing) zu stellen (vgl. Schwerdtfeger 1989: 24, 2003; im Anschluss daran auch Blell/ Lütge 2004). Aber auch Monika Seidl (2007a: 3) hält es unter der Überschrift eines kulturwissenschaftlich orientierten Englischunterrichts für erforderlich, das Phänomen der „Visualität“ (ebd.), also die Reflexion des Zusammenhangs zwischen „biologisch bestimmter Sinneswahrnehmung und kulturellen Sehgewohnheiten“ (ebd.), im Horizont fremdsprachendidaktischer Erwägungen zu sehen. Sie argumentiert, dass die Begegnung mit Bildern nicht auf der ikonischen Ebene des (Wieder-)- Erkennens abgebildeter Wirklichkeit stehen bleiben dürfe, sondern auf die „Konstruiertheit“ von Bildern und deren „symbolische Qualitäten verweisen“ müsse (ebd.: 5), und zwar mit dem kritisch-reflektorischen Ziel, „Lehrende und Lernende für die Vermitteltheit, Kontingenz und Historizität von ‚faktischem‘ Wissen zu sensibilisieren“ (ebd.). Um die hier diskutierte Aufgabe zu den Bildungsstandards bearbeiten zu können, müssen Schülerinnen und Schüler auf zwei Ebenen kompetent agieren können: 1. Sie müssen über die methodischen und fremdsprachlichen Mittel verfügen, um Bildaussagen zu ermitteln und diese darstellen zu können. Dies sind zunächst Methoden der Bildbeschreibung und -analyse sowie kommunikative Mittel der Alltagssprache. Hier geht es darum, Bildmotive zu bezeichnen und Beziehungen oder Zusammenhänge zwischen diesen bzw. zwischen diesen und Beständen von Weltwissen fremdsprachlich darzustellen. 2. Um über einen naturalistisch-assoziativen Gedankenaustausch hinauszugelangen, müssen Lernende zudem in der Lage sein, über Kommunikation, in diesem Fall über visuelle Kommunikation zu kommunizieren, um ihre Sichtweisen bzw. Lesarten eines Bildes gegenüber dem/ der Interaktionspartner/ in zu begründen. Hier geht es um die diskursformadäquate Interaktionskompetenz mit dem Ziel eines echten Meinungsaustausches. Eine in diesem Sinne sub- Stephan Breidbach 68 stanzielle Bedeutungsaushandlung macht folglich die Kommunikation über die Art und Form visueller Kommunikation erforderlich. Es handelt sich demnach um gegenstandsbezogene, vor allem aber gegenstandsspezifische Meta-Kommunikation. Hiermit bewegt man sich dann vollständig im Bereich von visual literacy. Ein umfassendes Verständnis von visual literacy basiert auf einer sprach- und texttheoretischen Grundlage und formuliert zumindest drei Dimensionen visueller Kompetenz, nämlich erstens das Entschlüsseln visueller Kommunikation ebenso wie zweitens deren Produktion, und zwar jeweils in Bezug auf ihre kulturellen Kontexte, sowie drittens die kritische Reflexion ihres Gebrauchs: The use and interpretation of images is a specific language in the sense that images are used to communicate messages that must be decoded in order to have meaning [...]. If visual literacy is regarded as a language, then there is a need to know how to communicate using this language, which includes being alert to visual messages and critically reading or viewing images as the language of the messages. Visual literacy, like language literacy, is culturally specific although there are universal symbols or visual images that are globally understood. (Stokes 2002: 13) Die hier diskutierte Beispielaufgabe der Bildungsstandards ist verbalkommunikativ auf der Ebene des dialogischen Sprechens angesiedelt, visuell-kommunikativ dagegen auf der Ebene rezeptiver (Bildlese-)Kompetenz. Zu erkennen ist auch, dass die reflexive Ebene visueller Kompetenz bislang noch nicht angesprochen ist. Auch hier bleibt die Aufgabenstellung hinter ihren Möglichkeiten zurück. 5. Bilder lesen können: zur rezeptiven Dimension visueller Lesekompetenz 5.1 Zeitliche und räumliche Sequenzierung Eine zentrale Schwierigkeit, die Schülerinnen und Schüler bei der oben diskutierten Aufgabe aus den Bildungsstandards zu bewältigen haben, ist die Koordination der beiden unterschiedlichen Modi verbalsprachlicher und visueller Kommunikation. Gunther Kress (2003: 1f.) legt dar, dass Kommunikativer Englischunterricht und visual literacy 69 verbalsprachliche Kommunikation Bedeutung unter der Bedingung chronologischer Sequenzierung, also analytisch konstruieren muss. Bedeutung entsteht hier durch das Verhältnis von sprachlichen Zeichen, die jeweils nacheinander angeordnet sind und über diese Vor- und Nachordnung zueinander in Beziehung treten: „Tom heiratet Mary“ bedeutet etwas anderes als „Mary heiratet Tom.“ Dem gegenüber funktioniert visuelle Kommunikation ganzheitlich, da alle visuellen Zeichen gleichzeitig präsent sind. Die Zeichen treten hier nun nicht in eine chronologische, sondern in eine räumliche Beziehung. Es ist also der Übergang von räumlich orientierter zu temporal orientierter Kommunikation, von einem ganzheitlichen zu einem analytischen Kommunikationsmodus, den Schülerinnen und Schüler bereits bei so vermeintlich einfachen Aufgaben wie einer Bildbeschreibung, spätestens aber bei der Aufforderung, eine Bildaussage zu versprachlichen (sic! ), zu bewältigen haben. 5.2 Bedeutungsebenen visueller Kommunikation Damit ist schließlich auch offenkundig, dass das Verstehen visueller Kommunikation die Kenntnis dessen bedingt, was Gunther Kress und Theo van Leeuwen (2006) „The Grammar of Visual Design“ nennen. 5 Kress und van Leeuwen benennen insgesamt vier Bedeutungsebenen visueller Kommunikation: narrative und konzeptuelle Strukturen sowie interaktionale und modale Strukturen. Die ersten beiden befassen sich mit Aspekten der Repräsentation, die beiden folgenden Ebenen mit Aspekten der Interaktion zwischen Produzenten und Rezipienten visueller Kommunikation. Ich werde diese Ebenen im Folgenden anhand des Bildes vom radfahrenden Geiger aus den KMK-Beispielaufgaben erläutern. Daran soll zugleich die Möglichkeit eines alternativen Aufgabenzuschnitts deutlich werden, der dann im nachfolgenden und letzten Abschnitt dargelegt wird. 1. Narrative Strukturen stellen Ereignis- und Handlungsverläufe in visueller Kommunikation dar (Kress/ van Leeuwen 2006: 73). Auf dem Bild mit dem geigenden Radfahrer wird die Tätigkeit durch mehrere und einander gegenläufige Vektoren (z.B. die Fahrtrichtung, 5 Kress/ van Leeuwen (2006: 4f.) diskutieren visual grammar als eine weitgehend westlich geprägte Sehkonvention. Zu ihrer Verbreitung trage der Prozess der Globalisation in hohem Maße bei, was aber nicht ausschließe, dass diese Konvention nicht auch mit anderen, regionalen Konventionen koexistieren könne. Stephan Breidbach 70 Strichrichtung der Bogenhand, Drehbewegung der Pedale) als eine sehr komplexe und durch die Fahrtrichtung von rechts nach links sowie die Blickrichtung des Geigers von links oben nach rechts unten als eine weitgehend selbstbezogene Handlung dargestellt. 2. Konzeptuelle Strukturen erzeugen soziale Konstrukte, z.B. über die Kontextualisierung abgebildeter Elemente oder Handlungen (ebd.: 79ff.). Dies sind im vorliegenden Beispiel zum einen die Kombination zweier sich üblicherweise ausschließender Tätigkeiten an sich, Radfahren und Geigespielen. Zum anderen ist es der Verweis auf sich ebenfalls widersprechende Orte, nämlich die Landstraße (Hintergrund) und der Konzertsaal (Kleidung des Geigers). Durch diese doppelte Inkongruenz wird die Außergewöhnlichkeit des gezeigten Geschehens betont. Auf der nächsten Gestaltungsebene (Punkt 3) wird diese allerdings sofort wieder unterlaufen, woraus sich, wenn man so will, die Ironie des Bildes ergibt. 3. Interaktionale Strukturen etablieren ein bestimmtes Verhältnis von Repräsentationen und Betrachter/ in (ebd.: 114). Da der Blick des Geigers auf die Noten gerichtet und alle übrigen Bewegungsindikatoren von den Betrachtenden wegdeuten, entsteht eine ausdrückliche Distanz, welche die Betrachtenden zu bloßen Zuschauern einer Handlung macht, ohne in den Handlungsablauf einbezogen zu sein. Die Handlung erhält dadurch den Ausdruck von Selbstverständlichkeit und Authentizität, den das Geigen im Konzertsaal innerhalb eines bestimmten kulturellen Kontextes hätte. 4. Modale Strukturen etablieren Geltungsansprüche visueller Aussagen und die Verlässlichkeit der dargestellten Wirklichkeiten (ebd.: 154). Im Fall des radelnden Geigers (aber auch für alle anderen Bilder in der Beispielaufgabe) ist diese Ebene von zentraler Bedeutung, da die gezeigte Handlung (narrative Struktur) eher Skepsis auslösen wird. So wird die Handlung als Fotodokument und nicht etwa als Skizze oder Gemälde gezeigt. Zudem ist der Ausschnitt so gewählt, dass das Nichtvorhandensein eventueller Stützapparate glaubhaft ist. Der verwischte Hintergrund untermauert, dass der geigende Radfahrer tatsächlich in Bewegung ist. Dies ist zugleich ein Hinweis darauf, dass das Bild aus einem Fahrzeug heraus aufgenommen worden ist und sich der Radfahrer relativ zur Kamera nicht fortbewegt, was wiederum den hohen Inszenierungsgrad des Bildes andeutet. Kommunikativer Englischunterricht und visual literacy 71 Erfahrene Lehrerinnen und Lehrer wissen, dass sich der Fremdsprachenunterricht nicht darauf verlassen kann, dass Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe (vermutlich auch nicht der Oberstufe) diese Bereiche rezeptiver visueller Kompetenz in der bloßen Begegnung mit visuellem Material erwerben. 6 Es bedarf vielmehr entsprechender Unterrichtsinszenierungen und entsprechender Aufgabenzuschnitte. Diese können auf jeden einzelnen der vier Bereiche bezogen werden. Wie dies konkret aussehen kann, ohne den unmittelbaren Rahmen des ursprünglichen Aufgabenkontextes aus den Bildungsstandards zu verlassen, sondern diesen vielmehr noch schärfer in den Blick zu nehmen, möchte ich im abschließenden Abschnitt zeigen. 6. Wohin geht die Reise? - Ein alternativer Umgang mit den Bildern in der KMK-Aufgabe Visual literacy gehört faktisch längst zum Zielhorizont des Fremdsprachenunterrichts. Dies ist durch die Einführung der Bildungsstandards, durch die diesen zugrunde liegende Bildungstheorie und das prominent formulierte Grundbildungsversprechen zwingend erforderlich, wenngleich es in der Umsetzung der Bildungsstandards durch den gegenwärtigen Stand der Konzept- und Aufgabenentwicklung verdeckt, wenn nicht sogar konterkariert wird. Festzustellen ist jedenfalls eine Differenz zwischen dem bildungstheoretischen Anspruch der Bildungsstandards und dem merklichen funktionalen Reduktionismus, wie er sich in den Konkretisierungen wie etwa den Beispielaufgaben zeigt. Die Voraussetzungen, aus der heimlichen eine offene Beziehung zwischen visual literacy und Fremdsprachenunterricht zu machen, sind insofern günstig, als dieser über einen längst etablierten Umgang mit Visuellem verfügt. Dass dieser Umgang dennoch oft unreflektiert erfolgt, ist zugleich die größte Schwäche dieser Tradition. Dabei existieren zum Teil sehr gut ausgearbeitete Konzepte, auf die sich leicht Bezug nehmen ließe (vgl. z.B. Rose 2001). Entsprechende Unterrichtsinszenierungen vorausgesetzt, die sich z.B. der Konstruiertheit von Bildern durch die Komposition 6 Z.B. Gemälde, Fotografien, Grafiken und Plastiken im Fach Kunst; Bildquellen, Plakate und Karten in Geschichte, Politik und Erdkunde; Diagramme, physische Anschauungsobjekte und Modelle sowie Schemazeichnungen in Biologie, Physik, Chemie und Mathematik etc. Stephan Breidbach 72 und Gestaltung von Bildelementen zuwenden (vgl. exemplarisch Seidl 2007b), lässt sich ein alternativer Fragenkatalog zu der gestellten Aufgabe der KMK-Bildungsstandards entwerfen. Dieser thematisiert weniger die persönliche und weitgehend beliebige Meinung von Lernenden zu den abgebildeten Aktivitäten, sondern nimmt vielmehr systematisch auf einer ersten Ebene die Bildinhalte als konstruierte Komposition in den Blick und auf einer zweiten Ebene die kritisch-reflexive Evaluation der Botschaft- (en), die das Bild kommuniziert: - Describe - co-operatively with your partner - what you see in the image and how it is shown. - Develop - again with your partner - an explanation what the image tries to tell you about cycling backwards while playing the violin. Discuss which aspects and elements in the picture you consider to be important for the message. - Relate the fact to the image that the world record in cycling backwards (without violin) was established at the average speed of 10.6 km/ h. If you find something odd in the picture, explain what it is. Die ursprüngliche Anforderung, Kompetenzen der Gesprächsfähigkeit nachzuweisen, bleibt in diesem Aufgabenzuschnitt nicht nur erhalten, sondern stellt die Lernenden zudem vor eine echte Kooperationsaufgabe, zu deren Lösung sie gemeinsam beitragen müssen. Die erste und zweite Aufgabe erlauben unterschiedlich komplexe Lösungen, angefangen von der diskursiv unverbundenen Aufzählung einzelner Gegenstände und Handlungen bis zur Vermutung, dass es sich um eine recht einfache Übung, vielleicht um eine außergewöhnliche Form des Radrennens oder Musikwettbewerbs handelt, da die abgebildete Person offenkundig recht schnell unterwegs zu sein scheint, was sich daran erkennen lässt, dass der Bildhintergrund, ein Rapsfeld oder Ähnliches, verwischt erscheint. Für die dritte Aufgabe wäre dies zugleich ein Ansatzpunkt, die Dramatisierungstechnik der Darstellung zu entschlüsseln, denn das eher geringe Tempo des Rückwärtsfahr-Weltrekordes ohne Musikinstrument dürfte sich geigend wahrscheinlich nicht überbieten lassen. Die vermeintliche Leichtigkeit der Übung und die Rasanz der Fahrt sind folglich ein durch visuelle Gestaltungsmittel erzeugter Eindruck, dessen Gemachtheit sich durchaus erlesen lässt. Eine Diskussion der Motive, aus denen diese und keine andere Repräsentation gewählt worden sein mag, ist im Hinblick auf kritischreflexive Partizipationsfähigkeit von Lernenden an visueller Kommunika- Kommunikativer Englischunterricht und visual literacy 73 tion sicher ertragreicher als die unverbindliche Meinungsbildung zum Steilwandbügeln oder Rückwärtsradeln mit Geige. Was hier an einem weitgehend beliebigen Beispiel vorgeführt wird, erhält ein völlig anderes Gewicht, wenn man den Kontext verändert und die tatsächlichen lebensweltlichen Begegnungen der Schülerinnen und Schüler mit visueller Kommunikation einbezieht. Beispiele echten Lebensweltbezugs finden sich ohne Probleme, wenn man sie ernsthaft zulässt: In den Curricula der Mittelstufe zur politisch-ökonomischen Bildung nimmt etwa das Thema Werbung einen herausgehobenen Platz ein. Daher kann sich kommunikativer, aufgabenbasierter (ggf. fächerübergreifender), jedenfalls lebensweltnaher und emanzipativer Fremdsprachenunterricht der Sprache der Werbung annehmen, in der visuelle und verbalsprachliche Kommunikation ineinander verwoben sind und der Jugendliche auf dem Weg ihrer Rollenfindung als Konsumenten permanent ausgesetzt sind (vgl. Breidbach 2009). Hier, aber auch in vielen anderen Bereichen, wie z.B. der oben kurz angedeuteten Mündigkeit gegenüber bildmedialen Inszenierungen von Politik, liegen die Bildungsaufgaben, bei denen es für Jugendliche auf kritische Partizipationsfähigkeit in sehr greifbarer Weise tatsächlich ankommt - und diese Fähigkeit ist ohne visuelle Grundbildung auch im Fremdsprachenunterricht kaum vorstellbar. Quellen Sekundärtexte Avgerinou, Maria & Ericson, John (1997). „A Review of the Concept of Visual Literacy.“ British Journal of Educational Technology 28/ 4, 280-291. Baumert, Jürgen; Stanat, Petra & Demmrich, Anke (2001). „PISA 2000: Untersuchungsgegenstand, theoretische Grundlagen und Durchführung der Studie.“ In: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.). PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske und Budrich, 15-68. 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Einzeln rezipiert bleiben Inhalte des Bilderbuchs fragmentarisch; erst im Zusammenspiel von Wort und Bild entsteht die Bedeutung. Das Verstehen um die Interaktion von Wort und Bild im Bilderbuch kann mit Beginn des Lesenlernens in der Grundschule ausgebildet werden. Dabei wird sowohl die Literalität der Lernenden als auch ihre Lesefreude gefördert. Das Wechselspiel von Wort und Bild hilft beim Textverstehen, und jedes Medium für sich weckt Assoziationen, so dass die Fantasie der Lernenden angeregt wird. Bilder können durch ihren Detailreichtum, durch Ungewöhnlichkeiten und auch Komik das Interesse von Kindern wecken; sie locken sie in die Welt des Buches und halten sie dort lange genug fest, um kreative Interaktionen mit dem Text zu ermöglichen. Ziel dieses Beitrags ist es, die Bedeutung von Bildern in Bilderbüchern für den Einsatz dieses Genres im Fach Englisch zu untersuchen. 1. Ein weiter Begriff von Literalität Beim Lernen mit Bilderbüchern sind verschiedene Arten von Literalität involviert. Funktionale Literalität, d.h. Lesen und Schreiben lernen, kann mit Hilfe mnemonischer Musterbildung (mnemonic patterning über Rythmus, Reim, Wiederholung, Onomatopoeia und Alliteration) unterstüzt werden. Ein verbaler Text, der durch Musterbildung angetrieben und dadurch auch vorhersehbar wird, fördert den Spracherwerb Lernender. Literarische Literalität, d.h. das Vergnügen am Lesen zwischen den Zeilen und das Konstruieren von Bedeutungen, ist eine wichtige Ergänzung zur funktionalen Literalität. Enigmatische Bilderbücher mit ihrer Aneinanderreihung von Bedeutungen zwischen den Bildern und Wörtern laden zu Parti- Bilderbücher als Tor zu Literalität und Lesefreude 77 zipation und Reflexion ein; sie verlocken zum mehrfachen Lesen und regen das dialogische Aushandeln von Bedeutungen an. Durch die Interpretation der Bilder und die Untersuchung ihrer Relationen zum Text wird zudem die visuelle Literalität gefördert. Und schließlich können Bilder als Fenster zu unbekannten kulturellen Kontexten dienen und damit die Öffnung für das imaginative Verstehen des Andersseins unterstützen. Dieses weitreichende Verständnis von Literalität als ein Kompetenzen- Spektrum ist ein wichtiger Teil des heutigen Bildungsbegriffs: What once reached students as textbooks now comes in a range of symbolic presentations […]. These have to be interpreted over a range of different contexts, some of which have different kinds of privileged access. Our teaching will have to begin with the understanding that the complexities of literacy are linked to the patterns of social practice and social meanings. From now on there will be multiple literacies […]. (Meek 1993: 96) Die New London Group (1996) benutzt den Begriff ,multiliteracies‘, um den besonderen Rezeptionsleistungen Rechnung zu tragen, die die aufgrund der immer weiter wachsenden Verschränkung unterschiedlicher Medien steigende Komplexität von Texten erfordert. Beim Sprachenlernen werden die Bilder in Bilderbüchern jedoch oftmals nur als effektives Gerüst (scaffolding) angesehen, das bei der Erschließung des Kontextes helfen soll. Im Vordergrund steht üblicherweise der verbale Text, während die Bilder als stimulierend und unterstützend für den Leseprozess gelten: Sie wecken Interesse, erleichtern das Verständnis, stellen eine Beziehung zwischen Leser bzw. Leserin und der Geschichte her, erleichtern das Lernen von Vokabeln und sind eine wichtige Stütze beim Erzählen oder Vorspielen der Geschichte. Weniger bedacht wird, dass Bilder in Bilderbüchern über diese Funktionen hinaus Kindern helfen können, neue Ideen zu entwickeln, Probleme zu erkunden und Bedeutungen auf ihre eigene Lebenswelt zu übertragen. Der Ansatz, welcher hier skizziert wird, bezieht den Einfluss von Bilderbüchern auf die persönliche Entfaltung von Kindern ein, und zwar unter besonderer Berücksichtigung ihrer visuellen Literalität. Kinder sind von Natur aus heuristische Lerner, sie lernen durch trial and error, Proben und Fehler, Erforschen und Entdecken. Ein solches Lernen durch Entdecken kann durch den Einsatz von Bilderbüchern auch im Bereich lite- 78 Janice Bland rarischer Kompetenzen gefördert werden. Da Kinder in Bezug auf fremde Sprachen Anfänger sind, können sie ihre natürlichen Erkundungs- und Entdeckungsfähigkeiten vorteilhafter mit der Hilfe von Bildern als allein mit verbalen Texten ausschöpfen. In der Grundschule ist man sich der Notwendigkeit von holistischer und fächerübergreifender Bildung sehr bewusst. Auch in Bezug auf das Erlernen einer fremden Sprache gehen daher die Lehr- und Lernziele des Fremdsprachenunterrichts in der Grundschule über den Erwerb linguistischen Wissens hinaus, um umfangreichere affektive, kognitive und kulturelle Dimensionen einzubeziehen. Dies wird allerdings häufig offensichtlich auch von Primarstufenlehrenden zu gering beachtet, vielleicht aufgrund eines Gefühls der Unsicherheit gegenüber dem neuen Fach. Der herausfordernde Ansatz der multiliteracy bzw. der multiple literacies (Kern 2000: 6) impliziert ein Spektrum von Beziehungen zwischen Leserinnen bzw. Lesern, Autorinnen bzw. Autoren, Texten, Kulturen und der Sprachenbildung. Dies schließt die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins in Bezug auf das Lesen von Texten ein, auch im Hinblick auf ihre implizierten ideologischen Konnotationen. 2. Die Entwicklung funktionaler Literalität durch Bilderbücher Bilderbücher mit starker sprachlich-musikalischer Musterbildung sind besonders für funktionale Literalität eine große Stütze. Manche Bilderbücher sind reich an Rhythmen, Reimen, Alliterationen und Refrains. Rhythmische Wiederholung ist hypnotisch, für Erwachsene wie für Kinder. Reime, als linguistische Routine zwischen Mutter und Kind, spielen eine wichtige Rolle in der Aneignung der Muttersprache. Psycholinguistische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Vorschulerziehung mit dem Einsatz von Liedern und Kinderreimen bedeutsam für die Vorbereitung der Lese- und Schreibfertigkeiten ist (vgl. Byrant et al. 1989 und 1990). Reime und Alliterationen lenken die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Wiederholung von Sprachmustern und auf sound-spelling-Korrespondenzen. Bilder erleichtern in Kombination mit musikalischen Sprachmustern das Erstlesen von bekannten Texten, indem sie dem Leser die Echos der so oft gehörten Wörter ins Gedächtnis rufen. Bilder helfen also bei der Wiedererkennung von Lautbildern des verbalen Textes in einem Bilderbuch. Dies führt zu Erfolgserlebnissen beim und Freude am Lesen sowie zu ersten Schritten in Bilderbücher als Tor zu Literalität und Lesefreude 79 Richtung einer Autonomie des Lerners. In dem Bilderbuch My Mum von Anthony Browne zum Beispiel rufen eindeutige Bilder - ein Bild pro Satz - die entsprechenden Lautbilder wieder ins Gedächtnis („She’s nice, my mum. / My mum’s a fantastic cook. / And a brilliant juggler. / She’s a SUPERMUM! / And she makes me laugh. A lot.“) 3. Bilderbücher zur Förderung von Lesemotivation, Leseverstehen und literarischer Kompetenz Literarische Texte, die für Kinder geschaffen wurden - und dazu sind Bilderbücher in erster Linie zu zählen -, fordern die Kinder heraus, für sich selbst Bedeutungen zu finden. Dies kann einerseits zu einem hohen Grad an Lesebefriedigung beitragen, das Lesen von Bildern einbezogen; andererseits kann es die Kinder insofern intellektuell herausfordern, als sie durch das Bilderbuch die Welt fokussiert durch die Augen anderer erleben, ohne vorgefertigte Antworten in Richtung einer korrekten oder falschen Interpretation. Freude am Lesen entsteht aus der Erkenntnis, dass wir selbst Bedeutungen kreativ erschaffen. Wir können die Autonomie der Lernenden entwickeln, indem wir sie dazu motivieren, Hypothesen zum Bilderbuch zu formulieren und die eigenen Assoziationen zu verfolgen. Literarische Literalität wird mit Leseanfängern oft weniger trainiert als die funktionale Literalität. Dabei können viele erfinderische Bilderbücher sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrenden verblüffen und zur Konstruktion eigener Interpretationen auffordern. Dies zieht nach sich, dass echte Fragen an einen Text gestellt und Antworten gesucht werden, die die Kinder auch wirklich interessieren, anstatt Fragen mit bloßer Vorzeigefunktion auf ein Bilderbuch anzuwenden. Die motivierende Kraft der Bilderbücher kann daher auch zum (Weiter)Lesen motivieren - und genau diese Motivation ist ausschlaggebend nicht nur für den Spracherwerb, sondern auch für das interkulturelle Lernen und unzählige weitere Bildungsziele (vgl. Krashen 1993, Day/ Bamford 1998, Volkmann 2000). Je eher Kinder lernen, sich mit Büchern auseinanderzusetzen, desto besser. Und wenn viele Bedeutungen in den Bildern zu finden sind, werden die frühen Fremdsprachenlernenden auch linguistisch nicht überfordert. 80 Janice Bland Ein wichtiger Bestandteil von literarischer Kompetenz ist die Fähigkeit, Bedeutung aus Texten inferieren zu können (vgl. Hall 2005: 21). Bilderbücher können zum Entdecken, Vergleichen, Schlussfolgern und Verstehen herausfordern und das Vertrauen der Kinder in ihre eigenen Lesereaktionen stärken. Ein Bilderbuch, welches einen komplexen Inhalt und gar keine Wörter beinhaltet, ist der Klassiker The Snowman (Briggs 1978). Diese Bildergeschichte einer magischen Freundschaft zwischen einem Schneemann und einem Kind birgt aufgrund der vielen Bilddetails ein enormes Entdeckungspotential. Wenn Kinder interpretieren, warum der Schneemann ein Novize im Umgang mit Elektrizität und heißem Wasser ist (vgl. Abb. 1), lernen sie Lücken zu schließen, da das Bilderbuch keine Erklärungen liefert. Abb. 1: The Snowman Beim Inferieren helfen ihnen die Bilder, die Assoziationen wecken und das lebensweltliche Vorwissen der Lernenden aktivieren. Wenn sich die Kinder mit der Hilflosigkeit und Ehrfurcht des Schneemanns (ausgelöst durch das Entdecken einer ihm unbekannten Welt) identifizieren, lernen sie aus der Perspektive eines anderen zu sehen. Beim Perspektivenwechsel hilft der fokussierende Blick des Jungen: Wir sehen meistens seinen Hinterkopf und den Schneemann buchstäblich durch die Augen des Jungen, wodurch die Aufmerksamkeit des Lesers bzw. Betrachters geschickt auf die gefühlte Angst und Verwirrung des Schneemanns gelenkt wird. Das Bilderbuch Bilderbücher als Tor zu Literalität und Lesefreude 81 bietet viele Möglichkeiten für die kreative Sprachbeschäftigung, vom Erfinden von Sprechblasen (Beispiele für das obige Bild wären: Help! Danger! Watch out! Don’t touch! Keep away! Stop! Don’t move! Come away! ), über die Formulierung von neuen Titeln für jede Seite (für diese Seite z.B. Danger in the kitchen, The Snowman tries to cook, The Snowman discovers electricity), bis hin zur Einnahme einer neuen Perspektive, z.B. die der Mutter (It’s very cold. Put your woolly hat on! ) oder die des Schneemanns (Hurry up now! Where’s my head? I can’t see! I need eyes! ). Bilderbücher mit Text animieren den Leser bzw. die Leserin darüber hinaus durch ihr komplexes Verhältnis zwischen Bild und Text zur Bedeutungskonstitution, vor allem dann, wenn eine Diskrepanz zwischen der Bilderzählung und der verbalen Geschichte besteht: Central to the picture book is the notion of the readerly gap - that imaginative space that lies hidden somewhere between the words and the pictures, or in the mysterious syntax of the pictures themselves, or between the shifting perspectives and untrustworthy voices of the narratives. (Styles/ Watson 1996: 2) Oftmals entsteht durch solche Diskrepanzen Ironie, deren Entschlüsselung der besonderen Teilnahme des Lesers bzw. der Leserin bedarf: Er/ sie muss den vollen, zusammengesetzten Text kreieren, welcher nicht auf der Seite sichtbar ist, sondern erst während der Rezeption konstruiert wird. Bilderbücher mit ironischem Unterton eignen sich daher für das Lesen in Gruppen. Ein Beispiel für diese Art von Text ist The True Story of the Three Little Pigs! (Scieszka/ Smith 1989). Dieses Bilderbuch (vgl. Abb. 2) ist für eine Literaturklasse in den ersten Jahren der Sekundarschule geeignet, vorausgesetzt die Lernenden haben schon in der Grundschule erfahren, Bilderbücher ernsthaft als literarische Texte zu betrachten. Es gibt einen unzuverlässigen Erzähler namens A. Wolf. In einer Neuerzählung der traditionellen Geschichte verwandelt er die Schweine in Bösewichte. Der Wolf beteuert seine Unschuld: Die Zerstörung der Häuser der Schweine geschah nicht aufgrund seines Appetits, sondern aufgrund der Dummheit und der Unfreundlichkeit der kleinen Schweine. So I went next door to ask if I could borrow a cup of sugar. Now the guy next door was a pig. And he wasn’t too bright, either. He had built his whole house out of straw. Can you believe it? I 82 Janice Bland mean who in his right mind would build a house of straw? (Scieszka 1989) Obwohl die Bilder aus der Sicht von A. Wolf dargestellt sind, zeigen sie zusätzliche Details, welche die wahren Absichten des Wolfs gegenüber den kleinen Schweinen verraten. Das Entdecken dieser Details erfordert sorgfältiges, wiederholtes Lesen der Bilder, den Vergleich der Ergebnisse und die eingehende Untersuchung des verbalen Textes auf der Suche nach Gegensätzen zu den Bildern. Abb. 2: The True Story of the Three Little Pigs! Eine auf diese Weise herausgeforderte kreative Partizipation bei der Rezeption von Bilderbüchern ist das beste Training für literarische Literalität - nämlich der Freude am Schlussfolgern und Entdecken. Die Schülerinnen und Schüler lernen, ihrer eigenen interpretativen Aneignung von literarischen Texten zu vertrauen. Literarische Bilderbücher können also einen stressfreien Anfang beim Lesenlernen in der Fremdsprache ermöglichen. 4. Interkulturelles Lernen mit Bilderbüchern 4.1 Bilderbücher als Collagen von kultureller Bedeutung Die Interaktion mit Bilderbüchern - vor allem mit den Bildern - kann als Schlüssel für ein neues Verständnis von Welt fungieren. Bilderbücher enthalten Lücken, in der Zuversicht, dass der junge Leser ein fantasievoller, Bilderbücher als Tor zu Literalität und Lesefreude 83 toleranter und kreativer Adressat sein wird, der sich großzügig Zeit für ihre Rezeption nimmt und bisher wenige kulturelle Vorurteile besitzt. Literatur ist ein Träger kultureller Bedeutung. Das Buch The Day of Ahmed’s Secret (Heide/ Gilliland 1990) z.B. präsentiert Bilder von Kairos farbenfrohen und lauten Straßen, überfüllt mit Menschen, Kamelen, Autos und Karren. Ahmed ist ein junger Bote, und der Leser folgt ihm durch seinen geschäftigen Tag, während der Junge denkt: All kinds of sounds, maybe every sound in the world, are tangled together: trucks and donkeys, cars and camels, carts and buses, dogs and bells, shouts and calls and whistles and laughter all at once… Loudest of all to me today is the silent sound of my secret, which I have not yet spoken. Durch die Farben und Charaktere, die historischen Gebäude und modernen Transportmittel kreieren die Bilder eine detaillierte Collage von Kairo. Die Geschichte zeigt uns Kairo durch Ahmeds Augen: I buy my beans and rice, and sit in the shade of the old wall. My father has told me the wall is a thousand years old, and even our great-great-grandfathers were not yet born when it was built… I close my eyes and have my quiet time, the time my father says I must have each day. “If there are no quiet spaces in your head, it fills with noise,” he has told me. Am Ende eines langen Tages kehrt Ahmed zu seiner Familie zurück. Er erzählt seiner ganzen Familie, welche auf ihn gewartet hat, sein besonderes Geheimnis. Es ist dunkel und die Laternen sind erleuchtet, und Ahmed atmet tief ein und spricht die feierlichen Wörter: „,Look‘, I say. ‚Look I can write my name‘.“ Durch dieses Geheimnis, welches im Titel der Geschichte genannt und von Ahmed den ganzen hektischen Tag über bis zur Dunkelheit und Feierlichkeit der letzten Seiten aufrechterhalten wird, vermittelt das Bilderbuch eine Botschaft der Energie junger Menschen, des Glaubens an das Wunder der Bildung, und es wird gezeigt, wie herrlich die ersten Schritte zur Literalität sind. Schülerinnen und Schüler ethnischer Minderheiten in Deutschland erleben oftmals eine Geringschätzung ihrer kulturellen Identität. Eine mögliche Gegenmaßnahme in Grundschulen ist z.B. der Versuch, original türkische oder arabische Bilderbücher in den Sprachkursen einzuführen. Da oft die Bilder viel mehr als die verbalen Texte zentral für die Erzählung und 84 Janice Bland die interkulturelle Dimension sind, gibt es gute Gründe dafür, authentische Bilderbücher diverser Kulturen in unserem Sprachunterricht einzuführen. Da das Englische die Rolle einer Lingua Franca eingenommen hat, ist es sinnvoll, den interkulturellen Input auch über die anglophone Welt hinausgehen zu lassen. 4.2 Reduzierte kulturelle Bedeutung in illustrierten Lehrwerken für die Grundschule Krashen (1999: 12-14) differenziert over-determining, under-determining und partly determining contexts. Die Bilder in englischen Lehrwerken für die Primarstufe sind fast immer überbestimmend (over-determining), stilisierte, stereotypische Schilderungen, welche die kreative Rezeption einschränken. Objekte, Menschen und jeglicher Hintergrund (z.B. Familien, Spielzeug, Haustiere, Landschaften) sind meistens homogenisiert und radikal ,aufgeräumt‘, reduziert auf einen vereinfachten, allgemeinen Umriss und auf flache, gesättigte Farben. Eine komplexe, naturalistische und mehrdeutige (partly determining) Kontextualisierung wird strengstens gemieden (Bland 2007: 302f.). Der herausfordernde, nur teilbestimmende Kontext, wie er für Bilderbuchillustrationen für Kinder im Schulalter typisch ist, erfordert hingegen kreative Partizipation, fantasievollen Lernerinput, Akzeptanz ambivalenter Rezeptionen und dialogische Bedeutungsgestaltung. Oft wählen Lehrkräfte eine Unterstützung durch linguistisch strukturiertes pädagogisches Material, z.B. in Form von Lehrwerken. Von der Betrachtung der oft auf Gleichheit reduzierten, über-bestimmenden Bilder in den Lehrwerken profitieren Kinder jedoch wenig. In den vereinfachten Texten werden Konnotationen, die Kinder entdecken könnten, einfach vorenthalten. Das kritische Lesen von Texten und Bildern kann so nicht geübt werden, dabei ist doch genau dieses erforderlich, wenn z.B. die in Büchern impliziten Ideologien aufgedeckt werden sollen. Wir sollten also die Gelegenheit nutzen, mit Kindern das schwere Spiel des Gegenden-Strich-Lesens zu üben, wo sich dieses ergibt. Eine solche Gelegenheit, die ziemlich typisch bei der Darstellung anderer Kulturen in Primarstufen- Lehrwerken ist, kommt in Ginger 2 - Pupil’s Book vor (Hollbrügge/ Kraaz 2004: 23). Der männliche Aborigine wird als emotions- und persönlichkeitslos porträtiert; er wirkt distanziert und entmenschlicht, wie er im Schneidersitz im Sand sitzend stereotypisch einen Boomerang schnitzt. Der Betrachter schaut auf ihn herunter, buchstäblich und bildlich. Im Gegensatz hierzu gewinnt die Charakterisierung in authentischen Bilderbüchern oft durch „the unique possibility to elaborate with close-ups, so Bilderbücher als Tor zu Literalität und Lesefreude 85 that we literally can come closer to characters and almost feel as if we were talking to them“ (Nikolajeva 2003: 44). 5. Visuelle Literalität durch Bilderbücher Wie eingangs schon angedeutet, kann durch das Lesen und Betrachten von Bilderbüchern außerdem die visual literacy von Kindern ausgebildet werden. Das Trainieren der visuellen Literalität findet statt, wenn in den Bildern eines Bilderbuches auch ein Sinn gesucht wird und wenn versucht wird, die Bilder - auch unabhängig vom Text - zu interpretieren. Kinder können Bilder gut ‚lesen‘ und Details wahrnehmen. Lehrende können ihren Schülerinnen und Schülern helfen, ihre Bild-Lese-Fähigkeiten zu verbalisieren, womit sie ihnen Vertrauen und Vergnügen an Bilderbüchern geben und den Grundstein für die Bereitschaft zum lebenslangen Lesen legen. Zum Entdecken und Fördern dieser Bild-Lese-Fähigkeiten sollten Bilderbücher ausgewählt werden, die unterschiedliche Interpretationen zulassen. Der Klassiker Come away from the water, Shirley (Burningham 1977) ist ein solches Bilderbuch: Es besitzt einen sehr differenzierten Inhalt, aber oft sehr wenig verbalen Text. Shirleys wortlose Bildererzählung wird auf der rechten Seite gezeigt. Auf der linken Seite sehen wir Shirleys Eltern am Strand. Der verbale Text ist auf die ziemlich banalen und blinden Kommentare der Mutter begrenzt. Durch die Bilder beobachten wir die Mutter strickend und Kaffee aus einer Thermosflasche ausschenkend und den Vater beim Pfeiferauchen, Zeitunglesen und dann beim Einschlafen. Der Strand ist sehr verlassen, was impliziert, dass sie in einer leeren Welt leben. Mutter und Vater sitzen passiv in ihren Klappstühlen, als ob sie sich einen Film anschauen. Dennoch sehen sie absolut nichts von Shirleys aufregendem, buntem Fantasiespiel, von ihren Abenteuern mit gefährlichen Piraten und vergrabenen Schätzen, mit einem Hund als Gefährten vor einem Hintergrund aus goldenen Stränden, dunklen Meeren und wildem Himmel. Der Leser bzw. die Leserin dieses Bilderbuchs wird zum wiederholten Lesen verführt, wobei er/ sie jedes Mal etwas Neues entdecken kann. Wenn Kinder anfangen, die Details in Shirleys Abenteuer auszufüllen, lernen sie, Lücken zu interpretieren. Dies gibt den Kindern Macht über die Geschichte, und die Erfahrung hat gezeigt, dass sie ihren Lehrer bzw. ihre 86 Janice Bland Lehrerin beim Entdecken von Indizien in der Bilderzählung oftmals sogar übertreffen. Eine interessante Übung zur Förderung visueller Literalität ist es aufzuzeigen, dass Bilder ebenso wie verbale Geschichten offen für verschiedene Interpretationen sein können. Auch sie erhalten ihre Bedeutung erst durch die Interaktion mit dem Betrachter bzw. der Betrachterin. Dies soll anhand des Bilderbuchs George and the Dragon (Wormwell 2002) verdeutlicht werden. Dieses beinhaltet prächtige, lebendige Bilder: dramatische Gebirge und dunkle Höhlen, einen riesigen, leuchtenden blut-roten Drachen (welcher immer über zwei Seiten sehr groß abgebildet ist), eine Burg mit vielen Türmen und eine traditionelle Prinzessin. Die Bilder erinnern an andere Mythen und traditionelle Geschichten, welche Kinder bereits früher erfreut haben. Diese Intertextualität ist ein beliebtes Instrument der Bereicherung in der Kinderliteratur. Die verbal erzählte Geschichte, die relativ simpel aus nur einem Satz pro Seite besteht, handelt von der Niederlage des Drachens durch George, eine Maus. In der Kinderliteratur besitzt oft die kleinste Kreatur heroische Qualitäten, wodurch dem jungen Leser bzw. der jungen Leserin ein erreichbares Vorbild geboten wird: Die Helden und Heldinnen sind verletzbar, zeigen jedoch Kreativität und Mut; sie unternehmen schwierige Aufgaben, und dennoch schaffen sie es, die meisten Hindernisse zu überwinden. In der Originalgeschichte ist der Drache grimmig, schrecklich und männlich; die Prinzessin ist lieblich und hilflos, ohne Namen und Stimme. Beide, George und der Drache, haben Zeilen direkter Rede, die Prinzessin nicht. Zusammen mit den Lernenden kann die Lehrkraft eine vollkommen andere Geschichte zu den Bildern erfinden. Der Drache könnte z.B. weiblich, einsam und tollpatschig, anstatt männlich, grimmig und gefährlich sein. Während der weibliche Drache Freunde sucht, zerstört er (mit seinem gewaltigen Schwanz) aus Versehen die Burgmauer. Er entführt die Prinzessin, auf der verzweifelten Suche nach einer Spielgefährtin. In dieser Version könnte außerdem die Prinzessin einfallsreich sein und sich der Fähigkeiten ihrer klugen Maus zu bedienen wissen. Indem also im Unterricht z.B. neue Bildunterschriften und Sprechblasen kreiert werden, um eine andere Geschichte zu den Bildern zu erschaffen, enthüllt man, dass die Bilder in dem Bilderbuch nicht eindeutig sind. Auf diese Weise kann das kritische Lesen von Bildern ganz allgemein (also z.B. in Bezug auf Fernsehen, Filme, Werbung, Zeichnungen, Diagramme, Symbole, Photographien, Videos und Gemälde) gefördert wer- Bilderbücher als Tor zu Literalität und Lesefreude 87 den, denn: „the more both adults and children realize the degree to which all representations misrepresent the world, the less likely they will be to confuse any particular representation with reality, or to be unconsciously influenced by ideologies they have not considered.“ (Nodelman 1996: 123) 6. Die praktische Arbeit mit Bilderbüchern Im Folgenden soll anhand einiger konkreter Unterrichtserfahrungen exemplarisch gezeigt werden, inwiefern der Einsatz von Bilderbüchern im beginnenden Fremdsprachenunterricht - auch über die Grundschulphase hinaus - ein großes Potential zum Erreichen motivationaler, sprachlicher, literar-ästhetischer und (inter)kultureller Lernziele birgt. 6.1 Erfahrungen aus einer Unterrichtsreihe zum Bilderbuch Zoo in einer Hauptschulklasse Eine Studentin in Niedersachsen entwickelte für ihre Masterarbeit eine Unterrichtsreihe zum Thema Exploring the use of picturebooks in a foreign language class: Zoo (Anthony Browne) in the Hauptschule, 5 th grade (Möhle 2008). Die Kinder dieser Hauptschulklasse waren vollkommen unerfahren hinsichtlich des Lesens aus Vergnügen (Bilderbücher miteinbezogen). Wir können daher annehmen, dass die meisten dieser Schülerinnen und Schüler Bücher mit Unterricht assoziieren - eine Domäne, in der sie vermutlich sehr oft ihr Versagen erleben. Die Arbeit mit Bilderbüchern kann ihnen das Lesen in der Fremdsprache vereinfachen, so dass sie weniger Frustration erleben und kleinere Erfolge womöglich eine Lernsowie Lesemotivation enstehen lassen, die sich im günstigsten Fall auch positiv auf das Lesen in ihrer Freizeit auswirkt. Zoo (Browne 1992) ist ein Meilenstein unter den Bilderbüchern. Es kombiniert hervorragende Bilder mit einer seriösen Untersuchung des Verhältnisses zwischen Mann und Tier, insbesondere mit der Auseinandersetzung um das Konzept, Tiere in Käfigen zu halten. Die Schülerinnen und Schüler der 5. Klasse waren unter der Leitung der Lehrkraft gut in der Lage, die Botschaften in den Bildern zu verstehen, und sie hatten Freude an der tieferen Leseerfahrung. Einige waren selbst in den wenigen Unterrichtsstunden der Reihe in der Lage, die Widersprüche zwischen den gesprochenen Dialogen einer ziemlich gedankenlosen Familie im Zoo und den Porträtbildern der sehr schönen, bedrängten Tiere zu entdecken. Die emotionale Wirkung des Buches entsteht 88 Janice Bland gerade aufgrund der überzeugenden Bilder, welche sogar den unerfahrenen Leser auffordern, sich mit den stummen Tieren zu verbinden und kritische Distanz zu den zankenden menschlichen Besuchern im Zoo zu erlangen. At the end of the unit they [5. Klasse, Hauptschule] were keen on discussing the moral, social and environmental issues raised in the book. Most of them gained a highly differentiated understanding of the book involving affective and cognitive dimensions. An access to visual literacy, the vital ability to read pictures critically, has been developed. […] During the entire sequence, the children were thrilled by the methods such as the folding of the picture book, filling in the thought bubbles, doing a picture dictation and in particular preparing and acting out a freeze-frame. They were surprised and delighted about the fact that there are other ways of teaching and learning English compared to what they had experienced so far. (Möhle 2008: 38) 6.2 Kreatives Schreiben mit Three Billy Goats Gruff Lesen, die Rezeption von Bildern und kreatives Schreiben sind sich gegenseitig unterstützende Aktivitäten. Die folgenden Textbeispiele, geschrieben von Kindern, die erst am Anfang der funktionalen Literalität in der Fremdsprache stehen, illustrieren die motivierende Kraft von Bilderbuchgeschichten, schriftlich auf einen Text zu reagieren. Den Kindern im Alter von 6 bis 8 Jahren wurde ein Bild aus Three Billy Goats Gruff zum Ausmalen gegeben (vgl. zum Original Abb. 3). Die Sprechblasen waren leer, die Kinder bekamen keine Anweisungen, wie sie sie ausfüllen sollten. Sie hatten die Geschichte nur einmal gehört. Die meisten Kinder in der Gruppe (1. und 2. Klasse gemischt) fühlten einen starken Drang, die Sprechblasen mit Schrift auszufüllen, also Little Billy Goat Gruff eine Stimme zu geben. Die siebenjährige Ayscha (vgl. Abb. 4), war sehr begierig darauf etwas zu schreiben, war aber wenig am Ausmalen der Bilder interessiert; sie kreierte eine großartige Sprechblasen- Collage (Bland, collected 02.07: action research, NRW) mit lexikalischen Sprachmustern (chunks), die sie aus Geschichten und Reimen aus dem Englischunterricht nahm. Bilderbücher als Tor zu Literalität und Lesefreude 89 Abb. 3: Fairy Tales (Three Billy Goats Gruff) Abb. 4: Fairy Tales (Ayscha): „I’m very little. I’m clever! I want my Mammy. Silly Monster! Please behave, big monster.“ Mittels solcher Reaktionen auf Bilderbuch-Geschichten können - parallel zum Lesen- und Schreibenlernen - die Anfänge literarischer Literalität entwickelt werden. Maxi, 6 Jahre alt, konnte weder Deutsch noch Englisch lesen oder schreiben. Er war jedoch so motiviert, den Troll zu beleidigen, dass er Erfolg hatte (vgl. Abb. 5). Die Erlaubnis eine Beleidigung zu 90 Janice Bland schreiben war so ein machtvoller Ansporn für Maxi, dass er in die Sprechblase der kleinen Ziege treffende Wörter schrieb. Abb. 5: Fairy Tales (Maxi) Der siebenjährige Steffen demonstriert eindeutig, wie Kinder durch Exzessives motiviert werden. Steffen war extrem erfinderisch mit seinen minimalen L2 Fähigkeiten. Nach nur einigen wenigen Englischstunden konnte er Little Billy Goat Gruff viel zu sagen geben (vgl. Abb. 6). Abb. 6: Fairy Tales (Steffen): „I’m very very very….little! ! ! “ Bilderbücher als Tor zu Literalität und Lesefreude 91 Viele hervorragende Bilderbücher enthalten so gut wie keinen verbalen Text. Gerade diese Bücher sind meistens sehr gut geeignet für kreative Textarbeit, z.B. Good Night, Gorilla (Rathmann 1994) oder No, David (Shannon 1998). Schüler und Schülerinnen können Dialoge erfinden und mit Hilfsvorschlägen aufschreiben, sie können sich Titel zu den Bildern ausdenken, sie können Emails von Figur zu Figur entwerfen, oder sie kreieren Sprechblasen - nicht nur für die Menschen in den Bilden, sondern auch für Tiere, Häuser, Sonne, Mond, Wolken, Blumen, Spielzeug usw. 7. Fazit und Ausblick Die geringe Berücksichtigung englischsprachiger Kinderliteratur in der Lehrerausbildung führt dazu, dass Lehrende in ihrem Sprachunterricht in der Sekundarstufe vereinfachte Erwachsenenliteratur, wie Emma oder Jane Eyre, benutzen. Dies wiederum entmutigt heuristisches Lernen, denn Kinder, welche Novizen in der Welt sind, können nicht in der semiotischen Domäne der Erwachsenen heimisch sein. Viele Lehrende bedenken nicht die semiotische Domäne der Kinder (z.B. die magische Welt von Harry Potter, Muggles, Quidditch, Horcruxes, voller Exzesse und adoleszenter Selbstzweifel). Kinder können eine Textwelt mit Kindertexten kreieren, aber nicht unbedingt mit vereinfachten Erwachsenentexten, da der linguistische Zugang nur eine Seite der Medaille repräsentiert. Eine Folge ist, dass die Kinder keinen Zugang zum Text finden, ihr lebensweltliches Vorverständnis nicht aktivieren können und somit keine langfristige Lesemotivation ausbilden: „Unless recipients can establish a personal relationship with a work of art/ a piece of literature, its specific potential remains dead to them. To establish a personal relationship, addressees must become involved in literary texts.“ (Delanoy 2005: 55) Für die Förderung verschiedener literacies ist aber das Eintauchen in das Buch die Grundvoraussetzung. Daher soll dieser Beitrag auch als Plädoyer für den verstärkten Einsatz von altersgerechter Lektüre im Fremdsprachenunterricht verstanden werden - und dies bedeutet für den Anfangsunterricht vor allem den Einsatz von Bilderbüchern. 92 Janice Bland Quellen Primärtexte Browne, Anthony (1992). Zoo. London: Random House. Burningham, John (1977). Come Away From the Water, Shirley. London: Random House. Heide, Florence & Gilliland, Judith (illustrated by Lewin, Ted) (1990). The Day of Ahmed’s Secret. New York: Mulberry. Hollbrügge, Birgit & Kraaz, Ulrike (2004). Ginger 2 - Pupil’s Book. Berlin: Cornelsen. Rathmann, Peggy (1994). Good Night, Gorilla. New York: Puffin. Shannon, David (1998). No, David. New York: Scholastic. Sekundärtexte Bland, Janice (2007). „Literary Texts and Literacy Skills for the Youngest Language Learners.“ In: Elsner, Daniela; Küster, Lutz & Viebrock, Britta (Hrsg.). Fremdsprachenkompetenzen für ein wachsendes Europa: Das Leitziel „Multiliteralität“. Frankfurt a.M.: Lang, 299-316. Bryant, Peter E. et al. (1989). „Nursery Rhymes, Phonological Skills and Reading.“ Journal of Child Language 16, 407-428. Bryant, Peter E. et al. (1990). „Rhyme and Alliteration, Phoneme Detection, and Learning to Read.“ Developmental Psychology 26/ 3, 429-438. Cook, Guy (2000). Language Play, Language Learning. Oxford: OUP. Day, Richard & Bamford, Julian (1998). Extensive Reading in the Second Language Classroom. Cambridge: Cambridge UP. Delanoy, Werner (2005). „A Dialogic Model for Literature Teaching.“ ABAC Journal 25/ 1, 53-66. Hall, Geoff (2005). Literature in Language Education. Basingstoke: Palgrave. Kern Richard (2000). Literacy and Language Teaching. Oxford: UP. Krashen, Stephen (1993). The Power of Reading. Englewood: Libraries Unlimited. Krashen Stephen (1999). The Arguments Against Whole Language & WHY THEY ARE WRONG. Portsmouth: Heinemann. Bilderbücher als Tor zu Literalität und Lesefreude 93 McLaren, Peter L. (1991). „Culture or Canon? Critical Pedagogy and the Politics of Literacy.“ In: Minami, Masahiko & Kennedy, Bruce P. (Hrsg.). Language Issues in Literacy and Bilingual/ Multicultural Education. Cambridge, MA: Harvard Educational Review, 286-309. Möhle, Manuela (2008). Exploring the Use of Picturebooks in a Foreign Language Class: Zoo (Anthony Browne) in the Hauptschule, 5th grade. Unveröffentlichte Masterarbiet, Universität Hildesheim. New London Group (1996). „A Pedagogy of Multiliteracies: Designing Social Futures.“ Harvard Educational Review 66, 60-92. Nikolajeva Maria (2003). „Picturebook Characterisation: Word/ image Interaction.“ In: Styles, Morag & Bearne, Eve (Hrsg.). Art, Narrative and Childhood. Stoke on Trent: Trentham Books, 37-49. Nodelman, Perry (1996). „Illustration and Picture Books.“ In: Hunt, Peter (Hrsg.). International Companion Encyclopaedia of Children’s Literature. London: Routledge, 113-124. Volkmann, Laurenz (2000). „Unterhaltungsliteratur - Schülerinnen und Schüler beim Lesen begleiten.“ Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch 6, 4-10. Watson, Victor & Styles, Morag (1996). Talking Pictures. London: Hodder and Stoughton. Abbildungen Abb. 1: Briggs, Raymond (1980). The Snowman. London: Puffin. Abb. 2: Scieszka, Jon, illustrated by Smith, Lane (1989). The True Story of the 3 Little Pigs! London: Puffin. Abb. 3: Lottermoser, Elisabeth (2008). „I’m a terrible troll and will gobble you whole“, in: Bland, Janice, illustrated by Lottermoser, Elisabeth (2008). Fairy Tales. Braunschweig: Westermann, 5. Abb. 4-6: Schülerarbeiten von Ayscha, Maxi und Steffen. 94 G ABRIELE B LELL Der Leser als ‚Grenzgänger‘: Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen 1. Einleitung Der kompetente Lerner der Zukunft ist der auf unterschiedlichen medialen Repräsentationsebenen umfänglich Bedeutungen aushandelnde kulturelle Aktant (vgl. Cope/ Kalantzis 2000). Er ist somit nicht mehr (nur) der geübte Buch- und Textleser, sondern auch der kenntnisreiche und kritischkompetente Leser im Sinne eines Schauers aller Arten von visuellen Texten. In verschiedenen empirisch gestützten Untersuchungen seit 1997 konnte in diesem Kontext nachgewiesen werden, dass es für die fremdsprachliche Entwicklung dienlich sein kann, Leseförderung (im Sinne literarischen Lesens) und Medienerziehung (im Sinne der Förderung visueller Erziehung) stärker als gemeinsame und sich ergänzende und nicht als separate Aufgaben zu betrachten (vgl. z.B. Blell 2004). Insofern scheint es von Nutzen, Lesen in einem weiten Ansatz auch als transmedialen, d.h. medien-unspezifischen Prozess zu begreifen, in dem der Leser primär übergreifend schemageleitet und erst sekundär spezifisch mediengeleitet liest (frame theory). Im vorliegenden Beitrag sollen deshalb Überlegungen zur Entwicklung intermedialer Seh- und Lesekompetenzen für den Fremdsprachenunterricht entwickelt werden unter der Berücksichtigung der Erkenntnis, dass die Rezeption von Lese- und Bildtext immer auch subjektiv und kulturell determiniert ist. 1 1 Zur Ausbildung intermedialer Kompetenzen durch die Produktion von Bild- Text-Kombinationen vgl. den Beitrag von Wolfgang Gehring im vorliegenden Band. Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen 95 2. Intermediale Lese- und Sehkompetenzen Unser Lese- und Sehumfeld hat sich radikal verändert. Wenn noch Mitte des letzten Jahrhunderts nur einige wenige Werbeflächen unsere Stadtbilder prägten, so sind es heute Bilderfluten, statische und laufende Grafiken und Zeichen, unterschiedliche Sprachen, die zunehmend unser Lese- und Sehumfeld ausmachen. Die Schriftsprache als Lesesprache wird sukzessive nicht mehr nur durch ganz unterschiedliche Zeichensysteme ergänzt, sondern Proportionen werden massiv aufgebrochen. Bimodale gleichberechtigte Verzahnungen von Text und Bild gehören bereits ebenso zum Alltag wie ausschließliche Bildtexte. Mehr noch: „The screen is the site of the visual.“ (Kress 2003: 169) In den Kulturwissenschaften passiert ähnliches. Während der linguistic turn den erweiterten Textbegriff brachte und damit auch nichtsprachlichen Texten den Zugang zum Fremdsprachenunterricht öffnete, lenkt der iconic turn den Blick auf die dialektische Beziehung zwischen biologisch bestimmter Sinneswahrnehmung und kulturellen Sehgewohnheiten (vgl. Seidl 2007: 3). Alles Visuelle besitzt nicht nur illustrative Funktion, sondern ist, genauso wie das Schriftbild, eine „bedeutungsstiftende, bedeutungstragende und bedeutungsvermittelnde Instanz“ (ebd.). Beide verbinden sich in einer uns umgebenden wachsenden intermedialen, zunehmend bilddominanten Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt (vgl. Bolter/ Grusin 1999, Kress 1996). Nicht selten wird auch von einem intermedial turn gesprochen (vgl. Hedling/ Lagerroth 2002: 7, Wolf 2002: 15). Sollen unsere Schüler und Schülerinnen also kompetente Mitgestalter dieser Welt werden, reicht es nicht mehr aus, sie zu (nur) geübten Buch- und Textlesern zu machen. Wir müssen sie zu kenntnisreichen und kritisch-kompetenten Lesern und Schauern aller Arten von visuellen Texten erziehen. Notwendig ist die Entwicklung einer spezifisch intermedialen Lesekompetenz in der Mutterwie in der Fremdsprache mit einer Unterfütterung durch die Bildwissenschaft. Dabei geht es sowohl um die Fähigkeit, einzelne Wörter, Sätze und Texte flüssig zu lesen und im Textzusammenhang zu verstehen: Lesen als literalisierte schriftsprachliche Praxis (dieser Aspekt soll hier weniger berücksichtigt werden); es geht aber auch um ein erweitertes Leseverständnis in dem Sinne, ganze Seiten (inklusive Bilder etc.) als „integrated texts“ zu lesen bzw. zu betrachten. Kress (1996: 183) sagt: „We seek to break down the disciplinary boundaries between the study of language and the study of images.“ Gabriele Blell 96 Die Zielstellung der Entwicklung intermedialer und (inter-)kultureller Lese- und Sehkompetenzen 2 wird folglich begriffen als die Fähigkeit, (kombinierte) Bild- und Schrifttexte (Werbeplakat, Zeitschriftendoppelseite, website, hyperfiction etc.) als kulturelle Artefakte intermedial und medial zu lesen und sie im Wechselspiel eigen- und fremdkultureller Bezugskulturen zu interpretieren. Der Leser liest/ schaut dabei primär übergreifend schemageleitet, d.h. medienunspezifisch, und erst sekundär spezifisch mediengeleitet, d.h. im Hinblick auf Bild, Sprachtext, Grafik, Diagramm etc. Die Entwicklung dazugehöriger Teilkompetenzen lässt sich wie in Abb. 1 visualisieren. Die unterste Ebene, primär übergreifend-schemageleitetes Lesen und Sehen, ist die für die hier diskutierte Problematik interessanteste, an die sich das spezifische mediengeleitete Lesen und Sehen, Textanalyse und kritik sowie intermediales interkulturelles Lesen und Sehen anschließen. Insbesondere bei Bildschirmtexten ist ein Einstieg über medienübergreifende Codes wichtiger denn je, um sich zurechtzufinden. Dort ist es üblicherweise nicht (mehr) der Sprachtext, der dominiert, sondern das Design, die Logik des Bildes der Seite, die den Schrifttext unterordnet. Lineares (sequentielles) Lesen ist in unserem alltäglichen Seh- und Leseumfeld meist nur noch in zweiter Instanz gefragt. 2 Terminologisch bevorzuge ich hier den Begriff der ‚intermedialen Lese- und Sehkompetenz‘; zum einen, um medienübergreifende, d.h. intermediale Aspekte zu betonen, und zum anderen, um bewusst Anknüpfungspunkte herzustellen zu aktuellen curricularen Zielsetzungen im Fremdsprachenunterricht, wo gerade in der jüngeren Vergangenheit für die Sekundarstufe I Zielformulierungen für den übergreifenden Bereich ‚Hör-/ Sehverstehen‘ zu finden sind (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Niedersachsen, Baden-Württemberg) (vgl. Blell/ Lütge 2008, Thaler 2007: 13). Zielformulierungen im Bereich Lese-/ Sehverstehen müssten insofern unbedingt folgen. Daneben hat sich der Begriff der literacy etabliert, wenngleich langsam. Jedoch hat er bisher m.E. kaum in bildungspolitischen und curricularen Dokumenten Niederschlag gefunden. Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen 97 Textanalyse & -kritik Bildanalyse & -kritik Fähigkeit, Texte kritisch zu analysieren sowie Bilder semiotisch zu analysieren u. interpretierend zu verstehen Leseverstehen & Sehverstehen Fähigkeit, schriftsprachliche Texte verstehend zu lesen sowie Bilder aktiv wahrzunehmen und differenzierend zu verstehen und sprachhandlungsorientiert zu verarbeiten Intermediales (nicht-lineares) Lesen und Sehen: Fähigkeit, schemageleitet (overarching codes) fremdsprachliche schriftsprachliche Inhalte und Bildinhalte verstehend zu ‚erlesen‘ und sie sprachhandlungsorientiert zu verarbeiten Intermediale & (inter-)kulturelle Lese- und Sehkompetenz Fähigkeit, Bild- und Schrifttexte als kulturelle Artefakte intermedial und medial zu lesen und sie im Wechselspiel eigen- und fremdkultureller Bezugskulturen zu interpretieren. Entwicklung intermedialer & (inter-)kultureller Lese- und Sehkompetenz (Reading Literacy) als transmedialer, d.h. medien-unspezifischer Prozess, in dem der Leser primär übergreifend schemageleitet und erst sekundär spezifisch mediengeleitet liest (Bild, Sprachtext, Film). Es ist die Befähigung zu einem aktiven, kritischen und differenzierend-semiotischen sowie (inter-)kulturellen Lesen & Sehen und (fremd-)sprachlichen Handeln. Abb. 1: Intermediale und (inter-)kulturelle Lese- und Sehkompetenz 3. Aktuelle Auffassungen zum Lesen und Sehen in der Fremdsprachendidaktik Um den gewählten medienintegrativen Ansatz zu stützen, sollen an dieser Stelle zusammenfassend wichtige aktuelle Auffassungen zum Lesen und Sehen in der Fremdsprache kurz beschrieben werden. Gabriele Blell 98 Lesen und Sehen sind situierte sprachliche bzw. visuelle Praxen Der Leseprozess wird maßgeblich durch Sprachzeichen (Buchstaben, Worte, Sätze etc.) gesteuert, die visuelle Wahrnehmung hingegen durch Bildzeichen (Formen, Farbe, Struktur etc.). Die physiologischen und mentalen Prozesse der Wahrnehmung laufen dabei ähnlich ab. Einen Text lesen bzw. ein Bild zu betrachten/ einen Film zu sehen, bedeutet darüber hinaus auch, ihn zu ergänzen. Leser und (Zu-)Schauer befinden sich auf einem ständig wechselnden, narratologisch bzw. (bild-)dramaturgisch vorstrukturierten perspektivischem Pfad (‚wandering viewpoint‘) bzw. beim Filmschauen auf einer ‚perspektivischen Rallye‘ (vgl. Blell/ Lütge 2004: 401). Lesen und Sehen sind schließlich auch immer subjektiv, selektiv, also immer schon Interpretation. Lesen und Sehen sind kulturell etablierte Praxen Lesen und (bewusstes) Sehen sind immer abhängig von den eigenen Interessen und tradierten Gewohnheiten, aber auch von Lese- und Sehgewohnheiten anderer. Erfolgreiches Lesen und insbesondere das im Fremdsprachenunterricht dominierende literarisch-ästhetische Lesen wie auch erfolgreiches bild-/ filmanalytisches Sehen (close reading/ close viewing) sind immer auch eng an die umgebenden kulturellen Diskurse geknüpft, die es in einem wide reading/ wide viewing, d.h. durch kontextualisierende Verfahren zu erschließen gilt (vgl. auch Hallet 2007: 43). Lesen ist Sehen: Lesen ist eine intertextuelle und intermediale Praxis Verschiedene Texte erfordern vom Leser neben gewohnten Lesepraxen auch ein eher ganzheitliches, ‚schauendes‘ Lesen. So entdeckt man Gedichte, wenn man sie als gedruckten Text liest, oft über das Sehen, insbesondere Bildgedichte (concrete visual poetry), ehe man sie liest (Culler 1980: 57f.). Ähnliches passiert beim Lesen von Werbeplakaten, Programmen oder Kinoplakaten. Das Lesen vieler bildgestützter printmedialer Texte ist so zuallererst ein (verstehendes) Sehen. Eine zusätzliche Herausforderung stellen ohne Frage digital erzeugte Hypertexte dar. Leser rebzw. konstruieren den Text, indem sie durch entsprechende ‚Links‘ ihre ‚Lesepfade‘ wählen. Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen 99 Leser und Seher sind sich in ihren medialen und symbolischen Welten bewegende (kulturelle) Aktanten Lesen und Sehen sind äußerst aktive Prozesse. Der kompetente Leser und Seher der Zukunft ist der auf unterschiedlichen medialen Repräsentationsebenen umfänglich Bedeutungen aushandelnde kulturelle Aktant. Durch das Schaffen interessanter und anspruchsvoller inhaltlicher und unterrichtlicher Arrangements, die sich an der Lese- und Sehwelt der Lernenden orientieren, werden Lernende im Klassenzimmer und auch außerhalb am kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Diskurs partizipieren und sprachlich-handelnd tätig. Damit hat Lesen Anteil an der Identitätskonstruktion der Lernenden (z.B. im Hinblick auf Konzeptualisierungen oder Einstellungen). 4. Zur theoretischen Verortung einer intermedialen Lese- und Sehdidaktik Generell muss man sich sicher von der Vorstellung lösen, dass visuelle Strukturen in ihrer Gesamtheit allein auf der Basis von einfachen Analogien mit verbalen Strukturen verglichen werden können. Die Beziehungen scheinen komplexer: „The meanings which can be realized in language and in visual communication overlap in part, that is, some things can be expressed both visually and verbally; and in part they diverge - some things can be ‚said‘ only visually, others only verbally.“ (Kress 1996: 2) Ansatzpunkte sind daher sehr viel eher in Verbindungen genereller Art zu suchen. Die Frage lautet also: Wo lassen sich geeignete Schnittmengen finden, die einen intermedialen Lese-/ Seh-Ansatz lehr- und lernbar machen? Wo sind dafür theoretische Ansatzpunkte? Zwei Ansätze scheinen dafür möglich. 4.1 Multimedia & Social Semiotics (Semiosis) Wenn es um unterschiedliche Medien und Texte geht, muss natürlich der Zeichengedanke (signifier - signified) eine Rolle spielen und damit Fragestellungen, wie sich Systeme von Zeichen bedeutungstragend zueinander verhalten (langue). Geht es um ‚Schnittmengen‘, d.h. um mögliche Medienwechsel oder Medienverschmelzungen, ist es jedoch notwendig, die Gabriele Blell 100 Grenzen von Systemen zu überschreiten, wie es Vertreter der Multimedia Semiotics praktizieren. Sie untersuchen, wie verschiedene Zeichensysteme physikalisch und semiotisch in einen Text ‚integriert‘ werden: „Every material act and sign can be, and usually is, construed in relation to more than one system of sign relations.“ (Lemke 1998) Vertreter der Social Semiotics (Halliday, Kress, Lemke, Hodge, van Leeuwen u.a.) untersuchen darüber hinaus semiotische Praktiken in vornehmlich kulturellen Handlungskontexten. In ihrem Buch Reading Images: The Grammar of Visual Design entwickeln Kress und van Leeuwen 1996 einen in den Social Semiotics verorteten Ansatz, Images unterschiedlicher Art und schriftsprachliche Texte durch übergreifende, sogenannte overarching codes zu lesen. Auch Kress und van Leeuwen gehen dabei nicht von einer Opposition von Bild- und Schrifttext aus, die, wie vielerorts befürchtet, durch die ‚neuen‘ digital erzeugten Bilderfluten noch verstärkt wird, sondern davon, dass nicht nur Bild-Lesen, sondern auch das traditionelle printmediale Lesen und Schreiben Formen von visueller Kommunikation darstellen (vgl. Kress/ van Leeuwen 1996: 15). Schreiben, Lesen und Sehen sind für sie primär visuelle Kommunikationsprozesse. 4.2 Frame Theory - Intertextualitäts- und Intermedialitätsforschung - Erzählforschung Phänomene der Intermedialität (Mertens 2000), „Sonderfälle der Intertextualität“, wie sie Hallet (2002: 144) auch nennt, sind in den letzten Jahren Gegenstand verschiedener Untersuchungen und spätestens seit 2002 zum Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Didaktik geworden. Damit schiebt sich auch die Frage nach dem ‚Warum‘, nach der Funktion medialtextlicher Repräsentationen im kulturellen Diskurs in den Vordergrund (Funktionsgeschichte). Auch Wolf, der sich insbesondere dem Wechselverhältnis Literatur - Musik verschrieben hat, geht dabei von einem weiten Funktionsbegriff aus. So begreift er z.B. das intermediale Wechselspiel von Literatur und Musik als „analogy to the related intersemiotic form of intertextuality” (Wolf 2002: 231). „[D]as eigentliche didaktische Potenzial der Intermedialität“, wie Rymarczyk (2007: 331) schreibt, steckt für die Didaktik jedoch im Zusammenspiel von Texten „unterschiedlicher Provenienz“ (ebd.). In diese Richtung zielt auch Wolf, obwohl weniger didaktisch orientiert. Er entwickelt auf der Grundlage seines Ansatzes eine Art intermediale Erzähltheorie. Wolf begreift Erzählen als kulturell erworbene und mental gespeicherte kognitiv-schemageleitete Handlungen, die in Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen 101 verschiedenen Medien eine unterschiedliche mediale und kulturellsymbolische Realisierung erfahren und vom Leser primär übergreifend schemageleitet und erst sekundär spezifisch mediengeleitet ‚gelesen‘ werden (vgl. Wolf 2002: 29). 5. Mögliche Teilkompetenzen zur Entwicklung intermedialen Lesens & Sehens Im Folgenden sollen zwei Teilkompetenzen für die Entwicklung intermedialen Lesens und Sehens exemplarisch beschrieben werden, die jedoch beide auch miteinander verwoben sind und verschiedene Facetten möglicher unterrichtspraktischer Anwendung darstellen können. 3 5.1 Narrativ-orientiertes intermediales Lesen Erzählen gehört zu unseren wichtigsten alltäglichen sprachlichen Handlungen. Unsere gesamte Alltagswahrnehmung ist größtenteils narrativ sequenziert (emplotment) und reflektiert unser anthropologisches Bedürfnis nach Erklärungen und lebensweltlicher Orientierungshilfe (vgl. Straub 1998: 15). Im Modus des Erzählens verbindet sich auch unsere Alltagswelt mit medialen Inszenierungen unterschiedlicher Art: Bild, Film, Drama etc. Obwohl die grundlegende Logik eines Erzähltextes eher eine von Zeit und Sequenzierung ist und die eines Bildes eher von Räumlichkeit und Gleichzeitigkeit bestimmt wird (vgl. Kress 2003: 152), kann durch räumliches In- Beziehung-Setzen (display) von bedeutungstragenden Bildelementen zeitliches und sequenziertes Erzählen inferiert werden. So ist z.B. John Everett Millais Retribution (1854; vgl. Abb. 2) so gestaltet, dass die Anordnung von Bildelementen auf eine Geschichte schließen lässt: „Man marries first wife [Ehering], has two children by her, leaves her [die betrogene Frau verschafft sich Zugang zum Haus, erstauntes Dienstmädchen], meets second women, courts her, proposes 3 Möglichkeiten linearen und nicht-linearen intermedialen Lesens und Sehens am Beispiel sog. Hyperfiktionen sind von mir an anderer Stelle bereits thematisiert worden (vgl. Blell 2006b: 3-24). Gabriele Blell 102 marriage [Brauthaube, Kleidung, Blumen, Hut, Heirat noch nicht vollzogen - fehlender Ring]“ (vgl. Dannenberg 1996: 124f.). Abb. 2: John Everett Millais: Retribution (1854) Aufmerksames ‚Lesen‘ von Haltungen, Gesichtsausdrücken sowie Charakter-Konstellationen unterstützt die Melodramatik der Situation. Die dem präraphaelitischen Bild eingeschriebene Zentral-Perspektive ist vergleichbar mit der omniscient-Erzählperspektive. Ganz ähnlich kulturell geprägte, durch einen allwissenden Erzähler strukturierte Erzählphänomene lassen sich z.B. bei den viktorianischen Autoren Charles Dickens oder Anthony Trollope finden. Verfolgt man die Entwicklung westlicher Bildkunst weiter, wird man entdecken, dass z.B. Edward Burras The Snack Bar (1930; vgl. Abb. 3), ähnlich wie erzählkünstlerische Sprachtexte der Moderne (z.B. von Virginia Woolf, James Joyce oder Katherine Mansfield), nur eine erzählerische Momentaufnahme ohne jegliche Vorgeschichte ist. Dem Betrachter ist es nicht möglich, eine extern sichtbare Geschichte aus den bildlichen Informationen sowie der Emotionslosigkeit der Charaktere zu inferieren. Die eingeschriebene limited point of view-Perspektive, die sich auch in Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen 103 vielen Texten von Joyce, Woolf oder Mansfield finden lässt, stützt dieses Ergebnis. Multiperspektivisches Erzählen ist schließlich charakteristisch für viele gegenwärtige, auch postkoloniale literarische Texte. Auch diese Form des Erzählens ist in Bildern erkennbar und ließe sich, wie z.B. in Pablo Picassos Sleeping Nude (1932; vgl. Abb. 4) doppelt lesen: als Repräsentation eines schlafenden weiblichen Aktes zu einem ganz spezifischen Zeitpunkt aus mehreren Perspektiven oder als Visualisierung der Technik der mehrfachen Fokalisierung des gleichen Erzählmoments vom Standpunkt vieler character-focalizer (vgl. Dannenberg 1996: 129). Auch wenn Schüler und Schülerinnen die vom Maler vorstrukturierte Leerstelle - Auflösung der Zentralperspektive - nicht immer benennen können, haben Untersuchungen gezeigt, dass sie sehr wohl in der Lage sind, assoziative Umschreibungen vorzunehmen (vgl. Blell 2006a: 18). Auch vergleichende Analysen von Filmsequenzen werden die Schüler und Schülerinnen feststellen lassen, dass auch der Film mit ihm eigenen Mitteln erzählt und ihm z.B. durch die Kameraführung als eingeschriebener fiktionaler focalizer auch andere Ezählperspektiven zur Verfügung stehen (worm’s eye view, bird’s eye view etc.). Durch Heranziehen verschiedener medialer Texte und das Schaffen interessanter und erhellender Vergleichsmöglichkeiten (Romanauszüge etc.) haben Schüler und Schülerinnen sowie Studierende sichtlichen Spaß, unterschiedliche, aber auch Abb. 3 (links): Edward Burra: The Snack Bar (1930) Abb. 4 (oben): Pablo Picasso: Sleeping Nude (1932) Gabriele Blell 104 ähnliche Formen der Narrativisierung zu erkennen, die ihnen letztendlich narrative Zugänge zum Verstehen von Welt ermöglichen. 5.2 Ganzheitlich-integratives intermediales Lesen Jede Bild-/ Text-Kombination, ob bildgestützte Lehrbuchseite, Werbeplakat oder Website, erfordert heute ganz spezielle Lesekompetenzen. Wenn noch in der Gutenberg-Ära Bild-/ Text-Seiten meist entsprechend der Logik des Schreibens strukturiert waren (links/ rechts) und sich die Bilder unterordneten, folgen heute Bildschirm- und Zeitungsseiten (Bildzeitung) einer Art Bildgrammatik. Das Wort ist untergeordnet, und meist sind die Seiten von oben nach unten strukturiert. Doppelseiten in Zeitschriften, Lehrbüchern oder Magazinen können als ‚semiotisches Ganzes‘ gestaltet sein und eine dementsprechende kulturelle Lesepraxis einfordern. Denkbar für den Leseprozess ist ein vierstufiges Vorgehen, in dem sich die zu Anfang des Beitrags genannten Teilkompetenzen partiell widerspiegeln und während dessen erste Entscheidungen für die bestmögliche Lesestrategie bzw. einen rezipientenrelevanten reading path getroffen werden können (in Anlehnung an Kress 2003: 159ff.): 1. Modal scanning: orientierendes Lesen zum Erkennen unterschiedlicher medialer Repräsentationen (Text, Bild, Grafik, Diagramm etc.) 2. Paradigmatisches Lesen: Unterordnungen, Überordnungen oder Gleichrangigkeiten erkennen 3. Entscheidung für Leseansatz treffen: Lesen der Seite als Lesetext oder Bildtext (reading page as a text to be read OR as a text to be viewed) 4. Weiter-Lesen: medienspezifisches Lesen auf gewählter ,unterer‘ Ebene: Lesetext oder Bildtext Das paradigmatische Lesen (Punkt 2) stark bildgestützter Seiten wird durch bedeutungstragende semiotische Systeme geleitet, wie z.B. durch den Wert der Informationen, durch Hervorhebungen oder durch Rahmungen (vgl. Kress 2003: 183). Schaut man sich z.B. die beiden in Abb. 5 aufgeführten zwei Werbeanzeigen an: The Duchess of Alba - Spain (1989; Heimann 2005: 581) und Australia (1988; ebd.: 599), wären z.B. die folgenden Fragen von Interesse: Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen 105 Abb. 5: Paradigmatisches Lesen am Beispiel von Werbeanzeigen Informationswert: Wo werden Personen oder Textteile platziert? (links meist Bekanntes/ rechts Neues; oben meist Ideales - oft emotional/ unten Reales - oft faktenorientiert; zentral meist Wichtiges/ an den Seiten oft Unwichtiges) Hervorhebungen: Welche Personen oder Textteile werden hervorgehoben? (Hervorhebungen von Elementen, um den Betrachter bzw. Leser einzufangen oder Hierarchien zu verdeutlichen etc.; Vordergrund/ Hintergrund; relative Größe; Kontrast, Farbe, Schärfe etc.) Rahmungen: Welche Personen oder Textteile werden gerahmt? (Rahmenelemente zum Setzen von Trennlinien: Vorhandensein/ Nichtvorhandensein) Für den Englischunterricht wären ableitend folgende analytische und kreative Lese- und Sehaktivitäten denkbar: left - right top - down centre - margin colour - contrast foreground - background size frame intermedial codes Gabriele Blell 106 While-intermedial viewing & reading activities Questions for analysis How are the blocks of information organized spatially? How are they organized in relation to each other? What meaning is connected with the given structure (culturally, emotionally…)? What about the colour modulation (saturation, differentiation, absence of background)? Be creative. Cut the ad into …. blocks of information. Organize them in a different way compared to the original. Describe the effect. What is different? Eliminate one block of information. Design a new one (e.g. Choose a different target group; choose a different topic). Redesign The Duchess of Alba - Spain 1989 (originally a printed ad) as a website-entry. What has to be changed? Why? What about the picture? What about the text? Develop an argumentation for your new product. 6. Ausblick Im Beitrag wurden intermedial-integrative Lesestrategien beschrieben, die hinführende Textverarbeitungsfunktionen erfüllen können (pre-reading und -viewing). Weitere medienübergreifende interaktiv-semiotische Zugangsweisen müssen gefunden werden. Denkbar wären hier der Genreansatz oder auch Konzepte von Synästhesie. Aus dem Bereich der Cultural Studies gibt es eine Reihe von Konzepten, die intermedial-vergleichend als ‚Leseschablonen‘ dienen können, wie z.B. race, class, gender, hybridity, die jedoch auf einer eher fortgeschrittenen Ebene intermedialen Lesens und Sehens ihren Platz haben sollten (while-reading und -viewing). Erfolgreich erprobte Zugangsweisen gibt es dazu bereits viele (vgl. Delanoy/ Volkmann 2006, Hallet/ Nünning 2007). Abschließend soll angemerkt sein, dass man mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass unsere Schüler und Schülerinnen bereits durch Computer- und Gameboy-Nutzung sowie Videospiele im häuslichen Bereich hinsichtlich intermedialen Lesens kulturell sozialisiert sind und diese Strategien möglicherweise bereits gewohnheitsmäßig eher nutzen als gelernte Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen 107 traditionelle Lesestrategien, wenn auch möglicherweise unbewusst und nicht immer unbedingt verstehend. Empirische Untersuchungen sollten hier weitreichenderen Aufschluss geben. Eine stufenspezifische Verknüpfung klassischer Leseentwicklung und der Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenz ist aus fremdsprachendidaktischer Perspektive unbedingt notwendig. Schließen möchte ich mit einem Zitat von Gunther Kress (2003: 166): The work of reading, and the demands made on readers, will, in this new landscape, be different and greater. The anxieties of cultural pessimists about the ‘decline in cultures of reading’ (sometimes expressed more recently in that questionable phrase ‘dumbing down’) are premature. The opposite will very much be the case. Quellen Sekundärtexte Blell, Gabriele (2004). „(New)Media Literacy: Gedanken zur Entwicklung von fremdsprachiger Lesekompetenz bei der Arbeit mit Hyperfiction.“ In: Bosenius, Petra & Donnerstag, Jürgen (Hrsg.). Interaktive Medien und Fremdsprachenlernen. Frankfurt a.M.: Lang, 45-64. 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Im Internet auf: www.victorianweb.org/ painting/ millais/ drawings/ 45.html (7.12.2009). Abb. 3: Burra, Edward: The Snack Bar (1930). London: Tae Gallery. Im Internet auf: www.tate.org.uk/ servlet/ ViewWork? workid=1847& searchid=19232&tabview=image (7.12.2009). Abb. 4: Warncke, Carsten-Peter (1995). „Pablo Picasso, Sleeping Nude (1932).“ In: ders. Pablo Picasso. Köln: Taschen, 334. Abb. 5: Heimann, Jim (Hrsg.) (2005). „Goya, The Duchess of Alba - Spain (1989).“ In: All American Ads. Köln: Taschen, 598 und Heimann, Jim (2005). „Australia Tourism Ad.“ In: All American Ads. Köln: Taschen, 599. 110 V ISUALISIERUNGS - FORMEN ZUR W ISSENS - UND L ERNORGANISATION 111 U DO O.H. J UNG Tafelbild und Tafelanschrieb: Stiefkinder der Fachdidaktik 1. Einleitung Eine Lehrperson, die versucht, mit ihren Schülerinnen und Schülern und unter Zuhilfenahme einer Tafel, durch chalk and talk also, ein bestimmtes Lernziel zu erreichen, das war und das ist - Arbeitsprojektor hin, Power- Point her - der locus classicus auch des modernen Fremdsprachenunterrichts, dessen konkrete Erforschung, soweit es dabei um den Einsatz von Tafelskizzen geht, mit Hilfe von Videoaufzeichnungen gerade erst begonnen hat (vgl. Pitsch 2007). Im Grunde genommen kann man sich deshalb nur wundern, so wie jener Fachleiter, der im September 1987 schrieb: „Überblickt man die didaktische Literatur der letzten 30 Jahre [...], so ist man erstaunt, daß einem so wichtigen Gegenstand wie dem Tafelanschrieb [...] so gut wie keine Beachtung zuteil geworden ist.“ (Hilbert 1987: 1) Zwanzig Jahre später hat sich an dieser Situation nicht gar so viel geändert. Die Stiefkinder der Fachdidaktik, Tafelbild und Tafelanschrieb, sind ephemere Gebilde. Sie werden vom Schülertafeldienst vor Beginn der neuen Stunde beseitigt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Das wird sich erst ändern, wenn die auf Interactive Whiteboards (Glover et al. 2005, Smith et al. 2005) projizierten Tafelanschriebe im Computer gespeichert und zu Beginn der folgenden Stunde wieder hervorgeholt werden können. Aber selbst oder gerade dann muss sich der bzw. die Lehrende Gedanken darüber machen, welche Aufgaben sein bzw. ihr Tafelanschrieb im Unterricht übernehmen und wie er aufgebaut sein soll. Es ist in diesem Zusammenhang auch sehr bezeichnend, dass Kognitionspsychologen, die sich des Computers und der Mapping-Technik bedienen, auf „die didaktische Tradition der Tafelbilder“ (Bernd et al. 2000: 17) rekurrieren, um komplexe Sachverhalte darzustellen. Bis zu dem Tag, an dem die letzte Kreidetafel abmontiert wird, haben wir einen Mix der unterschiedlichsten Medien in den Klassenzimmern zu gewärtigen. Es geht Udo O.H. Jung 112 nicht allein um Multi-Media oder Multimedia, es geht um die Integration alter und neuer Medien in einem Medienverbund. Es geht um Omnimedia (vgl. Jung 2002). So hundertprozentig Recht hatte der eingangs zitierte Fachleiter nun aber doch nicht. Denn wenn man die fachdidaktische Literatur der vergangenen 50 Jahre nicht nur überblickt, sondern gründlich durchmustert, dann findet man allein in den Zeitschriften für den Englischunterricht ca. 250 Tafelanschriebe zu den unterschiedlichsten Themenbereichen. Sie verteilen sich jedoch nicht gleichmäßig über die Arbeitsfelder. Es kommt zu Schwerpunktsetzungen. Die Autoren sind offenbar der Meinung, dass sie einiges besonders gut können, und dass ihre Leser umgekehrt gerade dies in besonderem Maße benötigen. Versieht man die Einzeldarstellungen mit Schlagwörtern zur Charakterisierung des Inhalts - dadurch kann es passieren, dass einem Aufsatz mehrere dieser Schlagwörter zugeordnet und mehr Schlagwörter als Aufsätze gezählt werden - dann ergibt sich die folgende Statistik: Unterrichtsgegenstand Zahl der Tafelschriebe Grammatik 162 Literatur 127 Textarbeit 15 Fernseh-/ Filmarbeit 12 Musik/ Lieder 12 Landeskunde 12 Bildbetrachtung 9 Wortschatzarbeit 9 Die neuralgischen Punkte des Fremdsprachenunterrichts Englisch, soweit sie sich in der Zahl der publizierten Tafelanschriebe spiegeln, sind damit klar bezeichnet. Sie heißen ‚Grammatikarbeit‘ und ‚Literaturunterricht‘. Die anderen Unterrichtsgegenstände sind demgegenüber praktisch bedeutungslos. Fragt man weiter, warum denn chalk and talk so häufig zum Einsatz kommen, verweist einen dieselbe fachdidaktische Literatur auf die geballte Kraft zweier Sinnesmodalitäten, mit deren Hilfe das Lernen erleichtert und Lernschwierigkeiten überwunden werden können, auf Hören und Sehen. Viele Autoren (Duckworth 1993; Grau/ Heine 1982; Hunziker 1973; Tafelbild und Tafelanschrieb 113 Novicicov 1971; Thomas 1992) stimmen mit leichten Abweichungen darin überein, dass 10% of what we read 20% of what we hear 30% of what we see 50% of what we see and hear - so schildert es Duckworth (1993: 1) - tatsächlich behalten wird. Weidenmann (1991) warnt ausdrücklich vor der Unseriosität solcher Zahlen, deren Ursprung nicht zu ermitteln ist. Jedoch finden sie eine Stütze in der Berufserfahrung von Lehrerinnen und Lehrern aller Couleur, die sich zur Erreichung ihrer Ziele manchmal ganz spontan der Tafel bedienen, in aller Regel aber den Einsatz dieses Leer- und Transportmediums sehr sorgfältig planen. Die Tafel, dies sei erläuternd hinzugefügt, ist (zumindest am Anfang) leer und transportiert fremdgenerierte, nicht aber wie die Prozessmedien Rundfunk und Fernsehen, eigengenerierte und beigemischte Botschaften (zu den Termini vgl. Jung 2002). In einer früheren Arbeit (Jung 1998) hatte ich einen Unterschied gemacht zwischen dem, was die Lehrperson als Planungsgrundlage im Kopf oder auf einem kleinen Zettel hat, wenn sie die Klasse betritt - das Tafelbild - und dem, was an der Tafel steht, wenn die Stunde zu Ende ist, dem Tafelanschrieb. Tafelbild und Tafelanschrieb ähneln sich, identisch sind sie in aller Regel nicht. Die intervenierende Variable ist die 45minütige Unterrichtsstunde. Der Ausdruck ‚Tafelanschrieb‘ verführt nun allerdings dazu, an minder Wichtiges, an Vorläufiges, an Unstrukturiertes zu denken. Und in der Tat, eine Kritikerin meiner Terminologie (Hufeisen 1999: 2) merkte an, dass es „zuerst um den eher unstrukturierten und nicht systematischen Tafelanschrieb“ gehen müsse, der dann durch „entsprechende didaktischmethodische Aufbereitung zum Tafelbild“ (Hervorhebungen nicht im Original) weiter zu entwickeln wäre. Tatsächlich ist es ja häufig so, dass die Lehrenden zu Beginn der Stunde an Bekanntes anknüpfen und abfragen, was die Schülerinnen und Schüler bereits wissen, um einen Advance Organiser (Ausubel 1960) herzustellen. An der Tafel muss auch dafür Platz sein. In der Literatur (z.B. Piepho 1985) wird vorgeschlagen, für Vorwissen und für regelmäßig Wiederkehrendes ganz bestimmte Tafelbereiche zu reservieren, damit die Udo O.H. Jung 114 Lernenden von einem Positionseffekt profitieren können: Spontannotizen immer auf dem linken äußeren Flügel - so vorhanden -, Hausaufgabenstellung immer auf dem rechten äußeren Flügel, neue Lexik innen links, (Signal-)Grammatisches immer rechts, so dass die Mitte frei bleibt für den eigentlichen Tafelanschrieb, den man am Ende der Stunde bei Bedarf auch zwecks Rekapitulation wieder zudecken kann. Ob ein so fein gesponnenes Netz die Belastungsprobe des tatsächlichen Unterrichts immer übersteht, mag dahingestellt bleiben. Viel wichtiger aber als das, was die Schülerinnen und Schüler bereits wissen oder wider Erwarten schon wieder vergessen haben, ist das, was sie noch nicht wissen und sich deshalb im Verlauf der Stunde zusammen mit ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer an der Tafel erarbeiten. Den Weg dorthin und das Ergebnis hält der Tafelanschrieb fest. Dabei spielen die verschiedensten Faktoren eine Rolle. Ihnen wenden wir uns nun zu. 2. Tafelsysteme Kein Lehrer kann es sich leisten, seinen Unterricht ohne genaue Kenntnis des jeweiligen Tafelsystems, mit dem er am nächsten Tag konfrontiert wird, zu planen. Die Hersteller warten mit teilweise euphemistischen Bezeichnungen für Ihre Produkte auf. ‚Kommunikations-‘‚ oder ‚Langwandtafel‘ nennen sie die einfache, fest an der Wand montierte Einflächentafel. Die auch fahrbare ‚Wendetafel‘ verfügt, wie der Name schon sagt, über zwei sich gegenseitig ausschließende Schreibflächen. Weder die Kommunikations-/ Langwandtafel noch die Wendetafel sind in der Höhe verstellbar. Dazu bedarf es der ‚Schiebetafel‘, die, wenn sie über zwei gegeneinander verschiebbare Flächen verfügt, auch ‚Säulentafel‘ genannt wird. Sie muss mit Bedacht beschrieben werden, weil die eine Hälfte das Geschriebene der anderen Hälfte leicht verdecken kann. Am häufigsten anzutreffen ist in Klassenzimmern die auch höhenverstellbare ‚Klapp-‘ oder ‚Flügeltafel‘ mit einer maximalen Breite von nahezu 4 Metern. (Wir übergehen hier die Unterschiede in der Tafeloberfläche, die sich in den englischen Termini blackboard, greenboard und whiteboard spiegeln und konzentrieren uns auf die Informationsmenge der Tafeln.) Viele Hersteller haben ihre Tafeln mit Linien ausgestattet, deren Abstände auf Erfahrungswerten beruhen und helfen sollen, dass auch die Tafelbild und Tafelanschrieb 115 Schülerinnen und Schüler in der letzten Reihe das Angeschriebene ohne Mühe entziffern können. Respektiert die Lehrperson diese Vorgaben, bleiben ihr nach Abzug der Zwischenräume ganze sechs Zeilen auf der Standardtafel (298 cm x 118 cm). Die Verteilung der Information auf dem verfügbaren Raum will deshalb sorgfältig geplant werden. Wer neben der Tafel oder in Verbindung mit der Tafel gelegentlich den Arbeitsprojektor nutzt (zu seiner Funktion im Fremdsprachenunterricht vgl. Jung 2006), versteht warum. Und er versteht auch, warum man die Ausstattung der Unterrichtsräume mit Tafeln und Projektionsflächen nicht fachfremden Personen überlassen darf, deren mangelhaftes Verständnis des Unterrichtsgeschehens die gleichzeitige Nutzung von Tafel und Arbeitsprojektionsfläche verhindert, weil sie z.B. übereinander montiert worden sind. 3. Die Lehrperson und die Lernenden Zugegeben, es mag die von der eingangs zitierten Kritikerin vorgesehene Situation geben, in der eine Lehrperson aus Unstrukturiertem und Nichtsystematischem, aus einer Ansammlung von Notizen ein strukturiertes Ganzes macht. Einem solchen Lehrer oder einer solchen Lehrerin wird sie deshalb jedoch nicht unterstellen dürfen, dass er bzw. sie unvorbereitet in den Unterricht gegangen sei. Was da als unstrukturiert und unsystematisch an der Tafel erscheint, als Sammelsurium also, das hat die Lehrperson sich zuhause genau überlegt, um die zunächst noch verborgene Struktur daraus langsam ableiten zu können. Wäre es anders, müsste man sie entweder einen Hasardeur schimpfen oder sie einen besonders kreativen Art Director nennen. Es gibt Momente im Klassenunterricht, in denen auch die kreativsten und kooperativsten Lehrenden vortreten und führen müssen. Dafür sind sie ausgebildet worden. Die Arbeit an der Tafel ist ein Beispiel dafür, wie Lehrende dieser ihrer Verantwortung nachkommen. Als Udo Münnich vor beinahe 40 Jahren seine „Zehn Regeln für den Tafelanschrieb im Sprachunterricht“ publizierte - sie blieben wie so vieles andere zum Thema weitgehend unbeachtet - da bezogen sich acht der zehn Regeln auf das Verhalten der Lehrenden und nur zwei auf das der Schülerinnen und Schüler. Auch wenn so manches davon dem damals vorherrschenden audiolingualen Dogma geschuldet ist, behalten diese Regeln viel von ihrer Gültigkeit. Freilich, wenn Münnich vorschlägt, die Lehrenden mögen von den Lernenden schlecht ausgesprochene Wörter oder Sätze an Udo O.H. Jung 116 die Tafel schreiben, dann spricht er dem Medium eine kompensatorische Funktion zu. Der Tafelanschrieb fungiert hier als bequemer Ausweg für Wiederholung plus Korrektur durch andere Schülerinnen und Schüler. Wir haben es mit einem Fall von Tafelmissbrauch zu tun. Die zwei auf die Schülerinnen und Schüler gemünzten Regeln von Münnich beziehen sich auf den in den Pausen zu verrichtenden Tafeldienst und die Möglichkeit, den von der oder dem Lehrenden gefertigten Tafelanschrieb am Ende der Stunde abzuschreiben. So wichtig es für die Schülerinnen und Schüler ist, das schwarz auf weiß Geschriebene mit nach Hause zu nehmen, sollten sie nicht auf eine Statistenrolle beschränkt bleiben, sondern nach Möglichkeit von der oder dem Lehrenden in die Arbeit am Tafelanschrieb eingebunden werden. Es gibt Unterrichtsphasen, in denen das u.U. als hemmend und lästig erscheint, und andere wiederum, in denen die Lehrperson gezielt den Rhythmus verändert - vom schnellen Fortschritt hin zur Konsolidierungsphase. War der Unterricht zunächst stark vom vorplanenden, erinnernden, zeigenden, fragenden und dirigierenden Lehrer geprägt, der die Ergebnisse auch eigenhändig protokollierte, so können nunmehr einzelne Schüler vortreten, den Unterrichtsgang rekapitulieren und auch den Tafelanschrieb erläutern, ergänzen, vervollständigen, hinterfragen, ja sogar korrigieren. Der Tafelanschrieb wird dabei zum Taktgeber für den Unterrichtsrhythmus, und die Schülerinnen und Schüler zu Partnern des Lehrers. Und darin liegt natürlich auch ein nicht zu unterschätzendes Motivationselement. Man wird ein Stück weit aus der Abhängigkeit entlassen oder herausgefordert. So kann die Lehrperson etwa bei anderer Gelegenheit einen Stimulus an die Tafel schreiben und die Reaktionen der Gruppe abwarten, um daraus und im Gespräch ein Thema zu entwickeln. Die Herausforderung führt zu aktiver Teilnahme, deren Rückstoß in stärkere Schülermotivation mündet. 4. Vom Tafelanschrieb und seinen Funktionen Im Verlauf der bisherigen Erörterungen ist bereits deutlich geworden, dass Tafelanschriebe verschiedenartige Funktionen erfüllen können. Diesem Aspekt wenden wir uns nun weiter zu, nicht ohne den generellen Hinweis auf das eigentlich Selbstverständliche, dass sich Tafelanschriebe nämlich mit dem Fortschritt des Lehrplans verändern. Während im Anfangsunterricht die Hauptsatzlokomotive zahlreiche Nebensatzwaggons ankoppeln, Tafelbild und Tafelanschrieb 117 ziehen und wieder abkoppeln kann, vermindert sich die Anschaulichkeit im Fortgeschrittenenunterricht bis hin zu einer Zeichensprache, die Kodierungen beinhaltet. Der vorhin als negativ eingestuften kompensatorischen Funktion steht eine Reihe von positiven Funktionen gegenüber. Glücklich (1990) nennt deren drei für den altsprachlichen Unterricht. Es sind dies die Motivationshilfe, die Erkenntnishilfe und die Reproduktionshilfe, wobei im Falle des modernen Fremdsprachenunterrichts neben der Reproduktion durchaus auch die Produktion zu stehen kommen könnte. Was es mit der Motivationshilfe auf sich hat, haben wir am Beispiel des in die Tafelarbeit mit einbezogenen Lernenden bereits gesehen. Die zu Beginn der Stunde durch ein einziges in GROSSBUCHSTABEN an die Tafel geschriebenes Wort erregte Aufmerksamkeit wird erneuert und wach gehalten. Die Lernenden können den Weg zurückverfolgen, vom fremd- oder selbstgewählten Einstieg über die einzelnen, möglicherweise kooperativ bestimmten Wegmarken bis hin zum momentan erreichten Stand. Das durch anschauliche Darstellung erleichterte Verständnis der behandelten Sache tut ein Übriges, um die dauerhafte Mitarbeit der Schülerinnen und Schüler zu sichern: Nothing succeeds like success. Was nun die Erkenntnishilfe angeht, so bedient sie sich der verschiedensten Mittel. Neben dem Schriftbild und seinen verschiedenen Größen und Formen gehören dazu auch Farbe und zahlreiche visuelle Stützen (Kreise, Quadrate, Rechtecke, Dreiecke, Klammern, Unterstreichungen, Pfeile, Bögen) sowie die Anordnung der Einzelelemente zu einem Ganzen. Ein Beispiel möge dies verdeutlichen: Auch ohne Kenntnisse des Russischen wird dem Betrachter des folgenden Tafelanschriebs von Horst Striezel (vgl. Abb. 1) sofort aufgehen, dass es hier um die Erarbeitung von Wortstämmen geht, die durch Präfixe, Suffixe und Flexionsendungen erweiterbar sind. Der Lehrer bzw. die Lehrerin hat sie auf der rechten Tafelseite so untereinander angeordnet und hervorgehoben, dass das Muster deutlich aufscheint. Wir haben es mit einem relativ einfachen Tafelanschrieb zu tun, dessen Elemente nur schwach miteinander verbunden sind. Würde man eines davon löschen, verlöre die verbleibende Information kaum etwas von ihrem Aussagewert. Der Tafelanschrieb wäre defektiv, aber nicht defekt. Auch die Reihenfolge, in der die einzelnen Elemente an die Tafel geschrieben worden sind, ist ohne Belang. Das ist nicht immer so. Udo O.H. Jung 118 Abb. 1: Tafelanschrieb Die Darstellung der berühmten, oft behandelten (Alecksic-Hill 1986; Müller 1975) oder adaptierten (Butovsky/ Creatore 1988; Mowat 1991; Toyne 1978), an die neutestamentarische Erzählung von den Heiligen Drei Königen anknüpfende frühe Kurzgeschichte „The Gift of the Magi“ des Amerikaners O. Henry, in der sich die Wege zweier Protagonisten kreuzen, bevor sie am Heiligen Abend wieder zusammenfinden, kann schwerlich an beliebiger Stelle begonnen werden, und wenn einzelne Teile daraus entfernt werden, verliert der Tafelanschrieb die dritte der ihm zugeschriebenen Fähigkeiten, nämlich den Schülerinnen und Schülern zu helfen, den Unterrichtsgang zu rekonstruieren. Abb. 2: Tafelanschrieb zu „The Gift of the Magi“ Tafelbild und Tafelanschrieb 119 Diese Rekonstruktion findet entweder am Ende der Stunde statt, wenn die Lehrperson zusammen mit den Schülerinnen und Schülern versucht, die Ergebnisse abzusichern und/ oder am Nachmittag, wenn die Schülerinnen und Schüler ihre Unterrichtsprotokolle hervorholen und sich Rechenschaft darüber ablegen, was man sich am Vormittag erarbeitet hat. Hier liegen die Nahtstelle zur Hausaufgabe und der Vorausweis auf mögliche Prüfungen, wenn es den Lehrenden gelingt, einen sinnvoll weiterführenden und motivierenden Arbeitsauftrag zu formulieren (Aßbeck 2006, 2007). Zur Darstellung noch komplexerer Sachverhalte benutzt man Strukturdiagramme (vgl. Walter 1982), die so undurchsichtig werden können, dass ein Außenstehender die Unterrichtsstunde nicht mehr rekonstruieren kann (vgl. dazu beispielsweise die bei Volbers 1980 abgedruckten Tafelanschriebe). Für die Lernenden hingegen sind sie eine Art Stenogramm, dessen Auslassungen sie ohne weiteres einfügen können, weil sie Zeugen der Erstellung waren und deshalb die Reihenfolge der Einträge kennen; weil sie um die Bedeutung einzelner Gestaltungsmittel (Kästchen, Großbuchstaben, Pfeile, Klammern etc.) wissen und ihrer Platzierung im Gesamtgefüge Gründe zuordnen können. Tafelanschriebe haben, wenn sie gut gemacht sind, für die Schülerinnen und Schüler auch eine Vorbild- oder emanzipatorische Funktion. Gleichgültig ob der Tafelanschrieb nun ausschließlich aus Lehrerhand stammt oder in gemeinsamer Anstrengung von Lehrperson und Lernenden entstanden ist, sichtbar gemachte Strategieschritte können auf neue Situationen übertragen werden (Alvermann/ Boothby 1986; Jiang/ Grabe 2007; Suzuki 2006). Die Reduktion auf das Wesentliche und die übersichtliche Anordnung von Strukturelementen helfen den Schülerinnen und Schülern in einem späteren Stadium ihrer Ausbildung gar, selbstständig Notizen anzufertigen (Badger et al. 2001; Clerehan 1995; Fajardo 1996; White 1997). Wer das bei seinen Lehrerinnen und Lehrern nicht frühzeitig abgucken kann, der wird es nicht leicht mit dieser Fertigkeit haben. Hinzu kommt, dass es mit bloßer Rezeption nicht getan ist. Der Einbezug der Schülerinnen und Schüler in die Tafelarbeit ist zwar ein erster Schritt zur Verselbständigung, letztes Ziel aber ist die Präsentation von Sachverhalten ohne Gängelband. Je früher Lernende dazu Gelegenheit erhalten, desto nachhaltiger die Wirkung. Nimmt man nun die dem Tafelanschrieb zugewiesenen Leistungsmöglichkeiten - Motivations-, Erkenntnis-, Protokoll-, Vorbildfunktionen - zusammen, dann spricht doch vieles dafür, dass dieses zentrale Element des Udo O.H. Jung 120 Fremdsprachenunterrichts vom Lehrer, wenn nicht „exakt vorgeplant“ (Mindt 1979: 171), so doch gründlich vorbereitet werden will, damit dieser nicht Gefahr läuft, sich „am Ende einer Unterrichtsstunde ganz woanders wiederzufinden, als er es eigentlich beabsichtigt hatte“ (Röhling 1982: 476). Allerdings, wer als Lehrer darauf besteht, sein zu Hause geplantes Tafelbild eins zu eins in einen Tafelanschrieb umzusetzen, der tut dies unter Umständen zu seinem und seiner Schülerinnen und Schüler Schaden. Das Tafelbild ist kein Impromptu, aber es darf auch nicht, wie Röhling (1980: 490) weiter bemerkt, zur „didaktischen Fessel“ werden. Die von den Lehrenden zu erlernende Kunst besteht darin, die Balance zwischen den Extremen zu wahren. Dabei hilft immer die Besinnung und die Rücksichtnahme auf die Begünstigten der Tafelarbeit. Die Lernenden nehmen eine mittlere Position ein, von der aus sie das Geschehen beeinflussen können. Ein Reflex ihres Umgangs mit dem Lernstoff wird sich im Tafelanschrieb wiederfinden, wenn der Lehrer bzw. die Lehrerin sie als Partner akzeptiert. Andererseits gilt jedoch, dass die Arbeit an der Tafel ein Aspekt von Fremdsprachenunterricht ist, der strukturell lehrerorientiert bleibt. Der Erzieher bzw. die Erzieherin muss hier Führungsarbeit leisten, ganz im Sinne des lateinischen educare. Wer diesen Vorgang umstülpen oder abmildern will, muss sich der Methode ‚Lernen durch Lehren‘ (Martin 1994) annähern und dabei immer darauf achten, dass er nicht eine Kopie traditionellen Lehrerverhaltens erhält. 5. Vom Tafelanschrieb zum Wandbild Spräche die Chronologie nicht dagegen, könnte man das Poster als missing link zwischen Tafelanschrieb und Wandbild ansprechen. 1 Es bedarf, soll es von den Schülerinnen und Schülern gefertigt werden, des Vorbilds einer ihre Tafelbilder sorgfältig planenden Lehrperson. Ich möchte abschließend auf eine Weiterungsmöglichkeit aufmerksam machen: das kooperativ gefertigte Wandbild (vgl. Rampillon 1999). Die normalerweise mit Angeboten vollgestopften Verlagskataloge enthalten heutzutage keine Wandbilder mehr. Aber in den 1970er Jahren gehörten sie noch zum Handwerkszeug der Lehrenden (vgl. Lechler 1972). Betrachtet man die bei Reinfried (1992) abgedruckten Exemplare, fällt sofort auf, dass sich zwischen dem 1 Zum Postereinsatz im Fremdsprachenunterricht vgl. Gehring (2008), den Beitrag von Gehring im vorliegenden Band sowie Rowley-Jolivet (1999). Tafelbild und Tafelanschrieb 121 nur temporär im Klassenzimmer anwesenden Tafelanschrieb und dem (von Künstlerhand gestalteten und auf Karton montierten) Wandbild ein Graben auftut. Der Tafelanschrieb ist sehr spezifisch auf die einzelne Stunde zugeschnitten, das Wandbild ist relativ unspezifisch, damit es die von Driesch und Marner (1983) bezeichneten Unterrichtsfunktionen - Bedeutungsvermittlung, Verständnishilfe, Übungssteuerung, Transferhilfe, Diskussionsbasis und Leistungskontrolle - zu wiederholten Malen erfüllen kann. Und dennoch gibt es gleitende Übergänge zwischen diesen beiden Unterrichtshilfen, wie das folgende Beispiel aus dem Literatur- und Landeskundeunterricht zeigt. Die Kenntnisse unserer Schülerinnen und Schüler, was die geographischen, historischen und siedlungsgeschichtlichen Fakten der Zielsprachenländer angeht, sind naturgemäß sehr dürftig. Das liegt nicht zuletzt daran, dass uns Lehrenden zwar Shakespeares und (in geringerem Umfang) Miltons Werke nahegebracht worden sind, nicht aber die Wucht des Einschlags dieser beiden (oder anderer) Autoren in bestimmten Landesteilen. Dass den Schotten Robert Burns stärker am Herzen liegt als Thomas Hardy, hätte man ahnen können. Aber hier geht es nicht um Regionalismus oder local colour. Es geht um erklärungsbedürftige Differenzen im kulturellen Gedächtnis der Inselbewohner mit Bezug auf Shakespeare und Milton. Die Elle, mit der wir die Echostärke der beiden Autoren messen, ist das Straßenschild, genauer, die Häufigkeit, mit der den beiden in England, Schottland und Wales Straßen gewidmet worden sind. Die Royal Mail stellt eine Datenbank bereit (http: / / www.streetmap.com/ StreetNames/ Default.aspx), mit deren Hilfe festgestellt werden kann, in welchen Städten die beiden Autoren durch die Benennung von Straßen geehrt worden sind. Mit Hilfe des Arbeitsprojektors wirft man eine Leerkarte Großbritanniens an die Wand. Das Papier dazu erhält man kostenlos aus der Rotationsmaschine der lokalen Zeitung. Darauf werden in jeder Stunde die Städte markiert, über deren Position Google (http: / / maps.google.de) Auskunft erteilt. Es entsteht so ein additiver Tafelanschrieb, der als permanenter Aushang, als kooperativ gefertigtes Wandbild im Klassenraum verbleibt. Udo O.H. Jung 122 Die Karten der beiden Abbildungen 3 und 4 sind im Verlauf eines Semesters entstanden. Von Sitzung zu Sitzung wurden die Standorte der Städte auf die ursprünglich leeren Umrisskarten übertragen (zu den Einzelheiten vgl. Jung 2007). Es zeigt sich am Ende, dass Milton Shakespeare um Längen schlägt und dass eine Barriere zwischen Edinburgh und Glasgow Schottland abriegelt. Schottland ist Milton-Land, in dem Shakespeare nichts oder kaum etwas verloren hat. Ähnliches lässt sich für das Verhältnis von John F. Kennedy und Martin Luther King in den USA nachweisen und dokumentieren (vgl. Jung 2008). Was nun die Beziehung zwischen dem ephemeren Tafelanschrieb und dem permanent im Klassenzimmer anwesenden Wandbild angeht, so kann man sagen, dass aus einer Serie von Tafelanschrieben zwei Wandbilder entstanden sind. Der Graben zwischen beiden ist - wenn auch nicht von Künstlerhand - eingeebnet worden. Die Stiefkinder der Fachdidaktik, Tafelbild und Tafelanschrieb, das zeigt sich hier erneut, nehmen eine zentrale Funktion im Unterrichtsgeschehen ein und schlagen Brücken. Abb. 3 und 4: Additiver Tafelanschrieb (links Shakespeare gewidmete Straßen, rechts Milton gewidmete Straßen/ Schilder in Großbritannien) Tafelbild und Tafelanschrieb 123 6. Fazit Die Tafel ist ein hauptsächlich der Lehrerin bzw. dem Lehrer vorbehaltenes Leer- und Transportmittel, mit dessen Hilfe das anfängliche Wissens- und Könnensgefälle zwischen Lehrendem und Lernenden allmählich ausgeglichen werden kann. Zu diesem Zweck passt die Lehrperson die dargestellten Inhalte an die sich verändernde Aufnahmefähigkeit der Schülerinnen und Schüler an. Der Weg führt in aller Regel vom Abbildlich- Konkreten zum Anschaulich-Abstrakten. Neben dieser Langfristplanung kommt ein weiteres Element zum Tragen: Die Verwandlung des Tafelbildes in den Tafelanschrieb ist Ausdruck der notwendigen Adaptation der vom Lehrer bzw. der Lehrerin geplanten Schrittfolge an die Unterrichtssituation. Sie hängt von der Reaktion der Adressaten auf das Angebot ab. Unterrichtsplanung beinhaltet auch alternative Wege zum Ziel. Die Tafel ist ein hauptsächlich, aber nicht ausschließlich der Lehrperson vorbehaltenes Medium. Die Lernenden können als Kooperationspartner tätig werden und den Tafelanschrieb ergänzen oder vollenden, ändern oder korrigieren. Die Arbeit an der Tafel beeinflusst dabei den Unterrichtsrhythmus. Der Tafelanschrieb fungiert als Bindeglied zur außerunterrichtlichen Tätigkeit der Schülerinnen und Schüler. Die Hausarbeit ist ein didaktisch ziemlich undurchsichtiger Bereich, dessen Nexus zur Schularbeit besser erforscht werden muss. Bei Einsatz des Arbeitsprojektors, der, was die Informationsmenge angeht, der Tafel unterlegen ist, kann durch iterative Verwendung ein- und derselben Folie im Verlauf eines Projekts von den Lernenden ein Wandbild erstellt werden, das unter Umständen landeskundliche Sachverhalte aufdeckt, die selbst ihren Urhebern nicht bekannt waren oder sind. Die Schülerinnen und Schüler betreiben auf diese Weise investigativen Fremdsprachenunterricht. Sie dokumentieren ihre Ergebnisse für alle sichtbar und dauerhaft. Quellen Sekundärtexte Alvermann, Donna E. & Boothby, Paula R. (1986). „Children’s Transfer of Graphic Organizers.“ Reading Psychology 7, 87-100. Udo O.H. Jung 124 Aßbeck, Johann (2006). „Über die Funktion von Hausaufgaben.“ In: Jung, Udo O.H. (Hrsg.). Praktische Handreichung für Fremdsprachenlehrer. 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Lang, 216-221. Aßbeck, Johann (2007). Englisch-Hausaufgaben, die Spaß machen: Übungen und Tipps zur Vertiefung der Englischkenntnisse. Donauwörth: Auer. Ausubel, David Paul (1960). „The Use of Advance Organizers in the Learning of Meaningful Verbal Material.“ Journal of Educational Psychology 51, 267-272. Badger, Richard et al. (2001). „Note Perfect: An Investigation of How Students View Taking Notes in Lectures.“ System 29/ 3, 405-417. Bernd, Heike et al. 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In Lehrprozessen sind Poster Informationsträger von linguistischen oder kulturellen Inhalten, die durch Instruktionstechniken vermittelt werden. Poster können auch in vielfältige Lernaktivitäten eingebunden werden. Dabei lösen sie sprachliches Üben aus, schulen das Sehverstehen und sorgen für Transparenz der Lernprozesse. Im vorliegenden Beitrag sollen die wichtigsten Kennzeichen und Aufgaben von Postern im Fremdsprachenunterricht skizziert werden. Ausgehend von den verschiedenen Funktionen dieses visuellen Mediums in fremdsprachlichen Lehr- und Lernprozessen sollen auch konkrete Einsatzmöglichkeiten aufgezeigt werden. 1. Zur Geschichte des Unterrichtsposters Als man noch ohne technische Hilfsmittel im Unterricht auskommen musste, nutzte man zur Darstellung von Inhalten auch großformatige Visualisierungen. Dem Anschauungsunterricht des ausgehenden 19. Jahrhunderts ging es um Demonstration, um das Vorzeigen von sachlichen Gegebenheiten. Lange Lesetexte wollte man vermeiden. Die veranschaulichende Didaktik und Methodik setzte dabei für viele Fächer auf Wandbilder, deren vornehmliche Aufgabe es war, Unterrichtsinhalte sachbezogen Wolfgang Gehring 128 darzubieten und das Erfassen eines Phänomens bzw. seines Abbilds zu erleichtern. Auf diese Weise konnte „die Sache selbst“ (Schröder 2001: 95) in originaler Begegnung in den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt werden. Beliebt im Fremdsprachenunterricht jener Zeit waren für Lehrzwecke beispielsweise die Hölzelschen Wandbilder für den Anschauungsunterricht. Die 89x142 cm großen Präsentationen des Wiener Verlags zeigten die vier Jahreszeiten in „genreartigen Einzelszenen“ (Reinfried 1992: 109). Ausgestaltet waren die Wandbilder mit vielen inhaltlichen Details, die sich auch für Versprachlichungsaktivitäten eigneten. Sie unterstützten jedoch einen instruktiven, lehrergeleiteten Unterricht, da sie kaum Eigeninitiative auszulösen vermochten. Für Reformpädagogen waren Wandbilder Sinnbilder eines formalen, schematischen, lebensfernen Unterrichts, denen sie nur wenig abgewinnen konnten (vgl. Müller 1997: 302). Auch beim Einsatz von Postern in modernen Lehrkontexten spielt Veranschaulichung eine große Rolle. Der kommunikative Fremdsprachenunterricht der 1970er und 1980er Jahre veranlasste Verlage zur Herstellung von „Wall Pictures for Language Practice“ (Byrne/ Hall 1975). Mittlerweile gibt es sie in verschiedenen Spielarten. Als Lehrmedien zeigen sie Ausschnitte von Alltagssituationen für die Initiation von einfachen Sprechsituationen auf einer Lernstufe, um Wortschatzübungen oder Schreibaktivitäten auszulösen. In ihrer Funktion als Lernmedium werden Poster auch im Zusammenhang mit Präsentationstechniken genannt. Unter Zuhilfenahme graphischer Gestaltungsmittel wird mündlich Vermitteltes visuell gestützt oder es werden die Ergebnisse von Lernprozessen dokumentiert (vgl. Gaiser-Schopp 2005, Kruse-Block 2006). 2. Zentrale Kennzeichen und Aufgaben Merkmale und Funktionen von Postern im Fremdsprachenunterricht stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Einflüssen, die vom Plakat ausgehen. In der Alltagskultur wird das relativ junge Medium des Plakats für politische oder kommerzielle Werbezwecke verwendet, es dient der Verbreitung von Informationen und Botschaften. In Abhängigkeit vom anvisierten Adressatenkreis und von der angestrebten Reichweite sind die Inhalte eines Plakats in ökonomische und politische, kulturelle oder soziale Kontexte eingebunden. Von diesen Kontexten sind Entscheidungen darüber abhängig, welche Zwecke ein Poster erfüllen soll, ob es z.B. ein über- Unterrichtsposter als Lehr- und Lernmedien 129 regional verfügbares Produkt bewerben oder auf eine lokale Veranstaltung aufmerksam machen soll (vgl. Barnicoat 1972: 7ff.). Seit den 1960er Jahren firmiert das auch im deutschen Sprachgebrauch nun explizit als Poster bezeichnete Medium als ein Produkt der Pop-Art unter dem Label Gebrauchskunst (vgl. Faulstich 2004: 82). Diese tätigkeitsintensive Komponente, die das Plakat als ein Produkt kreativen Schaffens ausweist, deutet die Chancen an, die in der didaktisierten Version des Mediums für die Verwendung in unterrichtlichen Prozessen liegen. Die in der Vergangenheit festgestellte zu starke Betonung von rezeptiven und gelenkten Prozessen, die von Lehrpostern ausgingen, wird durch die Einbindung von Unterrichtspostern in produktiven Phasen fremdsprachlichen Lernens aufgehoben. Als typisch für die Gestaltung eines Unterrichtsposters sowohl in seiner Funktion als Lehrals auch als Lernmedium für Fremdsprachen sind die folgenden Merkmale zu nennen (vgl. Gehring 2008; vgl. auch Briscoe 1996: 3ff. und Ballstaedt 1997: 11ff.): - Poster sind visuell konzipiert oder kombinieren visuelle Darstellungsformen mit verschriftlichten Informationen. - Sie konzentrieren sich bei der inhaltlichen Darstellung auf das Wesentliche, nur was zum Verständnis grundlegend scheint, wird aufgenommen. - Die Information ist kondensiert, damit sie schnell zu erfassen ist. - Postertexter bedienen sich einfacher, kurzer Sätze. Gearbeitet wird mit Slogans und anderen prägnanten Formulierungstechniken. Auf redundante, dichte Schriftsprache, Füllfloskeln oder schwieriges Vokabular wird in den meisten Postertypen verzichtet. - Posterautoren bedienen sich eines graphischen Inventars aus Schrifttypen, geometrischen Formen und Illustrationen. Diese Konstruktionselemente machen Poster in mehrerlei Hinsicht zu einem wichtigen Medium des Fremdsprachenunterrichts. Weil die auf Postern enthaltenen Informationen in mehreren Darbietungsformen vermittelt werden, wird Lernenden ohne große Anstrengung von einer frühen Lernstufe an die Konstruktion „multipler mentaler Repräsentationen“ (Schnotz 2003: 585) ermöglicht. Dabei erleichtern die Kombinationen aus Bild und Text nicht nur eine behaltenswirksame Informationsentnahme. Wolfgang Gehring 130 Sie können auch zur Initiation der Förderung von visual literacy beitragen und Fähigkeiten im Umgang mit solchen Texten fördern, die mit Bildern, Diagrammen und anderen visuellen Elementen kombiniert sind. 1 Ein aktiver Umgang mit Postern im Kontext eines Herstellungsprozesses trägt unmittelbar zum Aufbau visueller produktiver Kompetenzen bei. Da Unterrichtsposter in Lehr- und Lernkontexten entstehen oder eigens hierfür entwickelt werden, beeinflussen sie die Lernumgebung und Überlegungen, die sich auf die Lernwirksamkeit beziehen (vgl. Ballstaedt 1997: 13). Dabei gehen Unterrichtsposter eine enge Verbindung mit anderen Darbietungs- und Entwicklungsmedien für fremdsprachliche Lehr- und Lernprozesse ein. Die kommunikativen Intentionen lassen sich also nicht nur an der Wand realisieren. Auch schulische Mittler wie Pinnwände oder Flipcharts sind geeignet. Selbst eine Vergrößerung mittels eines Overheadprojektors liegt innerhalb der Definitionsrahmens eines Unterrichtsposters. Basierend auf Überlegungen zum Tafelbildeinsatz im Fremdsprachenunterricht sind Kategorien entstanden, die zur weiteren Kennzeichnung eines Unterrichtsposters herangezogen werden können. Mit beiden Medien lassen sich Informationen so verarbeiten, dass die Präsentation der Inhalte visuell vermittelt oder gestützt wird (vgl. Jung 1992: 127). 2 Allerdings hat das Poster gegenüber der Tafel den Vorzug der Mobilität. Die Standorte von statischen, dynamischen oder interaktiven Postern können je nach Anforderung wechseln, auch mehrmals: - Statische Poster enthalten vorab ausgewählte und nach bestimmten Kriterien zusammengestellte Informationen. Von den Lernenden werden sie rezipiert und individuell verarbeitet, die Posterinhalte selbst bleiben unverändert. - Dynamische Poster stellen grundlegende Informationen bereit, die im Laufe des Unterrichtsprozesses verändert, erweitert oder ergänzt werden. Auch schöpferische Eingriffe führen zu einer Abwandlung der Inhalte. - Interaktive Poster entstehen während einer Sprachverwendung oder lösen sie aus. Bei Bedarf werden Interaktionsergebnisse oder -as- 1 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Gabriele Blell im vorliegenden Band. 2 Zum Tafelbildeinsatz im Fremdsprachenunterricht vgl. auch den Beitrag von Udo Jung im vorliegenden Band. Unterrichtsposter als Lehr- und Lernmedien 131 pekte festgehalten. Auf diese Weise verändern sich die Grundinformationen (vgl. Meyer 2007: 217ff.). 3. Posterfunktionen beim fremdsprachlichen Lernen Zahlreich sind die Möglichkeiten für den Einsatz eines Posters als Lehr- und Lernmedium in fremdsprachlichen Lernkontexten - auch wenn das Medienrepertoire für das Fremdsprachenlehren und -lernen so vielfältig ist, dass man auf Poster nicht zwingend angewiesen zu sein scheint. Man wird Poster schon wegen ihrer vielfältigen Einsetzbarkeit in Unterrichtsabläufe integrieren, zumal zentrale Funktionen von Medien in den Kernbereichen der Unterrichtsartikulation phasenweise an Postertätigkeiten geknüpft werden können. Insbesondere solche Kernbereiche sind zu nennen, die sich auf die Strukturierung, auf Arbeitsformen und auf lernerorientierte Formen der inhaltlichen Auseinandersetzung beziehen. 3.1 Rhythmisierung, Kooperatives Lernen und Individualisierung Die Rhythmisierung des Fremdsprachenunterrichts erfolgt durch Methodenwechsel. Das Ersetzen einer Vorgehensweise, Sozial- oder Aktivitätsform durch andere bringt Abwechslung in die Lernvollzüge. Es gehört heute zu den didaktischen Grundüberzeugungen, dass Motivation und Interesse am Unterrichtsinhalt durch Methodenwechsel günstig zu beeinflussen sind. Ein Methodenwechsel, der durch die Beschäftigung mit Postern eingeleitet wird, nimmt auf die Kooperationsformen der Lernenden Einfluss, z.B. wenn der Arbeitsauftrag lautet, unterschiedliche Informationsposter in Kleingruppen zu erarbeiten. Eine Individualisierung von Lernprozessen wird erreicht, weil mit dem Posterumgang Maßnahmen zur Differenzierung umgesetzt werden. Die Ergebnisse gestufter Arbeitsaufträge lassen sich im Team oder in Einzelarbeit ohne technischen Aufwand nach individuellen Vorstellungen und gestalterischen Präferenzen visuell festhalten. Auf diese Weise wird Raum für Posterdokumentationen geschaffen, die von individuellen instrumentellen und kognitiven Dispositionen der Lernenden bestimmt sind. Wolfgang Gehring 132 3.2 Demonstration Demonstrationsposter mag man als moderne Adaptionen der Schulwandbilder aus dem 19. Jahrhundert auffassen, da sie Inhalte durch postertypische Gestaltungstechniken veranschaulichen. Für das Fremdsprachenlernen an Grundschulen gibt es Verlagsprodukte mit einfachen Bildfolgen zu Szenarien des Alltags. Für fortgeschrittene Lernkontexte stellen kommerzielle Anbieter und öffentliche Träger Poster zu gesellschaftspolitischen, geographischen oder historischen Themenbereichen bereit. Die inhaltliche Komplexität der dargestellten Wirklichkeitsausschnitte wird reduziert, die Rezeption durch graphische Gestaltungselemente erleichtert. Poster eignen sich zur Demonstration sowohl sprachlicher als auch kultureller und literarischer Inhalte. In dieser Funktion stellen sie zudem eine erste Kontextualisierung des Unterrichtsablaufs her oder bieten Inhalte zur Aktivierung von Vorwissen an, worauf sich neue Lerninhalte beziehen lassen. Poster zur Demonstration verhelfen zu einem ersten Überblick über neue Inhalte. Sie skizzieren plakativ die inhaltliche Grobstruktur, bevor die ausführliche stoffliche Auseinandersetzung und gezielte Recherche vertiefte Einblicke in den umrissenen sachlichen oder sprachlichen Zusammenhang anbahnen. Die Posterversion der Canary Wharf Local Area Map als Einstieg in eine landeskundliche oder sprechaktbezogene Lerneinheit (Dockland Light Railway 2009) oder Poster mit Darstellungen zu Roman Britain, deren kondensierte Informationen von Arbeitsgruppen untersucht und vertieft werden, sind Beispiele zu Themen der aktuellen Lehrplangeneration. 3.3 Elizitation Als Elizitationsmedien haben Poster eine rezeptive und eine produktive Ausrichtung. Einerseits vergegenwärtigen sie Arbeitsergebnisse zur Information für die Adressatengruppe. Andererseits unterstützen sie das Sammeln thematischer Aspekte in einer Interaktionsgruppe. Elizitationsposter werden häufig bei Moderationen eingesetzt. Ähnlich wie die Lehrkraft in konstruktivistischen Lernumgebungen versuchen Moderatoren, Interaktionen effektiv zu organisieren, die Lerngruppe aktiv in Interaktionen einzubinden und Resultate festzuhalten. Auf Elizitationspostern findet man auch visuelle Impulse, die Lernende zu sprachlichen Handlungen veranlassen. Unter die Rubrik Elizitation sind demnach alle Poster zu fassen, die mit dem Ziel konzipiert wurden, Sprachverwendungen zu initiieren - in der Unterrichtsposter als Lehr- und Lernmedien 133 Grundschule und im Anfangsunterricht z.B. durch Bildfolgen und den Auftrag, Erkanntes in der Zielsprache zu benennen. 3.4 Speicherung und Dokumentation Das Festhalten von Ergebnissen auf Postern zielt darauf ab, Resultate eines Lernprozesses zu dokumentieren. In Unterrichtsphasen, in denen Vorwissen und spontane Meinungsbilder visualisiert werden, geschieht die Dokumentation spontan, im Rahmen einer relativ offenen Verlaufsstruktur. Aufwändiger in der Gestaltung sind Dokumentationsposter am Ende von Rechercheaufgaben oder Projekten. Die Arbeitsgruppen müssen sich zunächst über Darstellungsformen und inhaltliche Akzentuierungen verständigen, hierzu gegebenenfalls stützendes Bildmaterial zusammentragen, Diagramme oder Charts professionell herstellen, bevor das Poster der Klassengemeinschaft oder Schulöffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann. 4. Typen von Unterrichtspostern Es lassen sich verschiedene Arten von Unterrichtspostern unterscheiden, die im Folgenden näher vorgestellt werden sollen. 4.1 Aktionsposter Aktionsposter sind aus Bild und Text bestehende Inhaltsträger. Sie rufen visuelle produktive Kompetenzen auf, zumal man nach der Informationsverarbeitung sprachlich tätig werden soll. Zwei Varianten fallen ins Gewicht. Ein Postertyp präsentiert Ausschnitte aus der Lebenswelt der jungen Lernenden. Die Szenerie ist aufgrund ihrer Detailarmut schnell zu erfassen, so dass eindeutige Impulse für produktive Tätigkeiten ausgehen. Die Aktion besteht darin, dass Lernende das Wahrgenommene versprachlichen, indem sie z.B. eine Geburtstagsrunde, ein Haus mit Garten oder Ähnliches erfassen und beschreiben. 3 Selbst im Druckbild etwas zu ergänzen oder Inhalte zu verändern, sieht diese Posterkonzeption zwar nicht vor. Derartige 3 Beispiele für solche Poster finden sich unter http: / / www.grundschulstunden. de/ acatalog/ Poster_fuer_den_Englischunterricht.html. Wolfgang Gehring 134 Tätigkeiten können jedoch vom Posterinhalt ausgehend in kooperativen Lernformen initiiert werden, so dass weitere Poster entstehen. Der zweite Typus eines Aktionsposters besteht aus linguistischem Material und listet z.B. den Grundwortschatz einer Fremdsprache auf (vgl. z.B. http: / / www.study-map.de/ poster). Poster dieser Ausrichtung sollen Alltagsnischen für das Lernen nutzbar machen. Sie hängen dort, wo man sich häufig befindet, und regen so dazu an, sich mehrmals täglich nebenbei lernaktiv den Vokabeln zu widmen. Wie sich Aktionsposter in einen methodischen Aktivierungsplan integrieren lassen, haben Beilfuß/ Wilde (2004) für eine Posterserie aufgezeigt, auf der zweisprachig unterlegte Abbildungen mehrerer Personen, Tiere und Realien zu sehen sind. Sie schlagen die folgenden Aktivitäten für den kreativen Umgang mit der Posterserie vor: eine Minigeschichte mit drei Begriffen aus den Postern entwerfen von jedem Poster ein Wort auswählen und mit diesen sechs Worten in Gruppen gemeinsam eine Geschichte schreiben eine Geschichte schreiben, bei der jeder neue Satz ein neues Wort aus dem Poster-Alphabet enthält (ggf. Thema vorgeben, z.B. „outdoor activities“) ein Gedicht schreiben und dabei Vorgaben hinsichtlich der Gruppengröße, der Anzahl der Strophen/ Zeilen machen (z.B. fünf Schülerinnen und Schüler schreiben je ein Wort von den Postern auf einen Zettel und müssen dann gemeinsam ein Gedicht aus fünf Zweizeilern unter Verwendung dieser fünf Wörter entwerfen) 4.2 Moderationsposter Moderationsposter entstehen während der themengeleiteten Interaktion einer Lerngruppe, die in manchen Phasen von Moderatoren bzw. Moderatorinnen gesteuert wird. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind Rezipienten des Posters und gleichzeitig Koproduzenten. Die Inhalte stehen nicht vorab fest, die Beteiligten tragen sie zusammen. Auf ein perfektes Design kommt es nicht an. Erreicht werden soll eine konsensfähige schriftliche Fixierung von Aspekten, die der Lerngruppe wichtig sind. Zu Beginn einer Moderation notieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Ideen auf Kärtchen, die an das Poster geheftet werden. Es folgen Unterrichtsposter als Lehr- und Lernmedien 135 Kategorisierungen, die Ideen werden geordnet, diskutiert und gegebenenfalls auch wieder verworfen. Auch die Arbeit in Kleingruppen wird anhand von Moderationspostern organisiert, auf denen sich ein einfacher Verlaufsplan befindet. Die Gruppe notiert ihre Lösungsansätze in die Felder ‚Ziel- Zielzustand‘, ‚Ist-Zustand‘, ‚Widerstände‘ und ‚To dos‘ (vgl. Ott 2000: 138). Auf typischen Moderationspostern findet man neben schriftlichen Impulsen eine Reihe von Symbolen und Arbeitsmitteln, darunter Klebepunkte und Pfeile in verschiedenen Größen, die Akzente im Postertext setzen und thematische Verbindungen graphisch herzustellen erlauben. Moderationsposter sind Bestandteil eines Verfahrens, das auf interaktive Problemlösungsstrategien in kooperativen Arbeitsformen setzt (vgl. Gehring 2003). Deshalb muss sichergestellt sein, dass alle Beteiligten des Moderationsprozesses stets wissen, worum es gerade geht, und sich jeder Teilnehmer bzw. jede Teilnehmerin kontinuierlich aktiv in den Arbeitsprozess einbringt. Die Poster halten Diskussionen in geordneten Bahnen, sie gewährleisten eine hohe Transparenz der Aufgabenstellungen und informieren über den gerade aktuellen Stand einer Bearbeitungsphase (vgl. Gudjons 2000: 116). Das folgende Schaubild stellt Moderationsposter dar, die im Rahmen einer Punktabfrage-Aktivität entstanden sind. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben Ideen zu einer Thematik auf Kartonstreifen notiert (im Bild durch Buchstaben dargestellt) und angeheftet, danach Punkte auf ihre präferierten Vorschläge geklebt und, in einem dritten Schritt, die Vorschläge kooperativ kategorisiert. Abb. 1: Moderationsposter aus einer Punktabfrage-Aktivität 4.3 Produktposter Produktposter gehören zu einem Fremdsprachenunterricht, dem es auf Handlungsorientierung ankommt und der individualisierte oder kooperative Lernformen umsetzt. Sie entstehen ohne instruktive Eingriffe durch SUBJECT A C B H F G D E SUBJECT H D F A C G E B Wolfgang Gehring 136 Moderatoren und Moderatorinnen oder Lehrverantwortliche. Leistungserwartungen werden allerdings formuliert. Produktposter dokumentieren beispielsweise Rechercheergebnisse einer Projektgruppe zu einem Inhalt des Curriculums. Mit Produktpostern lässt sich aber auch ein Diskurs zwischen Posterautoren und Betrachtern initiieren. Indem Posterautoren und -autorinnen ihr Produkt verfügbar machen und es zur Diskussion stellen, kommunizieren sie ihre Perspektiven und Strategien, ihre Interpretationen und Zugriffsformen in die Klassengemeinschaft (vgl. Gudjons 1998: 111f.). Produktposter können darüber hinaus die Prozesse dokumentieren, die zum Endprodukt geführt haben. In diesem Fall werden sukzessive Teilaspekte eines Phänomens auf dem Poster fixiert, die in mehreren Unterrichtssequenzen erarbeitet werden müssen, bis sich ein Gesamteindruck ergibt, z.B. die Betrachtung einer landeskundlichen Thematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln, die bebilderte Wortschatzsammlung zu lexikalischen Oberbegriffen oder die Realisierungsformen des future tense (vgl. auch Kieweg 1996). Das Produktposter hält die Schrittfolgen nachvollziehbar fest und ermöglicht den Blick auf das Ganze. 4.4 Forschungsposter Auf wissenschaftlichen Zusammenkünften ist es üblich, neben Vorträgen und Workshops Posterausstellungen durchzuführen. Hierfür wird ein Zeitfenster im Ablaufplan einer Konferenz freigehalten. Die Posterausstellung ist ein Forum für die Vorstellung von Forschungsprojekten vor einem größeren Fachpublikum. Zur Struktur eines Forschungsposters gehören das ‚Banner‘, auf dem Problemfrage oder Hypothese notiert sind, und vier weitere Rubriken: In der ‚Einleitung‘ wird der Zusammenhang zwischen der Posterthematik und dem Forschungskontext hergestellt; die Rubrik ‚Methodik‘ erläutert die Herangehensweise, die Form der Datenermittlung bzw. die Verfahren des Datenzugriffs; es folgen die Darstellung der Resultate und eine knappe Interpretation der Ergebnisse. Unterrichtsposter als Lehr- und Lernmedien 137 Abb. 2: Komponenten eines Forschungsposters 5. Zum Einsatz von Unterrichtspostern in fremdsprachlichen Lernumgebungen Im Folgenden sollen nun konkrete Einsatzmöglichkeiten von Unterrichtspostern in fremdsprachlichen Lernumgebungen vorgestellt werden. 5.1 Curriculares Lernen Moderne Lehrpläne sind outputorientiert und beschreiben in stärkerem Maße als ihre Vorgänger Leistungserwartungen. Die Neukonzeption hat nicht zur Aufgabe eines zielorientierten Unterricht geführt, der sich einem ausgewählten sprachlichen Problem und dessen Bewältigung widmet, trotz aller Skepsis gegenüber einer linearen Progression (vgl. z.B. Bleyhl 1996). Poster in curricularen Lernkontexten dokumentieren Zwischenstadien des Lernprozesses. In gleichem Maße fungieren sie als Präsentationsmedien für die Lösungen von sachorientierten Aufgaben. Insofern haben Posteraktivitäten ihre Berechtigung, deren Ziel es beispielsweise ist, im Rahmen des lexikalischen Kompetenzaufbaus mit Wortclustern oder Assoziogrammen zu arbeiten. Sie werden mit bekannten Einheiten zusammengestellt What are the components of a research poster? name, grade, institution Abstract What is your study about? Introduction What did you study and why? Methods How did you do the study? Results What did you find? Conclusion What is the significance of your results? Literature cited What references did you use? Wolfgang Gehring 138 und durch hinzugekommene verändert, erweitert, mitunter auch neu arrangiert. Diese Poster unterliegen kontinuierlichen Veränderungen, daher sind sie offen für inhaltliche Neukonstruktionen. Bereits im Frühbeginn wird die Vielschichtigkeit eines Phänomens auf mehrere Lernanlässe verteilt und visuell dokumentiert, wie die folgende Handlungsanleitung andeutet (British Council 2008): Birthdays/ class poster It’s good if you can talk about birthdays early on that nobody gets missed out at the start of the school year. See if it’s possible to take digital passport size photos of the children … Then make a very large calendar that you can display all year. You can teach the months of the year and each child can come and stick their photo on the day of their birthday … If you can’t take photos then give out small strips of paper (pre-cut so that the names will fit onto the calendar), and ask the children to write their names and then stick them onto the class poster. Auf Sachinhalte ausgerichtet sind Poster, die in der Auseinandersetzung mit einem landeskundlichen oder alltagskulturellen Thema entstehen. Die Beschäftigung mit inhaltlichen Teilaspekten in kooperativen Lernformen führt in der Regel zu Posterreihen. Veränderungen der Posterinhalte durch das Plenum sind nicht vorgesehen. 5.2 Strategielernen Die stärkere Berücksichtigung der Methodenkompetenz hat dazu geführt, dass Lernende auch im Fremdsprachenunterricht an Strategien und Techniken explizit herangeführt werden, die sie bei der kritischen Begleitung des eigenen Lernprozesses unterstützen (vgl. Finkbeiner 2003). Als eine mediale Hilfe wird das „themenzentrierte Lernplakat“ (Klippert 1998) ins Spiel gebracht, das die Veranschaulichung kognitiver Prozesse erleichtern soll, wie es Abb. 3 demonstriert. Lernposter haben ihren Platz dort, wo strukturiert und organisiert wird, wo die Absicht darin besteht, sich den Arbeitsprozess oder den Problemlösungsansatz als visuelle Hilfe vor Augen zu führen. Von anderen Postertypen unterscheidet sich das Lernposter dadurch, dass es nicht dazu da ist, spezielle Inhalte für einen Adressatenkreis darzubieten. Es hält Ergebnisse von Überlegungen lediglich fest, die eine Lerngruppe oder individuelle Lernende in planerischen und ordnenden, in vernetzenden und evaluativen Tätigkeiten angestrengt Unterrichtsposter als Lehr- und Lernmedien 139 haben. Den Nutzen aus Lernpostern ziehen primär ihre Verfasser, weniger Außenstehende. Zum Verständnis ist, zumindest bei komplexeren Zusammenhängen, oftmals Insiderwissen vonnöten. Abb. 3: Lernplakat aus dem DaF-Unterricht 5.3 Forschendes Lernen Im fortgeschrittenen Fremdsprachenunterricht setzen Lernende auch Formen forschenden Lernens um. Sie definieren eine Problemstellung, bezie- Wolfgang Gehring 140 hen den Kenntnisstand hierzu mit ein, entwerfen einen Forschungsplan, den sie mit geeigneten Methoden umsetzen. Der Plan führt zu einer Antwort auf die Problemfrage, die „nicht einfach durch Sichtung von Lexika oder Internet aufgefunden werden kann“ (Huber 2006: 18). Lehrpläne für die gymnasiale Oberstufe sehen zudem das Heranführen an Grundformen wissenschaftlichen Arbeitens vor. Eine selbstständige wissenschaftliche Leistung wird noch nicht erwartet, aber es soll gezeigt werden, dass man auf dieser Niveaustufe den Anforderungen an das wissenschaftliche Arbeiten gerecht wird. Unter anderem weist man diese Fähigkeit in einer Fach- oder Seminararbeit nach und stellt die Thematik mündlich vor. Diese Leistungserwartungen begünstigen ein Lernumfeld, das Fachbzw. Forschungsposter einbezieht, zumal derartige Präsentationen auch in kommunikativer Hinsicht äußerst ertragreich sind. Für den Forschungskontext scheint bedeutsam, dass alle Ergebnisse von Forschungsaktivitäten einer Lerngruppe zeitökonomisch zugänglich sind und die Auseinandersetzung nach individuell gesetzten Schwerpunkten und Herangehensweisen erfolgen kann. 6. Probleme der Postergestaltung - Bericht aus der Praxis Die Erarbeitung eines Posters, welches einen Prozess forschenden Lernens nachzeichnet, verlangt danach, die Daten mit den Mitteln der Postergestaltung so aufzubereiten, dass Kontext der Forschungsfrage, Methode, Ergebnisse und hieraus abgeleitete Schlussfolgerungen nachvollziehbar sind. Im Folgenden soll von einigen Erfahrungen berichtet werden, die mit dem Poster als einer Kommunikationsform im Studium an der Universität Oldenburg gemacht wurden. Studierende fachdidaktischer und linguistischer Module haben die Möglichkeit, ein Forschungsprojekt als Modulleistung einzureichen. Die Studierenden besprechen ihren Forschungsplan mehrmals mit den verantwortlichen Lehrenden, bevor sie diesen finalisieren und als Poster veröffentlichen. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts, in der Regel eine empirische Untersuchung, eine Analyse oder eine Interpretation, sollen auf einer Posterausstellung präsentiert und verteidigt werden. Die Posterausstellungen wurden über mehrere Semester hinweg wissenschaftlich begleitet. Die Ermittlung von Meinungen, Problemen und Erfahrungen erfolgte auf der Grundlage halbstandardisierter Fragebögen. In Unterrichtsposter als Lehr- und Lernmedien 141 der Einführungsphase wurde die Postergestaltung weitgehend den Autorinnen und Autoren überlassen, vorgegeben war lediglich die Struktuierung nach dem IMRaD-Format (Introduction, Methods, Research [and] Discussion). Die relative gestalterische Freiheit führte zu Produkten von sehr unterschiedlicher visueller Güte. Die meisten Studierenden nutzten farbiges Tonpapier, nur einige wenige gestalteten das Poster auf dem Computer. Berichtet wurde von Problemen bei der Suche nach einer geeigneten Präsentationsform. Teilnehmende wiesen darauf hin, dass die visuelle Konzeptionierung der Poster Geschick abverlangte, das nicht vorausgesetzt werden könne. Um gleiche Ausgangsbedingungen zu schaffen, steht seit einiger Zeit ein verbindliches Template zur Verfügung, das kompatibel mit gängigen Graphikprogrammen ist. Schriftgröße, Schriftart und die Rubriken sind für den Ausdruck mit einem Posterplotter voreingestellt. Die sprachliche Darstellung erwies sich häufig als problematisch. Vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern fiel es schwer, die einzelnen Phasen des Forschungsprojekts so zu beschreiben, dass der schriftliche Anteil ihres Posters gering blieb. Als Hemmnis erwies sich die Strategie, zuerst einen schriftlichen Text zu verfassen, den man dann mehr oder weniger ungekürzt in die Posterrubriken des Template kopierte. Diese Vorgehensweise führte nicht nur zu einer inakzeptablen Textlastigkeit. Die Lesbarkeit wurde auch dadurch erheblich eingeschränkt, dass anstatt Kürzungen im Text vorzunehmen, die Größe der Schriftzeichen verringert wurde. Eine überbordende Textmenge zählt zu den „grundsätzlichen Mängeln der meisten Poster“, wie Pohl (1997: 106) hervorhebt: „Verbale Information sollte auf ein absolutes Minimum reduziert sein, denn Poster sind graphische Medien […]. Zuviel Text ist […] meist ‚tödlich‘ für das Poster.“ (ebd.) Purrington (2006) empfiehlt: „[p]osters with 800 words or less are ideal“. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer scheiterten an der Entwicklung transparenter Visualisierungen, weil ihnen keine geeigneten Darstellungsformen einfallen wollten. Vor dieser Hürde standen vor allem Studierende, die interpretative Projekte durchführten. Bei textanalytischen Arbeiten ergab sich als Problem, wie sich Beispiele aus dem Corpus im Poster präsentieren ließen, ohne Übersichtlichkeit und Verständlichkeit zu gefährden. Für Forschungsdarstellungen mit vielen Textverweisen werden nun zusätzliche Handouts zugelassen (vgl. Lane 2003), die Beratung schließt die graphische Gestaltung mit ein. Wolfgang Gehring 142 In den Fragebögen wurde häufig Klage darüber geführt, dass für die Präsentation der Forschung zu wenig Platz und zu wenig Zeit zur Verfügung standen. In der Tat sollten anfangs die Posterautorinnen und -autoren ihr Projekt nur auf dem Poster darstellen und Fragen des Evaluationsteams beantworten. Auf die Forderung nach einer ausführlicheren Darstellungsmöglichkeit hin wurde die Ausstellung um zwei weitere Evaluationskomponenten erweitert. An die Poster-Session schließen sich jeweils zehnminütige Einzelgespräche an, Konzeption und Intentionen können in einer Verteidigungsschrift ausführlich dargestellt werden. Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer urteilte positiv über das Poster als Evaluationsmedium, betonte jedoch, dass der Arbeitsaufwand nicht geringer sei, als bei einer herkömmlichen schriftlichen Arbeit. Der eigentliche Vorteil einer Posterausstellung gegenüber traditionellen Formen der Leistungsfeststellung lag für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Kombination mündlicher mit schriftlichen und graphischen Ausdrucksformen. 7. Zusammenfassung Das Anliegen dieses Beitrags bestand darin, die unterrichtlichen Möglichkeiten verschiedenster Posterformate für den Fremdsprachenunterricht auszuloten. Aufgrund der vielfältigen Funktionen können Lernziele und Standards sowohl für rezeptive als auch für produktive Kompetenzen angebahnt und in unterschiedliche Lernumfelder integriert werden. Der Umgang mit Postern und seinen Gestaltungsmerkmalen hat dabei einen unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung von visual literacy. Kombinationen aus Text, Bild und Graphik, die zur Informationsvermittlung im Poster verwendet werden, verlangen nach Kompetenzen, die es Lernenden ermöglichen, schriftliche und nichtschriftliche Vermittlungsformen in angemessener Form aufeinander zu beziehen. Poster fördern das Ziel, bei Lernenden Fähigkeiten zur erfolgreichen Nutzung von Informationsträgern zu entwickeln, die Bild und Texte miteinander kombinieren. Poster sind dabei in besonderem Maße geeignet, bereits auf einer frühen Lernstufe visuelle produktive Kompetenzen zu fördern, indem Lernenden in verschiedenen Lernkontexten Möglichkeiten gegeben werden, selbst Text-Bild- Kombinationen zur Informationsvermittlung zu verwenden. Unterrichtsposter als Lehr- und Lernmedien 143 Als besonders geeignet für den Umgang mit Postern erweisen sich Umgebungen des situierten Lernens, des praktischen Lernens und des forschenden Lernens. Poster unterstützen somit Bemühungen, selbstgesteuertes Lernen im Unterricht zu realisieren und die Verwendung der Fremdsprache in einen authentischen Handlungsrahmen zu integrieren. Außerdem können sie als Arbeitsmittel zur Problemlösung eingesetzt werden. Quellen Sekundärtexte Ballstaedt, Steffen-Peter (1997). Wissensvermittlung: Die Gestaltung von Lernmaterial. Weinheim: Beltz. Barnicoat, John (1972). Posters: A Concise History. London: Thames and Hudson. Beilfuß, Imke & Wilde, Denise (2004). „Ideen für den Einsatz der Posterserie Learn English-Lern Deutsch.“. Im Internet auf: www.goethe-verlag.com/ poster/ ideen.htm (7.12.2009). 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Allerdings besteht hier die Gefahr, dass es zu einer Verselbständigung des kreativen Verfahrens auf Kosten des literarischen Ausgangstextes kommt (vgl. Nünning/ Surkamp 2006: 65). Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet die Inszenierung von literarischen Texten (vgl. Surkamp 2007: 133, 139-141, Leitzke-Ungerer 2008: 164). Die szenische Umsetzung ist ein kreatives Verfahren par excellence; sie hat ein hohes Motivationspotential und kann Schülerinnen und Schüler, die literarischen Texten eher ablehnend gegenüberstehen, an diese heranführen. Zugleich erfordert jede Inszenierung eine intensive Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext. Aus der Vielzahl der szenischen Zugangsformen wird im Folgenden ein Verfahren herausgestellt, das eine besondere visuelle Komponente hat und sich gerade für die Erarbeitung literarischer Texte anbietet: das sog. Standbildtheater. 1 Standbilder sind eine besondere Form von Bildern, da sie 1 Standbilder sind ein in der Theaterpädagogik häufig eingesetztes Verfahren (vgl. etwa Scheller 1998: 59-70, 2008: 72ff.). Die im Folgenden beschriebene Spieltechnik der Überführung von Situationen oder Handlungsmomenten in Eva Leitzke-Ungerer 148 sowohl eine visuelle als auch eine szenische Komponente beinhalten. Ein Standbild lässt sich als eine Momentaufnahme verstehen, die von einer Gruppe von Spielenden szenisch dargestellt wird; dabei verharren die Spielenden bewegungslos und ohne zu sprechen in ihrer Haltung. Bei den Zuschauern entsteht der Eindruck, ein Bild zu sehen, ein stummes Tableau, ein frozen image. Durch eine Abfolge von Standbildern lässt sich ein ‚szenischer Bilderbogen‘ aufbauen, der die Essenz dessen verkörpert, was im Folgenden als Standbildtheater bezeichnet wird. Aus theaterpädagogischer Sicht werden Situationen und Handlungen „auf einen bestimmten Moment zugespitzt als Bilder aufgebaut“ (vgl. Scheller 1998: 59-61). Bei der Umsetzung eines literarischen Textes werden dabei die zentralen Momente der Handlung, die Schlüsselszenen, in Standbilder überführt und ergeben so den szenischen Bilderbogen. Seine Berechtigung im Literaturunterricht erhält das Standbildtheater vor allem dann, wenn man nicht nur eine Textverstehenskompetenz (reading literacy) anstrebt, sondern auch ein visuelles Verstehen des Textes, ein Denken in Bildern (vgl. Scheller 2008: 73). Das Ziel dieser visual literacy ist hier nicht so sehr die Fähigkeit, vorhandene Bilder in Abhängigkeit von der eigenkulturellen Prägung verstehen, analysieren und deuten zu können (vgl. u.a. Seidl 2007: 2f., 5); vielmehr hat visual literacy hier den Charakter einer ganzheitlichen Wahrnehmung des Textes, die sich in der Schaffung von aussagekräftigen Bildern manifestiert, die den Text nicht nur resümieren, sondern zugleich interpretieren. Damit sind die Möglichkeiten des Standbildtheaters aber noch keineswegs erschöpft. Wie in der Titelformulierung ‚Standbilder zum Sprechen bringen‘ schon anklingt, sind die Standbilder ein - wenn auch zentrales - Zwischenprodukt, das auf verschiedene Weise wieder Anlass für Sprachproduktion ist und somit auch der Förderung der verbalen Fremdsprachenkompetenz dient. Der Beitrag beschreibt den Weg vom Text zum Standbild und weiter zu seiner Versprachlichung. Am Anfang steht die Frage, für welche literarischen Texte sich das Standbildtheater eignet. An Beispielen aus der französischen und spanischen Literatur werden die methodischen Schritte zur Durchführung des Standbildtheaters dargestellt, zunächst zum Aufbau der Standbildabfolge, dann die möglichen sprachproduktiven An- frozen images geht u.a auf das „Statuentheater“ zurück, das der brasilianische Theatermacher Augusto Boal im Rahmen seines politischen „Theater[s] der Unterdrückten“ entwickelt hat (Boal 1989: 71ff., 241-254; vgl. Leitzke- Ungerer 2006: 75f., Scheller 2008: 73). Standbilder zum Sprechen bringen 149 schlussverfahren. Abschließend wird noch einmal herausgestellt, was Standbilder für den fremdsprachlichen Literaturunterricht leisten. 2. Zur Wahl geeigneter literarischer Ausgangstexte Da das Standbildtheater ein szenisches Verfahren ist, wird man bei der Suche nach passenden literarischen Ausgangstexten zunächst an dramatische Texte denken. Diese sind sicher geeignet; reizvoller sind jedoch narrative Texte, da sie noch nicht in szenischer Form vorliegen. Vielmehr müssen die Lernenden im Zuge der Vorbereitung des Standbildtheaters den Text in eine erste szenische Fassung bringen. Dies bedeutet, dass der Text auf zentrale Momente im Handlungsablauf reduziert werden muss, die sich in einem stummen Bild aussagekräftig darstellen lassen. Dies ist gar nicht so einfach und erfordert sowohl eine intensive Lektüre als auch ein gesichertes Textverständnis (vgl. dazu 3.1). Welche narrativen Textsorten eignen sich? Es kommen zunächst einmal alle kürzeren Erzählgattungen in Betracht, von der Novelle über die Kurzgeschichte bis hin zu Fabeln und Märchen; geeignet sind aber etwa auch narrative Gedichte oder Liedtexte, d.h. Gedichte und Songs, in denen eine Geschichte erzählt wird und handelnde Personen auftreten. 2 Die Ausgangstexte müssen aber noch weitere Kriterien erfüllen. Zum einen ist es wünschenswert, dass sich die zentralen Momente der Handlung in fünf Standbildern darstellen lassen. Die quantitative Festlegung auf fünf (und nicht etwa drei oder sieben) Standbilder erinnert nicht ohne Grund an die fünf Akte des klassischen Dramas und berücksichtigt damit die strukturelle Ähnlichkeit von Novelle und Drama, die in der Literaturwissenschaft und -theorie immer wieder hervorgehoben wurde (man denke nur an Theodor Storms bekannte Charakterisierung der Novelle als „kleine Schwester des Dramas“). Die Komprimierung des Ausgangstextes auf fünf Standbilder zwingt die als Spieler agierenden Schülerinnen und Schüler zur Konzentration auf die zentralen Handlungsmomente; sie verstärkt in 2 Zu denken ist hier u.a. an Gedichte von Jacques Prévert („La grasse matinée“, „Page d’écriture“, „Le message“), von Eloy Sánchez Rosillo („La playa“), Juan Goytisolo („Autobiografía“) oder José Hierro („Réquiem“), ferner an bekannte Songs wie z.B. „Il est cinq heures, Paris s’éveille“ von Jacques Dutronc oder „Hijo de la luna“ von Mecano. Eva Leitzke-Ungerer 150 der Präsentationsphase bei den Zuschauern den Eindruck, ein Drama en miniature zu sehen. Die zweite Bedingung, die an die Ausgangstexte zu stellen ist, beinhaltet, dass die zentralen Momente der Handlung - unter Verzicht auf das gesprochene Wort - in stumme Bilder umsetzbar sein müssen. Texte, deren Schlüsselstellen nur durch das gesprochene Wort verständlich sind, eignen sich nicht für das Standbildtheater. 3 Dieses Kriterium scheint zunächst die Zahl der in Frage kommenden Texte beträchtlich einzuschränken. Es zeigt sich aber, dass sich viele narrative Texte sehr gut in einer stummen und trotzdem aussagekräftigen Standbildfolge darstellen lassen. Dass dabei nicht alle Nuancen des Ausgangswerks deutlich werden, liegt auf der Hand; das Standbildtheater kreiert keine neue Textfassung. Es bringt aber, wie schon angesprochen, etwas Anderes, mindestens ebenso Wichtiges hervor: eine Deutung des Textes, wenn auch mit anderen Mitteln als mit denen der Sprache. Das dritte Kriterium bezieht sich auf unterrichtspraktische Überlegungen: Die Texte sollten, was die Anzahl der handelnden Figuren betrifft, möglichst nur einen Protagonisten, daneben aber eine ganze Reihe von Nebenfiguren aufweisen. Dies ermöglicht, wenn die Figuren nach der stummen Standbildphase im Rahmen der Anschlussaktivitäten zu sprechen beginnen, eine Differenzierung nach Sprechanteilen: Man kann Übungen einplanen, in denen alle Figuren, Protagonist wie Nebenfiguren, zu Wort kommen; man kann aber auch Übungen einsetzen, in denen sich nur der Protagonist oder nur die Nebenfiguren äußern. Eine größere Zahl von Nebenfiguren ermöglicht außerdem die Einbeziehung möglichst vieler Schülerinnen und Schüler einer Klasse. 3 Als Beispiel mag hier eine Erzählung von Francisco García Pavón, El hijo de madre (2003) dienen, die im Spanischunterricht ab dem dritten Lernjahr eingesetzt werden kann. Die zentrale Szene basiert auf einem Dialog, in der ein Junge seine Mutter gegenüber der beleidigenden Äußerung eines anderen Jungen verteidigt; dieser andere Junge sagt: „Dann ist deine Mama ja eine Hure“, worauf der erste Junge entgegnet: „Meine Mama ist meine Mama, fertig.“ (García Pavón 2003: 163) Standbilder zum Sprechen bringen 151 3. Die Durchführung des Standbildtheaters Das Standbildtheater umfasst drei Phasen, die Vorbereitung, die eigentliche Standbildphase und die Anschlussaktivitäten. Die Vorbereitungsphase beinhaltet die Lektüre des Textes und ggf. die Einführung der Schülerinnen und Schüler in die Arbeit mit Standbildern. In der Standbildphase wird der Text als Folge stummer Standbilder dargestellt. Im Rahmen der Anschlussaktivitäten werden die Bilder sukzessive zum Sprechen gebracht. 4 3.1 Textlektüre und Einführung in das Standbildverfahren Am Anfang stehen die vorbereitende intensive Lektüre des Ausgangstextes und die Sicherung des grundlegenden Textverständnisses. Die Textlektüre kann (vor allem von fortgeschrittenen Lernenden) in häuslicher Arbeit erledigt werden; das Textverständnis wird z.B. durch ein Resümee, die Beantwortung von W-Fragen (Wer? Wann? Wo? Was? Warum? ) oder die Gliederung des Textes in Abschnitte mit Zwischenüberschriften überprüft. Sprachliche Verstehensprobleme können durch textbegleitende Wortschatzhilfen auf ein Minimum reduziert werden. Die Einführung der Schülerinnen und Schüler in das Standbildverfahren erfolgt anhand von Situationsvorgaben, die nichts mit dem ausgewählten literarischen Text zu tun haben sollten. Geeignet sind Situationen aus der Erfahrungswelt der Lernenden (‚Chaos im Klassenraum‘, ‚Panne im Lift‘). Für den Standbildbau, zu dem sich die Lernenden in Gruppen von vier bis sechs Teilnehmern zusammenfinden, gibt es einige Spielregeln: Entweder erarbeitet die Gruppe als Ganzes ihr Standbild, oder es wird ein Mitglied zum ‚Bildhauer‘ bestimmt, der die anderen nach seinen Vorstellungen ‚modelliert‘. Der Vorteil des zweiten Verfahrens besteht darin, dass ein Gruppenmitglied das gesamte im Entstehen begriffene Standbild im Blick hat. 4 Zahlreiche Anregungen zur Durchführung verdanke ich der von Judith Spaeth-Goes und Werner Jauch geleiteten theaterpägagogischen Fortbildung „Maupassant - mot à mot ou en passant“ (Akademie Schloss Rotenfels 1999); zum theoretischen Hintergrund vgl. Spaeth-Goes/ Jauch 1996 und 1998. Eva Leitzke-Ungerer 152 3.2 Die Standbildphase Als nächstes folgt die zentrale Standbildphase, deren Ziel, wie schon erwähnt, darin besteht, die Schlüsselszenen des literarischen Textes in fünf Standbildern darzustellen. Für die szenische Umsetzung müssen den Schülerinnen und Schülern eine Reihe von Hinweisen gegeben werden: Von den Spielern können nicht nur Personen, sondern auch Gegenstände (z.B. eine Tür, ein Baum) dargestellt werden; Verkleidung und Requisiten unterstützen die Aussagekraft der Standbilder; während der Vorbereitung darf gesprochen werden (möglichst in der Fremdsprache), das Standbildtheater selbst vollzieht sich ohne Worte; bei der Präsentation wird jedes Standbild ca. 10 Sekunden ‚gehalten‘, dann wird das folgende Bild aufgebaut. Da es keinen Bühnenvorhang gibt, die Zuschauer andererseits den Eindruck bekommen sollen, als sähen sie ein Drama oder eine Art Foto- Roman, stellen die Szenenwechsel zwischen den einzelnen Standbildern ein gewisses Problem dar. Durch ein einfaches Verfahren - ein Schüler oder der Lehrer gibt das Kommando ‚Clic-Clac‘ - lässt sich der Bühnenvorhang aber quasi ersetzen: Während der Szenenwechsel schließen die Zuschauer die Augen (Kommando ‚Clac‘), wenn das Standbild aufgebaut ist, öffnen sie die Augen (Kommando ‚Clic‘) und sehen das Standbild, d.h. die nächste Szene. 3.3 Anschlussaktivitäten: Standbilder zum Sprechen bringen So interessant die Arbeit mit Standbildern sein mag - sie haben im Hinblick auf den Fremdsprachenunterricht ein entscheidendes Manko: Sie sind stumm, die Fremdsprache wird in den Standbildfolgen nicht verwendet. Die Standbilder müssen daher im Rahmen unterschiedlicher Anschlussaktivitäten ‚zum Sprechen gebracht werden‘. Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Im Folgenden werden vier Verfahren vorgestellt, die man in einer Unterrichtseinheit sukzessive einsetzen kann: Innere Monologe, Befragung des Protagonisten, Inszenierung I (ausgewähltes Standbild in Dialogfassung, die am Ausgangstext orientiert ist) und Inszenierung II (letztes Standbild in Dialogfassung, mit Veränderung des Ausgangstextes). Die beiden ersten Verfahren, Innere Monologe und Befragung des Protagonisten, sind Verfahren der Bewusstseinsdarstellung der handelnden Figuren (Nünning/ Surkamp 2006: 184); beide enthalten zudem ein gewis- Standbilder zum Sprechen bringen 153 ses Überraschungsmoment: Nach der stummen Standbildphase sind die Darsteller plötzlich aufgefordert, sich sprachlich zu äußern. Das dritte und das vierte Verfahren zielen auf die szenische Darstellung mit gesprochenen Dialogen und bewegen sich theaterpädagogisch daher in einem eher traditionellen Rahmen. Ein wichtiges Lernziel ist hier die erneute Auseinandersetzung - inhaltlich und sprachlich - mit dem literarischen Ausgangstext. 3.3.1 Innere Monologe Dieses Anschlussverfahren beginnt damit, dass jede Gruppe noch einmal ihr Lieblingsstandbild aufbaut. Jede Figur spricht im Rahmen des Standbilds (und damit im Rahmen der Fiktion) spontan einen Satz inneren Monologs, der ihre Gedanken oder Gefühle in dieser Situation zum Ausdruck bringt. 5 Dabei gibt es keine vorherige Absprache über die Reihenfolge; jeder Spieler versucht zu erspüren, wann der richtige Moment gekommen ist, sich zu äußern. Aus sprachdidaktischer Sicht ist von Bedeutung, dass diese erste Rückkehr zum gesprochenen Wort die Fremdsprache sehr behutsam einbezieht. Die sprachliche Anforderung an die Schülerinnen und Schüler ist bewusst niedrig gehalten; jeder sollte sich in der Lage sehen, einen ihn in seiner Rolle affektiv berührenden fremdsprachlichen Satz zu äußern. 3.3.2 Befragung des Protagonisten Im Gegensatz zu den Inneren Monologen erfordert das nächste Verfahren, die Befragung des Protagonisten, deutlich mehr an sprachlicher Kompetenz, dies allerdings nur von der Hauptfigur und den Zuschauern. Die Befragung läuft wie folgt ab: Aus der nochmals als Standbild dargestellten Lieblingsszene ziehen sich alle Spieler bis auf den Protagonisten zurück. Dieser unterzieht sich einer Befragung durch die Zuschauer, die ihm Fragen stellen. Auch hier gelten einige Spielregeln: Der Protagonist bleibt in seiner Rolle und antwortet entsprechend; die Fragen der Zuschauer müssen sich an der fiktionalen Welt des Ausgangstextes orientieren. Der Protagonist hat darüber hinaus das Recht, einzelne Fragen nicht zu beantworten 5 Auch Schülerinnen und Schüler, die Gegenstände darstellen, sollen einen Satz sprechen, um auf diese Weise in die Aktivität eingebunden zu sein. Wie die Erprobung gezeigt hat, wird es sich hier weniger um eine Gefühlsäußerung, sondern meist um einen Kommentar zur Situation oder zu den Personen handeln. Eva Leitzke-Ungerer 154 und die Befragung zu einem von ihm gewählten Zeitpunkt zu beenden. Aus unterrichtspraktischen Gründen empfiehlt es sich, dass der Protagonist die Befragung nach drei bis fünf Minuten beendet. 3.3.3 Inszenierung I: Ausgewähltes Standbild in Dialogfassung mit Orientierung am Ausgangstext Diesem Verfahren (Inszenierung I) wie auch der folgenden Variante (Inszenierung II) ist gemeinsam, dass von jeder Gruppe ein Standbild zu einer ausgearbeiteten Szene mit Dialogen der handelnden Figuren entwickelt und diese Dialogfassung den Zuschauern präsentiert wird. 6 Im Fall der Inszenierung I ist der Ausgangstext jedoch bindend. Die Lernenden sollen sich inhaltlich und sprachlich an ihm orientieren; enthält er bereits Dialoge, so sollten diese in die szenische Fassung übernommen werden. Wenn die Ausgangstexte nur wenige oder überhaupt keine Dialoge aufweisen - und dies trifft auf die Mehrzahl der hier ausgewählten Texte zu - besteht, wie schon erwähnt, eine besondere Herausforderung für die Schülerinnen und Schüler darin, den Text erst einmal in eine Dialogfassung zu überführen. Zur Arbeitserleichterung können thematischer Wortschatz und Redemittel bereitgestellt bzw. mit den Lernenden erarbeitet werden. 3.3.4 Inszenierung II: Letztes Standbild in Dialogfassung, unter Änderung des Ausgangstextes Im Gegensatz zu dem unter Inszenierung I beschriebenen Vorgehen konzentriert sich Inszenierung II auf das jeweils letzte Standbild. Dieses fungiert aber lediglich als ‚Aufhänger‘, denn in dieser zweiten Variante der Auseinandersetzung mit dem Text geht es darum, einen anderen Schluss der jeweiligen Erzählung zu erfinden. Da alle der hier ausgewählten Geschichten tragisch enden, liegt es nahe, dass sich die Schülerinnen und Schüler einen glücklichen Ausgang ausdenken und, wie im Fall von Inszenierung I, diese Szene mit den vorher ausgearbeiteten Dialogen den Zuschauern präsentieren. 6 Schülerinnen und Schüler, die in der Standbildphase Gegenstände dargestellt haben, übernehmen Nebenrollen oder andere in der Theaterarbeit übliche Funktionen (Bühnenbildner, Souffleur). Standbilder zum Sprechen bringen 155 4. Beispiele aus der Unterrichtspraxis Im Folgenden stelle ich drei Beispiele aus der Erzählliteratur vor, anhand derer ich das Standbildtheater mit Studierenden schon mehrfach erprobt habe. Ein möglicher inhaltlicher Rahmen für diese Texte ist das Thema ‚Außenseiter der Gesellschaft‘. Für Französisch wurde mit Novellen von Guy de Maupassant gearbeitet, u.a. mit der Novelle Le gueux (1885), und mit Novellen von J.M.G. Le Clézio, insbesondere mit der Erzählung Ariane (1982), für Spanisch u.a. mit Erzählungen von Ana María Matute wie z.B. La felicidad (1961). 4.1 Guy de Maupassant, Le gueux (1885) Die Novelle spielt um 1870 in der Normandie; der Protagonist ist „le gueux“ (dt. ‚Bettler, Landstreicher‘). In der Vorgeschichte wird erzählt, dass er im Alter von 15 Jahren durch einen Unfall beide Beine verloren hat und sich seitdem nur auf Krücken fortbewegen kann. Für kurze Zeit gewährt ihm eine reiche Baronin Essen und einen Schlafplatz. Nach ihrem Tod wird er vollends zum Bettler und Landstreicher: Er zieht durch die Dörfer der Normandie, die Einwohner sind jedoch hartherzig und abweisend und verspotten den Krüppel. Die Situation spitzt sich zu, als er eines Tages, vom Hunger getrieben, ein Huhn stiehlt; der Bauer ertappt ihn dabei, schlägt ihn zusammen, seine Leute tun ein Gleiches, dann lassen sie den Bettler hilflos und ohne Nahrung liegen. Am nächsten Tag wird er von zwei Gendarmen ins nächstgelegene Gefängnis gebracht; man sperrt ihn in eine Zelle, niemand gibt ihm zu essen. Am Morgen darauf findet man ihn tot auf dem Fußboden liegend. Maupassant erzählt hier eine seiner düstersten Geschichten; der Leidensweg des „gueux“ führt nach dem Unfall, der ihn die Beine kostet, kontinuierlich abwärts. Diese abwärts gerichtete dramatische Linie tritt auch in der Standbildfolge deutlich zutage, die Studierende der Universität Halle zu dieser Novelle entwickelt haben (vgl. Abb. 1-5). 7 7 Folgende Studierende waren an der Standbildfolge beteiligt: Viviane Benecke, Honorata Czychnerska, Susanne Graf, Anke Sappok, Michael Schneider, Patricia Sperlik. Die Fotografien vermitteln allerdings nur einen begrenzten Eindruck von der Aussagekraft der Standbilder und dienen hier dem Zweck der Dokumentation. Beim Medienwechsel vom Live-Standbild zur Eva Leitzke-Ungerer 156 Die Novelle eignet sich gut als Einstieg in das Standbildtheater, da die Handlung linear-chronologisch verläuft und die Personen - „le gueux“, aber auch die Dorfbewohner - in ihrer extremen Gefühlslage dankbare Objekte der dramatischen Ausgestaltung sind. Um die negative Haltung der Dorfbewohner gegenüber „le gueux“ in den Dialogfassungen versprachlichen zu können, sollte an spezifischem Wortschatz ein gewisses Reservoir an Schimpfwörtern (fainéant, idiot, salaud, escroc, bandit, voleur, crapule) und an Ausdrücken der Ablehnung und des Spotts vermittelt werden. Die glückliche Wendung, die in Inszenierung II im Zuge der Abänderung des Endes der Originalgeschichte gefordert wird, wurde in der Erprobung mit Studierenden u.a. dadurch herbeigeführt, dass in der letzten, im Gefängnis spielenden Szene ein amtliches Schreiben eintrifft, aus dem der Bettler erfährt, dass er der uneheliche Sohn eines reichen Adeligen ist und nach dessen Tod ein großes Vermögen erbt. fotografischen Konserve geht insbesondere die räumliche Wirkung (d.h. die Anordnung der Personen auf der Bühne und ihre räumliche Beziehung zueinander) verloren. Abb. 1: „Le gueux“ zieht bettelnd durch die Dörfer. Die Dorfbewohner sind kalt und hartherzig. Standbilder zum Sprechen bringen 157 Abb. 2: Die Dorfbewohner verspotten den Bettler. Die Gendarmen tun nichts. Abb. 3 (links): Der Bettler stiehlt ein Huhn. Von den Dorfbewohnern bezieht er dafür Prügel. Abb. 4 (oben): Der Bettler wird von den Gendarmen ins Gefängnis gebracht. Eva Leitzke-Ungerer 158 4.2 J.M.G. Le Clézio, Ariane (1982) Die Novelle erzählt die Geschichte der etwa 15jährigen Christine, die mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester in der tristen banlieue einer französischen Großstadt lebt. Christine ist am Abend eines Ostermontags auf dem Nachhauseweg, möchte jedoch noch nicht in die enge und bedrückende Atmosphäre der elterlichen Wohnung zurückkehren. Sie sucht Zuflucht in einer Milchbar, trifft dort auf ihre Freundin Cathie, geht aber, als sie die aufdringlichen Blicke des Kellners bemerkt. Einsam und alleine und vom Gefühl einer diffusen Bedrohung erfasst irrt Christine durch die ausgestorbenen Straßen. Plötzlich taucht eine Gruppe von Mopedfahrern auf, die Christine auf ihren Maschinen verfolgen; wiederum flüchtet sie und steht plötzlich vor dem Mietshaus, in dem ihre Eltern wohnen. Als sie das Haus betritt, warten die Jugendlichen schon auf sie. Christine wird von Abb. 5: Der Bettler wird in der Gefängniszelle tot aufgefunden. Standbilder zum Sprechen bringen 159 ihnen im Keller vergewaltigt. Im Gegensatz zu ihrem mythologischen Vorbild Ariadne (auf die der Titel der Novelle ironisch anspielt) kann sie sich nicht einfach mit einem Faden aus dem ausweglosen Labyrinth der Gewalt befreien (vgl. Wilts 2000: 22). Auch wenn die Thematik der Novelle - die Orientierungssuche von Jugendlichen in einer als bedrohlich empfundenen und sich als gewalttätig erweisenden Welt - für Schülerinnen und Schüler sicher von Interesse ist, so stellt das zentrale Ereignis, auf das die Erzählung zusteuert - die Vergewaltigung von Christine - aus methodischer Sicht doch ein gewisses Problem dar. Es ist durchaus denkbar, dass Jugendliche sich zu dieser Szene nicht äußern wollen. Hier zeigen sich nun wieder die Vorteile des Standbildtheaters, denn es ermöglicht, das darzustellen, worüber man nicht sprechen kann oder will. Darüber hinaus kann die Vergewaltigung beispielsweise nur angedeutet werden - eine Lösung, die in der Standbildphase von den Studierenden gewählt wurde (vgl. Abb. 6). 8 Abb. 6: Christine als Opfer der Vergewaltigung, umringt von der Gruppe der Mopedfahrer. 8 An dieser Standbildfolge haben folgende Studierende mitgewirkt: Anke Ballhause, Cornelia Brunk, Franziska Ehinger, Christine Kentschke, Ophélie Payet, Florence Rivière. Eva Leitzke-Ungerer 160 4.3 Ana María Matute, La felicidad (1961) Die Erzählung spielt in den 1950er Jahren in einem Dorf in Spanien. Im Mittelpunkt steht Filomena, eine etwa 40jährige Frau, die von den Dorfbewohnern nur als „die Verrückte“ („la loca“) bezeichnet wird. Die Geschichte erzählt die Begegnung zwischen Filomena und Don Lorenzo, der als neuer Arzt in das Dorf kommt und eine Unterkunft sucht. Filomena bietet ihm das Zimmer ihres Sohnes Manolo an; es sei derzeit frei, weil Manolo in der Stadt eine Lehre als Schuster mache. Filomena ist sehr stolz auf ihren Sohn; sie zeigt Don Lorenzo die selbst gefertigten Schuhe, die ihr Manolo zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hat. Don Lorenzo hat den Eindruck, dass Filomena eine ganz normale Frau ist; er wundert sich, warum sie von den anderen für verrückt gehalten wird. Am nächsten Tag erzählt ihm einer der Dorfbewohner, dass Manolo tot ist; er ist vor vier Jahren an Meningitis gestorben. Die Geschichte stellt insofern eine interessante Herausforderung für das linear ablaufende Standbildtheater dar, als zwei unterschiedliche Ebenen der Abb. 7: Filomena zeigt Don Lorenzo die Schuhe, die Manolo ihr geschenkt hat. der fiktiven Realität dargestellt werden müssen: Erstens die Realität der Gegenwart, in der es, zumindest für die Dorfbewohner, keinen Manolo mehr gibt. Standbilder zum Sprechen bringen 161 Abb. 8: Don Lorenzo erfährt, dass Manolo vor vier Jahren gestorben ist. Für Filomena lebt Manolo weiter; sie ist glücklich. Zweitens die irreale Welt von Filomena, in der Manolo noch lebt. Die Studierenden lösten diese Zweigleisigkeit, indem sie die Figur des toten Manolo in einige der Standbilder einbezogen, wie z.B. in das dritte und das abschließende fünfte Standbild (vgl. Abb. 7 u. 8). 9 5. Standbilder zum Sprechen bringen - ein Resümee des didaktischen Potenzials Das Standbildtheater mit seinen diversen Anschlussaktivitäten ist, wie eingangs bereits betont, ein Verfahren mit einer szenischen und einer visuellen Komponente. Als szenisches Verfahren birgt es zunächst zahlreiche 9 Die Standbilder wurden von folgenden Studierenden erarbeitet: Kristin Land, Sabine Tornau, Aniko Szücs, Juliane Walther. Eva Leitzke-Ungerer 162 Vorteile, die dem szenischen Spiel aufgrund seines Spielcharakters zukommen. 10 Hinzu kommt, dass das Standbildtheater für viele Schülerinnen und Schüler ein neuartiges und ungewöhnliches Verfahren der Inszenierung ist; dieses innovative Element wirkt sich, wie die Erprobung gezeigt hat, sehr positiv auf die Motivation aller Beteiligten aus. Ein weiteres Plus besteht darin, dass (mit Ausnahme der stummen Standbildfolge) in allen Phasen die fremdsprachliche Kompetenz (Leseverstehen, Sprechen, Schreiben) gefördert wird und dass das Standbildtheater - mehr noch als andere szenische Verfahren - geeignet ist, sprachliche Unzulänglichkeiten und Hemmungen von Lernenden abzubauen, da der Weg vom stummen Standbild zur voll dialogisierten Geschichte sehr behutsam an die Verwendung der Fremdsprache in den Spielszenen heranführt. Aus unterrichtspraktischer Sicht ist wichtig, dass die Standbildmethode einfach und schnell zu erlernen ist. Zugleich erfordert der Bau von Standbildern von den Spielern Präzision und Konzentration: „Szenen können nur exakt gedeutet werden, wenn Standbilder genau erstellt und interpretiert werden.“ (Scheller 1998: 63) Damit ist bereits die zentrale Funktion des Standbildverfahrens und seiner szenischen Anschlussaktivitäten angesprochen: Es ist eine Interpretation des literarischen Textes, die durchaus gleichberechtigt neben einer rein kognitiv-sprachlichen Deutung des Textes steht. Im szenischen Spiel wird das Gelesene ‚verkörpert‘, es wird sinnlich erfahrbar, anschaubar, erlebbar gemacht (vgl. Schülein/ Zimmermann 2002: 260). Die besondere interpretatorische Leistung der an der (stummen) Standbildfolge beteiligten Spieler besteht dabei in der Schaffung von aussagekräftigen Bildern, deren Wirkung auf die Zuschauer - gerade durch den Verzicht auf die Ausdrucksmittel der Sprache, der Stimme, der Bewegung - ein besonders nachhaltiger und tiefer ist. 10 Auf diese Vorteile (Perspektivenwechsel, sanktionsfreies Probehandeln im Rahmen der fiktiven Welt des Spiels etc.) kann hier nicht näher eingegangen werden; vgl. dazu u.a. Klippel (1998: 5f.), Spaeth-Goes/ Jauch (1998: 6f., 11f.), Scheller (1998: 25-36; 2008: 45f., 49-56), Surkamp (2007: 139ff.). Standbilder zum Sprechen bringen 163 Quellen Primärtexte García Pavón, Francisco (2003). „El hijo de madre/ Der Sohn einer Mutter.“ In: Brandenberger, Erna (Hrsg.). Fueron testigos - Sie waren Zeugen. Cuentos modernos - Moderne spanische Erzählungen. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 156-165. Le Clézio, Jean Marie Gustave (1982). „Ariane.“ In: ders. (1982). La ronde et autres faits divers. Paris: Gallimard, 87-105. Matute, Ana María (1997 [1961]). „La felicidad.“ In: dies. Historias de la Artámila. Barcelona: Ediciones Destino. Maupassant, Guy de (1997 [1885]). „Le gueux“. In: Bogdahn, Carola et al. (Hrsg.). Guy de Maupassant. Six contes. Textes et documents. Stuttgart: Klett, 16-22. Sekundärtexte Boal, Augusto (1989). Theater der Unterdrückten: Übungen für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Klippel, Friederike (1998). „Spielen im Englischunterricht.“ Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 35, 3-12. Leitzke-Ungerer, Eva (2006). „Texttheater im Fremdsprachenunterricht.“ In: Hahn, Angela & Klippel, Friederike (Hrsg.). Sprachen schaffen Chancen. München: Oldenbourg, 75-83. Leitzke-Ungerer, Eva (2008). „Akustische Inszenierung von Erzählungen und Gedichten im fremdsprachlichen Literaturunterricht: Hörspielarbeit mit französischen, spanischen und italienischen Texten.“ Fremdsprachen lehren und lernen (FLuL) 37, 164-183. Nünning, Ansgar & Surkamp, Carola (2006). Englische Literatur unterrichten: Grundlagen und Methoden. Seelze-Velber: Kallmeyer-Klett. Scheller, Ingo (1998). Szenisches Spiel: Handbuch für die pädagogische Praxis. Berlin: Cornelsen Scriptor. Scheller, Ingo (2008). Szenische Interpretation: Theorie und Praxis eines handlungs- und erfahrungsbezogenen Literaturunterrichts in Sekundarstufe I und II. Seelze-Velber: Kallmeyer. Eva Leitzke-Ungerer 164 Schülein, Frieder & Zimmermann, Michael (2002). „Spiel- und theaterpädagogische Ansätze.“ In: Bogdal, Klaus-Michael & Korte, Hermann (Hrsg.). Grundzüge der Literaturdidaktik. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 258-271. Seidl, Monika (2007). „Visual Culture: Bilder lesen lernen, Medienkompetenz erwerben.“ Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 87, 2-6. Spaeth-Goes, Judith & Jauch, Werner (1996). „L’amour dans les contes de Maupassant - source de désenchantement ou de l’espoir? “ Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 4, 42-48. Spaeth-Goes, Judith & Jauch, Werner (1998). „Französisch besser in Szene setzen: Theater im Sprachunterricht.“ Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 6, 4-13. Surkamp, Carola (2007). „Fremdes spielerisch verstehen lernen: Zum Potenzial dramatischer Texte und Zugangsformen im Fremdsprachenunterricht.“ In: Bredella, Lothar & Christ, Herbert (Hrsg.). Fremdverstehen und interkulturelle Kompetenz. Tübingen: Narr, 133-147. Wilts, Johannes (2000). „Le Clézios Novelle Ariane: Schüleraktivierung als Schlüssel zum hermetischen univers leclézien.“ Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 2, 22-27. Abbildungen Abb. 1-5: Studierende der Universität Halle in einer Standbildfolge: Viviane Benecke, Honorata Czychnerska, Susanne Graf, Anke Sappok, Michael Schneider, Patricia Sperlik. Abb. 6: Standbild mit den Studierenden: Anke Ballhause, Cornelia Brunk, Franziska Ehinger, Christine Kentschke, Ophélie Payet, Florence Rivière. Abb. 7-8: Standbilder mit den Studierenden: Kristin Land, Sabine Tornau, Aniko Szücs, Juliane Walther. 147 C AROLA H ECKE Zum Gewinn bildproduktiven Arbeitens im fremdsprachlichen Literaturunterricht 1. Gründe für bildproduktive Verfahren im fremdsprachlichen Literaturunterricht Der Vorschlag, im Fremdsprachenunterricht bildproduktiv zu arbeiten, d.h. zu collagieren, zu fotografieren, zu malen, zu zeichnen oder pantomimisch zu arbeiten, also nicht vorrangig zu sprechen oder zu schreiben, mag im ersten Moment unsinnig erscheinen. Soll man im Fremdsprachenunterricht nicht eine Fremdsprache lehren bzw. lernen? Wie soll das gehen, ohne Worte? Dieser kritische Einwand greift jedoch aus drei Gründen zu kurz: Erstens lautet das oberste Ziel des Fremdsprachenunterrichts ‚interkulturelle kommunikative Kompetenz‘ (vgl. Bildungsserver 2004: 108); und da Bilder bzw. visuelle Zeichen Kommunikationsmittel sind, muss dieses Ziel zwangsläufig auch das visuelle Kommunizieren umfassen. ‚Visuelle Kommunikation‘ bedeutet die kompetente Bildrezeption ebenso wie die erfolgreiche, d.h. für den Empfänger bzw. die Empfängerin verständliche Bildproduktion. Diese gilt es also - da zu den Lernzielen gehörend - zu üben. Zweitens muss im Sinne des fächerübergreifenden Lernziels ‚visual literacy‘ bildproduktiv gearbeitet werden: zum einen, weil visual literacy eine produktive Komponente besitzt (vgl. Scheurer 2006: 7); zum anderen, weil anzunehmen ist, dass die Handlungs- und Produktionsorientierung zu einem besonders nachhaltigen Wissenszuwachs bezüglich des Mediums ‚Bild‘ und seinen Eigenschaften führt. Drittens ermöglichen die Bilder per se sowie das handwerklich-körperliche Arbeiten bei der Bildproduktion das ganzheitliche Lernen mit allen Sinnen, wodurch Unterrichtsinhalte, auch die des Fremdsprachenunterrichts, eine größere Bedeutung verliehen bekommen (vgl. Haß 2006: 132). Die Nachhaltigkeit dieses Lernens rechtfertigt dann auch den relativ hohen Zeitaufwand, den die Bildproduktion erfordern kann. All dies macht deutlich: Die Bildproduktion im Fremdsprachenunterricht ist eine durchaus sinnvolle Aktivität. Carola Hecke 166 Im Folgenden wird zunächst beschrieben, welchen Nutzen die Bildproduktion speziell für den fremdsprachlichen Literaturunterricht birgt (Kap. 2). Daran anschließend wird erklärt, dass bei bildproduktiven Aktivitäten, die zum Lernziel ‚visual literacy‘ führen sollen, nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Bildmerkmale zu thematisieren und zu erarbeiten sind (Kap. 3). Um welche Merkmale es sich dabei handeln kann, wird im letzten Teil dieses Beitrags beschrieben (Kap. 4), um Laien der Bildproduktion ein gestalterisches Grundwissen zu vermitteln und sie dadurch zur Anwendung der vorgestellten Methode im fremdsprachlichen Literaturunterricht zu ermutigen. 2. Ziele des fremdsprachlichen Literaturunterrichts: Was kann die Bildproduktion wie leisten? Die Ziele des fremdsprachlichen Literaturunterrichts bestehen u.a. darin, durch die Textarbeit das Textverstehen der Lernenden zu trainieren, sie ästhetisch zu bilden, sie zu Sprachhandlungen zu animieren, ihre Fähigkeit zu Empathie und zur Perspektivenübernahme auszubilden und ihnen Einblicke in andere Kulturen zu ermöglichen (vgl. Nünning/ Surkamp 2006: 12-15). Diese literarischen, sprachlichen und interkulturellen Lernziele lassen sich durch die Bildproduktion erreichen, wie wiederholte Unterrichtsversuche mit Lernenden gezeigt haben und wie im Folgenden dargelegt werden soll. 2.1 Bildproduktion und Textverstehen ‚Textverstehen‘ bedeutet vereinfacht das Erreichen einer logischen, stimmigen, d.h. auch am Text belegbaren Interpretation. Dazu muss der Text auf der lexikalischen, syntaktischen und semantischen Ebene erschlossen werden. Darüber hinaus spielen für die Erschließung literarischer Texte weitere Aspekte eine Rolle, etwa die erzählerische Struktur des Dargestellten in Erzähltexten, die Verwendung rhetorischer Mittel in lyrischen Texten oder die Figurenkonstellation in dramatischen Texten. Bildproduktive Aufgaben, wie beispielsweise die Illustration von literarischen Texten, können die Texterschließung insofern erleichtern, als für die Visualisierung von Textinhalten zentrale Inhalte identifiziert und Zum Gewinn bildproduktiven Arbeitens 167 Anhaltspunkte für ihre Gestaltung gesucht werden müssen. Die Bildproduktion lässt die Notwendigkeit entstehen, offene Fragen zu klären. So war in den Unterrichtsversuchen zu beobachten, dass die Studierenden zum einen intensiv lasen und später die Texte wiederholt auf Informationen scannten. Außerdem konsultierten sie Wörterbücher und halfen sich gegenseitig bei Vokabel- oder Inhaltsfragen weiter und erarbeiteten sich so gemeinsam die Texte. Durch die Forderung, mit der Visualisierung ein Produkt abzuliefern, konnte sich - anders als bei der mündlichen Textbesprechung - niemand der Textreflexion entziehen und andere die Arbeit machen lassen. So sollten im Schulunterricht alle Lernenden zu einer (ersten) Textinterpretation gelangen. Begünstigt wird dies durch die Möglichkeit zum Austausch über den Text mit den Sitznachbarn - im Gespräch oder (sofern möglich) durch das Spähen auf das Nachbarblatt. Diese Textinterpretation spiegelt sich - den gestalterischen Fähigkeiten der Lernenden entsprechend - in ihren Visualisierungen wider. Mit Hilfe dieser Visualisierungen (ihrer Präsentation und Besprechung unter Rückbezug auf den Text im Plenum oder in Kleingruppen) können letzte Verständnislücken der Lernenden geschlossen werden, Missverständnisse geklärt und erste Interpretationen in Richtung umfassender Textauslegungen modifiziert werden. Darüber hinaus können durch diese Bezugnahme auf den Text u.a. Stück für Stück die formalen Texteigenschaften zusammengetragen werden, die im traditionellen Literaturunterricht am Ende einer Textanalyse stehen. So verwies ein Student im Unterrichtsversuch zu Oscar Wildes Gedicht „Impression du Matin“ (1881) auf die Metapher ‚Herz aus Stein‘ („heart of stone“), als er sein Bild vorstellte, in dem eine Figur emotionslos und in kühlen Farben dargestellt war. Die Betrachtung unterschiedlicher Visualisierungen eines Textes - in den Unterrichtsversuchen wichen die Bilder inhaltlich sowie formal stark von einander ab - kann den Lernenden zudem deutlich und einprägsam vor Augen führen, dass ein Text unterschiedliche Deutungen zulässt. 2.2 Bildproduktion und Sprachhandlungen Die Bildproduktion schafft eine Vielzahl von Sprechanlässen. Durch die Freiheit, sich während der Bildproduktion in der Fremdsprache unterhalten zu dürfen, können sich die Lernenden über die Möglichkeiten der Bildgestaltung austauschen, und diese sind vielfältig. Da die Bildgestaltung textbezogen erfolgt, kann so ausgelöst durch den Auftrag zur Bildproduktion authentische fremdsprachliche Kommunikation über den literarischen Text stattfinden. In den Unterrichtsversuchen halfen sich die Carola Hecke 168 Studierenden nicht nur gegenseitig, um inhaltliche Unklarheiten zu beseitigen, sondern tauschten sich auch über die Visualisierungsmöglichkeiten des Beschriebenen und seiner Wirkung aus. Weitere Sprachhandlungen fanden statt, als die fertigen Arbeiten - um die Einzelleistungen zu honorieren - im Plenum vorgestellt und diskutiert wurden. Dabei erhielten alle Studierenden die Gelegenheit zur mündlichen Beteiligung in der Fremdsprache: Sie waren aufgefordert, zu erklären, was ihre Bilder zeigten, d.h. auf welche Textteile sich das Dargestellte bezog, und warum sie es so und nicht anders gestaltet hatten. Dabei sollten die Wirkungen von Text und Bild in Zusammenhang zu ihren formalen Auslösern gebracht werden. Dies geschah etwa so: Es wurde eine kleine Figur gezeichnet mit viel Kulisse darum, um den Körper noch kleiner wirken zu lassen. Dies sollte den Eindruck der Einsamkeit einer Figur zum Ausdruck bringen. Oscar Wildes „Impression du Matin“ erweckt diesen Eindruck durch die Verwendung bestimmter rhetorischer Mittel. Solche Zusammenhänge von Form und Wirkung sowohl in Bildern als auch in Texten sollen durch ihre Thematisierung und Anschaulichkeit ins Bewusstsein der Lernenden rücken. Die an die Bildproduktion anschließende Diskussion der Bilder und ihrer Gestaltung bot weitere Möglichkeiten für Sprachbeiträge. Von Vorteil erwies sich dabei die durch die Bildarbeit initiierte intensive Auseinandersetzung mit dem Text, denn sie erlaubte es allen Studierenden - sofern dazu motiviert - sich an der Diskussion zu beteiligen. In diesen Sprachbeiträgen wurde wiederholt Vokabular des Gedichts - in der Form von Zitaten oder auch integriert in eigene Äußerungen - verwendet. 2.3 Bildproduktion und affektive Lernziele wie ‚Empathie‘ und ‚Perspektivenübernahme‘ Im Vergleich zu schriftsprachlichen Texten wecken Bilder eher affektive Reaktionen wie Freude und Neugier, aber auch Angst, Trauer oder Mitleid (vgl. Edens/ McCormick 2000, Vernon 1953). Durch ihre Anschaulichkeit bieten sie Identifikationsmöglichkeiten, die leichter zugänglich sind als die in literarischen Texten, und ihre Rezeption kann durch die Bildlichkeit des Reizes und damit verbundene individuelle Erinnerungen Gefühle auslösen. Daher können, wenn ein Text die Lernenden kaum berührt, über seine gegenständliche Illustration affektive Reaktionen initiiert werden. Zum Gewinn bildproduktiven Arbeitens 169 Da es manchmal schwierig bzw. zeitaufwendig sein kann, passende Illustrationen für die Textarbeit im Literaturunterricht zu finden, bietet es sich an, die Lernenden selbst solche Bilder anfertigen zu lassen, um ihnen auf diese Weise einen weiteren Zugang zum Text zu ermöglichen: über das eigene oder über fremde Bilder. Denn es findet eine Konkretisierung der Textinhalte statt, und über diese Vergegenständlichung können Assoziationen bei den Lernenden wachgerufen werden. Dies geschieht zum einen während der Bildproduktion, nämlich bei den Überlegungen bezüglich der Bildgestaltung im Sinne einer Textinterpretation: Auf der Basis von individuellen Erinnerungen, Weltwissen und Erfahrungen mit dem Medium ‚Bild‘ wird die jeweilige Textauslegung subjektiv visualisiert. Zum anderen wird auch bei der Bildrezeption das Dargestellte, d.h. werden Textinhalte, mit dem individuellen Vorwissen der Lernenden verknüpft. Denn das Bild wird von den Betrachtenden unter Bezugnahme auf ihre individuellen Erinnerungen, ihr Weltwissen und ihre Erfahrungen mit dem Medium ‚Bild‘ gedeutet. So können Visualisierungen von Textinhalten Erinnerungen und über damit verbundene Emotionen Gefühle für die Textinhalte wecken. Mit speziellen bildproduktiven Arbeitsaufträgen kann zudem das ‚Sich- Hineinversetzen‘ in Figuren erreicht werden, etwa wenn die Lernenden aufgefordert werden darzustellen, wie sich ein Charakter in einer bestimmten Situation fühlt (vgl. Abb. 1). Dazu können sie gestisch-pantomimisch arbeiten (auch dies ist eine Form der Bildproduktion), Farben abstrakt einsetzen, um eine bestimmte Stimmung auszudrücken, Gesichtsausdrücke mehr oder weniger stilisiert zeichnen (emoticons) etc. Abb. 1: Ausdruck von Lady Macbeths Stimmung durch Farben Carola Hecke 170 Aber Bilder leisten noch mehr: Zum einen bringt der Bildinhalt die Perspektive des Erzählers oder lyrischen Ichs sichtbar zum Ausdruck; zum anderen führen die von einander abweichenden Darstellungen den Lernenden unterschiedliche Sichtweisen ‚vor Augen‘. Die Bilder und Präsentationen helfen ihnen dann, jeweils andere Textauffassungen nachzuvollziehen. 2.4 Bildproduktion und Einblicke in kulturell bedingte Sichtweisen Anders als womöglich angenommen ermöglicht die Bildproduktion zu einem Text, der aus einer Zielkultur des Fremdsprachenunterrichts stammt, weniger Einblicke in andere Kulturen. Vielmehr reflektiert sie die Vorstellung der Bildschaffenden von der im Text beschriebenen Kultur und damit die Lernervoraussetzungen: Die Visualisierung eines Sachverhalts zeigt, welche Vorstellung die Lernenden von dem Sachverhalt haben; die Bildgestaltung ist zudem von den kulturell geprägten Visualisierungsgewohnheiten der Lernenden beeinflusst. Grund dafür ist zum einen die Tatsache, dass der Textsinn über die individuellen Assoziationen der Rezipierenden konstituiert wird. Wörtern können daher in Abhängigkeit von kultureller Prägung ganz unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden. Bilder spiegeln diese subjektiven Auslegungen wider. Zum anderen sind Bilder im Grunde Interpretationen von Interpretationen, denn sie bilden das Textverständnis der Lernenden nicht eins zu eins ab, sondern sind Visualisierungen dieser Interpretationen gemäß dem Vermögen der Bildproduzierenden. Somit ermöglicht die Bildproduktion eher Einblicke (im wortwörtlichen Sinne) in eigene, kulturell bedingte Sichtweisen der Lernenden. Diese können sich z.B. durch Bildvergleiche zum Unterrichtsthema machen lassen. So kann dann über die Schülerbilder ein interkulturelles Bewusstsein trainiert werden, welches wiederum die weitere Textrezeption beeinflussen kann, da es zum Hinterfragen eigener textbezogener Vorstellungen anregt. 2.5 Weitere Gründe für Bildproduktionen im fremdsprachlichen Literaturunterricht Über diese vier Lernziele hinaus gibt es weitere Gründe, die für Bildproduktionen im fremdsprachlichen Literaturunterricht sprechen. So dienen Bilder nicht nur der Textinterpretation, sondern auch der Textorganisation. Mit den Aufträgen, Figurenkonstellationen, Zeitleisten zu Zum Gewinn bildproduktiven Arbeitens 171 Ereignisfolgen oder Fieberkurven zum Befinden von Figuren anzufertigen, lässt sich die Strukturierung von Textinhalten erreichen. Die dabei erstellten Bilder fallen in die Kategorie der logischen Bilder: Sie sind abstrakt und ihr Inhalt erschließt sich erst durch die Kenntnis der verwendeten Darstellungskonventionen (vgl. Strittmatter/ Niegemann 2000: 43-44). Außerdem bieten Bildproduktionen die Gelegenheit zur Gruppenarbeit, denn die Vielfalt möglicher Darstellungsweisen garantiert Diskussionsstoff (vgl. Rampillon 1999: 14ff.). Die Gruppenarbeit kann bei der vorbereitenden Lektüre, bei der Bildproduktion sowie bei der anschließenden Bildpräsentation stattfinden. Ihr Vorteil besteht darin, dass die Kooperation der Lernenden das Entstehen eines aussagekräftigen Produkts beschleunigt. Manche Verfahren wie die Pantomime sind ohnehin unmöglich in Einzelarbeit umzusetzen, wenn mehr als eine Figur im Text erwähnt wird. Besonders geeignet ist das Verfahren des Collagierens: Das Material kann arbeitsteilig in Gruppen gesichtet werden und ebenfalls in Gruppen wird gemeinsam unter Rückbezug auf den zu illustrierenden Text über die Bildgestaltung entschieden. Die Diskussion verschiedener Ideen führt zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Text und seinen Visualisierungsmöglichkeiten (zur Arbeit mit Collagen im Fremdsprachenunterricht vgl. Hellwig 1989, Pohl 1988, Polletti 1989, Siekmann 1989). Durch die doppelte Repräsentation in Wort und Bild verbessern Bildproduktionen darüber hinaus die Erinnerung der Lernenden an die dargestellten Textinhalte. Studien belegen, dass Informationen besser erinnert werden, wenn sie zum einen auf unterschiedlichen Kanälen aufgenommen (vgl. Ballstaedt 1990: 185) und zum anderen kreativ verarbeitet werden (vgl. Hitch et al. 1991, Miller/ Pressley 1989: 432). Im Falle der Unterrichtsversuche führte die Bildarbeit dazu, dass Studierende auch noch Semester später wussten, wovon das Gedicht handelte, das sie visualisiert hatten - dabei hatten sie sich lediglich eine Doppelstunde lang damit beschäftigt. Und schließlich können Bildproduktionen motivieren. Sie kommen den Präferenzen des so genannten visuellen Lernertyps entgegen, bedeuten Abwechslung von der üblichen Textfokussierung im Fremdsprachen- oder Literaturunterricht und können so Freude bei der Beschäftigung mit Literatur entstehen lassen bzw. verstärken. In den Unterrichtsversuchen äußerten sich selbst die Studierenden positiv, obwohl doch manchmal angenommen wird, dass nur jüngere Schülerinnen und Schüler Spaß am Malen, Zeichnen oder Spielen haben, und dass ältere Lernende die Bild- Carola Hecke 172 produktion als kindisch empfinden. Die Unterrichtsversuche bestätigen dies nicht. Zwar kann es vorkommen, dass Lernende dem Auftrag, bildproduktiv zu arbeiten, zunächst mit Skepsis und Ablehnung begegnen. Sie sind besorgt, eine ungenügende Leistung zu erbringen oder sich durch mangelndes künstlerisches Talent zu blamieren. Diese Sorge kann durch die Erklärung beruhigt werden, dass es bei der Bildarbeit nicht um die Produktion perfekter Kunstwerke geht, sondern dass die dabei ablaufenden mentalen Prozesse sowie die visualisierten Ideen im Vordergrund stehen. Bildproduktives Arbeiten im Literaturunterricht wirkt auch deshalb motivierend, weil es abwechslungsreich gestaltet werden kann. Erstens können verschiedene Techniken der Bildproduktion angewandt werden wie das Collagieren, Filmen, Fotografieren, Malen, szenische Umsetzen 1 oder Zeichnen. Zweitens können verschiedene Bildtypen geschaffen werden (vgl. Strittmatter/ Niegemann 2000: 44f.), z.B. Abbildungen (deren visuelle Merkmale mit denen des Abgebildeten weitgehend übereinstimmen), logische Bilder (d.h. Diagramme, Tabellen etc.) oder visuelle Analogien (die einen neuen Sachverhalt durch die erkennbare Ähnlichkeit zu einem anderen, bekannten Sachverhalt besser verständlich machen). Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Bildtypen unterschiedliche Wirkungen haben, somit unterschiedliche Funktionen erfüllen können und entsprechend zweckbedingt ausgewählt werden müssen. Drittens gibt es ein breites Spektrum von sinnvollen bildproduktiven Arbeitsaufträgen für den Literaturunterricht: Visualisierung von Textinterpretationen, Charakterisierungen (vgl. Abb. 2), Figurenkonstellationen, Darstellung einzelner Szenen oder Objekte, Skizzieren von Handlungsverläufen, Stimmungen etc. Diese Auflistung macht deutlich, welches Potenzial das bildproduktive Arbeiten für das erfolgreiche Unterrichten und Lernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht birgt. Sicherlich ist es zeitlich ökonomischer, im Kontext Literaturunterricht auf die Bildproduktion zu verzichten und anstelle dessen direkt eine Textanalyse mit anschließender Interpretation durchzuführen, doch vergibt man damit die Chance, über die Bilder eine Lernmotivation zu schaffen und eine nachhaltige Durchdringung des Textes zu erreichen. Des Weiteren lässt man die Möglichkeit ungenutzt, durch die Bildproduktion die Ausbildung von visual literacy zu fördern. 1 Zu diesem Aspekt vgl. auch den Beitrag von Eva Leitzke-Ungerer im vorliegenden Band. Zum Gewinn bildproduktiven Arbeitens 173 Abb. 2: Gruppenarbeit aus dem Seminar Teaching American Landeskunde zu Tortilla Curtain. Charakterisierung von Protagonisten durch die Bildproduktion 3. Bildproduktionen im fremdsprachlichen Literaturunterricht zur Förderung von visual literacy Die Bildproduktion per se führt nicht automatisch zur Ausbildung einer visual literacy, denn wer mit einem Stift Spuren auf einem Stück Papier hinterlässt, ist noch lange nicht visuell kompetent. Vielmehr bedeutet die produktive Komponente der visual literacy die Fähigkeit der erfolgreichen Bildproduktion. ‚Erfolgreich‘ bedeutet, dass ein Bild so gestaltet ist, dass es die intendierte Botschaft für die Empfangenden erkennbar, d.h. mit dazu geeigneten Mitteln darstellt. Sicherlich wird es auch für solche Bilder - selbst bei vorhandener rezeptiver Bildkompetenz - durch die individuellen Perspektiven der Betrachtenden abweichende Deutungen geben, doch sollten diese Deutungen weniger widersprüchlich sein. Ein Bild wird jedoch nicht immer so angelegt, dass seine intendierte Bedeutung (die Grundaussage) auf Anhieb erkennbar ist, und sich in den möglichen Varianten der Deutung widerspiegelt. Dies liegt an der (inkompetenten) Verwendung von Darstellungsmitteln: Wer im Pub in Irland nichts ahnend Carola Hecke 174 zwei Getränke mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger bestellt, und mit dieser dort als unflätig geltenden Geste den Wirt beleidigt, dessen Kommunikationsversuch kann nicht als ‚erfolgreich‘ bezeichnet werden. Deswegen ist die Beherrschung solcher Mittel und das Bewusstsein darüber, dass es solche Mittel gibt - die mitunter auch noch kulturell geprägt sind -, von Bedeutung für die Fähigkeit, visuell zu kommunizieren; sie sind ein wichtiger Aspekt bildproduktiver Kompetenz. Daher soll ihnen an späterer Stelle ein eigenes Unterkapitel gewidmet werden (vgl. Kapitel 4). Zu den visuellen Darstellungsmitteln zählen die Wahl von Perspektive, Größenverhältnissen, Farbe, Licht, Komposition etc., also die formalen Bildmerkmale. Deren professionelle Verwendung und Deutung folgt kulturell geprägten Darstellungskonventionen. Etwa entwickeln sich in einem Bild dargestellte Handlungen in der Richtung, in der in der Zielkultur auch gelesen wird (vgl. Kress/ van Leeuwen 2006: 181). Solche Konventionen sind den bildproduzierenden Laien oft nicht bewusst. So heißt es auch bei Gunther Kress und Theo van Leeuwen (ebd.: 32f.): „Visual communication is always coded. It seems transparent only because we know the code already, at least implicitly - but without knowing what it is we know, without having the means for talking about what it is we do when we read an image.“ Bei Kindern ist beispielsweise zu beobachten, dass sie eine Gruppe von drei Menschen als drei getrennte Körper zeichnen, was in den meisten Kulturen nicht automatisch als ‚Gruppe‘ erkannt wird. Eine solche Interpretation wird erst erreicht, wenn die Figuren sich überschneiden und durch räumliche Nähe eine Zusammengehörigkeit signalisiert wird oder wenn alle drei exakt gleich aussehen. Die Kinder wissen zwar, was Gruppen sind, aber sie wissen nicht, wie sie das Konzept ‚Gruppe‘ visuell kommunizieren sollen. Für die Entwicklung einer produktiven visual literacy ist es somit notwendig, dass für die Bildproduktion die Rolle der Darstellungskonventionen und der Zusammenhang von Bildform und Bildwirkung erarbeitet bzw. thematisiert werden. Die Lernenden müssen ein Bewusstsein für die Bedeutungshaltigkeit bildformaler Eigenschaften entwickeln. Zurück zur Bildproduktion im fremdsprachlichen Literaturunterricht: Es reicht also nicht aus, den Auftrag zur Bildproduktion aufs Geratewohl zu erteilen und sich bei der Besprechung der Produkte auf den Bildinhalt zu konzentrieren. So wird keine visual literacy entwickelt. Für die Produktion aussagestarker Bilder müssen vielmehr die eigenen und die zielkulturellen Darstellungskonventionen, Gestaltungsmöglichkeiten und ihre Zum Gewinn bildproduktiven Arbeitens 175 Wirkung ins Bewusstsein der Lernenden gerückt werden. Dies kann fächerübergreifend im Kunstunterricht geschehen, aber eben auch zweckgebunden im Fremdsprachenunterricht. Dazu können die Lernenden vor der eigentlichen Bildproduktion Bildvergleiche durchführen; Skizzen zu einer vorgegebenen Bildwirkung anfertigen und in Gruppenarbeit modifizieren, bis das bestmögliche Ergebnis erreicht ist; Mimik und Gesten und ihre Wirkung ausprobieren; Darstellungskonventionen und ihre Wirkung an Beispielbildern bestimmen und notieren oder ein Repertoire von Darstellungsmitteln und ihren möglichen Wirkungen in mindmaps sammeln. Nachdem die formalen Bildmerkmale so im Vorfeld der literaturbezogenen Bildproduktion in den Vordergrund gerückt wurden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die formale Gestaltung bei der Bildproduktion bewusst und zweckorientiert erfolgt. Um später das Thema ‚Darstellungsmittel‘ erneut aufzugreifen und das Wissen der Lernenden zu festigen, sollten die Schülerinnen und Schüler bei der anschließenden Bildpräsentation gebeten werden, ihre Bilder nicht nur inhaltlich vorzustellen, sondern auch ihre Wahl der Darstellungskonventionen zu erläutern und zur Diskussion zu stellen. Auf diese Weise wird zum einen das gelernte bildspezifische Wissen angewendet, und zum anderen werden Textinhalte, formale Textmerkmale und Textwirkung wiederholt reflektiert, wenn begründet wird, weshalb die visuelle Interpretation des Textes auf eine bestimmte Weise gestaltet wurde. So vertieft sich neben dem Bildverständnis auch das Textverständnis der Lernenden. Durch solche Übungen, also durch eigene Bildgestaltungsversuche, und durch deren Evaluation sowie Reflexion können die Lernenden schließlich eine bildproduktive kommunikative Kompetenz entwickeln. Eingebettet in den Literaturunterricht bringen solche Aktivitäten den Vorteil, dass sie zudem das literaturbezogene Lernen intensivieren. 4. Formale Bildeigenschaften und ihre Wirkungsweisen Im Folgenden werden klassische Darstellungskonventionen aufgelistet, die sowohl in Europa als auch in Nordamerika Gültigkeit haben. Bei der Bildinterpretation nach diesen Beispielen ist allerdings erstens zu berücksichtigen, dass ein Merkmal verschiedene Wirkungen haben kann, dass also verschiedene Konventionen bestehen können und die genannten Interpretationsmöglichkeiten nur eine Auswahl darstellen. Zweitens müssen Darstellungsverfahren in einem Bild auch nicht immer bewusst gewählt worden Carola Hecke 176 sein, so dass einem Merkmal nicht zwangsläufig inhaltliche Bedeutung zukommen muss, wenn man auf der Suche nach der Botschaft ist, die ein Bild transportieren soll. Unabhängig von dieser Intention sind diese Darstellungsmittel stets von Bedeutung, weil sie die Wirkung eines Bildes steuern - ob dies dem Betrachtenden bzw. der Betrachtenden bewusst ist oder nicht. Für die Bildproduktion ist es daher hilfreich, diesen gängigen Konventionen zu folgen, da sie das Risiko eines Missverständnisses auf Seiten der Empfänger verringern. Die Wahl des Formats (Hochformat oder Querformat) bestimmt, wie viel Fläche der Raum im Vergleich zu den zentralen Objekten einnimmt: Wird eine Person im Hochformat porträtiert, so dominiert sie die Bildfläche; im Querformat sieht man mehr von ihrem Umfeld. Landschaften und weite Räume werden in der Regel im Querformat dargestellt. Durch die Wahl der Perspektive (Vogelperspektive oder Froschperspektive) können zum einen räumliche Gegebenheiten wiedergegeben werden und zum anderen lassen sich Machtrelationen visualisieren: Wer von oben auf etwas herab blickt, sieht die Dinge verkleinert und hat einen beherrschenden Überblick über alles, während derjenige, der von unten hoch schaut, die Dinge als groß und eventuell überlegen wahrnimmt (vgl. Kress/ van Leeuwen 2006: 129ff.). Mit dem Bildausschnitt lassen sich Nähe oder Distanz suggerieren: Im Panorama dargestellt, scheint etwas weit entfernt zu liegen, während eine Nah- oder Großaufnahme den Eindruck von Nähe der Betrachtenden zum Dargestellten entstehen lässt (vgl. ebd.: 124ff.). Durch die Bildkomposition können erstens Bezüge dargestellt werden, zweitens lässt sich die Aufmerksamkeit der Betrachtenden auf bestimmte Bildinhalte steuern und drittens können Handlungsfolgen visualisiert werden. Räumliche Nähe und Überschneidungen von Körpern deuten auf ihre Zusammengehörigkeit hin. Die Aufmerksamkeit erregt, was sich im Bildvordergrund befindet. Und Handlungen entwickeln sich von links nach rechts, in der Richtung, in der auch gelesen wird. So ist der Auslöser eines Ereignisses traditionell links im Bild zu finden, seine Konsequenz rechts. Über diese drei Aspekte hinaus können ‚rechts‘ und ‚links‘ auch für die Himmelsrichtungen stehen (vgl. ebd.: 179ff., 194ff.). Durch die Verwendung von Farbe lässt sich der Eindruck von Wirklichkeitsnähe erreichen. Farbübereinstimmungen mit dem Dargestellten Zum Gewinn bildproduktiven Arbeitens 177 machen die Darstellung leichter identifizierbar. Durch die Farbmodulierung können Schatten geschaffen werden, so dass flache Körper plastisch und lebensecht wirken. Gleiche Farben signalisieren ferner Zusammengehörigkeit. Außerdem lässt sich mit Farben die Aufmerksamkeit der Betrachtenden wecken, und Farben können eine symbolische Bedeutung besitzen (vgl. ebd.: 225ff.). Durch die Gestaltung von Mimik und Gestik abgebildeter Menschen lassen sich deren Stimmung und Tätigkeit transportieren. Sie signalisieren zudem Bezüge: Über Blicke und Gesten lassen sich die Beziehungen von Figuren zu einander oder zu Objekten herstellen. Auf diese Weise können die Betrachtenden sogar selbst in das Bild einbezogen werden, etwa wenn Figuren die Betrachtenden scheinbar ansehen oder in ihre Richtung gestikulieren (vgl. ebd.: 59ff., 67f., 116ff.). In Bildern können auch Symbole zum Einsatz kommen. Symbole sind Objekte (z.B. ein Herz) oder Objekteigenschaften (z.B. die Farbe Grün), die neben ihrer eigentlichen Bedeutung noch eine weitere, assoziative Bedeutung besitzen (Liebe, Neid), die sie auf den Symbolträger (Objektbesitzer, Eigenschaftsbesitzer) übertragen. Solche symbolischen Bedeutungen sind kulturell geprägt (vgl. ebd.: 105ff.). Die Aufmerksamkeit und der Bildlesefluss der Betrachtenden kann durch Akzentuierungsmittel gesteuert werden. Mögliche Akzentuierungsmittel sind auffällige Farben, die Positionierung im Vordergrund, starke Belichtung, die Geste des Zeigens, Blicke, sehr emotionale Gesichtsausdrücke, Übertreibung oder mangelnde visuelle Integration (zu groß, zu farbintensiv, ohne inhaltlichen Bezug zum Rest der Darstellung etc.) (vgl. ebd.: 201ff.). Der Lesefluss beginnt i.d.R. an der auffälligsten Stelle des Bildes - z.B. bei einem ausdrucksstarken Gesicht, das den Betrachtenden anzublicken scheint - und bewegt sich dann in die Richtung weiterer akzentuierter Bildelemente. Der Lesefluss kann linear, kreisförmig, spiralförmig, diagonal etc. verlaufen. Fehlt eine Akzentuierung zentraler Details, wird ihre Bedeutung u.U. gar nicht erkannt. In der logischen Folge weicht die Bilddeutung dann natürlich stark von der intendierten Bildbotschaft ab und es kommt zu Missverständnissen bzw. Bilddeutungen, die von der intendierten Bildbotschaft abweichen. Carola Hecke 178 5. Fazit Um erfolgreich visuell zu kommunizieren, bedarf es einer grundlegenden Kenntnis von bildlichen Darstellungsmitteln und einem Bewusstsein für die Funktion von Bildstrukturen. Dieses Wissen um Bildstrukturen ist essentieller Teil der visual literacy als einer Kompetenz, die sich weder in der oberflächlichen Beschreibung sichtbarer Objekte und vager Eindrücke noch in der zufälligen Bildgestaltung erschöpft. Dieses Wissen kann im Rahmen der Bildproduktion im fremdsprachlichen Literaturunterricht auf vielfältige Weise erworben werden. Es kann durch Übung vertieft werden und dann in einer Vielzahl weiterer, auch außerschulischer Kontexte zur Anwendung kommen. Dabei handelt es sich bei diesem bildbezogenen Wissen um hilfreiches Wissen mit hohem Transferwert, denn die Fähigkeit zur visuellen Kommunikation bzw. zur Kommunikation mit Mischformen aus Bild und Text gewinnt kontinuierlich an Bedeutung: Outside school, however, images play an ever-increasing role, and not just in texts for children. Whether in the print or electronic media, whether in newspapers, magazines, CD-ROMs or websites, whether as public relations materials, advertisements or as informational materials of all kinds, most texts now involve a complex interplay of written text, images and other graphic or sound elements, designed as coherent […] entities by means of layout. But the skill of producing multi-modal texts of this kind, however central its role in contemporary society, is not taught in schools. To put this point harshly, in terms of this essential new communication ability, this new ‘visual literacy’, institutional education, under the pressure of often reactionary political demands, produces illiterates. (Kress/ van Leeuwen 2006: 16f.) Nicht zuletzt um diesem visuellen Analphabetentum ein Ende zu setzen, plädiert dieser Beitrag für bildproduktive Aktivitäten im fremdsprachlichen Literaturunterricht. Über die Ausbildung einer visual literacy hinaus tragen diese bildproduktiven Arbeitsweisen dazu bei, die fachspezifischen Lernziele des fremdsprachlichen Literaturunterrichts zu erreichen: Sie unterstützen u.a. das Textverstehen, initiieren sinnvolle Sprachhandlungen und regen zur Perspektivenübernahme an. Über kreative, bildproduktive Aufgaben können Lernende zudem zu Ergebnissen gelangen, die traditionellerweise am Zum Gewinn bildproduktiven Arbeitens 179 Ende einer Textanalyse stehen. Gleichzeitig wirkt sich das kreative, ganzheitliche Arbeiten mit Bildern förderlich auf das Lernen an sich aus. Darüber hinaus schafft die Bildarbeit einen sinnvollen Kontext für die Erschließung literarischer Texte. Die Bildproduktion und der fremdsprachliche Literaturunterricht ergänzen sich somit hervorragend. Quellen Primärtext Wilde, Oscar (1881). „Impression du Matin.“ In: ders. Poems. Boston: Robert. Sekundärtexte Ballstaedt, Steffen-Peter (1990). „Integrative Verarbeitung bei audio-visuellen Medien.“ In: Böhme-Dürr, Katrin (Hrsg.). Wissensveränderung durch Medien: Theoretische Grundlagen und empirische Analysen. München: Saur, 185-196. Bildungsserver Baden-Württemberg (2004). Bildungsstandards für Englisch (1. und 2. Fremdsprache) Gymnasium - Klassen 6, 8, 10, Kursstufe. Im Internet auf: www.bildung-staerkt-menschen.de/ service/ downloads/ Bil dungsstandards/ Gym/ Gym_E_1f_bs.pdf (7.12.2009). Edens, Kellah M. & McCormick, Christine B. (2000). „How Do Adolescents Process Advertisements? The Influence of Ad Characteristics, Processing Objective, and Gender.“ Contemporary Educational Psychology 25, 450- 463. Haß, Frank (Hrsg.) (2006). Fachdidaktik Englisch: Tradition - Innovation - Praxis. Stuttgart: Klett. Hellwig, Karlheinz (1989). „Authentische Collagen im Fremdsprachenunterricht.“ Neusprachliche Mitteilungen 42, 34-42. Hitch, Graham J.; Halliday, M. S.; Schaafstal, A. M. & Hefferman, T.M. (1991). „Speech, ‘Inner Speech’, and the Development of Short-Term Memory: Effects of Picture-Labeling on Recall.“ Journal of Experimental Child Psychology 51/ 2, 220-234. Kress, Gunther & van Leeuwen, Theo (2006 [1996]). Reading Images: The Grammar of Visual Design. 2. Aufl. Abingdon-New York: Routledge. Carola Hecke 180 Miller, Gloria E. & Pressley, Michael (1989). „Picture versus Question Elaboration on Young Children’s Learning of Sequences Containing Highand Low-Probability Content.“ Journal of Experimental Child Psychology 48/ 3, 431-450. Nünning, Ansger & Surkamp, Carola (2006). Englische Literatur unterrichten: Grundlagen und Methoden. Seelze-Velber: Klett-Kallmeyer. Pohl, Reinhard (1988). „Collagen im Französischunterricht der Sekundarstufe I.“ In: Raasch, Albert; Bludau, Michael & Zapp, Franz Josef (Hrsg.). Aspekte des Lernens und Lehrens von Fremdsprachen. Frankfurt a.M.: Diesterweg, 89-107. Polletti, Axel (1989). „Lektüre von Collagen im Französischunterricht.“ Der fremdsprachliche Unterricht 23/ 93, 10-14. Rampillon, Ute (1999). „Schülerbilder zum Englischlernen.“ Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 33/ 38, 14-19. Scheurer, Stefan (2006). „Zeichnen als planendes Element.“ Kunst + Unterricht 302/ 303, 27-29. Siekmann, M. 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Diese Methode unterstützt Lernende nicht nur bei der für das literarische Verstehen bedeutsamen Entwicklung einer Vorstellung bzw. eines ‚mentalen Modells‘ der Textwelt, sondern ermöglicht zudem einen Zugang zu und die Aushandlung von individuellen Interpretationsweisen. Außerdem gewährt die Restrukturierung und Reorganisation literarischer Texte bzw. ihrer Textwelten im visuellen Medium Zugänge zur symbolischen Bedeutungsebene einzelner Elemente in einer Geschichte. Nach einer Erörterung der theoretischen Grundlagen und unterrichtspraktischen Einsatzmöglichkeiten dieser Methode werden anhand eines Romanauszugs von Andrea Levys Small Island (2004) die didaktischen Potenziale von Visualisierungsaufgaben aufgezeigt. Dazu greift der Beitrag auf Erfahrungen mit dem Einsatz der Methode in einem Leistungskurs Englisch sowie in einem literaturdidaktischen Proseminar zurück. 1. Mentale Modelle und literarisches Verstehen In seinem Aufsatz „Literarisches Verstehen und Kognition. Mentale Modelle und Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht“ erörtert Hallet (2008) die theoretischen Grundlagen und praktischen Anwendungsmöglichkeiten von Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht. Seine theoretischen Ausführungen stützen sich besonders auf Arbeiten aus der kognitiven Narratologie, die davon ausgeht, „daß Lesen kein passiver Akt der Informationsentnahme, sondern ein kreativer Akt der Bedeutungsbildung ist“ (Surkamp 2003: 69). Das Verstehen eines Textes beruht demnach auf Britta Freitag 182 der Interaktion zwischen Informationen eines Textes und den außertextuellen Schemata der Lesenden, also dem Zusammenspiel von bottom-up- und top-down-Prozessen. Beim literarischen Verstehen besteht die Herausforderung für die Lesenden u.a. darin, aus Buchstaben, Wörtern und Sätzen und den zum Teil bruchstückhaften Informationen über die Textwelt und ihre Figuren ein möglichst kohärentes Bild von der fiktionalen Welt des Textes zu gewinnen (vgl. Hallet 2008: 143f., 147). Erst wenn Lesende eine relativ genaue Vorstellung von den fiktiven Räumen, den darin agierenden Figuren und ihrer Beziehungen untereinander entwickeln, sind auch Verstehen, empathisches Einfühlen in eine Figur und schließlich der Entwurf von Deutungshypothesen möglich (vgl. ebd.: 138). Aus diesem Grund ist Hallet (ebd.: 144) zuzustimmen, wenn er betont: „Die kognitive Modellierung ist also die Bedingung für das verstehende, sinnstiftende, interpretative Lesen literarischer Texte.“ In ähnlicher Weise lässt sich Uwe Multhaups (1992: 75) Hinweis verstehen, mit dem zugleich mögliche Konsequenzen für den Literaturunterricht thematisiert werden: „Aus der Unterrichtspraxis ist […] bekannt, daß viele Schüler einen Text von dem Augenblick an besser verstehen, an dem man sie dazu bringt, sich konkret auszumalen, wie sich etwas z.B. in einer Filmszene darstellen ließe und wie die darin auftretenden Personen aussehen, reden und gekleidet sein sollten.“ Sowohl Hallets als auch Multhaups Ausführungen lassen daher die Schlussfolgerung zu, dass der Aufbau eines mentalen Modells von der fiktionalen Welt das literarische Verstehen erleichtert. Für den lernerorientierten Literaturunterricht ist außerdem die Erkenntnis von Bedeutung, dass Lesende unterschiedliche mentale Modelle von der Textwelt entwerfen. So wird die Interpretation der Textinformationen durch das jeweilige Voraussetzungssystem des einzelnen Lesers bzw. der einzelnen Leserin, also durch lebensweltliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster beeinflusst. Unterschiede bei der (Re-)Konstruktion des fiktionalen Raumes, der handelnden Figuren und ihrer Beziehungen zueinander sind daher zu erwarten. Sie sind sogar „der Normalfall literarischen Verstehens und nicht etwa ein Manko, das es zu beseitigen gilt“ (Hallet 2008: 148). Gerade die individuellen Unterschiede in der Interpretation der Lernenden schaffen im Unterricht auch authentische Redeanlässe zur gemeinsamen Bedeutungsaushandlung. Für die Unterrichtspraxis ergeben sich daraus zwei Erfordernisse: Erstens die „Veröffentlichung der individuellen mentalen Repräsentationen der Textwelt […], in welcher Form Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht 183 auch immer“ und zweitens „die Aushandlung einer intersubjektiv vermittelbaren (Re-)Konstruktion“ der Textwelt (ebd.). Im Folgenden soll dargestellt werden, auf welche Weise Visualisierungsaufgaben diesen beiden Erfordernissen gerecht zu werden vermögen. 2. Die Visualisierung mentaler Modelle und ihr Potenzial im Literaturunterricht Diese Überlegungen zum Zusammenhang von literarischem Verstehen und der mentalen Modellierung von Textwelten nimmt Hallet (2008) zum Anlass, Aufgaben für den Literaturunterricht zu entwerfen, die Lernende zur Visualisierung ihrer ‚mentalen Modelle‘ von der Textwelt eines literarischen Textes anregen. Die visualisierten Modelle gewähren zudem einen Zugang zu den individuellen Interpretationen und schaffen damit Möglichkeiten zur gemeinsamen Aushandlung. In seinem Aufsatz verdeutlicht Hallet (ebd.) die Methode anhand der postkolonialen Short Story „Dead Men’s Path“ von Chinua Achebe. Die Aufgabe, die er von Studierenden in einem literaturdidaktischen Seminar bearbeiten ließ, forderte zur Darstellung der wichtigsten Elemente dieser Short Story in einem Diagramm auf. Anhand eines abstrakten Beispieldiagramms mit Pfeilen und Linien wurde erörtert, dass es nicht um eine künstlerische Umgestaltung bzw. intermediale Transformation der Erzählung ging, sondern um die Darstellung von Bedeutung und Sinn innerhalb der Geschichte, um die Abbildung des eigenen Textverstehens (vgl. ebd.: 157). Ohne auf die Kurzgeschichte oder die von den Studierenden visualisierten mental models im Einzelnen einzugehen, soll an dieser Stelle dargelegt werden, worin die Leistungsfähigkeit der Methode besteht: 1. Zunächst unterstützt die Aufgabe die Entwicklung eines kohärenten, komplexen und präzisen ‚mentalen Modells‘. Sie setzt kognitive Prozesse in Gang, die das verstehende Erfassen der Geschichte und die Generierung einer umfassenden Sinnhypothese begünstigen. Gleichzeitig werden die einzelnen Elemente der Geschichte in diese Sinnhypothese integriert. So kann das Beispielmodell einer Studentin, das Hallet (ebd.: 159) näher beschreibt, als Visualisierung eines komplexen und präzisen mental model gelesen werden, das sowohl eine Gesamtdeutung der Geschichte repräsentiert als auch den ein- Britta Freitag 184 zelnen Elementen eine Funktion innerhalb dieser Gesamtinterpretation zuweist. 2. Außerdem erscheint der Wechsel der Repräsentationsform, also die Darstellung der Textwelt im visuellen Medium, insofern kognitiv anregend, als die Aufgabe die Auswahl, Restrukturierung und Reorganisation zentraler Textelemente in einem anderen Medium erfordert (vgl. ebd.: 155). 3. Durch die Visualisierung bzw. die Veröffentlichung der individuellen ‚mentalen Modelle‘ ermöglicht die Methode außerdem einen Zugang zu den individuellen Deutungshypothesen von Lernenden. Damit schafft sie auch eine wichtige Voraussetzung für deren gemeinsame Aushandlung und Ausdifferenzierung - allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese Interpretationen im Unterricht erörtert, reflektiert und diskutiert werden (vgl. ebd.: 160f.). Im Folgenden soll das Potenzial der Methode anhand eines konkreten Beispiels näher erörtert werden. 3. Andrea Levys Roman Small Island (2004) Der Roman Small Island der britisch-jamaikanischen Autorin Andrea Levy erzählt die Geschichte der sogenannten Windrush Generation, der ersten Welle karibischer Einwanderer, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1948 nach Großbritannien kamen. Er ist multiperspektivisch erzählt und gewährt Einblick in die Kriegserfahrungen jamaikanischer Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien stationiert waren, und in die Art und Weise, wie jamaikanische Einwanderer ihre Aufnahme in das Mother Country erlebten (vgl. Stedman 2007: 233). Dabei spielt die Geschichte auf zwei Zeitebenen - ‚1948‘ und ‚Before‘. Aus der Sicht von vier Ich-Erzählern, zwei Frauen und zwei Männern, erhalten die Lesenden abwechselnd Einblick in deren individuelle Erfahrungen. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Hortense Roberts und Gilbert Joseph, ein jamaikanisches Ehepaar, das 1948 in das durch den Krieg geschundene Nachkriegsengland einwandert und im Haus des englischen Ehepaars Queenie und Bernard Bligh in London seine erste Bleibe findet - zur Untermiete. Gilbert Joseph war während des Krieges selbst als RAF-Soldat in England stationiert. Nach dem Krieg heiraten Gilbert und Hortense auf Jamaika, ohne sich wirklich zu kennen, und beschließen, mit Hortenses Geld nach Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht 185 England auszuwandern. Hortense folgt Gilbert nach einigen Monaten und erlebt ein vom Krieg stark gebeuteltes und den Einwanderern gegenüber eher feindlich gesinntes England, in dem sie trotz ihrer Bildung nicht als gleichwertig anerkannt wird und das ihr unerwartet fremd erscheint. Im Mittelpunkt beider Lerngruppen stand das erste Kapitel des Romans nach dem einleitenden Prolog. Der Leser begegnet Hortense, die gerade nach der langen Schiffsreise von Jamaika in London eingetroffen ist, und erlebt aus ihrer Perspektive ihre Ankunft und ihre ersten Stunden in England. Das Kapitel beginnt, als Hortense mit ihrem Überseekoffer vor einem großen Haus steht, das ihr Gilbert als ihre neue Adresse in London mitgeteilt hat. Obwohl Gilbert versprochen hatte, sie am Hafen abzuholen, hatte sie vergeblich auf ihn gewartet und sich schließlich ein Taxi genommen. Als Lesende erhalten wir Einblick in Hortenses Gedanken. Sie erinnert sich an ihre Freundin Celia aus Jamaika, die selbst immer von der Situation geträumt hatte, in der sich Hortense nun wiederfindet: ‘Oh, Hortense, when I am older … […] … when I am older, Hortense, I will be leaving Jamaica and I will be going to live in England.’ This is when her voice became high-class and her nose point into the air - well, as far as her round flat nose could - and she swayed as she brought the picture to her mind’s eye. ‘Hortense, in England I will have a big house with a bell at the front door and I will ring the bell.’ And she made the sound, ding-a-ling, ding-a-ling. ‘I will ring the bell in this house when I am in England. That is what will happen to me when I am older.’ I said nothing at the time. I just nodded and said, ‘You surely will, Celia Langley, you surely will.’ I did not dare to dream that it would one day be I who would sail on a ship as big as a world and feel the sun’s heat on my face gradually change from roasting to caressing. But there was I! Standing at the door of a house in London and ringing the bell. Pushing my finger to hear the dinga-ling, ding-a-ling. […] Hortense Roberts married with a gold ring and a wedding dress in a trunk. Mrs Joseph. Mrs Gilbert Joseph. […] There was I in England ringing the doorbell on one of the tallest houses I had ever seen. (Levy 2004: 9f.) Die großen Erwartungen ihrer Freundin werden allerdings auch in Hortenses Fall recht bald enttäuscht. Die Klingel funktioniert nicht, das Haus sieht ziemlich ‚shabby‘ aus, und schließlich öffnet eine Engländerin - Queenie Bligh - die Haustür, die Hortense von oben bis unten mustert, sich Britta Freitag 186 in ihre und Gilberts Angelegenheiten einmischt und somit aus Sicht der wohlerzogenen Hortense eher schlechte Manieren vorweist. Dass es sich hier um die Hauseigentümerin handelt, ahnt Hortense zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Zudem muss sie feststellen, dass sie trotz ihrer Bildung Schwierigkeiten hat, sich mit dem Taxifahrer oder Queenie zu verständigen. Die Begegnung mit Gilbert, der offensichtlich den Termin zum Abholen verschlafen hat, verstärkt ihr Befremden. Er ist unordentlich gekleidet und auf ihren Vorwurf, dass er sie nicht wie versprochen sehnsüchtig am Hafen erwartete, antwortet Gilbert nur mit Ausreden, so dass sich Hortense fragt: „Where was the man I remembered? “ Die Enttäuschung von Hortense erreicht allerdings erst zum Abschluss des Kapitels ihren Höhepunkt. Sie muss erkennen, dass Gilbert und sie statt eines geräumigen Hauses nur einen winzigen Raum zur Verfügung haben werden: ‘This is it, Hortense. This is the room I am living.’ Three steps would take me to one side of this room. Four steps could take me to another. There was a sink in the corner, a rusty tap stuck out from the wall above it. There was a table with two chairs - one with its back broken - pushed up against the bed. The armchair held a shopping bag, a pyjama top, and a teapot. In the fireplace the gas hissed with a blue flame. ‘Just this? ’ I had to sit on the bed. My legs gave way. There was no bounce underneath me as I fell. ‘Just this? This is where you are living? Just this? ’ ‘Yes, this is it.’ He swung his arms around again, like it was a room in a palace. ‘Just this? Just this? You bring me all this way for just this? ’ (Levy 2004: 17) Das Kapitel eignet sich aus verschiedenen Gründen für einen Visualisierungsauftrag. Zum einen handelt es sich um eine überschaubare textuelle Einheit von knapp acht Seiten. Dabei schildert das Kapitel zunächst eine Szene - die der Ankunft von Hortense in ihrem neuen Zuhause und ihre Begegnung mit Queenie sowie mit Gilbert. Diese Szene wird ergänzt durch weitere kleinere Szenen aus der Erinnerung von Hortense - ihre Erinnerung an ihre Freundin in Jamaika, an Gilbert, an das Warten am Hafen, an ihre Taxifahrt. Es ist zu erwarten, dass sich diese überschaubare Einheit in einem kohärenten Modell erfassen lässt. Das Kapitel eignet sich außerdem deshalb, weil der Erzähltext - ebenso wie die von Hallet gewählte Short Story - es ermöglicht, eine relativ genaue Vorstellung von dem fiktionalen Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht 187 Raum, in dem Hortense, Gilbert und Queenie handeln und interagieren, auszubilden (z.B. Beschreibung der Tür, des Hauses, des Raumes etc.). Zudem sind die Räumlichkeiten für die einzelnen Figuren auch mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen, die sich in einem visualisierten Modell ebenfalls darstellen lassen: Im Fall von Hortense repräsentiert z.B. die Tür des großen Hauses mit der Klingel ihre großen Erwartungen; der enge Raum hingegen ist mit ihrer Enttäuschung verbunden. Für den Literaturunterricht stellt sich die Frage, inwiefern diese symbolischen Bedeutungen und Zusammenhänge von den Schülerinnen und Schülern bzw. den Studierenden erfasst und als wichtige Elemente der Geschichte auch in den visualisierten mentalen Modellen repräsentiert werden. 4. Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht: Erfahrungen und Überlegungen zum Einsatz der Methode in Schule und Hochschule Meine Erfahrungen mit der Methode beziehen sich auf einen Leistungskurs, an dessen Unterricht ich als Beobachterin und Forscherin teilnahm, sowie auf ein Proseminar, in dem ich die Visualisierungsaufgabe selbst als Lehrende durchführte. Zunächst lässt sich anhand einiger Ergebnisse aus dem Seminar zum Thema „Teaching Black and Asian British Literature and Film“ veranschaulichen, worin die Leistungsfähigkeit der Aufgabe für die Auseinandersetzung mit Small Island besteht. Im Anschluss lassen sich anhand der Erfahrungen aus dem Leistungskurs sowie aus dem Seminar Schlussfolgerungen für die Unterrichtspraxis formulieren, wie diese Methode konkret eingesetzt werden kann und worin die Herausforderung für die Lehrkraft besteht. Die Visualisierungsaufgabe war eines von drei assignments, die von den ca. 35 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Seminars eingereicht werden sollten. Die Aufgabenstellung lautete: Please read the chapter „Hortense“ from Andrea Levy’s novel Small Island carefully. Then design and prepare an illustration of the most important elements of the story. Die Geschichte war zuvor nicht besprochen worden, und die Studierenden wurden gebeten, an einem bestimmten Termin ihre Illustrationen mitzubringen. Die Aufgabe diente sowohl als Einstieg in den Roman als auch als Ausgangspunkt für eine Diskussion zum Potenzial kreativer Aufgaben im Literaturunterricht. Britta Freitag 188 Das erste Modell (Abb. 1) stellt das Ergebnis einer Studentin dar. Es handelt sich um eine Momentaufnahme von Hortense, die mit ihrem Koffer vor der Tür des großen Hauses mit Säulen (pillars) und der Klingel (bell) steht. Ihre Gedanken, die von der Studentin als weitere zentrale Elemente erkannt werden, sind durch Gedankenblasen repräsentiert. Hier finden sich sowohl piktoriale Elemente (die Bilder von ,Celia in Jamaica‘, ‚at the dockside‘, von Big Ben und den Houses of Parliament als Symbol für ‚England‘) als auch ausformulierte Gedankengänge („Gilbert Joseph, where were you? “, „Gilbert said he would be there to pick me up! “, „Is this the right house? It looks a little shabby! ”). Dieses visualisierte Modell bietet insofern eine individuelle Deutung der story, als es Hortense und ihr persönliches Erleben der Situation - ihre großen Erwartungen, ihr Befremden aufgrund von Gilberts Abwesenheit und des Zustands des Hauses - in den Mittelpunkt rückt. Gleichzeitig fallen jedoch mehrere Leerstellen ins Auge: Weder Queenie noch der enge Raum von Gilbert sind in diesem Modell repräsentiert. Auch handelt es sich - wie bereits angedeutet - lediglich um eine Momentaufnahme vom Anfang des Kapitels; die Handlung der Geschichte wie z.B. die Begegnungen mit Queenie und Gilbert sowie die Veränderung des Gefühlszustandes von Hortense - Hoffnung, Wut, Enttäuschung - finden hier ebenfalls keinen Platz. Allerdings wird deutlich, dass sich das Modell sowohl aufgrund seiner Auswahl und Repräsentation zentraler Textelemente als auch aufgrund seiner Leerstellen als Ausgangspunkt für ein Interpretationsgespräch in der Lerngruppe eignet. Da jede(r) ein anderes Modell entworfen hat, können so z.B. Einwände vorgebracht, Ausdifferenzierungen vorgenommen, aber auch Zustimmungen geäußert werden. Abb. 1: Momentaufnahme von Hortense Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht 189 Durch die Interpretation eines weiteren Modells lässt sich erkennen, dass es sich bei den Visualisierungen um individuell sehr verschieden gestaltete Lernerprodukte handelt. Das zweite Modell (Abb. 2), das von einem Studenten angefertigt wurde, stellt ein etwas komplexeres Modell der Geschichte und ihrer Handlungselemente dar. Es repräsentiert eine chronologische Abfolge der Ereignisse und arbeitet mit Symbolen. Die Reise von Jamaika nach England wird hier prominent dargestellt; ebenso werden die Szenen am Hafen und die Verständigungsschwierigkeiten mit dem Taxifahrer als zentrale Elemente zur Darstellung gebracht. Außerdem werden abstraktere Bedeutungszuschreibungen vorgenommen: So wird der Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit als zentral erkannt: Der „Dream of Prosperity“ - ein großes eigenes Haus - wird der „Reality“ - dem kleinen engen Raum - gegenübergestellt. Dieses komplexe Modell enthält somit auch eine Gesamtdeutung der story: Während im ersten Modell eine Momentaufnahme von Hortense dargestellt wurde, wird das Kapitel im zweiten Modell als kohärente Geschichte von Hortenses Einwanderung gelesen, in der die Erwartungen vom neuen Leben derb enttäuscht werden. Abb. 2: Modell von Geschichte und Handlungselementen An den Ergebnissen der beiden Studierenden wird deutlich, dass für jedes visualisierte Modell jeweils unterschiedliche Elemente als zentral ausgewählt und neu arrangiert wurden. Jedes Modell repräsentiert damit auch das individuelle Ergebnis des Verstehensprozesses und eine individuelle Britta Freitag 190 Deutungshypothese. Für den Literaturunterricht stellt sich dabei die Frage, wie mit den unterschiedlichen Modellen in der Praxis gearbeitet werden kann. Die Erfahrungen aus dem Leistungskurs, die im Folgenden erörtert werden, lassen sich diesbezüglich für die Unterrichtspraxis fruchtbar machen. Gleichzeitig kann dabei deutlich werden, worin die Herausforderung für den Lehrer besteht. Im Leistungskurs einer 12. Klasse, in dem die Aufgabe zur Visualisierung ebenfalls durchgeführt wurde, nahm ich als Beobachterin und Leiterin eines Forschungsprojekts zum Einsatz von britischer multikultureller Literatur teil (vgl. Freitag 2009). Meine Funktion bestand darin, mit dem Lehrer die Textauswahl zu treffen und einen Unterrichtsvorschlag auszuarbeiten, den der Lehrer jedoch individuell abändern konnte. Die Aufgabe zur Visualisierung des Kapitels aus Small Island fand im Rahmen einer Unterrichtseinheit statt, die sich mit dem Thema The Windrush Experience beschäftigte. Vor der Durchführung der Aufgabe hatten die Lernenden bereits über Hortenses Gefühle und ihre Entwicklung innerhalb der Geschichte gesprochen, aber nicht den gesamten Roman gelesen, sondern einen Auszug in Form des ersten Kapitels. Die Visualisierungsaufgabe, die von meiner Seite vorgeschlagen wurde, bezog sich auf die Illustration des fiktionalen Raumes der Geschichte in seiner Bedeutung für Hortense: Design an illustration or collage of the story’s setting according to the meaning it has for Hortense. Der Lehrer allerdings änderte die Aufgabenstellung etwas ab, ohne dass ihm dies bewusst gewesen wäre. Beim retrospektiven Interview jedenfalls erschien ihm kein wesentlicher Unterschied zwischen der vorgeschlagenen und der von ihm gewählten Aufgabenvorstellung vorzuliegen. Seine Aufgabenstellung lautete: Design an illustration or collage of how Hortense experiences England/ her feelings. Da der Lehrer hier den Fokus auf die Gefühle von Hortense legte, sind die entstandenen Modelle nicht ohne weiteres mit denen aus dem Seminar zu vergleichen, in denen es um die Illustration der wichtigsten Elemente ging. Nichtsdestotrotz zeigen die Schülerprodukte auch hier, dass die Lernenden mentale Modelle von der Geschichte entworfen hatten. Jedes Lernerprodukt ermöglicht wiederum einen Zugang zu den individuellen Lesarten: Das erste Modell aus dem Leistungskurs (Abb. 3) wurde von einer Schülerin erstellt und weist eine gewisse Ähnlichkeit zu dem Modell des Studenten (Abb. 2) auf. Die Schiffsreise wird hier symbolisch als „Mega- Los“ für Hortense verstanden; einzelne Szenen bei ihrer Ankunft repräsen- Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht 191 tieren Hortenses Gefühle. Dabei wird durch die Farbgebung ein Gegensatz aufgebaut: Während Jamaika jenseits des Ozeans farbenfroh gestaltet ist, gibt sich England aus Hortenses Sicht in tristem Grau. Eine Leerstelle bildet allerdings auch hier die große Enttäuschung, die mit der Erkenntnis verbunden ist, dass aus der Hoffnung auf ein großes Haus nichts wird. Das zweite Modell (Abb. 4) - ebenfalls von einer Schülerin - stellt Hortenses Gefühle in den Zusammenhang mit ihrer Ankunft in einem neuen Land. Angst, ein bedrückendes Gefühl und möglicherweise Sehnsucht sind in diesem Modell zu erkennen. Insgesamt wird deutlich, dass auch die Modelle aus dem Leistungskurs individuelle Lesarten repräsentieren und Potenziale für die gemeinsame Aushandlung bieten. Indem die Modelle im Unterricht präsentiert und versprachlicht werden, können diese individuellen Interpretationen auch für die anderen Lernenden zugänglich gemacht, miteinander verglichen und ausdifferenziert werden. Abb. 3: Hortenses Reise Britta Freitag 192 Abb. 4: Hortenses Gefühle bei der Ankunft Der folgende Gesprächsauszug aus dem Unterricht gibt Aufschluss darüber, wie ein Schüler sein Modell (hier nicht abgebildet) erklärt und wie damit im Unterricht umgegangen wird. Peter: It shows different ‘Smilies’ to describe the feelings of Hortense. [L: Yes, please.] And the background colour shows her mood. Going from blue - good - to red when she gets angry and disappointed. And, at first, this ‘Smily’ is when she arrives in England or at the house. She’s like ‘Whow, big house! ’ [Schüler lachen; L: Yes] And the next is when she waits for Gilbert and is first talking to Queenie, who is at first not very freundlich? Friendly. [L: Friendly, not very kind, yes] Eh, the third is when she slowly gets disappointed, when she at first meets Gilbert who has changed so much and enters his apartment, which is just a small room. And the last one is when she’s left alone in his room with ‘just this’ then she’s really disappointed. (lacht) L: Right, okay, I appreciate your idea, yes, I appreciate your homework, ok. Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht 193 Ohne auf diese Gesprächssequenz im Einzelnen einzugehen, lässt sich hier exemplarisch eine Beobachtung zum Umgang des Lehrers mit den individuellen Modellen der Lernenden hervorheben: Während der Lehrer der Visualisierungsaufgabe selbst offen gegenüber stand und in dieser kreativen Aufgabe eine Bereicherung für den Unterricht sah, wird das Potenzial, das die Aufgabe für die gemeinsame Aushandlung im Unterricht bietet, jedoch nicht ausgeschöpft. Am letzten Satz des Lehrers wird deutlich, dass er hier das individuelle Modell als Kunstwerk würdigt. Allerdings wird das Modell nicht als individuelle Interpretation, als Hypothese über den Text behandelt und dementsprechend auch nicht zum Interpretationsgespräch genutzt. Nach der Würdigung der Hausaufgabe erhält der nächste Schüler die Gelegenheit zur Präsentation seines Modells. Eine Diskussion, Rückfragen oder Einwände, mögliche Vorschläge zur Ausdifferenzierung oder aber ein Vergleich unterschiedlicher Modelle werden nicht initiiert. Aufgrund dieser Erkenntnis aus dem Leistungskurs wurde im Seminar ein verändertes Vorgehen bei der Besprechung der Visualisierungen gewählt, das sich an den Vorschlägen von Hallet (vgl. 2008: 167) orientiert: Der Umgang mit den kreativen Lernerprodukten sollte über die Präsentation einzelner Modelle hinausgehen und eine Aushandlung in Gang setzen. Daher wurde ein Arbeitsauftrag für Kleingruppen formuliert: Die Studierenden sollten sich ihre unterschiedlichen Modelle und Interpretationshypothesen in der Kleingruppe gegenseitig vorstellen, diese miteinander vergleichen und schließlich versuchen, ein gemeinsames, konsensuelles Modell zu entwerfen. Die Aufgabenstellung hierfür lautete: 1. Present and explain your illustrations to each other. 2. Discuss the differences between your illustrations (and interpretations). Discuss where you agree or disagree with the illustrations of the others. 3. Design a model/ diagram/ illustration in your group that you can all agree on. Wie diese Aufgabenstellung tatsächlich zur Ausdifferenzierung einzelner Modelle und damit auch zur Ausdifferenzierung von Interpretationen führte, lässt sich abschließend an den Ergebnissen einer Kleingruppe erörtern. Diese Gruppe bestand aus drei Studentinnen, die jeweils eine Visualisierung erstellt hatten und am Ende aus ihren drei individuellen Modellen ein kollektives Modell entwickelten. Dabei wurden Elemente aus den individuellen Arbeiten in das kollektive Modell integriert: Britta Freitag 194 1. Das erste Modell (Abb. 5) zeigt Hortense, wie sie als Kind in Jamaika von dem großen Haus mit der Glocke träumt. Allerdings enthält das Modell einen Widerspruch: Der kleine enge Raum von Gilbert ist hier Teil ihres Traumes vom großen Haus, so dass der Gegensatz zwischen Traum und Realität hier nicht zur Darstellung kommt. Abb. 5: Hortenses Traum 2. Dieser Gegensatz wird aber dafür im nächsten Modell (Abb. 6) deutlich: Hier wird Hortense als in zwei Persönlichkeiten gespalten dargestellt. Abb. 6: Zwei Persönlichkeiten Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht 195 Auf der linken Seite finden sich ihre Erwartungen und Hoffnungen; in deutlichem Gegensatz dazu sind auf der rechten Seite ihre Gedanken und Enttäuschungen festgehalten, die sie bei der Konfrontation mit der Realität erlebt. 3. Das dritte Modell (Abb. 7) orientiert sich ebenfalls an der Protagonistin Hortense, arbeitet jedoch mit der Methode der Charakterisierung und benennt außerdem die Gefühle von Hortense in London auf einer abstrakteren Ebene. Abb. 7: Bildliche Charakterisierung Das kollektive Modell (Abb. 8) stellt unter Beweis, dass in der Gruppenarbeit ein Vergleich und eine Ausdifferenzierung der individuellen Modelle stattgefunden haben: Wir finden hier wieder das Haus aus dem ersten Modell, diesmal jedoch mit der Zickzack-Linie aus dem zweiten Modell durchbrochen. Dadurch wird u.a. der Gegensatz zwischen Erwartungen und Realität deutlicher als im ersten Modell; außerdem erhalten das Haus bzw. der kleine Raum als zentrale Elemente eine wichtigere Bedeutung, als ihnen in dem zweiten Modell zukommt. Das dritte Modell wurde ebenfalls eingearbeitet, indem den Erwartungen bzw. der Realität jeweils Gefühle von Hortense zugeordnet wurden. Britta Freitag 196 Abb. 8: Kollektives Modell 5. Schlussbemerkungen Im Sinne eines Fazits lassen sich zusammenfassend die Potenziale hervorheben, die Visualisierungsaufgaben im lernerorientierten Literaturunterricht bieten: Der Visualisierungsauftrag erfordert von den Lernenden die Auswahl zentraler Textelemente sowie die Restrukturierung und Reorganisation im visuellen Medium. Dabei werden Lernende nicht nur zur Entwicklung eines mentalen Modells angeregt, sondern auch zur Darstellung ihrer individuellen Lesart. Nicht selten schärft der Auftrag zudem den Blick für die symbolische Bedeutungsebene der Texte. Dabei ist auch hervorzuheben, „dass die in der Visualisierung sichtbaren Deutungen und Zuordnungen ohne jede Lehrersteuerung [entstehen], also vollkommen selbständige Schülerleistungen darstellen“ (Hallet 2008: 162) - die Aufgabenstellung ist der einzige Impuls des Lehrers. Indem die Lernenden Beziehungen zwischen den für sie zentralen Textelementen zur Darstellung bringen, machen sie außerdem ihre individuelle Deutungshypothese für andere zugänglich. Dabei müssen sie ihre Interpretation im Unterricht zugleich versprachlichen. In diesem Sinne wirkt das Modell „hinsichtlich schwächerer produktiver fremdsprachlicher Kompetenz differenzierend, Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht 197 sprachstützend und sprachanregend zugleich“ (ebd.: 160). Zudem kann es als Vorstufe für eine umfassende und schriftliche Interpretation genutzt werden. Von besonderer Bedeutung ist außerdem, dass die Modelle jeweils nur als Interpretationshypothesen verstanden und im Unterricht auch als solche behandelt werden. Die Funktion der Visualisierungen erschöpft sich nicht in der Erstellung oder der Präsentation. Vielmehr muss es darum gehen, den Austausch und den Dialog zwischen den Lernenden anzuregen, damit es zu tatsächlichen Bedeutungsaushandlungen und zur Ausdifferenzierung der individuellen Lesarten kommt. Quellen Primärtext Levy, Andrea (2004). Small Island. London: Headline Review. Sekundärtexte Bredella, Lothar (2007). „Der Erkenntnisanspruch postkolonialer literarischer Texte: Small Island von Andrea Levy.“ In: Feuchert, Sascha; Jablkowska, Joanna & Riecke, Jörg (Hrsg.). Literatur und Geschichte. Frankfurt a.M.: Lang, 19-29. Freitag, Britta (2009). British Fictions of Migration im Englischunterricht: Theorie und Praxis inter- und transkultureller Literaturdidaktik. Dissertation an der Universität Gießen. Hallet, Wolfgang (2008). „Literarisches Verstehen und Kognition: Mentale Modelle und Visualisierungsaufgaben im Literaturunterricht.“ In: Bosenius, Petra; Rohde, Andreas & Wolff, Martina (Hrsg.). Verstehen und Verständigung. Interkulturelles Lehren und Lernen. Trier: WVT, 137-170. Multhaup, Uwe (1992). „Mentale Repräsentationen und Lernprozesse: Didaktische Anmerkungen zu psycholinguistischen Theorien.“ In: Multhaup, Uwe & Wolff, Dieter (Hrsg.). Prozessorientierung in der Fremdsprachendidaktik. Frankfurt a.M.: Diesterweg, 72-100. Stedman, Gesa (2007). „Small Island: Kulturtransferforschung, Literatur und Bildung an der Hochschule.“ In: Bredella, Lothar & Hallet, Wolfgang (Hrsg.). Literaturunterricht, Kompetenzen und Bildung. Trier: WVT, 227- 244. Britta Freitag 198 Surkamp, Carola (2003). Die Perspektivenstruktur narrativer Texte: Zu ihrer Theorie und Geschichte im englischen Roman zwischen Viktorianismus und Moderne. Trier: WVT. Abbildungen Abb. 1-8: Arbeiten von Studierenden der Justus-Liebig Universität Gießen und SchülerInnen eines Leistungskurses Englisch (Klasse 12) an einem hessischen Gymnasium. 199 K ATRIN T HOMSON Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom: Überlegungen zur Förderung von Lesekompetenzen durch die bildgestützte Behandlung literarischer Texte 1. Fremdsprachlicher Literaturunterricht zwischen ‚neuen‘ und ‚alten‘ Lernzielen Die mit dem Paradigmenwechsel innerhalb der Fremdsprachendidaktiken verknüpfte Hinwendung zu didaktischen Prinzipien wie Handlungs-, Prozess- und Schülerorientierung hat u.a. dazu geführt, dass literarische Texte inzwischen wieder einen größeren Stellenwert im Fremdsprachenunterricht einnehmen. Wie Ansgar Nünning und Carola Surkamp (vgl. 2006: 12-17) gezeigt haben, sind die Gründe für den Einsatz von Literatur vielfältig, weil die fremdsprachendidaktische Neuorientierung eine Reihe ‚neuer‘ Lernziele wie Fremdverstehen, Empathiefähigkeit, Toleranz und Perspektivenwechsel hervorgebracht hat. Dabei rücken insbesondere Aspekte wie Kreativität, Emotionalität und subjektives Erfahren verstärkt in den Mittelpunkt, da sie der geforderten Lernerorientierung im Unterricht dienen: Wenn auf der Grundlage eines literarischen Textes kreative Arbeit etwa über Schreibaufgaben (z.B. das Verfassen eines Tagebucheintrages oder Briefes aus der Sicht einer literarischen Figur, das Umschreiben eines Gedichts in eine Kurzgeschichte etc.) oder produktionsorientierte Formen (z.B. darstellendes Spiel und szenische Gestaltung einer Textszene) realisiert wird, steht dabei der Lerner mit seinen Erfahrungen, Empfindungen sowie seiner Vorstellungskraft im Zentrum des Unterrichtsgeschehens. In Anbetracht der Betonung dieser neuen Lernziele des Literaturunterrichts bleibt allerdings zu fragen, inwieweit grundlegende Fähigkeiten und traditionelle Lernziele wie etwa das Textverstehen, die rezeptions- und literaturästhetische Kompetenz aus dem Blick geraten oder vernachlässigt werden. Denn wenn der moderne fremdsprachliche Literaturunterricht zu einseitig das Erreichen der ‚neueren‘, affektiv-emotionalen Lernziele fo- Katrin Thomson 200 kussiert, mag man fragen, wie Schülerinnen und Schüler lernen, mit einem literarischen Text analytisch umzugehen, dessen ästhetische Struktur zu verstehen, dessen Symbolgehalt und Ambiguität zu erfassen oder die Besonderheit der sprachlichen Gestaltung zu erkennen und zu deuten. Diese formal-ästhetischen Eigenschaften, die einen literarischen Text erst ausmachen, müssen den Lernenden vermittelt werden, denn das Wissen darüber kann keinesfalls vorausgesetzt werden. Die Lernenden müssen die Prinzipien der Literarizität kennen, wenn sie sich - wie Hartmut Eggert (2002: 187f.) es treffend formuliert - auf einem „literarische[n] Territorium“ bewegen, „in dessen Geltungsbereich andere ‚Spielregeln‘ gelten als in der Pragmatik des Alltagshandelns“. Das Lesen und Verstehen von (fremdsprachlicher) Literatur ist ohne Frage eine anspruchsvolle Aufgabe, die dem Lernenden ein hohes Kognitionsvermögen, also aktive Mitwirkung am Sinnbildungsprozess, abverlangt (vgl. Bredella 1987: 237ff.). So wesentlich der Begriff des Textverstehens ist, so unreflektiert scheint der Umgang damit zu sein. Zu Recht fragt Eva Burwitz-Melzer (2005: 100), was es bedeutet, „einen Text zu ‚verstehen‘“, und weist in diesem Zusammenhang auf die vage Verwendung des Begriffs in den von der Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossenen Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für den Mittleren Schulabschluss (2004) hin (vgl. Burwitz-Melzer 2005: 100). Darin heißt es u.a., dass die Lernenden in der Klassenstufe 10 in der Lage sind bzw. sein sollen, „die Aussagen einfacher literarischer Texte [zu] verstehen“ sowie „in kürzeren literarischen Texten (z.B. Short Stories) die wesentlichen Aussagen [zu] erfassen und diese zusammen[zu]tragen“ (KMK 2004: 12). Wie die Schülerinnen und Schüler zu diesem nicht näher spezifizierten Textverständnis gelangen, bleibt offen. Stattdessen scheint es, als handele es sich beim Textverstehen um eine feste Zielgröße, die sich nach abgeschlossener Lektüre und sprachlicher Reproduktion der Hauptaussagen automatisch einstellt. Dass dem nicht so ist, verdeutlicht z.B. Lothar Bredella (1987: 237), indem er auf die verschiedenen Faktoren des Lese- und Verstehensprozesses verweist: „Verstehen und Interpretieren ist nicht ein Ablesen der Bedeutungen, sondern beruht auf einer Interaktion, in der der Sinn der Texte erst entsteht. Beim Verstehen und Interpretieren ist somit der Schüler selbst als tätiges, denkendes und fühlendes Subjekt angesprochen […].“ Ferner heißt es, dass „der Leser, um den Text verstehen zu können, über das Gesagte hinausgehen muß. Er muß Unbestimmtheits- und Leerstellen füllen und überbrücken, Implikationen entfalten und auf das Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom 201 Dargestellte ergänzend antworten. […] Der literarische Text bedarf, um verstanden zu werden, der Mitwirkung des Lesers.“ (ebd.: 238). Darüber hinaus benötigen die Lernenden Strategien und Verfahrensweisen, um „Zeichen und Signale des literarischen Textes“ (ebd.: 239) so wahrnehmen zu können, „dass [der Text] als literarische[r] Tex[t] im Sinne von Literatur als Kunst aufgefasst und gedeutet [wird]“ (Eggert 2002: 188). Während in der Literaturdidaktik über die Bedeutung der Mitwirkung des Lesers weitgehend Konsens besteht, ist zu fragen, inwieweit dieses Bewusstsein in der schulischen Praxis bei den Lernenden vorhanden ist und die Rezeption bzw. Deutung literarischer Texte beeinflusst. Sind die Lernenden dafür nicht sensibilisiert, kann die fehlende Mitarbeit am Sinnbildungsprozess zu einem oberflächlichen Textverständnis führen. Die als Kreativität verkannte Fähigkeit der Lernenden äußert sich dann in vom Text relativ losgelösten subjektiven, d.h. ausschließlich auf die eigene Erfahrungs- und Lebenswelt bezogenen Sprachäußerungen, die das mangelhafte und mitunter fehlende Textverständnis verschleiern. Zwar soll die Bedeutung der Subjektbezogenheit bei der Lektüre und Interpretation eines literarischen Textes hier keinesfalls in Abrede gestellt werden; gerade die Individualität der verschiedenen Lesarten bereichert den Unterricht. Zugleich sei jedoch auf die Gefahren einer zu starken Schülerorientierung verwiesen. Denn wenn, wie Nünning/ Surkamp (2006: 21) erklären, „die Deutungsspielräume für die Lernenden unbegrenzt sind und folglich jedes Textverstehen grundsätzlich subjektiv ist“, wird „eine Schullektüre, die Funktionen hat und vor allem Ziele verfolgt, unmöglich“ (vgl. hierzu auch Volkmann 2008: 123). Ratsam ist deshalb ein integratives Vorgehen, das die angesprochenen analytischen und textzentrierten Lernziele produktiv mit den ‚neueren‘, schülerzentrierten verbindet. Ausgehend von der Annahme, dass analytische Verfahren der Texterschließung nicht mit kreativen, handlungs- und schülerorientierten Unterrichtsformen konkurrieren müssen, sondern sich vielmehr sinnvoll ergänzen können (vgl. Nünning/ Surkamp 2006: 69; vgl. auch Burwitz-Melzer 2005: 94), versucht dieser Beitrag anhand eines unterrichtspraktischen Konzeptes 1 zu zeigen, wie Fremdsprachenlernende insbesondere über die 1 Im Rahmen fachdidaktischer bzw. literaturwissenschaftlicher Proseminare, die ich im WS 2007/ 2008 am Institut für Anglistik/ Amerikanistik der Universität Jena für Studierende im Grundstudium angeboten habe, wurden ausgewählte Phasen des Unterrichtskonzeptes erprobt. Besonderes Interesse galt dabei der Frage, inwieweit die Bildbedeutung von den Studierenden selb- Katrin Thomson 202 Stärkung textanalytischer Kompetenzen und unter Berücksichtigung kreativer und schülerorientierter Lernformen zu einem besseren Textverständnis gelangen können. Dass über die Vermittlung und Förderung gerade dieser Kompetenzen zukünftig stärker nachgedacht werden sollte, verdeutlicht eine (nicht repräsentative) Schülerbefragung, deren Ergebnisse im ersten Teil des Beitrages vorgestellt werden. Ohne der Auswertung vorzugreifen, sei hier der Deutlichkeit halber bereits erwähnt, dass die Lesekompetenzen der befragten Fremdsprachenlernerinnen und lerner (Sekundarstufe II) mitunter defizitär sind, weil die für das Textverstehen notwendigen textanalytischen Kompetenzen rudimentär oder mangelhaft ausgebildet sind. In Anbetracht dieses Befundes soll im zweiten Teil der Frage nachgegangen werden, wie sich die Vermittlung und Förderung von Lesekompetenzen im fremdsprachlichen Literaturunterricht sinnvoll und effektiv realisieren lässt. Den Ausgangspunkt dieser praxisorientierten Überlegungen bildet die Annahme, dass sich die Verfahren des Bildlesens und Bildverstehens auf die Rezeption und Interpretation literarischer Texte übertragen lassen, weil sich die Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse beider Medien ähneln. Durch die gesteuerte, kategoriengeleitete und verlangsamte Rezeption des Gemäldes Room in New York von Edward Hopper sollen die Lerner für Bilddetails und deren Bedeutung für das Bildverstehen sensibilisiert werden - eine Vorgehensweise, die, übertragen auf den literarischen Text (in diesem konkreten Fall Ernest Hemingways Kurzgeschichte „Cat in the Rain“), nicht nur zu einer gründlicheren Textrezeption, sondern insbesondere auch zu einem tieferen Textverständnis führen kann. Der Gewinn einer intermedialen Literaturinterpretation, d.h. der Literaturinterpretation durch Bildkunst, geht demnach deutlich über eine bloße quantitative Bereicherung des Unterrichts durch visuelles Anschauungsmaterial hinaus. ständig erschlossen wird und die intermediale Verknüpfung von Bild und Text die Interpretation der Kurzgeschichte begünstigt. Die Ergebnisse hierfür liegen in Form schriftlicher Bildinterpretationen der Studierenden vor. Eine empirische Untersuchung im schulischen Kontext steht bislang noch aus. Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom 203 2. Empirische Stichprobe 2.1 Untersuchungsgegenstand und Textauswahl Ohne Anspruch auf Repräsentativität zu erheben, soll eine Schülerbefragung exemplarisch verdeutlichen, inwieweit Schülerinnen und Schüler einer 10. Klasse den in den Bildungsstandards der KMK formulierten Zielanforderungen in der Fremdsprache Englisch tatsächlich gerecht werden. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob die Fremdsprachenlernenden in der Lage sind, a) einen sprachlich relativ einfachen Text zu lesen, b) eventuell vorhandene Leerstellen selbstständig aufzufinden, c) den Text auf dieser Grundlage zu deuten und d) anschließend dessen Hauptaussage zusammenzufassen und schriftlich festzuhalten. Für die Stichprobenuntersuchung wurden 20 Gymnasialschülerinnen und -schüler einer 10. Klasse (15bis 17-Jährige) in Thüringen gebeten, Ernest Hemingways Kurzgeschichte „Cat in the Rain“ (1925) zu lesen. Diese Text-/ Autorenauswahl mag angesichts der Forderung nach der Öffnung des schulischen Literaturkanons, dem Vermeiden eines heimlichen Kanons und der Berücksichtigung der New English Literatures (vgl. Weskamp 2001: 198, Klippel/ Doff 2007: 137f.) zunächst überraschen, denn Hemingways Kurzgeschichten zählen bekanntlich zu den Klassikern der amerikanischen Literatur. Wenn etwa Sabine Doff und Friederike Klippel (2007: 138) anregen, dass „klassische Werke des Kanons durch neuere Werke mit ähnlichen thematischen Schwerpunkten ersetzt werden [könnten]“, wird dies u.a. mit der sprachlich-thematischen Aktualität von Gegenwartsliteratur begründet, die den Schülerinnen und Schülern oft mehr Anknüpfungspunkte zur eigenen Lebens- und Erfahrungswelt bietet. Zwar ist die verstärkte Berücksichtigung englischsprachiger Gegenwartsliteratur im Unterricht wichtig und richtig, jedoch darf die Öffnung des Kanons nicht gleichzeitig mit der Ablehnung traditioneller Lesestoffe einhergehen, denn auch die Literaturklassiker haben als wichtige Produkte der - in diesem Fall amerikanischen - Fremdkultur (vgl. Nünning/ Surkamp 2006: 32) nach wie vor ihre Berechtigung im fremdsprachlichen Literaturunterricht. Im Hinblick auf die oben formulierten Untersuchungsfragen bietet sich Hemingways „Cat in the Rain“ wegen seiner Kürze und syntaktisch-lexikalischen Einfachheit an. Trotz der relativ leicht zu bewältigenden Lektüre stellt die Geschichte im Hinblick auf die Interpretation hohe Anforderungen an den Leser. Nach dem iceberg principle verfasst (vgl. u.a. Heming- Katrin Thomson 204 way 1955: 183, Johnston 1987: 2f., Müller 1999: 28ff.), geht es oberflächlich gesehen um eine fast banale Alltagssituation: Ein amerikanisches Ehepaar hält sich aufgrund des Regenwetters im Zimmer eines italienischen Hotels auf. Auf den ersten Blick birgt der Text wenig Spannungs- und Konfliktpotenzial. Nur über eine genaue Textrezeption können die Lernenden zu einem vertieften Textverständnis gelangen. Die der Geschichte eingeschriebenen ‚Leerstellen‘ (Iser) verlangen nach Deutung und fordern die aktive Mitwirkung des Lesers ein. 2.2 Aufgabenstellung und Untersuchungsergebnisse Die Aufgabenstellung bestand aus zwei Teilaufgaben und lautete wie folgt: Read Ernest Hemingway’s short story “Cat in the Rain” and answer the following questions. Write down your answers in complete sentences. 1.) What is the story about? What is the story’s central theme? Please do not just re-tell the story. 2.) How do you know what the story is about? Which parts of the story helped you to understand what the central theme is? Im Hinblick auf die Aufgabenstellungen ist zu erwähnen, dass auf eine Steuerung der Rezeptionsphase durch die Lehrkraft ausdrücklich verzichtet wurde. Das prozessorientierte Dreiphasenmodell (pre-, while- und postreading) wurde absichtlich durchbrochen, da eine inhalts- und wortschatzbezogene Vorentlastung das Textverständnis bzw. den Deutungsprozess beeinflusst und somit das Ergebnis der Befragung verzerrt hätte. Aus den gleichen Gründen wurde auf lektürebegleitende Aufgaben sowie auf gelenkte Unterrichtsgespräche nach der Lektüre verzichtet. Die Schülerinnen und Schüler sollten in die Situation versetzt werden, sich selbstständig mit einem literarischen Text auseinanderzusetzen. 2 Für die Beantwortung der ersten Teilaufgabe, die Formulierung des zentralen Themas der Geschichte, sind Stichworte wie z.B. ‚conflict/ 2 Lediglich die Aufgabenstellung bot Hinweise zur Bearbeitung, indem sie in der ersten Teilaufgabe explizit auf den Unterschied zwischen deskriptiver plot summary (Reproduktion) und der Benennung des Themas der Geschichte (Abstrahierung) verweist. Während die erste Teilaufgabe ein gewisses Abstraktionsvermögen der Lerner voraussetzt, hebt die zweite Teilaufgabe auf die Reflexionsfähigkeit der Lernenden in Bezug auf den eigenen Leseprozess ab. Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom 205 miscommunication between husband and wife‘, ‚unfulfilled desire‘ oder ‚marriage problem‘ denkbar. Da die Thematik an keiner Stelle explizit benannt wird, müssen die Schülerinnen und Schüler Textsignale erkennen und abstrahierend deuten. Die Untersuchung hat ergeben, dass nur fünf der 20 Probanden in der Lage waren, die Konflikthaftigkeit der Ehe als zentrales Thema der Geschichte zu erkennen: [Pb1_15m8] 3 I think, the main theme is the conflict between the two american people, the women and her husband, george. [Pb2_16w6] The central theme is, that the wife is not content with her life. [Pb3_15w7] In my opinion the central theme is the cat, but as a metapher for safety, which her husband doesn’t give her. He looks mostly indifferent […] You have the feeling, on the whole story the man is just sitting on the bed and reading. But you can also interpretate the theme different. Maybe the husband is only so indifferent, because he can’t her the complains and wishes of his egocentric wife anymore […]. [Pb4_15w6] I think the central theme is, that the American girl is not happy with her life. She is looking for more in her life and the hotel-keeper helps her to get it. [Pb5_15w7] The central theme is that the husband isn’t that interested in his wife like it should be. Interessant ist, dass die Lernenden das Wesen des Beziehungskonfliktes anhand fehlender Zuwendung festmachen konnten (‚not happy‘, ‚not content‘, ‚not that interested‘, ‚doesn’t give her [safety]‘). Die Äußerungen einer Schülerin (Pb3) veranschaulichen außerdem prägnant, wie komplex die Deutungsprozesse sind. So bezieht sie sich zunächst auf das Titelmotiv, erkennt dann aber, dass dieses Motiv über den Text hinaus sinnträchtig ist und bietet daraufhin zwei verschiedene Lesarten (zum Verhalten der männlichen Figur) an, die die Ambiguität des Textes betonen. Probandin 4 sieht in der Unzufriedenheit der Protagonistin den thematischen Schwerpunkt, verweist jedoch zugleich auf die wichtige Funktion des Hotelbesitzers innerhalb der Konfliktkonstellation. Insgesamt sind die versprachlichten Beobachtungen und Deutungen der Lernenden als Indikatoren einer 3 Der Schlüssel ist wie folgt zu lesen: [Proband 1_15 Jahre, männlich, 8. Lernjahr Englisch]. Die Rechtschreib-, Grammatik- und Interpunktionsfehler der Schüleräußerungen wurden nicht korrigiert. Katrin Thomson 206 aktiven Mitarbeit am Sinnbildungsprozess zu sehen, bei dem es gilt, verschiedene Textsignale zu erkennen, zu deuten und einer bestimmten Thematik zuzuordnen. Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler (70%) hat jedoch deutlich Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der ersten Teilaufgabe. Trotz des expliziten Hinweises in der Aufgabenstellung, dass die Beantwortung der Frage nicht in Form einer Nacherzählung gefordert ist, beschreiben alle 15 Probanden den Handlungsablauf. In ihrem Bemühen, die Thematik der Kurzgeschichte zu benennen, verweisen die Lernenden auf den Wunsch der Protagonistin, eine Katze zu besitzen. Die folgenden Schüleräußerungen veranschaulichen exemplarisch, dass eine Deutung bzw. Abstrahierung des Gelesenen nicht stattgefunden hat: [Pb6_15w7] The central theme is the woman who wants to have this cat. […] And in the headline you can see at best what the central theme is. [Pb13_16w8] The central theme is, that the main charakter, the woman, want a cat, which is sitting in the rain under a table. [Pb15_15w8] The central theme is, that an american woman wanted a cat. But this cat was gone, when the wife was on the street. Die Lernenden sind außerstande, jene Textsignale wahrzunehmen, die für das Erkennen des Beziehungskonfliktes ausschlaggebend sind. Die Probanden erreichen im Rahmen des Sinnbildungsprozesses keine Abstraktionsebene, sondern bleiben auf der Inhaltsebene. Folglich gelangen sie zu einem oberflächlichen Textverständnis, das sich auf die bloße Nachvollziehbarkeit der Figurenhandlungen beschränkt und sich in drei Fällen auch darin äußert, dass der Schluss der Kurzgeschichte als happy ending empfunden wird, weil die Protagonistin schließlich doch noch eine andere Katze, nämlich die des Hotelbesitzers, bekommt (z.B. [Pb18_15m6]: „The story has got a happy end, finally the woman got her own cat.).“ Im Hinblick auf das Textverstehen sind auch die Reflexionen der Lernenden zur eigenen Textrezeption und -interpretation aufschlussreich: Während die Probanden mit einem mangelhaften Textverständnis konstatieren, dass das genaue Lesen und Verstehen des verwendeten Vokabulars für das Textverständnis ausreichend sei (z.B. [Pb9_16w6]: „I understand the story and the words helped me! “, [Pb18_15m6]: „I read the text concentrated and exactly.“), räumen die Probanden mit einem guten Text- Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom 207 verständnis ein, dass sie die Lektüre und Deutung des Textes als Herausforderung empfanden: [Pb1_15m8] First I thought that the cat was the main theme, but then, when I overthought it, the cat became just a sort of “symbol” for me. The wife wants attention from her husband, but he is just reading a book and rarely looking at her, even when she starts trying to push him into an conversation. I Also think that the cat is a wish of the wife. […] Maybe the woman wants more warmth, more attention to each other in her “Ehe” (? ), and the symbol for that is the cat. With the closing sentence is maybe ment that the hotel-keeper has seen her problems? [Pb3_15w7] At first, I didn’t really understand the story, because I thought she hasn’t a context and there are no meanings. But when you read it again and pay attention to the dialogs between the wife and husband or only the statements of the wife, then you could know the central theme of the story. Diese Beispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass die Lernenden die Bedeutung von Textsignalen (Hinweise zur [Körper-]Sprache der Figuren sowie zu Figurenhandlungen) für das Textverstehen erkannt haben. Ferner wird ersichtlich, dass ihnen der Prozesscharakter des Lesens und Verstehens durchaus bewusst ist und dass sie nur über ihre aktive Mitwirkung (z.B. durch das Formulieren von Fragen an den Text [Pb1] oder das erneute, aufmerksame Lesen des Textes [Pb3]) zu einer fundierten Textinterpretation gelangen können. Wenngleich die Stichprobenuntersuchung nicht repräsentativ ist, zeigt sie doch, dass die meisten Lernenden dieser Probandengruppe nicht über die notwendigen Lesekompetenzen verfügen, die sie gemäß der KMK- Beschlüsse bis zur 10. Klasse hätten erwerben müssen. Da das Textverständnis die Grundlage für jedwede Textarbeit im Unterricht bildet, muss der Literaturunterricht stärker auf den Sinnbildungsprozess abheben und - in Anschluss an Bredella (1987: 239) - danach fragen, „wie der Leser aus der Abfolge von Zeichen Sinn bildet, wie er Segmente des Textes in Beziehung setzt, wie er Leerstellen überbrückt, wie er interpretatorische Entscheidungen trifft, wie er Erwartungen bildet und diese wieder modifiziert“. Die Fähigkeit der Lernenden, das Gesamtgefüge eines literarischen Textes segmental aufzubrechen, um so Leerstellen und entscheidende Textsignale überhaupt erst aufspüren zu können, spielt demnach eine entscheidende Rolle bei der Sinnkonstitution. Textanalytische Kompetenzen Katrin Thomson 208 anhand literarischer Texte zu erlernen, fällt vielen Schülern und Schülerinnen häufig schwer, weil die lineare Anordnung der sprachlichen Zeichen es verhindert bzw. erschwert, den Text mit all seinen Komponenten gleichzeitig in den Blick zu nehmen. Für die Vermittlung bzw. den Erwerb dieser Kompetenzen kann dagegen der Einsatz visueller Medien überaus dienlich sein, weil der Rezeptions- und Interpretationsvorgang daran nachvollziehbar veranschaulicht werden kann. Die simultane Anordnung von Bildbestandteilen ermöglicht es, ein Bild entweder in seiner Gesamtheit wahrzunehmen oder den Blick auf verschiedene Bildsegmente zu richten, diese miteinander in Beziehung zu setzen und dabei Leerstellen, Kontraste oder Spannungspotenziale herauszuarbeiten. Durch eine kategoriengeleitete Bildanalyse erkennen Schüler und Schülerinnen nicht nur, wie sie ihre Wahrnehmung schärfen, sondern auch den Bildleseprozess verlangsamen können, um zu einem tieferen Bildverständnis zu gelangen. Wie dies unterrichtspraktisch umgesetzt und für die Arbeit mit literarischen Texten nutzbar gemacht werden kann, ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. 3. Unterrichtspraktische Überlegungen zur Förderung von Lesekompetenzen durch visual literacy im bildgestützten Literaturunterricht Wie die Auswertung gezeigt hat, fällt es Lernenden augenscheinlich oft schwer, jene Textsignale zu erkennen, die für eine tiefgründige Textdeutung wesentlich sind. Für die Vermittlung von Lesekompetenzen bedarf es demnach einer Methode, die zur Sensibilisierung der Lernenden beiträgt und die Prozesshaftigkeit der Textrezeption nachvollziehbar und verständlich macht. Im vorliegenden Unterrichtsvorschlag ist die Wahl auf den Bildeinsatz (speziell aus dem Bereich der Malerei 4 ) gefallen, da zwischen literarischen Texten und Bildern Affinitäten bestehen, die für die 4 Auch wenn Kunstbilder nach der Einschätzung von Blell (2006: 7) „bisher noch keinen völlig selbstverständlichen curricularen Ort gefunden zu haben scheinen“, so ist doch das Potenzial dieser Bildsorte aus der Sicht verschiedener Fremdsprachendidaktiken bereits intensiv diskutiert worden (vgl. z.B. Hellwig 1989 und 2000, Blell/ Hellwig 1996, Grätz 1997, Charpentier et al. 1997, Green 2001, Badstübner-Kizik 2002, Lenger-Sidiropoulou 2006). Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom 209 Bildbehandlung im Unterricht genutzt werden können. Wird das Bild vor dem Hintergrund „eines weiten Textbegriffs“ (Blell 2006: 7) nämlich als Bildtext betrachtet, ergeben sich hinsichtlich der Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse Berührungspunkte. Zwar unterscheiden sich Schrift- und Bildtext in Art und Anordnung der semiotischen Zeichen (vgl. Seidl 2007: 5), gemeinsam ist beiden jedoch ein komplexer kognitiver Decodierungsprozess, dessen Teilkomponenten (Wahrnehmung, Verarbeitung, Deutung und Verstehen) sowohl bei der Schriftals auch bei der Bildrezeption ablaufen. Die Verarbeitungstiefe von Bild und Schrift ist dabei abhängig von der Lesebzw. Bildlesekompetenz, über die die Lernenden verfügen. Gemeinhin wird angenommen, dass die Lernenden die Inhalte eines Bildes aufgrund der unmittelbaren, simultanen und sprachunabhängigen Darstellungsweise leichter verstehen als die Inhalte eines Textes (vgl. Seidl 2007: 5, Rymarczyk 1999: 36). Wichtige Textsignale lassen sich in Bildtexten einfacher erkennen und deuten als in Schrifttexten. Diese Überlegung legt nahe, die Bildlesekompetenz (visual literacy) der Lernenden für den Erwerb von Textlesekompetenzen im Anschluss an Monika Seidl (2007: 6) produktiv zu nutzen, da „[b]ildanalytische Verfahren […] kognitiv-konzeptuale Fähigkeiten von Lernern [fördern], indem sie ihnen anschaulich machen, wie man mit Hilfe des Analysewerkzeugs Dinge sehen lernt, die man vorher nicht bewusst wahrgenommen hat“. Zusammenfassend ließe sich folgende Hypothese formulieren: Durch die Übertragung bildanalytischer Verfahren auf Schrifttexte können Textsignale und Leerstellen, die die Lernenden oft überlesen, sichtbar gemacht und gedeutet werden. Visual literacy kann demnach die Ausbildung von Lesekompetenzen, zu denen auch die textanalytisch-interpretatorischen Fähigkeiten zählen, unterstützen und fördern. Im Sinne einer intermedialen Literaturinterpretation, wie Rymarczyk (2007) sie definiert, sollen im Folgenden die Möglichkeiten und Potenziale des bildgestützten Literaturunterrichts anhand des Gemäldes Room in New York von Edward Hopper (1932) (vgl. Abb. 1) und der bereits erwähnten Kurzgeschichte „Cat in the Rain“ von Hemingway aufgezeigt werden. 5 5 Aus verlagstechnischen Gründen können die Abbildungen leider nicht farblich abgedruckt werden. Farbliche Abbildungen sind z.B. über die Homepage des Sheldon Museum of Art (http: / / www.sheldonartgallery.org/ ) oder über die Bildersuchfunktion der Internetsuchmaschine Google (www.google.de) zugänglich. Katrin Thomson 210 Abb. 1: Edward Hopper: Room in New York (1932). 3.1 Hopper und Hemingway revisited Zwar hat die Fremdsprachendidaktik die Bilder Edward Hoppers längst für sich entdeckt (vgl. u.a. Eichhorn-Eugen 1991, Nissen 1999, Hellwig 2000, Wicke 2000, Beyer-Kessling 2006), allerdings konzentrieren sich die jeweiligen Beiträge auf die Möglichkeiten des Bildeinsatzes beim Wortschatzerwerb, kreativen und interkulturellen Lernen oder zur Sprech- und Schreibmotivation im kommunikativen Fremdsprachenunterricht. Auch das Potenzial der Kurzgeschichten von Hemingway für den mutter- und fremdsprachlichen Unterricht wurde bereits mehrfach erörtert (vgl. Eichhorn-Eugen 1991, Hinkel 1997, Nissen 1999). Die Verbindung der Werke beider Künstler findet bei Eichhorn-Eugen (1991) und Nissen (1999) Erwähnung, allerdings beschränken sie sich auf landeskundliche bzw. die Lektüre vorbereitende Unterrichtsinhalte. Der Nutzen der Werkverknüpfung für die Ausbildung von Lesekompetenzen ist im Rahmen eines intermedialen fremdsprachlichen Literaturunterrichts bisher noch nicht eingehend betrachtet worden. 6 Hinsichtlich des Erwerbs von Lesekompetenzen durch visual literacy sprechen für diese konkrete Text-Bild-Korrelation 6 In jüngerer Zeit hat die Forschung verstärkt auf die Potenziale des Kunstbildeinsatzes im fremdsprachlichen Literaturunterricht verwiesen und dabei auf konkrete Bild-Text-Paarungen aufmerksam gemacht (vgl. z.B. Rymarczyk 1998, 1999 und 2007, Tabbert 1999). Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom 211 eine Reihe von Gründen, weshalb eine erneute Be(tr)achtung von Werken beider Künstler, die - um eine Formulierung von Rymarczyk (2007: 329) aufzugreifen - ein „kongeniales Paar“ bilden, aus fremdsprachendidaktischer Sicht durchaus lohnenswert erscheint. Die Gründe lassen sich insbesondere an den vorhandenen Schnittstellen beider Werke festmachen. Zum einen sind Hemingway und Hopper Zeitgenossen, die über unterschiedliche Kunstformen (Literatur und Bildkunst) gesellschaftskritische Einblicke in die Probleme ihrer Zeit gewähren (z.B. die Isolation und Entfremdung des Menschen in der modernen Welt). Zum anderen sind sie als Vertreter der US-amerikanischen Kunstszene für einen auf (fremd-)kulturelles Lernen ausgerichteten Englischunterricht relevant. So bedeutsam Hemingway für die amerikanische Literatur des vergangenen Jahrhunderts ist, so richtungsweisend ist Hoppers Schaffen für die amerikanische Malerei: „Edward Hopper was the quintessential realist painter of twentieth-century America.“ (Hughes 2006: 422) Besonders interessant sind jene Berührungspunkte, die sich auf der Darstellungsebene der Werke ergeben. Die detailarme und minimalistische Darstellungsweise in Hemingways „Cat in the Rain“ wurde bereits erwähnt. Hemingways iceberg principle ermöglicht die Darstellung einer Momentaufnahme, die nur oberflächlich betrachtet konflikt- und spannungsfrei erscheint. Durch die Reduzierung auf wesentliche Informationen und den Verzicht auf inhaltliche Details und sprachliches Dekor verbergen Autor wie Maler Leerstellen in Text und Bild, die der Rezipient nur durch genaue Analyse zwischen den Zeilen bzw. die Beachtung von Motiven entdecken und selbstständig mit Sinn füllen kann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich für Hoppers Bilder allgemein und besonders für Room in New York und Hemingways Texte eine vergleichbare Darstellungstechnik ergibt. Sowohl Hemingway als auch Hopper arbeiten bewusst mit Oberflächenbzw. verborgenen Tiefenstrukturen: Scheint die Bildkomposition auf den ersten Blick recht einfach und leicht verständlich zu sein, erschließt sich dem Betrachter beim ‚verlangsamten‘, tiefenscharfen Hinsehen eine spannungs- und konfliktgeladene Welt. So zeigt Hoppers Room in New York nicht das harmonische Zusammensein eines Liebespaares, sondern deren Distanziertheit und Gefühlskälte, 7 über die die war- 7 Die emotionale Distanz zwischen den Figuren, die mit deren räumlicher Nähe kontrastiert, wird v.a. über die Körpersprache sowie die abgedunkelten Gesichter vermittelt. Es ist insbesondere der Mann, der durch seine geschlossene Sitzhaltung und den nach unten gerichteten Blick jedwede Interaktion mit Katrin Thomson 212 men Farben (Gelb und Rot) und das Ambiente des Raumes zunächst hinwegtäuschen. Robert Hughes (2006: 427) Einschätzung - „It is the spaces between people that Hopper painted so well.“ - trifft in besonderem Maße auf die Figuren in Room in New York zu: „They are out of sync, and their emotional distance from each other is figured in the simple act of a woman with a shadowed face sounding a note […] to which there will be no response.“ (Hughes 2006: 426) In Bezug auf Hoppers thematischen Schwerpunkt schreibt Rainer Wicke (2000: 342): Hoppers Bilder […] enthalten [oft] […] Hinweise für eine immanente Spannung und verdeutlichen die Anonymität der amerikanischen und modernen Gesellschaft […]. Hopper malt die Einsamkeit des Menschen im 20. Jahrhundert. […] Dabei zeigt der Maler die Menschen in ihrer Vereinzelung, aber er nimmt sie in dieser sehr ernst und versucht nicht, dass Spektakuläre, sondern das Authentische darzustellen. In vergleichbarer Weise trifft diese Charakterisierung auch auf viele Texte Hemingways zu. Sowohl die thematischen als auch die darstellungsästhetischen Verbindungen zwischen den Werken beider Künstler fallen ins Auge und legen eine Nutzung dieses „didaktischen Textes“ (vgl. Decke-Cornill 1998: 41) im intermedialen Literaturunterricht nahe. 3.2 Das Unterrichtskonzept Der Einstieg in die Unterrichtssequenz erfolgt über die Lektüre der Kurzgeschichte, wobei ausdrücklich auf pre-reading activities verzichtet werden sollte, um den Rezeptions- und Deutungsprozess der Lernenden nicht zu beeinträchtigen. Da es in erster Linie darum geht, sich einen realistischen Eindruck über das Leseverstehen der Lernenden, deren Stärken, Schwächen und Grenzen zu verschaffen, sollte die Lektürephase Teil des Unterrichts sein, um einer Verzerrung des Ergebnisses durch das Konsul- seiner Partnerin (bewusst) unterbindet. Zudem unterstreicht die Raumhöhe, angedeutet durch die hohen Wände und die großrahmige Zimmertür, deren Sturz außerhalb des Bildausschnitts liegt, die gefühlskalte Atmosphäre. Erdrückend wirkt auch die Stille im Raum, die lediglich durch vereinzelte Geräusche (des Klaviers bzw. des Zeitungspapiers) durchbrochen wird und so die Kommunikationsarmut zusätzlich untermalt. Zur Darstellungsweise in Hoppers Room in New York siehe auch Abschnitt 3.2. Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom 213 tieren von Internetquellen, Literaturlexika etc. im außerunterrichtlichen Kontext vorzubeugen. Im Anschluss an die Textrezeption bearbeiten die Schülerinnen und Schüler ähnliche Aufgaben, wie sie im Rahmen der Stichprobenuntersuchung formuliert wurden (What is the story’s central theme? Which parts of the story helped you to understand what the central theme is? ). Die schriftliche Beantwortung der Aufgaben kann und sollte aufgrund der ausgesprochenen Kürze und des leicht zu bewältigenden Wortschatzes der Kurzgeschichte in der gleichen Unterrichtsstunde erfolgen, damit die Lehrkraft die Schülertexte am Ende der Stunde einsammeln und in Vorbereitung auf die nächste Stunde auswerten kann. Ohne eine zu pessimistische Prognose treffen zu wollen, ist es in Anbetracht der Stichprobenuntersuchung jedoch durchaus denkbar, dass viele Lernende nur zu einem sehr oberflächlichen Textverständnis gelangen werden. Andere wiederum werden durchaus in der Lage sein, selbstständig eine fundierte Textdeutung leisten zu können. Die Aufgabe der Lehrkraft wird es im weiteren Verlauf der Unterrichtssequenz sein, sowohl die leistungsstärkeren als auch die -schwächeren Schülerinnen und Schüler in das Unterrichtsgeschehen einzubinden. Zu Beginn der nächsten Unterrichtsstunde werden die Schülertexte kurz besprochen, indem die Lehrkraft ihre Beobachtungen zusammenfasst. Dabei geht es nicht darum, ‚falsche‘ und ‚richtige‘ Textinterpretationen auszuweisen, sondern die bisherigen Erkenntnisse als ‚mögliches‘ Deutungsspektrum zu verstehen, das als Basis für die weitere Unterrichtsarbeit dient. Die Überleitung zum Bildeinsatz kann über den Hinweis erfolgen, dass a) für das Erarbeiten weiterer Textdeutungen ein geschärfter Blick notwendig ist und dass sich b) das Schärfen des Blickes für einen literarischen Text sehr gut an einem Bild veranschaulichen lässt. Ohne den Titel des Gemäldes zu nennen, wird den Lernenden Hoppers Bild (Abb. 1) gezeigt. Wichtig ist dabei, dass die Lehrkraft hervorhebt, dass es sich nicht um eine Illustration zu Hemingways Kurzgeschichte handelt. So bezeichnet Rymarczyk (2007: 335) Werke, „deren Verknüpfung nicht im Werk selbst angelegt ist, sondern durch den Rezipienten vorgenommen wird“, als Werke mit „rezipientenbestimmte[r] Verknüpfung“. Den Schülerinnen und Schülern wird bewusst, dass der Bildeinsatz in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang mit der Lektüre der Kurzgeschichte steht, beide Werke üblicherweise aber unabhängig voneinander betrachtet werden. Mit dieser Erklärung ist für die Lernenden nachvollziehbar, weshalb im weiteren Unterrichtsverlauf zunächst Hoppers Gemälde im Mittelpunkt stehen wird. Katrin Thomson 214 Die Darbietung des Bildes erfolgt analog zur Textdarbietung: Den Lernenden wird das gesamte Bild präsentiert, da der Rezeptionsprozess von Bild und literarischem Text möglichst ähnlich (und damit vergleichbar) gestaltet werden soll. Da nach Seidl (2007: 3) „die Beschäftigung mit dem Visuellen nicht ohne Sprache aus[kommt]“, liegt es nahe, den Lernenden Gelegenheit zur sprachlichen (mündlichen) Erklärung und Deutung des Bildinhaltes zu geben. Entsprechende Aufgabenstellungen können folgendermaßen lauten: Take a look at the picture. What is going on in the picture? What do you have to say about the picture? Diese noch recht allgemeine Aufgabenstellung, die sowohl Bildbeschreibungen als auch Bildinterpretationen zulässt, ermöglicht auch lernschwächeren Schülerinnen und Schülern eine Beteiligung am Unterrichtsgespräch. Nach dem Sammeln erster Eindrücke und Reaktionen lenkt die Lehrkraft die Aufmerksamkeit der Lernenden auf verschiedene Bildaspekte, die sich in Analogie zu ‚Textsignalen‘ im literarischen Text als ‚Bildsignale‘ bezeichnen lassen. Das Augenmerk lässt sich besonders gut auf bestimmte Bildinhalte (z.B. Kommunikationsverhalten, Körpersprache, Raumstruktur) richten, wenn diese in Form von Bildausschnitten präsentiert und andere Bildinhalte ausgeblendet werden. Abb. 2 zeigt als eine erste Detailstudie lediglich die Köpfe der beiden Figuren. Die Schülerinnen und Schüler sollen nun die Kopfhaltung, die Mimik sowie die Blickrichtung der Figuren untersuchen und sich dazu mündlich äußern. Folgende Fragen können an die Lernenden gerichtet werden: What are they looking at? How can their facial expressions be described? What are they thinking/ feeling? Abb. 2: Bildausschnitt aus: Edward Hopper: Room in New York (1932). Erwartet wird, dass die Schülerinnen und Schüler anhand des Bildausschnitts erkennen, dass sich die beiden Figuren nicht anschauen, dass ihre Köpfe geneigt sind und dass die Distanz zwischen beiden Figuren eine Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom 215 gegenseitige Berührung ausschließt. Da die Gesichtszüge aufgrund der Farbgebung nicht eindeutig erkennbar sind, entstehen Leerstellen, die theoretisch zwar vielfältig interpretiert werden können, ausgehend von den Beobachtungen zur geneigten Kopfhaltung und zum gesenkten Blick aber bestimmte Deutungen plausibler erscheinen lassen. Der Gesichtsausdruck der Figuren ist wahrscheinlich weniger fröhlich, sondern vielmehr ernst (Mann) und nachdenklich (Frau). Eine zweite Detailstudie (vgl. Abb. 3) zeigt die Körper beider Figuren. Diesmal lenkt die Lehrkraft die Aufmerksamkeit der Lernenden gezielt auf die Körperhaltungen, die Körpersprache, aber auch auf die Kleidung, die als indirektes Charakterisierungsmittel bzw. als Indikator für einen bestimmten gesellschaftlichen Status gilt. Folgende Fragestellungen sind möglich: Where are they? What is significant about their body language? What are they wearing? What do they do for a living? Abb. 3: Detailstudie zu: Edward Hopper: Room in New York (1932). Den Lernenden soll auffallen, dass die beiden Personen nicht miteinander kommunizieren, sondern jeweils selbstversunken in unterschiedliche Tätigkeiten vertieft sind. Um zu diesem Schluss zu gelangen, müssen sie unter Berücksichtigung der Gestaltungsweise des Bildes und mit Hilfe ihres Weltwissens einen Bildsinn konstituieren. Während besonders der Mann durch seine geschlossene Körperhaltung nach außen Konzentration, gedankliche Vertiefung in seine Zeitungslektüre und damit aber auch fehlende Dialogbereitschaft suggeriert, impliziert die zumindest nur halbseitige Abwendung des Körpers der Frau ein Bedürfnis nach Kommunikation bzw. ein Gesprächsangebot, das der Mann nicht bemerkt oder wahrnehmen will. Ferner ist festzustellen, dass die Frau eher gelangweilt scheint. Sie Katrin Thomson 216 stützt sich auf und klimpert mit einem Finger geistesabwesend auf dem Klavier. An dieser Stelle können Rückschlüsse hinsichtlich der Qualität der Beziehung gezogen werden. Zu diskutieren wäre, ob es sich bei der dargestellten Situation nur um eine vorübergehende Situation, eine Momentaufnahme handelt, oder ob sich der Beziehungsalltag generell so kommunikationsarm gestaltet. Die bisherigen Beobachtungen werfen zudem weitere Fragen auf, zu deren Beantwortung auch der Aspekt der Kleidung heranzogen werden kann: Why are they dressed up? Is this their usual appearance? Von zentraler Bedeutung ist, aufzuzeigen, dass sich durch die Berücksichtigung und Hinterfragung von Bilddetails die Komplexität des Dargestellten bzw. die Bildbedeutung erschließen lässt. Abb. 4: Ausgestaltung und Größe des Raumes in: Edward Hopper: Room in New York (1932). Die dritte Detailstudie (vgl. Abb. 4) nimmt die Ausgestaltung und Größe des Raumes in den Blick. Indem die Aufmerksamkeit der Lernenden mit entsprechenden Fragen (z.B. What can you say about the size of the room? What do you notice about the furniture in the room? ) auf die Einrichtungsgegenstände und die räumlichen Dimensionen gelenkt wird, sollen sie erkennen, dass der Raum eher klein, spärlich und unpersönlich eingerichtet ist. Auffällig scheint, dass das einzige bequeme Möbelstück, der Sessel, dem Mann vorbehalten ist, während die Frau auf einem kleinen Klavierhocker sitzt. Anhand dieser Detaildarstellung lassen sich darüber hinaus Aussagen über das Verhältnis von Figuren und räumlicher Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom 217 Tiefenstruktur treffen. So befindet sich der Mann etwas weiter im Vordergrund, während die Frau nicht nur an den Rand, sondern gleichzeitig auch tiefer in den Hintergrund rückt. Die Funktion dieser Platzierung könnte vor dem Hintergrund der Geschlechterunterschiede diskutiert werden. Diese Bildsignale geben Aufschluss über die Beziehung der dargestellten Personen und ermöglichen den Lernenden ein tiefgründiges Bildverstehen. Ferner entbehrt der Raum - abgesehen von einigen Wandbildern - jeglicher Dekoration (etwa durch eine Blumenvase auf dem Tisch). Auf der Grundlage dieser Beobachtungen kann diskutiert werden, wo sich dieser Raum befindet, ob es sich um das heimische Wohnzimmer des Paares oder etwa ein Hotelzimmer handelt (z.B. What can you say about the building? What kind of room is it? Where are they? ). Die Lernenden sollen dabei nicht nur ihre Beobachtungen und Gedanken verbalisieren, sondern diese auch mithilfe des Bildinhaltes begründen. Im vierten Schritt der Detailuntersuchungen wird der Fokus der Lernenden auf die Farbgebung im Bild gerichtet. Um die Wirkung und Funktion der Farbgestaltung des Bildes in Gänze erfassen zu können, wird den Lernenden abschließend wieder das vollständige Bild (Abb. 1) präsentiert. Mit folgenden Fragen kann die Lehrkraft die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler auf diesen Aspekt lenken: What colors did the painter use? How can these colors be characterized? What do these colors usually stand for? What is the function of the colors? How does the picture convey a certain mood? Methodisch betrachtet ist es wichtig, die Farbwirkung am Ende der Detailuntersuchungen zu besprechen, da die Lernenden die bisherigen Beobachtungen mit der farblichen Gestaltung in Bezug setzen können. So sollen sie erkennen, dass - verkürzt gesagt - die kräftigen warmen Farben (Rot und Gelb), die üblicherweise mit Harmonie, Gemütlichkeit und Liebe assoziiert werden, nicht nur mit den dunklen Farben kontrastieren, sondern vor allem der emotionalen Beziehungskälte des Paares diametral entgegenstehen. Über einen gesteuert verlangsamten Rezeptions- und Deutungsprozess lässt sich der Erschließungsprozess der komplexen Bildbedeutung schrittweise veranschaulichen. Für die anschließende Übertragung des Verfahrens auf Hemingways Kurzgeschichte ist dieser Bewusstmachungsprozess eine notwendige Voraussetzung. Die Rückkopplung an den literarischen Text erfolgt über eine Gruppenarbeitsphase, in der sich die Lernenden parallel mit Hoppers Bild und der Kurzgeschichte „Cat in the Rain“ auseinandersetzen. Die Klasse wird in mehrere Kleingruppen aufgeteilt, wobei jede Gruppe Arbeitsblätter mit den Katrin Thomson 218 Kopien der vier Detailstudien erhält. Jeder Detailabbildung wird eine entsprechende Kategorie zugeordnet: facial expressions (Abb. 2), social status and body language (Abb. 3), spatial features (Abb. 4) und color, mood and atmosphere (Abb. 1). Die Lernenden erhalten nun den Auftrag, anhand der Detailstudien und den jeweiligen Kategorien nach textnahen Bezügen in der Kurzgeschichte zu suchen und diese auf den Arbeitsblättern zu notieren. Der Arbeitsauftrag kann wie folgt lauten: Look for details in the text that are either similar or contrast with the details we have just talked about in the picture. For example, you could ask yourselves these questions: How is the characters’ body language? How is the communication between them? What do we know about their social status? Where are they? What things in the text are connected with a certain mood? If you had to express this mood with a color, what color would it be? What colors can you find in the text? Die Lernenden werden schnell erkennen, dass sich die Einzelheiten nicht einfach ablesen lassen, sondern dass nach korrespondierenden Textsignalen gesucht werden muss. Mithilfe der gebildeten Kategorien kann die Aufmerksamkeit der Lernenden auf diese Signale gelenkt werden. Dennoch ist ein hoher Anteil an Eigenleistung erforderlich, da zwischen Bild und Text eben nur eine rezipientenbestimmte Verknüpfung besteht, die jeder einzelne Lernende individuell herstellen muss. Die Lernenden werden in der Verknüpfung von Hoppers Bild und Hemingways Geschichte - bis auf die Übereinstimmung auf der Figurenebene - also kaum eindeutige Entsprechungen finden. Die Transferleistung besteht vielmehr darin, kategorienbezogene Parallelen herauszuarbeiten, die für die Deutung des Textes wesentlich sind. Für das Verstehen der Kurzgeschichte ist Hoppers Bild bedeutsam, weil es den Lernenden hilft, die im Text dargestellten Szenen zwischen dem Ehepaar nachträglich zu visualisieren. Aus Platzgründen kann dies exemplarisch anhand der Kategorie body language lediglich angedeutet werden: Ähnlich wie der im Sessel sitzende Mann in Hoppers Bild hat es sich auch die literarische Figur George auf dem Bett gemütlich gemacht, um ein Buch zu lesen, während seine Frau abseits am Fenster steht. So heißt es in der Kurzgeschichte (2003: 129ff.): The American wife stood at the window looking out. […] The husband went on reading, lying propped up with two pillows at the foot of the bed. […] George was on the bed, reading. […] Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom 219 George was reading again. […] George shifted his position in the bed. […] She […] went over to the window and looked out. “Oh, shut up and get something to read,” George said. He was reading again. His wife was looking out of the window. […] George was not listening. He was reading his book. His wife looked out of the window […]. Analog zum Bild ist es auch im literarischen Text die Frau, die - hier durch den häufig erwähnten Blick aus dem Fenster - den Eindruck von Langeweile oder Unzufriedenheit erweckt. Sie ist es auch, die wie im Bild Bereitschaft zur Kommunikation zeigt, wobei diese Bemühung von George harsch zurückgewiesen und als Störung seiner Buchlektüre empfunden wird. Die über den gesamten Text verstreuten Hinweise zur Körpersprache und Raumposition der Figuren müssen, in ihrer Gesamtheit betrachtet, nicht nur als sprachästhetische Besonderheiten, sondern vor allem als wichtige Textsignale für die Interpretation erkannt werden. Das Herausarbeiten dieser Einzelbeobachtung allein führt jedoch noch nicht zu einem besseren Textverständnis. Weitere Detailstudien des Textes sind dafür notwendig. Setzen die Lernenden nämlich z.B. die gestörte Kommunikation des Paares und Georges Desinteresse an seiner Frau mit der bedrückenden Stimmung (mood and atmosphere), die im Text durch häufige Verweise auf Regenwetter und Dunkelheit erzeugt wird, zueinander in Beziehung, erkennen sie, dass die Geschichte weitaus mehr Spannungspotenzial enthält als zunächst angenommen. Dass die Erarbeitung des Textverständnisses ein dynamischer Prozess ist, der der aktiven Mitwirkung bedarf, wird den Lernenden bewusst, wenn die Lehrkraft unter Berufung auf die ursprünglichen Textinterpretationen der Schülerinnen und Schüler abschließend nach dem Erkenntnisgewinn fragt: Now that you have taken a closer look at the text by means of a picture, you might notice that you have concentrated on more details and new aspects that you did not focus on during the first reading. How does your interpretation of the story change in light of the various aspects we have discussed? How do you interpret the story now? Für die Ausbildung textanalytischer Kompetenzen stellen Sensibilisierung, Veranschaulichung und Reflexion ganz wesentliche Komponenten dar. In der Rückschau auf die Arbeit mit Bild und Text erkennen die Lernenden, wie und wodurch sich die eigene ursprüngliche Interpretation der Kurzgeschichte verändert hat. In diesem Zusammenhang kann im abschließenden Unterrichtsgespräch auch die Titelwahl diskutiert werden. Dabei sollte verdeutlicht Katrin Thomson 220 werden, dass im Fall von „Cat in the Rain“ im Titel ein zentrales Motiv (die Katze) aufgegriffen wird, das jedoch nicht mit der zentralen Thematik des Textes gleichzusetzen ist. Demnach könnten die Lernenden abschließend gebeten werden, eigene Titelvorschläge zu formulieren, die die Beziehungsproblematik zum Ausdruck bringen. Außerdem kann über den Titel des Bildes spekuliert werden, bevor die Lehrkraft diesen preisgibt. 4. Fazit Die voranstehenden Ausführungen liefern Anregungen dazu, wie der Einsatz von Kunstwerken im Fremdsprachenunterricht über die Bildbeschreibung oder Wortschatzvermittlung hinaus auch im Literaturunterricht zur Förderung methodischer und textueller Kompetenzen produktiv beitragen kann. Im Verbund von Kunstwerk und literarischem Text lernen die Schülerinnen und Schüler, wie Verfahren der Bildinterpretation für die Erschließung von Sprach(be)deutungen nutzbar gemacht werden können. Die detailorientierte Bildbetrachtung verzögert bewusst den gesamten Rezeptions- und Interpretationsprozess und führt zu einem genaueren Bildverständnis. Wird das Verfahren des verlangsamten Bildlesens auf den literarischen Text transferiert, werden Textsignale und Leerstellen sichtbar, die für die Sinnerschließung wesentlich sind. Das vorgestellte Verfahren ist eine Variante der intermedialen Literaturinterpretation, mit deren Hilfe Text(be)deutungen selbstständig erarbeitet werden können. Um das erworbene methodische Wissen auf andere Lerngegenstände übertragen zu können, muss es für die Lernenden systematisierbar und verallgemeinerbar sein. Die Generalisierbarkeit des Interpretationsverfahrens lässt sich am Beispiel der Eisbergmetapher effektiv illustrieren. Wird der Eisberg mit einem Gemälde oder literarischen Text gleichgesetzt, wird deutlich, dass nur ein kleiner Teil - nur die Eisbergspitze - der Bild/ Text-Bedeutung zu sehen ist. Stützt man sich bei der Bild/ Textinterpretation lediglich auf dieses Oberflächendetail, d.h. auf die konkret dargestellten Figuren, Handlungen, Objekte etc., wird man entsprechend nur zu einem oberflächlichen Verständnis gelangen. Die Mehrheit der sinnkonstituierenden Elemente ist in der Tiefe verborgen und muss über das Aufspüren und Deuten von Textsignalen und Leerstellen - sprichwörtlich an die (Wasser-)Oberfläche - befördert und sichtbar gemacht werden. Damit dies gelingt, muss die Textrezeption verlangsamt, Bildkunst und Literatur im EFL-Classroom 221 der Blick geschärft werden. Das langsame Lesen kann Lernenden, so die Einschätzung von Karlheinz Hellwig (1989: 6), besonders anschaulich am Beispiel der Bildrezeption illustriert werden, weil die „allmählich[e] Vertiefung in ein Bild […] zur Überwindung flüchtigen und oberflächlichen Erlebens, Erkennens und Verarbeitens bei[trägt]“. Rymarczyk (1998: 47) erklärt, dass die „,Erziehung zur Langsamkeit‘“ angesichts des veränderten Wahrnehmungsverhaltens in der schnelllebigen Mediengesellschaft gerade für den fremdsprachlichen Literaturunterricht einen besonderen Stellenwert besitzt: Das Wahrnehmungsverhalten der Schüler ist zunehmend durch die Geschwindigkeit der visuellen Reize elektronischer Medien bestimmt, wodurch eine langsame und intensive Auseinandersetzung mit einem Gegenstand abgelöst wird durch flüchtige und oftmals oberflächliche Begegnungen. Die sich herausbildenden Lerndispositionen wirken gerade im fremdsprachlichen Unterricht als Lernbarriere, wenn es z.B. darum geht, literarische Texte in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Die Rezeption von authentischen Kunstbildern als konstanten visuellen Medien kann der Flüchtigkeit der Wahrnehmung entgegenwirken. (ebd.) Wenn Lernende Hemingways „Cat in the Rain“ etwa als Geschichte mit happy ending lesen, weil die Protagonistin am Ende die Katze des Hotelbesitzers erhält, dann lohnt es sich, wie Jutta Rymarczyk und Gabriele Scherer (2006: 169) vorschlagen, „unsere schnellen, flüchtigen Sehgewohnheiten hin und wieder mit Bedacht und Detailtreue zu verlangsamen“, um Zusammenhänge und Bedeutungen zu erschließen. Methodisch betrachtet, kann die Verknüpfung von medien- und literaturdidaktischen Aspekten den Fremdsprachenlernenden neue Zusammenhänge eröffnen und zur Förderung bild- und textanalytischer Kompetenzen beitragen. Quellen Primärtexte Hemingway, Ernest (1955). 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Einleitende Bemerkungen In einer bildgeprägten Welt avanciert die Vermittlung von visueller Kompetenz, einem Sehverstehen von Bildern und vielfältigen Bildwelten, zu einem der Hauptthemen in allen Sparten der Vermittlung. Unterschiedlichste Bildsorten finden auch in der Schule immer mehr Beachtung. Dies gilt auch für diejenigen Fächer, in denen bislang die Sprache in einer Auseinandersetzung mit dem Bild dominierte bzw. die Beschäftigung mit Bildern überwiegend auf der Ebene der Beschreibung stattfand. Dazu zählt der Fremdsprachenunterricht. Die im vorliegenden Artikel vorgeschlagenen methodischen Erweiterungen führen zu einer rezeptiven, reflexiven und auch gestalterischen Beschäftigung mit Bildern - im Fremdsprachenunterricht bzw. in einer Kooperation von Fremdsprachenunterricht und Kunstunterricht. Beschrieben wird ein Unterrichtsprojekt als kooperatives Vorhaben der gymnasialen Fächer Englisch und Kunst. Es ist ein Beispiel für das fachübergreifende Arbeiten, das durch eine Öffnung der Fachgrenzen, die Integration von Inhalten des jeweils anderen Faches sowie das fächerverbindende Lehren und Lernen, d.h. die Bearbeitung von Inhalten aus der Perspektive beider Fächer, auch in Form des team teaching (vgl. Haß 2006: 58), charakterisiert ist. Das Unterrichtsgeschehen entfaltet sich dabei ausgehend von der Auseinandersetzung mit einer literarischen Vorlage in beispielhaften Auszügen, über das Erkennen der Bildhaftigkeit von Sprache bis hin zu einer visuellen Umsetzung von ausgewählten Inhalten. Rainer Wenrich 226 Interdisziplinäres Lehren und Lernen werden mit dem Kernziel der Vermittlung von visueller Kompetenz in Form von Rezeption (Text- und Bildanalyse) und Produktion (Text- und Bildgestaltung) verknüpft. Thema dieses Projekts sind William Shakespeare und seine Dramen. 2. William Shakespeare als (Bild-)Thema Schon zu seinen Lebzeiten beflügelten die Inhalte von William Shakespeares Werken die Phantasie bildender Künstler, und bis heute hat Shakespeare nichts von seiner Faszinationskraft verloren. Holger Klein und James L. Harner (2000: 1) bemerken dazu: „there is still a good deal to be newly discovered.“ Es mag demnach nicht verwundern, dass viele Künstlerinnen und Künstler seit dem späten 16. Jahrhundert bildnerische Adaptionen einzelner szenischer Inhalte des Schriftstellers aus Stratford-upon-Avon präsentieren. Dem literatur- und kunsthistorisch Interessierten eröffnet sich dabei der Blick auf eine über vierhundert Jahre andauernde bildnerische Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, aus der sich Kunststile, Literatur- und Theatergeschichte, individuelle Lebensformen und auch kleidermodische Vorlieben ablesen lassen. Shakespeare-Visualisierungen sind noch heute aktuell: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird der englische Ausnahmeliterat und feinsinnige Wortkünstler an den Höfen von Königin Elizabeth I und König Jacob I auf einer Vielzahl von Internetseiten präsentiert. „Will in the World“ (Greenblatt 2004) mag auch im Hinblick auf die digitalen Medien gelten: „Will is still in the World.“ Didaktisch und methodisch aufbereitete und für Lehrkräfte aller Schularten abrufbare WebQuests sind dabei ebenso verfügbar wie zahlreiche Biografien, Werkverzeichnisse und Suchportale. In einem Werbespot für Jeans wird Shakespeares Sommernachtstraum gar an die Westküste der USA verlegt. Für knapp 60 Sekunden sprechen die Protagonisten statt amerikanischem Slang Verse der Elisabethanischen Zeit. Darüber hinaus mag die lange Reihe der Verfilmungen von Shakespeare- Stoffen nicht abklingen. Shakespeare und Shakespeare-Visualisierungen sind also nach wie vor aktuell, und ihre literarischen Grundlagen sowie deren kulturhistorische Bedeutung machen sie interessant für die Bearbeitung im Englischunterricht. Im Rahmen des vorgestellten Unterrichtsprojekts werden ausge- William Shakespeare und die Inszenierte Fotografie 227 wählte Werke Shakespeares (Hamlet, Romeo & Juliet) in Auszügen als Basis für eine Text- und Bildarbeit genommen. 3. Inszenierte Fotografie und ihre Bedeutung für die Ausbildung visueller Kompetenz Inszenierte Fotografien sind Fotos von arrangierten Szenen, oftmals nachgestellte Szenen aus anderen Bildern oder Filmen. Seit den frühen 1990er Jahren haben die als Inszenierte Fotografie gekennzeichneten künstlerischen Arbeiten schrittweise ihre Trennlinie zwischen Fiktion und Realität, zwischen Inszenierung und bloßer Wiedergabe der Realität aufgelöst. Als Themen finden sich häufig die Dokumentation von Erlebnissen des persönlichen Umfeldes und die zitathafte Umsetzung literarischer, filmischer oder auch kunstgeschichtlicher Vorbilder. Auch unterschiedliche Formen der Alltagskultur (z.B. Musik-Videoclip oder Werbung) werden bei der Gestaltung Inszenierter Fotografien berücksichtigt. William Shakespeares inhaltlicher Reichtum findet sich ebenfalls im Medium der Inszenierten Fotografie. Künstler wie Gregory Crewdson oder Tom Hunter, welche in der dargestellten Projektarbeit eine zentrale Rolle spielen, nehmen neben anderen Themenfeldern Schlüsselszenen aus Hamlet auf und überführen diese in eine fotografisch-bildhafte Paraphrase, welche die literarische Quelle zwar noch erkennen lässt, aber auch Raum für eigene Interpretationen bietet. Im Hinblick auf die Vermittlung visueller Kompetenz aus der Perspektive der beiden kooperierenden Fächer bildet die Inszenierte Fotografie gleichsam ein paradigmatisches Medium des Transfers. Bei der Rezeption schon existierender Fotografien lässt sie den Betrachter nachvollziehen, wie Textauszüge oder Szenen die Gestaltung von Bildern steuern können. Vergleichbar mit der Inszenierung eines Theaterstücks ist der Gestalter von Inszenierter Fotografie ein Bildregisseur, der Ausschnitt, Dramaturgie, Licht und Staffage zu einem entscheidenden Moment zusammenführt. Bei der Produktion eigener Inszenierter Fotografien auf der Basis eines literarischen Textes können die Lernenden die Bedeutungshaltigkeit von konstruierten Bildern und deren interpretative Kraft durch eigenes Tun erfahren, was sie in der Folge selbst zu aufmerksameren Leserinnen und Lesern von Bildern und Texten werden lässt. Rainer Wenrich 228 4. Didaktische und methodische Grundlagen Bevor einzelne Handlungsstränge des Projekts aufgezeigt werden, geben die folgenden Ausführungen ausgewählte Einblicke in die jeweilige didaktische Ausrichtung der Fächer Englisch und Kunst. 4.1 Englischdidaktik Seit den 1970er Jahren wird in den Literaturunterricht des Faches Englisch der rezeptionsästhetische Ansatz eingebunden, welcher die individuelle Erfahrungssphäre der Lesenden berücksichtigt. Ähnlich wie bei einer Auseinandersetzung mit einem Werk der bildenden Kunst entsteht das literarische Werk somit aus einem Interaktionsprozess zwischen Text und Lesenden. Der Text wird dabei als weitere Erfahrung aufgenommen und mit bereits vorhandenen (Text-)Eindrücken in Beziehung gesetzt. Das Verknüpfen von Texten und (Text-)Erfahrungen, die Generierung sogenannter Intertexte 1 (Krüger 2007: 135) spielt dabei eine ebenso große Rolle wie in der aktuelleren Kunstdidaktik. 2 Entscheidend dabei ist, wie Isolde Schmidt (2004: 18) präzise formuliert, dass „ästhetisches Lesen [...] jedoch kein Schwelgen in Emotionen [ist], sondert auf einem Zusammenführen von kognitiven und emotionalen Elementen [beruht]. Ästhetisches Lesen ist auch kein freies Assoziieren, sondern hat den Text [das Bild; RW] als wichtigen Referenzpunkt.“ 4.2 Kunstdidaktik Das zentrale Anliegen des Faches Kunst ist die Auseinandersetzung mit vielfältigen Erscheinungsformen des Bildes. Längst ist die Kunst nicht mehr der alleinige Ort der Bilderzeugung, Bildverbreitung und Bildrezeption. Vor allem die Allgegenwart von technisch generierten Bildern hat die 1 Der Begriff ‚Intertext‘ wurde 1969 von der bulgarischen und in Paris lehrenden Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva geprägt. Er löst die Geschlossenheit eines (literarischen) Werkes auf und basiert auf der gedanklichen Figur einer Übertragung und Verknüpfung von auch unterschiedlichen Zeichensystemen. 2 Zusätzlich zu dem Begriff des ‚Intertextes‘ muss der Begriff der ‚Interpikturalität‘ Erwähnung finden. William Shakespeare und die Inszenierte Fotografie 229 Zahl visueller Repräsentationen deutlich erhöht und fordert von dem jeweiligen Betrachter bzw. Benutzer eine umfassende visuelle Kompetenz. Das Fach Kunst versucht auf diese Veränderungen zu reagieren und beinhaltet eine intensive Beschäftigung mit allen Formen von gestaltbaren und gestalteten Objekten in dem Sinne, dass die klassischen künstlerischen Techniken (z.B. Handzeichnung, Malerei, Plastik und Skulptur) und die elektronisch erzeugten Bildwelten (z.B. digitale Fotografie), Architektur und Design, Hochkunst und Alltagsästhetik in die Vermittlungsarbeit eingebunden werden. So findet auch die Inszenierte Fotografie Eingang in den Unterricht. Im Fach Kunst werden Momente der Bilderzeugung mit spezifischen und variantenreichen Untersuchungsformen verknüpft, also bildnerische Praxis verbunden mit der Analyse von Bildern, der Formulierung von Interpretationsansätzen und der Reflexion von bildnerischer Praxis und Theorie (vgl. Niehoff/ Wenrich 2007: 21). In diesem Sinne zielte die Projektarbeit darauf ab, das Thema ,inszenierte Shakespeare-Fotografie‘ durch Analyse, Interpretation sowie Produktion zu erarbeiten. 4.3 Englisch und Kunst - interdisziplinäre Projektarbeit Die vorliegenden Ausführungen entwickeln aus dem Blickwinkel beider Fächer einen interdisziplinären Text- und Bildumgang. Die Vermittlung visueller Kompetenz, verankert in beiden Fächern, ist in der Trias von Rezeption, Reflexion und Produktion Bestandteil des Kompetenzkatalogs (Sachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz und Personalkompetenz). Die bereits angesprochene Interdisziplinarität wird dadurch erreicht, dass sowohl Textals auch Bildreflexionen in Form eines didaktischen und methodischen Wechsels zwischen den Fächern stattfinden. Die Thematisierung von William Shakespeares literarischem Schaffen ist exemplarisch in der Mittelstufe des Gymnasiums (hier: 9. Jahrgangsstufe) angesiedelt. In der Auseinandersetzung mit Text und Bild in Form von Textarbeit, Bildanalyse und Bildproduktion wird die Inszenierte Fotografie als Medium im Vermittlungsprozess von Theorie und Praxis eingesetzt. Diese Vorgehensweise wird durch kurze kunstgeschichtliche Exkurse umrahmt. Damit wird aufgezeigt, inwieweit sich die bildende Kunst in zitathaften Rückgriffen oder Paraphrasen von dem schriftstellerischen Werk Shakespeares inspirieren lässt. Bei einer fotografischen Umsetzung besteht für die Schülergruppe im Gegensatz zu einer filmischen Gestaltung die Herausforderung darin, aus einem umfangreichen Text diejenigen fruchtbaren Momente herauszuarbeiten, die sich für eine entsprechende Fotoar- Rainer Wenrich 230 beit besonders gut eignen. Ein weiteres wesentliches Unterrichtsziel der interdisziplinären Projektarbeit besteht darin, die Lernenden in Form der Formulierung von Textparaphrasen oder Alternativszenen, aber auch in performativen Umsetzungen der literarischen Vorlage aktiv einzubinden. Innerhalb der gesamten Projektarbeit (ca. 4-5 Wochen) werden die beiden Zeichensysteme Text und Bild miteinander verknüpft, fördern das Text- und Sehverstehen gleichzeitig im Fremdsprachen- und Kunstunterricht (vgl. Seidl 2007: 2) und ermöglichen einen vielschichtigen Unterrichtsablauf mit unterschiedlichen medialen Einsatzmöglichkeiten. 5. Das Unterrichtsprojekt Im Unterrichtsprojekt geht es darum, zum einen das Genre der Inszenierten Fotografie und zum anderen die einigen Fotografien zugrunde liegenden Dramen Shakespeares zu erarbeiten. Als Arbeitsgrundlage dienen Auszüge der Tragödien Hamlet und Romeo & Juliet. In regelmäßigen und gemeinsamen Besprechungen von Lehrenden und Lernenden werden die didaktisch-methodischen Handlungsabläufe des Unterrichtsgeschehens erörtert. Somit kann auch der Fortschritt des Projektes immer wieder überprüft werden. Die Inhalte und Vorgehensweisen des Unterrichts werden nachfolgend deutlich gemacht. Die dargestellten Arbeitsweisen der kooperierenden Fächer bieten dabei Vorschläge zur Planung, Durchführung und Auswertung eines solchen Projekts. Der Unterricht in der Klassengruppe kann z.B. in Form des team-teaching organisiert werden, wobei die Lernenden Textauszüge mit Schlüsselszenen gemeinsam mit der Englischlehrkraft herausarbeiten und seitens des Faches Kunst Gestaltungsmöglichkeiten für eine fotografische Umsetzung (Inszenierte Fotografie) diskutiert werden. Dieses Zusammenführen der Fächer kann ansonsten individuell, abhängig von jeweiligen inhaltlichen und methodischen Schwerpunktsetzungen geschehen. Der Gebrauch der Fremdsprache kann in einzelnen Arbeitsphasen oder auch permanent, je nach Sprachkompetenz der Schülergruppe, stattfinden. Die Projektarbeit findet ihren Abschluss in einer gemeinsamen Gesamtpräsentation der Arbeitsergebnisse aus beiden Fächern. Vorgesehen ist eine Präsentation ausführlicher Hintergrundinformationen zu Leben und Werk William Shakespeares mit Texten, Bild- und Filmausschnitten Darüber William Shakespeare und die Inszenierte Fotografie 231 hinaus werden unterschiedliche Formen der Textproduktion (z.B. summary, comment, composition, poem, Bildanalysen und Interpretationsansätze) und fotografische Umsetzungen auf der Grundlage der erarbeiteten Kriterien zur Gestaltung von Inszenierter Fotografie gezeigt. Sowohl die Lehrkräfte als auch die Schülergruppe erhalten Gelegenheit zur Auswertung ihrer gemeinsamen Projektarbeit (z.B. Bewertungsbogen, Feedback-Runde oder Abschlussgespräch). In der Gesamtbeurteilung der Projektarbeit spielen neben dem Erwerb von Schlüsselkompetenzen auch produkt- und prozessbezogene Kriterien eine wichtige Rolle (vgl. Haß 2006: 61). 5.1 Didaktisch-methodische Schrittfolgen im Fach Englisch Im Fach Englisch werden zunächst fachliche Grundlagen der vorangegangenen Jahrgangsstufe, z.B. Grundkenntnisse über das Elisabethanische Zeitalter und die Elizabethan Stage, vertieft. Mit Hilfe dieser Vorwissensbasis werden Textauszüge (Hamlet, Romeo & Juliet) sowie der Kontext ihrer Entstehung untersucht. Auf diese Weise werden Vorkenntnisse der Lernenden mit weiterführenden Aspekten verknüpft (z.B. Inhalt, Figurencharakteristik, Erzählkategorien, Zeitgestaltung, Handlungsstränge, Montagetechniken, Dramaturgie, Rezipientenrolle, Textproduktion, Sprachmittlung, aktuelle Theaterinszenierungen). Die Auseinandersetzung mit den ausgewählten Textinhalten initiiert gestalterische Aspekte, wie z.B. creative writing (vgl. das - unveränderte - Schülergedicht „In the Crypt“) ebenso wie Diskussionen über Bereiche jugendlicher Lebenswelten oder Differenzen zwischen den Generationen. In the Crypt She went down to stage a dark shadowed act, to where the deads laid down their head, to drink poison from a chalice, and sleep deep forever. Romeo found Juliet, saw her corpse laying there, sank down dispaired, having his love passed away. Without her no life is present Too precious was her gift to him, he took a deadly sip, that accompanied him. And when he sank down Rainer Wenrich 232 Juliet arose from her slumber full of grief, she grabbed the dagger, cold steel ended her life’s agony. Gedicht eines Schülers, 9. Jgst. Mit diesen Formulierungen wird jene Szenerie erfasst, die im Originaltext von Romeo & Juliet mit folgenden Zeilen Julias endet: „Yea, noise? Then I’ll be brief. O happy dagger! This is thy sheath, there rust, and let me die.“ 5.2 Didaktisch-methodische Schrittfolgen im Fach Kunst Im Fach Kunst werden nach der Wiederholung fachlicher Grundlagen der vorangegangenen Jahrgangsstufe, z.B. zur Kunstgeschichte der Renaissance und des Barockzeitalters sowie zu bildnerischen Techniken, lernstufenspezifische Methoden der Recherchearbeit erlernt (vgl. Gopon 2003: 492). Sodann erhalten die Lernenden die Aufgabe, Informationen aus dem Englischunterricht zu Leben und Werk William Shakespeares in eine Präsentation einzuarbeiten. Neben dem Text können auch Bilder und Filmausschnitte eingebunden werden. Ein vorher festgelegtes Präsentationskonzept dient hierbei als Grundlage für die Gesamtdarstellung der Informationen. Der beispielhafte Blick auf Shakespeare-Verfilmungen z.B. Hamlet von Franco Zeffirelli (1990), Kenneth Branagh (1995) und Michael Almereyda (2000) sowie Romeo and Juliet von Franco Zeffirelli (1968) und Baz Luhrmann (1996) - beinhaltet die Fragestellung nach Schlüsselszenen und deren Gestaltung. 5.3 Die Inszenierte Fotografie als Medium zur Ausbildung einer visuellen Kompetenz Die Erarbeitung und Klärung des Begriffes der ‚Inszenierten Fotografie hat als Grundlage exemplarische Bildbetrachtungen. Dabei handelt es sich um Werke von bildenden Künstlern (u.a. Jeff Wall, Cindy Sherman, Sam Taylor-Wood), die als Darstellungsform die Fotografie nutzen. Gregory Crewdson und Tom Hunter, die ebenfalls die Fotografie als künstlerisches Medium einsetzen, illustrieren das Thema der ,schönen Toten , der jungen Ophelia aus Shakespeares Hamlet, in dieser Darstellungsform unter Berücksichtigung von Motivwahl, Szenerie, Perspektive und Einstellung, William Shakespeare und die Inszenierte Fotografie 233 Akzentuierung durch Licht, Figur-Raum-Beziehungen, Gesamtkomposition von Bildausschnitt und Bildausstattung. Die letztgenannten Aspekte machen die Vermittlung von visueller Kompetenz im Zusammenhang mit der Inszenierten Fotografie tragfähig. Die Einzelbetrachtungen von Bildbeispielen ermöglichen das Bild- und Sehverstehen durch ein Nachvollziehen ihrer Entstehungsweise. Die Künstler greifen in diesem Zusammenhang auch auf berühmte ikonische Vorlagen von z.B. Eugène Delacroix (vgl. Abb. 1) oder John Everett Millais (vgl. Abb. 2) zurück. Ein gleichsam inflationärer motivischer Gebrauch der schicksalhaften Umstände, in Folge derer Shakespeares Ophelia ihrem Leben ein Ende setzt, brachte an die 50 gemalte, gezeichnete und radierte Porträts hervor, die in Katalogen dokumentiert wurden. Das Drama Ophelias wird im Originaltext als offstage death in Form eines Botenberichts übermittelt. Dies ermöglichte bildenden Künstlern vor allem seit dem 19. Jahrhundert eine Fülle von romantischen Porträts (Rozett 2000: 185). Die weitaus jüngeren Gestaltungsergebnisse der Inszenierten Fotografie bewegen sich dagegen in einem Spannungsfeld zwischen Erzählhaltung und nüchterner Dokumentation (Ermacora 2001: 14). So ist bei Gregory Crewdsons Fotoarbeit Untitled (Ophelia) von 1998/ 2002 am deutlichsten von einem inszenierten Bildraum im Sinne von Dramaturgie und Lichtregie zu sprechen (vgl. Abb. 3). Die Grenzen des Mediums der Fotografie auslotend, erreicht er genau den einen entscheidenden Moment, um Ophelia in einem überfluteten Wohnzimmer, umgeben von einer akribisch arrangierten Staffage aus Mobiliar, Büchern und Familienfotos, abzulichten (Crewdson 2002). Abb. 1: Eugène Delacroix: Tod der Ophelia (1853). Abb. 2: John Everett Millais: Ophelia (1851/ 52). Rainer Wenrich 234 Tom Hunter zitiert in seiner Ophelia-Paraphrase Der Weg nach Hause aus dem Jahre 2000 sowohl die Textvorlage aus Shakespeares Hamlet als auch die kompositorische und malerische Verbildlichung von John Everett Millais aus dem Jahr 1852 (vgl. Abb. 4). Die Übernahme von sowohl literarischem Zitat als auch der Bildorganisation von Millais erfolgt unter der Berücksichtigung von Gesamtkomposition und Bildausschnitt. Abb. 3: Gregory Crewdson: Untitled (Ophelia) (1998/ 2002). Abb. 4: Tom Hunter: Der Weg nach Hause (2000). William Shakespeare und die Inszenierte Fotografie 235 Die intensive Bildbetrachtung, das close reading der Bildgestaltungen, liefert einen Impuls zur Eigentätigkeit der Lernenden. Die beispielhafte Auswahl einer vergleichbar dramatischen Szene aus Shakespeares Romeo & Juliet dient im Anschluss als Grundlage für eine fotografische Umsetzung (vgl. Abb. 5 und 6). Hierbei steht insbesondere die Eigentätigkeit der Schülerinnen und Schüler im Vordergrund. Die Realisation der Bildideen in Inszenierten Fotografien sieht die Einteilung in Teams für Technik, Maske und Bühnenbild, die Auswahl der Akteure und die Suche eines geeigneten Orts für die Inszenierung des Bildes vor. Dabei kann auch das während des creative writing entstandene Schüler-Gedicht den Gestaltungsanlass unterstützen. 6. Pädagogische Reflexion des Projekts Die Projektarbeit macht die bilderzeugende Kraft und die Zeitlosigkeit der Texte William Shakespeares deutlich. Shakespeares Werk hat die Jahrhunderte überdauert und lebt auch in den Formulierungen zeitgenössischer Künstler, interpretiert und adaptiert u.a. mit Hilfe der Gestaltungsform der Inszenierten Fotografie, weiter. Die Inhalte seiner Stücke enthalten Momente, die eine unmittelbare Identifikation der Jugendlichen und jungen Abb. 5 & 6: Schülerarbeiten zu Romeo & Juliet, „Gruftszene“: Scene III. A churchyard; in it a tomb belonging to the Capulets. Rainer Wenrich 236 Erwachsenen mit den Protagonisten zulassen. Die in den Texten angesprochenen Themen berühren, begeistern und schließen immer wieder die Motivation für eine intensivere, nachhaltigere Auseinandersetzung mit ihnen ein. Text- und Bildwahrnehmung, Text- und Bildproduktion bedeuten hier auch Weltwahrnehmung und zielen über die einzelnen Stationen der Reflexion hin auf ein Weltverständnis als übergeordnetes pädagogisches Ziel. William Shakespeares Literatur als Grundlage des fachübergreifenden und fächerverbindenden Arbeitens ist damit um ein Vielfaches mehr als eine Pflichtübung des Literaturunterrichts. Seine Texte, Sprache und Bildwelt, die Auseinandersetzung mit künstlerischen Textadaptionen und vor allem die eigene gestalterische Umsetzung statten das Vermittlungsziel der visuellen Kompetenz im Fremdsprachen- und Kunstunterricht als didaktischen, methodischen und zuvorderst pädagogischen Erlebnis- und Erfahrungsraum aus. Quellen Sekundärtexte Beyer-Kessling, Viola (2006). „The Power of Pictures: Englisch lernen mit Bildern.“ Fremdsprachenunterricht 59, 11-15. Crewdson, Gregory (2002). Twilight. Ausstellungskatalog. New York: Abrams. Ermacora, Beate (2001). Fotoerzählungen. In: Ermacora, Beate; Hapkemeyer, Andreas & Weiermair, Peter (Hrsg.). Strategies: Fotografie der neunziger Jahre. Zürich: Edition Oehrli, 14-17. Gopon, Wolfgang (2003). „Fächerübergreifendes Arbeiten im Fach Kunst.“ In: Busse, Klaus-Peter (Hrsg.). Kunstdidaktisches Handeln. Norderstedt: Books on Demand, 492-504. Greenblatt, Stephen (2004). Will in the World: How Shakespeare became Shakespeare. New York: W.W. Norton & Company. Haß, Frank (Hrsg.) (2006). Fachdidaktik Englisch: Tradition, Innovation, Praxis. Stuttgart: Klett. William Shakespeare und die Inszenierte Fotografie 237 Klein, Holger & Harner, James L. (2000). „Shakespeare and the Visual Arts.“ In: diess. (Hrsg.). Shakespeare and the Visual Arts. Shakespeare Yearbook, Bd. 11. New York: Edwin Mellen, 1. Krüger, Klaus (2007). „Das Bild als Palimpsest.“ In: Belting, Hans (Hrsg). Bilderfragen: Die Bildwissenschaften im Aufbruch. München: Fink, 133- 163. Niehoff, Rolf & Wenrich, Rainer (Hrsg.) (2007). Denken und Lernen mit Bildern: Interdisziplinäre Zugänge zur Ästhetischen Bildung. München: kopaed. Rozett, Martha Tuck (2000). „Drowning Ophelias and Other Images of Death in Shakespeare’s Plays.“ In: Klein, Holger & Harner, James L. (Hrsg.). Shakespeare and the Visual Arts. Shakespeare Yearbook Bd. 11. New York: Edwin Mellen, 182-196. Schmidt, Isolde (2004). Shakespeare im Leistungskurs Englisch. Frankfurt a.M.: Lang. Seidl, Monika (2007). „Visual Culture: Bilder lesen lernen, Medienkompetenz erwerben.“ Der fremdsprachliche Unterricht 87, 2-9. Abbildungen Abb. 1: Eugène Delacroix: Tod der Ophelia (1853). Im Internet auf: www.english.emory.edu/ classes/ Shakespeare_Illustrated/ Delacroix. Ophelia.html (2.11.2009). Abb. 2: John Everett Millais: Ophelia (1851/ 52). Im Internet auf: www.victorianweb.org/ painting/ millais/ paintings/ 4.html (2.11.2009). Abb. 3: Gregory Crewdson: Untitled (Ophelia) (1998/ 2002). In: art - Das Kunstmagazin (6/ 2004), 13. Abb. 4: Tom Hunter: Der Weg nach Hause (2000). In: art - Das Kunstmagazin (6/ 2004), 58. Abb. 5-6: Schülerarbeiten zu Romeo & Juliet, „Gruftszene“: Scene III. A churchyard; in it a tomb belonging to the Capulets. Schülerarbeiten, Gymnasium, 9. Jahrgangsstufe. 238 B ILDER IM K ULTURUNTERRICHT 239 P ETER F REESE Die amerikanische Einwanderungsgeschichte im fortgeschrittenen Englischunterricht anhand von politischen Karikaturen und Werbeanzeigen 1. Bilder im Englischunterricht 1992 postulierte der amerikanische Kulturwissenschaftler William J.T. Mitchell einen pictorial turn, und zwei Jahre später rief der deutsche Kunsthistoriker Gottfried Boehm einen iconic turn aus (vgl. Bachmann- Medick 2006: 329-377). Beide plädierten, wenn auch verschieden akzentuiert, für eine Wende von dem in unserer Gutenberg Galaxy lange als selbstverständlich geltenden Verständnis der Welt als einer Abfolge von Texten zu einem neuen Verständnis der Welt als einer Ansammlung von Bildern. Zwar werden die Konsequenzen solcher neuen ‚Bildwissenschaft‘ noch kontrovers diskutiert, aber in Bezug auf den praktischen Einsatz von Bildern im Fremdsprachenunterricht ist es unbestritten, dass die neue Disziplin der Visual Culture Studies eine viel versprechende „reconceptualization of the teaching of cultural history in the advanced EFL classroom“ (Hebel/ Morth-Hebel 2003: 187) ermöglicht. Natürlich haben im Englischunterricht (EU) neben den eigens für seine Zwecke hergestellten Bildern, die fremdsprachliche Semantisierungsprozesse erleichtern, indem sie die Bedeutungen neuer Wörter einführen oder deren verbale Erklärung visuell unterstützen, stets auch schon authentische Bilder als Transportmittel kulturkundlicher Informationen eine Rolle gespielt. Ihre Funktion war allerdings zumeist darauf beschränkt, als Illustration verbaler Texte oder als motivierende Bereicherung zu dienen. 1 Im 1 In meiner 1994 eröffneten Viewfinder-Reihe war das allerdings von Anfang an anders, und Hebel/ Moreth-Hebel (2003: 198, note 3) bestätigen das, wenn sie sagen: „the Viewfinder series edited by Peter Freese and published by Langenscheidt-Longman, probably puts most emphasis on reading visual materials as cultural documents.“ Peter Freese 240 Kontext der Visual Culture Studies haben visuelle Repräsentationen nun aber nicht länger eine dienende Funktion, sondern werden zu eigenständigen Trägern kultureller Informationen und zu Instrumenten der Vermittlung von visual literacy. Welche neuen Möglichkeiten sich aus solcher Akzentverschiebung ergeben, wurde etwa auf der Teacher Academy 2003 der deutschen U.S.-Botschaft zum Thema „Visual Culture in the American Studies Classroom“ untersucht. Die aus dieser Konferenz hervorgegangene Publikation versammelt Arbeiten zu „visual materials in their very own right rather than as secondary supportive materials added to language training and the reading of literary texts“ und zeigt „[that] the emphasis on teaching American history, politics, and cultures visually problematizes, if not challenges, the traditional dominance of the written text in EFL curricula.“ (Hebel/ Kohl 2005: v) Mit den jetzt als angemessenen Unterrichtsgegenständen entdeckten Bildern sind keineswegs nur die Gemälde der so genannten ‚hohen‘, sondern auch und vor allem die Karikaturen, Plakate und Werbeanzeigen der populären Kultur gemeint, denn gerade diese dokumentieren besonders deutlich die herrschenden Anschauungen und Haltungen ihrer Zeit. Was etwa das mit charakteristischer Übertreibung arbeitende Genre der politischen Karikatur und das auf eine prägnante Botschaft ausgerichtete Genre des Werbeplakats als Mittel kulturkundlicher Unterweisung im fortgeschrittenen EU leisten können, soll mit Bezug auf das zentrale amerikakundliche Thema der Geschichte der Einwanderung in die USA gezeigt werden. 2. Die Bedeutung der Einwanderungsgeschichte für den amerikakundlichen Unterricht Die Lehrpläne aller Bundesländer widmen den USA mindestens einen Halbjahreskurs, und in Bezug auf die inhaltliche Füllung gibt es dabei zurzeit drei Gruppen. Einige Länder überlassen die Auswahl der Themen und Texte den Lehrenden; andere erklären bestimmte Themen als obligatorisch, beschränken sich aber darauf, einige für diese Themen geeignete Texte vorzuschlagen; wieder andere gehen einen entscheidenden Schritt weiter und bestimmen individuelle Texte zu Pflichtlektüren. Die sich laufend verändernde Lage ist unübersichtlich, aber das Thema ‚Einwanderung‘ spielt fast überall eine wichtige Rolle, und sei es nur dadurch, dass Die amerikanische Einwanderungsgeschichte anhand von Karikaturen 241 etwa T.C. Boyles von illegalen mexikanischen Immigranten erzählender Roman The Tortilla Curtain (1995) zur Pflichtlektüre erklärt wird. Das ist auch überzeugend begründbar, denn erstens sind die USA als das prototypische Einwanderungsland ohne Befassung mit der Immigrationsproblematik schwerlich verstehbar, und zweitens leben deutsche EU-Lerner in einem Land, in dem die Zuwanderungsfrage immer größere Bedeutung gewinnt. Folglich müssen Aspekte der amerikanischen Einwanderungsgeschichte sowohl aus gegenstandsbezogener als auch, wegen ihres hohen Transferwerts für die Lebenswirklichkeit deutscher Schülerinnen und Schüler, aus lernerbezogener Sicht thematisiert werden. Nun kann man in diese Thematik einsteigen, indem man geeignete Aspekte vom Chinese Exclusion Act (1882) als dem ersten - und unverstellt rassistischen - U.S.-Einwanderungsgesetz bis zum Day Without Immigrants (1. Mai 2006) als der bislang letzten Massendemonstration gegen neue Einwanderungsgesetze auswählt, aber es ist zweifellos sinnvoller, in einer awareness oder pre-reading phase die prinzipiell möglichen Haltungen zur Einwanderung zu erkunden und zu einem Bezugsrahmen für alle folgenden Erörterungen zu systematisieren. Dabei ergeben sich drei grundsätzliche Positionen: 1. Jeder Einwanderer ist willkommen und darf sich im Gastland entsprechend seiner mitgebrachten Kultur einrichten (für Deutschland etwa der gescheiterte grüne Traum des ‚multi-kulti Basars‘). 2. Kein Einwanderer ist willkommen, denn jeder Fremde gefährdet die heimische Kultur (für Deutschland etwa die Rechtsaußen-Position von ‚Deutschland den Deutschen‘ oder ‚Das Boot ist voll‘). 3. Nur die Einwanderer sind willkommen, die von der aufnehmenden Gesellschaft nach deren Bedürfnissen ausgewählt werden, sich an diese anzupassen bereit sind und dort benötigte Qualifikationen besitzen (für Deutschland etwa die Probleme des verpflichtenden Deutschlernens, der Übernahme [leit]kultureller Werte oder der Einwerbung erwünschter Berufsgruppen). Peter Freese 242 3. Die Erarbeitung der U.S.-amerikanischen Einwanderungsgeschichte anhand von Bildern Diese Grundpositionen mit ihren diversen Zwischenstufen, welche die Lernenden zunächst natürlich nur im Blick auf die eigene Lebenswirklichkeit, also deutsche Verhältnisse, bestimmen können, sind unschwer als Ergebnisse grundlegender menschlicher Bedürfnisse und Ängste und damit als allgegenwärtig erkennbar. Insofern verwundert es nicht, dass sich das gesamte Spektrum von Fremdenliebe zu Fremdenhass auch in der Einwanderungsgeschichte der USA niedergeschlagen hat, und dieses Spektrum lässt sich deshalb am deutlichsten anhand einschlägiger Karikaturen erarbeiten, weil diese ja aus Prinzip übertreiben und folglich die jeweilige Position besonders deutlich artikulieren. Abb. 1: Joseph Keppler: Welcome to All! (1880) 1867 emigrierte der Wiener Zeichner Joseph Keppler in die USA und gründete dort das Magazin Puck, das, nachdem es nicht länger auf Deutsch, sondern auf Englisch erschien, bald wegen seiner detailliert ausgearbeiteten satirischen Karikaturen berühmt wurde. Als in den 1880ern Die amerikanische Einwanderungsgeschichte anhand von Karikaturen 243 die Einwanderungswelle dramatisch anwuchs, publizierte Keppler am 28. April 1880 in Puck seine Karikatur Welcome to All! (Abb. 1). Sie zeigt die USA als eine „Ark of Refuge“, eine Rettung versprechende Arche, mit Uncle Sam als einem zweiten Noah und lässt die Schlange hoffnungsfroher Einwanderer nach biblischem Vorbild paarweise das Boot betreten. Amerika wird also als von Gott dazu auserwählt gezeigt, die Menschheit vor den dunklen Wolken europäischer Kriege zu retten, und ein großes Plakat listet die entscheidenden Unterschiede zwischen der Alten und der Neuen Welt auf: „no oppressive taxes“ - keine drückenden Steuern; „no expensive kings“ - keine kostspieligen Könige; „no compulsory military service“ - keine Wehrpflicht; „no knouts or dungeons“ - keine Knuten oder Verliese. Während diese Slogans verkünden, was den Einwanderern in der Neuen Welt erspart bleiben wird, zeigt ein kleineres Plakat, was sie erwartet: „free education“ - kostenfreie Beschulung, wie sie Horace Mann schon 1827 in Massachusetts einführte; „free land“ - kostenloses Ackerland, wie es der Homestead Act von 1862 verfügbar machte; „free speech“ - freie Meinungsäußerung, wie sie das First Amendment garantiert; „free ballot“ - freie Wahlen, wie sie das 15. and 19. Amendment zusichern. Aber dann folgt Kepplers ironischer Zusatz „free lunch“, und damit wird deutlich, dass es nichts umsonst gibt, denn der idiomatische englische Ausdruck „there is no free lunch“ bedeutet ja ‚es gibt nichts umsonst‘. Diese detailliert ausgearbeitete Karikatur bietet eine genaue visuelle Entsprechung der berühmten Schlusszeilen aus Emma Lazarus’ nahezu zeitgleichem Sonett „The New Colossus“ (1883): Give me your tired, your poor, Your huddled masses yearning to breathe free, The wretched refuse of your teeming shore. Send these, the homeless, tempest-tost to me. I lift my lamp beside the golden door. (Freese 2007: 8) Der visuelle und der verbale Text illustrieren gleichermaßen die Position der Unconditional Assimilation, der zufolge alle Einwanderer, unabhängig von ihrer Rasse, Religion und Sprache, dazu eingeladen werden, an Thomas Jeffersons großem Experiment teilzunehmen und mit Gottes Hilfe ein neues und besseres Leben im ‚Neuen Kanaan‘ Amerikas zu beginnen. Dass allerdings Indianer und Schwarze in der Schlange der Einwanderer fehlen, zeigt bereits das zentrale Defizit, an dem die amerikanische Utopie bis heute leidet. Peter Freese 244 Abb. 2: Joseph Keppler: Looking Backward (1893) 1893, nur dreizehn Jahre nach Welcome to All! , hatte sich die Lage grundlegend verändert, denn der Strom der Einwanderer war stetig angeschwollen, und die Einwohner des Landes, das Tom Paine (1925: II, 127) noch als „the asylum for the persecuted lovers of civil and religious liberty from every part of Europe“ gepriesen hatte, begannen zu fürchten, Amerika könne ein „dumping ground“, ein Abladeplatz für europäischen Abfall werden. Aus diesem Stimmungsumschwung entwickelte sich die Position der „Americanization“, d.h. die Überzeugung, dass nur noch jene Einwanderer eingelassen werden sollten, welche die in Amerika geltenden Werte und Gebräuche zu übernehmen bereit waren. Keppler verbildlichte diesen Wandel, indem er am 11. Januar 1893 in Puck eine Karikatur veröffentlichte (Abb. 2), welche einen hoffnungsvollen Neuankömmling mit fünf wohlgenährten und elegant gekleideten ‚Amerikanern‘ konfrontiert, die ihn nicht an Land gehen lassen, weil sie keine weiteren Einwanderer wollen. Doch ihre Schatten verraten, dass sie selbst einmal arme Einwanderer waren, und zeigen, wie sie bei ihrer Ankunft aussahen. Mithilfe der verbreiteten ikonographischen Kürzel seiner Zeit identifiziert Keppler sie von links nach rechts als einen Engländer mit der Bürste eines Stallburschen, einen jüdischen Hausierer Die amerikanische Einwanderungsgeschichte anhand von Karikaturen 245 mit seinem Bauchladen, einen irischen Feldarbeiter, einen deutschen Michel mit seiner Zipfelmütze, und einen Skandinavier mit der Fellmütze und dem Rucksack eines Jägers. Diese Karikatur vermittelt die gleiche Botschaft wie Thomas Bailey Aldrichs im selben Jahr erschienenes Gedicht „Unguarded Gates“ (1893), in dem Emma Lazarus’ gastfreundliche „Mother of Exiles“ zu einer „white Goddess“ mutiert und skeptisch gefragt wird: O Liberty, white Goddess! Is it well To leave the gates unguarded? On thy breast Fold Sorrow’s children, soothe the hurts of fate, Lift the down-trodden, but with hand of steel Stay those who to thy sacred portals come To waste the gifts of freedom. (Freese 2007: 9) Mit seinem bissigen Bild ruft Keppler in Erinnerung, dass ja alle Amerikaner - mit Ausnahme der indigenen Ureinwohner - Einwanderer sind und dass deshalb die selbstgerechte Zurückweisung neuer Einwanderer durch die alten nicht hinnehmbar ist. Und er vermittelt zugleich die zeitlose Einsicht, dass jene, die es gerade eben geschafft haben, akzeptiert zu werden, stets am heftigsten gegen die Aufnahme weiterer Mitglieder protestieren. Noch fremdenfeindlicher als die „Americanization“ ist die Position des „Anglo-Saxon Racialism“, und niemand vertrat die Pseudowissenschaft von der biologischen Überlegenheit der angelsächsischen Herrenrasse aggressiver als der amerikanische Anwalt und Hobby-Eugeniker Madison Grant in seinem Buch The Passing of the Great Race (1916). Matt Morgans Karikatur (Abb. 3), die am 8. September 1882 in Frank Leslie’s Illustrated Newspaper erschien, nimmt Grants Vorhersage eines genetischen Niedergangs als Ergebnis der aus ungebremster Einwanderung entstehenden Rassenmischung (miscegenation) eindrucksvoll vorweg. Über der Unterschrift „Unrestricted Immigration and Its Results - A Possible Curiosity of the Twentieth Century: The Last Yankee“ sieht man einen großen und schlanken Yankee als letztes und imposantes Exemplar seiner aussterbenden Rasse. Er ist umgeben von den Vertretern verschiedener Einwanderergruppen, deren verkrüppelte Gestalten und demente Gesichter ihr minderwertiges Erbgut illustrieren. Im Hintergrund betrachten ein bezipfelmützter deutscher Michel aus dem Fenster über „Boomelheimer’s Delicatessen“ und eine französische Marianne aus dem Fenster über „Jean Boucois’ Americaine Bakery“ interessiert das Getümmel. Ein Ladenschild, Peter Freese 246 das „Yan-kee - Amelican Laundry“ anpreist, beschwört ein drittes ethnisches Stereotyp, nämlich den chinesischen Wäschereibesitzer, der kein ‚r‘ aussprechen kann und deshalb vergeblich von Yan-kee zum Yankee zu werden versucht. Abb. 3: Matt Morgan: Unrestricted Immigration and Its Results (1882) Zur gleichen Zeit, da Madison Grant den drohenden Untergang der angelsächsischen Herrenrasse beklagte, entwickelte Horace Kallen das Konzept des „Cultural Pluralism“. Er lehnte das melting pot-Konzept nicht nur als unpraktikabel, sondern auch als unerwünscht ab, plädierte für ethnische Koexistenz und sah die USA als ein Orchester, in dem jede Ethnie ihr eigenes Instrument spielt, aber alle Klänge sich zu einer großen amerikanischen Symphonie fügen. Eine solche Symphonie komponierte schon David Quixano in Israel Zangwills ungemein einflussreichem Theaterstück The Melting Pot (1908), um seinem anders akzentuierten Traum von „God’s Crucible, this great new continent that could melt up all race-differences Die amerikanische Einwanderungsgeschichte anhand von Karikaturen 247 and vendettas, that could purge and re-create” (Freese 2006: 84) künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Damit Kallens Vision zumindest zeitweilig Realität werden konnte, bedurfte es allerdings eines dramatischen historischen Ereignisses. Im April 1917 traten die USA in den Krieg gegen Deutschland ein, und die deutschen ‚Hunnen‘ als gemeinsamer Feind machten die internen ethnischen Reibungen vorübergehend vergessen. Dies wird an einem Regierungsplakat (Abb. 4) deutlich, das Howard Chandler Christy 1917 für das erste Kriegsanleiheprogramm Liberty Loan entwarf und dessen Slogan „Americans All! “ die Gemeinsamkeiten und den Zusammenhalt aller Amerikaner beschwört. Die „honor roll“ umschließt deshalb alle ethnischen Gruppen von Pappandrikopolous, dem Griechen, bis zu Gonzales, dem Spanier, und von Knutson, dem Schweden, bis zu Kowalski, dem Polen. Abb. 4: Howard Chandler Christy: World War I Liberty Loan Poster (1917) Peter Freese 248 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Position des kulturellen Pluralismus durch ein wachsendes Interesse an den Errungenschaften von Minderheiten ebenso gestärkt wie durch neue Einsichten der Einwanderungsforschung, und diese Entwicklung vollzog sich vor dem Hintergrund dessen, was amerikanische Soldaten in Übersee gelernt hatten. Schon 1938 hatte Marcus Lee Hansen (1952: 495) sein berühmtes Gesetz formuliert: „What the son wants to forget the grandson wishes to remember.“ Und 1951 eröffnete Oscar Handlin (1953: 3) seine einflussreiche Studie The Uprooted mit dem dann sprichwörtlich gewordenen Satz: „Once I thought to write a history of the immigrants in America. Then I discovered that the immigrants were American history.“ Die neue Vorstellung von Amerika als einer politischen Einheit mit kultureller Vielfalt wurde nun „multiethnicity“ genannt, und Michael Novaks programmatisches Buch The Rise of the Unmeltable Ethnics (1972) wurde zu einem ihrer Manifeste. Fortan verbargen die Nicht-WASPs nicht länger schamhaft ihre Herkunft, sondern bekannten sich stolz zu ihr, und das zeigt ein Werbeplakat der Pan Am- Fluggesellschaft aus dem Jahre 1977 (vgl Abb. 5) auf höchst eindrucksvolle Weise. Abb. 5: Eine Pan Am Anzeige (1977) Die amerikanische Einwanderungsgeschichte anhand von Karikaturen 249 Das Plakat verkündet kategorisch: „All of us come from someplace else“ und zeigt eine alte italienische Dorfstraße mit dem Hinweis „Just once, you should walk down the same street your great-grandfather walked.“ Dann führt der Text aus: Picture this if you will. A man who’s spent all his life in the United States gets on a plane, crosses a great ocean, lands. He walks the same streets his family walked centuries ago. He sees his name, which is rare in America, filling three pages in a phone book. He speaks haltingly the language he wishes he had learned better as a child. As America’s airline to the world, Pan Am does a lot of things. [...] But nothing we do seems to have as much meaning as when we help somebody discover the second heritage that every American has. 4. Das Spektrum der wichtigsten Positionen Die fünf kurz vorgestellten ‚Bilder‘ illustrieren - deutlicher als das viele längere Texte zu tun imstande wären - die wichtigsten Positionen, welche die ‚einen‘ im Verlauf der amerikanischen Einwanderungsgeschichte gegenüber den ‚anderen‘ eingenommen haben und welche sich, stark vereinfacht aber didaktisch verantwortbar, wie folgt bestimmen lassen: 1. „Unconditional Assimilation“: Alle sind eingeladen, in den magischen amerikanischen melting pot einzutauchen, aus dem eine neue und bessere Rasse hervorgeht. Die Formel lautet: a+b+c d. 2. „Americanization“: Nur jenen wird der Zutritt gestattet, die bereit und imstande sind, die Werte und Sitten derer zu übernehmen, die schon da sind. Die Formel lautet: a+b+c a. 3. „Anglo-Saxon Racialism“: Nicht-Angelsachsen sind biologisch minderwertig und müssen deshalb draußen bleiben. Die Formel lautet: a = a, denn a darf nicht durch b und c verwässert werden. 4. „Cultural Pluralism“, später „Multi-Ethnicity“ und dann „Multiculturalism“: Alle Ethnien haben die gleichen Rechte. Kulturelle Angleichung ist keine Voraussetzung für politische Einheit, sondern kulturelle Vielfalt gilt im Gegenteil als ein erstrebenswerter Gewinn. Die Formel lautet: a+b+c a+b+c. Peter Freese 250 5. Die EU-spezifischen Vermittlungsprobleme Es ist zwar sachlich begrüßenswert und unterrichtsökonomisch willkommen, dass man mit nur drei Karikaturen und zwei Werbeplakaten das gesamte Spektrum der Grundpositionen zur Einwanderungsproblematik verbildlichen kann, aber für den einsprachigen EU ergeben sich dabei sprachliche Vermittlungsprobleme, welche die Verfechter des pictorial turn leider häufig übersehen: Das genrespezifische Besprechungsvokabular für eine Erörterung von Karikaturen, das im Sinne der Erzeugung von media literacy ebenso eingeführt werden sollte wie etwa die Kategorien für den Umgang mit Erzähltexten, ist zwar mittlerweile leicht verfügbar, 2 aber das eigentliche Problem liegt woanders, denn wie die entsprechenden sprachlichen Texte sind auch die angeführten Bilder topischer Natur und nehmen Bezug auf konkrete historische Situationen, die man kennen muss, um ihre Botschaft angemessen zu verstehen. Dabei kann der Grad des erforderlichen Vorwissens höchst unterschiedlich sein, aber in den meisten Fällen muss der (kultur)geschichtliche Zusammenhang vorab eingeführt werden, und das ergibt in einem in der Zielsprache zu führenden Unterricht Probleme, die nicht immer leicht zu lösen sind. Als erschwerend für das Unterrichtsgeschehen erweist sich dabei die Tatsache, dass Bilder im Gegensatz zu sprachlichen Texten das erforderliche Besprechungsvokabular nicht mitliefern. Können die Lernenden, wenn sie sich zu einem sprachlichen Text äußern sollen, das Vokabular eben dieses Textes umwälzen und in neuen Zusammenhängen verwenden, so bieten Bilder ein solches Vokabular eben nicht an. Im muttersprachlichen Unterricht ist es natürlich kein Problem, bei der Erörterung der Botschaft der ersten Karikatur solche Feststellungen zu treffen wie: „Der Zar schwenkt drohend eine neunschwänzige Katze, und Uncle Sam steht einladend wie ein zweiter Noah neben seiner Arche“ oder zum dritten Bild zu sagen „Der große und schlanke Uncle Sam ist von einer Menge verkrüppelter und offensichtlich dementer Einwanderer umringt“. Aber in der Zielsprache können die Lernenden solche Sachverhalte zumeist eben nicht angemessen versprachlichen, weil ihnen die entsprechenden Vokabeln fehlen. 2 So bietet die umfangreiche Website http: / / www.weberberg.de/ skool/ cartoons. html neben einem von The National Archives Digital Classroom entwickelten „Cartoon Analysis Worksheet“ und einem „Useful Standard Handout“ des Verlags Holt, Rinehart & Winston diverse andere hilfreichen Materialien an. Die amerikanische Einwanderungsgeschichte anhand von Karikaturen 251 Beide Probleme - die Notwendigkeit kulturgeschichtlicher Kontextualisierung und die Bereitstellung eines angemessenen Besprechungsvokabulars - sind von Bild zu Bild verschieden gewichtig, und eine ideale Möglichkeit, diese Schwierigkeiten zu meistern, besteht zweifellos in der Koppelung sprachlicher und bildlicher Texte. So habe ich etwa in meinem Viewfinder-Topic From Melting Pot to Multiculturalism (Freese 2007: 8f.) die beiden Keppler-Karikaturen mit den entsprechenden Gedichten von Emma Lazarus und Thomas Bailey Aldrich zu einer Minisequenz kombiniert. Auf diese Weise kann die jeweilige Botschaft entweder zuerst dem Gedicht entnommen und dann von den Lernenden eigenständig im komplementären cartoon wiedergefunden werden, oder umgekehrt, und es können die Extreme der voraussetzungslosen Einwanderung aller, die kommen möchten, auf der einen und der Ablehnung von Einwanderern bzw. ihrer beschränkten und an weit reichende Bedingungen geknüpften Zulassung auf der anderen Seite mit vergleichsweise geringem Lernaufwand als Bezugshorizont für alle folgenden Erörterungen erarbeitet werden. 6. Zusammenfassung Unter der doppelten Voraussetzung, dass die bislang zu Unrecht vernachlässigten populärkulturellen Bildmaterialien sorgfältig kontextualisiert werden und dass das erforderliche, aber von diesen Bildern selbst eben nicht bereitgestellte Besprechungsvokabular vorbereitend erarbeitet wird, erweisen sich Karikaturen und Werbeanzeigen als exzellente Mittel zur Veranschaulichung zentraler kulturgeschichtlicher Zusammenhänge und können das traditionelle Spektrum der bislang im EU eingesetzten verbalen Texte um höchst reizvolle Aspekte erweitern. So erweist es sich als möglich, mithilfe von nur fünf ‚Bildern‘ das gesamte Spektrum der möglichen Einstellungen gegenüber Immigranten zu erstellen und damit einen wichtigen Bezugsrahmen für eine unterrichtliche Erörterung der amerikanischen Einwanderungsgeschichte im fortgeschrittenen EU zu schaffen. Peter Freese 252 Quellen Sekundärtexte Bachmann-Medick, Doris (2006). Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt. Freese, Peter (1994 [1990]). America: Dream or Nightmare? Reflections on a Composite Image. 3. überarb. u. erweit. Aufl. Essen: Die Blaue Eule. Freese, Peter (1999). „Between Assimilation and Nativism: Popular Expressions of the Changing Concepts of American Identity.“ In: Hagenbüchle, Roland & Raab, Josef (Hrsg.). Negotiations of America’s National Identity. Tübingen: Stauffenburg. Bd. II, 248-271. (wieder abgedruckt in Freese, Peter (2002). Teaching ‘America’: Selected Essays. München: Langenscheidt-Longman, 51-77.) Freese, Peter (Hrsg.) (2006 [1997]). Israel Zangwill, „The Melting Pot.“ 2. überarb. Aufl. München: Langenscheidt. Freese, Peter (Hrsg.) (2007 [1994]). From Melting Pot to Multiculturalism: ‘E pluribus unum’? Viewfinder Topics New Edition. 3. überarb. Aufl. München: Langenscheidt. Handlin, Oscar (1953). The Uprooted: From the Old World to the New. London: Watts and Co. Hansen, Marcus Lee (1952). „The Third Generation in America.“ Commentary 14, 492-500. Hebel, Udo J. & Moreth-Hebel, Christine (2003). „The Pictorial Turn and the Teaching of American Cultural Studies: Repositioning the Visual Narrative of Norman Rockwell’s Freedom from Want (1943).” In: Abendroth- Timmer, Dagmar, Viebrock, Britta & Wendt, Michael (Hrsg.). Text, Kontext und Fremdsprachenunterricht: Festschrift für Gerhard Bach zum 60. Geburtstag. Frankfurt: Lang, 187-201. Hebel, Udo J. & Kohl, Martina (Hrsg.) (2005). Visual Culture in the American Studies Classroom: Proceedings of the U.S. Embassy Teacher Academy 2003. Wien: U.S. Department of State. Paine, Thomas (1925). The Life and Works of Thomas Paine, hrsg. von William M. Van der Weyde. New Rochelle, NY: Thomas Paine National Historical Association. Die amerikanische Einwanderungsgeschichte anhand von Karikaturen 253 Abbildungen Abb. 1: Keppler, Josef: „Welcome to All! “ (Puck, 28 April 1880) in Freese, Peter (Hrsg.) (2007 [1994]), 8. Abb. 2: Keppler, Josef: „Looking Backwards“ (Puck, 11 January 1893) in Freese, Peter (Hrsg.) (2007 [1994]), 9. Abb. 3: Morgan, Matt: „Unrestricted Immigration and Its Results - A Possible Curiosity of the Twentieth Century: The Last Yankee“ (Frank Leslie’s Illustrated Newspaper, 8 September 1882) in Freese, Peter (Hrsg.) (2007 [1994]), 27. Abb. 4: „Americans All! “ World War I Victory Liberty Loan Poster 1917 in Freese, Peter (Hrsg.) (2007 [1994]), 21. Abb. 5: „All of us come from some place else“ (Pan Am advertisement 1977) in Freese, Peter (1994 [1990]), 235. 254 J AN -A RNE S OHNS Kunst, Kommerz und kollektive Identität: Amerikanische Landschaftsmalerei im englischsprachigen Kulturunterricht Am 7. Mai 1867 berichtet ein Reporter der New York Post über die Ausstellung eines einzelnen Bildes im Exhibition Room des New Yorker Tenth Street Studio Building. Die Präsentation setzte offensichtlich ganz auf Theatralik: The light is most carefully excluded from that part of the room occupied by spectators, both by day and night. The walls about the end of the room where the picture is [displayed] are carefully and gracefully draped by dark stuff, which absorbs most of the light that does not fall directly on the picture. (zit. nach Avery 1986: 55) Beleuchtet wurde das Gemälde bei Tage durch das Oberlicht des Deckenfensters, am Abend durch Gaslampen. Durch die schweren Stoffbahnen sollte gewährleistet werden, dass nur das Bild selbst Licht abbekam. Der Zuschauerraum blieb fast vollständig verdunkelt. Eine solch aufwendige Inszenierung eines einzelnen Gemäldes war, so klärt der Kritiker der New York Post auf, keine Besonderheit dieser speziellen Ausstellung, sondern vielmehr eine zunehmend gängige Praxis, wann immer einzelne Bilder ausgestellt wurden (vgl. ebd.). Ganz offensichtlich war die Ausstellung sehr erfolgreich: Die New York Post bringt ihren Bericht auf der Titelseite, der Ausstellungsraum war, so die Zeitung, bei Tag und Nacht gut besucht (vgl. ebd.). Überraschend kam das freilich nicht, handelte es sich doch um die erste Präsentation der Domes of the Yosemite (vgl. Abb. 1), einer kapitalen neuen Arbeit des populären Landschaftsmalers Albert Bierstadt (1830-1902). Der Schauwert des Bildes und seiner Inszenierung war enorm: Bierstadts Gemälde ist fast drei Meter hoch und knapp 4,60 Meter breit. Amerikanische Landschaftsmalerei im Kulturunterricht 255 Für die Besucher wurden eigens zwei Balkone in dem nur neun mal zwölf Meter großen Ausstellungsraum errichtet, um den Blick talabwärts noch glaubwürdiger zu machen (vgl. ebd.: 70, Anm. 31). Die kunstvolle Verhüllung der Lichtquellen sorgte zudem dafür, dass das farbkräftige Bild aus sich selbst heraus zu leuchten schien. Der gischtige Wasserfall, die schroffen Felswände, das idyllische Flusstal, der sich ins Weiße verklärende Horizont und die bedrohlichen Gewitterwolken entfalteten in dieser Präsentation offensichtlich eine überwältigende Wirkung. Doch welchen Stellenwert können solche Gemälde und solche, heute marginal anmutenden, Ereignisse im englischsprachigen Kulturunterricht erlangen? Abb. 1: Albert Bierstadt: The Domes of the Yosemite (1867) 1. Kulturdidaktische Vorüberlegungen Die neuen Bildungspläne haben vielerorts einen Wandel in der Zielsetzung des Landeskundeunterrichts berücksichtigt und curricular festgeschrieben (vgl. Raddatz 1996). War etwa in älteren Lehrplänen noch von ‚Landeskunde‘ die Rede, so ist der Begriff in den neueren Bildungsstandards für das Gymnasium durch den Begriff der ‚kulturellen Kompetenz‘ abgelöst. Diese umfasst soziokulturelles Wissen sowie interkulturelle Kompetenz (vgl. Ministerium 2004: 124f.). Nach wie vor geht es um Sachkenntnisse, z.B. von „zentrale[n] Elemente[n] des nationalen Selbstverständnisses Jan-Arne Sohns 256 Großbritanniens und der USA“ (Ministerium 2004: 124), doch wird auch nicht länger ausschließlich die Vermittlung von Faktenwissen angestrebt; speziell die Institutionenkunde tritt gegenüber einem interkulturellen Ansatz ausdrücklich in den Hintergrund. Es geht für die Schülerinnen und Schüler nun verstärkt darum, „Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Wertesystemen [zu] erkennen“ (ebd.: 125.), letztlich mit dem Ziel „ihr eigenes kulturspezifisches Wertesystem im Vergleich mit anderen [zu] relativieren“ (ebd.). Die Kulturen der Zielsprache werden, dem cultural turn der Geisteswissenschaften Rechnung tragend, nicht länger als homogene Einheiten verstanden, die kodifizierten Regelwerken oder ungebrochenen Traditionen gehorchen. Vielmehr steht ihre Vielgestaltigkeit im Vordergrund, die sich nicht zuletzt in der Vielfalt alltäglicher Kulturpraktiken äußert. Es ist dieser Alltagsbezug, der auch eine Vergleichbarkeit unterschiedlicher Kulturen ermöglicht. Die eigene Kultur der Schülerinnen und Schüler wird im interkulturellen Fremdsprachenunterricht anhand der fremden Kultur in ihrer traditionellen, historischen, geografischen Bedingtheit bewusst (vgl. Krumm 1995). Wenn also in der gymnasialen Kursstufe zentrale Bestandteile des US-amerikanischen Selbstverständnisses zur Behandlung anstehen, so kann es nicht (mehr) nur darum gehen, Manifest Destiny 1 , American Dream und frontier spirit 2 in einem faktengesättigten, allenfalls literarisch aufgehübschten Landeskundeunterricht zu präsentieren. Ziel sollte es vielmehr sein, anhand exemplarischer kultureller Äußerungen auch die Herausbildungsweise einer kollektiven nationalen Identität begreiflich zu machen, einschließlich der Rolle ausgewählter diskursiver Felder. Dieses Wissen beinhaltet nicht nur die zentralen landeskundlichen Wissensaspekte, sondern es ermöglicht darüber hinaus den Transfer auf andere identitätsbildende Interventionen in der eigenen wie in der fremden Kultur. Wohlgemerkt rücken hier nicht nur die Differenzen zwischen Kulturen ins Blickfeld, sondern auch mögliche Gemeinsamkeiten. Ein diskurs- 1 Als ‚Manifest Destiny‘ (‚offensichtliches Schicksal‘) begriffen viele amerikanische Siedler die Expansion nach Westen und die ‚Zivilisierung‘ von Land und Bevölkerung: Gott selbst habe sie dazu ausersehen, was sich in der „grandeur“, der erhabenen Großartigkeit des Landes, beweise. 2 Der Begriff des ‚frontier spirit‘ erfasst jenes Eigenschaftsbündel, das für die erfolgreiche Besiedlung des unwirtlichen, zunächst fast gesetzlosen Westens unerlässlich war, also zum Beispiel Unternehmergeist, Individualismus, Optimismus und das Vertrauen auf das Recht des Stärkeren. Amerikanische Landschaftsmalerei im Kulturunterricht 257 geschichtlich fundierter Englischunterricht kann so zum Bestandteil eines Kulturunterrichts werden, der von vornherein interkulturell (oder genauer: transkulturell) angelegt ist, da er durch die einzelnen diskursiven Äußerungen hindurch auf Mechanismen und Zusammenhänge zielt, die sich in ganz unterschiedlichen Kulturen beobachten lassen. Die (kulturtheoretischen, didaktischen, methodischen) Grundlagen für einen solchen Kulturunterricht liegen durchaus vor - etwa in der Diskurstheorie Michel Foucaults und dem New Historicism von Stephen Greenblatt, in den kulturdidaktischen Arbeit von Hallet (2002) und Nünning/ Surkamp (2006) oder der kooperativen Methodik von Green/ Green (2005). Diese Grundlagen gilt es aber erst noch zu einer umfassenden Konzeption eines interdisziplinären Kulturunterrichts zusammenzuführen (erste Versuche und Überlegungen hierzu finden sich in Sohns/ Utikal 2009). Gewiss handelt es sich dabei um ein ambitioniertes Vorhaben, das jedoch, sofern anschauliche Materialien vorliegen, durchaus gelingen kann. Als ein Beispiel wird im Folgenden eine Unterrichtssequenz zur amerikanischen Landschaftsmalerei in der Kursstufe ausgewertet und dabei der Frage nachgegangen, welches Potential diese Bilder für einen kulturdidaktisch ausgerichteten Englischunterricht aufweisen. Einige allgemeine Folgerungen schließen sich an. Zunächst jedoch ist der Zusammenhang der amerikanischen Landschaftsmalerei mit jenen amerikanischen Mythen und Ideologemen darzulegen, die auch im interkulturellen Landeskundeunterricht eine zentrale Rolle spielen. 2. Kunst, Kommerz, kollektive Identität „[A]ll nature here is new to art“, hält der Landschaftsmaler Thomas Cole im Jahre 1836 in seinem „Essay on American Scenery“ begeistert fest (Cole 1965: 98). Cole war einer der Wegbereiter einer Kunstform, in der sich Entdeckerlust und Sendungsbewusstsein, authentisches Naturerlebnis und kalkulierte Inszenierung der Natur, aufklärerischer Impetus und kommerzielle Interessen untrennbar verschränken. Die farbenfrohen, oft großformatigen Arbeiten von Malern wie Cole selbst, Frederic E. Church (1826-1900), Albert Bierstadt (1830-1902) und Thomas Moran (1837- 1926) führten dem interessierten Publikum an der Ostküste, aber auch in Europa, den neuen Kontinent erstmals vor Augen. Als „Great Picture“ gegen eine Gebühr von etwa 25 Cent einzeln ausgestellt, zogen monumentale Jan-Arne Sohns 258 Formate wie eben Bierstadts Domes of the Yosemite durch die industrialisierten Metropolen und präsentierten die frontier und den Westen als verheißungsvoll unberührten Paradiesgarten, den sie der Industrialisierung und den politischen Wirren in Europa programmatisch gegenüberstellten. „We are still in Eden“ (1965: 102), schwärmt denn auch Thomas Cole: [T]hose scenes of solitude from which the hand of nature has never been lifted, affect the mind with a more deep toned emotion than aught which the hand of man has touched. Amid them the consequent associations are of God the creator - they are his undefiled works, and the mind is cast into the contemplation of eternal things. (ebd: 109) Auch Coles Malerkollege Asher B. Durand erkennt in seinen „Letters on Landscape Painting“ die Handschrift Gottes in der urtümlichen Landschaft und erklärt ganz konsequent die Betrachtung und künstlerische Wiedergabe der Landschaft zur moralischen Erbauungstat: It is impossible to contemplate with right-minded, reverent feeling, its [nature’s] inexpressible beauty and grandeur [...] without arriving at the conviction That all which we behold Is full of blessings that the Great Designer of these glorious pictures has placed them before us as types of the Divine attributes, and we insensibly, as it were, in our daily contemplations, To the beautiful order of his works Learn to conform the order of our lives. (Durand 1965: 112) Unverkennbar vermischt sich hier romantisch-reaktionärer Eskapismus mit einer frühen, dezidiert zivilisationsfeindlichen Ökologiebewegung. Zwar verstehen Maler wie Cole und die Hudson River School den Zivilisationsprozess als unaufhaltsam. Immer wieder aber ist der Blick in die Zukunft durchaus auch hoffnungsvoll: „Without any great stretch of the imagination”, so schreibt Cole über den Hudson River, “we may anticipate the time when the ample waters shall reflect temple, and tower, and dome, in every variety of picturesqueness and magnificence.“ (Cole 1965: 106) Selbst unter dem zivilisationskritischen Blick Coles formiert sich die Landschaft so zum Sinnbild des Manifest Destiny: „And in looking over the yet Amerikanische Landschaftsmalerei im Kulturunterricht 259 uncultivated scene, the mind’s eye may see far into futurity. Where the wolf roams, the plough shall glisten; on the gray crag shall rise temple and tower - mighty deeds shall be done in the now pathless wilderness” (ebd.: 109). Solche Äußerungen zeigen, wie Cole sein Gemälde The Oxbow (1836; vgl. Abb. 2) verstanden wissen will: Das Nebeneinander von noch unberührter Natur und von Osten (rechts) her vorrückender Kulturlandschaft ist nur eine Momentaufnahme in einem Zivilisationsprozess, der durch die Handschrift Gottes im Urzustand, den er verändert, nur weiter überhöht und damit im Gemälde als Verheißung begriffen wird. Cole bewegt sich hier also, trotz seiner Skepsis gegenüber der Zivilisation, ganz nah an einer Auffassung des Manifest Destiny, wie sie John Louis O’Sullivan 1845 kundtat, also neun Jahre nach Coles Aufsatz: „[The American claim to the western part of the continent] is by right of our manifest destiny to [...] possess the whole continent which Providence has given us for the development of the great experiment of liberty and [...] self-government entrusted to us.“ (zit. nach Hodge 2007: 454) Abb. 2: Thomas Cole: The Oxbow (1836) Ästhetische Theorie, Bildproduktion und nationale Identitätsbildung gehen hier Hand in Hand, Theorie und Bildsprache helfen dabei, jenes nationalreligiöse Programm zu entwerfen, das bis heute zumindest das offiziell zur Schau gestellte Selbstverständnis der USA entscheidend prägt. Jan-Arne Sohns 260 Und dies trifft nicht nur auf Cole zu, sondern gilt heute als charakteristisch für die amerikanische Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts überhaupt, wie schon die einschlägigen Ausstellungstitel American Sublime und American Paradise andeuten (vgl. Wilton/ Barringer 2002 und Howat 1987). - Am Ende jener Epoche grundlegender Identitätsbildung kann dann das Magazine of Art 1882 resümieren: Never before has there been a nobler opportunity afforded the artist to aid in the growth of his native land, and to feel that [...] he was at the same time a teacher and a co-worker with the pioneer, the man of science, and the soldier, who cleared [and] surveyed [...] this mighty continent and brought it under the mild sway of civilization. (Benjamin 1882: 89) Die Landschaftsmaler erscheinen in ihrem eigenen Selbstverständnis und in der öffentlichen Wahrnehmung als Lehrer und Pioniere, als Wissenschaftler und Soldaten, jedenfalls als Wegbereiter einer Zivilisation im Einklang mit jener ursprünglichen Landschaft, die sie in ihren Gemälden festhalten. Die Künstler, die häufig, wie etwa Bierstadt oder Cole, in Europa geboren waren, werden so zu Schlüsselfiguren des nation building und zu den Erfindern einer ersten genuin amerikanischen Kunst erklärt - und damit auch für einen Englischunterricht interessant, der die Herausbildung des amerikanischen Selbstverständnisses exemplarisch nachvollziehen möchte. 3. Methodische Umsetzung: Selling the Dream Zunächst sollten der historische Zusammenhang sowie zentrale Begriffe wie Manifest Destiny, American Dream und frontier spirit eingeführt werden, damit sie den Schülerinnen und Schülern beim selbstständigen Arbeiten zur Verfügung stehen. Das bereits erwähnte „Oxbow“-Gemälde von Thomas Cole kann dabei auf zweierlei Arten eingesetzt werden, die sich beide in der Praxis bewährt haben: So können zum einen die zugrunde liegenden Vorstellungen aus dem Bild heraus entwickelt werden. Hierfür ist freilich Voraussetzung, dass die Lernenden mit den Kriterien der Bildanalyse vertraut sind; die eingangs genannten Begriffe muss die Lehrkraft einfließen lassen. Zum anderen kann man das Gemälde aber auch - nach einer textbasierten Informationsphase, wie sie alle Schulbücher anbieten - für Amerikanische Landschaftsmalerei im Kulturunterricht 261 eine erste Vertiefung heranziehen, die zugleich den Blick für die ‚Bedeutung‘ der vermeintlich neutral erscheinenden, gemalten Landschaft schärft, malerische Darstellungskonventionen bewusst macht und somit den Boden bereitet für eine Entschlüsselung jener diskursiv erzeugten, oft ästhetisch verklärten, amerikanischen Landschaft, wie sie im kulturellen Gedächtnis der USA am Leben erhalten wird. Infolge der kulturellen Globalisierung sind diese Inhalte heute weithin an die ästhetischen Erfahrungen europäischer Schülerinnen und Schüler (z.B. in Western und Road Movie) anschlussfähig, ihre historischen Ursprünge bleiben jedoch weitgehend unbekannt. Eine bildtheoretische Vorüberlegung soll zunächst die weitere Methodenwahl leiten: Die philosophische Bildtheorie hat gerade in jüngster Zeit daran erinnert, dass die phänomenale, simultan sich ereignende Fülle von Bildern ein stets präsentisches Erscheinen zur Folge hat, das sich niemals ganz rational (und damit: sprachlich, begrifflich) fassen lässt. Gerade die sinnliche Präsenz, die „unfassliche Besonderheit eines sinnlich Gegebenen“, von der Martin Seel (2000: 9) spricht, macht aus Bildern besonders offene Gegenstände, also geeignete Sprechanlässe. Es besteht dabei jedoch die Gefahr, dass die sinnliche Präsenz der Bilder mit Evidenz verwechselt wird. „Was uns da so unmittelbar und unumwunden befällt“, so formuliert Georges Didi-Huberman (2000: 9) den Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum künstlerischen Bild, „hat etwas Verstörendes an sich, aber auch etwas Eindeutiges, das im Dunkeln bleibt“. Im Klassenzimmer klingt das dann häufig so: ‚Das sieht man doch sowieso‘ - und das ist auch nicht ganz falsch, man sieht es ja tatsächlich, was freilich noch längst nicht heißt, dass man es auch sagen kann. Eben deswegen schult man ja die visual literacy. Doch wenn diese Bemühungen den Eindruck erwecken, es sei dem Bild mit Worten tatsächlich beizukommen, so versprechen sie mehr, als sie halten können. Wie also, so ist zu fragen, kann das Verhältnis von Text und Bild in bildtheoretisch stimmiger Weise methodisch aufgegriffen werden? Und wie lassen sich dabei die oben dargelegten Erkenntnisgewinne erzielen? Lohnend erscheint angesichts der sprachlichen Unfassbarkeit von Bildern ein Vorgehen, das die Gemälde historisch kontextualisiert, sie sozusagen sprachlich umkreist - und dabei die Lernenden zu einem zielgerichteten Sprachhandeln animiert. Dabei sollen sie die Bilder nicht nur als Sprechanlass nutzen, sondern den Zusammenhang von Bildproduktion und Identitätsbildung erkennen und in einer konkreten Situation nacherleben, Jan-Arne Sohns 262 wie die religiös überhöhte Vorstellung vom amerikanischen Westen, der als göttlich berührter Beleg für die eigene Erwähltheit gedeutet wird, im malerischen Diskurs überhaupt erst produziert wird. Die Rede über die Bilder ist ein wichtiger Teil dieses Diskurses, zu dem auch die Bilder selbst und - in dieser historischen Situation - die Praktiken der kommerziellen Bildvermittlung gehören. - Wird dabei das Bild nicht doch nur erneut als Sprechanlass genutzt? Keineswegs: Insofern nachvollzogen wird, wie die Bilder in einen diskursiven Zusammenhang eingebettet waren, machen sich die Lernenden handelnd klar, wie Bilder verwendet und (bis heute) identitätsbildend wirksam wurden. Eben dies ist ein wichtiger Bestandteil der visual literacy, also eines Unterrichts mit Bildern, in dem nicht nur durch, sondern auch über Bilder gelernt wird (vgl. Abschnitt 4). An die Stelle des Sprechens über Bilder können dabei andere Texte treten, sozusagen Paralleltexte zum Bild: Texte, die Bilder flankieren und dabei über den diskursiven Stellenwert der Bilder Auskunft geben. Diese flankierenden Texte fügen sich mit den Gemälden und zeitgenössischen Äußerungen zu einem intertextuellen Netzwerk zusammen, in dem die entstehenden Schüler-Intertexte, Wolfgang Hallet (2002: 72) zufolge, „die bedeutendsten Intertexte des Unterrichts“ sind. Hierzu bietet sich ein Planspiel an, das Gemälde wie Thomas Morans Grand Canyon of the Colorado (1892; vgl. Abb. 3) oder eben Bierstadts Domes of the Yosemite in diesem Verwendungszusammenhang platziert und die Schülerinnen und Schüler in die Rolle von Organisatoren einer „Great Picture Show“ versetzt. Dabei agieren die Lernenden nicht, wie im Rollenspiel, innerhalb eines überwiegend subjektiv auszugestaltenden Handlungsrahmens, sondern sie sind in einem Simulationsspiel an die gegebene historische, kulturelle, gesellschaftliche Situation gebunden, welche wiederum zunehmend kontextualisiert und immer dichter beschrieben wird. „Dadurch ist das Rollenverhalten stark formalisiert und dem Rollenträger weitgehend vorgegeben.“ (Massing 2006: 164) So ist sichergestellt, dass sich die Schülerinnen und Schüler in einem authentischen Rahmen bewegen, der teilweise vorab, teilweise auch während des Planspiels, zum Beispiel auf Rollen- und Informationsblättern, aufgespannt werden kann. Dabei geht es, wie eingangs dargelegt, weniger darum, Sachverhalte zu lernen, sondern es werden anhand exemplarisch ausgesuchter Fakten und Situationen abstraktere Problemziele angesteuert - hier etwa, wie das amerikanische Selbstverständnis mit Manifest Destiny und American Dream diskursiv erzeugt wurde und welche Rolle dabei die Landschaftsmalerei spielte. Die Gemälde sind in den situativen Rahmen des Planspiels eingebettet. Um sie argumentierend Amerikanische Landschaftsmalerei im Kulturunterricht 263 fruchtbar zu machen, müssen sie zunächst analysiert, mit anderen Äußerungen des Diskurses zusammengeführt und schließlich in einen ebenso kommerziellen wie identitätsbildenden Rahmen stimmig eingefügt werden. Das Planspiel erscheint damit als geeignete Form, um die komplexe diskursive Vernetzung der Bilder angemessen erfahrbar zu machen. Abb. 3: Thomas Moran: Grand Canyon of the Colorado (1892) Die folgenden Vorschläge und Überlegungen beruhen auf Unterrichtserfahrungen in mehreren zwölften Klassen (vierstündig, d.h. kein Leistungskurs), gehen aber mit weiteren Vorschlägen über die dort gehaltenen Stunden hinaus. Sie berücksichtigen die drei grundlegenden Schauplätze, auf denen Bildbedeutung produziert wird: die Produktion des Bildes, das Bild selbst und schließlich seine Rezeption (vgl. Rose 2001: 16-28). Dabei fällt auf, dass sich aus dem Bemühen um historische Authentizität, dichte Beschreibung, Schülerzentrierung und Handlungsorientierung ein aufgabenorientierter Ansatz ganz folgerichtig ergibt. 3 Eine ganze Reihe sinnvoller activities gehen schlüssig aus dem Szenario des Planspiels hervor, denn die Schülerinnen und Schüler müssen nicht nur dem Gemälde in formaler wie inhaltlicher Analyse gerecht werden, 3 Vgl. für die Merkmale aufgabenorientierten Unterrichts Müller-Hartmann/ Schocker-v. Ditfurth (2005: 25-32); ähnlich Ellis (2003: 2-10). Jan-Arne Sohns 264 sondern vor allem das Kunstwerk mit den Interessen des damaligen Publikums abgleichen und rhetorische Strategien entwickeln, mit denen sie aus dem Gemälde einen Publikumsmagneten machen können. Die Bildanalyse findet hier nicht als isolierte Analyse statt, sondern sie fließt in zielbezogenes Sprachhandeln ein. Im Folgenden werden einige mögliche Aktivitäten vorgestellt, von denen freilich nur eine Auswahl innerhalb einer Unterrichtssequenz durchgeführt werden kann: - Auswahl des auszustellenden Bildes: Die Lernenden erhalten mehrere Landschaftsgemälde zur Auswahl, gegebenenfalls auch kurze Informationstexte zu Maler und Bildmotiv. Sie müssen nun eine Auswahl treffen, von welchem Bild sie sich - als Ausstellungsmacher und Unternehmer - am meisten (Publikum, Einnahmen) versprechen. Die Diskussion mit Entscheidungsdruck gewährleistet einen zielgerichteten Meinungsaustausch und ein angeregtes Gespräch über die Bilder und die Erwartungshaltung bzw. die Fantasieräume des Publikums. - Entwicklung eines Marketing-Konzepts für die Bildausstellung: Die Schülerinnen und Schüler erhalten nun ausführlichere Materialien zum ausgewählten Bild (man könnte auch an eine Internet-Recherche denken) und entwerfen eine Werbekampagne für ihre Ausstellung. Hierbei müssen sie klären: Welche Werbemittel sollen eingesetzt werden? Welche inhaltliche Strategie ist die sinnvollste? Wichtig ist in jedem Fall eine erkennbare Publikumsorientierung. - Umsetzung des entwickelten Konzepts und Herstellung von Werbematerialien: Im nächsten Schritt - eventuell nach spezifischen Recherchen und Vorarbeiten zu Hause - bereiten die Gruppen die Materialien ihrer Kampagne vor. Flyer und Poster werden gestaltet, eventuell auch eine Zeitungsanzeige oder eine Pressemitteilung. Hierbei wird auch eine der zentralen Fragen handelnd zu beantworten sein: Welche Rolle spielt das (einzige! ) Bild in der Werbekampagne, welche das Wort? Die meisten Lernenden halten es aus gutem Grund nicht für sinnvoll, das Gemälde schon vollständig abzubilden, wenn keine weitere Arbeit in der Ausstellung zu sehen ist. Gerne wird daher mit Ausschnitten gearbeitet (hier könnte man fächerübergreifend in Bildbearbeitungsprogramme einführen). Der außergewöhnliche Charakter der „Great Picture Show“ zwingt im Planspiel dazu, das Bild zu umgehen und sprachliche Mittel flankierend (andeutend, beschreibend, zuspitzend, in jedem Fall rhetorisch zielge- Amerikanische Landschaftsmalerei im Kulturunterricht 265 richtet) einzusetzen. Es ist ausgerechnet die strategisch sinnvolle Abwesenheit des Bildes, die seine sprachliche Repräsentation als adressatenbezogene Analyse wichtig werden lässt. - Durchführung einer Pressekonferenz: Auf dieser Pressekonferenz wird das Ausstellungskonzept kurz präsentiert. Anschließend agieren die Ausstellungs-Unternehmer wie auf einem hot seat und werden von den Pressevertretern befragt. Diese wiederum üben sich im notetaking und nutzen ihre Notizen für einen Ankündigungs-Artikel. - Passanten als Publikum gewinnen: Noch am Tag der Eröffnung kämpfen die Ausstellungsmacher um jeden Zuschauer. In kurzen thirty-second-talks versucht jede Gruppe, ‚Passanten‘ als Publikum in ihre Ausstellung zu locken. Dies kann entweder in der Klasse geschehen, indem je ein oder zwei Vertreter jeder Gruppe den Rest der Klasse umwerben. Die Angesprochenen tragen ein Kärtchen bei sich, das sie nach zwei Kontakten (oder nach mehreren, wenn es die Zeit gestattet) einem der Ausrufer aushändigen, um zu zeigen, dass sie sich für den Besuch seiner Ausstellung entscheiden. Es gewinnt die Gruppe mit den meisten Kärtchen. So werden in einer ganz konkreten, historisch authentischen und durch dichte Beschreibung fassbar gemachten Situation das Bildvokabular und der Wortschatz zum Gedankengut des American Dream zielgerichtet umgewälzt. Der Zusammenhang von Malerei und kollektiver Vorstellungsbildung wird dabei sprachproduktiv nachvollzogen und lässt sich in einer anschließenden Reflexions- und Bewusstmachungsphase noch einmal verbalisieren und absichern. - Ausstellungseröffnung: Auch der Eröffnungsabend bietet zahlreiche authentische Sprech- oder Schreibanlässe, z.B. eine Eröffnungsrede (der Ausstellungsmacher, des Künstlers), eine Ausstellungsführung, ein Künstler-Gespräch, Einträge der Besucher ins Gästebuch. - Rückblick auf die Ausstellung. Im Anschluss an die Eröffnung bieten sich erneute Sprech- und vor allem Schreibanlässe, z.B. ein Rezeptionsgespräch bzw. ein Bericht vom Ausstellungsbesuch im Freundeskreis (stand up dialogue, dialogue writing) oder eine Zeitungskritik des neuen Gemäldes und seiner Ausstellung (review writing). Besonders lohnend mit Blick auf die Wirkung des Bildes bei verschiedenen historischen Akteuren (audiencing, vgl. Rose 2001: 25) könnte es sein, die Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Rollen auf das Gemälde reagieren zu lassen, z.B. Jan-Arne Sohns 266 als leitender Angestellter einer railroad company, als Familienvater, der (auf der Grundlage des Homestead Act von 1862 4 ) mit dem Gedanken spielt, sich auf den Weg nach Westen zu begeben, als 17-Jähriger, der eine Lehre macht, sich aber über seine Zukunft nicht im Klaren ist, als Vertreter der amerikanischen Regierung, die mit dem Homestead Act die Westsiedlung massiv förderte, als europäischer Reisender. Wichtig ist in jedem Fall eine anschließende methodische und inhaltliche Reflexion. Da „die herkömmliche Fokussierung eines Einzeltextes im Unterricht der tatsächlichen Einbettung von Texten und Zeichen in einen größeren textuellen und kulturellen Zusammenhang in keiner Weise gerecht wird“ (Hallet 2002: 63), sollten hierbei Stimmen zu den Ausstellungen von Bierstadt und Moran vergleichend herangezogen werden. Da diese ganz in der Terminologie des American Dream argumentieren, leiten sie schon zur abschließenden Bewusstmachung über, die noch einmal rekapituliert, welche Rolle die Landschaftsbilder bei der Herausbildung der Kollektividentität spielten: “The nation’s future greatness is [...] seen in the great West. This picture is a view [...] of destiny as well as nature.” (The New York Leader, über Bierstadts Rocky Mountain, ‘Lander’s Peak’, zit. nach Wilton/ Barringer 2002: 60) “It looks as if it was painted in an Eldorado, in a distant land of gold, heard of in a song or story; dreamed of but never seen. Yet it is real.” (San Francisco Golden Era über Bierstadts Looking Down Yosemite Valley, zit. nach ebd.: 232) 4 Der Homestead Act von 1862 machte große Flächen des amerikanischen Westens für private Siedler nutzbar. Insgesamt wurden rund zehn Prozent der Fläche der Vereinigten Staaten auf der Grundlage dieses Gesetzes von Siedlern beansprucht und besiedelt. Voraussetzungen seitens der Siedler waren: Mindestalter von 21 Jahren, eigener Haushalt, Residenzpflicht auf dem neu erworbenen Land und fünf Jahre Arbeit auf und mit dem Land, bevor das Land endgültig in den Besitz des Siedlers überging. Der Landerwerb kostete nur 18 Dollar Bearbeitungsgebühr. Amerikanische Landschaftsmalerei im Kulturunterricht 267 Der Reiz dieses Planspiels liegt also darin, dass in ihm wichtige Fragen der Bildinterpretation, aber auch zum American Dream und seiner diskursiven Produktion ganz ohne einen methodischen Fragenkatalog, sondern allein aus der historischen Situation heraus geklärt werden und anschließend einer - inhaltlichen, begrifflichen, methodischen - Bewusstmachung zur Verfügung stehen. 4. Vom Nutzen verkaufter Träume Amerikanische Landschaftsgemälde bieten, gerade mit Blick auf ihren ursprünglichen ‚Sitz im Leben‘, gute Möglichkeiten für einen schülerzentrierten, handlungsorientierten und diskurstheoretisch fundierten Unterricht. Die geschilderten Vorschläge vermeiden dabei jene vorgebliche Handlungsorientierung, die sich in inhaltlich ambitionierten Unterrichtsvorschlägen gelegentlich findet. 5 Des Weiteren öffnet die amerikanische Landschaftsmalerei über das bloße Faktenwissen hinaus den Blick auf zentrale Versprechungen des American Dream. Frontier spirit und Manifest Destiny lassen sich anhand der Gemälde anschaulich erarbeiten oder festigen. Gerade die Entscheidung für kommerziell ausgerichtetes Material und der handlungsorientierte Unterrichtsansatz ermöglichen darüber hinaus performative Einsichten in die Produktion dieser Versprechung, wie es eingangs als Ziel des Kulturunterrichts formuliert worden ist. Zudem, und das ist hier gewiss von besonderem Interesse, fördert die Arbeit mit amerikanischer Landschaftsmalerei die visual literacy. Dies betrifft unter anderem die folgenden Teilaspekte dieser Kompetenz, wie sie von Monika Seidl (2007a) formuliert werden - wobei sich versteht, dass sie nicht alle in dem geschilderten Planspiel geschult werden: das Erkennen von Darstellungskonventionen wie dem erhöhten Betrachterstandpunkt, der jähen Proportionsdifferenz zwischen Mensch und Natur oder der heute teilweise kitschig wirkenden, ur- 5 Vgl. z.B. Moreth-Hebel/ Hebel (2007: 42), die zur „handlungsorientierte[n] Unterrichtsgestaltung“ Vorschläge wie eine Internetrecherche der Lernenden unterbreiten, deren Ergebnisse „dann dem Plenum interpretatorisch vorgestellt werden“. Jan-Arne Sohns 268 sprünglich jedoch die Anwesenheit Gottes suggerierenden Lichtregie. Solche Konventionen werden in der Landschaftsmalerei als Genre besonders offensichtlich. das Berücksichtigen von Produktion, Bild selbst und Rezeption. Die abenteuerliche, zum Teil Expeditionscharakter annehmende Entstehung vieler Arbeiten ist ebenso reizvoll wie die Rezeption der „Great Pictures“. Die Reaktionen der Zeitgenossen erlauben die dichte Beschreibung und den Nachvollzug des ideengeschichtlichen Zusammenhangs. So ergibt sich ein Akzent auf dem „audiencing“, also auf den veränderlichen Bedeutungszuschreibungen durch das Publikum. das Entschlüsseln einer Mitteilungsabsicht, sogar in einer auf den ersten Blick ganz ideologiefernen Bildgattung. ein interkultureller Zugang zum Sehverstehen: Genau wie das ursprüngliche Publikum dürften die meisten Schülerinnen und Schüler die dargestellte Landschaft nicht aus eigener Anschauung kennen. Gerade Beispiele aus der zeitgenössischen Rezeption der Bilder helfen dabei, „fremde Sichtweisen zu rekonstruieren und zu übernehmen“, wie es Monika Seidl (2007b: 6) beschreibt: „Hier gilt es insbesondere“, so Seidl weiter, „naturalisierte mediale Darstellungsformen sichtbar zu machen und ihre Konstruiertheit, etwa in Gestalt der genretypischen Konventionen, aufzuzeigen“. Sichtbar werden diese Darstellungsformen nicht zuletzt in der Abfolge der Präsentationen, in denen sich üblicherweise zentrale Motive, Gestaltungsmittel und Wirkungserwartungen wiederholen („the sunset shows that...“, „you’re looking into ... Valley“; „isn’t it overwhelming? “). visual literacy als Medienkompetenz, Medienkompetenz durch Mediengeschichte: Die Arbeit mit den ‚Blockbustern‘ des 19. Jahrhunderts macht die Lernenden mit einem aufschlussreichen, aber kaum bekannten Teil der Mediengeschichte vertraut. In diesem Zusammenhang ist auch zu denken an visual literacy als Wissen von interpikturalen Zusammenhängen, also von den Einflüssen und Motivtraditionen, die den Bedeutungsgehalt eines Bildes mitbestimmen. Wenn visual literacy nämlich nicht zuletzt „auf der Fähigkeit der Rezipienten zur kenntnisreichen Partizipation am visuellen Repertoire und kollektiven Gedächtnis einer Kultur“ (Moreth-Hebel/ Hebel 2007: 38) beruht, dann wird sie von dem skizzierten Projekt insofern geschult, als hier einflussreiche Bilder in ihrem ideengeschichtlichen Kontext bekannt gemacht werden, Amerikanische Landschaftsmalerei im Kulturunterricht 269 ohne die auch heutige Werke oft nicht verständlich werden. Angestrebt wird schließlich, Naturdarstellungen in amerikanischen Kunstwerken für die Lernenden (ideologisch) lesbar zu machen. Im Rahmen dieses Aufsatzes ist nur darauf hinzuweisen, dass im Anschluss an einige Stunden zur Landschaftsmalerei denn auch andere Werke aus dem kulturellen Gedächtnis der USA als Auseinandersetzungen mit dem American Dream lesbar werden, da sie in erheblichem Maße auf Landschaftsdarstellungen zurückgreifen, z.B. die Westernfilme John Fords (v.a. The Searchers), ein Road Movie wie Ridley Scotts Thelma & Louise oder die Fotografien von Ansel Adams. visual literacy als Einsicht in den Zusammenhang von Bild(kunstwerk) und kollektiver Identitätsbildung. Hierbei steht nicht nur die absichtsvolle Konstruiertheit des Bildes selbst im Blickpunkt, sondern auch die invention of tradition (Eric Hobsbawm), in diesem Falle die Erfindung grundlegender amerikanischer Mythen. Die Rolle von Bildern bei diesem Prozess nachzuvollziehen und beschreiben zu können ist eine wichtige Teilkompetenz des Sehverstehens. visual literacy als Bewusstmachung der Schwierigkeiten beim Sehverstehen. Der von Martin Seel (2000) und Georges Didi- Huberman (2000) hervorgehobene präsentische Charakter von Bildern ist bei vielen Arbeiten der amerikanischen Landschaftsmalerei besonders eindrücklich zu erleben. Bilder wie The Domes of Yosemite sind daher für die Bewusstmachung dieser kategorialen Text-Bild-Differenz geeignet. Aus Sicht der visual literacy ist es wichtig, diese Spezifik von Bildern nicht zu verleugnen. Wichtig sind vielmehr, wie gesehen, Paralleltexte zum Bild: Texte, die Bilder flankieren. 5. Schlussfolgerungen Aus dem Dargestellten lassen sich einige Schlussfolgerungen für den Fremdsprachenunterricht ziehen. Bei der Auswahl von Bildern für den Fremdsprachenunterricht sollte erstens deren möglichst gut dokumentierte Produktion und Rezeption eine wichtige Rolle spielen. Dies ermöglicht sowohl eine dichte historische Beschreibung als auch einen schülerzen- Jan-Arne Sohns 270 trierten, handlungsorientierten Unterricht. Besonders ergiebig sind vor diesem Hintergrund zweitens Bilder, die in einem klar definierten Verwendungszusammenhang entstanden sind: Kommerziell ausgerichtete Bilder aller Art gehören ausdrücklich dazu, auch Arbeiten innerhalb unterschiedlicher Genres. Drittens sollte der Kulturunterricht vor allem auf historisch wirkungsmächtige Bilder zurückgreifen, mit deren Hilfe sich die Produktion kollektiver Vorstellungen ebenso konkret wie anschaulich nachvollziehen lässt. Hierbei bieten sich historische Reihen an, deren Bildmotive ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind. Viertens eröffnet die sprachliche Unfassbarkeit von Bildern einerseits Räume für Schüleräußerungen, andererseits legt sie es nahe, den Akzent vom beschreibenden, analysierenden und interpretierenden Sprechen auf bildflankierende Äußerungen zu legen. Dies wiederum rückt fünftens Unternehmungen wie die beschriebene in die Nähe eines aufgabenorientierten Ansatzes: Wenn es nicht zuletzt um Produktion und Rezeption eines Bildes geht - und das wird es im Kulturunterricht fast immer -, dann erzwingt ein handlungsorientierter, schülerzentrierter Unterricht die Arbeit mit tasks. Quellen Sekundärtexte Avery, Thomas (1986). „‘The Heart of the Andes’ Exhibited: Frederic E. Church’s Window on the Equatorial World.“ American Art Journal 18/ 1, 52-73. Benjamin, S.G.W. (1882). „A Pioneer of the Palette, Thomas Moran.“ Magazine of Art 5, 89f. Cole, Thomas (1965 [1836]). „Essay on American Scenery.“ In: McCoubrey, 98-110. Didi-Huberman, Georges (2000 [1990]). Vor einem Bild. München: Hanser. Durand, Asher B. (1965 [1855]). „Letters on Landscape Painting.“ In: McCoubrey, 110-115. Ellis, Rod (2003). Task-based Language Learning and Teaching. Oxford: Oxford UP. Green, Norm & Green, Kathy (2005). 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Ihre Vielzahl, die Häufigkeit ihres wiederholten Auftretens, aber auch ihre unterschiedlichen medialen Ausprägungen lassen sie zu einer Größe werden, die uns täglich begegnet und deren Wirkung uns wesentlich beeinflusst. Es ist daher nur allzu gut nachvollziehbar, dass Bildern inzwischen ein fester Platz im Fremdsprachenunterricht eingeräumt und ihre Funktion darin ausgeweitet wird. Bilder dienen längst nicht mehr nur zum einfacheren Verstehen fremdsprachiger Lexeme wie bereits in Comenius’ Orbis Sensualium Pictus (1658) bestens praktiziert, sondern erleichtern und bereichern Schülern und Schülerinnen auch den Zugang zu der Literatur und Kultur eines Zielsprachenraumes (vgl. Rymarczyk 2007). Seit dem iconic turn, der Ausweitung des visuellen Moments in der Gegenwartskultur durch die Verlagerung von der sprachlichen auf die visuelle Information bzw. vom Wort auf das Bild (vgl. Boehm 1994) können und müssen Bilder im Fremdsprachenunterricht aber noch mehr leisten. Sie tragen nicht mehr nur zum Verstehen der fremden und somit auch der eigenen Kultur der Gegenwart bei. Bilder bergen vielmehr auch das Potenzial, die Kontinuität und den Wandel kultureller Werte aufzuzeigen. Sofern ein bestimmtes Motiv über Jahrzehnte und verschiedene Medien hinweg mit unterschiedlichen Zielsetzungen verwendet wird, kann seine ursprüngliche Bedeutung fehlinterpretiert werden, weitgehend verloren gehen oder nur noch vage als kollektives Erinnerungsbild vorhanden sein. Durch eine neue Kontextualisierung tritt die eigentliche Intention zurück zu Gunsten einer neuen, subjektiven Bildinterpretation, die von der psychologischen Wirkung des Bildes beeinflusst wird. Es ist offenkundig, dass Bilder bzw. Motive mit hoher affektiver Wirkung von dieser Entwicklung besonders betroffen sind. Hier gilt es nun, einen nicht-informierten oder vorurteilsbelasteten Umgang mit Bildern abzulösen und „kulturell wirkmächtige Repertoireelemente freizulegen und Jutta Rymarczyk 274 ideologisch produktive Repräsentations- und Deutungsmuster zu rekonstruieren“ (Moreth-Hebel/ Hebel 2007: 39). Bilder erhalten damit eine wichtige Funktion in der sozio-kulturellen und politischen Bildung Jugendlicher. Der Fremdsprachenunterricht wird schließlich durch die Bilder zum Ort der Friedenserziehung, wenn die zu behandelnden Bilder den Lernenden helfen, ihre aktuelle Umgebung mit historischen Gegebenheiten der Zielkultur zu verknüpfen und politische Zusammenhänge zu verstehen, anstatt ihnen unmündig und unreflektiert ausgeliefert zu sein. Im Folgenden versucht dieser Beitrag aufzuzeigen, wie das Kunstwerk The Portable War Memorial des US-amerikanischen Künstlers Edward Kienholz als Ausgangspunkt für ein intermedial angelegtes Projekt im Fremdsprachenunterricht dienen kann, das Friedenserziehung mit der Erweiterung der visual literacy der Lernenden verbindet. Fragen, die sich aus der Betrachtung des Portable War Memorial ergeben, leiten dabei die Erarbeitung zusätzlichen schriftlichen und bildlichen Textmaterials an (Werbung, Karikaturen, Film, Briefwechsel, kunstwissenschaftliche Erläuterungen u.v.m.). Die Lernenden setzen sich sowohl mit bildgrammatischen als auch mit ikonographischen Aspekten auseinander und verbinden schließlich Informationen und Einsichten zu den historischen Bildzitaten in Kienholz’ Tableau. 1. Das Kernstück des intermedialen Projekts Edward Kienholz’ Tableau The Portable War Memorial (vgl. Abb. 1) entstand 1968 als Reaktion auf den Vietnam-Krieg, bezieht sich aber auf Krieg und Völkervernichtung allgemein. Im Zentrum des mit echten und/ oder nachgebauten Figuren gestalteten Schaubildes steht die Soldatengruppe, die 1945 auf der japanischen Insel Iwo Jima die amerikanische Flagge hisst: 1 1 Die Figurengruppe ist zwar von zentraler Bedeutung in dem Kunstwerk, jedoch im linken Teil des als Triptychon aufgebauten Tableaus befindlich. Die Eingängigkeit der Gruppe bestimmt die Lesebzw. Sehrichtung des Betrachters, die von links nach rechts gelenkt wird. Friedenserziehung im Englischunterricht 275 Abb. 1: Kienholz, Edward: The Portable War Memorial (1968) Da die Eroberung der Insel als ein entscheidender Schritt im Sieg der Amerikaner über die Japaner im Zweiten Weltkrieg galt, war der Moment fotografisch dokumentiert worden. Der Fotograph Joe Rosenthal wurde später mit dem Pulitzer-Preis für das Foto ausgezeichnet, das weltberühmt wurde (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Rosenthal, Joe: The Raising of the Flag on Iwo Jima (1945) Jutta Rymarczyk 276 Es diente noch während des Zweiten Weltkriegs als Motiv für eine amerikanische Briefmarke, wurde 1954 als Vorlage für das Marine-Denkmal auf dem Arlington National Cemetery in Washington D.C., die größte Bronzeplastik der Welt, benutzt und in fotografischen, graphischen und malerischen Darstellungen der Hilfstruppen nach den Angriffen auf das World Trade Centre am 11. September 2001 wieder aufgegriffen. Die wohl bekannteste Verwendung jüngeren Datums im amerikanischen Kontext ist die zentrale Rolle des Motivs in Clint Eastwoods Film Flags of Our Fathers von 2006. Im europäischen Kontext wird die Figurengruppe ebenfalls auf vielfältige Art und Weise zitiert, jedoch sind die Intentionen der Darstellungen heterogener. Hier spannt sich der Bogen von deutschen Titelblattcollagen zu kritischen Militärberichten über Jeanswerbung einer europäischen Modehauskette bis hin zu einem portugiesischen Plakat, das zur Reinigung eines Küstenstreifens aufruft (vgl. Abb. 3 sowie unten 4.2). Abb. 3: Verwendung des Rosenthal-Motivs in modernem Kontext Friedenserziehung im Englischunterricht 277 Die intermediale Nutzung des Motivs könnte also kaum unterschiedlicher ausfallen. Nach Hallet (vgl. 2006: 144) ist dann von ‚Intermedialität‘ die Rede, wenn mindestens zwei verschiedene Medien involviert sind, die mit (zumindest teilweise) unterschiedlichen Zeichensystemen arbeiten. In der Ausbildung eines kritischen Sehverhaltens kann ein intermedialer Ansatz dem ursprünglichen Motiv und seiner ikonographischen Entwicklung am besten gerecht werden. Die Dreidimensionalität der realen Soldatengruppe wurde durch das Medium Foto auf Zweidimensionalität beschränkt, in Kienholz’ Tableau durch die vollplastische Darstellung jedoch wieder in die Dreidimensionalität zurückgeführt. Auch wenn die meisten Lernenden kaum die Gelegenheit haben werden, das Kunstwerk im Original 2 und somit in seiner Multiperspektivität wahrnehmen zu können, so bietet jedoch wiederum der Film die Möglichkeit, mehrere Ansichten der Gruppe wahrnehmen zu können. Entscheidendes Moment in bildgrammatischer Hinsicht bzw. bezogen auf die psychologische Wirkung des Bildes ist die Erkenntnis, dass das Motiv sein Potenzial an Kraft, Energie und Tatendrang aus der frontalen Darstellung der Personengruppe bezieht. Die steile fallende Diagonale der Fahnenstange vermittelt die Kraft und Wucht der Handlung, während das gleichschenklige Dreieck des Figurenclusters (gebildet durch die Personen, die sich links von der Fahnenstange befinden, den unteren Teil der Stange sowie den Boden) Standhaftigkeit und Beharrlichkeit suggeriert. Die Einsicht in den Umstand, dass jede andere Ansicht bar dieser Wirkung ist, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu visual literacy. Die Schüler und Schülerinnen können hier erfahren, dass die Wirkung nicht nur vom Inhalt, sondern auch von der Art der Darstellung abhängig ist. Sie lernen, die inhaltliche bzw. semantische von der formalen bzw. syntaktischen Ebene zu trennen und beides auf das pragmatische Element der Wirkung hin auszuwerten. Es ist offensichtlich, dass dieses Zusammenspiel der unterschiedlichen Ebenen nicht nur für Bilder gilt, sondern auch für sprachliche Texte, wobei nicht nur ästhetische Texte wie z.B. Gedichte einbezogen sind. Auch der Appellcharakter von Aufrufen oder die Wirkkraft politischer Reden ist zu einem wesentlichen Grad durch ihre sprachliche Form bedingt. An dieser Stelle kann also ein Synergieeffekt genutzt werden, wenn die Lernenden Einsichten in der Auseinandersetzung mit Bildern in die mit sprachlichen Texten einbringen und umgekehrt. Eine solche gleichzeitige Fokussierung von Bildern und Texten entspricht dem neueren Verständnis des Begriffes 2 Das Tableau befindet sich im Museum Ludwig in Köln. Jutta Rymarczyk 278 der visual literacy, der sowohl Bilder als auch Wörter bzw. Texte einbezieht: „To be visually literate, they [unsere Lernenden, J.R.] must learn to ‘read’ (consume/ interpret) images and ‘write’ (produce/ use) visually rich communications.“ (Burmack 2008: 5) 3 2. Die Ziele des Beitrags zur Friedenserziehung Das übergeordnete Ziel der Erziehung zu Frieden und Verständigung setzt sich zusammen aus zwei Teilzielen: der Ausbildung von visual literacy bzw. film literacy sowie dem Erlangen interkultureller Kompetenz. Während interkulturelle Kompetenz generell durch die Reflexion unterschiedlicher Kulturen zur Friedenserziehung beiträgt, ist visual literacy in dem gegebenen Kontext des intermedialen Projekts unabdingbar, gilt es doch, ein Tableau, einen Film sowie weitere visuelle Texte zu erfassen. In einem weiteren Kontext wird visual literacy für die Friedenserziehung zunehmend wichtiger, weil im Zuge des iconic turn zunehmend mehr Information visuell vermittelt wird. Bewegte Nachrichtenbilder im Fernsehen und im Internet müssen ebenso kompetent und kritisch rezipiert werden wie Wahlplakate und andere statische visuelle Texte politischen Inhalts und mit politischer Zielsetzung. 2.1 Das Ziel der visual und film literacy Wenn wir visual literacy mit Burmack (vgl. ebd.) als das Decodieren und Codieren visueller bzw. teilvisueller Kommunikationssituationen verstehen, kann Filmkompetenz - nach Surkamp (2005: 287) die Fähigkeit, bewegte Bilder lesen sowie kompetent und kritisch mit dem Medium Film umgehen zu können - als Hyponym der visual literacy angesehen werden. Dieser Sonderstatus ist hier insofern von Interesse, als er die Aufmerksamkeit auf die Besonderheit des Bildmediums Film, nämlich die dynamische Komponente des bewegten Bildes lenkt. Die Dynamik der Bilder, die durch Schnitte, Kameraführung und -einstellungen oder auch Montagen entsteht, erweitert nicht nur die oben erwähnten multiperspektivischen Betrachtungsmöglichkeiten des Zuschauers, sondern sie ergänzt als eigenes formales Element das Wirkungspotenzial des Mediums Film. 3 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Gabriele Blell im vorliegenden Band. Friedenserziehung im Englischunterricht 279 In dem hier vorgestellten Werkgeflecht kommt dem Film Flags of Our Fathers die Aufgabe zu, den Lernenden diesen bildgrammatischen Aspekt gepaart mit der ihm eigenen Wirkungskomponente zu veranschaulichen. Eastwoods Film erscheint für diesen Zweck der optimale Gegenstand zu sein, da er das zentrale Motiv der Soldatengruppe bzw. des Flaggehissens wiederholt in unterschiedlicher Form thematisiert. Der vergleichende Zugriff auf die Einzelbilder erleichtert es, die formale Ebene der Bilder mit der Wirkungsebene in Verbindung zu setzen. Die Lernenden können denselben Bildgegenstand (das Hissen der Flagge) in verschiedenen statischen Bildern der dynamischen Darstellung des Films gegenüberstellen. Die Wahl dieser Vorgehensweise erfolgt vor dem Hintergrund, dass die Etablierung des Einsatzes von Bildern im Fremdsprachenunterricht der pragmatischen Ebene bisher vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt hat. Nach der anfänglichen Konzentration auf den Inhalt von Bildern, die zu Bildbeschreibungen jedweder Form geführt hat, 4 verlagerte sich die Konzentration der mit Bildern arbeitenden Fremdsprachendidaktiker auf die formale Ebene, was sich zum Beispiel an der Aufmerksamkeit abzeichnet, die bildgrammatischen und strukturalistischen Ansätzen der Auseinandersetzung mit Bildmaterial - wie etwa von Kress und van Leeuwen (2006) - zukommt. Das Potenzial der Wirkungsebene von Bildern blieb im Kontext des Fremdsprachenunterrichts weitgehend ungenutzt, was insofern schwer nachvollziehbar ist, als die expressive Funktion von Sprache, mit der die Bildwirkung, persönliche Eindrücke bzw. Gefühle und Stellungnahmen zu Bildern zum Ausdruck gebracht werden können, von Zweitspracherwerbsforschern als dem Fremdsprachenlernen besonders förderlich angesehen wird (vgl. z.B. Schumann 1978; Rymarczyk 2003: 94ff.). Andererseits zeigt sich in der Vernachlässigung der Wirkungsebene von Bildern eine Parallele zur Literaturrezeption, wo die kognitive Ebene ebenfalls lange Zeit dominierte und Emotionen vor allem im schulischen Kontext der Literaturrezeption auch heute noch eine untergeordnete Rolle spielen (vgl. Donnerstag/ Wolff 2007). Angesichts dieser Parallele ist es wiederum wenig verwunderlich, dass der pragmatische Zugang zu Bildern bislang nur vergleichsweise selten eine 4 Insbesondere im Kontext des bilingualen Sachfachunterrichts schienen Bildbeschreibungen bzw. die systematische Auflistung von Bildgegenständen dem Wirkungsaspekt häufig vorgeschaltet zu sein, was zu einer nicht akzeptablen Vernachlässigung der Bildaussage zugunsten von Wortschatzarbeit führte (vgl. Rymarczyk 2005: 15). Jutta Rymarczyk 280 didaktische Akzentuierung im Fremdsprachenunterricht erfuhr. Das im Folgenden vorgestellte intermediale Projekt vermag durch die Einbindung von Kunstwerken und der Filmtragödie Flags of Our Fathers den emotional-pragmatischen Paradigmenwechsel optimal zu unterstützen, da sowohl Kunstwerke als auch Filme, und hier insbesondere Tragödien, als Auslöser individueller emotionaler Reaktionen hoch gewertet werden (vgl. ebd.: 151; Rymarczyk 2003: 122ff.). 2.2 Das Ziel der interkulturellen Kompetenz Das zweite Teilziel, das Erlangen interkultureller Kompetenz, bezieht sich u.a. auf die Fähigkeit, die eigene und die fremde Kultur kritisch zu reflektieren. Es basiert dabei auf dem Zusammenspiel von deklarativem Orientierungswissen (knowledge of social groups and their products and practices), Können (skills of interpreting and relating; skills of discovery and interaction) und Einstellung (attitudes: curiosity and openness, readiness to suspend disbelief) (Byram 1997: 51ff.). Die Einlösung durch das hier vorgestellte Projekt ist offenkundig: Die Aneignung des historischen Kontexts des Flaggehissens auf Iwo Jima ist dem deklarativen Orientierungswissen zuzuordnen. Durch die Tatsache, dass die einzelnen zu interpretierenden Bilder und weiteren Texte amerikanischer Provenienz in ein Geflecht mit Bildern und Texten europäischen Ursprungs gestellt werden, wird die Fähigkeit entwickelt, Bezüge zur eigenen Kultur herzustellen. Und schließlich revidieren die Lernenden u.U. ihre Einstellung, wenn sie ihr eigenes Urteil in Frage stellen und zu neuen Sichtweisen gelangen. Im vorliegenden Falle des Motivs des Flaggehissens heißt das, das Motiv nicht mehr nur - wie oftmals geschehen - als naiven US-Patriotismus zu verstehen, sondern auch den kollektiven Siegeswillen eines ganzen Volkes darin zu erkennen. 2.3 Das Ziel der Friedenserziehung Durch den historischen Charakter des Kernstücks der intermedialen Reihe, das dem Zweiten Weltkrieg entstammt, sowie seine oben beschriebene Eignung für interkulturelles Lernen ist das Hauptziel des Projekts vorrangig dem Bereich der Friedenserziehung zuzuordnen. Friedenserziehung wiederum im Bereich des Fremdsprachenunterrichts statt beispielsweise im Politik- oder Ethikunterricht zu verankern leitet sich von der Positionierung des o.g. interkulturellen Lernens im Fremdsprachenunterricht ab und Friedenserziehung im Englischunterricht 281 von dessen sprachlich orientierten Inhalten und Methoden, die die kulturellen Anteile des Fremdverstehens ergänzen. Hier ist in inzwischen bereits historischer Perspektive der Dachbegriff der Mehrsprachigkeitsdidaktik zu nennen, der sich konkretisiert hat in Form von Bewegungen wie etwa „Lerne die Sprache Deines Nachbarn“ oder dem Begegnungssprachenmodell, d.h. fremdsprachendidaktischen Tendenzen mit politischen Zielsetzungen (Minuth 2006: 203). Mit seiner Mischung aus Sprach- und Kulturunterricht kann Fremdsprachenunterricht so als genuiner Ort für Erziehung zum Frieden angesehen und mit Recht als „Nervenzentrum schulischer Friedenserziehung“ (Diehr 2007: 170) bezeichnet werden. Wie Minuth (2006: 203) feststellt, ist die Forschung zur Friedenserziehung im Fremdsprachenunterricht zwar noch in der Anfangsphase, in der die Konstituierung von Fragen und die Formulierung von Arbeitshypothesen im Vordergrund stehen, aber erste Forschungs- und Entwicklungsaufgaben können trotzdem bereits aufgegriffen werden. Hier sei beispielsweise Diehr genannt, die diesbezüglich u.a. dafür plädiert, Beispiele für Frontneubildungen und -auflösungen in den Blick zu nehmen und ihr Potenzial für die Dekonstruktion der mentalen Kategorie ‚Feind‘ zu untersuchen (vgl. Diehr 2007: 170f.). Bezogen auf das Motiv des Flaggehissens in amerikanischen Darstellungen und die deutsche Rezeption dieser Bilder ist es sicherlich übertrieben die Kategorie ‚Feind‘ zu bemühen. Nichtsdestotrotz ist zu überdenken, ob die auf fehlendem Hintergrundwissen beruhende deutsche Reaktion nicht als „Frontneubildung“ anzusehen ist, da das Motiv in seiner weiteren Nutzung hierzulande „als zweifelhafte Darstellung eines eher naiv-patriotischen, spontan-sentimentalen Akts“ (Moreth- Hebel/ Moreth 2007: 39f.) gesehen wurde. Ein Motiv in seiner ikonographischen Entwicklung zu verfolgen und seinen spezifischen, kontextuellen Bedeutungsverlust bzw. -wandel zu beobachten kann helfen, Nicht- Informiertheit auszugleichen. Damit wird eine Forderung eingelöst, die bereits vor rund zwanzig Jahren unter der Überschrift „Praktisches Lernen“ aufgestellt wurde. Edelhoff schrieb damals, dass von gesellschaftlichpolitischen Krisen und Problemlagen belastete Heranwachsende sich diesen in ihrem weiteren Lebensverlauf annehmen müssten: „Sie müssen die Erfahrung machen, dass der Versuch zur Überwindung von Unkenntnis, Vorurteilen oder gar Feindbildern, der Versuch also zur Verständigung sich lohnt […].“ (Edelhoff/ Liebau 1988: 244) Jutta Rymarczyk 282 3. Die Wirksamkeit von Werken bildender Kunst als Basis des intermedialen Projekts Die oben angesprochenen Forschungs- und Entwicklungsaufgaben zu Friedenserziehung im Fremdsprachenunterricht sollen in diesem Beitrag um eine didaktisch-methodisch orientierte Frage bzw. Arbeitshypothese erweitert werden. Es wird postuliert, dass Werke bildender Kunst anders als nicht-künstlerische Texte ein Potenzial bergen, das es den Lernenden erleichtert, im Fremdsprachenunterricht gesetzte interkulturelle und friedenspädagogische Ziele bei gleichzeitiger Erweiterung ihrer visual literacy zu erreichen. In diesem Kontext werden auch dreidimensionale Kunstwerke wie etwa Skulpturen und Tableaus zur Ausbildung der visual literacy herangezogen, da sie zum einen meist visuell rezipiert werden und zum anderen diese Rezeption größtenteils eine mittelbare ist, da bildliche Darstellungen statt des Originals rezipiert werden. Das Portable War Memorial, der zentrale Gegenstand des hier vorgestellten Projekts, ist als Tableau ein dreidimensionales Kunstwerk, das aber in der schulischen Behandlung durch bildliche Reproduktionen repräsentiert werden kann. 3.1 Kunstwerke als Vermittler kultureller Werte Sofern schulisches Fremdsprachenlernen nicht gerade in Grenznähe erfolgt, ist eine konkrete Begegnung mit der Zielkultur nicht leicht. Der Einbezug von Werken bildender Kunst in die Textwelt des Fremdsprachenunterrichts kann hier Abhilfe schaffen. Die Rezeption zielkultureller Kunstwerke an außerschulischen Lernorten wie beispielsweise dem Museum ermöglicht eine authentische Begegnung. Dreidimensionale Objekte können in ihrer Multiperspektivität wahrgenommen werden, Bilder in Originalgröße und Originalfarbgebung. Insbesondere das Portable War Memorial profitiert von einer unmittelbaren Rezeption, da es mit 10m Länge und lebensgroßen dreidimensionalen Figuren den Betrachter in das Werk hineinzieht. Die so vermittelte Authentizität des Gegenstandes wird noch durch eine zweite Art Authentizität gesteigert, die allen Kunstwerken eigen ist: die Authentizität des nicht-didaktisierten Textes. Diese Eigenschaft von Kunstwerken vermag die Begegnung mit der Repräsentation der Zielkultur zu verstärken, da keine Veränderung der Wirkkraft durch Didaktisierung vorliegt (vgl. Rymarczyk 2007: 232). Friedenserziehung im Englischunterricht 283 Selbst wenn das Arbeiten an außerschulischen Lernorten nicht möglich ist, kann der Einsatz von Werken bildender Kunst die Auseinandersetzung mit der Zielkultur bereichern. Auch die Arbeit mit Reproduktionen der zielkulturellen Kunstwerke profitiert noch von der Authentizität der Kunst als nicht-didaktisiertem Text der Zielkultur. Hinzu kommt in diesem Fall die Medienzentrierung, die durch den Gebrauch zweidimensionaler Reproduktionen (Fotos, Farbkopien etc.) oder die dynamische Repräsentation durch Film verstärkt wird. Der Medieneinsatz, der Vergleiche zwischen den einzelnen Darstellungsmodalitäten, ihren Bedingungen und Wirkungen erlaubt, trägt durch die bewusste Auseinandersetzung mit den Bildern zu einer allgemeinen Rezeptionsschulung bei, die über das interkulturelle Lernen des Fremdsprachenunterrichts hinaus für den gesamten Fächerkanon von Nutzen ist. 3.2 Kunstwerke als Träger von Kriegserfahrungen Künstlerische Darstellungen bieten besondere Wege sich mit Erfahrungen von Krieg und Gewalt auseinanderzusetzen. Kunst kann Geschehenes dokumentieren; entscheidend ist aber das, was über die reine Dokumentation hinausgeht: die spezielle Art der Darstellung durch den subjektiven Ausdruck, die gleichzeitig die Möglichkeit eröffnet, das Dargestellte subjektiv zu erfahren. Kunstwerke schaffen durch die subjektive oder persönliche Dimension der Darstellung für den Rezipienten einen besonderen Zugang zu dem „third space“ (Kramsch 1993). Indem Bildgegenstände (hier: kulturelle Zeichen und Symbole) in einen neuen, oft ungewöhnlichen Kontext gestellt werden, werden sie verfremdet. Im Portable War Memorial treffen wir beispielsweise auf zwei amerikanische Ikonen: Uncle Sam und The American Diner. Beide Symbole werden aber in ungewohnter Manier präsentiert. Uncle Sam hängt als gerahmtes Bild hinter einer in einer Tonne steckenden weiblichen Figur, die man nicht ohne weiteres mit Uncle Sam in Verbindung bringt, selbst wenn man weiß, dass das ursprüngliche Poster zur Rekrutierung amerikanischer Soldaten diente. The American Diner erscheint in bedrückender Weise steril und verlassen, was nicht zuletzt auf die leeren Stühle und die metallene Farbgebung zurückzuführen ist. Diese ‚merkwürdige‘ Nutzung der kulturellen Symbole lässt die bekannten Zeichen weniger eindeutig erscheinen, so dass wir sie leichter hinterfragen können. Nach Bhabha (2004) ist es genau das, was „den dritten Raum“ Jutta Rymarczyk 284 ausmacht: Im Dialog werden scheinbar eindeutige kulturelle Zeichen hinterfragt und aufgebrochen. Die Möglichkeit, das in Kunstwerken Dargestellte subjektiv zu erfahren, ist allerdings nur zu einem geringen Grad durch Verfremdung bedingt. Es ist viel mehr die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit eines Kunstwerks, die dem Betrachter den persönlichen Zugang verschafft. Gemäß unserer Vorerfahrungen können wir unseren individuellen Weg in der Auseinandersetzung mit dem Werk wählen und gelangen zu einer eigenen, subjektiven Interpretation. In Folge dessen wird uns die Interaktion mit dem Werk erleichtert, was wiederum zu einer nachhaltigen Motivation dieser Interaktion führt, sei sie ein grundsätzliches Bejahen, Protest oder andersgeartete Reaktion. Nach Müller-Hartmann (1999: 167) ist es diese Interaktion zwischen Eigenem und Fremdem, die „den dritten Ort“ konstituiert. Wiederum konkret auf das Portable War Memorial bezogen kann dieses Moment nachvollzogen werden, wenn man sich als Betrachter die Frage stellt, warum die Soldatengruppe gesichtslos dargestellt ist. Hier werden sich die Interpretationen vieler Betrachter vermutlich ähneln, da sich die Anonymität der Kriegsmaschinerie bzw. die Austauschbarkeit des Einzelnen aufdrängt. Die aber mit dem historischen Hintergrund Vertrauten werden in der Gesichtslosigkeit der Gruppe eine Anspielung darauf sehen, dass es tatsächlich lange Zeit unklar war, wer eigentlich zu der auf dem Rosenthal-Foto abgelichteten Soldatengruppe gehörte, da die Szene des Flaggehissens damals für ein zweites Foto nachgestellt wurde, allerdings mit veränderter Besetzung. Der Einsatz von Kunstwerken zur Auseinandersetzung mit Kriegserfahrungen kommt somit der Forderung Minuths (2006: 204) nach, wenn dieser schreibt: „Fremdsprachenunterricht, der Friedenserziehung auf seine Fahnen schreibt, muss auf Texten basieren, die […] individuelle, pazifistische und subversive Sichtweisen der handelnden Subjekte verdeutlichen, die im Spiel der Perspektivübernahme von den Schülern benutzt werden können.“ The Portable War Memorial ist Ausdruck der pazifistischen und auch subversiven kienholzschen Sichtweise und der Text, der die individuelle Sichtweise am deutlichsten aufweist, ist der, der sich in jedem Betrachter bzw. in jeder Betrachterin durch seine bzw. ihre subjektive Interaktion neu konstituiert. Sei es die Konsequenz der Verfremdung, von Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit bzw. subversiven Sichtweisen, es lässt sich konstatieren, dass Kunstwerke Fragen provozieren. Der folgende Unterrichtsvorschlag Friedenserziehung im Englischunterricht 285 baut methodisch auf der zentralen Rolle der die Interaktion initiierenden Fragen auf, indem er zum Finden geeigneter Fragen anleitet und die Diskussion der Sachverhalte zur Beantwortung der Fragen anregt. In Bezug auf beide Aspekte nehmen Bilder eine zentrale Rolle ein. 4. Die bildbasierte Erarbeitung des Portable War Memorial Rezipienten, die im Umgang mit Gegenwartskunst nur wenig geübt sind, stehen mitunter eher ratlos vor einem Kunstwerk. Die künstlerischen Momente der Verfremdung und der Vielschichtigkeit können unter Umständen eher die Auseinandersetzung mit dem Werk behindern als ihr zuträglich sein. Die hier gewählten Aufgaben versuchen diesem Punkt entgegenzuwirken, indem zunächst ein Verfahren vorgestellt wird, das zur Beachtung hinterfragungswürdiger Werkdetails führt (Aufgabe 1), und daran anschließend eine Form der Gruppenarbeit, die die daraus entwickelten Fragen zur Diskussion stellt und zu einer Beantwortung führen kann (Aufgabe 2). 4.1 Aufgabe 1: Dokumentation der Betrachtungsspur und Ableitung von Fragen an das Werk Mit dem Dokumentieren ihrer Betrachtungsspur zeichnen die Lernenden ihre erste Reaktion auf das Werk auf. Dazu sollte ihnen eine Abbildung des Werkes (mindestens DIN A4) zur Verfügung stehen, auf der sie mit Pfeilen festhalten können, welchen Weg ihr Blick über das Werk genommen hat und an welchen Stationen er verweilte. Wichtig ist die Nummerierung der einzelnen Stationen, denn für sie relevante Stellen werden die Betrachter vermutlich mehrfach in den Blick nehmen. Es sind diese ‚Aufmerksamkeitscluster‘, die es gilt, den Lernenden bewusst zu machen. Im Gespräch über die individuellen Betrachtungswege können Gemeinsamkeiten in den Ergebnissen der Lernenden genutzt werden, um daraus einen Einstieg in die Sammlung der Fragen an das Werk zu entwickeln. Dies wird zum einen inhaltliche Aspekte betreffen, sich also z.B. auf stark verfremdete oder mehrdeutige Bildgegenstände beziehen, die einer Interpretation bedürfen. Man wird aber auch auf Parallelen in den Betrachtungsspuren treffen, die auf formalen Momenten wie z.B. der Komposition basieren. Je nach Leistungsstand der Gruppe sollte die Fragensammlung frei oder von der Lehrkraft gesteuert eine Mischung inhaltlicher und formaler Aspekte umfassen. Jutta Rymarczyk 286 Die folgenden Fragen geben einen exemplarischen Einblick in die Bereiche, die für Studierende der Pädagogischen Hochschule Heidelberg von Interesse waren. - Why are the soldiers in a café? - Why are the soldiers without faces? - What happened to the woman on the left side? - What is dropping down from the soldiers’ uniforms? - Why is it “portable”? - Why is silver the dominant colour? - Who wrote on the board and when? 4.2 Aufgabe 2: Diskussion der Fragen und Erarbeitung der Antworten mit Hilfe von Materialpaketen Eine erste Diskussion der Fragen wird sicherlich bereits etliche Aspekte klären können. So wurde die letzte Frage des Fragenkatalogs oben zur Farbgebung des Tableaus schnell mit der Assoziationskette „silver - metal - weapons“ beantwortet. Andere Fragen werden den Betrachtern bei einem komplexen Kunstwerk wie dem Portable War Memorial aber auch im Austausch verschlossen bleiben. Tatsächlich benötigt man hier Zusatzinformationen, die aus verschiedenen Quellen zusammengestellt werden können und unterschiedlichen medialen Charakter besitzen sollten. Es können Aussagen des Künstlers selbst genutzt werden (Briefe und schriftliche Erläuterungen von Kienholz); Literatur über das Kunstwerk kann herangezogen werden (insbesondere Schmidt 1988) sowie Bilder und Texte, die Bestandteile des Kunstwerks sind (das Poster von Uncle Sam und das Lied „God Bless America“); es sollten aber auch Bilder und Texte integriert werden, die Teilelemente aufgreifen (Eastwoods Film Flags of Our Fathers), sie zitieren und in neue Kontexte (wie etwa Werbung) setzen. Die Materialien werden in bis zu sechs verschiedenen Materialpaketen für ebenso viele Gruppen gebündelt und mittels des Verfahrens „Fish- Pool“ (auch bekannt als Expertenmethode; vgl. Klippert 1999) bearbeitet. Dabei setzen sich die Lernenden in einer ersten Phase innerhalb ihrer Gruppe mit ihrem Materialpaket auseinander, um dann in einer zweiten Phase als Experten in neuen Gruppen die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung an die anderen Gruppenmitglieder weiterzugeben. Die neuen Friedenserziehung im Englischunterricht 287 Gruppen sind so zusammengesetzt, dass für jedes Materialpaket ein Experte anwesend ist. Für die Materialpakete bieten sich folgende Bündelungen an: Material 1: Lied „God Bless America“, Kate Smith 5 (ferner: Zusatztext, Foto) Kate Smith, „The Statue of Liberty of Radio Broadcasting“, sang das Lied während des Zweiten Weltkriegs, um die Kampfmoral der Soldaten zu verstärken. In der Ausstellung des Kunstwerks ertönt das Lied in regelmäßigen Abständen aus der Figur, die Kate Smith darstellen soll. Zusatzinformationen, z.B. über ihren späteren Verkauf von Kriegsanleihen, und ein Foto der Sängerin, das die figürliche Darstellung erklären kann, sollten den Liedtext ergänzen (vgl. Schmidt 1988: 20f.). Material 2: Rekrutierungsposter Uncle Sam: „I WANT YOU For U.S. Army Nearest Recruiting Station“ aus dem Ersten Weltkrieg (ferner: Zusatztext, Fotos, Lied) Uncle Sam, Symbolfigur des amerikanischen Patriotismus, ist den meisten Lernenden zwar bekannt, aber einige Fakten zu Samuel Wilson, der 1780 als 14-jähriger freiwillig zur Armee ging, dürften ebenso von Interesse sein wie die weitere Verwendung des Motivs. Man kennt es als direktes Zitat aus vielerlei Werbezusammenhängen, aber die Pose wird auch aufgegriffen und mit anderen Figuren nachgestellt, so beispielsweise mit dem Rotarmisten Budjoni. Auch hier finden sich viele Beispiele von Ulkpostkarten an WG-Mitglieder („Auch du hältst die Küche sauber, Genosse! “) bis hin zu Postern von Telefongesellschaften, die in Little Odessa, New York City, auf Russisch an das Gewissen der Immigranten appellieren: „Hast Du heute schon nach Hause telefoniert? “ Ergänzungen in Bild- und Textform findet man bei Schmidt (1988: 28ff.), der auch auf das hier einsetzbare Lied von Country Joe and the Fish verweist. Nach Woodstock wurde es 1969 die Anti-Nationalhymne der US-Protestbewegung. 5 Die hier vorgestellten Lieder sowie Liedtexte lassen sich leicht im Internet finden, so dass hier auf nähere Angaben verzichtet wird. Jutta Rymarczyk 288 Material 3: Pressefoto „The Raising of the Flag on Iwo Jima“, Joe Rosenthal (ferner: Zusatztext, Fotos, Graphiken, Gemälde) 1945 aufgenommen wurde das Foto zur am häufigsten reproduzierten Aufnahme des Zweiten Weltkriegs und erlangte weltweite Berühmtheit. Die Verwendungen und Bildzitate könnten vielfältiger nicht sein: Titelblattseiten zu Berichten über amerikanische Elitetruppen („Helden sind wieder gefragt“; Stern Nr. 8, 14.2.1980) oder amerikanische Poster, die die Befreiung amerikanischer Geiseln im Iran feiern (Stern Nr. 6, 29.1.1981); das „Iwo-Jima-Memorial“ in Arlington von 1954 anlässlich des 179. Jahrestages des US Marine Corps; Fotos, Graphiken und Gemälde zum 9/ 11 mit der Darstellung der Hilfstruppen 6 ; Werbung und diverse Aufrufe wie den zur Strandsäuberung in Portugal 2008 (vgl. Abb. 3 oben). 7 Material 4: Briefe (Leserbrief und Kienholz’ Antwortschreiben) (ferner: Zusatztexte aus Kunstbänden zu The Portable War Memorial, Fotos von Details des Tableaus) Der Briefwechsel umfasst einen empörten Leserbrief an die Kunstzeitschrift Artforum, wo The Portable War Memorial 1969 vorgestellt worden war. Kienholz, der dem Verfasser des Briefes als guter kalifornischer Künstler bekannt ist und von ihm als „one of the few socially conscious artists in America“ gelobt wird, wird nichtsdestotrotz heftig angeklagt, die Marines auf dem Mount Suribachi mit seinem Tableau beschimpft zu haben („Letter to the Editor“, Artforum 1969). Kienholz’ Antwortschreiben (1969) bezieht nicht nur Stellung, sondern erläutert auch wesentliche Details des Werkes. Diese Details sollten durch zusätzliche Abbildungen vorgestellt werden, da eine einzelne Gesamtaufnahme des großen und komplexen Kunstwerks nicht alle wesentlichen Feinheiten erkennen lässt. 8 6 Vgl. z.B. http: / / images.google.de/ images? q=september+11th&gbv=2&ndsp= 20&svnum=10&hl=de&start=40&sa=N. 7 Weitere Informationen und Abbildungen findet man bei Schmidt (1988: 31ff.), Moreth-Hebel/ Hebel (2007: 39f., 43) sowie Dülffer (2006). 8 Beispielfotos sind zu finden unter http: / / www.artchive.com/ artchive/ k/ kienholz/ war_memorial.jpg sowie unter http: / / nsm.uh.edu/ ~dgraur/ Images/ kienholz.warmemorial.jpg. Friedenserziehung im Englischunterricht 289 Material 5: Erlebnisbericht in Romanform Flags of Our Fathers, James Bradley (mit Ron Powers) Das 562 Seiten starke Buch ist der Bericht eines der Soldaten, die zu der Gruppe gehörten, die die Flagge auf dem Mount Suribachi hissten, allerdings von seinem Sohn geschrieben. Die lebhafte Beschreibung des Geschehens von 1945 (vgl. hierzu das folgende Zitat zu der Eroberung der japanischen Insel) lieferte die Vorlage für Eastwoods gleichnamigen Film: […] Iwo Jima was transformed, for a few moments, into Times Square on New Year’s Eve. Infantrymen cheered, whistled, and waved their helmets. Ships offshore opened up their deep, honking whistles. Here was the symbol of an impossible dream fulfilled. Here was the manifestation of Suribachi’s conquest. Here was the first invader’s flag ever planted in four millennia on the territorial soil of Japan. (Bradley 2006: 311f.) Der Index der Ausgabe erlaubt eine leichte Zusammenstellung einzelner Passagen, die sich auf das Hissen der Flagge oder auch auf die Person der Kate Smith beziehen. Material 6: Spielfilm Flags of Our Fathers, Clint Eastwood (ferner: weitere Spielfilme) 2006 erregte Eastwood Aufsehen mit seinem Filmpaar Flags of Our Fathers und Letters from Iwo Jima. Beide Filme drehen sich um die Eroberung Iwo Jimas, allerdings Flags of Our Fathers aus amerikanischer Perspektive und Letters from Iwo Jima aus japanischer Sicht. Die hauptsächliche Behandlung von Flags of Our Fathers bietet sich insofern an, als dieser Film den direkten Vergleich zu Bradleys Buch erlaubt. Interessant sind Passagen, die die Szene des Flaggehissens neu ins Bild setzen, wie etwa wenn die Figurengruppe als schneeweißes Eis serviert und mit einer blutroten Dessertsauce übergossen wird (Minute 57: 00). Ferner bietet sich der Vergleich zu dem Film Der Außenseiter von 1960 an. Hier steht der junge native American im Zentrum, der nach Verlassen des Reservats nur die Marines kennen gelernt hat und an der Vermarktung der Gruppe als Helden zerbricht. Die Filme können ebenso wie der Erlebnisbericht in Ausschnitten gezeigt werden. Im Sinne Bergalas (fragments mis en rapport) können hier Fragmente in Beziehung gesetzt werden, und zwar Jutta Rymarczyk 290 nicht nur zwischen den Filmen, sondern auch zwischen Film, Buch und Tableau (vgl. Bergala 2006: 82f.). Im Anschluss des Austausches zu allen Materialpaketen in der zweiten Phase der Gruppenarbeit kann letztlich die Beantwortung der Fragensammlung erneut aufgegriffen werden. Je nach Anzahl zufrieden stellend beantworteter Fragen und Interessenslage der Lerngruppe können schließlich einzelne Texte bzw. Medien, die bislang nur ausschnittsweise präsentiert wurden, zur Rezeption in Gänze gewählt werden. 5. Kritisches Resümee Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Vergleich unterschiedlicher Bildversionen mit weitgehend identischem Bildgegenstand verknüpft mit der plurimedialen Ausgestaltung dieser einzelnen kulturellen Repräsentation für die Lernenden wesentliche Vorteile bietet: Sei es mit Bezug auf das Hissen der Flagge, Uncle Sam oder The American Diner, der Bildbzw. Textvergleich führt zu einer vielfältigen ästhetischen Erfahrung, einem leichteren Textverständnis durch die wechselseitigen Bezüge zwischen den Medien mit unterschiedlichen semiotischen Zeichensystemen sowie zu einem Erfahren der Unterschiede in den Wirkungsweisen bildlicher, auditiver und schriftlicher Texte. Ein Kunstwerk in das Zentrum des intermedialen Geflechts zu setzen, erscheint in diesem Kontext dem Lernprozess besonders förderlich. Die Subjektivität des Werks selbst und die seiner Rezeption kann optimal mit den objektivierend wirkenden Zusatzmaterialien in Verbindung gebracht werden. Es wird folglich auf medialer Ebene eine vertiefte idiosynkratische und allgemeingültige visual literacy erreicht. Auf inhaltlicher Ebene gelangen die Lernenden durch die Schulung der Wiedererkennungskompetenz und die Arbeit mit verschiedenen Repräsentationsformen zu einer informierten, tieferen interkulturellen Kompetenz. Zu bewältigen bleibt für Lernende und im Umgang mit Gegenwartskunst ungeübte Fremdsprachenlehrer und -lehrerinnen die Begegnung mit einem Kunstwerk, das zunächst unter Umständen nicht für jeden leicht zugänglich ist. Auch die Fülle der Materialien mit ihrem diversifizierten Angebotscharakter mag eine Herausforderung darstellen. Aber es lohnt sich, sich auf die Herausforderung einzulassen, denn gerade Friedenserziehung Friedenserziehung im Englischunterricht 291 und interkulturelles Lernen profitieren von dem affektiven Potenzial, das der Kunst eigen ist: „Only a tension between extra-aesthetic values of a work and life-values of a collective [das Werk rezipierend, J.R.] enable a work to affect the relation between man and reality, and to affect is the proper task of art.“ (Mukarovsky 1979: 93) Quellen Sekundärtexte Bhaba, H. K. (2004 [1994]). The Location of Culture. London: Routledge. Bergala, Alain (2006). Kino als Kunst: Filmvermittlung in der Schule und anderswo. Bonn: Schüren. Boehm, Gottfried (1994). „Die Wiederkehr der Bilder.“ In: ders. (Hrsg.). Was ist ein Bild? München: Fink, 11-38. Bradley, James (mit Powers, Ron) (2006). Flags of Our Fathers. New York: Bantam. Burmack, Lynell (2008). „Visual Literacy: What you get is what you see.” In: Frey, Nancy & Fisher, Douglas (Hrsg.). 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Computerspiele und allgemeine Pädagogik Jeweils neue Medien, insbesondere die beliebten, lösen im hegemonialen gesellschaftlichen Diskurs Verunsicherung aus, da sie kulturelle Normen und Werte aus der Balance bringen. Heute konsumieren Kinder und Jugendliche Computerspiele als bedeutenden Teil des derzeitigen Medien- und Unterhaltungsangebots. Nutzten beispielsweise laut Daten der KIM- und JIM-Studien des medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (www.mpfs.de) 2002 nur 63% der befragten Jugendlichen täglich oder mehrmals wöchentlich den Computer, waren es 2007 schon 84%. Zwar steht in der Freizeitbeschäftigung mit Medien noch immer das Fernsehen an erster Stelle, aber die Beschäftigung mit dem Computer hat in den letzten Jahren rasant zugenommen. Die Kontroverse ist vorprogrammiert: Man diskutiert über die mögliche Vereinsamung der spielenden Kids, die Gefahren der mimetischen Aneignung gewalttätigen Verhaltens und die damit einhergehende ganz allgemeine Verrohung von Sitten und Anstand. Es steht wieder einmal viel auf dem Spiel. Wie die Pädagogik schlüssig gezeigt hat, folgen auf das kulturpessimistische Ausloten populärkultureller Medien so gut wie immer Phasen der Vereinnahmung und Instrumentalisierung. War das Romanlesen im frühen 19. Jahrhundert noch verpönt, so galt es im späteren Verlauf des Jahrhunderts als probates zivilisatorisches Mittel. Die Lehr- und Lernmethoden der 1970er Jahre waren geprägt vom audiovisuellen Hype und seit den 1990er Jahren gibt es „digital game-based learning“ (vgl. Prenky 2001, Schrammel 2008), didaktisierte Computerspiele als Lernspiele, auch für den Englischunterricht (Mersmann/ Klug 2007), wobei der affektive Geschlechterstereotype in Bildmedien 295 Mehrwert der Spiel-Lernumgebung des neuen Mediums helfen soll, den Lernerfolg zu sichern. 2. Computerspiele, visual literacy und play-based learning Dieser Beitrag beschäftigt sich nicht mit der Diskussion des Für und Wider von Computerspielen. Im Zentrum der Ausführungen steht vielmehr das eher Unsichtbare, die Normen und Wertvorstellungen einer Gesellschaft, wie Geschlechterstereotype und geschlechtsspezifische Rollenerwartungen, die in populärkulturelle Spiele hineinprogrammiert sind und die im Sinne der Förderung von visual literacy sichtbar gemacht werden sollen. Erst durch diese Entfremdung des scheinbar allzu Bekannten eröffnen sich neue, bisher unbekannte Perspektiven. Wir kennen zwar alle Lara Croft und ihre wirklich übertriebenen weiblichen Körperformen, aber subtilere geschlechtsangepasste Verhaltensweisen bleiben häufig verborgen. Wie sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit mit Medien beschäftigen, ist geschlechtsspezifisch unterschiedlich. Allerdings sind diese Unterschiede weit geringer als man denkt. Die Jungen liegen beim Computer zwar noch vor den Mädchen, aber nur mehr mit knapp 6%. Jungen spielen sowohl allein als auch mit anderen mehr Computerspiele, sie dominieren die Konsolenspiele; 32% beschäftigen sich täglich bis mehrmals wöchentlich damit, aber nur 8% der Mädchen (vgl. www.mpfs.de). Harvard Studien (vgl. Kutner/ Olson 2008) haben gezeigt, dass 12bis 14-jährige Mädchen Grand Theft Auto schätzen. Es liegt an zweiter Stelle der Beliebtheitsskala hinter The Sims. Eine Studie (vgl. Feng/ Spence/ Pratt 2007) suggeriert sogar, dass man Mädchen shooter- und action games besonders ans Herz legen sollte, da sich dadurch bestimmte Aspekte ihres räumlichen Vorstellungsvermögens verbessern, die statistisch gesehen bei Jungen besser entwickelt sind. Pädagoginnen und Pädagogen sind gefragt, wenn es darum geht, diese Unterschiede mit Geschlechterstereotypen in Verbindung zu bringen. Wir wundern uns darüber, dass ein Actionspiel wie Grand Theft Auto bei Mädchen so beliebt ist schließlich nur deswegen, weil wir von Geschlechterstereotypen ausgehen. Dass die hilflose Prinzessin in Super Mario Bros. Geschlechterklischees bedient, fällt allgemein auf, viel weniger offensicht- Monika Seidl 296 liche stereotypisierende Unterschiede zwischen Männern und Frauen bleiben allerdings verborgen. Die Beschäftigung mit der Visualität von Computerspielen im fremdsprachlichen Unterricht entspricht dem Lehr- und Lernziel „Seh-Verstehen“ (vgl. Schwerdtfeger 1989) als fünfte Fähig- und Fertigkeit neben den üblichen vier kommunikativen Kompetenzen des Sprechens, Hörverstehens, Schreibens und Leseverstehens. Die Auseinandersetzung mit visuellen Darstellungsmitteln am anregungsstarken Medium Computerspiel hat das nachhaltige Erlernen visueller Darstellungsmuster zum Ziel. Ein kulturwissenschaftlich orientierter Englischunterricht muss Sorge dafür tragen, dass sich im fremdsprachlichen Unterricht ein dem aktuellen Stand der Wissensvermittlung adäquater multimodaler Diskursbegriff etabliert, in dessen Zentrum die Kombination von verschiedenen Codes steht. Leider tendiert schulischer wie auch universitärer Unterricht dazu, vorrangig die mit der linearen Symbolik von Schrift verbundenen Kompetenzen zu fördern. Es gibt beispielsweise anders als im anglophonen Raum kein eigenes Unterrichtsfach Medienbildung und schon gar keine Bildmedienbildung oder visual literacy (vgl. Seidl 2007, Sturken 2001, Rose 2001). Gelernt werden sollte am populärkulturellen Material selbst, an jenen Computerspielen, die den Alltag der Kinder und Jugendlichen bestimmen. Diese Strategie des so genannten play-based learning wird von Sabrina Schrammel (2008: 121) am Beispiel der Computerspiele mittels dreier Eckpunkte beschrieben: a) Exploration der Spielpraxis, b) Erarbeitung von zentralen Themen, die in der Spielpraxis zum Ausdruck kommen, c) Bearbeitung dieser Themen in Hinblick auf Computerspiele/ n und die eigene Lebenswelt. Kinder und Jugendliche sollen zentrale Themen - wie einprogrammierte Geschlechterstereotype - erarbeiten und dabei auf jene Normen und Weltbilder aufmerksam werden, die in ihrer performativen Wirkung identifikatorisches Potential haben und dadurch zum Aushandeln von Subjektpositionen beitragen. In diesem Sinne wird die Spielpraxis zur Erkundung eigen- und fremdkultureller Praktiken genutzt. Geschlechterstereotype in Bildmedien 297 Der vorliegende Artikel stellt eine sehr wirksame Denaturalisierungskampagne vor, die Kindern und Jugendlichen dabei hilft, ihre Augen für Geschlechterstereotypisierungen in Computerspielen, aber auch im alltäglichen Leben zu schärfen. Computerspiele eignen sich daher als Schule des Sehens, die vermittelt, dass man nur sieht, was man weiß und kennt. Diese Themen haben im Fremdsprachenunterricht ihren Platz, da geschlechtssensibler Unterricht für die Identitätsbildung von Bedeutung ist. Computerspiele sind Orte des Sozialen, an denen Machtverhältnisse verhandelt werden. Es zählt mit zu den Aufgaben des fremdsprachlichen Unterrichts, Kinder und Jugendliche auf „Definitionen und Redefinitionen von Unterordnung und Unterdrückung“ (Marchart 2008: 252) aufmerksam zu machen, insbesondere dann, wenn er sich dem Projekt der Cultural Studies verpflichtet fühlt. 3. Geschlecht, Raum und Körper Körperhaltungen wie Sitzen oder Stehen artikulieren Geschlecht, Raum und Körper. Daher sind diese drei Begriffe für die Analyse von tertiären Geschlechterdifferenzierungen, wie Kleidung und Körperhaltung, zentral. Mein Blick darauf folgt der Perspektive der britischen Cultural Studies (vgl. Mecheril 2006, Storey 1997, Turner 1990), die sich seit ihren Anfängen in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren (vgl. Williams 1958) einer kritischen Pädagogik verpflichtet fühlen. Im Folgenden werden in aller Kürze die Begriffe ‚Geschlecht‘, ‚Raum‘ und ‚Körper‘ sowie ‚Artikulation‘ erläutert, um dann im zweiten Teil Funktionsweisen von Avataren, jenen künstlichen, von den echten Spielerinnen und Spielern ausgewählten und von der Software vorgegebenen Computerspielfiguren, mit dem Feminismus bzw. Postfeminismusbegriff des 21. Jahrhunderts in Beziehung zu setzen. Der Prämisse der Cultural Studies folgend bilden kulturelle Artefakte, wie Computerspiele, ab und bestimmen zugleich, was uns eigenkulturell normal erscheint und was als normal zu gelten hat. Bei dieser Fragestellung gilt es den Blick auf die kleinen Praktiken des alltäglichen Lebens, wie die Praktik des Sitzens, zu richten, um in Zeiten der proliferierenden weiblichen Action-Heldinnen - von Lara Croft bis Nariko und Kai - nicht zu verfrüht die Gleichheit der Geschlechter zu beschwören. Claudia Herbst (2005) verweist in diesem Zusammenhang auf das symbiotische Verhältnis Monika Seidl 298 zwischen Spiele- und Militärindustrie. Sie setzt das verstärkte Aufkommen von weiblichen Action-Heldinnen mit der Notwendigkeit in Verbindung, das Verhältnis von Frau und Gewalt zu naturalisieren, da es zumindest im Interesse der US Army ist, die Anzahl der weiblichen Rekrutinnen zu erhöhen. Trotz dieses Buhlens um die aktive Frau wird zu zeigen sein, dass uns viel Ungleiches allzu normal erscheint und wir ungleiche symbolische Zuteilungen wie jene von Platz und Raum manchmal erst auf den zweiten Blick bemerken. Die Artikulation von Geschlecht, Raum und Körper ist im Bildlichen verankert. Innerhalb der Cultural Studies widmen sich die Visual Culture Studies dem Visuellen. Verallgemeinernd ausgedrückt basieren sie auf der kommunikativen Relevanz des Visuellen als bedeutungsstiftende, bedeutungstragende und bedeutungsvermittelnde Instanz und suchen zu ergründen, wie unsere alltäglichen Praktiken des Sehens historisch gewachsen sowie sozial und kulturell bedingt sind. Innerhalb des Paradigmas der Visual Culture folgen nun einige kurze Bemerkungen zu den für unser Thema zentralen Parametern von Geschlecht, Raum und Körper. Zuerst wird ganz knapp der in den Cultural Studies übliche Geschlechtsbegriff erläutert, dann wird ‚Geschlecht‘ mit ‚Raum‘ verbunden, und in einem letzten Schritt werden alle drei Begriffe verbunden oder ‚artikuliert‘, wie es in der Sprache der Cultural Studies heißt. ‚Artikulation‘ (vgl. Slack 1996) meint dabei eine nicht notwendige, aber in bestimmten historischen Kontexten notwendig oder natürlich erscheinende Verbindung von Prinzipien, wie beispielsweise ‚Geschlecht‘, ‚Raum‘ und ‚Körper‘. Es zählt mit zu den vorrangigen Aufgaben der Kulturanalyse, solche scheinbar fixen Gefüge und Ordnungen kritisch zu hinterfragen und insbesondere auf die Kontingenz, die kontextabhängige Zufälligkeit scheinbar starrer Systeme, zu verweisen. Beim Begriff ‚Geschlecht‘ gehen die Cultural Studies von der breit akzeptierten Annahme der Unterscheidung in biologisches und soziales Geschlecht aus, die in der englischen Sprache griffig als ‚sex‘ und ‚gender‘ bezeichnet wird. Für die Cultural Studies und Gender Studies ist vorrangig das soziale Geschlecht im Sinne eines kulturellen Dispositivs von Interesse, und es wird analysiert, was einer Gesellschaft als normal erscheint, wenn sie Versionen von Maskulinität und Femininität zu bestimmen sucht. Die Unterscheidung in ‚sex‘ und ‚gender‘ eröffnet klare Spielräume, denn das soziale Geschlecht unterliegt in seinem historischen und situationsabhängigen Kontingenzen Änderungen. Trotzdem erscheinen uns viele As- Geschlechterstereotype in Bildmedien 299 pekte von Maskulinität und Femininität als natürlich, d.h., wir bemerken sie gar nicht, denn Systeme des Wissens, Texte und Medien wiederholen für uns ständig Bilder und Handlungen, denen Weiblichkeit oder Männlichkeit eingeschrieben ist. Die Cultural Studies spüren diesen kulturellen und sozialen Geschlechterkonstruktionen nach und suchen die Umstände zu problematisieren, in denen sich die als normal erachtete Geschlechtlichkeit entfaltet. Die Aufgabe von Pädagoginnen und Pädagogen besteht nun darin, scheinbar fixe Artikulationen sichtbar und zugleich darauf aufmerksam zu machen, dass diese scheinbar fixen Verbindungen nicht für alle Zeiten notwendig, sondern zufällig und änderbar sind. Hier gilt es ein Bekenntnis dazu abzulegen, dass gesellschaftspolitische und machtpolitische Implikationen auch im Bereich der Fremdsprachendidaktik einen festen Platz haben. Damit soll gleichzeitig verhindert werden, dass Artikulationen zwischen Körper, Raum und Geschlecht einerseits auf gesellschaftliche Bedingtheiten reduziert werden und anderseits durch essentielle Konstanten schon vorgegeben erscheinen (vgl. Slack 1996). Analysen und pädagogische Interventionen suchen daher zu erklären, wie kulturelle Artefakte Bedeutungen und Identifikationsmodelle mobilisieren und damit die soziale Wirklichkeit beeinflussen. Zu diesen vermeintlichen Konstanten zählen Verbindungen von Geschlecht und Raum. Der Begriff des Raumes ist dabei in zweifacher Weise zu lesen: einerseits als Ort, an dem man sich befindet, und andererseits als Platz, den man hat und den man einnimmt. Repräsentationen alltäglicher Verrichtungen wie Kochen, Hausarbeit oder Gartenarbeit aus den 1940er und 50er Jahren zeigen Frauen bevorzugt in Innenräumen und Männer bevorzugt draußen. Diese kontingenten Artikulationen von Geschlecht und Raum wiederholen sich in vielen ähnlichen Darstellungen aus der Zeit und formieren sich in der Sprache der Cultural Studies zu Repräsentationssystemen. Repräsentieren meint hier ‚für etwas stehen‘; Repräsentationen sind daher Konstruktionen, sie sind abhängig von bestimmten Kontexten und unterliegen bestimmten Konventionen. Repräsentationssysteme sind nicht Abbildungen des tatsächlichen Lebens, sind aber genauso wirkmächtig wie soziokulturelle Konventionen, deren Nichthinterfragung ein reibungsloses Funktionieren des sozialen Gefüges, sei es Staat oder Familie ermöglicht. Die Cultural Studies sind an der Frage interessiert, wie Repräsentationssysteme, die beispielsweise der Frau Innenräume und dem Mann Au- Monika Seidl 300 ßenräume zuweisen, zur Identifikation einladende Subjektpositionen konstruieren. Die stetige Wiederholung solcher Systeme naturalisiert und normalisiert und führt zu sozialem Lernen und zu Wissen darüber, was als normal und natürlich gilt und damit das soziale Geschlecht ausmacht. Die diachrone Analyse von Repräsentationsystemen schärft den Blick für kontextuelle Bedingtheiten, wenn offensichtlich wird, dass uns das einst heimliche unheimlich, fremd, ja sogar lächerlich erscheint, wie Frauen, die mit Stöckelschuhen am Herd stehen, wie es in Werbungen der 1940er und 50er Jahre durchaus üblich war. Zu den bereits etablierten Begriffen von Raum und Geschlecht wird nun der Begriff des Körpers dazu genommen. Körper sind wir und haben wir, daher sind Körper Subjekt und Objekt zugleich. Körper sind materiell und unterliegen natürlichen Prozessen wie Wachstum und Verfall. Körperliches Aussehen, körperlicher Zustand und alles, was wir mit dem Körper tun, ist wiederum kulturell geprägt und unterliegt naturalisierten kulturellen Erwartungshaltungen. Es gilt zu zeigen, dass es für Mann und Frau nicht nur ein unterschiedliches und institutionalisiertes Verhältnis zu bestimmten Orten gibt, sondern auch ein unterschiedliches Verhältnis von männlichen und weiblichen Körpern zum Raum, der sie umgibt. Abb. 1: Mr and Mrs Andrews (1748) Im Folgenden sollen exemplarisch mögliche Artikulationen von Geschlecht, Raum und Körper an einem der bekanntesten Gemälde der englischen Malerei untersucht werden, an der Darstellung der Landbesitzer Mr Geschlechterstereotype in Bildmedien 301 and Mrs Robert Andrews (vgl. Abb. 1), das ungefähr 1748 im Auftrag der Dargestellten von Thomas Gainsborough ausgeführt wurde und heute in der National Gallery in London zu besichtigen ist. Das circa 70x120 cm große, querformatige Tafelbild ist in zwei ungefähr gleich große Bereiche gegliedert: Die linke Hälfte wird von der Darstellung des Ehepaars eingenommen, während die rechte Seite ihr Land zeigt. Kontingente Artikulationen zwischen Geschlecht, Raum und Körper sind am Grundbesitzerpaar selbst illustrierbar: Mr Andrews steht, sein Körper nimmt Platz ein, wodurch er Aktionsraum hat und den Eindruck erweckt, er könne jeden Moment weggehen. Mrs Andrews wiederum sitzt sehr starr und aufrecht auf einer ornamentalen Gartenbank, deren geschwungene Lehnen von den Umrisslinien ihres voluminösen Kleides aufgenommen werden. Diese Parallelität von Mrs Andrews zur Bank als etwas Statischem wird durch einen weiteren Bezug der Frau zu etwas Fixem noch verstärkt: Die gerade Linie ihres überaufrechten Oberkörpers spiegelt sich im geraden Stamm des Baumes hinter ihr. Mrs Andrews bekommt damit starken Objektcharakter, sie scheint bewegungsunfähig auf ihrer Bank festgewurzelt zu sein. Ihre Füße stehen eng zusammen, sie trägt für den erdigen Boden völlig ungeeignete Seidenpumps, die es ihr nicht erlauben, sich ähnlich wie Mr Andrews den sie umgebenden Raum gehend zu erobern, was für Frauen aus ihrer Gesellschaftsschicht auch nicht vorgesehen war. Insgesamt nimmt nicht ihr Körper Raum ein, sondern ihr Kleid, das allerdings durch Korsett und voluminösen Rock Bewegung eher behindert als fördert. Während Mr Andrews Kleiderraum und Körperraum sich annähernd entsprechen und ihn dieser bekleidete Körperraum beweglich macht (die Hosen erleichtern beispielsweise das aktive Einnehmen von Raum), wird Mrs Andrews durch ihren Kleiderraum unbeweglich und passiv. Der ganz links im Bild stehende mobile Mr Andrews wird so als mehrfach Besitzender gekennzeichnet, dem nicht nur das ihn umgebende Land, sondern auch die immobile Mrs Andrews gehört. Mrs Andrews ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie die Körpergrenzen durch Kleidung verändert werden können: Ihr Rock erweitert ihren Körper, während zur gleichen Zeit das in das Oberteil eingearbeitete Korsett ihren Körper bedrängt und verengt. Die Veränderung der Körpergrenzen durch Kleidung kann unterschiedliche Zwecke verfolgen, und im Folgenden sollen einige Beispiele aus der Frauenkleidung kurz skizziert werden, die sich in geringfügigen Adaptionen auch in den Kleidungen der weiblichen Ava- Monika Seidl 302 tare in Computerspielen finden. Besonders das fantasy-Genre bietet reiches Anschauungsmaterial für Damen- und Herrenbekleidung: Action-Heldinnen schmücken oft Phantasierüstungen, die eng geschnürte Taillen mit martialischen, weit ausladenden Schultern verbinden. Kleidung und die Art, wie Körpergrenzen durch Kleidung verändert werden, spiegeln ganz deutlich gesellschaftliche Frauen- und Männerrollen. Sowohl Korsett als auch Krinoline beschränken die Mobilität und engen (im Falle des Korsetts) den Körper auch ein. Insbesondere im 19. Jahrhundert konnte damit die klassenspezifische Immobilität der Frau zur Schau getragen werden, da bereits die Kleidung sie für jede Arbeit als ungeeignet darstellt. Ein anderes Frauenbild vermittelt beispielsweise die Mode des Zweiten Weltkriegs, als Frauen starke und gerade Schultern trugen. Ansonsten war die Silhouette der Kostüme meist sehr schmal gehalten, da Rationierungen bei der Menge von für Kleidung zu verwendenden Materialien üblich waren. Die stark gepolsterten Schulterpartien verfolgten symbolische Zwecke, schließlich mussten die Frauen in Kriegszeiten ihren Mann stehen und wurden fern der Front auch in typischen Männerberufen eingesetzt (vgl. de La Haye 1997). In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts vereinigt die britische Modeschöpferin Vivienne Westwood in ihrer Kreation des Power Jacket (vgl. Wilcox 2004: 153), einer aus Harris Tweed gefertigten Kostümjacke mit sehr enger Taille und gepolsterter Schulterwie auch Hüftpartie, traditionell Männliches und Weibliches. In diesem Kleidungsstück erweitert sich in übertriebener Art und Weise der Körper der Trägerin durch Polsterungen sowohl an den Schultern als auch an den Hüften, womit Westwood auf die kontingenten Artikulationen von Geschlecht, Raum und Körper aufmerksam macht. Sie zeigt damit anschaulich, dass die drei Parameter nicht notwendige, sondern zufällige Verbindungen eingehen und damit in der Form der Kleidung Versionen von Männlichkeit und Weiblichkeit für den Körper der Frauen geschaffen werden können. 4. Action chicks und action babes - Untersuchung von Geschlechtsstereotypen anhand von Computerspielen Die nachstehenden Beobachtungen zu Raum, Geschlecht und Körper in Computerspielen gehen von der These aus, dass sich viele stereotype Arti- Geschlechterstereotype in Bildmedien 303 kulationen, im Sinn von zufälligen Verbindungen zwischen Raum, Geschlecht und Körper, fortschreiben. Die Kleidungsstücke vieler harter Kämpferinnen ähneln von der Silhouette stark dem Power Jacket der Vivienne Westwood. In der Schulterpartie sind diese Damen ganz Mann, in der Taille und Hüfte ganz Frau. Der sogenannte second-wave feminism der 1960er bis 80er Jahre scheint seine Schuldigkeit getan zu haben, denn Frauen erscheinen den Männern als ebenbürtig; als rege Kämpferinnen in Guild Wars, Lineage oder World of Warcraft verfügen sie über einen enormen Aktionsradius, und auch die äußeren Merkmale der Kleidung inszenieren sie zugleich als Mann und Frau. Dennoch sind die dargestellten Versionen von Männlichkeit und Weiblichkeit nur bei flüchtiger Betrachtung egalitär, wenn sich männliche wie weibliche Avatare mit gleichem Elan in den Kampf, den es gerade zu gewinnen gilt, werfen. Oberflächlich gesehen scheint es sogar, als gewännen weibliche Kämpferinnen mehr und mehr die Oberhand, was für ein neues Frauenbild fern von althergebrachten patriarchalischen Strukturen spräche. Feministische Analysen (vgl. Gillis 2007) haben jedoch schlüssig dargelegt, dass manche althergebrachten Stereotype resistenter sind, obwohl der erste Blick Konträres zu suggerieren scheint. Hyperfeminine weibliche Kämpferinnen, ‚action chicks‘ oder ‚action babes‘ genannt, haben sich einen festen Platz im action-Genre des frühen 21. Jahrhunderts erobert, wozu im populären Film die Heldinnen aus Miss Congeniality (2000, 2005), Lara Croft: Tomb Raider (2001, 2003) oder Charlie’s Angels (2000, 2003) zählen. Die Literatur (vgl. Stasia 2007) sieht sie als Kinder des Post-Feminismus, der Frauen davon überzeugen will, dass die Forderungen der feministischen Bewegungen der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts schon erfüllt sind und die Gesellschaft längst ein postpatriarchalisches Stadium erreicht hat. Diese neuen Heldinnen des action- Genres stellen stereotype Versionen von Weiblichkeit offen zur Schau, Feminismus ist Lifestyle und heterosexuell erotisierendes Spektakel und kein politisches Anliegen. An den dominanten Geschlechternormen ändert sich dadurch gar nichts: Die action chicks und action babes sind ermächtigt zu kämpfen - und zwar von Charlies Gnaden oder (wie Lara Croft oder Nariko) im Auftrag ihrer toten Väter. Monika Seidl 304 5. Slash Sit - Sitzen in Computerspielen Wie es im nachstehenden Abschnitt zu zeigen gilt, decken sich die Befunde der vorgestellten Beispiele über das Sitzen mit der feministischen Forschung. Kontingente Artikulationen von Geschlecht, Raum und Körper haben sich zu uns natürlich erscheinenden geschlechtsspezifischen Körperstrategien verfestigt, die in die visuelle Gestaltung vieler Computerspiele fix einprogrammiert sind. Auch wenn spektakuläre kämpferische Frauen aktiv im Mittelpunkt des Geschehens stehen, so verstecken sich in Details, wie in der sexualisierenden Kleidung oder eben in der kulturellen Praxis des Sitzens, doch die althergebrachten dominanten Normen, die den Männern mehr Platz und damit Macht geben und sie wie Mr Andrews über den sie umgebenden Raum verfügen lassen. Die folgenden Beispiele beschränken sich auf ‚Sitzen‘ als räumliche Strategie und als kulturelle Praktik, wobei analysiert wird, wer sich wie setzt und dabei wie viel Platz einnimmt. In der Blütezeit des second-wave feminism hat sich Marianne Wex ausführlich mit männlicher und weiblicher Körpersprache auseinandergesetzt und 1977 in der Neuen Gesellschaft für Bildende Künste in Berlin Fotoreihen von etwa 9000 Einzelbildern aus dem alltäglichen Leben gezeigt. Wex wollte den Beweis erbringen, dass weibliche und männliche Körpersprachen als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse zu sehen sind. 1977 schrieb sie im einschlägigen Magazin Emma: „Die Selbstverständlichkeit, mit der die Männer von dem Raum um sich Besitz ergreifen, ist physischer Ausdruck ihrer psychischen und ökonomischen Besatzung“ (Wex 1977: 39). Männliche und weibliche Körperstrategien haben sich seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts verändert, und wenn Wex noch feststellen konnte, dass breitbeiniges Sitzen bei Frauen immer etwas Provozierendes hat und oft stark sexuell konnotiert ist, dann gilt das nicht mehr in dieser Ausschließlichkeit. Dennoch kann auch für das 21. Jahrhundert behauptet werden, dass breitbeiniges Sitzen bei Frauen als markiertes Sitzen zu bezeichnen ist, während breitbeiniges Sitzen bei Männern als neutral und als Norm gilt. Sitzen ist mit ‚Rasten‘ verbunden und daher auch ein Privileg. Seit der Antike gibt es das Sitzen auf dem Thron, wobei sitzende Herrscherinnen und Herrscher ohne bedeutende Unterschiede abgebildet wurden. Eine ähnlich breitbeinige Sitzhaltung findet sich bei Frauen in der christlichen Geschlechterstereotype in Bildmedien 305 Ikonographie, insbesondere sei hier auf das Sujet der Maria mit dem Kind auf dem Thron verwiesen. Hier hat sich eine Beinhaltung etabliert, welche die Breite des Schosses und damit den Ursprung des Kindes betont, wobei zugleich erreicht wird, dass dem zur Schau gestellten Kind viel Platz zugewiesen werden kann. Wie diese Beispiele zeigen, entspricht breitbeiniges Sitzen für Frauen in einigen Bereichen der Norm, bleibt aber auch auf diese Bereiche beschränkt. Die Befunde aus den Computerspielen legen Zeugnis darüber ab, dass sich dort das postfeministische Frauenbild des 21. Jahrhunderts, das sexualisierte Weiblichkeit betont, stark etablieren konnte, während die als überwunden deklamierten patriarchalischen Geschlechterstereotypen den dominanten Rahmen bilden. Körperstrategien sind ganz eindeutig weiblich und männlich definiert und zeigen große Ähnlichkeit zu den Bildreihen von Marianne Wex aus dem alltäglichen Leben der 1970er Jahre. Sitzen ist in den untersuchten Fällen das Ergebnis der Handlungsausführung ‚/ SIT‘, wobei Avatare eine vorprogrammierte Aktion ausführen, die meist nichts mit der Spielmechanik zu tun hat, mit der Ausnahme mancher Spiele, wo Sitzen die Funktion des Kräfted.h. Lebensammelns erfüllt. Die Spielerfiguren setzen sich dann auf Sitzgelegenheiten, so vorhanden, oder auf den Boden. Frauen in martialischen Rüstungen, die ihre Schultern aufs Männlichste erweitern, setzen sich, vom Spiel vorgegeben, mit eng aneinander gepressten Beinen nieder, und wirken durch die Inkohärenz von hypertrophierten Kennzeichnern von Männlichkeit und sittsamem Sitzen lächerlich. Denn die durch die breiten, Körper erweiternden Schultern signalisierte Dominanz wird durch die Submission der Körperhaltung konterkariert (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Screenshot aus Guild Wars Monika Seidl 306 In der Mehrzahl der analysierten Beispiele schreiben sich kontingente Artikulationen von Geschlecht, Raum und Körper fort. Männer sind daran erkennbar, dass sie breitbeinig in den Raum um sich expandieren, während Frauen sich mit eng aneinander gepressten Schenkeln und Knien schmal machen (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Screenshot aus World of Warcraft Ausnahmen bestätigen die Regel: Ähnliche Körperstrategien für Männer und Frauen finden sich beispielsweise in dem sich an Superheldencomics anlehnenden Spiel City of Heroes (2004) oder dem fantasy-Spiel Neverwinter Nights 2 (2006), wo Sitzen ‚Rasten, um Kräfte zu sammeln‘ bedeutet. Die Posen sind für Männer und Frauen gleich, es hat sich breitbeiniges Sitzen durchgesetzt, weiblich konnotiertes Sitzen mit geschlossenen Knien kommt nicht vor, so dass die egalitäre Norm von den etablierten Mustern der Männlichkeit bestimmt wird. Trotz einiger gegenteiligen Befunde kann davon ausgegangen werden, dass die zufälligen Artikulationen von Geschlecht, Raum und Körper sich etwa bei der Darstellung des Sitzens zu machtvollen Praktiken der kulturellen Unterscheidung von Mann und Frau verfestigt haben. Die zahlreichen, Geschlechteregalität suggerierenden Heldinnen im action- Geschlechterstereotype in Bildmedien 307 Genre unterwerfen sich durch die Vorgaben der Programmierung althergebrachten Geschlechterstereotypen, die innerhalb der Visualität, d.h. innerhalb der als normal empfundenen Sehgewohnheiten unserer Kultur, weiterhin wirkmächtig sind. 6. Methoden und Aufgaben für die Unterrichtspraxis Die folgenden Aufgabenbeispiele haben sowohl rezeptive als auch produktive Komponenten und erweitern das visuelle Material um icons von Websites und private Fotos: Beim neuen Blick auf geschlechtsspezifische Stereotype und Codes liegt der Schwerpunkt auf dem Bewusstmachen des Zusammenhangs von Organisation der dargestellten Personen im Bildraum und daraus resultierender Bildwirkung. Die vorgestellten rezeptiven und produktiven Verfahren sichern das neu gewonnene Seh-Verstehen und tragen zugleich zu dessen sprachlicher Bewältigung im Fremdsprachenunterricht bei. Das Beispiel für ein produktives Verfahren ermöglicht eine kreative Verarbeitung der gewonnenen Erkenntnisse in den vorgestellten Texttypen. Die Beispiele für rezeptive Verfahren sollen die Schülerinnen und Schüler an Methoden der Medienrezeption in Verbindung mit Bildern heranführen. Durch die Anwendung der vorgestellten Verfahren wird innerhalb des fremdsprachlichen Unterrichts Englisch eine reflektierende und sensiblere Haltung in Bezug auf die Repräsentation von Geschlechtern gewonnen. Die Beispiele für produktive Verfahren ermöglichen über die visuellen Medien hinausgehende Eigenproduktion und fordern ein hohes Maß an Kreativität. Durch die Kombination beider Verfahren gewinnen die Schülerinnen und Schüler Erfahrungen mit der Produktion und Rezeption von Bildern, wodurch die Kompetenzbereiche visual literacy und media literacy erweitert werden. Rezeptive Verfahren Material 1: - Describe the man and the woman in the picture. (Abb. 4, 5 und 6) Man Woman Dress Posture: arms and hands Posture: legs and feet Monika Seidl 308 Material 2: - Collect pictures of mixed-sex couples from a number of sources such as fine art, magazines, family shots, etc. Do you notice any patterns in postures? Are there any patterns in the ways of sitting? - Conduct some research in public spaces such as the train, the bus or in the park. How do men sit? How do women sit? Who needs how much space? - Does the way we dress have any effect on our body? Do clothes determine our postures? Produktive Verfahren (vgl. auch Sanger 1998) Material 3: - Pick a photograph of your choice (Abb. 7, 8, 9, 10, 11). Look at the picture and interpret what is happening in any way you like. Write at least two accounts of the scene, but before doing so decide what points of view you wish to adopt. - Who are the two people who tell the story? - You can write from several positions: the external point of view, which is detached and without insight; the internal point of view, which sees only what one character sees; the all-seeing, all-knowing omniscient position. - Decide on the personalities of your narrators (e.g. hesitant, confident, boasting, ashamed, ...), and the tone they adopt (e.g. amused, detached, outraged, ironic, arrogant, unpleasant, ...). - Also think of a profession of your narrators, which could then appear through the way he or she speaks, the similes used, the comments made (e.g. sports-person, teacher, lorry-driver, butcher, psychiatrist, politician, ...). - Now relate the scene in the picture, choosing at least two points of view. You can choose to relate a very brief scene (the few minutes before and after the scene depicted) or a longer story, including what happened further back in the past and what happens afterwards. - After having written your stories (accounts), comment briefly on the effects you wanted to achieve, and briefly describe the two characters you have chosen. Geschlechterstereotype in Bildmedien 309 7. Fazit Die hier skizzierte Schule des Sehens soll im Fremdsprachenunterricht dazu beitragen, kulturelle Kompetenz und Medienbildung zu vermitteln und das ganz jenseits gesellschaftlicher Diskussionen, ob populärkulturelle Produkte wie Computerspiele in der Schule überhaupt Gespräch sein dürfen. Ich plädiere dafür, dass Computerspiele Gespräch sein müssen, damit die Kluft zwischen außerschulischen und innerschulischen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen nicht immer größer wird, sondern den Medienerfahrungen von Kindern und Jugendlichen gerecht wird und entspricht. Kritische Reflexion über implizite Geschlechterannahmen müssen Teil jeder Ausbildung sein, sei es nun der Fremdsprachenunterricht oder die Medienkunde, denn nur dann wird eine Generation heranwachsen, der die stereotypen weiblichen Körperstrategien und deren machtpolitische Relevanz auf den ersten Blick ins Auge fallen. Quellen Sekundärtexte De la Haye, Amy (Hrsg.) (1997). The Cutting Edge. 50 Years of British Fashion 1947-1997. London: V&A Publications. Feng, Jing & Spence, Ian & Pratt, Jay (2007). „Playing an Action Video Game Reduces Gender Differences in Spatial Cognition.“ Psychological Science 18/ 10, 850-855. Gillis, Stacey & Howie, Gillian & Munford, Rebecca (Hrsg.) (2004/ 2007). Third Wave Feminism: A Critical Exploration. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Herbst, Claudia (2005). „Shock and Awe: Virtual Females and the Sexing of War.“ Feminist Media Studies 5/ 3, 311-324. Kutner, Lawrence & Olson, Cheryl (2008). 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Cryptic Studios (2004): City of Heroes. - Los Gatos. NCsoft (2003): Lineage II. - Seoul. Ninja Theory (2007): Heavenly Sword. - Cambridge. Obsidian Entertainment (2006): Neverwinter Nights 2. - Santa Ana. Abbildungen Abb. 1: Gainsborough, Thomas: Mr and Mrs Andrews (1748). Im Internet auf: www.nationalgallery.org.uk/ paintings/ thomas-gainsboroughmr-and-mrs-andrews (7.12.2009). Abb. 2: Screenshot aus Guild Wars. Abb. 3: Screenshot aus World of Warcraft. *** Danksagung Eine Reihe von Beispielen haben meine Studierenden und zwei meiner Kolleginnen und Kollegen zusammengetragen. Namentlich möchte ich mich bedanken bei: Barbara Mollay, Julia Pirecki, Elisabeth Schweiger und Thomas Weilguny, sowie Niki Ritt und Randi Gunzenhäuser. Für seine kritische Lektüre danke ich Klaus Puhl. Passagen dieses Artikels finden sich auch in Seidl 2008. 312 B EWEGTE B ILDER IM F REMDSPRACHEN - UNTERRICHT 313 E NGELBERT T HALER Media literacy durch britische sketch comedy: Die Fernsehserie Little Britain im Englischunterricht 1. Britische sketch comedy Sie wird als „humoristisches Heiligtum“ apostrophiert, der Guardian betrachtet die Macher als „Nationaldenkmäler“, der Independent erhebt sie in den Rang von „Kultur-Ikonen“ (Buß 2007: 1): Die BBC Fernseh-Sketch- Show Little Britain, eine Mischung der Begriffe Little England und Great Britain, präsentiert kleine Geschichten des britischen Alltags mit höchst skurrilem Humor (www.bbc.co.uk/ comedy/ littlebritain). Als spezieller Formattypus geht die sketch comedy, d.h. die Aneinanderreihung kurzer Sketche von einer bis zehn Minuten Länge (vignettes, skits, comedy scenes), auf die Traditionen von Vaudeville und Music Hall zurück. Das von Matt Lucas und David Walliams geschriebene, produzierte und gespielte Little Britain wird seit 2003 auf BBC (zunächst BBC 3, dann BBC 1) ausgestrahlt, bislang sind drei Staffeln mit insgesamt 20 Folgen erschienen, jede Folge dauert 30 Minuten und versammelt ca. 15 Sketche über britische Alltags-Exzentrik. Zusammengehalten wird diese lose Ansammlung durch grotesk überzeichnete wiederkehrende Charaktere sowie einen Off-Erzähler, der mit pseudo-wissenschaftlichen Nonsens-Informationen über Großbritannien wie „We’ve had running water for over 10 years and we invented the cat“ die vignettes verbindet. Im österreichischen Fernsehen (ORF 1) und im Schweizer Fernsehen (SF zwei) wird Little Britain im englischen Originalton mit deutschen Untertiteln ausgestrahlt; in Deutschland überträgt lediglich der Spartensender Comedy Central die Serie in einer deutschen Synchronfassung. Die großen Kanäle scheuen sich anscheinend vor einer Übernahme dieser britischen Kultserie. Die in jeder Sendung wiederkehrenden fiktiven Charaktere, die auf der Insel längst ikonischen Status erreicht haben, verkörpern zumeist soziale Randgruppen. Als Markenzeichen verwenden sie routinemäßig bestimmte catchphrases, die inzwischen zum festen Wortschatz vieler Briten gewor- Engelbert Thaler 314 den sind. Da trifft man beispielsweise auf den gestrengen Lehrer eines ehrwürdigen Elite-Internats, der seine Schüler drakonisch zu absoluter Stille diszipliniert, um diese Atmosphäre konzentrierter Gelehrsamkeit stets mit seltsamen Gedankenblitzen zu konterkarieren. Oder man sieht den Rollstuhlfahrer Andy („Yeah, I know! “, „I want that one! “, “Don’t like it! ”), der eigentlich gar keinen Rollstuhl braucht, aber seinen freundlichfürsorgenden Pfleger Lou immer ausgefallenere Wünsche erfüllen lässt („What a kerfuffle! “). Da ist Vicky Pollard, Protoptyp einer englischen chav, einer minderjährigen Leistungs- und Sinnverweigerin aus der working class, die mit ihren Tiraden aus Schimpfwörtern und Gedankenstummeln alle Vertreter des Establishment zum Schweigen bringt („Yeah, but no, but yeah, but no ...“). Man trifft auf Marjorie Dawes, die rücksichtslose Leiterin der Diätgruppe Fat Fighters, die regelmäßig die Teilnehmer der Gruppe beleidigt („She’s fat because she loves the cake! “) und abstruse Ratschläge erteilt. Und da ist natürlich Daffyd Thomas, ein Latexbewehrter Jüngling aus einer walisischen Landgemeinde, der einmal pro Folge sein Recht als einziger Homosexueller des Dorfes einfordert („Homophobe! “). 2. Didaktische Legitimität Angesichts all dieser skurrilen Typen und Situationen stellt sich die Frage, ob man eine solche Serie tatsächlich in das fremdsprachliche Klassenzimmer einbauen sollte. Wer dies bejahen möchte, kann sich auf mehrere Argumente berufen. Die Kürze eines Sketches erlaubt flexible Verwendung, die Staffeln sind auf DVD gut verfügbar, alle sprachlichen Kompetenzen (insbesondere das Hör-Seh-Verstehen) lassen sich trainieren, es handelt sich um authentisches und aktuelles Sprachmaterial für British Studies und Intercultural Learning, die Fülle nationaler und internationaler prestigeträchtiger Ehrungen (3 BAFTAs, Emmy etc.) mag als Indikator für eine gewisse Qualität interpretiert werden, die Serie genießt eine sehr hohe Popularität, und audio-visual literacy kann aufgebaut werden (vgl. auch Thaler 2007a, Thaler 2007b). Für die Anhänger präsentiert Little Britain britischen Humor at its best. Die Satire auf die britische Gesellschaft wird als „genialer Unfug im Geiste von Monty Python“ (www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ 0,1518,478846, 00.html) gefeiert, Sophie Dahl antwortet auf die Frage der ZEIT, was briti- Die Fernsehserie Little Britain im Englischunterricht 315 scher Humor sei: „Schauen Sie sich Little Britain an! “ (www.zeit.de / 2008/ 08/ Sophie-Dahl-08? page=4). Da sieht man dann die ganze Bandbreite des British humour von feinsinnig-skurrilem verbal wit über pralle Situationskomik, deftige non-verbale Komik bis hin zu derben Witzen unter der Gürtellinie. Es mag manch grober Unfug dabei sein, aber meist mit anthropologischem Hintersinn (vgl. auch Snell 2006). Einige Kritiker stören sich allerdings an dieser „Parade der Paradoxien und Perversionen“ (Buß 2007: 1) und können nicht nachvollziehen, dass man mit Crossdressing- und Bad-Taste-Kunst zu Kultur-Ikonen avancieren kann. Man wirft der Serie political incorrectness vor, weil sie Minoritäten wie körperlich Behinderte, Übergewichtige, Homosexuelle und Arme taktlos behandle. Geht man jedoch einen Schritt weiter, erkennt man, dass die Serie eher das verlogene Konzept von political correctness und unsere scheinheiligen Attitüden ins Visier nimmt. Wer seine Figuren in ihrer Absurdität so sorgsam und detailverliebt ausarbeitet, muss sie auch mögen. „Das Dysfunktionale und das Debile - hier wird es mit geradezu wissenschaftlicher Präzision in Szene gesetzt“ (Buß 2007: 1). 3. Media literacy Ein Medienformat wie Little Britain mit seinem hohen kulturkritischen Potential bietet sich als Unterrichtsgrundlage für die Ausbildung von Medienkompetenz an. Obwohl es unterschiedliche Begriffsbestimmungen von media literacy gibt, herrscht doch Einigkeit darüber, dass es ein multidimensionales Konzept ist, das rezeptive und produktive Kompetenzen umfasst. Der p-Dekalog von media literacy (vgl. Abb. 1) versucht, diese Vielschichtigkeit darzustellen, wobei alle Komponenten mit p beginnen (Thaler 2008: 17). Die britische sketch comedy transportiert auditive, visuelle und verbale Zeichen und erlaubt damit das Studium mehrerer medialer Codes (Plurimedialität). Die Lehrkraft kann je nach Klasse, Lernniveau, Zeitbudget und Zielsetzung unterschiedliche Arbeitsschwerpunkte setzen, z.B. Medienarbeit, Sprachpraxis, interkulturelles Lernen (Polyvalenz). Eine lohnende Aufgabenstellung könnte lauten, selbst ein Skript für einen kurzen Sketch zu schreiben, einzuüben, zu spielen und aufzunehmen (Produkt-, Prozess-, Partner- und Projektorientierung). Falls das Video dann noch bei YouTube Engelbert Thaler 316 populär projektorientiert partnerbezogen problemorientiert praxisbezogen prozessbezogen produktbezogen polyvalent plurimedial partizipatorisch Media Literacy oder einer anderen video sharing website hochgeladen wird, wird man zum Teilhaber einer virtuellen Gemeinschaft in Form einer Web 2.0-Applikation (Partizipation). Abb. 1: p-Dekalog von Media Literacy Die Behandlung von Little Britain orientiert sich an der Lebenswelt der Heranwachsenden, die mit TV, DVD und Filmclips auf Handy heranwachsen (Praxisbezug). Dabei müssen die kontroversen Aspekte dieser Sketch- Show durchaus kritisch reflektiert werden (Problemorientierung): Werden hier Minoritäten diskriminiert oder eher unser Politischer-Korrektheits- Opportunismus ad absurdum geführt? Wird Nachahmungs-Verhalten gefördert? Führt die Pointen-Fixierung dieses Medienformats zur Verstärkung einer best of culture? Schließlich sind audiovisuelle Materialien als Unterrichtsmaterial bei den Heranwachsenden im Allgemeinen geschätzt, und die britische Serie verfügt über die eigenen Grenzen hinaus über eine loyale Anhängerschaft (Popularität). Die Fernsehserie Little Britain im Englischunterricht 317 Question 1. Familiarity Have you heard of the sketch comedy called Little Britain? 0 10 20 30 40 50 60 70 Yes No % Reihe1 4. Evaluationen Um das methodisch-didaktische Potential dieser sketch comedy zu erforschen, wurden Untersuchungen auf drei Ebenen durchgeführt: Behandlung der Thematik in Fortbildungsveranstaltungen für Englisch-Lehrende, Integration von Little Britain in Hochschul-Lehrveranstaltungen inklusive Umfragen sowie Action Research mit mehreren Klassenzimmerforschungs-Projekten (siehe 5.). In Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte führte die Präsentation ausgewählter Sketche mit anschließender Diskussion zu sehr kontroversen Stellungnahmen. Die Mehrheit versprach sich eine Bereicherung ihres Unterrichts mit diesem motivierenden AV-Material hinsichtlich Medienkompetenz sowie intra- und interkulturellem Lernen. Es schälte sich auch eine Gruppe begeisterter Anhänger des Monty-Pythonesken Humors heraus. Diesen standen allerdings einige Kolleginnen und Kollegen gegenüber, die den Humor als geschmacklos-derb empfanden und eine Diskriminierung von Minderheiten konstatierten. Die Serie wurde auch in einem Media Literacy-Hauptseminar und einer Vorlesung für Studierende des Lehramts Englisch diskutiert. In letzterer fand ein survey mit vier Fragen unter 157 Studierenden statt, wobei vor den beiden letzten Fragen insgesamt neun Sketche aus der 1. Staffel gezeigt wurden (Ergebnisse vgl. Abb. 2-5). Engelbert Thaler 318 Q 2. Use How often have you watched Little Britain? • Never: 78% • Once: 11% • 2-4 times: 4% • 5-10 times: 3% • More than 10 times: 4% Never Once 2-4 times 5-10 times 10+ times Q 3. Personal evaluation a) Do you like Little Britain? Very much: 9%, Much: 35%, Well, yes: 38%, Not really: 15%, Not at all: 3% b) Which of the episodes do you like most? • Grammar School 44 • Lou & Andy 19 • Prime Minister 18 • Vicky 17 • Emily Howard 15 • Fat Fighters 14 • Restaurant 11 • Daffyd 7 • Opera 4 Much Very much Not really Not at all Well yes Die Fernsehserie Little Britain im Englischunterricht 319 Q 4. TEFL suitability Should Little Britain be used in class? 0 10 20 30 40 50 60 No Yes Maybe Undecided % Reihe1 Abb. 2-5: Umfrage-Ergebnisse zu Little Britain Die Diagramme zeigen, dass 2/ 3 der Befragten noch nichts von der Serie gehört hatten und nur jeder Fünfte sie schon gesehen hatte. Fast die Hälfte mag die Sketch-Show (44%: very much bzw. much), es findet sich allerdings eine stattliche Anzahl, die davon nicht begeistert sind. Besonderen Zuspruch findet der Sketch Grammar School über einen gestrengen Schullehrer, der seine Schüler beim Vorlesen stets unterbricht, selbst aber noch schlechter liest und am Ende ein Video in das AV-Gerät schiebt. Die Hälfte der Befragten befürwortet einen Einsatz von Little Britain im Englischunterricht, immerhin fast ein Drittel lehnt dies aber eindeutig ab. 5. Unterrichtsprojekte Basierend auf den Konzepten von Action Research (z.B. Altrichter/ Posch 1990, Burns 1999, Schocker-von Ditfurth 2001, Wallace 1998) wurden drei ausführlichere Klassenzimmerforschungs-Projekte durchgeführt. Koy (2008) gelangte auf der Suche nach einem inhaltlich und sprachlich unproblematischen Sketch zu Sandra and Ralph: Poor Little Child Actor Ralph Auditions for an Advert (Series One, Episode Four). Darin muss ein kleiner, unbegabter Junge bei einem Casting für einen Werbespot vorsprechen, weil die überehrgeizige Mutter ihre eigenen unerfüllten Sehnsüchte nach Ruhm und Erfolg auf ihr Kind projiziert. In ihrer vierstündigen Engelbert Thaler 320 Sequenz in einer 10. Klasse der Realschule führte Koy zunächst mit Hilfe dreier Materialien zum Thema hin (celebritiy mania, stage parents, casting shows): - Fotos: Standbilder des Sketches und Aufnahmen von TV-Casting- Shows - Zitat: „Where parents do too much for their children, the children will not do much for themselves.“ (Elbert Hubbard) - Text über stage parents, „i.e. people who are so involved in their famous child’s career that the line between caregiver and famehungry parasite becomes blurred“. Danach wurde die Frage diskutiert: How far should parents push their children to do well? Anschließend wurde der Sketch zweimal vorgeführt, das erste Mal mit sound off und anschließender Rekonstruktion des Dialogs mit Hilfe von cut-up dialogue cards, das zweite Mal mit sound on und vertiefender Verständnissicherung. Höhepunkt der Unterrichtssequenz war die Aufgabe: Write a sketch dialogue on the same topic and act it out in front of the class. Your performance will be filmed. Die forschende Lehrerin stellte in ihrer Klasse eine hohe Motivation bei dieser aktuellen Thematik fest, der Sketch wurde gut verstanden, die aufgenommenen und auf CD gebrannten Vorführungen zeigen Spielfreude und ansprechenden fremdsprachlichen Output. Hofmann (2008) behandelte die Themen Intercultural Communicative Competence sowie Political Correctness exemplarisch anhand einer Unterrichtseinheit zu dem Sketch Marjorie Dawes and Fat Fighters (Series One, Episode One), in dem die - selbst übergewichtige - Leiterin einer Diätgruppe Marjorie Dawes ihre mit Gewichtsproblemen kämpfenden Gruppenteilnehmer demütigt und dabei vor allem die indisch-stämmige Mary mit einer ausländerfeindlichen Haltung diskriminiert. Der Clip wurde den Schülerinnen und Schülern einer 9. Hauptschulklasse dreimal vorgeführt. Nach dem ersten Mal wurde die ‚Täterin‘ Marjorie mit Hilfe von Vokabelkarten beschrieben, nach dem zweiten Mal charakterisierten die Lernenden die Gefühlslage des ‚Opfers‘ Mary anhand eines worksheet, nach dem letzten Mal wurde die Problematik tiefer diskutiert. Das abschließend ausgefüllte evaluation sheet zeigte, dass 75% der Schülerinnen und Schüler das Wichtigste des Sketches verstanden hatten, 10% die Stunde gut bewerteten, weil sie etwas dabei lernten (Wortschatz, Die Fernsehserie Little Britain im Englischunterricht 321 Inhalt, Aussage), 70% die Stunde aufgrund der „lustigen Abwechslung“ für gut befanden. Den Fokus auf Interkulturelles Lernen legte auch Renneisen (2008). Sie befragte zunächst 22 praktizierende Lehrerinnen und Lehrer zu ihrer Einstellung gegenüber Little Britain. 60% der Befragten kannten die Serie vorher nicht. Nach der Vorführung befanden lediglich 30% die Serie für „gut“, der Rest bewegte sich zwischen „es geht“ und „nicht gefallen“. Allerdings meinte die Mehrheit, dass die Serie im Unterricht verwendbar sei - jedoch hauptsächlich für das Gymnasium (drei Lehrkräfte votierten auch für die Realschule, niemand für die Hauptschule). Bei der Frage, ob intercultural learning gefördert werden könne, waren sich die meisten Lehrkräfte unschlüssig. In ihrer vierstündigen Unterrichtseinheit spannte Renneisen (2008) den Bogen weiter und präsentierte gleich vier Sketche, die allesamt aus der 1. Episode der 1. Staffel stammen (vgl. Abb. 6). Abb. 6: Sketche in Renneisens Unterrichtssequenz (2008) Um zu möglichst reliablen Ergebnissen zu kommen, setzte Renneisen sechs Fragebögen ein, mit der sie das Erreichen verschiedener Lernziele überprüfen wollte. Was die Motivation betrifft, gefielen die Sketche den meisten Lernenden sehr gut, insbesondere Grammar School und Fat Fighters, am wenigsten Lou and Andy (obwohl dieser Sketch in einer Titel Inhalt Mögliche didaktische Schwerpunkte Kelsey Grammar School: Great Expectations Lehrer lässt Schüler aus Dickens-Roman vorlesen, unterbricht sie ständig, kann selbst nicht richtig lesen Parodie des britischen Schulsystems Lou and Andy: Diving Board Rollstuhlfahrer Andy und Betreuer Lou sind im Schwimmbad, Lou bittet Bademeister um Hilfe, während Andy vom Sprungbrett springt Körperliche Behinderung, Missbrauch des Sozialstaats Marjorie Dawes and Fat Fighters: Broken Scales Leiterin der Diätgruppe verspottet die Teilnehmer Diskriminierung von Übergewichtigen und Immigranten, Parodie auf Weight Watchers Daffyd: Gay Trekkies Night Over Daffyd beklagt sich bei der Bardame, dass er der einzige Schwule des Ortes sei Soziale Stellung von Homosexuellen Engelbert Thaler 322 They have demolished protections against mocking the weak. This programme leads to copycat behaviour in the playground. Discrimination and stereotypes are strengthened through such shows. This is toilet humour in the search for cheap laughs. ……………………………………… ……………………………………… ……………………………………… ……………………………………… Little Britain - Blessing or Curse? BBC-Umfrage zum größten Sketch aller Zeiten gewählt wurde - noch vor Monty Python’s Dead Parrot). Beim Hör-Seh-Verstehen hatten die Lernenden größere Probleme; Unterstützung in Form eingeblendeter Untertitel, wiederholten Vorführens und gezielter Hör-Seh-Aufträge erwiesen sich als unbedingt notwendig. Die Themen und kulturellen Aspekte der einzelnen Sketche wurden weitgehend erfasst. Die Lehrer-Forscherin kommt zu der Schlussfolgerung, „dass sich Little Britain für die untersuchte Klasse als Unterrichtsmedium eignet und es ebenfalls einen Beitrag zum interkulturellen Lernen liefern kann“ (Renneisen 2008: 100). Wer das Für und Wider von Little Britain noch ausführlicher im Unterricht diskutieren möchte, kann sich eines Arbeitsblattes (evtl. als OHP- Folie) mit negativen Aussagen zur Serie bedienen (vgl. Abb. 7). Abb. 7: Worksheet/ Folie zur Problematisierung der Serie 6. Fazit Der anarchisch-skurrile Humor von Little Britain mag nicht jedermanns/ fraus Sache sein. Die kontroverse Thematik, pointierte Charakteri- Die Fernsehserie Little Britain im Englischunterricht 323 sierung und provozierende Darstellung können aber für lebhafte Diskussionen nutzbar gemacht werden. Auch eignet sich die Serie für die Dekonstruktion von political correctness und den Ausbau von media literacy. Bei der an den jeweiligen Jahrgang der Lerner angepassten Auswahl einzelner Sketche ist allerdings pädagogisches Fingerspitzengefühl gefordert. Quellen Primärtexte Little Britain. Die komplette 1. Staffel. 2-Disc-Set. DVD. BBC. Little Britain, DVD: The Complete First Series, 11 October 2004, BBCDVD1494 Little Britain, DVD: The Complete Second Series, 10 October 2005, BBCDVD1675 Little Britain, DVD: The Complete Third Series, 11 September 2006, BBCDVD1919 Little Britain, DVD: Series One, Two & Three, 13 November 2006, BBCDVD2101 Sekundärtexte Altrichter, Herbert & Posch, Peter (1990). Lehrer erforschen ihren Unterricht: Eine Einführung in die Methoden der Aktionsforschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Burns, Anne (1999). Collaborative Action Research for English Language Teachers. Cambridge: Cambridge UP. Buß, Christian (2007). „TV-Comedy Little Britain: Lizenz zur Inkontinenz.“ Im Internet auf: www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ 0,1518,478846,00.html (24.4.2007). Hofmann, Nicholas (2008). Dealing with ICC and Political Correctness via the Sketch Comedy Little Britain. Wissenschaftliche Hausarbeit für die Zulassung zum Staatsexamen. Freiburg: Landesprüfungsamt. Engelbert Thaler 324 Koy, Vanndy (2008). Media in TEFL - Teaching Little Britain. Freiburg: Eigendruck. Renneisen, Anne Maria (2008). Little Britain: Ein geeignetes Medium für den Englischunterricht? Wissenschaftliche Hausarbeit für die Zulassung zum Staatsexamen. Freiburg: Landesprüfungsamt. Schocker-von Dithfurth, Marita (2001). Forschendes Lernen in der fremdsprachlichen Lehrerbildung: Grundlagen, Erfahrungen, Perspektiven. Tübingen: Narr. Snell, Julia (2006). „Schema Theory and the Humour of Little Britain.“ English Today 22, 59-64. Thaler, Engelbert (2007a). „Schulung des Hör-Seh-Verstehens.“ PRAXIS Fremdsprachenunterricht 4, 12-17. Thaler, Engelbert (2007b). „Film-Based Language Learning.“ PRAXIS Fremdsprachenunterricht 1, 9-14. Thaler, Engelbert (2008). „Internet-Videos: Fremdsprachenlernen für die YouTube-Generation.“ PRAXIS Fremdsprachenunterricht 1, 14-18. Wallace, Michael (1998). Action Research for Language Teachers. Cambridge: Cambridge UP. Websites www.bbc.co.uk/ comedy/ littlebritain (1.9.2008). www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ 0,1518,478846,00.html (1.9.2008). www.zeit.de/ 2008/ 08/ Sophie-Dahl-08? page=4 (14.2.2008) Abbildungen Abb. 1: „p-Dekalog von media literacy“ in: Thaler, Engelbert (2008). „Internet-Videos: Fremdsprachenlernen für die YouTube-Generation.“ PRAXIS Fremdsprachenunterricht 1, 17. Abb. 2-5, 7: eigene Daten/ Arbeitsblätter von Engelbert Thaler. Abb. 6: Renneisen, Anne Maria (2008). Little Britain: Ein geeignetes Medium für den Englischunterricht? Wissenschaftliche Hausarbeit für die Zulassung zum Staatsexamen. Freiburg: Landesprüfungsamt. 325 H ELENE D ECKE -C ORNILL „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“: Filmanfänge als Wegbereiter von film literacy 1. Einleitung Filme sind ein Geschenk, auch für das fremdsprachliche Klassenzimmer. Sie können dort einerseits fremdsprachliche Ziele im engeren Sinne verfolgen helfen, also Neugier auf fremde, fremdsprachliche Welten wachrufen; neues Wissen und differenziertere, reichere Vorstellungen über andere und eigene Lebensweisen und Identitäten erzeugen; Einblicke in fremdsprachliche Kommunikationen eröffnen und dabei das Hör- und Sehverstehen als zentrale kommunikative Kompetenzen weiterentwickeln. Sie können andererseits die Schülerinnen und Schüler ermuntern, das Medium selbst in den Blick zu nehmen, ihm genauer auf die Spur zu kommen und sich so mit Filmischem (und weniger mit einzelnen Filmen) zu beschäftigen und ihre Filmliteralität - ein übergeordnetes Ziel von Schule und Unterricht - auch auf diese Weise vorantreiben. Die getroffene Unterscheidung ist dabei nicht trennscharf, sondern weist eher zentrale gegenüber peripheren Akzentuierungsmöglichkeiten der Arbeit mit Filmen im Fremdsprachenunterricht aus. Mit seinem Fokus auf dem Filmanfang rückt der nun folgende Beitrag die mediale Ebene des Films in den Mittelpunkt. Unter drei wechselnden Perspektiven soll gezeigt werden, wie lohnend es ist, diesen Aspekt eines Films zu betrachten. Unter der ersten wird - noch ganz undidaktisch - der Filmanfang als ‚Gegenstand‘ in den Blick genommen; unter der zweiten wird er im Lichte kognitions- und rezeptionstheoretischer Vorstellungen betrachtet; und unter der dritten wird sein unterrichtsmethodisches Potenzial beleuchtet. Der Beitrag schließt mit einer didaktischen Verortung des Filmanfangs im fachübergreifenden Zielkomplex film literacy. Helene Decke-Cornill 326 2. Was ist ein Filmanfang? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Wenn im Kino die Vorfilme gelaufen sind, das Licht verlöscht und der Vorhang sich öffnet, dann markiert dieses Ritual einen Aufbruch. Das Publikum steht erwartungsvoll an einer Schwelle. Die Tür zu einer anderen Welt öffnet sich ihm und es ist eingeladen, vom lebensweltlichen Akteur zum involvierten Voyeur zu wechseln. Diesen Übertritt zu gestalten ist ein anspruchsvolles und riskantes Unterfangen: Die Eröffnung ist eine Gefahrenzone für den Diskurs: das Einsetzen des Sprechens ist ein schwieriger Akt: der Ausgang aus dem Schweigen. In Wirklichkeit gibt es keinen Grund, eher hier als dort zu beginnen, und dieses Gefühl der Unendlichkeit des Sprechens ist, glaube ich, in allen Eröffnungsriten des Sprechens anzutreffen. (Roland Barthes, zit. in Krützen 2006: 127) 2.1 Definitionen Britta Hartmann (2003), Spezialistin für Filmanfänge, definiert den Anfang eines Filmes als „Initialphase des filmischen Diskurses“ und als den Ort, der in die Bedingungen und die Formen des textuell angelegten und vermittelten Erfahrungs- und Erlebensprozesses einübt […]. Der Film setzt Markierungen und Indikatoren, um den Textstatus sowie die Modi der Darstellung und Mitteilung anzuzeigen und die im textuellen Spielraum geltenden Regeln einzuführen. (ebd.: 20) Roger Odin (1980) weist dem Filmbeginn die Aufgabe des Aufbaus der fiktionalen Welt zu. Hier müsse sich die Konstruktion der Diegese vollziehen, mit der die Wirklichkeitsillusion angebahnt wird. Olivier Zobrist (2003) argumentiert ähnlich. Für ihn ist neben dem Entwurf eines Handlungsumfelds wichtig, dass dieses sich mit Figuren füllt. Er versteht unter Filmanfang „die Stufe der Präsenz all jener Elemente, welche notwendig sind, damit die Handlung einsetzen kann“. Den so im Filmanfang erreichten Zustand nennt er „volle Szenerie“: „In der vollen Szenerie sind Ort und Zeit der Geschichte bekannt, verschiedene Figuren, meist schon die Prota- Filmanfänge als Wegbereiter von film literacy 327 gonisten, sind erschienen, und neben den Geräuschen ist auch der erste Dialog zu hören.“ (ebd.: 54) Über die genannten Definitionen hinaus hat der Filmanfang aber natürlich auch eine entscheidende Funktion, nämlich die, dem Film die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuschauerinnen und Zuschauer zu sichern, indem er sie in den Bann schlägt. Wie immer er gestaltet sein mag, der Filmanfang unterscheidet sich von allen späteren Phasen eines Films dadurch, dass er die Initiationsfunktion hat, sich noch nicht auf Innerfilmisches rückbeziehen kann und damit sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption ein Schlüsselproblem aufwirft. Wie gehen Filmemacherinnen und Filmemacher damit um? 2.2 Gestaltungsweisen Ich beginne mit einem Exkurs zur Titelsequenz (opening credits oder credit sequence). Entgegen der Auffassung von Zobrist hat sie, auch wenn dies nicht immer genutzt wird, das Potenzial, die Zuschauerinnen und Zuschauer in den Modus der Filmerzählung einzustimmen. Nur wenige Filme - etwa Citizen Kane (Orson Welles, 1941), Fantasia (Walt Disney, 1940) und West Side Story (Jerome Robbins/ Robert Wise, 1961) - verzichten auf eine Titelsequenz. Bis in die Mitte der 1950er Jahre hatte diese die schlichte Aufgabe, Filmtitel und Mitwirkende aufzuführen. Eine Umfunktionierung und Aufwertung leitete Saul Bass mit seiner Titelsequenz zu The Man with The Golden Arm (Otto Preminger, 1955) ein. Melis Inceer (2007) unterscheidet deshalb zwischen „pre-Saul Bass Era“ und „post-Saul Bass Era“. Bass entdeckte in der Aufgabe der Gestaltung der Titelsequenz die Chance, das Publikum für den Film zu ‚konditionieren‘: My initial thoughts about what a title can do was to set the mood and the prime underlying core of the film’s story, to express the story in some metaphorical way. I saw the title as a way of conditioning the audience, so that when the film actually began, viewers would already have an emotional resonance with it. (Bass 1996, zit. in Evans 2001) Bass schuf u.a. die Titelsequenz von Psycho (1960), die - wie Inceer (2007: 39) herausstellt - im Hinblick auf den Gesamtfilm eine proleptische Wirkung hat: Helene Decke-Cornill 328 Bass’ title for Psycho incorporates the theme of duality and hints at the aggression that surfaces later in the film. In this sequence, names form on the screen from horizontal bars, and then violently split. […] Bernhard Hermann’s score for a string orchestra complements the staccato nature of the title sequence and reflects Norman Bates’ fractured psyche. The piercing sounds used throughout the opening sequence are similar to the sound effects used in the famous shower sequence later in the movie. The lines cutting through the text are also reminiscent of the stabbing action. In this respect the title sequence has great proleptic value […]. Inzwischen ist die Titelsequenz eine eigenständige Kunstform geworden, was sich u.a. an der Existenz von Websites wie Forget the Film, Watch the Titles oder an Sammlungen von Titelsequenzen bei Youtube ablesen lässt. Auch wenn sie Ort, Zeit und Handlung nicht etablieren kann, so kann die credit sequence sehr wohl in Stil, Stimmung und Genre einführen sowie nicht zuletzt die Richtung und Intensität der Gefühle bei der Rezeption steuern, wofür - nicht nur in Psycho - die Musik eine entscheidende Rolle spielt. Wie aber führt ein Film nun in Ort, Zeit und Handlung ein? Wie wird das für die Narration notwendige Vorwissen vermittelt? Drei häufig genutzte Möglichkeiten der Exposition seien hier exemplarisch vorgestellt. (a) Die Filmerzählung beginnt chronologisch mit der Exposition. In den ersten Sequenzen des Films wird das Publikum in die Vorgeschichte, Figurenkonstellation und die Voraussetzungen des nachfolgenden Filmgeschehens, in die „volle Szenerie“ also, eingeführt. Ein Beispiel dafür wäre A Foreign Affair (Billy Wilder, 1948) oder die Einführungssequenz von Groundhog Day (Harold Ramis, 1993), die wegen ihrer Repräsentativität für die einflussreichste Filmästhetik, die des Hollywood-Kinos, weiter unten genauer betrachtet werden soll. (b) Die Filmerzählung beginnt in medias res, d.h. am Anfang steht eine Sequenz, deren Vorgeschichte sich dem Publikum erst allmählich erschließt. Beispiele dafür sind etwa To Be or Not To Be (Ernst Lubitsch, 1942), Rio Bravo (Howard Hawks, 1959) oder Once Upon a Time in the West (Sergio Leone, 1968). Filmanfänge als Wegbereiter von film literacy 329 Eine schwermütige Mundharmonikaweise. Eine heruntergekommene Bahnstation in der staubigen Sonnenglut in the middle of nowhere. Ein zahnloser Bahnwärter. Der weiß nicht, wie ihm geschieht, als plötzlich drei finstere Gesellen in langen Mänteln in den Türöffnungen seines Wärterhäuschens auftauchen und ihn in einen Verschlag sperren. Der Telegraph tickt. Warten. Ein leichter Wind ist zu hören. Eine Fliege hat sich auf dem unrasierten, schweißbedeckten Gesicht eines der Männer niedergelassen. Der versucht geduldig sie wegzupusten. Eine Tür klappert im Wind. Der Mann verscheucht die Fliege, die sich an die Wand flüchtet. Er fängt sie mit dem Lauf seines Revolvers, hält die Hand an die Mündung. Lautes Summen im Inneren des Laufs. Der Zug nähert sich, die drei Männer postieren sich auf dem mit Brettern notdürftig erstellten Bahnsteig. Niemand scheint auszusteigen. Doch als der Zug weiterfährt, steht auf der anderen Seite der Schienen ein Mann. Er fragt nach Frank und will wissen, ob die Männer an ein Pferd für ihn gedacht haben. Man habe nur drei Pferde, ist die höhnische Antwort. „Zwei zu viel“, antwortet der Mann und erschießt die drei Männer wie mit einem Schuss. Solche Anfänge in medias res erreichen nach Zobrist sehr schnell den Zustand der „vollen Szenerie“ und sind sowohl proals auch analeptisch. (c) Die Filmerzählung beginnt mit dem Ende der Geschichte wie z.B. in Stand By Me (Rob Reiner, 1986), Citizen Kane (Orson Welles, 1941) und Sunset Boulevard (Billy Wilder, 1950). In Sunset Boulevard liegt ein Toter bäuchlings im Swimmingpool einer alten Villa, von dessen Boden gefilmt, und kündigt im voice-over an, dass er, der immer von einer Villa mit Pool geträumt habe, nun erzählen werde, „how he came to be in that unfortunate position“. Der autodiegetische Erzähler erzählt hier seine eigene Geschichte, er ist Erzähler und Protagonist in einem. Der Film ist also als Rückblick, als Analepse, konstruiert. 2.3 Ein klassischer Filmanfang: Groundhog Day Michaela Krützen, die sich mit den Erzählweisen des Hollywoodkinos befasst hat, fand in ihnen als Konstante die dreiphasige narrative Grundstruktur einer Reise wieder (vgl. Abb. 1), die Joseph Campbell 1948 in Helene Decke-Cornill 330 seinem Vergleich von Sagen und Mythen der Welt entdeckte (vgl. Krützen 2006: 270, 2005: 83). Abb. 1: Die Reise des Helden (Krützen 2006: 270) Der Filmanfang von Groundhog Day ist typisch für diese Erzähltradition. Die sechsminütige Sequenz liefert eine Exposition, die formal als solche dadurch ausgewiesen ist, dass sie mit der title sequence zusammenfällt: Als nach sechs Minuten Film der Name des Regisseurs auf der Leinwand erscheint, ist damit die Titelsequenz abgeschlossen, die Hauptfiguren sind eingeführt und charakterisiert, der Ton gesetzt. Der Name des Regisseurs markiert gewissermaßen das Ende des Prologs. Das Publikum hat nun alles erfahren, was es wissen muss und ist mit der „vollen Szenerie“ bekannt gemacht. Die Erzählstruktur folgt dem Modell der dreiphasigen Reise: Trennung und Aufbruch, Prüfungen, Ankunft. Die Fahrt nach Punxsutawney wird zu einer Reise des Protagonisten zu sich selbst, zu einer Bildungsreise. Während er an deren Anfang noch, typisch für Hollywood, „ein falsches Ziel“ verfolgt (vgl. Keith Cunningham, zit. in Krützen 2005: 80), wird er in der Folge „unifying“ und „disrupting forces“ ausgesetzt sein, dabei sein Ziel revidieren und schließlich am glücklichen Ende ein „new equilibrium“ und „plenitude“ erreicht haben (Turner 1988: 78). Filmanfänge als Wegbereiter von film literacy 331 3. Filmanfänge im Lichte von Rezeptions- und Kognitionstheorie Nachdem soeben, ganz filmnah, konventionelle Bauformen des Filmanfangs beschrieben wurden, gilt es jetzt, die Perspektive zu wechseln und über die des Publikums, mithin auch die der Schülerinnen und Schüler, nachzudenken. Dazu ist ein Rückgriff auf rezeptions- und kognitionstheoretische Überlegungen hilfreich, die einander in mancher Hinsicht ähneln. Aus diesem Blickwinkel betrachtet stellt der Filmanfang für das Publikum einen „Problemlöseraum“ (Hartmann 1995) dar. Darin ist er mit den ersten Zeilen eines (literarischen) Textes vergleichbar. Terry Eagleton hat in Literary Theory (1983) anhand der ersten beiden Sätzen von John Updikes Couples Formen der Problemlösung in einem solchen Raum beschrieben: The reader makes implicit connections, fills in gaps, draws inferences and tests out hunches; and to do this means drawing on a tacit knowledge of the world in general and of literary conventions in particular. The text itself is really no more than a series of ‘cues’ to the reader, invitations to construct a piece of language into meaning. (ebd.: 76) Dass Menschen in der Lage sind, unvollständige Vorgaben mit Hilfe ihrer Konzepte oder Schemata - hier: vom Wort, vom Satz, vom Schreiben, von der englischen Orthographie - Sinn konstruierend zu ergänzen, hat Steven Pinker (1996) am Beispiel der Verständlichkeit der Zeichenfolge YXX CXN XNDXRSTXND WXRDS WXTHXXT VXWXLS nachgewiesen. Auch der Anfang eines Films tritt den Betrachterinnen und Betrachtern als eine lückenhafte Zeichenfolge gegenüber und involviert sie in einen hochaktiven mentalen Prozess der Hypothesenbildung, -verifizierung und -falsifizierung. Noch steht ihnen dafür kein filminternes Wissen zur Verfügung. Sie sind also in besonderem Maße auf Kontextwissen und auf ihr Weltwissen angewiesen, insbesondere auf ihr metafilmisches, narratologisches Vorwissen, d.h. auf ihre Schemata des filmischen Diskurses: Jeder Film organisiert und startet sein eigenes ‚Lehrprogramm‘ in der Initialphase und ‚legt die Spuren aus‘, die für das Textverständnis notwendig sind. Begreift man die Verarbeitung von Filmen als einen solcherart textuell gesteuerten Lernprozeß, dann ist der Filmanfang der Ort, der die Einübung in die spezifischen Bedingungen des Lernens leistet. Zu Beginn des Textes sind Helene Decke-Cornill 332 folglich Operationen in einem metatextuellen Raum erforderlich: Aktivitäten des Zuschauers, die darauf gerichtet sind, sich die Regeln des textuellen Systems anzueignen. Diese treten im prozessualen Verlauf in den Hintergrund und werden abgelöst durch eine Bewegung innerhalb des Regelsystems. (Hartmann 1995: 8) Der Beginn eines Filmes hat eine „agenda-setting function“, schreibt der Filmtheoretiker David Bordwell (1989: 190). Seymour Chatman (zit. in Hartmann 1995: 2) sieht in ihm vor allem „a structured set of possibilities“ für die Konstruktion von Erwartung und Bedeutung. Bordwell (1989: 189f.) zufolge geht vom Filmanfang ein „primacy effect“ aus. Der Begriff aus der Kognitionswissenschaft bezeichnet das Phänomen, dass wir, wenn wir mit einer Reihe von Eindrücken konfrontiert werden, die ersten mit höherer Wahrscheinlichkeit erinnern als die sich anschließenden. 1 Diese Privilegierung erster Eindrücke wird damit erklärt, dass dem Anfang jene größere emotionale und kognitive Verarbeitungsintensität gewidmet werden muss, von der bereits die Rede war: „Erste Wahrnehmungseindrücke scheinen […] eine Art ‚Filterfunktion‘ auszuüben und die Interpretation der nachfolgenden Informationen entscheidend zu beeinflussen.“ (Hartmann 1995: 3) Der weitere Sinnstiftungsprozess ist danach doppelt abgestützt, denn er kann Retrospektion und Antizipation miteinander verbinden und aneinander abgleichen. Sternberg spricht deshalb vom „bi-directional processing of information“ (zit. in ebd.: 2). Im Verlauf des Leseprozesses wie auch im Verlauf der Filmbetrachtung wird das zunächst weite Spektrum des „structured set of possibilities“ auf ein eingeschränktes, überschaubares Spektrum von Wahrscheinlichkeiten reduziert. Es ist vielleicht deutlich geworden, dass der Filmanfang sowohl gegenstandsnah als auch zuschauernah betrachtet großes didaktisches Potenzial besitzt. Die Auseinandersetzung mit ihm lohnt sich, weil sie Erfahrungen über den Gegenstand und die emotionalen und kognitiven Prozesse, die er auslöst, provoziert. Im Folgenden sollen dazu nun einige unterrichtsmethodische Anregungen gemacht werden. 1 Die letzten sind auch vergleichsweise gut erinnerlich - hier ist die Rede vom recency effect. Filmanfänge als Wegbereiter von film literacy 333 4. Ausgewählte Unterrichtszugänge Unterrichtsmethodisch haben Filmanfänge einen unstrittigen pragmatischen Vorteil gegenüber dem abendfüllenden Spielfilm: ihre Kürze. Sie teilen diesen Vorteil mit Filmauszügen und Kurzfilmen, und er ist nicht gering zu veranschlagen. Denn er erlaubt zum einen die wiederholte Betrachtung eines Stücks Film und zum anderen den Einbezug eines größeren Spektrums von Filmen. Exemplarisch sollen hier einige der sich daraus ergebenden Möglichkeiten aufgezeigt werden. 4.1 Filmnahe Betrachtung eines Filmanfangs Die Möglichkeit der wiederholten Präsentation nimmt dem Film den flüchtigen Charakter und erlaubt das verlangsamte, genaue Studium einer Szene (close viewing) sowie die Rekonstruktion ihrer Bauform. Abb. 2: Question chart for the study of the opening sequence of Trevor Nunn’s film Twelfth Night (1996) Dabei kann die filmspezifische Fachterminologie eingeübt werden. Dafür eignet sich jede kurze, aber in sich geschlossene Anfangssequenz, so z.B. der 100-Sekunden-lange Beginn von Stand By Me. Nachdem diese Sequenz zunächst ein- oder zweimal vorgeführt wurde, kann über die Eindrücke und Erwartungen, die der Filmanfang auslöst, nachgedacht und gesprochen werden (vgl. auch Abb. 2). Danach können sich fünf arbeitsteili- Helene Decke-Cornill 334 ge Gruppen zusammen finden und je eine der folgenden Aufgaben bearbeiten: 1. Camera range and perspective: What do you see? What does the camera frame? Where is it placed? Etc. 2. Camera movement: How does the camera eye move within the space? What does it select? What about speed? Etc. 3. Lighting and colours: How is the scene lit? Where are the shadows? What are the colours? Etc. 4. Sound and music: Close your eyes. What do you hear? Etc. 5. Montage/ editing techniques: In what way are the individual shots linked, both in time and place? Während die arbeitsteiligen Gruppen an ihrer jeweiligen Aufgabe arbeiten, wird immer wieder die Anfangssequenz vorgeführt, gelegentlich auch ohne Ton, so dass die Gruppen intensiv an den Details ihrer Aufgabe arbeiten können. Im nächsten Schritt treten nach Art eines Gruppenpuzzles Expertengruppen mit je mindestens einem Mitglied der fünf arbeitsteiligen Gruppen zusammen. Sie informieren einander über ihre arbeitsteilig gewonnenen Befunde, diskutieren das Zusammenwirken dieser Aspekte und beziehen sie auf ihre ersten Eindrücke. Im Plenum werden dann die Gesamtkomposition der Szene, das Interesse, das sie weckt, und Erwartungen an den weiteren Verlauf des Films besprochen. 4.2 Vergleichende Studien Filmanfänge können auch zu Genrestudien genutzt werden. So können z.B. die Anfänge von Western movies, films noirs oder Komödien zusammengestellt und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Auch lassen sich mit Hilfe von Filmanfängen unterschiedliche Verfilmungen eines Dramas oder Romans auf ihre ähnlichen oder unterschiedlichen Gestaltungen hin untersuchen. In beiden Fällen lohnt sich eine kreative Anschlussaufgabe, also der Entwurf von eigenen Filmanfängen in dem untersuchten Genre oder der Entwurf alternativer Anfänge einer Literaturverfilmung. Filmanfänge als Wegbereiter von film literacy 335 4.3 (Re-)Konstruktion von Vorstellungs- und Verstehensprozessen Wenn man eine Filmvorführung am Ende der Anfangssequenz unterbricht und die Schülerinnen und Schüler dann individuell aufschreiben lässt, was sie als Nächstes erwarten, dann stellen diese Notizen ein interessantes Material für die Rekonstruktion der je eigenen Erlebens- und Verstehensprozesse dar. Die Lernenden können diese Notizen am Ende des Films konsultieren, sie mit dem Film und den Notizen der anderen vergleichen und etwas über ihre Vorstellungen erfahren. Es ist dann interessant, den Filmanfang am Ende noch einmal vorzuführen, um herauszufinden, ob er nun in neuem Licht erscheint. Ein weiterer Zugang, der die Vorstellungskräfte der Schülerinnen und Schüler produktiv ins Spiel bringt, ist das Einspielen von Filmanfang und -ende (oder anderer ausgewählter Szenen aus dem Filmverlauf) und die Spekulation über die Filmerzählung zwischen ihnen. 4.4 Verhandlungen über filmische Gütekriterien Eine Auswahl von Filmen zu einem Thema, z.B. The American South, könnte anhand ihrer Anfänge vorgestellt werden und danach könnten die Lernenden darüber abstimmen, welcher der Filme in die Unterrichtseinheit einbezogen werden soll. Die Begründung für die Auswahl bzw. Ablehnung eines Films macht die Formulierung von Gütekriterien und Vorlieben sowie die Diskussion darüber erforderlich. Darüber hinaus gewährt sie den Schülerinnen und Schülern Einblicke in ihre Geschmacksurteile, Wünsche und Gefühle und in die ihrer Mitschülerinnen und -schüler. Diejenigen, die sich mit ihrem Wunschfilm nicht haben durchsetzen können, können ihn von der Lehrperson ausleihen, privat betrachten und ihre Eindrücke davon ebenfalls in den Unterricht einbringen. Eine weitere, erfolgreich erprobte Möglichkeit ist eine Gruppenarbeit ( „A Scene of their Choice“, vgl. dazu und zu weiteren Vorschlägen Wandel et al. 2007: Kap. 13). Den Lernenden wird ausreichend Vorlaufzeit für die außerschulische Vorbereitung gegeben. Ihre Aufgabe ist es, sich in ihrer Gruppe auf einen Filmanfang zu einigen und ihn der Klasse vorzustellen, indem sie die Szene abspielen, das für die Gruppe Reizvolle daran beschreiben, die Komposition des gewählten Filmanfangs detailliert analysieren und bewerten und sich schließlich den Fragen und Kommentaren ihrer Mitschülerinnen und -schüler stellen. Helene Decke-Cornill 336 5. Die Bedeutung des Filmanfangs für die Ausbildung von film literacy Ich komme zum Abschluss auf die Einleitung zurück und frage: Wie lässt sich das hier angedeutete Potenzial von Filmanfängen in das übergeordnete Ziel der film literacy einordnen? Film literacy lässt sich als Zusammenwirken zweier interagierender Kompetenzen fassen (vgl. Abb. 3), die im Unterricht in ihrer jeweiligen Eigenheit, in ihren Differenzen und in ihrem Zusammenwirken zum Ausdruck gebracht, verhandelt und integriert werden können (vgl. Decke-Cornill/ Luca 2007). Filmerleben subjektivierend ich-nah eintauchend emotionale Rezeption Film als Ausschnitt von Welt: „als ob“ Filmanalyse objektivierend gegenstandsnah reflektierend kognitive Rezeption Film als Konstrukt: „Akt der Verneinung“ Abb. 3: Interagierende Dimensionen von film literacy Es ist besonders die filmanalytische Kompetenz, die von der Arbeit mit Filmanfängen profitiert. Diese Kompetenz ist aber ihrerseits angewiesen auf die Fähigkeit, Filme mit innerer Beteiligung, Angeregtheit und Betroffenheit zu erleben, eben auf die Kompetenz des Filmerlebens. Diese Fähigkeit entwickeln Menschen ganz ohne äußere Belehrung in ihrer außerschulischen Lebenswelt - Winfried Pauleit (2007: 64) bezeichnet das Kino deshalb auch als „immanenten Lehrer“. Das Filmerleben ist ein höchst komplexer Vorgang des Brückenschlags zwischen Rezipient bzw. Rezipientin und Film. Renate Luca (z.B. 2006, vgl. auch Decke-Cornill/ Luca 2007) zieht für seine Erläuterung den von Donald W. Winnicott geprägten Begriff des Übergangsraums heran. Demnach sind Selbst und Außenwelt keine streng geschiedenen Domänen, sondern werden laufend durch Symbolisierungsprozesse miteinander verbunden. Denn Menschen begegnen ihrer Umwelt nicht unvermittelt, sondern beziehen sich aktiv konstruierend auf sie, indem sie einen intermediären Symbolisierungsraum der Deutung und Sinnstiftung erschaffen. Die Umwelt liefert ihnen dafür Entwürfe, Vorstellungen und Bilder für diese Symbolisierungen: „Genauso wie das Verständnis der äußeren Welt ein symbolisches ist, ist auch das Verständnis des eigenen Selbst notwendig symbolisch. So wirkt die äußere Filmanfänge als Wegbereiter von film literacy 337 Welt gleichsam als ein Metaphernvorrat, der in Symbolisierungsprozessen ein Selbstverständnis des Menschen ermöglicht und begleitet.“ (Combe/ Gebhard 2007: 27) Symbolisierungsvorgänge sind dabei entscheidend angetrieben und organisiert von Gefühlen, denn Gefühle sind es, die uns an die Welt binden und die die Richtung unserer Vorstellungen und unseres Denkens vorgeben (vgl. Ulich/ Kapfhammer 1991: 553). Die filmanalytische Kompetenz ist nicht unabhängig von dieser Grundkompetenz des Filmerlebens, sondern darauf angewiesen. Wenn es nämlich unsere Gefühle sind, die unsere Aufmerksamkeit und unsere Kognitionen steuern, so bedeutet das, dass subjektnahes Erleben und objektnahes Analysieren interagieren. Analytische Zugänge können also nie ganz objektiv, wohl aber objektivierend sein. Für den objektivierenden Zugang ist die Haltung der interessierten, prüfenden, fragende Zuwendung an das Objekt und seine Appellstruktur kennzeichnend. In der sich dem Objekt nähernden Hinwendung kommt die Wissbegier auf das Andere, das Gegenüber zum Ausdruck, das uns anspricht, und die Zuversicht, dass es sich lohnt, es in den Blick zu nehmen. Nicht seine Aneignung, sondern seine Fremdheit rücken nun in den Mittelpunkt des Interesses. Es wird befremdlich und erscheint dadurch in neuem Licht. Wir können bei solcher Zuwendung an das Gegenüber, das uns bewegt, erfahren, was an ihm und was an uns ist, das es möglich macht, dass dieses Gegenüber uns anrührt. Während erlebensorientierte Zugänge sich eher dem Erzählfluss des Films anvertrauen und sich der ‚Als-ob‘-Erfahrung in einer willing suspension of disbelief hingeben, operieren analytische Ansätze immer wieder interventionistisch, seziererisch und verfremdend und widerstehen dem Als-ob und der Wirklichkeitssuggestion des Films in einem „Akt der Verneinung“ (Brandt 1999: 106, vgl. Decke-Cornill 2000). Sie widersetzen sich dem Erzählverlauf, dem vorwärtsdrängenden filmischen Erzählduktus und dem Erlebensprozess, nehmen in einem close-reading-Prozess einzelne Aspekte und Momente des Films genau und wiederholt und unter verschiedenen Blickwinkeln und Fragestellungen in Augenschein, stellen Vergleiche an, suchen nach Querverbindungen, lernen Vertrautes, Eingängiges neu und als Teil des fiktionalen Konstrukts sehen. Alain Bergalas (2006: 86) Erfahrung mit Filmfragmenten lässt sich auch auf den Filmanfang als spezifischem Fragment übertragen: Schon immer hat es mich frappiert, wie wirkungsvoll im Filmunterricht Ausschnitte - die Analyse einer Szene, einer Einstellung - sind. In der Pädagogik des Fragments vereinigen sich die Helene Decke-Cornill 338 Vorzüge von Verdichtung und Frische, durch die sich die Bilder dauerhafter und genauer ins Gedächtnis einprägen. Man erlebt ja auch immer wieder Überraschungen, wenn man mitten in einen Film einsteigt, den man schon gesehen hat, ja auswendig kennt: Wie hat mir nur diese Einstellung nicht auffallen können, oder die Merkwürdigkeit jener Geste des Schauspielers, oder das Licht, das ganz anders ist als im übrigen Film? Weil sie im Fluss der in meiner Erinnerung an den ganzen Film bereits angehäuften Bilder gefangen waren, weil sich die Unebenheiten und Eigentümlichkeiten in dieser Gesamtsicht abgeschliffen, verflacht hatten. Löst man dann einen Teil aus dem Erzählfluss und der visuellen Gewöhnung an den Film, macht man ihn von neuem sichtbar. 2 Erst wenn beide, die subjektivierende und objektivierende Interaktion, Raum bekommen, können subjektivierendes Involviertsein und objektivierende Wahrnehmung in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander treten, kann literacy sich entfalten. Eingangs hatte ich zwischen im engeren Sinne fremdsprachenbezogenen und mediumbezogenen Zielen bei der Arbeit mit Filmen unterschieden. Diese strikte Trennung gilt es jetzt zu relativieren. Die erwähnten fremdsprachlichen Ziele der Filmarbeit stehen nicht auf einem ganz anderen Blatt, sondern sind den Zielen von film literacy vergleichbar und eng verbunden. Denn das Oszillieren zwischen Ich-Nähe und Objektnähe, das soeben beschrieben wurde, entspricht in Vielem einer Grundfigur des Fremdsprachenlehrens und -lernens: dem Oszillieren zwischen involvierter Teilhabe und distanzierter Beobachtung, zwischen Aneignung und Befremdung. 2 Die Arbeit mit Ausschnitten spielt auch in anderen Fächern eine Rolle, beispielsweise in der Kunsterziehung, wenn kleine Bildausschnitte aus Gemälden gezeigt werden - das Detail einer Hand, eines Zweigs, eines Krugs, eines Musters - und die Schülerinnen und Schüler diese im Gesamtbild aufsuchen und sich auf diese Weise dem Bild und seinen vielen Facetten mit gesteigerter Konzentration und verweilendem Blick annähern (vgl. d’Harcourt 2004). Filmanfänge als Wegbereiter von film literacy 339 Quellen Sekundärtexte Bergala, Alain (2006). Kino als Kunst: Filmvermittlung an der Schule und anderswo. Marburg: Schüren. Bordwell, David (1989). Making Meaning: Inference and Rhetoric in the Interpretation of Cinema. 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Abb. 3: Interagierende Dimensionen von film literacy. 341 M ARIA E ISENMANN Die Funktion von bewegten Bildern für die Erschließung eines literarischen Textes: Shakespeares Komödie The Taming of the Shrew und die Film-Adaption 10 Things I Hate About You 1. Film literacy im Englischunterricht Filme spielen im gesamten Prozess des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen eine wichtige Rolle. Auch im Englischunterricht werden sie vielfach genutzt und eingesetzt. Zur Bedeutung der Herausbildung von Medienkompetenz durch Filme heißt es im Vorwort zu Susan Stempleskis und Barry Tomalins sehr hilfreicher Handreichung Film wie folgt: We live in a culture dominated by the visual image, and in particular, the moving image. The written word has, to a large extent, ceded its pre-eminence to visual representations of the world which in turn has created the need for us to make sense of this visual rhetoric. Moving pictures have a grammar and discourse all their own which we need to decode if we are to understand the meanings that they contain. (Alan Maley in Stempleski/ Tomalin 2001: IX) Mittlerweile ist allgemein bekannt und anerkannt, wie unerlässlich und wichtig es ist, in einer Zeit wachsender Bedeutung und Wirkung der Medien aktive Medienarbeit und Medienerziehung in der Schule zu unterstützen und diese selbst zum Gegenstand des Unterrichts zu machen. Zum einen ist die Erziehung der Lernenden zu Medienkompetenz (media literacy) eines der Hauptanliegen des modernen Englischunterrichts, zum anderen werden Medien im Fremdsprachenunterricht vor allem als Hilfsmittel eingesetzt, um die Sprache durch native speakers möglichst authentisch vermitteln zu können. Maria Eisenmann 342 Ein wesentlicher Einflussfaktor auf den Unterricht ist die veränderte mediale Erfahrung der jüngeren Lernergeneration, der in gebührendem Maße Rechnung zu tragen ist. Dabei ist es ein großer Vorteil bei der Beschäftigung mit Filmen im Unterricht, dass dieses Medium seitens der Schülerinnen und Schüler im Alltag sehr häufig verwendet wird, d.h. man kann die Lernenden verschiedenster Altersstufen genau an diesem Punkt abholen, z.B. mit Filmen, die ihrer Lebenswirklichkeit entsprechen und die zu einer aktiven Auseinandersetzung mit ihnen oft nahe stehenden Themen motivieren (vgl. Grimm 2007: 5). Ein weiteres wichtiges Argument für den Einsatz von Filmen besteht in der Ausweitung des Literaturbegriffs auf mediale Literatur, d.h. der heutige Englischunterricht sollte sich nicht nur auf Printmedien beschränken, sondern technische Medien mit einbeziehen, denn lange Zeit wurden im Unterricht audiovisuelle Texte als Hilfsmittel, nicht jedoch als selbständige Texte verstanden (vgl. Krämer 2006: 107). Dazu gehören in erster Linie Literaturverfilmungen, die neben der Entwicklung und Förderung der Kompetenzen im Umgang mit Medien zudem einen altersgemäßen Zugang zu den einzelnen Stücken schaffen können. Dabei sollte es jedoch nicht beim Anschauen des Films als Belohnung nach anstrengender Lektüre bleiben, sondern es sollte bewusst die analytische Auseinandersetzung mit den bewegten Bildern erfolgen (vgl. Petersohn/ Volkmann 2007: 169). Da die Erziehung zu Medienkompetenz, wozu auch die Filmanalyse zu rechnen ist, in nahezu allen Lehrplänen der Bundesländer gefordert wird, drängt sich der Einsatz von Verfilmungen im Englischunterricht geradezu auf. Um den Blick der Lernenden sowohl für den Originaltext als auch für unterschiedliche Interpretationsansätze auszubilden und zu entfalten, bietet sich aus didaktischer Sicht entweder die vergleichende Analyse verschiedener Filmversionen an (mit der Fokussierung thematischer Schwerpunkte) oder eben die Verwendung von Adaptionen (vgl. Hombitzer 1986: 1010; Volkmann 1997: 32). Gerade beim Vergleich verschiedener Versionen können die Lernenden für die unterschiedlichen Zielgruppen der einzelnen Regisseure sensibilisiert werden und dadurch ihre Medienkompetenz erweitern. Verfilmungen literarischer Werke sind zweifellos immer auch Interpretationen und Stellungnahmen zu den Originaltexten. Selbst wenn von allen Seiten der mächtige Einfluss der visuellen Medien immer wieder kritisiert wird, so ist es doch eine große Chance, dass die Behandlung eines Films im Unterricht die Neugier der Schülerinnen und Schüler weckt und Die Funktion von bewegten Bildern für die Texterschließung 343 sie nicht nur zurück zum Originaltext führen kann, sondern auch durchaus imstande ist, fruchtbare Diskussionen zum Vergleich zwischen Text und Film anzuregen (vgl. Müller 2006: 33): Buch und Film sind eng verwandte Medien, die sich gegenseitig beeinflussen. Unter diesen Voraussetzungen kann Film als audiovisueller Text verstanden werden, der aus Kombinationen von Zeichen gebildete Sinneinheiten vermittelt. Da aber der geschriebene Text in der Regel die Vorlage für eine Verfilmung liefert, ist der Film weitaus stärker vom Text abhängig als umgekehrt und dient somit als Vermittlungs- und Transformationsmedium, das den Lernenden Zugang zu traditioneller und auch moderner Literatur öffnet. Aber was genau sind die Lernziele, die wir mit dem Einsatz von bewegten Bildern erreichen wollen? Berücksichtigt man die Fachliteratur der letzten Jahre, so werden die folgenden Argumente, die für einen Einsatz audiovisueller Medien sprechen, immer wieder angeführt (vgl. Stempleski/ Tomalin 2001: 1; Blell/ Lütge 2004: 404f.; Nünning/ Surkamp 2006: 275; Thaler 2007: 10): vielseitige Einsatzmöglichkeiten - Motivationselement: Symbiose von Bildung und Unterhaltung - Wahrnehmungskompetenz (Hör-Seh-Verstehen) - Zugang zu den Lernenden auf visueller und auditiver Ebene - Film spricht unterschiedliche Lerntypen an interkulturelles Lernen: Einblick in verschiedene Lebenswelten und Zeiten intertextuell-literarische Kompetenz: tieferes Erfassen der literarischen Vorlage - Authentizität: authentisches Material durch native speakers - Kommunikationsanlass: Förderung der kommunikativen Kompetenz filmästhetische und filmkritische Kompetenz: Bewusstsein für manipulative Effekte und rezeptions- und sympathielenkende Wirkung Maria Eisenmann 344 2. Shakespeare-Verfilmungen im Englischunterricht Im Sinne einer zeitgemäßen schülerorientierten Form des Shakespeare- Unterrichts bietet es sich an, audiovisuelle Medien wie Filmsequenzen u.ä. im Literaturunterricht einzusetzen, denn die Popularität Shakespeares in unserer Zeit ist ja auch auf unzählige Verfilmungen, moderne Adaptionen und gerade auch Transformationen in verschiedene andere Medien und Genres zurückzuführen. Die Geschichte der Shakespeare-Adaptionen durch den Film ist fast genauso alt wie das Medium Film selbst und in keinem anderen Bereich der Literaturvermittlung spielen die Filmversionen der Primärtexte eine so prägende Rolle wie im Falle Shakespeares. Dieser enorme Einfluss zeigt sich alleine daran, dass nahezu in jedem Jahr neue Adaptionen produziert werden, die sich entweder direkt mit einem der Stücke auseinandersetzen oder eben indirekt Facetten des Shakespeareschen Werkes reflektieren, u.a. in durchaus populären Genres wie dem High School-Film bzw. der Teenager-Komödie wie z.B. 10 Things I Hate About You (Gil Junger 1999). Neben den Verfilmungen zu den bekanntesten Klassikern wie etwa Hamlet, Othello, Macbeth oder Romeo and Juliet gibt es viele Adaptionen auch weniger häufig gespielter bzw. rezipierter Stücke wie z.B. Peter Greenaways Prospero’s Books (The Tempest) (1991). Durch Verfilmungen wie z.B. Baz Luhrmanns Romeo and Juliet (1996), Kenneth Branaghs Much Ado About Nothing (1993) oder auch Shakespeare in Love (John Madden 1998) ist Shakespeares Popularisierung und das Interesse an seinen Figuren gerade unter Jugendlichen erheblich gestiegen, worin eine große Chance für den Englischunterricht liegt (vgl. Petersohn/ Volkmann 2007: 169f.). Gerade auch für die Motivation der Lernenden kann die Nutzung bewegter Bilder sehr förderlich sein. Umfragen, die Isolde Schmidt im Rahmen ihrer Dissertation durchgeführt hat, haben ergeben, dass Lernende den Einsatz von Filmen im Shakespeare-Unterricht als besonders hilfreich erachten (vgl. Schmidt 2004: 162f.). Durch die Verknüpfung von Text und Bild, in diesem Fall die Verknüpfung von Text und Film, kann im Idealfall - wie es Norbert Lennartz (2006: 90) bezeichnet - aus dem „Tremendum Shakespeare ein lebendiges Diskussionsforum werden, das durch die vielgestaltige mediale Vermittlung das kontinuierliche Ineinandergreifen kontroverser Interpretationen darstellt.“ Änderungen am Originaltext als Ausgangspunkt lassen sich zudem nutzen, um mit den Lernenden „das Konzept der Werktreue handlungsorien- Die Funktion von bewegten Bildern für die Texterschließung 345 tiert zu hinterfragen“ (Tönnies 2006: 210). Man könnte z.B. fragen, ob eine Verlagerung des Geschehens in die Gegenwart bzw. im Falle von 10 Things I Hate About You an eine amerikanische High School im Widerspruch zum eigentlichen Shakespeare-Text steht oder ob sich das Stück dadurch heutigen Rezipienten eher erschließt. Durch solche Diskussionen und Experimente mit dem Text können zum einen Shakespeares Dramen lebendiger werden, zum anderen können die Schülerinnen und Schüler ihre Scheu vor dem großen, sakrosankten Autor verlieren. Klar ist, dass sich die Filme der 1990er Jahre bzw. die fin-de-siècle- Filme, wie sie auch oft bezeichnet werden (vgl. Helbig 2004: 172), sehr deutlich von früheren Shakespeare-Adaptionen unterscheiden. Sie liefern nicht einfach nur einen Ersatz für eine Bühnenaufführung, was früher oft die Intention war, sondern sie transferieren Shakespeare sozusagen in ein neues künstlerisches Medium mit eigener Semantik und eigener Geschichte. Oder, wie es Jörg Helbig (2004: 172) ausdrückt: „the recent Shakespeare films turn away from stage traditions and self-consciously establish themselves as an art form in its own right“, d.h. man bewegt sich weg von der typischen Theatersprache (theatre code) hin zur Filmsprache (film code). 3. Shakespeare vor der Oberstufe? Nun stellt sich immer wieder die Frage, wann man sich in der Schule mit Shakespeare beschäftigen sollte. Behandelt wird er meist in der gymnasialen Oberstufe, aber laut Roland Petersohn und Laurenz Volkmann muss und sollte Shakespeare nicht alleine den Schülerinnen und Schülern der Oberstufe vorbehalten sein. Alterstufengemäße Formen des „spielerischen Hinführens“ (Petersohn/ Volkmann 2007: 162) zum kulturellen Erbe des Autors können evtl. sogar schon in der Unterstufe, spätestens jedoch in der Mittelstufe eingesetzt werden. Auch Susanne Schroeder-Thürauf schlägt in ihrem Aufsatz „Shakespeare vor der Oberstufe“ (2006) den Umgang mit Shakespeare-Texten in der Mittelstufe vor, um „über die Jahre ein schillerndes [Shakespeare-]Kaleidoskop in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler“ (ebd.: 199) zu vermitteln. Dabei gewinnen die Lernenden auf spielerische Art und Weise einen ersten Einblick in die Themen, Inhalte und sprachliche Darstellung des Autors. Maria Eisenmann 346 Gerade wenn man die Themen in Shakespeares Werk näher betrachtet, finden sich dort viele durchaus jugendnahe Bezüge und Inhalte, die auch für jugendliche Lerner bereits in der Mittelstufe interessant sein können, z.B. neben Freundschaft und Liebe auch Mord, Krieg, Tod, Verantwortung, Verrat und Intrigen. Gerade Heranwachsende in der Mittelstufe beginnen, sich zum ersten Mal bewusst mit derartig grundsätzlichen menschlichen Fragen, Problemen und Abgründen auseinanderzusetzen. Die dramatisch dargestellten Grenzsituationen liefern somit aktuelles und fruchtbares Unterrichtsmaterial und viele Diskussionsanlässe. Was nun die Verfilmungen betrifft, bietet es sich gerade vor der Oberstufe an, den Zugang zu Shakespeare eher unkonventionell anzugehen. Statt einer sehr textnahen Verfilmung können z.B. Filme gewählt werden, bei denen Stücke oder Auszüge eines Shakespeare-Dramas zu tragenden Elementen wurden, die aber in eine andere Zeit und/ oder an einen anderen Ort versetzt wurden und daher für den jugendlichen Rezipienten besonders interessant sind. Dies ist u.a. bei dem Film 10 Things I Hate About You der Fall, der zwar auf Shakespeares Komödie The Taming of the Shrew basiert und vor allem im Hinblick auf die Handlung und die Namensgebung der Charaktere viele Bezüge zum Original aufweist, der sich aber thematisch zudem noch mit typischen Problemen Heranwachsender auseinandersetzt, wie Schulleben, Sexualität, Beziehung zwischen Mann und Frau, Gruppendynamik, Generationskonflikte etc. Diese Konfliktsituationen bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für den Unterricht und lassen sich auf das Leben der Jugendlichen in der heutigen Zeit übertragen. Die für Heranwachsende sehr ansprechende Darstellung (vgl. Abb. 1) fördert nicht nur die Akzeptanz des Unterrichtsgegenstands Shakespeare, sondern auch die intrinsische Motivation hinsichtlich der Dramenarbeit auch schon vor der Oberstufe. Abb. 1: 10 Things I Hate About You-Poster Die Funktion von bewegten Bildern für die Texterschließung 347 4. Aspekte der Filmanalyse von 10 Things I Hate About You Betrachtet man das Medium Film als semiotisches System, das sich aus zahlreichen einzelnen Codes zusammensetzt, so ergibt sich ein Gesamtkunstwerk, das aus einem Zusammenspiel von Inhalt, Technik und Wirkung besteht (vgl. Kamp 2006: 120). Ein Film ist folglich ein Zeichensystem, das dem Betrachter durch die technische Kommunikationsinstanz der Kamera vermittelt wird. Der Zuschauer wird durch die Kameraeinstellung beim Film gelenkt, indem er jede Szene aus der Sicht des Regisseurs sieht. Gleichzeitig liefern die bewegten Bilder eine synchrone, nicht lineare Flut an Nachrichten, die beim Betrachten simultan verarbeitet wird. Die Bildlichkeit eines Films besteht im Wesentlichen aus den folgenden Kriterien (vgl. Fielitz 2006: 58f.; Nünning/ Surkamp 2006: 253ff.): - Figuren/ Schauspieler (Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Größe etc.) sprachlich-linguistische Zeichen (amerikanischer/ britischer Akzent, Dialekt etc.) paralinguistische Zeichen (non-verbale Komponenten wie Gestik, Mimik, Körpersprache) - Schauplätze - Requisiten - Kostüme und Maske - Farbgestaltung - Beleuchtung - Kameraperspektive - Kamerabewegung - Verhältnis von Bild und Ton Vergleicht man im Unterricht den Printtext oder Ausschnitte daraus mit einer Filmversion hinsichtlich seiner Umsetzung, so werden in der Regel die zentralen filmanalytischen Kategorien wie Bildinszenierung (mise en scène), Montage, Ton und Narrativik berücksichtigt (vgl. Kamp 2006: 120). Diese filmanalytischen Parameter gilt es im Unterricht zu vermitteln. Die dramatische Textgrundlage basiert auf dem System geschriebener/ gesprochener Sprache, also auf einer linearen Syntax. Handelt es sich um bewegte Bilder, so muss die Film-Syntax sowohl die Entwicklung des Maria Eisenmann 348 Raumes (mise en scène) als auch der Zeit (Montage) mit einschließen. Die Codes der mise en scène und der Montage sind Organisationsprinzipien, mit denen Filmemacher unser Lesen der Einstellungen verändern und modifizieren. Beide Prinzipien dienen dem Film, um eine psychologische Realität zu schaffen, die die physische Realität überschreitet. Der dabei entstehende Film ist mehr als die Summe seiner Teile. Wie die Elemente der Bildkomposition für die Organisation der Wahrnehmung wirksam sind und Bedeutung aufbauen, muss bei der Diskussion des jeweiligen Filmausschnitts unter Einbeziehung des Inhalts analysiert werden. Mit Hilfe dieser Kategorie sollte im Unterricht auf die häufig komplizierte Codierung eines Bildes aufmerksam gemacht werden, die durch die Fixierung der Schülerinnen und Schüler auf die Handlung oft nicht bemerkt wird, aber dennoch wirkungsrelevant ist. Eine Schulung des Sehens ist notwendig, um die Bildkomposition und die dabei benutzten Codes entschlüsseln zu können. Zu diesen filmischen Codes gehören Elemente wie Perspektive, Bildausschnitte, Achsverhältnisse, Kameraführung, Beleuchtung, Farben etc. Während den Bühnenanweisungen im Drama The Taming of the Shrew kaum mehr zu entnehmen ist als lediglich die Auftritte der Figuren und der Leser nur sehr knappe Hinweise zum Ort des Geschehens bekommt (z.B. „Padua, a public place” I, i), muss sich der Film für ein setting entscheiden. In 10 Things I Hate About You, das in allen Facetten in die heutige Zeit übertragen worden ist, kann man einen ständigen Wechsel von Innen- und Außenräumen beobachten. Der Film spielt im Großen und Ganzen an zwei Schauplätzen - an der Padua High School (z.B. im Pausenhof, am Sportplatz, im Klassenzimmer oder in der Bibliothek) und im privaten Umfeld von Kat (auf der Straße, in ihrem Wohnviertel oder im Haus der Stratfords). All diese Schauplätze und die Akteure in diesem Raum entsprechen dem modernen Schul- und Alltagsleben amerikanischer Teenager Ende des 20. Jahrhunderts. Die Montage, eines der wichtigsten erzählerischen Mittel des Films, prägt in erster Linie seinen Rhythmus. Im handwerklichen Sinne versteht man unter Montage das Zusammenfügen von Bild- und Tonelementen, im erzählerischen Sinne das Zusammenfügen von einzelnen Einstellungen zu einer Szene und diese zum gesamten Film. So ist es entscheidend, wie lange eine einzelne Einstellung zu sehen ist bzw. wie schnell und/ oder oft die Perspektiven und damit im Film wahrzunehmende Bilder wechseln. Dies kann man gut an einer der ersten Szenen sehen, als Michael Cameron Die Funktion von bewegten Bildern für die Texterschließung 349 in die verschiedenen sozialen Schichten der Padua High School einweiht. Im Blickwinkel der Kamera stehen immer die beiden Figuren, die der Zuschauer auf ihrem Weg begleitet. Die jeweils vorgestellten Gruppen wie the coffee addicts, the white rastas oder future MBAs ziehen wie ein Hintergrund im Bild vorbei, bis zu einem Szenenschnitt, der die plötzlich auftauchende Bianca zeigt, die sich schon aufgrund ihrer sehr hellen Kleidung von der Masse der anderen Schülerinnen und Schüler abhebt. Die Wucht ihres Auftritts wird durch die Zeitlupen-Technik (slow motion) unterstützt, was ihre Bewegungen weich und sehr attraktiv erscheinen lässt. Nicht zu unterschätzen ist gerade bei dieser Szene der Ton - eine weitere zentrale Kategorie für die Filmanalyse. Hört man bei Camerons Rundgang über das Schulgelände nur eine leichte Hintergrundmusik, so tritt diese mit Biancas Erscheinen in den Vordergrund um ihren für Cameron und auch für den Zuschauer überwältigenden Auftritt zu unterstreichen. Im Gegensatz zum dramatischen Text wird das Genre Film der Narrativik zugeordnet. Dabei übernimmt die Kamera, die ja die Perspektive und Schwerpunkte setzt, die Erzählerrolle, d.h. jeder Film fügt einer dramatischen Vorlage einen narrativen Aspekt hinzu: Der Betrachter eines Films wie der Leser eines narrativen Textes wird nicht, wie im Drama, mit dem Dargestellten unmittelbar konfrontiert, sondern über eine perspektivierende, selektierende, akzentuierende und gliedernde Vermittlungsinstanz - die Kamera bzw. den Erzähler. (Pfister 2001: 48) Der Film ist demnach eine Form, in der sich Strukturelemente dramatischer und narrativer Texte überlappen. Der Bezug zum Drama wird durch „seine Plurimedialität und die Kollektivität seiner Produktion und Rezeption“ (ebd.) hergestellt, während „die Besetzung des vermittelnden Kommunikationssystems den Bezug zu narrativen Texten darstellt“ (ebd.). Im Falle von 10 Things I Hate About You liegt ein konventioneller Film vor, der sich nur an wenigen Stellen der Shakespeareschen Sprache des Originals bedient. Gerade dadurch kann über das narrative Element des Films eine Identifikation mit den Figuren und eine Emotionalisierung des Zuschauers erfolgen. Maria Eisenmann 350 5. The Taming of the Shrew - 10 Things I Hate About You: Vergleichsmomente Wie zu vielen anderen Shakespeare-Texten existieren auch zu der Komödie The Taming of the Shrew neben unzähligen Bühnenversionen und filmischen Repräsentationen einige Adaptionen - die berühmteste ist zweifellos das Musical Kiss Me, Kate von 1948. Als bekannteste Verfilmung des 20. Jahrhunderts gilt die von Franco Zeffirelli von 1967 mit Elizabeth Taylor und Richard Burton in den Hauptrollen. Im Folgenden wird nun ein direkter Vergleich zwischen dem Drama The Taming of the Shrew und der Film-Adaption 10 Things I Hate About You - mit Julia Stiles und Heath Ledger in den Hauptrollen - angestellt. Dabei soll aufgezeigt werden, inwiefern der Film auf innovative Weise für die Interpretation von Shakespeares The Taming of the Shrew gewinnbringend im Unterricht eingesetzt werden kann und wie sich diese Adaption als Hilfsmittel zur Erschließung neuer Interpretationen nutzen lässt, was nicht zwingend bedeutet, dass das gesamte Drama gelesen werden muss. Gil Jungers Filmkomödie 10 Things I Hate About You zeigt die gesamte Grundkonstellation von The Taming of the Shrew auf und projiziert die Thematik auf die heutige Zeit. Dabei werden insbesondere die Figuren und die Handlung in das Jahr 1999 transferiert. Der Film, der sich in groben Zügen auf das Drama bezieht, liefert sehr viele Parallelen und auch verstreute Hinweise, die mit dem Originaltext in enger Verbindung stehen. Aus Bianca und der widerspenstigen Katharina werden im Film Bianca und Kat Stratford - ein Bezug zu Shakespeares Geburtsort. Shakespeares Stück spielt in der italienischen Stadt Padua, die Schule in der Filmadaption heißt Padua High School. Während Petruchio im Drama aus Verona kommt und auf der Suche nach einer wohlhabenden Frau ist, trägt Kats Verehrer im Film den Namen Patrick Verona. Nach dem Willen des Vaters darf Bianca sowohl im Text als auch im Film erst dann eine Verbindung mit einem Mann/ Jungen eingehen, wenn die ältere Schwester Kat(harina) einen Partner gefunden hat. Der Verehrer Biancas kann ihr im Film und im Drama nahe sein, indem er die Rolle eines Lehrers annimmt, und sowohl Petruchio als auch Patrick lassen sich nur gegen Bezahlung auf die widerspenstige Kat(harina) ein. Die Funktion von bewegten Bildern für die Texterschließung 351 The Taming of the Shrew Ten Things I Hate About You Charaktere Hauptfiguren sind die Schwestern Katharina und Bianca Katharina ist die widerspenstige, Bianca ist die angepasste, von allen Männern begehrte Tochter Katharinas Verehrer heißt Petruchio von Verona Hauptfiguren sind die Schwestern Kat(arina) und Bianca Stratford Bianca ist angepasst und richtet sich nach den gängigen Moden an der Schule aus, während Kat an der ganzen Schule als widerspenstige Kratzbürste bekannt ist Kats Verehrer heißt Patrick Verona Schauplatz Padua in Italien Padua High School, eine Schule in Seattle, WA, USA Handlung und Konfliktsituation Lucentio, Biancas Verehrer, möchte Bianca heiraten, doch zuerst muss ihre ältere Schwester Katharina einen Mann finden Um Bianca trotzdem nahe sein zu können, gibt sich Lucentio als Lehrer aus und sucht einen möglichen Ehemann für Katharina Cameron, der sich in Bianca verliebt hat, möchte Bianca zwar nicht gleich heiraten, sondern sich nur mit ihr treffen, aber erst muss Kat mit einem Jungen ausgehen Cameron gibt Bianca Nachhilfeunterricht und sucht einen möglichen Freund für Kat Intrige Lucentio trifft auf Petruchio, einen unkonventionellen Mann, der bereit ist, sich mit Katharina um den Preis der Mitgift einzulassen Cameron trifft auf Patrick, einen unkonventionellen Jungen, der bereit ist, sich für den von Cameron gebotenen Geldbetrag mit Kat zu verabreden Abb. 2: The Taming of the Shrew - 10 Things I Hate About You: ein Vergleich 6. Methodische Vorschläge zum Einsatz von 10 Things I Hate About You im Englischunterricht 6.1 Adaption der Themen gender und peers im Film Nach diesem inhaltlichen Vergleich stellt sich die Frage nach der konkreten thematischen Umsetzung im Film, also wie geht der Film beispiels- Maria Eisenmann 352 weise mit Themen wie gender/ Rollenverhalten oder mit den Anspielungen auf den sozialen Status um. Dazu sagt Diana Henderson (2006: 193) sehr treffend: „Shakespeare tamed his shrew, but the cinema brings her back alive and kicking.“ Dieser Shakespeare-‚Ableger‘ spielt mit dem konträren Impuls, sowohl Shakespeare, also seinen spirit, zu reproduzieren, als auch eine Geschichte zu schreiben, für die wohl in erster Linie ein aufgeklärtes, postfeministisches Publikum empfänglich ist. Im Kontext des Films ist Shakespeare zu einem Autor geworden, dessen Texte nicht nur den rappenden schwarzen Englischlehrer beeindrucken, sondern auch seine zickige, widerspenstige Schülerin Kat sowie den eher unkonventionell auftretenden Patrick. 10 Things I Hate About You - übrigens einer der ersten Filme, der auf die Popularität der Kombination Shakespeare mit dem High School- Hintergrund setzt - hat einen neuen Ansatz gefunden, mit den alten Geschlechterrollen umzugehen. Da die Widerspenstige weder ein Kind noch eine Erwachsene, sondern ein Teenager ist, mag sie vielleicht auf ihre Altersgenossen furchterregend wirken, nicht jedoch auf den Zuschauer. Verpackt in die durchaus sehr anziehende Visualisierung und die Verlagerung Shakespeares Padua in eine amerikanische upper-middle-class- High School vertuscht Gil Jungers Film aber den gender-Aspekt im engeren Sinn und die damit verbundene Dynamik, die sich in Shakespeares The Taming of the Shrew entlädt. Der Text provoziert eine fundamentale Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen, wie Barbara Hodgdon (1992: 541) bemerkt: „whether male or female, Shrew’s spectators remain conscious not just of power’s unavoidable role in sex, gender, and representation but also of how oscillating gender identities may, on occasion, unfix that power and jostle it loose.“ Jungers Film lässt diese interpretatorische Möglichkeit bewusst aus, um ihn für den Markt des Teenager-Massenpublikums attraktiver zu machen. Sein Fokus liegt auf der Botschaft, sich als amerikanischer Teenager auf die eigene Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung zu konzentrieren. Indem der Film die Shakespearesche Katharina durch eine Kat ersetzt, die wenig angepasste Kleidung trägt, zu keiner Gruppe an der Schule gehört und feministische Literatur liest, wird dem Rezipienten eine alternative Erklärung für das anti-soziale Verhalten der Protagonistin geboten. Eine Resozialisierung erfährt sie durch die eher frauenfeindlich anmutende Hintergrundgeschichte, denn einige Zeit zuvor hatte sie sich mit dem Frau- Die Funktion von bewegten Bildern für die Texterschließung 353 enschwarm der Schule eingelassen, was sie dazu brachte, sich von dem oberflächlichen High School-Leben zurückzuziehen und Männern mit Hass und Verachtung entgegenzutreten. Ähnlich wie in The Taming of the Shrew binden sich die Geschlechter im Film 10 Things I Hate About You an ihre gender-Rollen; die Umstände sind jedoch andere, da sich die Charaktere freiwillig in dieses Rollenverhalten begeben, d.h. Konformität wird im Film bewusst gewählt. Die meisten Schüler der High School passen sich ihren peers und deren Verhalten an, um damit einen gewissen Sozialstatus zu erhalten oder zu halten. Dies wird gleich zu Beginn des Films deutlich, als die verschiedenen Cliquen innerhalb der Schullandschaft vorgestellt werden. Cameron ist neu an der Schule und er bekommt eine Art Einführung von Michael in die verschiedenen sozialen Schichten, die dort nebeneinander existieren, z.B. the coffee addicts, the white rastas und future MBAs. Michael, der beim Abschlussball als Shakespeare verkleidet auftritt, steht gelegentlich auch für die Figur des Autors selbst. Um das Interesse der Lernenden für diese Aspekte des Films zu wecken, können sie als Einstieg zunächst die ersten Augenblicke des Films (0: 00-1: 20) ansehen und sich über die folgenden filmanalytischen Fragen Gedanken machen: Welche Art von Musik läuft in den beiden nebeneinander stehenden Autos? Wie ist der Zustand der beiden Fahrzeuge? Wie ist das Outfit und das Verhalten der vier Mädchen im linken PKW, wie das des Mädchens im rechten (Haare, Kleidung, Mimik, Gestik etc.)? Die Schülerinnen und Schüler sollten weiterhin überlegen, in welchem Auto sie lieber mitfahren würden und warum. Schon hier kann auf die Frage nach der Emanzipation eingegangen werden. An dieser Stelle sollte der Film angehalten und zum Thema peer groups/ peer pressure übergegangen werden. Für die Erarbeitung dieses Themas können die Lernenden zunächst darüber nachdenken, welche peer groups an ihrer Schule bzw. in ihrer Klasse existieren und welche positiven und negativen Auswirkungen sie dabei empfinden. Im Anschluss daran kann Michaels Einführung in die einzelnen Gruppen gezeigt werden (3: 30- 4: 40). Die Schülerinnen und Schüler sollten dabei notieren, welche Gruppen an der Padua High School nebeneinander existieren und ihre Ergebnisse dann mit den Cliquen an ihrer eigenen Schule vergleichen. Hier bieten sich auch noch folgende weiterführende Fragen an: Wie kann man die Gruppen erkennen? Welche Regeln existieren? Gibt es Interaktionen zwischen den Gruppen? Maria Eisenmann 354 6.2 Intertextuelle Bezüge und Hinweise auf die Person Shakespeare Neben inhaltlichen und thematischen Parallelen weist der Film zudem noch zahlreiche, sehr aufschlussreiche intertextuelle Bezüge auf, die sehr gut in den Unterricht integriert werden können: 6.2.1 Sprache Die Charaktere im Film sind ungewöhnlich wortgewandt und lehnen sich bisweilen an Shakespeares Stil an - ganz egal aus welcher peer group oder sozialen Schicht sie stammen, was häufig natürlich einen eher komischen Effekt hat, z.B. in der oben erwähnten Szene gleich zu Beginn des Films. Als Cameron Bianca Stratford zum ersten Mal erblickt, sagt er: „I burn, I pine, I perish! “ (4: 56) An manchen Stellen wird der Shakespeare-Text auch wörtlich zitiert, aber nicht durchgehend wie z.B. bei Baz Luhrmanns Romeo and Juliet. So bezeichnet z.B. Michael Kat an einer Stelle ganz direkt als „shrew“. Um auf die Wirkung der Sprache aufmerksam zu machen, empfiehlt es sich, den Beginn der ersten Szene des ersten Aktes von The Taming of the Shrew gemeinsam mit den Lernenden zu lesen und hier zunächst die Besonderheiten der Shakespeareschen Sprache zu klären. Bevor es nun zum Filmeinsatz kommt, sollte eine kurze Interpretation der Szene erfolgen, denn auch die Nebenhandlung, die sich auf die Beziehung zwischen Lucentio und Bianca konzentriert, zeigt feine Ansätze, dass die Frau zum Objekt degradiert wird. Im Vergleich zum brutalen Kampf zwischen Petruccio und Katharina erscheint die Romanze zwischen Lucentio und Bianca sehr angenehm, aber auch Lucentio sieht Bianca nicht als gleichwertigen Partner an und die Aussage „I burn, I pine, I perish, Tranio / If I achieve not this young modest girl“ (I, i) beweist, dass er sie eher wie einen Preis betrachtet, den es zu gewinnen gilt. Eine ganz andere Wirkung erzielt Camerons Satz im Film 10 Things I Hate About You, der von Biancas Erscheinung absolut überwältigt ist. Durch die genaue Betrachtung filmanalytischer Elemente können den Lernenden die Deutungsmöglichkeiten, die durch die Visualisierung von Geschehensabläufen möglich ist, aufgezeigt werden, was einen großen Beitrag zur Ausbildung der visuellen Kompetenz leistet. Um dies bewusst wahrzunehmen, sollten sich die Schülerinnen und Schüler als while-viewing activity beim Betrachten des Filmausschnitts Gedanken zu den folgenden Fragen machen: Wie ist die Kameraführung? An welcher Stelle ist der Film geschnitten? Wie ist die musikalische Gestaltung? Wie werden die Figuren präsentiert bzw. kontrastiert? Welche Wirkung haben all diese Effekte? Die Funktion von bewegten Bildern für die Texterschließung 355 6.2.2 Mandella Ein weiterer Verknüpfungspunkt zu Shakespeare wird durch Mandella hergestellt, die die Figur Shakespeares, seine Stücke, seine Gedichte und auch die Elisabethanische Mode zu ihrem Fetisch erklärt hat. Und so beginnt auch die Liebesbeziehung zwischen Michael und Mandella, als Michael aus Macbeth zitiert und Mandella das Zitat zu Ende spricht (54: 32-55: 15): „Michael: Who could refrain that had a heart to love, and in that heart... Mandella: ... courage to make ’s love known? “ (Macbeth II, iii) Später wird angedeutet, dass ihr Partner für den Abschlussball Shakespeare persönlich sein wird, und Michael erscheint dann tatsächlich verkleidet als William Shakespeare (1: 18: 15-1: 18: 50). Für den Unterricht empfiehlt sich die Analyse der Szene vor Mandellas Schrank, in dem ein Poster von William Shakespeare zu sehen ist. Da es diesen Handlungsstrang im Originaltext nicht gibt, sollte der Fokus hier auf der reinen Filmanalyse liegen. Die Lernenden sollten zunächst das Äußere, die Kleidung der Figuren beschreiben und dann überlegen, wie es grundsätzlich zu einem Starkult kommen kann. Dies sollte in eine Diskussion darüber münden, welche Bedeutung Shakespeare für Mandella hat oder aber auch für andere Teenager heutzutage haben könnte. 6.2.3 Der Song „Cruel to Be Kind“ von der Rockband Letters to Cleo Der Film wird zudem von einem Lied begleitet mit dem Titel „Cruel to Be Kind“ von der Rockband Letters to Cleo. Dieser Titel stammt aus dem Drama Hamlet (III, iv): „I must be cruel, only to be kind“ - das sagt Hamlet, als er seiner Mutter Untreue und Verrat an seinem Vater vorwirft. Der Song, zu dem Kat und Patrick auf dem Schulball zunächst tanzen, deutet das weitere Geschehen an. Denn als Joey auftaucht, erfährt Kat die Wahrheit über Patrick, der Geld bekommen hat, um mit ihr auszugehen. Hier bietet es sich an, die Szene (ab 1: 20: 30) ohne Ton (silent viewing) anzusehen, um sich ganz auf die Kategorien mise en scéne und Montage konzentrieren zu können. Zunächst steht das verliebte, tanzende Paar im Zentrum des Bildes, bis sich Joey dazwischendrängt und die Situation eskaliert. Die Schülerinnen und Schüler sollten angehalten werden, anhand von Kats und Patricks Mimik zu beschreiben, was nun mit den beiden geschieht. Durch die Kameraführung, die zu einer Großaufnahme (close-up) übergeht, ist das hier gut möglich. Im Anschluss daran erfolgt die Besprechung des Songtexts, wobei den Lernenden der Bezug zu Hamlet Maria Eisenmann 356 durchaus bewusst gemacht werden soll, um erneut auf die Aktualität Shakespeares hinzuweisen. Zur genaueren Untersuchung liegt den Lernenden eine Kopie des Textes vor und sie überlegen zunächst, welche Bedeutung der Satz „cruel to be kind“ an dieser Stelle im Filmkontext haben könnte. Nach vermutlich sehr spekulativen Antworten kann dann die Stelle mit Ton angesehen werden, die am Ende in eine Trennung zwischen Kat und Patrick mündet (1: 19: 00-1: 23: 00): “Letters to Cleo”, Cruel to be Kind Oh, I can’t take another heartache Though you say you’re my friend I’m at my wits end You say your love is bonafide But that don’t coincide With the things that you do When I ask you to be nice You say you gotta be Cruel to be kind, in the right measure Cruel to be kind, it’s a very good sign Cruel to be kind, means that I love you Baby, you gotta be cruel to be kind Well, I do my best to understand dear But you still mystify, and I wanna know why I pick myself up off the ground And have you knock me back down Again and again And when I ask you to explain You say you gotta be Cruel to be kind, in the right measure Cruel to be kind, it’s a very good sign Cruel to be kind, means that I love you Baby, you gotta be cruel to be kind Well, I do my best to understand dear But you still mystify, and I wanna know why I pick myself up off the ground And have you knock me back down Again and again And when I ask you to explain You say you gotta be Cruel to be kind, in the right measure Cruel to be kind, it’s a very good sign Cruel to be kind, means that I love you Baby, you gotta be cruel to be kind Die Funktion von bewegten Bildern für die Texterschließung 357 6.2.4 Sonett 141 Am deutlichsten wird die Anspielung auf Shakespeare mit Kats Gedicht am Ende des Films, auf das im Filmtitel schon angespielt wird und das die Gefühle der Protagonistin ausdrückt. Dieses Gedicht hat in etwa den Stellenwert von Katharinas berühmter Schlussrede in The Taming of the Shrew in Akt V, denn hier hält die Widerspenstige ihre taming speech, die Rede der Gezähmten, der Geläuterten. Um die enge Verbindung zu Shakespeare zu signalisieren, findet Kats öffentlicher Vortrag - und damit auch ihr Liebesbekenntnis Patrick gegenüber - in der Englischstunde statt. Dort liest sie ihre Hausaufgabe vor, die darin bestand, eine eigene Version von Shakespeares Sonett 141 zu schreiben. Kats Gedicht, eher eine Rap- Version, hat allerdings weder mit Shakespeare noch mit der Sonettform im eigentlichen Sinn irgendetwas zu tun: Shakespeare’s Sonnet 141 Kat’s Version In faith, I do not love thee with mine eyes, For they in thee a thousand errors note; But ’tis my heart that loves what they despise, Who in despite of view is pleased to dote; Nor are mine ears with thy tongue’s tune delighted, Nor tender feeling, to base touches prone, Nor taste, nor smell, desire to be invited To any sensual feast with thee alone: But my five wits nor my five senses can Dissuade one foolish heart from serving thee, Who leaves unsway’d the likeness of a man, Thy proud hearts slave and vassal wretch to be: Only my plague thus far I count my gain, That she that makes me sin awards me pain. I hate the way you talk to me and the way you cut your hair. I hate the way you drive my car, I hate it when you stare. I hate your big dumb combat boots and the way you read my mind. I hate you so much it makes me sick it even makes me rhyme. I hate the way you’re always right, I hate it when you lie. I hate it when you make me laugh, even worse when you make me cry. I hate it when you’re not around, and the fact that you didn’t call. But mostly I hate the way I don’t hate you, not even close, not even a little bit, not even at all. Für die Behandlung im Unterricht empfiehlt es sich, zunächst die taming speech Katharinas in The Taming of the Shrew (V, ii) zu lesen, in der die vormals Widerspenstige ein Loblied auf die Unterwürfigkeit der Frauen singt. Hier lässt sich ganz leicht eine Parallele zu Kat in 10 Things I Hate About You herstellen, die ja auch am Schluss ihren Stolz überwindet und sich als Geläuterte öffentlich zu Patrick bekennt. Die Lernenden sollten hier die Möglichkeit zu spontanen Reaktionen nicht nur auf Kats Gedicht, sondern auch auf die Art des Vortrages erhalten. Gerade durch die visualisierte Darstellung im Film, die dem reinen Printtext fehlt, können die Maria Eisenmann 358 Schülerinnen und Schüler zu stärkeren emotionalen Reaktionen herausgefordert werden, was als willkommener Gesprächsanlass im Klassenzimmer gesehen werden kann. Da der Englischlehrer im Film ganz konkret auf das Sonett 141 eingeht, bietet es sich im Sinne eines produktionsorientierten Unterrichts an, die Form eines Sonetts zu besprechen und die Lernenden aufzufordern, eine eigene Version zu schreiben, in der sie sich tatsächlich an den formalen Vorgaben orientieren. Im Hinblick auf eine aktive Medienkompetenz können sich die Schülerinnen und Schüler während ihres Sonett-Vortrages gegenseitig filmen, wobei sie vorher in Gruppen überlegen sollten, welche Einstellungsgrößen, Kameraperspektiven und Kamerabewegungen sie wählen möchten (vgl. Nünning/ Surkamp 2006: 253ff.). 7. Zusammenfassung und Ausblick Die Möglichkeiten, Shakespeares Werk didaktisch aufzuarbeiten und in den heutigen Englischunterricht zu integrieren, sind so groß wie nie zuvor. Dabei gilt die traditionelle, rein textimmanente Methode als überholt. Die Chance, die gerade ein Film wie 10 Things I Hate About You bietet, liegt nicht zuletzt auch in seinem avantgardistischen Ansatz begründet. Der betont freie Umgang mit dem Drama The Taming of the Shrew, die Loslösung der Handlung aus dem eigentlichen setting und die Übertragung auf die heutige Zeit konfrontieren die Schülerinnen und Schüler mit einer provokativ-zeitgemäßen Umsetzung des Stoffes. Gleichzeitig kann nicht nur die Diskussion über die Möglichkeiten der Modernisierbarkeit des Shakespeareschen Textes eröffnet werden, sondern auch darüber, wie das umgedeutete Original funktioniert. Denn es stellt sich die Frage, ob es sich hier tatsächlich noch um einen Shakespeare-Text, um eine Deutung von The Taming of the Shrew oder um ein ganz neues Drama bzw. Filmskript handelt. Diese Kernfragen sollen allen Lernenden und Lehrenden als Anregung dienen, individuelle Antworten und Lösungen im Umgang mit der Adaption zu finden. Es versteht sich von selbst, dass 10 Things I Hate About You nicht als „die Verfilmung“ von Shakespeares The Taming of the Shrew betrachtet werden kann, sondern lediglich als eine von vielen möglichen Interpretationen des Stückes. Der Film ermöglicht einen unverkrampften Zugang für Die Funktion von bewegten Bildern für die Texterschließung 359 die Lernenden, die sich mit den Figuren identifizieren können und zur kommunikativen Auseinandersetzung angeregt werden. Durch die vielen inhaltlichen und thematischen Parallelen zwischen Text und Film können die bewegten Bilder einen großen Beitrag zur Erschließung des Shakespeareschen Textes leisten, auch wenn dieser nur in Ausschnitten präsentiert wird. Quellen Sekundärtexte Ahrens, Rüdiger (2006). „Shakespeare adaptiert.“ In: Petersohn/ Volkmann (2006a), 105-118. Blell, Gabriele & Lütge, Christiane (2004). „Sehen, Hören, Verstehen und Handeln: Filme im Fremdsprachenunterricht.“ Praxis Fremdsprachenunterricht 6/ 04, 402-405. Blocksidge, Martin (Hrsg.) (2003). Shakespeare in Education. London: Continuum. Burt, Richard & Boose, Lynda E. (2003). Shakespeare, the Movie: Popularizing the Plays on Film, TV, Video, and DVD. London: Routledge. Coursen, Herbert R. (2005). Shakespeare Translated: Derivatives on Film and TV. New York: Lang. Fielitz, Sonja (2006). „Aktuelle Inszenierungen: Arbeiten mit Rezensionen.“ In: Petersohn/ Volkmann (2006a), 55-67. Gibson, Rex (1998). Teaching Shakespeare. 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Einleitung Bilder sind Interpretationen und nicht etwa objektive Darstellungen der Wirklichkeit. Sie geben stets einen bestimmten Ausschnitt des durch sie vermittelten Sachverhalts wieder und präsentieren ihn aus einer bestimmten Perspektive. In dieser Hinsicht stellen auch Dokumentarfilme keine Ausnahme dar. Gerade Dokumentarfilme implizieren jedoch für viele Menschen, dass das Dargestellte ‚der Wahrheit‘ entspricht. Dabei stehen auch hinter der im Dokumentarfilm gezeigten ‚Wirklichkeit‘ Personen mit bestimmten Ziel- und Wertvorstellungen: „Die Position hinter der Kamera ist der Ort der Blickmacht, die das Blickobjekt auswählt und zum Zeichenarrangement formiert.“ (Decke-Cornill 2002: 219) Bernward Wember (1972: 9) konstatiert daher schon 1972: Wenn auf Leinwand oder Bildschirm ‚Ein Dokumentarfilm‘ angekündigt wird, dann lehnt man sich allzu gerne mit dem erleichterten Gefühl ins Polster, endlich von ideologischer Agitation verschont zu werden. Endlich kann man die Sache so sehen, wie sie wirklich ist: unverfälscht, neutral, wertfrei. […] Aber reine Dokumentation gibt es nicht. Das Medium Film zeigt, daß es unmöglich ist. Inwiefern ist der Dokumentarfilm in den Worten von Wember (ebd.: 10) nun „eine extrem subjektive Abbildungsmethode“? Welche Konsequenzen zieht diese Einsicht für den Umgang mit diesem Bildmedium im Unterricht nach sich? Und welche Teilkompetenzen von visual literacy müssen Lernende für einen adäquaten Umgang mit dem Genre des Dokumentarfilms ausbilden? Diesen Fragen möchten wir im folgenden Beitrag nachgehen, indem wir uns zunächst mit der Machart von Dokumentarfilmen auseinan- Perspektivierte Bilder von Wirklichkeit im Dokumentarfilm 363 dersetzen. Davon ausgehend werden wir einen Vorschlag für eine Bestimmung des Lernziels ‚Filmkompetenz‘ unterbreiten. Und danach werden wir anhand eines konkreten Beispiels, nämlich Michael Moores Bowling for Columbine (2002), aufzeigen, welches Bild dieser Film von der Wirklichkeit - in diesem Fall dem Umgang mit Waffen in den USA - entwirft und wie er methodisch im Englischunterricht der Oberstufe eingesetzt werden kann, um die visuelle Kompetenz der Lernenden zu schulen. 2. Anmerkungen zum Genre des Dokumentarfilms Zunächst gilt es, die Frage zu klären, inwiefern die subjektiven Ansichten des Produzenten bzw. der Produzentin beim Dokumentarfilm überhaupt mit in die Filmgestaltung einfließen. Hier lassen sich verschiedene Faktoren bestimmen: 1 - Auswahlprozesse/ Bildinhalte: Im Dokumentarfilm findet eine (subjektive) Selektion des Themas, des Dargestellten und der gezeigten Personen statt. Dabei ist auch bedeutsam, was nicht gezeigt wird. - Struktur und Dramaturgie: Auch wenn es für den Dreh eines Dokumentarfilms kein fertiges, detailliertes Skript gibt, so hat der Produzent bzw. die Produzentin doch eine ungefähre Idee davon, was in welcher Weise gezeigt werden soll. Der Filmablauf wird konkretisiert und ein Drehplan wird (zumindest ungefähr) entwickelt. - Person des Filmemachers: In einigen Dokumentarfilmen bewegt der Filmemacher sich nicht im Hintergrund, sondern tritt als Person auch vor der Kamera auf. Die Art und Weise seines Auftritts, seines Verhaltens und seiner Sprache, die Wahl seiner Kleidung sowie die von ihm eingenommene Perspektive können den Zuschauer bzw. die Zuschauerin in seiner bzw. ihrer Wahrnehmung des Dargestellten beeinflussen. - Interviewtechniken: Sowohl die Fragetechniken als auch der Schauplatz und die Rolle des Interviewers haben Einfluss auf das Bild, das 1 Vgl. zum Folgenden Wember (1972) sowie Hissen (2004: 35-45, 50-58, 59- 68). Carola Surkamp & Katja Ziethe 364 dem Zuschauer vom Dargestellten und den befragten Personen vermittelt wird. - Technik: Technische Überlegungen - wie Fragen des Formats und Materials (Film, Digibeta, Digital Video) - beeinflussen ebenso die Wirkung eines Films. - Kamera: Die Einstellungsgröße, die Kameraperspektive und die Kamerabewegung haben Einfluss auf unsere Wahrnehmung und die Beurteilung des filmisch Dargestellten. So z.B. wirkt eine Person, die aus der Froschperspektive gezeigt wird, erhöht und überlegen, vielleicht sogar unheimlich und beängstigend. Dieselbe Person hingegen, aus der Normalperspektive betrachtet, wirkt plötzlich viel weniger bedrohlich. - Licht/ Beleuchtung: Lichteffekte haben Einfluss auf die vermittelte Atmosphäre und können den Fokus dessen bestimmen, worauf der Zuschauer besonders achten soll. - Ton: Ebenso wie Lichtkönnen auch Toneffekte (dazu zählt auch der Einsatz von Musik) die Atmosphäre eines Dokumentarfilms mitgestalten und die Stimmung bzw. Einstellung des Zuschauenden zum Filminhalt beeinflussen. - Montage: Der Schnitt ist ein starkes Mittel der Zuschauerlenkung: Er bestimmt die Auswahl und Reihung der Ereignisse und somit deren jeweilige Gewichtung. Seit 1923 weiß man durch Kuleschow und den nach ihm benannten Effekt, dass eine einzelne Filmszene erst einmal wenig Aussagekraft beinhaltet. Ihre eigentliche Bedeutung erhält sie erst durch den ‚Induktionseffekt‘ der Bilderreihe, in der sie erscheint (vgl. Wember 1972: 11). - Einsatz von Kommentaren, Zwischentiteln, Bildunterschriften: Inhalt und verwendete Sprache (z.B. das gewählte Register) von Kommentaren, Zwischentiteln und Bildunterschriften im Dokumentarfilm haben Einfluss auf die Interpretation des Gezeigten durch den Rezipienten bzw. die Rezipientin. Alle genannten Einflussfaktoren wirken natürlich nicht nur einzeln, sondern können gerade auch in Kombination gewünschte Effekte hervorrufen bzw. verstärken. So bestimmen Kameraperspektiven, Beleuchtung und Interviewtechniken z.B. die Darstellung von befragten Personen und somit das Bild, das die Zuschauenden sich von diesen Personen machen. Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass Inszenierungs- und Perspektivierte Bilder von Wirklichkeit im Dokumentarfilm 365 Illusionsbildungsprozesse jeglicher Form der bildlichen Gestaltung, sei sie auch noch so realistisch, inhärent sind (vgl. Heller 1994: 193). Eine objektive Berichterstattung durch einen Dokumentarfilm ist unmöglich. Dessen sind sich auch die Filmemacher selbst bewusst, wie die Dokumentarfilmerin Annette Köberlein (2005) offen darlegt: „Der Filmer wertet gezwungenermaßen durch jede Entscheidung, die er trifft.“ Nun ist es ja nicht verboten oder verkehrt, durch einen Dokumentarfilm die eigene Sicht der Dinge zu vermitteln. Nur muss das Bewusstsein von der Konstruiertheit und Perspektivität des Films auch bei den Zuschauern vorhanden sein - dies umso mehr, wenn in einem Dokumentarfilm „subjektive Sichtweisen unter dem Deckmantel der Objektivität als sachlich neutral und wertfrei verkauft [werden]“ (Wember 1972: 15) und wenn Dokumentarfilmer so genannte Authentisierungsstrategien verwenden, um die Wirklichkeitsnähe des Dargestellten besonders zu unterstreichen. Von fachdidaktischer Seite wurden im Zusammenhang mit der Anerkennung konstruierter Wirklichkeiten im Dokumentarfilm Bedenken dahingehend geäußert, dass es problematisch sei, wenn dem Dokumentarfilm aufgrund seines notwendigerweise subjektiven Charakters jeglicher Erkenntnisanspruch abgesprochen würde (vgl. Bredella 1994: 81). Es sei unbefriedigend, „wenn Schüler und Studenten sich von dem aufklärerischen und gesellschaftskritischen Anspruch dieser Filme überhaupt distanzieren“ (ebd.: 89), denn Wirklichkeit erhellen könnten diese Filme dennoch (vgl. Williams 1993: 13). Für den Umgang mit Dokumentarfilmen im Unterricht bedeutet dies, dass es nicht das alleinige Ziel sein sollte, im Sinne der Ausbildung von Medienkompetenz den Konstruktionscharakter von Dokumentarfilmen zu entlarven. Darüber hinaus sollte vielmehr bedacht werden, dass Dokumentarfilme gerade aufgrund der Perspektivität ihrer Darstellung Anlass zur selbstständigen weiteren Recherche über das behandelte Thema bieten und zur Diskussion verschiedener Perspektiven und Meinungen sowie zur Auseinandersetzung mit der eigenen Position herausfordern. 3. Ausdifferenzierung des Konzepts der Filmkompetenz Obwohl Filme integrativer Bestandteil des alltäglichen Lebens von Jugendlichen sind, stellt sich die Frage, wie Jugendliche dieses Medium und dessen Wiedergabe von Wirklichkeit beurteilen. Heinz Moser (1999: 226) Carola Surkamp & Katja Ziethe 366 hebt hervor, dass aus dem bloßen Medienkonsum noch nicht abzuleiten ist, dass semiologische Codes und Strukturen bewusst wahrgenommen werden. Und Klaus Boeckmann (1996) hat in einer Studie herausgefunden, dass Jugendliche eher „naive Medienexperten“ sind, da sie beispielsweise um die Konstruiertheit medialer Formate wissen, sich aber nicht klarmachen, dass diese nicht nur technisch bedingt ist, sondern auch dazu dienen kann, eine bestimmte Weltsicht zu vermitteln (vgl. ebd.: 39). Es stellt sich daher die Frage, wie Lernende zu kompetenten Rezipientinnen und Rezipienten von dokumentarischen Filmbildern werden. Im Folgenden sollen das Wissen und die Fähigkeiten beschrieben werden, durch deren Aneignung Jugendliche zu einem gegenstandsadäquaten, kritischen, selbstbestimmten und kreativen Umgang mit Dokumentarfilmen befähigt werden können. Unter Rückgriff auf die von Norbert Groeben aufgestellten „Dimensionen der Medienkompetenz“ (2004) soll das Konzept der Filmkompetenz ausdifferenziert werden, um verschiedene Teilfertigkeiten zu bestimmen, die für das Filmverstehen wichtig sind, von den Lernenden aber nicht automatisch aus ihrem Freizeitverhalten bzw. ihrem privaten Medienkonsum mitgebracht werden. Eine wichtige Teilkompetenz ist Medialitätsbewusstsein. Lernenden sollte bewusst werden, dass Dokumentarfilme - obwohl ihre Wirklichkeitsreferenz eine andere ist als die im Spielfilm und sie einen realen Sachverhalt darstellen wollen - immer eine konstruierte Welt präsentieren. Decke-Cornill (2002: 209) spricht von „Bildmündigkeit“ als einem „Akt der Verneinung“ der Transparenz von (bewegten) Bildern. Lernende sollten aufgefordert werden, sich der Wirkung und Überzeugungskraft von Filmen zu widersetzen, ihrer Wirklichkeitssuggestion zu widerstehen (vgl. ebd.: 211). Diese Sensibilisierung für die Gemachtheit von Filmen ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil Dokumentarfilme im landeskundlich ausgerichteten Fremdsprachenunterricht oftmals dazu eingesetzt werden, Schülerinnen und Schülern einen Einblick in die gesellschaftliche Wirklichkeit anderer Kulturkreise zu vermitteln. Dabei sollte ihnen klar werden, dass es sich immer um ein medialisiertes, perspektiviertes Bild der jeweils dargestellten Zielkultur handelt. Lernende sollten zweitens - wie dies heutzutage im Unterricht im Allgemeinen praktiziert wird - Filmwissen erwerben, d.h. Kenntnisse über die Strukturen, Bedingungen sowie Wirkungsmechanismen filmischer Darstellungsverfahren erlangen. Da es sich bei Filmen um ein Verbundmedium handelt, das Bilder, Sprache, Musik und Geräusche miteinander Perspektivierte Bilder von Wirklichkeit im Dokumentarfilm 367 verknüpft, versetzt Filmwissen Lernende in die Lage, die jeweiligen optischen, sprachlichen und übrigen akustischen Codes eines Films in ihrer (auch simultanen) Informationsvielfalt und Polyvalenz zu lesen. Zum Filmwissen gehören in Bezug auf den Dokumentarfilm außerdem Kenntnisse über die Rahmenbedingungen des Mediums, z.B. über den Produktionskontext und die Person des Filmemachers, über dokumentarfilmspezifische Arbeitsweisen sowie über die unterschiedlichen Funktionen, die Dokumentarfilme erfüllen können, wie „1. to record, reveal, or preserve - 2. to persuade or promote - 3. to analyse or interrogate - 4. to express“ (Renov 1993: 21). 2 Mit narrativer Kompetenz wird drittens die Fähigkeit bezeichnet, erzählerische Strukturen sowohl kompetent rezipieren als auch produzieren zu können. Knut Hickethier (1996: 23) hebt hervor, dass die Montage den Film zu einem erzählenden Medium macht. Auch Dokumentarfilme erzählen eine Geschichte, da sie Ereignisse in einer bestimmten Reihenfolge darstellen, um ihnen Sinn und Struktur zu verleihen. So kann ein und dasselbe Geschehen durch die Auswahl einzelner Ereignisse, die sprachliche Gestaltung, die Wahl der Perspektive und die Verwendung bestimmter Erzählmuster sowie ‚Glättungsvorgänge‘ (wie Auslassungen, Relevanzsetzungen, Hervorhebungen, Ausschmückungen und Überleitungen) (vgl. Straub 1998: 24ff.) ganz unterschiedlich erzählt werden. Im Hinblick auf die Analyse eines Dokumentarfilms bedeutet narrative Kompetenz also die Fähigkeit, den Film sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der gestalterischen Ebene in seinen wesentlichen erzählerischen Elementen und in deren Wirkungskraft auf den Zuschauer bestimmen zu können. Dies schließt die Untersuchung der Perspektive, aus der das Dargestellte vermittelt wird, ebenso ein wie die nach deren Glaubwürdigkeit. Sowohl das Filmwissen als auch die narrative Kompetenz sollten schließlich in eine filmbezogene Kritikfähigkeit münden. Erst wenn Ler- 2 Vgl. auch Mühlmann (2005a: 76): „Während bei einem naturwissenschaftlichen Schulfilm darauf vertraut werden kann, dass er den Sachverhalt möglichst genau wiedergibt, stellt sich etwa bereits bei landeskundlichen Filmen die Frage, ob die primäre Intention darin besteht, Informationen über Land und Leute möglichst differenziert zu vermitteln oder eher die positiven bzw. negativen Seiten zu betonen, um die Zuschauer entsprechend zu beeinflussen. […] Bei Dokumentarfilmen, in denen politisch-soziale Ereignisse oder Verhältnisse dargestellt werden, besteht gar die Möglichkeit der direkten oder indirekten ideologischen Beeinflussung oder Propaganda.“ Carola Surkamp & Katja Ziethe 368 nende für filmästhetische Aspekte sensibilisiert sind, können sie deren bedeutungstragendes und rezeptionslenkendes Potential beurteilen. Sie sollten also ein kritisches Bewusstsein dafür entwickeln, dass ein Dokumentarfilm immer von den individuellen Vorstellungen und Zielsetzungen des Filmemachers bzw. der Filmemacherin geprägt ist sowie von den in seiner Entstehungszeit vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Haltungen gefärbt sein kann. Die kritische Filmbetrachtung sollte dabei in mehreren Schritten stattfinden (vgl. Groeben 2004: 173f.): Zunächst geht es um das Erkennen inhaltlicher Positionen, z.B. in Bezug auf einen gesellschaftlichen oder kulturellen Sachverhalt, auch wenn sie nicht explizit vermittelt werden. In einem zweiten Schritt werden die erkannten Bewertungen mit eigenen Überzeugungen verglichen. Schließlich fällt die Entscheidung, „ob die eigene Position auf Grund der in der Medienbotschaft enthaltenden Informationen, Argumente, Beispiele etc. verändert werden soll oder nicht“ (ebd.). Aus motivationaler Perspektive kommt der filmbezogenen Genussfähigkeit ein wichtiger Stellenwert zu. Während der Genuss beim Filmeschauen im schulischen Kontext in der Regel nicht als auszubildende Kompetenz angesehen, sondern vielmehr mit einer unkontrollierten, passiv-eskapistischen Rezeption assoziiert wird (vgl. Appel 2005: 193), ist er Groeben (2004: 170) zufolge ein entscheidender Faktor „für die Aufnahme und Aufrechterhaltung von Medienrezeption“. Zwei Dimensionen spielen dabei eine wichtige Rolle: zum einen eine kognitive Dimension - in diesem Fall handelt es sich um einen „durch möglichst differenzierte und tiefe Sachkenntnis sowie Analyse zustandekommende[n] Genuss“ (ebd.) - und zum anderen eine affektive Dimension - d.h. Genussmöglichkeiten, „die aus der Identifikation mit Protagonisten oder Sachverhalten resultieren“ (ebd.: 171). Neben diesen rezeptiven Kompetenzen sollten Lernende Dokumentarfilme durch den Erwerb produktiver Partizipationsmuster auch selbst gestalten können. Durch die Herstellung von eigenen kleinen Filmen können andere Filmkompetenzdimensionen trainiert werden. So erwerben die Schülerinnen und Schüler durch ihr eigenes Tun Wissen über das Genre Film: Sie erfahren, wie Filme entstehen, und sie lernen, dass mit filmspezifischen Strategien bestimmte Wirkungseffekte erzielt werden können, dass also auch Dokumentarfilme etwas Konstruiertes sind, mit dem Absichten verfolgt werden. Perspektivierte Bilder von Wirklichkeit im Dokumentarfilm 369 Als letzte aber nicht minder wichtige Teilkompetenz soll die Fähigkeit der Lernenden zur Anschlusskommunikation hervorgehoben werden. Nach Groeben (2004: 178) können Lernende über Anschlusskommunikationen Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen der medialen Wirklichkeit und der Alltagswelt nachspüren und „Strategien zur Verarbeitung und Bewertung von medialen Angeboten in Bezug auf Informationsgehalt, Glaubwürdigkeit, ästhetische Qualität etc.“ (ebd.) erwerben. Für die Planung von Unterricht ist es daher essentiell, auch die Kommunikation über den Film als Kompetenz anzusehen. Erst der über das Gespräch stattfindende Umgang mit dem eigenen Filmverstehen und -verständnis befähigt zu visueller Kompetenz, d.h. zu einem kompetenten Umgang mit dem Genre Film. Welche Konsequenzen sich aus dieser Ausdifferenzierung des Filmkompetenzbegriffs für das methodische Vorgehen bei der Beschäftigung mit einem Dokumentarfilm im Unterricht ergeben, soll im Folgenden anhand des Films Bowling for Columbine von Michael Moore gezeigt werden. 4. Michael Moores Bowling for Columbine: Subjektivierung durch Selbstinszenierung, Interviewtechniken und Musikeinsatz Kaum ein Dokumentarfilmer polarisiert seine Zuschauer so stark wie Michael Moore. Seine Filme, allen voran sein oskarprämierter Film Bowling for Columbine (BfC) finden im Englischunterricht der Sekundarstufe II großen Anklang, denn sowohl thematisch als auch stilistisch sind sie für viele Lernende motivierend. Sie sollten allerdings nicht primär zur Vermittlung landeskundlichen Wissens, sondern auch zur Schulung von Filmkompetenz und zur Auseinandersetzung mit den dargestellten wie mit eigenen Positionen verwendet werden. Gerade eine kritische Beschäftigung ist bei einem Film wie BfC unabdingbar, ist Michael Moore doch aufgrund seiner Vorgehensweisen immer wieder in die Kritik geraten (so zuletzt durch die kanadischen Filmemacher Melnyk und Caines in ihrem 2007 erschienenen Dokumentarfilm Manufactoring Dissent). Zudem versteht Moore seinen Film selbst „als Appell zur Reform der gegenwärtigen Gesetzeslage“ (Mühlmann 2005b: 81), was sich auch in seiner Intention provokativer Aufklärung niederschlägt (vgl. ebd.: 82). Moore weist sogar darauf hin, dass einzelne im Film präsentierte ‚Fakten‘ und Zusammenhänge nicht der Realität entsprechen (vgl. ebd.). Ohne eine kritische filmanalyti- Carola Surkamp & Katja Ziethe 370 sche Betrachtungsweise besteht daher die Gefahr, dass Lernenden „ein einseitiges und vor allem negatives Bild der USA vermittelt wird, das antiamerikanische Haltungen bedienen und verstärken [kann]“ (Grimm 2006: 9). Aus diesem Grund ist es beim Einsatz von BfC im Unterricht wichtig zu untersuchen, inwiefern dieser Film rezeptionslenkend wirkt. BfC zeigt nur einen Ausschnitt der amerikanischen Wirklichkeit, nämlich den Umgang mit Waffen in diesem Land, aus einer bestimmten Perspektive, nämlich aus der des Filmemachers Michael Moore. Dies ins Bewusstsein der Lernenden zu rücken, sollte Ziel jeder kritischen Auseinandersetzung mit diesem Film sein. Eine intensive Auseinandersetzung mit BfC zeigt, dass Moore neben einer offenen Präsentation subjektiver Standpunkte auch verdeckte Subjektivität mittels filmtechnischer Verfahren einsetzt. Gerade letztere gilt es hinsichtlich der Förderung der visuellen Kompetenz der Schüler aufzudecken. Dabei sollen folgende drei zentrale Untersuchungsgegenstände vorgestellt werden: Moores Selbstinszenierung als Persona in BfC, seine Interviewtechniken und der Einsatz von Musik als Emotionalisierungsinstrument. Im Anschluss daran sollen exemplarisch Methoden aufgezeigt werden, mit Hilfe derer die Lernenden für die filmischen Codes und deren Wirkungsweisen sensibilisiert werden. Dies wiederum hilft ihnen dabei, die manipulativen Tendenzen im Film zu erkennen. 4.1 Moores Selbstinszenierung Vor allem zwei Dinge sind bei Michael Moore als Filmemacher bemerkenswert: erstens seine permanente Präsenz vor der Kamera und zweitens seine Erscheinung als rundlicher Durchschnittsamerikaner mit obligatorischer Baseballkappe und Schlabberhose. So präsentiert er sich als Anwalt der kleinen Leute. Die Strategie dahinter ist, dass Moore bei seinen Zuschauern als besonders glaubwürdig, vertrauensvoll und gleichsam sympathisch erscheinen möchte. Moore spielt die Rolle des Durchschnittsamerikaners, der nicht mit „intelligenter Spitzfindigkeit, sondern mit gesundem Menschenverstand und einer gewissen sympathischen Naivität operiert“ (Hissen 2004: 90). Demnach sollen die Zuschauerinnen und Zuschauer ihn als Person überzeugend finden, seinen Argumenten offen gegenüberstehen und diese letztlich selbst übernehmen. Hissen (ebd.: 48) betont deutlich die Gefahr, die eine solche Vorgehensweise nach sich zieht: „Hat Moore den Zuschauer als Person überzeugt, so übernimmt dieser relativ unkritisch Perspektivierte Bilder von Wirklichkeit im Dokumentarfilm 371 seine Aussagen“. Dies führt deutlich vor Augen, wie wichtig es ist, die Lernenden zu einem kompetenten Umgang mit dem Medium zu erziehen. 4.2 Interviewstrategien Neben Moores Selbstinszenierung sind auch seine Interviewstrategien auffällig. Zunächst bleibt festzuhalten, dass Interviews Träger für Authentizität sind, da sie dem Zuschauer zeigen, dass die jeweilige Person selbst und nicht etwa der Dokumentarfilmer die Aussagen getroffen hat. Dabei wird dem wörtlichen Zitat ein Höchstmaß an Authentizität und Glaubwürdigkeit vom Rezipienten zuerkannt, da es unmittelbar ist und die jeweiligen Standpunkte direkter vermittelt als der Kommentar (vgl. Hattendorf 1999: 150). Doch dies ist nur „Evidenz des Scheins“ (ebd.), denn auch dieses scheinbar unverfälschte Dokument kann durch Kameraführung, Schnitt sowie die Art und Weise der Fragestellungen durch den Filmemacher manipuliert werden. Die Analyse der verschiedenen Interviews in BfC ist daher essentiell, um Moores Strategien der Interviewführung aufzudecken und darüber hinaus deren Wirkungsweisen zu begreifen. Für eine eingehende Untersuchung bieten sich vor allem die Interviews mit dem Schockrocker Marilyn Manson, dem Cartoonproduzenten Matt Stone und Charlton Heston, dem damaligen Vorsitzenden der NRA, der National Rifle Association (größte Waffenlobby der USA), an. Da die erstgenannten Interviewpartner aus der Lebenswelt vieler Schülerinnen und Schüler entstammen, kann eine Analyse ihrer Interviews sehr motivierend sein: Eine Vielzahl der Lernenden wird die Sichtweise von Manson und Stone zum Thema durchaus interessant finden. Im Folgenden sollen nun exemplarisch die Interviews mit Manson und Heston einander gegenübergestellt werden, da diese besonders kontrastreich sind. 4.2.1 Interview mit Marilyn Manson Der Musiker Marilyn Manson wurde von vielen Kritikern als mitverantwortlich für das Massaker an der Columbine High School in Littleton, Colorado stigmatisiert (vgl. Moore 2002: Kapitel 7). Dies macht auch Moore in BfC durch Ansagen diverser Nachrichtensprecher deutlich. Auch die Einblendungen, die Manson teilweise im extreme close-up vor dem Interview zeigen, verstärken zunächst das von den Medien evozierte negative Image des Musikers. Moore betont aus dem Off, dass Manson vor allem seitens der konservativen religiösen Rechten kritisiert wird und Carola Surkamp & Katja Ziethe 372 Moore sich nun von ihm ein eigenes Bild machen möchte. Das Interview selbst findet vor einem Konzert des Musikers in einem kleinen Raum statt, wobei beide Männer eine entspannte Haltung einnehmen: Moore auf dem Sofa, Manson gegenüber auf einem Stuhl lässig an die Wand gelehnt. Moore räumt Manson viel Zeit zur Beantwortung seiner Fragen ein, unterbricht ihn lediglich an einer Stelle, um eine kurze Ja/ Nein-Frage zum Kosovo anzubringen, auf welche Manson mit seiner guten Informiertheit glänzen kann. Außerdem zeigt Moore durch Gesten wie Kopfnicken und Lächeln, dass er grundsätzlich Mansons Meinung ist. Manson kann als Fürsprecher Moores gesehen werden, da der Rocksänger die beiden zentralen Thesen Moores im Interview bekräftigt: Er macht sowohl die Medien als auch die amerikanische Außenpolitik für die Angstevozierung und letztlich für den Waffenkult in den USA verantwortlich. Dem negativen Bild Mansons, das in den amerikanischen Medien dominiert, wird durch das Interview ein Bild entgegengesetzt, das einen intelligenten, reflektierten, eloquenten und verständnisvollen Musiker zeigt, der im Interview alles andere als bedrohlich wirkt. Das Interview wird an zwei Stellen durch Aufnahmen einer Manson- Protestveranstaltung unterbrochen. Durch die Parallelmontage stehen sich der entspannte, ruhig argumentierende Manson und der polemisch und teilweise gar aggressiv argumentierende Redner der religiösen Rechten diametral gegenüber. Die Kontrastierung beider Redner hebt Mansons ruhige und durchdachte Aussagen besonders deutlich hervor. 4.2.2 Interview mit Charlton Heston Im Interview mit dem Schauspieler und Fürsprecher der NRA geht Michael Moore völlig anders mit seinem Gesprächspartner um (vgl. Moore 2002: Kapitel 19). Dieses Interview kann im Rahmen des Films als Showdown bezeichnet werden, denn schon zu Beginn des Films wird auf die Begegnung mit Heston vorausgedeutet und im Verlauf des Films taucht Heston immer wieder in Szenen auf, die ihn meist im negativen Licht zeigen (vgl. Hissen 2004: 53). Das Interview, welches in Hestons Haus in Beverly Hills stattfindet, beginnt zunächst, ähnlich wie bei Manson, in einer lockeren Atmosphäre. Beide Männer begrüßen sich freundlich und Heston führt Moore für ein vermeintlich entspanntes Gespräch in sein Tennis- und Poolhaus. Auch die Perspektivierte Bilder von Wirklichkeit im Dokumentarfilm 373 unterlegte fröhliche Klaviermusik und der strahlend blaue Himmel steuern zunächst zu einer positiven Atmosphäre bei. Moore zeigt Heston sofort seinen NRA-Mitgliedsausweis, worauf Heston anerkennend nickt und väterlich Moores Arm berührt. Vergleicht man Moores Verhaltensweise im Interview mit Manson wird jedoch sehr schnell klar, dass Moore eine deutlich aktivere Rolle einnimmt. Er stellt diverse Fragen und hakt konsequent nach. Dadurch setzt er sein Gegenüber stark unter Druck. Zu Beginn des Interviews geht Moore zwar noch auf seinen Gesprächspartner ein und bekräftigt beispielsweise Hestons Bemerkungen hinsichtlich des Second Amendment 3 . Diese Strategie der Besänftigung setzt Moore jedoch nur ein, um seinen Gesprächspartner in Sicherheit zu wiegen. Tatsächlich scheint er einen roten Faden zu spinnen, mit Hilfe dessen er seine Fragen subtil miteinander verbinden und Heston als Fürsprecher der NRA als ignorant, unreflektiert und unwissend darstellen kann. Hestons Aussagen sind nicht stringent und teilweise widersprüchlich, was dazu führt, dass der Zuschauer Hestons Argumenten keinen Glauben schenkt. Dies wird vor allem auch dadurch deutlich, dass Moore in BfC diversen Thesen nachgegangen ist, die häufig als Ursache für die hohe Schusswaffenopferrate in den USA angeführt werden. Diese werden im Laufe des Films widerlegt. Als Heston im Rahmen des Interviews beispielsweise als einen Grund die besonders gewaltvolle Geschichte der USA nennt, weiß der Zuschauer bereits, dass diese These falsch ist. Dadurch wirkt Heston inkompent, da der bereits durch Moore informierte Zuschauer einen Informationsvorsprung hat. Von dem einstig glorreichen, starken, eloquenten Schauspieler und Redner der NRA ist im Verlauf des Interviews nicht mehr viel übrig: Moore entmystifiziert Heston (vgl. Hissen 2004: 56f.). Dazu trägt auch die Kameraführung bei, denn diese fokussiert den durch Moores Fragen zunehmend unter Druck geratenden, auf seinen Regiestuhl unruhiger werdenden Heston, der vor Nervosität mit seinen Händen spielt. Auch Mimik und Gestik des Filmemachers zeigen, dass er Heston sehr skeptisch und alles andere als neutral gegenübersteht. Hier ist auf die Sitzhaltung hinzuweisen. Heston sitzt genau wie Manson direkt mit dem Rücken zur Wand. Der Unterschied ist jedoch, dass Moore im Heston- Interview seinen Gesprächspartner nicht nur durch seine Fragen, sondern 3 Der zweite Zusatzartikel der Amerikanischen Verfassung gestattet jedem Amerikaner „the right to keep and bear arms“. Carola Surkamp & Katja Ziethe 374 auch räumlich bedrängt. Im Gegensatz dazu bleibt Moore im Manson- Interview die ganze Zeit an das Sofa gelehnt und lässt Manson sowohl räumlich als auch gesprächstechnisch genügend Freiraum. Durch die Auswahl unterschiedlicher Gesprächspartner wie Marilyn Manson, Matt Stone, Charlton Heston und viele andere mehr versucht Moore, den Zuschauern ein Bild der Ausgewogenheit verschiedener Perspektiven auf das dargestellte Thema zu suggerieren. Doch wie dargelegt geht Moore mit seinen Interviewpartnern sehr unterschiedlich um, was sich in seiner Fragetechnik, der Kameraführung, aber auch der Montage verschiedener Sequenzen widerspiegelt. Moore verwendet Interviews folglich nicht, um möglichst viele Meinungen aufzuzeigen, sondern um seine eigenen Hypothesen zu stützen und die Zuschauer in Richtung seiner Perspektive auf das Problem der Waffengewalt in den USA zu lenken. 4.3 Musik als Emotionalisierungsinstrument Ein dritter zentraler Untersuchungsgegenstand ist der Einsatz von Musik als Emotionalisierungsinstrument in BfC. Durch die Unterlegung von Bildern mit Musik können Bilder völlig anders auf den Zuschauer wirken, als wenn sie für sich allein wahrgenommen würden. Je subtiler diese von der Musik hervorgerufenen Emotionalisierungen sind, desto wirksamer sind sie auch (vgl. Hildebrand 2006: 277). Darüber hinaus werden bestimmte Aussagen mit der Musik getroffen. Eine Analyse und Betrachtung der Liedtexte ist erforderlich, um - wie Holger Twele (2003: 16) es beschreibt - „den ironisch-sarkastischen Kommentar zu den Informationen auf der Bildebene zu dechiffrieren“. Moore macht in BfC von den unterschiedlichsten Musikgenres Gebrauch, von Klassik - wie Vivaldis Vier Jahreszeiten - über Pop und Rock bis hin zu Joey Ramones Coverversion des Evergreens „What a Wonderful World“. Die Vielfalt dieser Lieder schlägt sich auch in deren jeweils unterschiedlichen Wirkungsweisen nieder, so dass die Titel mal veranschaulichend, mal polarisierend und mal kontrastierend eingesetzt werden. Eine der eindrucksvollsten Szenen ist die Wonderful-World-Sequenz (Moore 2002: Kapitel 4), in der die Diskrepanz zwischen Musik und Bild besonders deutlich funktionalisiert wird. Der Evergreen „What a Wonderful World“ von Louis Armstrong, in dem ein idyllisches Image einer heilen Welt besungen wird, konterkariert die Bilder des visuellen Kanals. Hier werden chronologisch angeordnete Archivbilder von militärischen Einsätzen der USA gezeigt, die die USA als Perspektivierte Bilder von Wirklichkeit im Dokumentarfilm 375 gewalttätig darstellen. Diese Bilder sind jeweils mit Texteinblendungen unterlegt, damit der Zuschauer das Geschehene historisch einordnen kann. Darüber hinaus wird durch die Einblendungen eine höhere Authentizität bei den Zuschauern suggeriert. Beendet wird die Sequenz mit Bildern des 11. September 2001, als das zweite Flugzeug in den Nord-Turm des bereits im Rauch stehenden World Trade Centers stürzt. Besonderes Augenmerk ist auf den Wechsel im auditiven Kanal zu richten, da nun nicht mehr Armstrongs „What a Wonderful World“, sondern der Originalton zu den Bildern zu hören ist - kreischende Menschen und angsterfüllte Stimmen. Neben dem Kontrast zwischen dem auditiven und dem visuellen Kanal gibt es demnach einen zweiten auf der auditiven Ebene. Die Zuschauer werden aus der von Armstrong besungenen heilen, wundervollen Welt herausgerissen und in die bereits durch die Bilder gezeigte reale, grausame, gewaltvolle Welt gebracht. Für Moore gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen der Gewalt auf der Makroebene der Außenpolitik und der Gewalt auf der Mikroebene im häuslichen und schulischen Kontext. Und diesen Schluss sollen auch seine Zuschauerinnen und Zuschauer ziehen. 4.4 Zwischenfazit Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass, obgleich Moore schon allein durch seine Allgegenwart vor der Kamera einen stärkeren Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse im Film hat als andere Dokumentarfilmer, er zusätzlich mit Hilfe von Schnitt, Montage und Musik seine Sichtweise und Argumentationslinie verdeckt zu untermauern versucht. Er versucht subtil, die Zuschauer von seiner Position zu überzeugen. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, Lernende darin zu schulen, die Steuerung der Rezeption durch den Film zu erkennen und beschreiben zu können. Ihre Aufgabe sollte sein zu analysieren, wie der Film Wissen über das dargestellte Thema bei den Zuschauenden aufbaut und wie er sie in der Beurteilung des Dargestellten zu lenken versucht. Im Folgenden sollen Methoden aufgezeigt werden, anhand derer die Schülerinnen und Schüler motiviert werden können, die für den Umgang mit Dokumentarfilmen notwendigen Filmkompetenzen zu erwerben. Die selbstständige kritische Analyse des Films sowie die daran anschließende Auseinandersetzung mit der dargestellten Position im Abgleich mit den eigenen Einstellungen zum Thema erfordert - wie auch Horst Mühlmann (2005a: 75) betont -, „dass der Unterricht nicht dominant lehrerbestimmt ist, sondern dass den Schülerinnen und Schülern zunehmend zugetraut wird, sich selbstbestimmt und selbstver- Carola Surkamp & Katja Ziethe 376 antwortlich mit diesem problematischen Genre auseinander zu setzen, sei es in individueller oder kooperativer Weise“. 5. Bowling for Columbine im Unterricht: Methoden- und Aufgabenvorschläge Die folgenden pre-, while- und post-viewing-Aktivitäten zielen darauf ab, Lernende für filmische Codes und deren Wirkungsweisen sowie für manipulative Tendenzen im Dokumentarfilm zu sensibilisieren. Dabei liegt der Fokus primär auf dem Medialitätsbewusstsein sowie der narrativen Kompetenz und der Kritikfähigkeit als wichtige Säulen der Filmkompetenz. Viele der hier aufgezeigten Methoden und Aufgaben wurden bei der Behandlung von BfC bereits erfolgreich in einem Grundkurs der Jahrgangsstufe 11 eines Gymnasiums sowie in einem universitären Seminar im Rahmen der Lehrerausbildung eingesetzt. Bei der Arbeit mit Dokumentarfilmen hat es sich als hilfreich herausgestellt, wenn Lernende sich zunächst über ihr eigenes Verständnis über diese Filmgattung bewusst werden. So hat sich gezeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Schülerinnen und Schüler keine nennenswerten Erfahrungen mit Dokumentarfilmen gesammelt hat, primär Begriffe wie ‚Objektivität und ; Realität mit diesem Genre assoziiert und es als eher langweilig einstuft. Es ist sinnvoll, diese Begriffe von den Lernenden zu Beginn der Unterrichtsreihe in einer Mindmap oder einem Cluster auf Folien oder Plakaten zu sammeln, um so im Laufe oder am Schluss der Einheit auf diese anfänglichen Assoziationen zurückgreifen zu können. Äußerst gewinnbringend, wenn auch sehr zeitintensiv, ist als weitere previewing activity ein Dokumentarfilmprojekt: Die Lernenden erhalten die Aufgabe, einen dreiminütigen Film z.B. über die eigene Schule zu produzieren. Diese produktionsorientierte Aufgabe schult das Bewusstsein für die Medialität von Filmen, denn die Lernenden können in ihren Gruppen selbst einen Darstellungsschwerpunkt wählen, Einzelszenen in einer besonderen Reihenfolge montieren und im Anschluss ihre jeweiligen Produkte vergleichen. Um die Lernenden thematisch vorzuentlasten, kann ein WebQuest durchgeführt werden. Dieses stimmt sie auf den neuen Unterrichtsgegenstand ein und ermöglicht ihnen einen leichteren Zugang zum Medium. Es Perspektivierte Bilder von Wirklichkeit im Dokumentarfilm 377 können zwei Gruppen gebildet werden, die jeweils unterschiedliche Rechercheaufgaben bekommen, z.B. zum Second Amendment, der Michigan Militia oder der NRA. Die Ergebnisse werden in Form eines rotierenden Partnergesprächs ausgetauscht. Dies fördert das Verantwortungsbewusstsein der Lernenden und trainiert deren kommunikative Kompetenz. Möglich und durchaus empfehlenswert ist es außerdem, BfC im Anschluss an Morton Rhues Roman Give a Boy a Gun (2000) zu behandeln, da eine thematische Vorentlastung bereits durch die Lektüre stattfindet und im weiteren Verlauf die Besonderheiten der beiden Medien Buch und Dokumentarfilm erarbeitet werden können. Für die Untersuchung der rezeptionslenkenden Wirkung filmischer Darstellungsverfahren in BfC ist die Erstellung eines Sequenzprotokolls hilfreich. Die Schülerinnen und Schüler vermerken in diesem für jede Sequenz den Handlungsort, die Ereignisse und Dialoge sowie die handelnden Personen und die Handlungszeit (vgl. Mikos 1996: 59). Anhand eines solchen Protokolls lässt sich dann feststellen, wie der Film Wissen beim Zuschauer aufbaut (vgl. ebd.). Es kann untersucht und strukturiert festgehalten werden, welche Informationen dem Publikum wann und wie gegeben werden. Die Parallelmontage beim Manson-Interview beispielsweise kann mit Hilfe eines Sequenzprotokolls besonders gut ins Bewusstsein der Lernenden gerückt werden. Ein solches Protokoll dient als Basis und Strukturierungshilfe für die gesamte Arbeit mit dem Film. Eines der wesentlichen Charakteristika von BfC ist die Selbstinszenierung Moores. Um dieser Strategie auf die Spur zu kommen, fertigen die Lernenden in drei Phasen ein farbiges Cluster an, welches sie sukzessive mit Informationen zu Moore und ihren eigenen Assoziationen ergänzen. Für die erste Phase wird ein Bildimpuls Moores verwendet, anhand dessen die Lernenden ihre ersten Eindrücke über den Filmemacher festhalten. In einer zweiten Phase liefert ein Schülervortrag weitere Informationen über Moore. Und in der dritten Phase wird das erste Kapitel aus BfC herangezogen, da diese ca. siebenminütige Sequenz viele biographische Aspekte des Filmemachers beinhaltet. Hieran sollte sich eine Diskussion über die Methode des farbigen Clusters anschließen, denn es führt den Lernenden vor Augen, durch welche Informationen sie welches Wissen aufgebaut haben. Zudem bietet die letzte Phase einen sehr guten Übergang, um die Rolle des Filmemachers Michael Moore in BfC zu thematisieren. Die Schülerinnen und Schüler sollen erfassen, wann und wie der Filmemacher vor der Kamera in Erscheinung tritt und welche Wirkung dies auf die Rezipienten hat. Carola Surkamp & Katja Ziethe 378 Dazu dokumentieren die Lernenden als long term while-viewing activity beispielsweise in einem viewing log diesen Aspekt, um nach dem Sehen des gesamten Films im Plenum zu diskutieren, inwiefern sie die Vorgehensweise Moores für einen Dokumentarfilmer als zulässig erachten. Um den Lernenden genügend Zeit für die Analyse von einzelnen Sequenzen - z.B. der verschiedenen Interview-Szenen - und zur Bearbeitung diverser while-viewing tasks zu geben, sollte der Film im Intervallverfahren gezeigt werden (vgl. Nünning/ Surkamp 2006: 267). Auch sollten split-viewing tasks in die Unterrichtseinheit integriert werden, da der Einsatz von unterschiedlichen Beobachtungsaufgaben einen intensiven Informationsaustausch fördert und die stärkere Teilhabe jedes Einzelnen an der Bearbeitung seiner Aufgabe anregt (vgl. Bach/ Lausevic 2003: 124). Da sich Moore in seinen Interviews sehr unterschiedlich verhält, bietet es sich an, mehrere Gruppen zu bilden, die jeweils ein Interview hinsichtlich inhaltlicher (Worüber wird gesprochen? Welche Fragen werden gestellt? ) und formaler bzw. filmtechnischer Aspekte (Wie werden die Fragen gestellt? Welche Körpersprache kommt zum Einsatz? Wie wird das Interview gefilmt? Gibt es Besonderheiten bei der Kameraführung? ) genauer analysieren. Aus den Expertengruppen sollten dann im Sinne eines Gruppenpuzzles neue, gemischte Gruppen gebildet werden mit jeweils einem Vertreter aus den ursprünglichen Expertengruppen. Die Ergebnisse können so effektiv ausgetauscht werden. Alternativ ist auch ein Lernen an Stationen denkbar, wobei an jeweils einer Station ein Interview bearbeitet wird. Dabei können sich die Lernenden zwei bis drei Stationen auswählen. Kritisch hinterfragt wird oftmals die Umsetzbarkeit solcher split-viewing tasks. Jedoch ist nahezu jede Schule mit Computerräumen ausgestattet, die Zugang zum Internet haben. Auf YouTube können die erwähnten Interview-Sequenzen dann von den Schülerinnen und Schülern abgespielt werden. Um die Wirkungsweise von Musik als Emotionalisierungsinstrument aufzudecken, ist die Methode des silent viewing bzw. die des Hörens ohne Bild sehr effektiv. Die Lerngruppe wird in zwei Gruppen geteilt, wobei eine Gruppe die Bilder der Wonderful-World-Sequenz sieht und Erwartungen über den auditiven Kanal sammelt. Die andere Gruppe hingegen hört Louis Armstrongs „What a Wonderful World“ und entwickelt Ideen bezüglich der Gestaltung des visuellen Kanals. Das Weglassen eines Codes garantiert, dass die Rezipienten sich gezielt auf ein filmisches Mittel konzentrieren und so für dessen Effekte sensibilisiert werden. In einem Perspektivierte Bilder von Wirklichkeit im Dokumentarfilm 379 nächsten Schritt tauschen sich die Lernenden in Partnerarbeit über ihre Hörbzw. Seherfahrungen aus. Schließlich wird die Sequenz als Ganzes gesehen. Dadurch wird den Lernenden der Widerspruch zwischen Ton und Bild und die starke emotionale, verstörende Wirkung des musikalischen Kontrapunkts (vgl. Maas/ Schudack 1994: 33) vor Augen geführt. Sie erlangen ein Bewusstsein für das bedeutungstragende Potential, das aus dem Zusammenwirken verschiedener Zeichen im Film resultieren kann. Als post-viewing task, bei der sich die Schülerinnen und Schüler auch noch einmal mit der Gestaltung des Dokumentarfilms beschäftigen und ihr Medialitätsbewusstsein fördern können, bietet sich ein Rollenspiel in Form einer TV-Debatte an. Die Lernenden erhalten unterschiedliche Rollen wie z.B. die von Moore oder Heston oder auch die der Moore-Kritiker Melnyk und Caine von Manufactoring Dissent. Innerhalb dieser Rollen können sie dann u.a. diskutieren, „inwieweit Bowling for Columbine den Anspruch einer informativen und kritischen Dokumentation der Schusswaffenverbreitung in den USA erfüllt“ (Mühlmann 2005b: 88). Dabei sollte auch besprochen werden, „in welchem Maße die verwendeten filmischen Mittel dieser Intention gerecht werden oder aber eher der Unterhaltung und Manipulation dienen“ (ebd.). 6. Fazit Der vorliegende Beitrag hat gezeigt, dass auch Dokumentarfilme „adressatenbewusste Konstruktionen und Fiktionen“ (Decke-Cornill 2002: 220) sein können. Diese Feststellung legt - wie Decke-Cornill (ebd.) herausstellt - eine „Haltung der Skepsis gegenüber Bildern als Wirklichkeitsvermittlern nahe, provoziert die Frage nach Verantwortung und Ethik der Bilderproduktion und -rezeption und verweist auf die Naivität der Bildergläubigkeit“ (ebd.). Lernende müssen daher ein Bewusstsein für die Medialität von Filmen und die Subjektivität ihrer Darstellungsperspektive entwickeln - gerade auch im vermeintlich objektiven Medium des Dokumentarfilms. Nur so können sie zu einem kritischen Umgang mit diesem audiovisuellen Medium befähigt werden. Der Beitrag verdeutlicht weiterhin, wie wichtig die Auseinandersetzung mit dem Begriff der visuellen Kompetenz in Abhängigkeit von dem Medium ist, das im Unterricht eingesetzt werden soll. Die einem Medium Carola Surkamp & Katja Ziethe 380 eigenen Wirkungsmechanismen mögen außerdem mitunter eigene methodische Zugangsformen erfordern. Die hier vorgestellten Methoden und Aufgaben haben einen hohen Transferwert: Sie können sehr gut auch auf die Arbeit mit anderen Dokumentarfilmen übertragen werden. Die Praxis hat jedenfalls gezeigt, dass die Arbeit mit Dokumentarfilmen für Lernende sehr motivierend und gewinnbringend sein kann - insbesondere hinsichtlich der Förderung ihrer visuellen Kompetenz und der Ausbildung eines Bewusstseins für die Notwendigkeit multiperspektivischer Annäherungen an komplexe und strittige Themen. Quellen Primärtext Moore, Michael (2003). Bowling for Columbine. Universal DVD. Sekundärtexte Appel, Markus (2005). Realität durch Fiktionen: Rezeptionserleben, Medienkompetenz und Überzeugungsänderungen. Berlin: Logos. 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S TEPHAN B REIDBACH ist Professor für Didaktik am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsbereiche: der konzeptionelle und empirische Zusammenhang von Bildungstheorie und Fremdsprachendidaktik, Rekonstruktion von Bildungsprozessen im Fremdsprachenunterricht, Schulsprachen- und Fremdsprachenpolitik, historische, soziale und politische Rahmenbedingungen des Fremdsprachenunterrichts, Didaktik des bilingualen Sachfachunterrichts E-Mail: stephan.breidbach@staff.hu-berlin.de D R . H ELENE D ECKE -C ORNILL ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Didaktik der englischen Sprache und Literatur an der Universität Hamburg. Arbeitsbereiche: Literatur- und Filmdidaktik, Gender Studies, Interaktion im fremdsprachlichen Klassenzimmer, kooperatives Lernen. E-Mail: decke-cornill@erzwiss.uni-hamburg.de Autorinnen und Autoren 384 D R . M ARIA E ISENMANN vertritt die Professur für Fremdsprachendidaktik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsbereiche: Literatur- und Mediendidaktik, interkulturelles Lernen/ Landeskunde, aufgabenorientiertes Lernen, Differenzierung im Fremdsprachenunterricht E-Mail: maria.eisenmann@ewf.uni-erlangen.de D R . D R . H. C. M ULT . P ETER F REESE ist Professor Emeritus für Amerikanistik an der Universität Paderborn. Arbeitsbereiche: Amerikanische Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, die amerikanische Short Story, amerikanische Kulturgeschichte, Popular Culture Studies, Science and Literature, Didaktik der Amerikastudien für Schule und Hochschule. E-Mail: peter.freese@upb.de B RITTA F REITAG ist Doktorandin an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Studienreferendarin am Studienseminar Gießen. Arbeitsbereiche: Literatur- und Filmdidaktik, inter- und transkultureller Fremdsprachenunterricht, Black and Asian British Literature and Film, Kompetenz- und Aufgabenorientierung. E-Mail: britta_freitag@hotmail.com D R . W OLFGANG G EHRING ist Professor für Englische Fachdidaktik unter Einschluss der Theorie der Fremdsprachendidaktik sowie der Lehr- und Lernforschung an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsbereiche: Sprachdidaktik, Lehr-/ Lernforschung, Unterrichtsforschung. E-Mail: wolfgang.gehring@uni-oldenburg.de D R . W OLFGANG H ALLET ist Professor für die englische Literatur- und Kulturdidaktik am Institut für Anglistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsbereiche: kulturwissenschaftliche Literatur- und Kulturdidaktik, Bilingualer Unterricht, fremdsprachliche Kompetenzen und literacies, Literatur und Kognition, literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Kontextualisierungstheorien, Diskurstheorie, kultursemiotische Literaturwissenschaft und Multimodalität E-Mail: Wolfgang.Hallet@anglistik.uni-giessen.de Autorinnen und Autoren 385 C AROLA H ECKE ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Englischen Fachdidaktik an der Georg-August-Universität Göttingen. Arbeitsbereiche: Bildeinsatz im Fremdsprachenunterricht, Literaturdidaktik (speziell Comic-Didaktik), interkulturelles Lernen, Hochschuldidaktik, Methoden des Grammatikunterrichts. E-Mail: carola.hecke@phil.uni-goettingen.de D R . U DO O.H. J UNG war bis 2002 Geschäftsführer des Sprachenzentrums der Universität Bayreuth. Arbeitsbereiche: Alte und neue Medien im Fremdsprachenunterricht, fremdsprachlicher Kulturunterricht, Kurzwortforschung, afro-amerikanische Literatur. E-Mail: udoohjung@gmx.de D R . E VA L EITZKE -U NGERER ist Professorin für Didaktik der romanischen Sprachen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Arbeitsbereiche: Film- und Literaturdidaktik, kreative und offene Formen (insbesondere szenische Verfahren), Regionalkulturen der Romania im Unterricht sowie Mehrsprachigkeitsdidaktik (Französisch-Spanisch-Italienisch-Englisch). E-Mail: eva.leitzke-ungerer@romanistik.uni-halle.de D R . J UTTA R YMARCZYK ist Professorin für Englische Sprache und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Arbeitsbereiche: früher Schrifterwerb im Fremdsprachenunterricht, Einsatz von Kunstwerken im Englischunterricht, außerschulische Lernorte, bilingualer Sachfachunterricht und integrativer Unterricht auf der Primarstufe. E-Mail: rymarczy@ph-heidelberg.de D R . M ONIKA S EIDL ist ao. Universitätsprofessorin für Kulturwissenschaften am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien. Arbeitsbereiche: Cultural Studies, Visual Culture und Populärkulturen, Literarische Klassiker und deren Adaptionen, Österreichisch-Britische Kulturbeziehungen, Medienpädagogik. E-Mail: monika.seidl@univie.ac.at D R . J AN -A RNE S OHNS unterrichtet Deutsch, Englisch und Geschichte am Ferdinand-Porsche-Gymnasium in Stuttgart. Er arbeitet außerdem im Fachbereich Deutsch (Gymnasium) am Landesinstitut für Schulentwicklung Baden- Württemberg. Autorinnen und Autoren 386 Arbeitsbereiche: Literatur- und Filmdidaktik, Popkultur in der Bildungsarbeit, interkulturelles Lernen, kompetenzorientierter Unterricht. E-Mail: ja.sohns@yahoo.de D R . C AROLA S URKAMP ist Professorin für Englische Fachdidaktik an der Georg- August-Universität Göttingen. Arbeitsbereiche: Literatur- und Filmdidaktik, Leseförderung, dramapädagogische Ansätze im Fremdsprachenunterricht, interkulturelles Lernen, fremdsprachlicher Kulturunterricht, Hochschuldidaktik. E-Mail: carola.surkamp@phil.uni-goettingen.de D R . E NGELBERT T HALER ist Professor für Didaktik der englischen Sprache, Literatur und Kultur an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Arbeitsbereiche: Unterrichtsmethodik, Literaturdidaktik, Mediendidaktik, Cultural Studies, Lehrwerkerstellung. E-Mail: thaler@ph-freiburg.de K ATRIN T HOMSON ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik/ Amerikanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeitsbereiche: Literaturdidaktik, Mediendidaktik, Gender Studies in Literaturwissenschaft und Fachdidaktik, Cultural Studies, amerikanische Dramen- und Erzählliteratur des 19./ 20. Jahrhunderts. E-Mail: katrin.thomson@uni-jena.de D R . R AINER W ENRICH ist stellvertretender Leiter des Referats „Kulturelle Bildung“ am Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Fachberater der Kultusministerkonferenz, Beauftragter des Bundesrats in Beratungsgremien der EU. Arbeitsbereiche: Kulturelle Bildung, Kunst- und Modedidaktik, interdisziplinäre Vermittlungsansätze, interkulturelles Lernen. E-Mail: rainer.wenrich@stmuk.bayern.de K ATJA Z IETHE ist Lehrerin für die Fächer Englisch und PGW am Luisengymnasium in Hamburg Bergedorf. E-Mail: k.ziethe@luinet.de Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Helene Decke-Cornill / Lutz Küster Fremdsprachendidaktik bachelor-wissen 2., durchgesehene Auflage 2014 XII, 291 Seiten €[D] 18,99 / SFr 26,80 ISBN 978-3-8233-6865-6 Das Buch gibt Lehramtsstudierenden der neusprachlichen Fächer einen ersten Überblick über die Grundlagen der Fremdsprachendidaktik. Es ist aus Lehrveranstaltungen hervorgegangen und für Lehrveranstaltungen konzipiert. Aufgebaut nach bewährtem bachelor-wissen-Konzept verbindet das Buch den Anspruch aktueller Wissenschaftlichkeit mit einer einfachen, klaren Sprache. Der Band beinhaltet Beiträge, die das Potenzial von Bildern im Fremdsprachenunterricht beleuchten. Im Zentrum steht nicht allein das Sprachlernen, sondern auch die Förderung des Sehverstehens sowie weitere Ziele des Literatur- und Kulturunterrichts. Zur Veranschaulichung dient eine Vielzahl von Bildtypen: Buchillustrationen, Karikaturen, Plakate, Tafelbilder und Bildkunst ebenso wie das darstellende Spiel, Filme, Computerspiele, Fotos, Skulpturen und Schülerzeichnungen. Einige Artikel sind theoretisch ausgerichtet, andere beschreiben Unterrichtsmodelle und bieten konkrete Vorschläge für die rezeptive und produktive Bildarbeit. Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik