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Lebenswelten – Dialoge im Deutschunterricht

2018
978-3-8233-9250-7
Gunter Narr Verlag 
Jörg Roche
Gesine Lenore Schiewer

Spracharbeit im Deutschunterricht unter Anleitung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern - darum geht es in diesem literaturdidaktischen Lehr- und Lesebuch. Es unterstützt die Förderung von Grundlagen für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis einer interkulturellen Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Konfliktsituationen bewährt. Im Mittelpunkt dieses Bandes steht ein wichtiges Thema jedes interkulturellen Dialogs: Lebenswelten. Die persönliche Präsenz von Autorinnen und Autoren im Klassenraum erlaubt, zusammen mit entsprechenden Arbeitsmaterialien, die sinnvolle und gezielte Einbindung von Literatur in den Deutschunterricht aller Schularten und Altersstufen. Beiträge von Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträgern sind genau dafür hervorragend geeignet. Der Band ist inhaltlich und didaktisch konzipiert von Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer, José F.A. Oliver und Akos Doma, mit Gastbeiträgen von Sudabeh Mohafez, Tzveta Sofronieva und Ilija Trojanow. Dieses Lehr- und Lesebuch wendet sich nicht nur an Lehrkräfte, sondern auch an Schülerinnen und Schüler mit ihren Freundinnen und Freunden, Eltern und anderen Bezugspersonen. Damit werden die üblichen Grenzziehungen des Unterrichts aufgehoben und die oft zu engen Textsorten-Grenzen bisheriger Lehrwerke und Lehrerhandreichungen erweitert. Dies bildet sich bewusst auch in der grafischen Gestaltung der Materialien ab. Klar und anschaulich wird verdeutlicht, wie sich unsere Wahrnehmungen der Welt durch Neues, Anderes und Fremdes ständig verändern und zu permanenten Assimilations- und Akkommodationsprozessen des Wissens führen.

Lebenswelten - Dialoge im Deutschunterricht Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) Lebenswelten - Dialoge im Deutschunterricht Schreiben - Lesen - Lernen - Lehren unter konzeptueller Assistenz und mit Originalbeiträgen von José F.A. Oliver und Akos Doma Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISBN 978-3-8233-8250-8 Die Erarbeitung dieses Bandes wurde aus Mitteln der Robert Bosch Stiftung gefördert Inhalt I. Die Stadt - Mythos und Wirklichkeit (Akos Doma) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ein Dirndl in Teheran (Sudabeh Mohafez) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Natur (Akos Doma) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Das Einpflanzen des Garten Eden (Tzveta Sofronieva) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 II. Von der Mehrsprachigkeit der Welt (José F.A. Oliver) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Sonnenmond und Messerblüten (José F.A. Oliver) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Der Kampf um Bälle und Köpfe (Ilija Trojanow) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 III. Lebenswelten - Anmerkungen zu Kommunikationstheorie und Sprach- und Literaturdidaktik (Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer / Thomas Borgard) � � � � � � � � � 79 IV. Vorstellungsrunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 6 Inhalt 7 Die Stadt - Mythos und Wirklichkeit I. Die Stadt - Mythos und Wirklichkeit Akos Doma Alles, was ein Mensch sich vorzustellen vermag, werden andere Menschen verwirklichen können. Jules Verne Vor einiger Zeit begegnete mir in der Budapester U-Bahn ein junger Mann in einem auffälligen T-Shirt. Das T-Shirt trug eine Aufschrift in überdimensionalen Großbuchstaben: TOKYO. Beim genaueren Hinsehen entdeckte ich in kleinen Buchstaben darüber: „The World's Most Populous Metropolitan Area“. Die bevölkerungsreichste Metropolregion der Welt. Wie eine positive Werbebotschaft wurde dieser in meinen Ohren wenig rühmenswerte Weltrekord verkündet. Trotz der allseits bekannten Probleme, die das Leben in einer Großstadt mit sich bringt - Stress, Smog, Verkehrsbelastung, Wohnraummangel, exorbitante Mieten, fehlende Grünflächen, Kriminalität, psychischer Druck durch die Bevölkerungsdichte -, übt das Phänomen Stadt nach wie vor eine große Faszination auf den modernen Menschen aus. Es ist neben dem Auto der vielleicht schillerndste Mythos des 20. und des 21. Jahrhunderts. Die Stadt. Die Großstadt. Die Millionenstadt. Die Megastadt. Die Metropole. Die Metropolregion. Die Welt des Menschen als zivilisatorischer Gegenentwurf zur Natur, von Menschenverstand ersonnen und Menschenhand errichtet. Ein künstliches Universum, in dem der Rhythmus der Natur ausgeschaltet ist, die Unterschiede zwischen Tag und Nacht genauso verschwimmen wie die Zyklen der Jahreszeiten. Weit mehr als nur ein Lebensraum, sind Städte intellektuelle und künstlerische Zentren, Ausdruck des Wohlstands und des technologischen Fortschritts eines Landes. Eines Fortschritts, hinter den es kein Zurück gibt. Die glitzernden Fassaden der Wolkenkratzer, die Vorzeigeboulevards mit ihren Repräsentationsbauten, Opern, Theatern, Museen und Palästen, die romantischen Szeneviertel sind jedoch nur das eine Antlitz der janusgesichtigen Stadt. Die triste Wirklichkeit der Vorstädte mit ihren gesichtslosen Beton- und Asphaltsiedlungen, die Banlieues, Elendsviertel, Slums und Favelas mit ihren ineinander verschachtelten Hütten und Baracken, bevölkert von einer ausgegrenzten, besitz- und perspektivlosen, missachteten Unterschicht sind das andere - ein Sinnbild der tiefen sozialen, ökologischen und psychologischen Krise der Gegenwart. Diese Krise wird seit den siebziger Jahren auch in Filmen thematisiert, etwa in Taxi Driver (197), Martin Scorseses düsterem Porträt New Yorks. In diesen Filmen erscheint die Großstadt zunehmend als irdische Hölle, als ein Ort der Anonymität und Vereinsamung, bevölkert 8 I. von Neurotikern, psychotischen und depressiven Existenzen, als ein Hort von Kriminalität, Drogen, Prostitution, Perversion, Ausbeutung und Angst. An der magnetischen Anziehungskraft, die Städte auf die Massen ausüben, hat sich nichtsdestotrotz wenig geändert, was nicht nur mit ihrer Faszination, sondern vor allem mit der Hoffnung auf Arbeit zusammenhängt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Tendenz zur Urbanisierung ungebrochen: Wie Pilze schießen auf allen Kontinenten die neuen Groß- und Megastädte aus dem Boden, werden immer größer, immer höher, immer dichter, technologisch immer komplexer - und das immer schneller. Für das Jahr 2030 rechnet man mit rund fünf Milliarden Stadtbewohnern weltweit, ein Ende der Entwicklung ist nicht in Sicht. Die Stadt bleibt also ein Ort der Verheißung und der Desillusionierung, der Kultur und der Kulturlosigkeit, des Vergnügens und der Erschöpfung, der Freiheit und der totalen Videoüberwachung, der unbegrenzten Möglichkeiten und der absoluten Ohnmacht. Während einerseits die Verstädterung weltweit immer rasanter zunimmt, regen sich andererseits tastend Gegenkonzepte und Gegenbewegungen. Stadtflucht, Cittàslow, Entschleunigung, Zeitwohlstand, Nachhaltigkeit sind unterschiedliche Ideen und Phänomene desselben Versuchs, der Urbanisierung, der Zeitbeschleunigung und der ihnen zu Grunde liegenden Fortschritts- und Mobilitätsideologie entgegenzuwirken, dem Leben wieder menschliches Maß und Qualität zu verleihen. Utopie und Idealstadt Die Stadt als Menschenprojekt hatte seit jeher etwas Utopisches. Seit den ersten Entwürfen von Idealstädten (Idealstaaten) in der Antike (Platons Politeia) und der Renaissance (Thomas Morus' Utopia oder Tommaso Campanellas Der Sonnenstaat) bis hin zur hyperrationalistischen, geometrischen Revolutionsarchitektur eines Claude-Nicolas Ledoux ging es um die Verwirklichung einer Sozialutopie, einer gerechten, gemeinschaftlich-kommunistischen Gesellschaft. Während diese philosophischen oder architektonischen Idealstädte über das Stadium der Theorie nie hinauskamen, wurden seit dem 18. Jahrhundert künstliche Planstädte wie Sankt Petersburg, Washington D.C., Canberra oder Brasilia tatsächlich realisiert. Waren herkömmliche Städte meist um Burganlagen und Festungen oder an wichtigen Handelsplätzen entstanden und im Laufe langer Jahrhunderte organisch gewachsen, wurden solche Planstädte auf dem Reißbrett entworfen, am ausgesuchten Ort sprichwörtlich aus dem Boden gestampft und innerhalb relativ kurzer Zeit vollendet. Städtische und gesellschaftliche Utopien, die nach Perfektion und einem statischen Idealzustand streben, bergen immer die Gefahr des Totalitarismus. Die Urerzählung solch menschlicher Selbstüberhebung (Hybris) und ihrer Bestrafung ist die biblische (Stadt-)Geschichte des Turmbaus zu Babel. Darin verhindert Gott den Plan der Babylonier, einen Turm bis zum Himmel zu bauen und dadurch ihm selbst gleich zu werden, indem er Sprachverwirrung unter ihnen auslöst und damit dem Bauvorhaben ein Ende setzt. Das größte filmische Monument einer Großstadtutopie schuf der deutsche Regisseur Fritz Lang mit seinem Stummfilmklassiker Metropolis (1927), nach einem Drehbuch von Thea von Harbou. Metropolis ist nicht nur sensationell in seiner technischen und visuellen Umsetzung 9 Die Stadt - Mythos und Wirklichkeit und seinen Massenszenen, sondern auch prophetisch in seiner Zukunftsvision. Der Film zeigt die hypermoderne Metropole als eine Welt zweier strikt voneinander getrennter Gesellschaften: einer reichen, in paradiesischem Luxus lebenden Elite und der Heerschar der unter der Erde dahinvegetierenden, roboterhaft arbeitenden modernen Sklaven. Großstadtromane Mit dem Aufstieg der Städte im 19. Jahrhundert beginnt auch die Blütezeit des Großstadtromans. Dort dient die Großstadt nicht nur als Schauplatz der Handlung, sondern wird gleichsam selbst zum Protagonisten. Oft mit vielen Haupt- und Nebenfiguren bevölkert, versuchen diese Romane, einen Querschnitt der unterschiedlichen sozialen Schichten der Stadt zu zeigen. Ein frühes Beispiel des Großstadtromans ist Victor Hugos Der Glöckner von Notre Dame (1831), der dem mittelalterlichen Paris ein zeitloses Denkmal setzt. Diese Tradition setzt sich in den großen Pariser Romanzyklen Honoré de Balzacs und Émile Zolas fort. Eine ähnliche Rolle spielt London in den Romanen von Charles Dickens. Von seinem ersten Werk Londoner Skizzen (Sketches by Boz, 183) über Oliver Twist (1837-39) bis hin zu den großen Spätwerken Bleak House (1852-53) und Große Erwartungen (180-1) kehrt Dickens immer wieder zum Schauplatz London zurück. Dickens' sozialkritischer Impetus, seine Darstellungen der Not und der Ungerechtigkeit in den Elendsvierteln und öffentlichen Einrichtungen hat entscheidend zur Einführung der Sozialgesetzgebung in England beigetragen. Das gleiche düstere Stadtbild, die gleichen heruntergekommenen Stadtexistenzen zeichnet Fjodor Dostojewski in seinen großen Romanen Schuld und Sühne, Der Idiot, Die Dämonen und Die Brüder Karamasow. Wie im chronischen Fieberwahn durchstreifen seine besessenen, getriebenen Protagonisten die Straßen Sankt Petersburgs. Sie sind sprichwörtlich Gefangene der Stadt - wie sie analog dazu Gefangene ihres krankhaft überreizten, intellektuellen Verstandes sind. In Dostojewskis Tradition steht auch Knut Hamsuns Roman Hunger (1890), dessen hungernder Held delirierend durch die Straßen Oslos irrt. Bedeutende Großstadtromane des frühen 20. Jahrhunderts sind Theodore Dreisers Chicago-Roman Sister Carrie (1900), Andrei Belys Petersburg (191) und Ulysses (1922) von James Joyce, der einen Tag im Leben eines schäbigen Anzeigenkäufers in Dublin schildert. Zu nennen sind außerdem John Dos Passos' New-York-Roman Manhattan Transfer (1925) und Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) über die Versuche Franz Biberkopfs, eines einfachen Mannes von der Straße, nach einer jahrelangen Haftstrafe in Berlin wieder Fuß zu fassen. Zu den bedeutenden Großstadtromanen des 20. Jahrhunderts zählen auch Michail Bulgakows Der Meister und Margarita (1928-0, Moskau), Heimito von Doderers Die Strudelhofstiege (1951, Wien), Camilo José Celas Der Bienenkorb (1951, Madrid), Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951, München), Carlos Fuentes’ Landschaft in klarem Licht (1958, Mexiko-Stadt) und Yasunari Kawabatas Kyoto (192). 10 I. Schreibaufgaben Aufgabenstellung 1 (15-20 Minuten) Als Einstieg in das Thema sammeln die Schülerinnen und Schüler Begriffe und Ideen, die sie mit der „Stadt“ assoziieren. Welche Phänomene der Stadt sind aus ihrer Sicht positiv, welche negativ? Anschließend gemeinsame Besprechung der Ergebnisse. Aufgabenstellung 2 (30 Minuten) Die alte Fabel Die Stadtmaus und die Feldmaus erzählt von zwei Mäusen, einer aus der Stadt und einer vom Land, die sich gegenseitig besuchen. Bei ihrem Besuch auf dem Land empfindet die Stadtmaus die Speisen und die Lebensweise der Feldmaus als dürftig, bei ihrem Gegenbesuch in der Stadt wird die Feldmaus traumatisiert durch die Nähe der Menschen, die den Keller des Hauses frequentieren, das die Stadtmaus bewohnt. Sie zieht es vor, in die karge, aber sichere menschenferne Welt ihrer Felder zurückzukehren, während die Stadtmaus lieber in der bequemen, aber gefährlichen Welt der Stadt bleibt. Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Erzählung, in der sie den Besuch einer Familie vom Land in der Großstadt oder einer Familie aus der Großstadt auf dem Land schildern. Wie reagieren die Gäste auf die fremden, ungewohnten Sitten und Lebenszustände der jeweils anderen Seite? Was passiert alles während des Besuchs, der mit einem gemeinsamen Mahl oder Fest seinen Höhepunkt erreicht? Da eine solche Konstellation reichlich komisches und ironisches Potential besitzt, bietet sich bei dieser Aufgabe besonders eine komische Variante der Geschichte an. 11 Die Stadt - Mythos und Wirklichkeit Aufgabenstellung 3 (45 Minuten) Eine besondere Faszination übten Ideal- und Phantasiestädte auf Jules Verne aus, den französischen Romancier und Begründer des Science-Fiction-Genres. In immer neuen Varianten kommen in seinen Romanen phantastische Städte vor: eine unterirdische Bergwerkssiedlung in Die Stadt unter der Erde , eine schwimmende, künstliche Milliardärsinsel in Die Propellerinsel , eine Stadt auf einem Riesenfloß in 800 Meilen auf dem Amazonas , eine geheime, hochtechnisierte Stadt inmitten der Sahara in Das erstaunliche Abenteuer der Expedition Barsac . In seinem Roman Die 500 Millionen der Begum entwirft Verne zwei gegensätzliche Städte in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander: France-Ville , eine blühende Idealstadt, erbaut nach dem neuesten Stand von Technik und Wissenschaft, und die düstere Stahlarbeiterstadt Stahlstadt , die France-Ville bald mit einer geheimnisvollen Riesenkanone bedroht. Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Geschichte mit dem Titel „Ein Tag in meiner Idealstadt“. In dieser Erzählung kommt es weniger auf die Handlung an als auf die Beschreibung der Idealstadt. Wie sieht die Stadt aus? Wie leben die Menschen darin, was ist in ihr anders als in den heutigen Städten? Was macht sie ideal? Aufgabenstellung 4 (45 Minuten) Alfred Hitchcock, der Regisseur spannungsgeladener Suspense-Filme, lässt Höhepunkte und Schlüsselszenen seiner Filme oft an berühmten Schauplätzen spielen, meist in Großstädten: im Britischen Museum in London ( Erpressung ), auf der Freiheitsstatue in New York ( Saboteure ), im Royal Albert Hall in London ( Der Mann, der zu viel wusste ), unter der Golden Gate Bridge in San Francisco ( Vertigo - Aus dem Reich der Toten ), im UNO-Gebäude in New York und auf den überdimensionalen Präsidentenköpfen am Mount Rushmore in South Dakota ( Der unsichtbare Dritte ). Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Erzählung, die an realen Schauplätzen ihrer eigenen Stadt - oder einer anderen Stadt, die sie gut kennen - spielt. Die Schauplätze oder Sehenswürdigkeiten des Ortes sollen möglichst organisch in die Handlung einbezogen werden. 12 I. Aufgabenstellung 5 (30-45 Minuten) Fußballderbys sind emotional aufgeladene Spiele zweier Mannschaften aus der gleichen Stadt oder der gleichen Gegend. Gerade die geografische Nähe beider Mannschaften weckt den Wunsch, sich von der jeweils anderen Mannschaft, der anderen Stadt, dem anderen Stadtteil zu distanzieren. In dieser Erzählung beschreiben die Schülerinnen und Schüler ein solches Derby. Sie schildern die Vorbereitungen, den Gang ins Stadion, das Spiel und die Zeit danach. Die Geschichte soll entweder aus der Perspektive einer oder beider Mannschaften erzählt werden und mit einer überraschenden, unerwarteten Wendung enden. Aufgabenstellung 6 (45 Minuten) Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Geistergeschichte. Die Handlung beginnt mit dem Einzug einer Familie in ein altes, schon lange unbewohntes Haus in einer Stadt. Kurz darauf kommt es zu seltsamen Zwischenfällen, Erscheinungen, Geräuschen. Der junge Protagonist der Geschichte beginnt zu forschen und bringt zum Beispiel die düstere Vergangenheit des Hauses ans Tageslicht. Da es sich hierbei um eine Geistergeschichte handelt, muss das Ende keine rationale Auflösung oder Erklärung der Ereignisse bieten, es kann offen oder irrational sein. Besonderes Augenmerk soll bei dieser Erzählung auf die Atmosphäre, die unheimliche Stimmung, das Geheimnis gelegt werden. Aufgabenstellung 7 (mehrere Schulstunden) Ferenc Molnárs Roman Die Jungen von der Paulstraße (1906), einer der schönsten Jugendromane der Weltliteratur, der auch Erich Kästner zu seinem Buch Das fliegende Klassenzimmer inspirierte, handelt vom Kampf zweier Jugendbanden - der „Jungs von der Paulstraße“ und der „Rothemden“ - um einen begehrten Bolzplatz mitten in der dicht bevölkerten Großstadt Budapest. Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine längere Geschichte, in der es ebenfalls um den Kampf zweier rivalisierender Jugendbanden in einer Stadt geht. Besonderer Wert soll auf eine stimmige Zeichnung der Figuren und der Cliquen gelegt werden. Worin unterscheiden sich beide Gruppen? Warum nimmt der Erzähler Partei für die eine Seite? Worum wird gekämpft? 13 Ein Dirndl in Teheran Ein Dirndl in Teheran Sudabeh Mohafez Übersicht Ausgangspunkt, Hintergrund und Zielsetzung Über transkulturelle Lebenswirklichkeiten und Mehrsprachigkeit und über ihre Potentiale für Schule im Allgemeinen und den Deutschunterricht im Speziellen A - Transkulturelle Lebenswirklichkeiten wahrnehmen und sichtbar machen ▶ Literarische Strategien der Unterwanderung normativer Setzungen ▶ Konnotationen verschieben, aufbrechen, erweitern am Beispiel der Erzählung Der alte König ▷ Übung 1 ▷ Übung 2 ▶ Exkurs: Zehn-Zeiler ▶ Wahrnehmungsfelder erweitern - Figuren aus mehrsprachigen Lebenswirklichkeiten am Beispiel der Erzählung Woran man ihn erkennt ▷ Übung ▶ Ironie als sprachliches Mittel der Machtumkehr im Kontext kultureller Vielfalt am Beispiel der Erzählung Bauer Scheurle und die Jungfrau im Kürbis ▷ Übung 1 ▷ Übung 2 B - Die Lust an Verunsicherung wecken und fördern ▶ Von der Freude des Geistes an stabilisierter Beweglichkeit ▶ Verunsicherung und Lernprozesse | Plot am Beispiel der Erzählung rote hunde ▷ Übung ▶ Vielfalten und Grenzziehungen | Figuren am Beispiel der Erzählung Von wegen Türöffner ▷ Übung ▶ Mehrsprachigkeit in der Lyrik am Beispiel der Gedichte [chāk] und das kind isst platanen ▷ Übung 1 ▷ Übung 2 14 I. Ausgangspunkt, Hintergrund und Zielsetzung Manche Geschichten kommen nur in die Welt, weil sie von ihr gerufen werden. Das war mir lange nicht bewusst, drängte sich aber als Erkenntnis geradezu auf, als die Idee zu meinem Erzählband Behalte den Flug im Gedächtnis 1 entstand. In seinen Anmerkungen zu nach den narkosen 2 berichtet der Lyriker Paul-Henri Campbell davon, dass der Herzfehler, mit dem er geboren wurde, in seinem literarischen Schaffen bis dato ebenso wenig vorkam wie alle mit dieser biografischen Gegebenheit einhergehenden Fragen. Es gibt Themen, die kommen Schreibenden als literarische Topoi nicht unbedingt in den Sinn - auch wenn sie eng mit ihrem Leben verbunden sind. Das kann die unterschiedlichsten Gründe haben und ist, selbstredend, immer legitim: Die Tatsache, dass eine literarisch arbeitende Person mit irgendetwas eine Erfahrung hat, verpflichtet sie nicht dazu, darüber zu schreiben. Mir ist es jahrzehntelang so gegangen mit Fragen zur Hybridität meines familiären Hintergrunds, zu Mehrsprachigkeit und dem Umzug meiner Familie aus dem Geburtsland meines Vaters ins Geburtsland meiner Mutter. Sie interessierten mich literarisch nicht. Als Enkelin und Großnichte überzeugter Nationalsozialisten und als Tochter einer Mutter aus der von Sabine Bode so bezeichneten deutschen Kriegskinder-Generation beschäftigten mich Fragen der NS-Tradierung, der transgenerationalen Traumaweitergabe und der daraus resultierenden psychischen und physischen Gewalt im innerfamiliären Umgang der zweiten, dritten und inzwischen bereits vierten Generation erheblich mehr als meine iranisch-deutsche Herkunft: Sie gab mir weder Rätsel auf noch verursachte sie mir Probleme. Folgerichtig nehmen meine beiden Romane und ein Großteil der von mir verfassten Literatur direkt oder indirekt unterschiedliche Aspekte der Kriegsenkel-Thematik auf. Sie literarisch zu fassen, war ein Bedürfnis, das mein Schreiben von Anfang an und beinahe durchgängig inspiriert hat. Nun ist es aber mit dem, was eine Person interessiert, und dem, was die Welt an dieser Person interessiert, manchmal so eine Sache: Ungeachtet meiner eigenen Schwerpunkte und der Themen meiner Bücher zielt nämlich der Löwenanteil aller literarischen Auftragsarbeiten, die ich erhalte, auf Fragen der Migration, der Interkulturalität und der kulturellen Vielfalt. So entstand, von mir selbst gänzlich unbeabsichtigt, ein thematisch zwiefältiger Korpus aus Texten: Da gibt es jene, die aus meinem persönlichen Schreibinteresse resultieren, die um Weitergabe von Traumata, das Überleben gewalttätiger Strukturen und, vor allem, um die Rückkehr in die Liebe kreisen. Und es gibt die anderen, die auf Lebenswirklichkeiten der Mehrsprachigkeit, der Vielfalt, der Hybridität, auch der Kulturwechsel fokussieren und die so gut wie immer durch Anfragen von außen entstanden sind. Die meisten Texte dieser zweiten Gruppe habe ich jahrelang stiefmütterlich behandelt und eher als Nebenprodukte meines literarischen Schaffens betrachtet. Auf Lesungen, bei denen ich die eine oder andere dieser Geschichten als Zugabe vortrug, stellte ich dann aber fest, dass es im Publikum ein enormes Interesse auch an diesen Erzählungen gab. Eine beglückende 1 Mohafez (Dresden 2017). 2 Campbell (Heidelberg 2017). 15 Ein Dirndl in Teheran Erkenntnis, denn aus eigenem Antrieb hätte ich die allermeisten dieser bislang nur verstreut erschienenen Arbeiten niemals verfasst. 3 Darum, was eine ganze Reihe von genau diesen Texten für den Deutschunterricht der Klassenstufen 7 bis 12 im Angebot hat, wird es im Folgenden gehen. Meiner Erfahrung nach bringen transkulturelle Familiensysteme in aller Regel bereits gleich mit dem Beginn des Lebens eine wesentliche, zentrale und für die Weltwahrnehmung zutiefst prägende Erfahrung mit sich. Jene nämlich, dass es nie nur eine, sondern immer mindestens zwei Wahrheiten gibt und diese einander keineswegs ausschließen. Häufig beginnt das schon mit den Namen der Eltern, die häufig aus zwei verschiedenen Sprachen stammen, und trifft selbst dann zu, wenn diese beiden für die Entwicklung eines Kindes so wichtigen Menschen sich nur in einer einzigen Sprache unterhalten und auch ihre Kinder nur in dieser einen Sprache ansprechen. Die unterschiedlichen Sprachen manifestieren sich dennoch, beispielsweise in voneinander abweichenden Aussprachen, Schreibweisen oder Schriften. Auch wenn beide Elternteile beispielsweise nach dem Schutzpatron der Fischer, Seilmacher und Wasserträger benannt sind, kann es gut sein, dass der eine André heißt, die andere Andrea. Dasselbe gilt bei diesem Namen selbst im Falle gleichgeschlechtlicher Partnerschaften: die eine Mutter hieße Andréa, die andere Andrea. Um den Bereich der lateinischen Buchstaben zu verlassen, hier noch ein weiteres Gedankenspiel: Die deutsche Mutter eines Kindes könnte Heide heißen, während die Schwester seines iranischen Vaters هﺪﯾﺎھ genannt wird. Das spricht sich beinahe identisch aus, nämlich in etwa ‚Hajede‘, und bedeutet etymologisch betrachtet  sogar Ähnliches. Offensichtlich aber ist an diesen so gut wie identischen Namen dennoch ein Aspekt alles andere als kongruent mit seinem Pendant aus der anderen Sprache. In diesem Fall ist es die jeweils dazugehörige Schrift. Einerseits die heutzutage in arabischen Lettern gefasste persische, die natürlich eine (genau genommen sogar zwei) ganze Kultur(en) und Kulturgeschichte(n) repräsentiert, nämlich die persische und die arabische, wie es anderseits auch die lateinische tut, die wir zur Notation der deutschen Sprache verwenden. Dem Kind aus unserem Beispiel erscheinen diese beiden Wörter aus diesen beiden Sprachen in diesen beiden Schriften als die zwei ‚Heide‘-Mindestwirklichkeiten unserer Welt. Und zwar nicht erst nach dem Studium etymologischer Wörterbücher: Das Wissen um sie gehört zum ganz gewöhnlichen Alltagswissen des Kindes. Und mit ihm weiß dieses Kind beinahe automatisch, dass sich dort, wo es zwei Wahrheiten gibt, durchaus auch eine dritte, vierte oder fünfte finden lassen könnten. Einmal nachhaltig im Welt- und Selbstverständnis eines Menschen verankert, wirkt diese Erkenntnis als eine der zentralen Grundlagen für jedwede Form der Friedensarbeit, der Bemühung um gelingende Verständigung und Kommunikation, aber auch der Stärkung von Empathie und Einfühlungsvermögen. All das sind Voraussetzungen für die erfolgreiche 3 Der Abdruck von Teilen des Vorworts zu Mohafez (Dresden 2017) erfolgt mit freundlicher Genehmigung der edition AZUR.  هﺪﯾﺎھ : aufgenscheinlich, offenkundig. Heide: (mhd, ahd, got) unbebautes, wildgrünendes (also offenliegenes) Land. 16 I. Gestaltung eines Zusammenlebens in Vielfalt - und zwar wohlgemerkt: nicht nur in seiner Erscheinungsform ethnischer oder religiöser Pluralitäten. Ganz ähnlich wie das Training von Balanceübungen in der Physiotherapie oder im Yoga führen die Erfahrungen einer sich der Welt öffnenden Bereitschaft zur Verunsicherung, zur Wahrnehmung von Vielfalt und zu einer Wertschätzung eher von Fragen als von Antworten in der Annäherung an Fremdes wie Eigenes (! ), zu einer wie selbstverständlich im betreffenden Menschen verankerten aufrechten, gleichzeitig entspannten und starken, vor allem aber nur schwer durch Unerwartetes aus dem inneren Lot zu bringenden Haltung. Die zu den im Folgenden vorgestellten Texten entwickelten didaktischen Vorschläge sind darauf ausgelegt, diese gesellschaftsbezogenen Überlegungen für Schule im Allgemeinen und für den Deutschunterricht im Speziellen nutzbar zu machen, und zwar im Rahmen der Auseinandersetzung mit Literatur. Im Übrigen verstehen sich meine Anregungen als genau das: Sie sind Anregungen, nicht etwa Vorgaben oder starre Muster und Raster. Es handelt sich dabei um Impulse, die - im besten Falle - inspirierend wirken sollen und hoffentlich zu eigenen Abwandlungen, Neuschöpfungen oder Anpassungen an den Bedarf der jeweiligen Klassenverbände und Gruppen, aber auch an die speziellen Kompetenzen, Fragestellungen und Interessen der Lehrer und Lehrerinnen führen werden. A - Ein Dirndl in Teheran ▶ Literarische Strategien der Unterwanderung normativer Setzungen ▶ Konnotationen verschieben, aufbrechen, erweitern am Beispiel der Erzählung Der alte König ▷ Übung 1 ▷ Übung 2 ▶ Exkurs: Zehn-Zeiler ▶ Wahrnehmungsfelder erweitern - Figuren aus mehrsprachigen Lebenswelten am Beispiel der Erzählung Woran man ihn erkennt ▷ Übung ▶ Ironie als sprachliches Mittel der Machtumkehr im Kontext kultureller Vielfalt am Beispiel der Erzählung Bauer Scheurle und die Jungfrau im Kürbis ▷ Übung 1 ▷ Übung 2 Literarische Strategien der Unterwanderung normativer Setzungen Vielfalt blüht auf, wo die Behauptung von Eindeutigkeiten aufgegeben wird. Um einen derartigen Transformationsprozess im Denken, aber eben auch im Schreiben zu ermöglichen, müssen Normierungen und Vereinheitlichungstendenzen an und für sich, insbesondere aber auch in ihrer hegemonialen Wirkmächtigkeit erst einmal erkannt werden. 17 Ein Dirndl in Teheran Konnotationen verschieben, aufbrechen, erweitern am Beispiel der Erzählung Der alte König Die nur zweieinhalb Buchseiten lange Erzählung Der alte König 5 beginnt mit den folgenden Sätzen: „An dem Tag trug ich ein Dirndl. Ich hatte drei verschiedene und dies war mein Lieblingsdirndl: grün mit kleinen Rosen darauf.“  Da ein Dirndl zur Kategorie der Kleider gehört, wird hier zunächst einmal eine weibliche Figur evoziert. Da ein Dirndl als Tracht außerdem mit dem bayerischen oder österreichischen Kulturraum und deren Brauchtum assoziiert ist, sind gleichzeitig Deutschland, Süddeutschland, Österreich und ein in Traditionen verankerter deutschsprachiger Raum konnotiert. Im nächsten Satz heißt es dann: „Es war warm in Teheran, die Sonne blendete.“ 7 Die Erwartung, die in den Einführungssätzen durch den angerissenen Konnotationsraum aufgebaut wird, wird also bereits im dritten Satz der Erzählung konterkariert, indem wir uns mit der Ich-Erzählerin keineswegs im deutschsprachigen, ja nicht einmal in einem Raum hauptsächlich christlicher Traditionen und Sozialisierungen, sondern fernab davon wiederfinden, nämlich in der Hauptstadt eines Staates, dessen Amtssprache das Farsi oder Persisch und dessen prävalente Religion der schiitische Islam ist. Im weiteren Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass die noch sehr junge Hauptfigur Tochter einer deutschen Mutter und eines iranischen Vaters ist. Ihre ganz selbstverständliche Zugehörigkeit zu beiden Kulturen und zur Geschichte beider Herkunftsländer ihrer Eltern ist ein wesentlicher Aspekt der Erzählung und wird bereits in diesen ersten Zeilen stellvertretend durch die Engführung von Kleidung und Ort abgebildet. Das Kind wird sich, so viel erfahren wir beim Weiterlesen, später im Leben in der historischen und politischen Entwicklung zweier Länder, Deutschlands und des Iran, verorten (müssen). Und wir erfahren außerdem: für dieses Kind ist das ganz normal. An keiner Stelle der Erzählung werden Fragen der Spaltung oder der Zerrissenheit zwischen den betreffenden Ländern oder ihren Kulturen auch nur angedeutet. Die beinahe automatischen, selten bewusst werdenden und hochnormativen Assoziationen, die mit dem Signifikanten Dirndl einhergehen, werden hier durchkreuzt, die Erwartungshaltung, die sich mit ihnen einstellt, wird nicht bedient. Dadurch werden Assoziationen und Erwartungshaltungen bewusst gemacht und neue Optionen dessen aufgezeigt, was „Deutschsein“, „Iranischsein“ oder auch das Tragen eines Dirndls alles umfassen kann. Auch ein in Teheran lebendes Mädchen mit einem iranischen Vater und einem persischen Namen kann deutsch sein. Und ihre Eltern können ein typisch deutsches Kleidungsstück als passend für ihre Tochter betrachten. 5 Mohafez (Dresden 2017) S. 9ff.  Mohafez (Dresden 2017) S. 9. 7 ebd. 18 I. Konsequent weitergedacht ergibt sich daraus auch: Die gleichberechtigte und gleichwertige Zugehörigkeit zu zwei Kulturen, Staaten, Sprachen etc. ist für viele Menschen der normale (! ), richtige und stimmige Zustand kulturellen Selbstverständnisses. Im Umkehrschluss lässt sich erläutern, dass die Zugehörigkeit zu nur einer einzigen Kultur keineswegs die Norm sein muss, ja in vielen Gegenden der Welt sogar eher eine Rarität ist; beispielsweise in weiten Teilen des afrikanischen Kontinents, aber auch in Staaten wie der Türkei, Schweden, Finnland oder Deutschland um nur einige zu nennen. DER ALTE KÖNIG An dem Tag trug ich ein Dirndl. Ich hatte drei verschiedene und dies war mein Lieblingsdirndl: grün mit kleinen Rosen darauf. Es war warm in Teheran, die Sonne blendete. »Oktober 19« steht in der runden Schreibschrift meiner damals einunddreißigjährigen Mutter auf der Rückseite des Fotos . Die schwarze Tinte ihres Füllers hat mit den Jahren die Farbe eines tief dunklen Aquamarin angenommen, und ich kann mir die Tatsache, dass ich mich an die Begebenheit überhaupt erinnere, obwohl ich gerade erst drei geworden war, nur damit erklären, dass wir im Familienkreis später noch mehrmals Ähnliches erlebten. Was ich zu erinnern meine, ist schwammig und ungewiss - bis auf eines: das Wort, das der Mann, der auf dem Foto neben mir steht, freudestrahlend sagte. Es ist Teil der Hörerinnerungen meines Lebens geworden. Als hätte etwas in mir damals schon gewusst, dass es eine Wichtigkeit hat, etwas Wesentliches transportiert, etwas, das mir damals allerdings schleierhaft blieb. Und tatsächlich sollte es noch über zwanzig Jahre dauern, bis ich eine erste Ahnung davon bekam, was sich mir in diesem Moment, der, auf Zelluloid und Fotopappe gebannt, heute als Schwarz-Weiß-Reminiszenz auf meinem Schreibtisch liegt, dargeboten hat als fein gewebtes Muster im Teppich meines Lebens. Meine Mutter, schwarze Pariser Pfennigabsätze, Dreiviertelarm Oberteil aus einem Gemisch dunkler Seide und Baumwolle, knielanger, figurbetonter Rock und die Haare modisch hochgesteckt, bückt sich zu einem Wägelchen hinunter, das man heute Buggy nennen würde und in dem mein jüngerer Bruder sitzt. Ich lächle in die Kamera. Neben mir steht der junge Mann, vielleicht siebzehn, achtzehn Jahre alt, in schäbigem Anzug und einem häufig gewaschenen Hemd. Er strahlt meine Mutter an. Seine weiche, melodische und möglicherweise vom Stolz über seine Kenntnisse ein wenig gehobene Stimme klingt mir noch in den Ohren. Mit leuchtenden Augen sagte er: »Oilitleh! « Er sagte es zwei Mal und beim zweiten Mal wendete sich meine Mutter mit einem höflichen Lächeln hilfesuchend zu meinem Vater um, der gerade das Foto schoss. Wie die Situation ausging, weiß ich nicht mehr, nur dass ich später im Auto fragte, was der Mann denn gesagt habe, weil ich das Wort nicht kannte und spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. »Ach«, sagte mein Vater, »nichts weiter. Er hat ›Oilitleh‹ gesagt. Viele meiner Landsleute glauben, das sei die schickliche Art, Deutsche zu begrüßen.« Ich verstand nicht, was er damit meinte, und machte ein Lied aus dem Wort, was meinen Vater zum Lachen brachte: »Oilitleh, Ohoilit leeeeeeh, Ohoi-ohoi-ohoililtleheheeee«, und immer so fort, bis meine Mutter auf dem Beifahrersitz herumfuhr, mich ärgerlich ansah und mir den Mund verbot. Erschrocken, verwirrt und verschämt starrte ich auf den Boden. Sie sagte nichts weiter, drehte sich nur um und schwieg beharrlich während der gesamten Heimfahrt. 19 Ein Dirndl in Teheran »Was heißt das? «, fragte ich später meinen Vater, als er mich ins Bett brachte. »Was heißt ›Oilithleh‹? « Das Sprech- oder besser Singverbot hatte dazu geführt, dass ich inzwischen ganz vernarrt war in das Wort. »Und warum hat der Mann den Arm so komisch nach vorn gestreckt, als er es sagte? « Vater strich mir über die Stirn. »Es gab einmal einen König in Deutschland«, erklärte er. »Er hieß Hitler. Er dachte, die besten Menschen der Welt kämen aus dem Iran. Er nannte sie Arier. Und wie du weißt, ist der Titel unseres iranischen Königs Schahanschah Ariamehr: Kaiser der Könige, Licht der Arier. Die Deutschen mögen die Iraner deswegen, und die Iraner mögen die Deutschen. Genau wie deine Mutter und ich uns ja auch lieben. Diesen König begrüßte man so, wie der Mann auf der Straße deine Mutter begrüßte, als er herausfand, dass sie Deutsche ist: Man streckte den Arm aus uns sagte ›Heil, Hitler! ‹ Mit einem persischen Akzent gesprochen, klingt das dann wie ›Oilitleh‹.« Ich dachte über den alten deutschen König nach. Irgendetwas stimmte immer noch nicht. Mein Vater schaltete das Licht aus, aber ich rief ihn zurück. »Warum darf ich denn nicht von dem König singen? «, wollte ich wissen. »Weil er ein schlechter König war, mein Kind. Schlechte Könige soll man nicht besingen«, gab er mir zur Antwort. Dann zog er die Tür zu und ich spürte, dass dies eine abschließende Erklärung gewesen war. Eine, auf die keine weitere folgen würde. In der Dunkelheit dachte ich darüber nach, was aus einem König einen schlechten König machte, kam aber nicht besonders weit damit. Also summte ich trotzig und mit fest geschlossenen Lippen meine Oilitleh-Melodie vor mich hin. Ich tat es, bis ich einschlief, und behielt diese Angewohnheit noch wochenlang bei. In: Sudabeh Mohafez: Behalte den Flug im Gedächtnis. Erzählungen © edition AZUR, Dresden 2017 20 I. Übung 1 8 9 1. Lesen Sie der Gruppe die Erzählung Der alte König vor. 2. Klären Sie unbekannte Begriffe oder Wörter, je nach Alter und Zusammensetzung der Gruppe, und rekapitulieren Sie die Handlung. Wurde die Geschichte von allen verstanden? ▶ Reminiszenz, Zelluloid, Teheran, Hörerinnung, Pfennigabsatz usw. 3. Sprechen Sie mit der Gruppe gezielt über die ersten drei Sätze. Was passiert? Worin gründet der erstaunliche Moment? Wurde er überhaupt empfunden? Wenn nein, lag es möglicherweise daran, dass das Wort ‚Teheran‘ unbekannt war? . Erarbeiten Sie die Bedeutung von Konnotationen mit der Gruppe. 5. Aus den ersten drei Buchstaben des eigenen Vornamens (ein bisschen wie bei einem Akrostichon) bildet jede/ r drei Substantive. ▶ Vorname: Sudabeh; drei Substantive aus den ersten drei Buchstaben: Sonne, Uhu, Dorf. . Jede/ r tauscht den eigenen Zettel/ die eigenen Wörter mit der Person zur Linken. Es wird also nicht mit den eigenen Wörtern gearbeitet, sondern mit fremden. 7. Jede/ r bildet zu diesen drei Substantiven Konnotationsfelder ▶ Sonne: hell, gelb, warm, Sommer, Freiheit, Urlaub … ▶ Uhu: Wald, Nacht, weich, Raubvogel … ▶ Dorf: Provinz, klein, Kirche, Felder, Wald, Wiesen, Bauer … 8. Die Konnotationsfelder werden mit den Verfassern/ innen der Substantive getauscht (zurückgetauscht). 9. Jede/ r schreibt einen Zehn-Zeiler 9 99 , der mit einer Verschiebung, einem Aufbruch oder einer Erweiterung der Hauptkonnotationen eines Wortes beginnt. ▶ Die Sonne blendete. Ich atmete tief ein und aus und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Um mich herum nichts weiter als endlose Schneefelder, hinter mir die langgezogenen Spuren meines Marsches. ▶ Der Blick ins tiefe Schwarz der Sonne blendete, als sähe ich ungeschützt zu ihr auf. Eine Sonnenfinsternis hatte ich mir anders vorgestellt. ▶ Die Scheinwerfer blendeten fast schmerzhafter als die Sonne hinter ihnen es tat: So also wurde Licht am Filmset hergestellt. 8 Die vorgeschlagenen Übungen beziehen sich ausschließlich auf das jeweils gesetzte Thema, hier Konnotationen verschieben, aufbrechen, erweitern. Alle vorgestellten Erzählungen können natürlich darüber hinaus für zahlreiche andere Themen und Fragestellungen mit entsprechend angepassten Übungen verwendet werden. 9 Vgl.: Exkurs Zehn-Zeiler, S. 21. 21 Ein Dirndl in Teheran Übung 2 1. Erarbeiten Sie mit der Gesamtgruppe ein Konnotationsfeld zu einem von Ihnen gewählten Wort, das Verbindungen zu einer anderen als der deutschen Kultur mitbringt. ▶ Saz, Yoga, Lappen, Fjord, Salam-Aleikum, Vegemite-Aufstrich, Känguruh, Tippi usw. 2. Zu den gefundenen Konnotationen werden in Zweiergruppen Verschiebungen, Aufbrechungen oder Erweiterungen erarbeitet. 3. Jede/ r schreibt einen Zehn-Zeiler, in dem eine solche Verschiebung/ Erweiterung usw. eingesetzt ist. Exkurs: Zehn-Zeiler Das von mir im Kürzestprosaband das zehn-zeilen-buch 10 durchgehend verwendete Format des Zehn-Zeilers hat sich in meiner langjährigen Arbeit als Leiterin von Schreibwerkstätten für die Klassenstufen sieben bis zwölf an Realschulen, Werkrealschulen, Gesamtschulen, Gymnasien und Berufsschulen hervorragend bewährt. Es birgt den Vorteil, dass am Ende der Werkstatt pro Kopf eigentlich immer drei bis acht in sich abgeschlossene Texte vorliegen. Meine Originaldefinition eines Zehn-Zeilers bestand aus 852 Zeichen mit Leerzeichen (+/ - 5 Zeichen), die innerhalb einer Viertelstunde zu einem beliebigen Thema als literarischer Text verfasst werden mussten. Diese sind im Buch dann jeweils auf zehn Zeilen verteilt und bilden dort zweiundfünfzig eigenständige und in sich abgeschlossene Prosa-Miniaturen. Je nach Leistungsstand der Gruppe - insbesondere, wenn nicht am Rechner gearbeitet wird - wandle ich die Regel für den Einsatz in der Schule wie folgt ab: Die zu verfassenden Texte sollen nicht weniger als 130 und nicht mehr als 10 Wörter haben. Im Rahmen von Schulwerkstätten geht es dabei nicht darum, dass diese Vorgabe unbedingt eingehalten werden muss. Aus ihr erklärt sich lediglich der Zeitrahmen (je nach Gruppenkompetenz zwischen 15 und 25 Minuten), und sie dient als ‚Geländer‘ und Hilfestellung oder Orientierung, damit die meisten Texte eine realistische Chance haben, fertiggeschrieben zu werden. Zwei Beispiele für Zehn-Zeiler: lanzelot: berlin-neukölln flirrt über den boden: libellenschnelles räderrattern über groben asphalt. und trägt knieschoner und helm und t-shirt - schwarz, xxl, mit reznor-konterfei - und stürzt nicht. stürzt überhaupt nie. und weit gespreizte arme und wind und angewinkelte 10 Mohafez (Dresden 2015). 22 I. arme und sonne, und dreht sich hoch überm boden einmal um die eigene achse, und landet hinterm abgrund auf der anderen rampe, und lehnt sich zurück, kurz, sehr kurz, und hält die knie gebeugt, und richtet sich auf, und saust, braust ins tal, betontal, und hinten wieder hoch, und steht plötzlich still: als wär nie bewegung gewesen. und das fieberglas in der hand jetzt: als wär‘s nie unter füßen gewesen. und sieht sich um, lächelt. und sein name sei lanzelot. und sein name sei robin. und sein name sei nizam aus dem fünften stock in der herrnhuter straße drei. 11 offenbarung der ort ihrer herkunft offenbarte sich ihr in den augen des italieners, der sie sehr freundlich ansah und sehr freundlich sagte, sie tränke - und tatsächlich hatte sie es an diesem abend so gehalten - sicher keinen alkohol. in seinen augen: absolute gewissheit. in ihren augen: verwirrung. es hatte ihr der sinn nach kaffee und wasser gestanden heute abend. als verwirrungsgegenmaßnahme stopfte sie sich von der jägerplatte ein stück rauchschinken in den mund. da geschah es: der ort ihrer herkunft offenbarte sich ihr in seinen augen, nämlich: in seinen erstaunten augen. der grund, aus dem er gewusst hatte, dass sie keinen alkohol trank, schloss auch aus, dass sie schweinefleisch aß. oh, sagte sie da leise und kicherte und machte sich auf den weg nach draußen, mein kopftuch! es scheint, ich es zu hause vergessen. 12 Wahrnehmungsfelder erweitern - Figuren aus mehrsprachigen Lebenswelten am Beispiel der Erzählung Woran man ihn erkennt Auch wenn es im deutschsprachigen Raum manchmal wenig selbstverständlich erscheint, für sehr viele Menschen auf der Welt ist Mehrsprachigkeit die Norm. 13 Und sie bietet zahlreiche Vorteile auf vielen Ebenen des Lebens, bis hin zur Gesundheit, wie manche Studien nahelegen 1 . Die Erzählung Woran man ihn erkennt 15 zeigt Mehrsprachigkeit als gänzlich gewöhnliche Alltagsgegebenheit und schildert, wie mehrsprachige Menschen die Weltwahrnehmung von einsprachigen Menschen als unverständliche Limitierung erleben. Kindern und Jugendlichen, die im außerschulischen Bereich gänzlich einsprachig aufwachsen, ermöglicht sie einen Positionswechsel und im besten Falle vielleicht auch eine Motivation für den Mehrspracherwerb. Für Kinder und Jugendliche, die im außerschulischen Bereich zwei-, drei- oder mehrsprachig leben, kann sie die Funktion eines Empowerments gewährleisten, während sie gleichzeitig dazu ermutigt, auch die Wirklichkeit der Einsprachigkeit zu respektieren, sie nicht abzuwerten oder zu denunzieren. 11 Mohafez (Dresden 2017), S. 11 12 Mohafez (Dresden 2017), S. 23 13 Riehl (Darmstadt 2015) 1 Vince (Zeit-Online 2017) 15 Mohafez (2017) S. 2ff 23 Ein Dirndl in Teheran Übung zusätzliche Materialien: Atlanten, Wikipedia oder wahlweise Print-Ezyklopädien 1. Lesen Sie der Gruppe die Erzählung Woran man ihn erkennt vor. 2. Klären Sie Verständnisprobleme ▶ Was ist ein Barfi? (Erklärung im Text) ▶ Was ist ein Koran? ▶ Was ist ein Daumenkino? 3. Kleingruppenarbeit, während der folgende Fragen beantwortet werden sollen: ▶ Wie sind die einzelnen Figuren miteinander verwandt? ▶ Wo leben die einzelnen Figuren normalerweise? ▶ Wo liegt Mannheim? Wo liegt Teheran? ▶ Wo ist Schirins Mutter geboren und aufgewachsen? ▶ Wo lebt Schirin mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder? ▶ Was verrät uns der Text darüber, welche der Figuren welche Sprachen beherrscht? ▶ Welche Sprachkenntnisse vermuten wir bei den Figuren, die der Text in diesem Zusammenhang nicht erwähnt? ▶ In welchen Ländern der Erde ist Persisch / Farsi Amtssprache? (Iran, Afghanistan, Tadschikistan) . Jede/ r schreibt einen kurzen Text darüber, warum Schirin ihren Cousin Karsten zunächst für dumm hält und warum sich am Ende der Erzählung ihre Meinung langsam zu ändern beginnt. Ironie als sprachliches Mittel der Machtumkehr im Kontext kultureller Vielfalt am Beispiel der Erzählung Bauer Scheurle und die Jungfrau im Kürbis Die Verbreitung von Klischees gehört zu den problematischeren Aspekten eines wenig hinterfragten Umgangs mit Fragestellungen der Vielfalt. Ein omnipräsentes Beispiel dafür stellt die Verkürzung des Islam auf das Thema ‚Frauenunterdrückung‘ dar. Die Erzählung Bauer Scheurle und die Jungfrau im Kürbis 1 eignet sich dafür, hier ein alternatives Auseinandersetzungsangebot zum Bild der Frau in Ländern, deren Bevölkerung überwiegend im Rahmen verschiedener islamischer Traditionen sozialisiert wird, ebenso anzubieten wie eine alternative Auseinandersetzung mit dem im Kontrast zur ‚unterdrückten islamisch-orientalischen Frau‘ evozierten Bild christlich-abendländischer (westlicher) Männer. 1 Mohafez (Dresden 2017) S. 12ff 24 I. Übung 1 17 zusätzlicher Text: Hebel, Johann Peter: Denkwürdigkeiten aus dem Morgenlande 17 1. Lesen Sie der Gruppe zunächst aus Hebels Kalendergeschichte Denkwürdigkeiten aus dem Morgenlande den Abschnitt 1 vor. 2. Klären Sie Verständnisprobleme ▶ Morgenland, Dschinn 3. Besprechen Sie mit der Gruppe, was Kalendergeschichten waren und welchem Zweck sie dienten. . Kleingruppenarbeit: Welche Behauptungen stellt der Text über das ‚Morgenland‘ auf ? ▶ Gibt der Text irgendeinen Anhaltspunkt darüber, was genau mit dem folgenden Zitat gemeint sein könnte: „In der Türkei“ ginge es „bisweilen etwas ungerade“ her? ▶ Was erfahren wir über die Türkei zur Zeit Hebels und zur Zeit des Verfassens der Geschichte? ▶ Können wir Vermutungen darüber anstellen, warum Hebel diese Geschichte in der Türkei angesiedelt hat? 5. Jede/ r schreibt einen Zehn-Zeiler, dessen Handlung in derselben historischen Zeit angesiedelt ist wie Hebels Kalendergeschichte und der mit dem folgenden Satz beginnt: „In Deutschland, wo es bisweilen ein wenig ungerade zugehen soll, trieb ein reicher und vornehmer Mann einen Armen, der ihn um eine Wohltat anflehte, mit Scheltworten und Schlägen von sich ab, und als er ihn nicht mehr erreichen konnte, warf er ihn noch mit einem Stein.“ 17 Hebel (Tübingen 2009) S. 38ff BAUER SCHEURLE UND DIE JUNGFER IM KÜRBIS ODER: WAS MAN VON HEBEL LERNEN KANN In der Türkei, wo es bisweilen etwas ungerade zugehen soll, fiel eines schönen Herbsttages ein Kürbis von einem Wagen und rollte und rollte und rollte geradewegs ins Schwabenland. Dort kam er endlich nahe dem malerischen kleinen Orte Buoch am Felde des Bauern Scheurle in einem großen Haufen bereits zum Verkauf gestapelter Vettern und Basen zum Stehen. Der Bauer Scheurle aber war einer, der sich gern begeisterte. Er hielt nicht viel vom Einerlei und Tageintagaus, welches das Landleben nun einmal mit sich bringt und für das einer entweder geschaffen ist oder nicht. Vor bald fünfzehn Jahren hatte er die Gundelsbacher Lisa geehelicht, die ihm seither immer eine gute Frau gewesen war. Kurz darauf hatte der Herrgott den beiden erst einen Bub, dann ein Mädle geschenkt. Beide gediehen prächtig und waren ihrer Mutter ganzer Stolz. Nur unserm Freunde Scheurle war das herzliche Familienglück mit der Zeit ein wenig fad geworden, bis es ihm schließlich sogar ganz schal und geschmacklos schien. Nach nichts sehnte er sich mehr als nach einem kleinen Abenteuer, das ihm endlich wieder Kurzweil ins Leben brächte. 25 Ein Dirndl in Teheran Als er nun anderntags aufs Feld kam, hörte er ein Schluchzen und sah sich verwundert um. Die Kuh, die weiter hinten widerkäute, konnte solch ein Geräusch nicht von sich geben. Der Bussard hoch oben in der Buche auch nicht, und geradeso wenig der Wind, der eben das erste Herbstlaub aus den Septemberbirken wehte. Bauer Scheurle lauschte und fand endlich, dass das Schluchzen aus dem Früchtehaufen erklang. Dann entdeckte er, als er nämlich näher trat, einen einzigen Kürbis, der größer war als alle andern und sich selbst zu wiegen schien: hin und her und hin und her, wie man wohl ein Kindlein wiegt, das warmen Trosts bedarf. Nun, da der Bauer vor der so absonderlich sich gebärdenden Frucht stand, schälten sich ihm auch einzelne Wörter aus dem Schluchzen: »Oh, mein Erdal«, hörte der erstaunte Scheurle die betörende und ganz verzweifelte Stimme einer jungen Frau. »Oh, mein geliebter Erdal, werd ich dich wohl wiedersehen? « Das Herze schlug dem Bauern Scheurle bis in den Hals hinauf und eine heiße Begeisterung wärmte ihm alsobald jede Faser seines Körpers. Er kniete neben dem Kürbis nieder und klopfte leise gegen die harte Schale. »Könnt Ihr mich hören, gnädige Frau? «, fragte er. Binnen zweier Atemzüge verstummte das Schluchzen und auf dem Felde bei Buoch entspann sich nun ein wundersames Gespräch. Sie heiße Lilofar, teilte die Dame aus dem Kürbis unserm schwäbischen Bauern mit. Ein Dschinn, einer von der ganz schlimmen Sorte, habe sie verwunschen und in diese Frucht gesperrt, sodass sie nun hier in dieser barbarischen Fremde gelandet sei, aus der sie vielleicht nie wieder zurückfinden werde zu ihrem geliebten Erdal, dem sie versprochen sei. Ob er, der gute Freund Scheurle, ihr nicht helfen könne, aus ihrem Kerker sich zu befreien, damit sie alsdann heimgelange in ihr Land, um endlich den Verlobten zu ehelichen, was der boshafte Dschinn hatte verhindern wollen. Nun glaubte der Bauer Scheurle zwar an Gott, den Allmächtigen, auch an seine Engel und Propheten, vor allem aber glaubte er an den Liebreiz orientalischer Jungfern. Zufrieden schmunzelte er und rieb sich die Hände, als er dem Fräulein zu verstehen gab, er würde gern helfen, jedoch werde die Rettung sich langwierig gestalten und sie, die entzückende Lilofar, müsse selbst so einiges dazu beitragen. »Alles! Alles, was Not tut! « , rief da die Jungfer aus. »Wenn ich nur heim zu meinem Erdal komme.« Der Bauer versprach, am Abend wiederzukehren. Der Kürbis begann aufs Neue, sich zu wiegen, hin und her und hin und her, und unser Scheurle lief schnell, denn unterdes war es Mittag geworden, heim zu seiner Lisa. Er habe, erklärte er seinem Weibe, länger auf dem Felde zu tun, sie solle sich nicht bekümmern, wenn er erst spät heimkäme. Er wolle schaffen, solang die Sonn ihm Licht dafür gäbe und vielleicht auch noch im Schein des Mondes. Lisa packte dem fleißigen Gatten ein Bündel Brot und Käse, legte einen Apfel hinzu und eine Flasche Bier, küsste ihn herzlich und winkte zum Abschied. Bis tief in die Nacht baute nun unser Freund einen Verschlag am Feldrande, zimmerte ein Bett und flocht aus trockenen Maisblättern einen Vorhang fürs Fenster und einen für den Eingang. Das Fräulein im Kürbis vertrieb ihm dazu die Zeit, indem sie orientalische Weisen vortrug, so fremd und wundersam wie die einer chinesischen Nachtigall. Am Mittag des nächsten Tags erst ging Scheurle heim, damit Lisa keinen Verdacht schöpfte, nahm ein kurzes Mahl zu sich, lief dann flugs wieder zum Felde und holte den türkischen Kürbis aus der Sonne in den Verschlag. »Jungfer Lilofar! «, schmeichelte er. »Ich glaube, wir sind nun bereit.« Aus dem Innern des Kürbis stimmte die Dame alsogleich ein Loblied auf ihren Retter an. Der aber sagte: 26 I. »Ihr müsst wissen, Verehrteste, bevor Ihr die Reise nach Hause antreten könnt, so ist es Brauch in unserm Lande, müsst Ihr einen Tag und zwei Nächte in dem Bett verbringen, das ich euch gezimmert habe.« »Alles! Alles, was Not tut! «, rief Lilofar. »Wenn ich nur heim zu meinem Erdal komme.« Gesagt, getan! Bauer Scheurle zog sein Messer aus dem Gürtel und machte sich daran, die junge Frau aus dem Kürbis zu befreien. Als sie heraustrat, war er geblendet von ihrer Schönheit. Als sie vor ihm auf die Knie sank, sich zu bedanken, stockte ihm der Atem ob ihrer Grazie. Und als er sie hochzog, dankte er seinem Schöpfer dafür, in die dunklen, mandelförmigen Seen ihrer Augen tauchen zu dürfen. Jungfer Lilofar aber wandte sich mit einem bezaubernden Lächeln eifrig von ihm ab und fragte nach dem Bette, von dem aus sie die nächsten zwei Mondläufe und einmal den Gang der Sonne verfolgen werde. Scheurle wies zur Lagerstatt und betrachtete stumm die Jungfer, wie sie sich auf dem harten Holze ausstreckte, grad als der Mond aufging. »Der Herrgott selbst hat Euch geschickt, mein Freund! «, sprach sie dankbar und sah sich um in der kargen Wohnstatt. Da stieg unser Scheurle aus den Schuhen, schob mit bebenden Fingern die Hosenträger von den Schultern, hielt aber inne, als das Fräulein einen leisen Schrei ausstieß, indem es auf seine rechte Hand zeigte. »Ihr habt, guter Freund«, flüsterte sie und dabei quollen ihr die Augen von Tränen über, »was mir der Dschinn verwehren wollte! Wie glücklich müsst Ihr sein.« Scheurle sah auf den Ring an seiner Hand und vergrub sie sogleich tief in der Hosentasche. »Oh, erzählt mir«, bat Lilofar innig, »erzählt mir alles von Eurer Herzensdame. Wie heißt sie denn? « »Lisa heißt sie«, brummte unser Scheurle und sah, mit einem Mal missmutig, auf den Maisvorhang vorm Fenster. »Sicher ist sie sehr schön? « Bauer Scheurle überlegte ein Weilchen. »Nein«, sagte er schließlich, »schön kann man die Lisa nicht wirklich nennen.« »Wenn Ihr sie nicht wegen ihrer Schönheit gewählt habt«, sprach die Jungfer, »so muss Eure Liebe größer sein als unsre Hagia Sophia.« Scheurle trat von einem Fuß auf den andren, fragte·sich, wer diese Hagia Sophia wohl sei, und grübelte über eine Erwiderung, bis die Sonne ihre ersten Strahlen auf den Himmel warf. »Dann wird sie wohl reich sein? «, vermutete die Jungfer Lilofar da und unser Freund legte den Kopf schräg. »Nein«, sagte er endlich, »reich ist die Lisa noch nie gewesen.« »Wenn Ihr sie nicht wegen ihres Reichtums gewählt habt, lieber Freund«, sagte andächtig die schöne Türkin, »muss Eure Liebe sogar größer sein als der Berg Ararat.« Scheurle aber grübelte über eine Antwort, bis die Sonne hinterm Feld versank und der Mond zu scheinen begann. »So habt ihr denn, mein Befreier, Eure Lisa aus dem einzigen Grund gewählt, aus dem ein Mann seine Frau wählen soll«, rief Lilofar aus, »weil Ihr sie von ganzem Herzen liebt und ihr treu ergeben seid.« Da ließ unser Freund die Schultern hängen und sann erneut über eine Entgegnung nach, bis der Mond zum zweiten Male unterging. 27 Ein Dirndl in Teheran Beim allerersten Sonnenstrahl erhob sich nun anmutig die Jungfer vom Bette, dankte ihrem Retter von Herzen, machte sich auf den Weg nach Haus und hat hernach in Jahresfrist ihren Erdal geehelicht. Unser Bauer Scheurle sah die Schönheit aus dem Morgenlande hinterm Hügel verschwinden. Lang blickte er noch auf den von herbstlich buntem Mischwald überzogenen Horizont, zog endlich die Hosenträger hoch, die Schuhe wieder an und machte sich müde auf nach Haus. Auf der großen Brücke über dem Bosporus aber lehnte der Dschinn an einem Pfosten und kratzte sich das Kinn. »Und was, bitte schön«, murmelte er verdrossen, »kann man daraus nun lernen? « In: Sudabeh Mohafez: Behalte den Flug im Gedächtnis. Erzählungen © edition AZUR, Dresden 2017 Übung 2 18 1. Lesen Sie der Gruppe das Märchen Die Kürbisfrucht 18 vor. 2. Klären Sie Verständnisprobleme, z.B. „Dschinn“. 3. Besprechen Sie mit der Gruppe, welche Elemente dieses Märchens und der Erzählung Bauer Scheurle und die Jungfrau im Kürbis sich ähneln und welche sich sehr deutlich voneinander unterscheiden. B - Die Lust an Verunsicherung wecken und fördern ▶ Von der Freude des Geistes an stabilisierter Beweglichkeit ▶ Verunsicherung und Lernprozesse | Plot, am Beispiel der Erzählung rote hunde ▷ Übung ▶ Vielfalten und Grenzziehungen | Figuren, am Beispiel der Erzählung Von wegen Türöffner ▷ Übung ▶ Mehrsprachigkeit in der Lyrik am Beispiel der Gedichte [chāk] und das kind isst platanen ▷ Übung 1 ▷ Übung 2 18 Tichý, Jaroslav: (Hanau a. M. 1977) S. 21ff 28 I. Von der Freude des Geistes an stabilisierter Beweglichkeit Haben Sie schon mal einen Kopfstand gemacht? Er gehört zu den Lieblingsspielen kleiner Kinder, zu den Grundlagen beim Turnen und zu den Königsübungen im Yoga, in dessen Philosophie ihm übrigens - regelmäßige Praxis vorausgesetzt - bis hin zur Lebensverlängerung 19 sogar allerlei Wunderbares 20 nachgesagt wird. Das Balancieren - ob nun auf dem Kopf oder auf den Füßen - gelingt nur durch das Zusammenspiel zahlreicher Muskeln im Körper. Unter ihnen spielt dabei der Rumpfstrecker, so der Name der Tiefenmuskulatur rechts und links der Wirbelsäule, eine so herausragende Rolle, dass sich mit Leutert et al. sagen lässt, die Haltung eines Menschen hänge „wesentlich von der Leistung des Rumpfstreckers“ 21 ab. Dieser Muskel ist es also, der für eine aufrechte Haltung und sichere Balance im Alltag nicht nur trainiert, sondern auch geschmeidig gehalten werden muss. Übertragen auf andere Lebensbereiche und auf gesellschaftliche Verhältnisse ließe sich diese körperliche Tatsache in etwa so formulieren: Je geschmeidiger wir Unebenem, Unbekanntem und Ungenormtem - oder positiv ausgedrückt: Lockerem, Neuem und Vielfältigem - begegnen können, desto aufrechter wird unsere Haltung im Leben sein, desto stabiler werden wir durch unsere Tage gehen und desto angstfreier können wir uns bewegen. Beginnen wir mit dem Training der Balance 22 , so setzt zwangsläufig eine Zeit der Verunsicherungen ein: Wir stehen auf beiden Füßen, heben dann das rechte Bein. Pah, nichts leichter als das! Sobald wir es aber anwinkeln, auf Hüfthöhe hochziehen, mit beiden Händen umfassen und schließlich vielleicht sogar noch die Augen schließen, geraten wir aus dem Lot. Wenn Sie das nicht glauben wollen, probieren Sie es einmal aus. Es dauert nur wenige Sekunden. Meinen Glückwunsch, wenn diese Übung Ihnen keine Schwierigkeiten bereitet! Dann aber schlage ich vor, Sie balancieren mal über eine Slackline oder probieren einen Handbzw. Kopfstand aus. Wer diese und ähnliche Haltungen, die durch eine gute Balance und geschmeidige Kraft ermöglicht werden, vorher nicht über einen längeren Zeitraum eingeübt hat, wird sie nicht einfach aus dem Hut zaubern können. Wenn wir die Frustration der ersten Rückschläge überstehen und an unserem Ziel festhalten, auf den Händen stehen oder slacken zu können, wacht unsere Tiefenmuskulatur bald auf. Sie stabilisiert unsere Wirbelsäule und damit im Grunde unseren gesamten Körper. Erst jetzt bleibt unsere Haltung auch dann stabil, wenn wir auf lockereren Boden treten oder auf anderen Körperteilen als unseren Füßen stehen. Erst jetzt beginnt die Tiefenmuskulatur wirklich zu arbeiten. Im Gegenzug wird sie besser durchblutet und schlagartig mit mehr Sauerstoff versorgt, und schon nach kurzer Zeit sitzen, gehen und bewegen wir uns leichter, aufrechter und häufig auch schmerzfreier als zuvor. Für unseren Geist, meine ich, gilt Ähnliches. Das Thema der Vielfalten, der Diversitäten, der hybriden Wirklichkeiten und Pluralitäten eignet sich hervorragend dafür, die Beweglichkeit unseres Denkens im selben Atemzug zu schulen, in dem seine von Geschmeidigkeit 19 u.-a. durch die erheblich verbesserte und regelmäßige Sauerstoffversorgung des Gehirns 20 Noh (Bielefeld 2015) S. 10 21 Leutert et al. (München 2008) S. 158 22 Larsen et al. (Stuttgart 2015) S. 292-- 297 29 Ein Dirndl in Teheran geprägte Stabilität wächst. Und das wiederum führt zu enormem Angstabbau in unserem Umgang miteinander: von der Zweierverbindung bis hin zur gesamtgesellschaftlichen Ebene. Darum, wie Literatur und wie insbesondere Literaturunterricht zu Bewegungen in diese Richtung beitragen können, wird es im zweiten Teil meiner Ausführungen gehen. Verunsicherung und Lernprozesse | Plot am Beispiel der Erzählung rote hunde Die Begegnung mit wenig oder sogar ganz Unbekanntem evoziert in aller Regel automatisierte Reaktionen. Das hat in erster Linie neurobiologische Gründe und ließe sich, sehr vereinfacht, so zusammenfassen: Wir streben sowohl nach Sicherheit als auch nach Erkenntnis, um überleben und gut weiterleben zu können. Zu diesen Reaktionen gehören nicht nur solche wie Fluchtgedanken und Kampfbereitschaft, sondern beispielsweise auch solche der Neugier und des Interesses. Sehr gut lässt sich das an kleinen Kindern, aber auch an Katzen beobachten, die darüber hinaus auch gleich zeigen, wie eine gute Mischung aus all dem gelingen kann: Sie kombinieren die Angst und die Neugier mit offen gezeigter Scheu und Vorsicht, während sie sich dem Unbekannten weiterhin annähern. In meinen literarischen Schreibwerkstätten steht genau diese Erfahrung im Zentrum des Geschehens. Noch konkreter: sie steht im Zentrum meines Umgangs mit den Schülern und Schülerinnen und bildet die Grundhaltung meines Umgangs mit den Aufgabenstellungen, den verwendeten Texten und den aufkommenden Gesprächen in der Gruppe. Es trainiert unsere Haltung, wenn wir die Erlaubnis haben, gleichzeitig ängstlich, neugierig und achtsam zu sein. Je öfter und je vielfältiger wir Gelegenheiten bekommen, uns darin zu üben, desto besser! Der Zehn-Zeiler rote hunde 23 handelt davon, was geschieht, wenn wir, statt uns offen und fragend anzunähern, ganz spontan aufgrund von Annahmen reagieren, die auf das Unbekannte, dem wir gegenüberstehen, unter Umständen gar nicht zutreffen, uns aber ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle vermitteln. rote hunde wir dachten, der rote hund sei ein geprügelter. also begegneten wir ihm mit übertriebener vorsicht, einer gehörigen portion mitleid und freundlicher hilfsbereitschaft. er zog sich zurück. da er nur kurz aufgetaucht war, vermißten wir ihn nicht sonderlich, blieben nur mit einem schalen geschmack in den mündern zurück und versuchten ihn schnell wieder zu vergessen. eines tages trafen wir ihn am dorfausgang vor einer hölzernen hütte wieder. neben ihm saß eine frau. die beiden schienen sich wortlos zu unterhalten. wir luden sie in unsere häuser ein. der rote hund gähnte halbherzig, die frau schüttelte freundlich den kopf. am nächsten tag waren sie verschwunden. rote hunde, sagen wir seither, wenn scheue wesen unser dorf besuchen, brauchen zeit und gespräche, rettung brauchen sie selten. In: Sudabeh Mohafez: Das Zehn-Zeilen-Buch © edition AZUR, Dresden 2010 23 Mohafez (Dresden 2015) S. 15 30 I. Übung 1. Lesen Sie der Gruppe den Zehn-Zeiler rote hunde vor 2. Klären Sie etwaige Verständnisfragen 3. In Kleingruppenarbeit (zwei, maximal drei Personen) wird diskutiert, ▶ warum Wir behauptet, der rote Hund sei ein geprügelter ▶ warum Wir daraus die Schlussfolgerung zieht, es müsse ihm mit „übertriebener vorsicht, einer gehörigen portion mitleid und freundlicher hilfsbereitschaft“ begegnen ▶ was der Text darüber verrät, warum der rote Hund sich daraufhin zurückzieht ▶ was der Text als alternativen Umgang vorschlägt ▶ Da es sich um verdichtete Kürzestprosa handelt, geschieht ein Großteil der Geschichte in der Fantasie der Lesenden. Sie schreiben den Text gewissermaßen lesend selbst zu Ende. Welche Fantasien haben die Schüler über die Dinge entwickelt, die der Text nicht exakt ausführt? . Alle schreiben einen Zehn-Zeiler, in dem in Form einer Geschichte beschrieben wird, welche Arten der Annäherung sie ganz persönlich jeweils angenehm finden. 5. Alle schreiben einen Zehn-Zeiler, in dem in Form einer Geschichte beschrieben wird, welche Arten der Annäherung sie ganz persönlich jeweils unangenehm finden. . gruppeninterne Lesung (freiwillig! ) Vielfalten und Grenzziehungen | Figuren am Beispiel der Erzählung Von wegen Türöffner Niemand ist mit nur einer Eigenschaft beschrieben. Niemand verfügt über nur eine Fähigkeit. Niemand ist mit einem Wort zutreffend bezeichnet. Wir alle haben die unterschiedlichsten Seiten und es lohnt sich, in der Interaktion mit anderen möglichst viele von ihnen wahrzunehmen und gelten zu lassen. Dennoch gibt es auch Grenzen: Wir müssen, auch wenn wir bestimmte Seiten akzeptieren, andere nicht automatisch ebenfalls in Ordnung finden. Im Gegenteil, u. U. ist es sogar von großer Wichtigkeit, uns gegenüber diesen anderen Seiten klar und deutlich abzugrenzen. In der Erzählung Von wegen Türöffner 2 begegnen sich zwei Personen in einer deutschen Großstadt: eine Frau, die „so etwas Ähnliches wie ein Ausländer“ ist, und ein Neo-Nazi. Dieser ist in Not: Seine Freundin hat sich umgebracht und es geht ihm entsprechend schlecht. Er wünscht sich von der Frau, die aus seiner Sicht eher zu einer verachteten oder zumindest abgelehnten Gesellschaftsgruppe zählt, emotionale Unterstützung. Sie gerät dadurch in einen inneren Konflikt. 2 Mohafez (Dresden 2017) S. 9ff 31 Ein Dirndl in Teheran VON WEGEN TÜRÖFFNER Matze ist groß, schwabbelig, unrasiert und riecht zu jeder Tageszeit nach frischem Bier, außer am frühen Abend, wenn er aufsteht, da riecht er nach altem Bier. Matze ist am Ende, weil sich seine Freundin umgebracht hat. Er hat sich in seiner Wohnung eingeschlossen, die genau unter meiner Wohnung liegt, und lässt niemanden rein. Das ganze Haus spricht darüber. Matze tut, was er immer tut, zu jeder Tageszeit - außer zwischen ungefähr elf und achtzehn Uhr: Er hört laute, harte Musik mit deutschen Texten, was bedeutet, dass alle im Haus laute, harte Musik mit deutschen Texten hören, zu jeder Tageszeit - außer ungefähr von elf bis achtzehn Uhr. Alle im Haus hören, was Matze hört, weil er vor ein paar Jahren den Lautstärkeregler an seinem Verstärker auf zehn gestellt und dann abgerissen und in den Hof geworfen hat. Alle im Haus hören außerdem, was Matze hört, weil wir in einem hellhörigen Bombenlochhaus aus Billigmaterial leben, das Anfang der Fünfziger zwischen zwei Gründerzeitaltbauten hoch gezogen wurde. Vor drei Tagen hat sich Matze in seine Wohnung eingeschlossen und lässt niemanden rein, weil seine Freundin sich umgebracht hat - und weil ihm das einen Grund gibt, auch in der Zeit zwischen elf und achtzehn Uhr wach zu sein und laute, harte Musik mit deutschen Texten zu hören. Die Texte handeln von Ausländern, von verschiedenen Ungezieferarten, von Knüppelschlachten und Helden und von den guten, alten Zeiten. Matze wohnt seit sieben Jahren hier. Ich wohne seit einem Jahr hier. In dieser Zeit habe ich drei Mal mit Matze gesprochen. »Mach die Musik aus, wenn du sie nicht leiser stellen kannst«, habe ich jedes Mal gesagt. Matze hat jedes Mal gelacht. Aber er hat auch jedes Mal seine Musik für eine halbe Stunde ausgestellt und versucht, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Deshalb sind alle im Haus beeindruckt von mir. Matze findet mich sexy, obwohl ich etwas Ähnliches wie ein Ausländer bin. »Du bist die Ausnahme, die die Regel bestätigt«, sagt er in solchen Momenten. »Lass die Musik aus«, sage ich in solchen Momenten. Jetzt läutet es an meiner Wohnungstür. Es sind Thomas und Mark und Heinz. Sie sind groß, schwabbelig, unrasiert und riechen zu jeder Tageszeit nach Bier. Sie schätzen Frisuren, die Militärfriseure schätzen. Sie schätzen Klamotten, die Militärschneider schätzen. Sie tragen Doc Martens-Stiefel oder Chucks. Thomas und Mark sehen zur Seite. Heinz sieht mich an. »Matze sacht, er lässt nur disch in seine Wohnung.« »Der spinnt wohl«, sage ich. Heinz brummt: »Seine Freundin hat sich umjebracht.« »Ich weiß«, antworte ich und nicke. »Tut mir leid. « »Matze sacht, er lässt nur disch in seine Wohnung.« Während Heinz sich wiederholt, ballt er in Zeitlupe die Rechte zur Faust. »Scheiße! «, sage ich. »Na also, jeht doch«, sagt Thomas und grinst und Mark sieht mich jetzt auch an, und dann gehen wir aus dem ersten Stock ins Erdgeschoss und Mark donnert mit der Faust gegen Matzes Tür. »Det Medl is hier«, brüllt er. Vor mir Matzes Wohnungstür, hinter der jemand ein Lied über Fackelmärsche grölt, hauptsächlich begleitet von einem Schlagzeug . Um mich herum ein kantiger Halbkreis aus Mark und Thomas und 32 I. Heinz. Thomas ist der kleinste von ihnen. Thomas ist eineinhalb Köpfe größer als ich. Sie riechen nach drei Mal ungewaschener Mann. Sie riechen nach Talg und Urin und Bier und so weiter. »Ich geh wieder«, sag ich. »Nix«, sagt Mark und legt seine Hand auf meine Schulter. »Nimm deine Hand da weg! « Er nimmt seine Hand da weg. Er brüllt: »Matze, det Medl is da.« Er brüllt es in eine Fackelmarschpause. »Haut ab! «, schreit Matze, dann setzt die Musik wieder ein. »Sach du wat«, sagt Thomas und stupst mir mit dem Finger in den Rücken. »Matze, mach die Tür auf! «, rufe ich. Die Musik geht aus. »Wat? «, schreit Matze. »Mach die Tür auf«, rufe ich noch einmal. Etwas fällt hinter der Tür durch den Flur auf uns zu, rappelt sich hoch, macht sich an ihr zu schaffen und öffnet sie. Matze hat Brustpiercings. In jeder Brustwarze eins. Matze trägt Boxershorts mit Minnie Maus drauf. Matze hat ein Tattoo am rechten Oberarm, auf dem etwas in Runenschrift steht. Und er riecht, wie er immer riecht. Er glotzt mich an. »Sophie hat sich umjebracht.« »Ja«, sag ich, »tut mir leid.« Matze nickt. Er lässt die Tür offen, schlurft ins Zimmer zurück. »Ich geh jetzt«, sag ich. »Nix«, sagt Heinz und schiebt mich in Matzes Flur. »Die Tür ist offen! Ihr braucht mich nicht mehr! « »Nix«, sagt Heinz und schlägt die Tür hinter uns zu. »Fass det Medl nich an! «, ruft Matze, und: »Du bist die Einzje, die mich vasteht«, sagt er zu mir. »Wir haben erst drei Mal miteinander gesprochen«, erinnere ich ihn. »Trotzdem. Du bist die Einzje, die mich vasteht«, sagt er noch ein mal. Dann kommandiert er Thomas und Heinz und Mark in die Küche ab und macht eine Bewegung mit der Hand: Ich soll mich zu ihm aufs Bett setzen. »Du spinnst wohl! «, sag ich. »Mach mal lieber das Fenster auf! « »Setz dich«, sagt Matze. »Also was ist? «, frag ich. Matze erzählt von Sophie. Und davon, wie Sophie sich umgebracht hat. Matze erzählt, wie Sophies Mitbewohnerin sie gefunden hat. Und dass sie erst ihn und dann die Polizei angerufen hat. Matze weint, während er erzählt, und raucht und trinkt Bier. Die Jungs in der Küche reden leise. Sie rauchen auch. Jedes Mal, wenn sie ein neues Bier holen, schnauft die Kühlschranktür. Ab und zu lachen sie. Ich gehe ins Bad, hole eine Rolle Klopapier und halte sie Matze hin. Ich setze mich auf die Tischkante vorm Bett und denke, dass ich nicht glauben kann, was ich gerade tue. Ich bin echt bescheuert, denke ich. Seine Freundin hat sich umgebracht! , denke ich sofort hinterher. Matze schluchzt. Ich nehme seine Hand. Ich bin echt bescheuert, denke ich. Seine Freundin hat sich umgebracht! , denke ich, und ich denke, dass ich echt, wirklich bescheuert bin, aber ich lasse seine Hand in meiner. »Deine Freunde sind hier«, sage ich nach einer Weile. 33 Ein Dirndl in Teheran »Aba du bist die Einzje, die mich vasteht«, schluchzt Matze. »Sie haben Angst, dass du dir was antust.« »Tu ich auch! «, sagt Matze. »Tust du nicht«, sag ich. »Du musst bei mir bleiben«, teilt er mir mit und wischt sich mit dem Handrücken über die Nase. »Vergiss es.« »Ich tu mir was an«, murmelt er und greift zur Bierflasche. »Quatsch! «, sage ich. »Na, ihr Turteltäubchen? « Das sagt Mark. Er lehnt im Türrahmen und hält eine Dose Lübzer Pils in der Hand. »Halt's Maul«, sagt Matze. »Ich geh jetzt«, sag ich. Thomas drängelt sich an Mark vorbei ins Zimmer. »Alles klar, Mann? «, fragt er. »Tschüss, Matze«, sage ich beim Aufstehen. »Ich mach nie wieder die Musik so laut«, verspricht er aus heiterem Himmel. »Wer's glaubt, wird selig … « Damit schiebe ich mich an Thomas vorbei. »Wirst schon sehen«, ruft Matze mir hinterher. Heinz steht im Flur. Der ganze Flur ist voll mit Heinz. »Nicht schlecht«, sagt er und grinst mich an. »Was? «, frage ich. »Dein Türöffner-Auftritt«, sagt er anerkennend und zwinkert. »Ich hab mir den Zweitschlüssel genommen«, beruhigt er mich. »Prima«, sage ich, »dann braucht ihr mich ja jetzt wirklich nicht mehr.« Zurück in meiner Wohnung, beschließe ich zu duschen. Da grölen plötzlich ein heiser kreischender Männerchor in Lautstärke zehn und vier Live-Stimmen in Lautstärke besoffen das Horst-Wessel- Lied durchs Haus. Ich stehe vor meiner Dusche und höre, wie Heinz und Thomas und Mark und Matze um den Tisch vor Matzes Bett marschieren, auf dem ich eben noch gesessen habe. Alle im Haus hören, was ich höre, und ich stehe vor meiner Dusche und denke nach: Ich brauche die Taschenlampe. Ich brauche das Vorhängeschloss von meiner alten Fahrradkette. Das ist alles. Matzes Verschlag ist der zwischen der Kellertreppe und meinem Verschlag. Am Boden ganz hinten liegt dort ein wenig Unrat, sonst ist er leer. Weil Matze seinen Verschlag nicht benutzt, schließt er ihn auch nicht ab. Die Tür ist nur angelehnt. Auf Kopfhöhe zerteile ich ein paar Spinnweben. Dann sind es nur noch wenige Schritte bis zu Matzes Sicherungskasten. Ich drehe seine Hauptsicherung heraus, stecke sie in meine Hosentasche, denke, dass ich mich jetzt beeilen muss, gehe schnell aus dem Verschlag, hänge das Schloss in den Haken und drücke es zu. Es gibt ein geschmeidiges »Klick« von sich. Ich ruckle daran: Die Tür zu Mat zes Verschlag ist fest verschlossen. Und oben in seiner Wohnung ist es mit einem Mal mucksmäuschenstill. 34 I. Dann radle ich zur Elsenbrücke, stelle mich genau mittig über die Spree und werfe in hohem Bogen die Sicherung ins Wasser. »Von wegen Türöffner «, sage ich versonnen, und unten schnattern die Enten. In: Sudabeh Mohafez: Behalte den Flug im Gedächtnis. Erzählungen © edition AZUR, Dresden 2017 Übung 1. Besprechen Sie vor dem Vorlesen mit der Gruppe, die folgenden Punkte: ▶ Was könnte ein Bombenlochhaus sein? ▶ Was sind Gründerzeitbauten? ▶ Was ist das Horst-Wessel-Lied? ▶ Warum sind bestimmte Dinge (z. B. das Horst-Wessel-Lied) in der Bundesrepublik Deutschland verboten, obwohl es sich bei diesem Staat um eine Demokratie handelt (§. 130 StGb, insbesondere die Absätze 3 bis 7)? 2. Lesen Sie der Gruppe die Erzählung Von wegen Türöffner vor. 3. Kleingruppenarbeit - Die Schüler und Schülerinnen sollen folgende Fragen in der Kleingruppe beantworten und die je eigenen Antworten schriftlich festhalten: ▶ Welche Konflikte durchlebt die Ich-Erzählerin? Es sind verschiedene, die teils miteinander zusammenhängen und sich teils auseinander ergeben. Zählt sie alle auf und beschreibt sie so genau ihr könnt. ▶ Überlegt gemeinsam, wie ihr glaubt, dass ihr mit jedem dieser Konflikte umgehen würdet, wenn ihr anstelle der Hauptfigur wärt. Beschreibt so genau wie möglich, welche Gefühle ihr vermutlich hättet und welche Fragen sich euch vermutlich stellen würden. ▶ Überlegt gemeinsam, was euch in jedem einzelnen dieser Konflikte helfen würde. Was bräuchtet Ihr, um euch in der Situation sicher und entspannt zu fühlen? . Kleingruppenarbeit - Die Schüler und Schülerinnen sollen folgende Fragen in der Kleingruppe beantworten und die je eigenen Antworten schriftlich festhalten: ▶ Warum wünscht sich Matze von der Ich-Erzählerin Unterstützung, während er seine eigenen Freunde nicht einmal in seine Wohnung lässt? ▶ Warum traut die Ich-Erzählerin ihm nicht, als er verspricht, „nie wieder die Musik so laut zu machen“? 5. Diskussion in der Gesamtgruppe: Wie finden wir eine gute Balance zwischen Mitmenschlichkeit und Abgrenzung von Abwertung, Hass und Gewalt? . Jede/ r schreibt einen Zehn-Zeiler, der mit folgendem Satz beginnt: Es war eine Situation, in der ich nicht wusste, ob ich fliehen oder bleiben sollte. 35 Ein Dirndl in Teheran Mehrprachigkeit in der Lyrik am Beispiel der Gedichte [chāk] und das kind isst platanen 25 Liegt offen geöffnet liegt auf gebrochen nachts tags. Liegt in Regen. In Wind. Bringt ein Leben hervor verwest ein andres. Dies eine Stück mit der Mauer dies eine Bruch Stück Erde mit seiner Ziegel Mauer um und um gebrochen eingebrochen ein gerüttelt Maß Male mörtelt ihr Zinnoberrot hervor heraus bröckelt auf Nesseln brennende taube auf Wiesen Schaum Kraut bröselt über Schneckenschleim. Dies eine Stück Erde mit seiner Ziegel Mauer seinem Eisen Tor Gitter Stäbe Schloss hängt auf gebrochen im Rost seiner Scharniere. Die Schild Kröte hat hier drinnen hier innen hier tief unten den Winter über lebt in einer selbstgeschaufelten Grube im Schlamm Dreck Morast. Vom Rost pudert der Wind ein gutes Quäntchen herum auf alles auf dies eine Stück: Brachland vor unserem Haus. 25 [châk]: (pers.) Sand, Erde, Dreck, Heimat 36 I. Übung 1 26 2 Mohafez (München 201) S.  zusätzliche Materialen: Wörterbücher in verschiedenen Sprachen Beamer oder Whiteboard 1. Zeigen Sie der Gruppe das Gedicht [chāk] 2 . Am besten ist es, wenn Sie die Möglichkeit hätten, es so an die Wand zu beamen, dass man den deutschen Text gar nicht unbedingt gut lesen kann, sondern im ersten Moment hauptsächlich ein optischer Effekt erzeugt wird: Ein kurzes Wort in arabischen Buchstaben über einem Text in lateinischen Buchstaben. 2. Fragen an die Gruppe: ▶ Wie wirkt dieser Anblick auf euch? (ungewohnt, interessant, sinnlos, unpassend, spannend …) ▶ Welche emotionalen Reaktionen beobachtet ihr bei euch selbst, angesichts dieses Anblicks? 3. Frage an die Gruppe: Erkennt jemand die Schrift des Titels oder kann sie vielleicht sogar lesen? ▶ Falls ja, um welche Schrift handelt es sich? ▶ Und um welche Sprache handelt es sich? ▶ Falls nein, lassen Sie die Gruppe raten, meist kommen die Schüler und Schülerinnen zumindest auf „Arabisch“. ▶ Falls niemand drauf kommt: Es ist Persisch, und das wird seit einigen Jahrhunderten innerhalb des Iran und Afghanistans, wie hier, in Buchstaben des arabischen Alphabets notiert. In Tadschikistan dagegen, wo es ebenfalls Landessprache ist, wird es in lateinischen Buchstaben notiert. . Verteilen Sie das Gedicht und lesen Sie es der Gruppe vor - unbedingt inklusive seines Titels! Sprechen Sie das transkribierte persische Wort, wie Sie es beim Ablesen der Lautschrift in der dem Titel zugeordneten Fußnote sprechen würden, wenn Sie es zu Hause für sich läsen. Es ist überhaupt nicht wichtig, dass Sie die korrekte persische Aussprache treffen! ▶ Welche emotionalen Reaktionen beobachten die Schüler und Schülerinnen jetzt bei sich selbst? 5. Lassen Sie die Gruppe eine Gedichtanalyse vornehmen und lenken Sie - falls es nicht eigenständig geschieht - am Ende der Diskussion die Aufmerksamkeit noch einmal auf den in Persisch geschriebenen Titel und jetzt auch auf seine Bedeutung (vgl. Fußnote): Erde, Sand, Dreck und Heimat. Beziehen Sie dabei mit ein: ▶ die optische, eher ornamental wirkende Informationen des Titels für Leser und Leserinnen, die des Persischen nicht kundig sind 37 Ein Dirndl in Teheran ▶ die optischen Informationen/ Wirkungen, die er als Quasi-Dach (eben genau nicht: Erde) über einem ansonsten durchgehend in deutscher Schrift verfassten Gedicht birgt/ hat ▶ die inhaltliche/ n Bedeutung/ en des Titels mit Bezug auf den Inhalt des Gedichts. . Diskutieren Sie abschließend, ▶ welche Selbstverständlichkeiten im Umgang mit zwei Sprachen sich hier zeigen, ▶ welche Differenz dazu sich bei jenen Ihrer Schüler und Schülerinnen auftut, die des Persischen nicht mächtig sind (und evtl. auch bei Ihnen selbst). ▶ Welche zusätzlichen Bedeutungsebenen sind, abgesehen von der rein ornamentalen Ergänzung, durch die Verwendung des persisch geschriebenen Titels ins Gedicht integriert worden, die bei einer rein lautschriftlichen Wiedergabe oder einer Übertragung ins Deutsche so nicht gegeben wären? 7. Verteilen Sie Wörterbücher aus Sprachen, die sich anderer Buchstaben oder vieler nicht-lateinischer Buchstaben bedienen: ▶ Deutsch - Isländisch ▶ Deutsch - Persisch ▶ Deutsch - Tagalog ▶ Deutsch - Mandarin ▶ Deutsch - Japanisch 8. Je mehr, desto besser! 9. Die Schüler und Schülerinnen sollen sich jeweils ein Wort heraussuchen, das mehrere unterschiedliche Bedeutungen hat und für das es im Deutschen nicht ein alleiniges Wort gibt. 10. Alle schreiben ein Elfchen (oder, allerdings nur für Fortgeschrittene, ein Haiku), in dem dieses Wort an irgendeiner Stelle Verwendung findet (vgl. Exkurs Elfchen, S. 38). 11. Lassen Sie die Wörterbücher kreisen: Jede/ r schreibt zu einem Wort aus jede/ r der repräsentierten Sprachen ein Elfchen (oder ein Haiku). 12. Jede/ r schreibt einen Zehn-Zeiler, für den eines ihrer/ seiner eben verfassten Gedichte als Motto-Gedicht fungiert. 38 I. Exkurs Elfchen Hier die Regeln für etwas fortgeschrittenere Elfchen, wie ich sie in Werkstätten ab der Klassenstufe 5 vorgebe: Zeile 1 Zeile 2 Zeile 3 Zeile  Zeile 5 1 Wort 2 Wörter 3 Wörter  Wörter 1 Wort Eine Eigenschaft oder eine Farbe Eine Person oder ein Gegenstand Was ist mit der Person oder dem Gegenstand Wie finde ich das? Wie geht es mir damit? Was denke/ fühle ich dazu? Fazit/ Schlussfolgerung/ gern in Form eines Kippmoments Beispiele: Blau der Himmel, strahlt sommerlich hell: Ich denke an dich - Liebeskummer. Blau. Die Mutter: lallt wie immer. Ich hasse sie übelst. Abhaun. (Ahmed P., Klassenstufe 7) (Irina K., Klassenstufe 11) Lassen Sie die Schüler und Schülerinnen aktiv mit den vielfältigen Wirkungen der Interpunktion in diesen Gedichten experimentieren. das kind isst platanenfrüchte, schaut mit blutigen zungen den tauben zu wie sie kreise drechseln ins blau ins hohe leer tönt ﻮﻘﺑ ﻖﺑ 27 das knattern der flügel bis unter die weit unten die winzig klein von dort oben die kirschbäume wo das kind ﻮﻘﺑ ﻖﺑ in kreisen überm haus überm dach vor den bergen immer weiter hoch hinaus und 27 ﻮﻘﺑ ﻖﺑ (pers.) [bagh baghu] onomapoethisch für den Balzruf der Stadt- und Ringeltauben 39 Ein Dirndl in Teheran Übung 2 28 28 Mohafez (Bremen 2017) S. 130ff 1. Zeigen Sie der Gruppe das Gedicht das kind isst platanen 28 . Am besten ist es, wenn Sie die Möglichkeit hätten, es so an die Wand zu beamen, dass man den deutschen Text gar nicht unbedingt gut lesen kann, sondern im ersten Moment hauptsächlich ein optischer Effekt erzeugt wird: Ein kurzes Wort in arabischen Buchstaben, das innerhalb eines Textes in lateinischen Buchstaben regelmäßig wiederkehrt. 2. Lesen Sie das Gedicht vor, wie in Übung 1. beschrieben. Auch, wenn es für Sie vielleicht ein wenig unangenehm ist, ist es völlig in Ordnung, wenn die Gruppe beim Vortrag der persischen Wörter aus Ihrem Mund ein bisschen unruhig wird oder lachen muss. 3. Fragen Sie, ob die persischen Wörter (vorgetragen) bei den Schülern und Schülerinnen Assoziationen hervorrufen und lassen Sie auch alberne (nicht aber abwertende) Antworten gelten. . Klären Sie, falls notwendig, die Begriffe Onomatopoesie und onomatopoetisch. 5. Verteilen Sie jetzt erst das Gedicht an alle. . Lassen Sie die Gruppe die optisch sehr unterschiedlichen Wirkungen des Einsatzes der persischen Wörter innerhalb der beiden sonst deutschen Gedichte vergleichen (Titel versus ‚Kehrreim‘, ‚Dach‘ versus ‚Terrassen‘). 7. Verweisen Sie auf die in der Fußnote zum Gedicht enthaltene Information, dass es sich bei ﻮﻘﺑ ﻖﺑ [bagh baghu] um den in persischer Sprache onomatopoetisch gefassten Balzruf der Stadt- und Ringeltauben handelt, und fragen Sie nach dem deutschen Pendant dazu. ▶ ruggedigu 8. Finden die Schüler und Schülerinnen Parallelen zwischen den beiden Wörtern? das kind spuckt zähne und rotz jetzt ﻮﻘﺑ ﻖﺑ drehen sie ab jetzt ziehen sie fort jetzt suchen sie das weite immer noch im tauben schlag zu rück wärts wendet sich halb ab jetzt das kind und immer zu ﻮﻘﺑ ﻖﺑ 40 I. Literaturverzeichnis Campbell, Paul-Henri: nach den narkosen. Heidelberg 2017. Hacker, Katharina: Eine Art Liebe. Frankfurt am Main 2011. Hebel, Johann Peter: Kalendergeschichten. Tübingen 2009 [Berlin 1911]. Larsen, Christian / van Lessen, Theda / Hager-Forstenlechner, Eva: Medical Yoga professional. Stuttgart 2015. Leutert, Gerald / Schmidt, Wolfgang: Funktionelle und systematische Anatomie. München 2008 [Berlin 199]. Mohafez, Sudabeh: Behalte den Flug im Gedächtnis. Dresden 2017. dies.: das zehn-zeilen-buch. Dresden 2015 [2010].dies.: خاک [chāk] . In: Bayer, Anja / Seel, Daniela: All dies hier, Majestät, ist Deins. Berlin / München 201. dies.: das kind isst platanen. In: Wustmann, Gerrit (Hg.): Hier ist Iran! Bremen 2017. Noh, Barbara: Yoga mit Kraft und Anmut leben. Bielefeld 2015. Riehl, Claudia Maria: Mehrsprachigkeit. Darmstadt 2015. Tichý, Jaroslav: Persische Märchen. Hanau a. M. 1977 [1970]. Online-Quellen Vince, Gaia: Parlez-vous italiano very well? In: Zeit-Online vom 19.02.2017, 1: 17. Letzter Abruf: 02.11.2017, 15: 12. 9. Bitten Sie einen Schüler oder eine Schülerin, das Gedicht vorzutragen und dabei, ﻮﻘﺑ ﻖﺑ durch ruggedigu zu ersetzen. 10. Was geschieht dadurch mit dem Gedicht? Was geschieht mit seinen Konnotations- und Assoziationsräumen? 11. Fordern Sie die Gruppe auf, alle onomatopoetischen Wörter, die sie kennt, zu nennen. Sammeln Sie sie an der Tafel. Sollten mehrsprachige Kinder oder Jugendliche in der Gruppe sein, weisen Sie sie explizit daraufhin, dass sie auch entsprechende Wörter aus ihren anderen Sprachen verwenden können. Das gilt auch für die einsprachig Aufgewachsenen unter ihnen, die entsprechende Wörter aus anderen Sprachen kennen. 12. Besprechen Sie die Bedeutungen und auch die Zusammenhänge, falls diese sich manchen Schülern und Schülerinnen nicht direkt erschließen. 13. Jede/ r schreibt ein (oder mehrere) Elfchen/ einen Haiku, in dem (jeweils) eines dieser Wörter an einer beliebigen Stelle verwendet wird. 1. Jede/ r schreibt einen Zehn-Zeiler, in dem eines oder mehrere dieser Wörter verwendet werden. 41 Die Natur Die Natur Akos Doma 1. Mensch und Natur. Annäherung an das Thema Wie der Mensch sich zur Natur verhält, so verhält die Kunst sich zum Menschen. Richard Wagner Der kanadische Literaturwissenschaftler Northrop Frye prägt in seinem literaturkritischen Grundsatzwerk Anatomy of Criticism (Analyse der Literaturkritik) den Begriff der „grünen Welt“ („green world“). In einigen Komödien und Romanzen Shakespeares, etwa in Ein Mittsommernachtstraum oder Wie es Euch gefällt, gäbe es, so Frye, eine doppelte Bewegung aus der restriktiven und korrupten höfischen Welt in eine mythisch gefärbte Naturlandschaft, einen Wald oder Hain, und von dort wieder an den Hof zurück. In dieser freien, magischen grünen Welt gälten andere Gesetze, besäße das Böse keine Macht. Die starren Konventionen des Hofs fielen ab, Heilkräfte würden freigesetzt und die Konflikte im Sinne der Komödie im Guten gelöst. Die Figuren erlebten eine Metamorphose und kehrten gesundet und regeneriert in die „zivilisierte“ Welt zurück. Grüne Welt und höfische Welt, Land und Stadt, Natur und Zivilisation. Seit jeher bilden sie die Gegenpole, zwischen denen sich das Leben des Menschen abspielt, gegensätzliche Lebensräume mit gegensätzlichen Mentalitäten, die sich über die Jahrhunderte hinweg auch in der Literatur der jeweiligen Zeit widerspiegeln. Während die Natur im Leben des neuzeitlichen Menschen eine immer geringere Rolle spielt, nimmt die Bedeutung der Städte und der von Menschen geschaffenen und geprägten Umwelt kontinuierlich zu. Während sich immer größere Menschenmassen in immer größeren Städten, Metropolen und Metropolregionen zusammendrängen, schwindet die Sphäre der Natur unaufhaltsam dahin, die „unberührte“ Natur existiert nur noch als Erinnerung. Anstelle der Urwälder, die auf allen Kontinenten immer weiter zusammenschrumpfen oder bereits vollständig vertilgt worden sind, breiten sich weltweit die Stein- und Betonwüsten, die städtischen „Asphaltdschungel“ mit ihren Straßen und Wolkenkratzern aus. Die Geschichte des Menschen ist auch die Geschichte seiner sich immer weiter beschleunigenden Ablösung von der Natur - eine Ablösung, die je nach Sichtweise als befreiende Emanzipation oder als fatale Entfremdung bzw. Selbstentfremdung angesehen werden kann. 42 I. 2. Der Mensch als Teil der Natur Jahrtausendelang war das Verhältnis beider umgekehrt gewesen. Der Mensch lebte in weitgehender Abhängigkeit von der Natur, richtete sich nach ihrem Rhythmus, nach dem Zyklus der Jahreszeiten, von Wärme und Kälte, Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit. Die Natur war allmächtig, Klima, Vegetation, Bodenbeschaffenheit und Tierwelt bestimmten das Leben und die Tätigkeiten der Menschen. Einerseits war die Natur eine Quelle der Gefahr und der Bedrohung durch Raubtiere, Kälte, Hunger, Entbehrungen oder Naturkatastrophen, andererseits bot sie dem Menschen in der ständigen Wiederkehr ihrer Zyklen, der Beständigkeit und Unwandelbarkeit ihres Rhythmus’ eine Heimat, einen festen Platz in der kosmischen Ordnung, eine zuverlässige Orientierung für das eigene Leben. Die Natur war aber nicht nur die physische Welt im modernen Sinn. Da der „primitive“ Mensch der vorwissenschaftlichen Zeit für Naturphänomene keine rationale Erklärung hatte, bevölkerte er die Natur in seiner Phantasie mit Göttern und mythischen Wesen. Die Natur war für ihn eine magische Welt voller Rätsel und Wunder. Wie Knut Hamsun in seinem mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Roman Segen der Erde (1917) über den Ödlandbauern Isak schreibt: „Er hatte seine höheren Mächte, seine Träume, sein Liebesleben, seinen reichen Aberglauben.“ Da die Natur von Göttern beseelt war, war sie heilig, die physische und die metaphysische Welt waren eins. Für den „primitiven“ Menschen, so der Religionsphilosoph Mircea Eliade, „verwandelt sich seine unmittelbare Realität in eine übernatürliche Realität … kann sich die ganze Natur als kosmische Sakralität offenbaren“ (Das Heilige und das Profane). 3. Industrielle Revolution und Fortschrittsideologie Die radikale Loslösung des Menschen von seinen natürlichen Wurzeln und Bindungen vollzieht sich mit der industriellen Revolution, die am Anfang des 18. Jahrhunderts in England beginnt. Die Erfindung neuer Maschinen, die Mechanisierung der Arbeit, die immer wichtiger werdende Rolle von Handel und Kapital, der Übergang von der Landwirtschaft zur Industrie verwandeln den vertrauten, zuvor vornehmlich ruralen, dörflichen Lebensraum innerhalb weniger Jahrzehnte in ein von Fabriken, Industrien und Städten geprägtes Land - eine Umwälzung, die von großen Teilen der Bevölkerung mit Sorge und Ablehnung beäugt wird. Der englische Dichter und Maler William Blake etwa kontrastiert in seinem Gedicht Milton, a Poem (180) „Englands mountains green“ und „pleasant pastures“ von einst mit den „dark Satanic mills“ seiner Gegenwart. So alt wie die Denaturierung der Welt im Gefolge der Industrialisierung ist auch die Kritik daran. Gut hundert Jahre nach Blake beklagt der Lebensphilosoph Ludwig Klages beim Ersten Freideutschen Jugendtag 1913 auf dem Hohen Meißner in seiner Rede „Mensch und Erde“, die als eines der ersten ökologischen Manifeste gelten darf, die Verwüstung der Natur durch die moderne Zivilisation, durch Fortschritt, Wissenschaft und Technik: Wo aber der Fortschrittsmensch die Herrschaft antrat, deren er sich rühmt, hat er ringsumher Mord gesät und Grauen des Todes. Was blieb bei uns z. B. von der Tierwelt Germaniens? Bär und Wolf, Luchs und Wildkatze, Wisent, Elch und Auerochs, Adler und Geier, Kranich und Falke, Schwan und 43 Die Natur Uhu waren zur Fabel geworden, ehe noch der moderne Vernichtungskrieg einsetzte. Der aber hat gründlicher aufgeräumt. Unter dem schwachsinnigsten aller Vorwände, dass unzählige Tierarten ‚schädlich‘ seien, hat er nahezu alles ausgerottet, was nicht Hase, Rebhuhn, Reh, Fasan und allenfalls noch Wildschwein heißt. Eber, Steinbock, Fuchs, Marder, Wiesel, Dachs und Otter, Tiere, an deren jedes die Legende uralte Erinnerungen knüpft, sind zusammengeschmolzen, wo nicht schon völlig dahin; Flussmöwe, Seeschwalbe, Kormoran, Taucher, Reiher, Eisvogel, Königsweib, Eule rücksichtsloser Verfolgung, die Robbenbänke der Ost- und Nordsee der Vertilgung preisgegeben. Angesichts des Siegeszugs von Technik und Industrie und der unstillbaren Gier des Kapitals nach Profit verhallten solche Mahnrufe lange Zeit ungehört. Allzu tief saß die etwa von Eugen Drewermann in seinem Buch Der tödliche Fortschritt dokumentierte Naturfeindlichkeit des christlich-abendländischen Menschen, allzu bereitwillig wurde der alttestamentarische Auftrag Gottes, sich die Erde „untertan zu machen“ und über die Schöpfung zu „herrschen“, als Lizenz zum Töten aufgefasst. Im wohl größten Tiergenozid der Geschichte blieben von den ursprünglich rund dreißig Millionen Bisons, die bei der Ankunft der ersten europäischen Siedler die Weiten Nordamerikas bevölkerten, zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht einmal mehr dreißig Stück übrig. Von hier zum Völkermord an der indianischen Urbevölkerung des Kontinents war es nur noch ein kleiner Schritt, Naturvernichtung und Menschenvernichtung gingen wie so oft Hand in Hand. Wieder hundert Jahre später, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hat sich die Ausbeutung der Natur, die „Wut der Vertilgung“, wie es Klages nennt, beschleunigt und globalisiert. Abholzung der Urwälder, Verschmutzung der Luft und der Meere, Nuklearkatastrophen, Desertifikation, Artenschwund, Erderwärmung und andere vom Menschen verursachte Naturkatastrophen haben den Planeten innerhalb weniger Jahrzehnte an den Rand des ökologischen Kollapses gebracht. Die Natur, einst übermächtig, ist heute selbst tödlich bedroht. Als Lebenswelt spielt sie für die meisten Menschen in den „entwickelten“ Ländern des 21. Jahrhunderts kaum mehr eine Rolle. 4. Die Natur als Sehnsuchtsraum Je mehr die Natur als konkrete Lebenswelt dahinschwindet, desto mehr wird sie zu einem Sehnsuchtsraum, einem Symbol für das harmonische, gesunde Leben, einem Ort der Freiheit und „des Sieges von Leben und Liebe über die Wüste“ (Frye) - ganz im Sinne von Shakespeares „grüner Welt“. Diese Sehnsucht kommt etwa in der Werbung zum Ausdruck, wo die Familie mit dem neuen Auto selbstredend ins Grüne hinausfährt, und nicht zuletzt im Tourismus, wobei man seine Sehnsucht nach „ursprünglicher“, „unverdorbener“ Natur ausleben kann. Shakespeares „grüne Welt“ steht noch in der Tradition des locus amoenus. Dieser „liebliche Ort“, der seit der römischen Antike ein beliebter, literarischer Topos ist, bezeichnet einen sonnigen Hain mit Quelle oder Bach, der in der Regel Liebenden als Begegnungsort dient. Die wilde, ungezähmte Natur wird erst in der Epoche der Romantik „entdeckt“. Die Romantik stellt den zerstörerischen Anthropozentrismus der abendländischen Kulturtradition zum ersten Mal radikal in Frage und verortet den Platz des Lebewesens Mensch inner- 44 I. halb der Natur. Naturnähe, die Vorliebe für Natürliches statt für Künstliches bestimmen das romantische Lebensgefühl. Dichter wie William Wordsworth, Percy Shelley, Robert Burns, Joseph von Eichendorff, Nikolaus Lenau und zahllose andere besingen die Schönheit und urwüchsige Kraft der Natur. Die Bewunderung der Zeit gilt nicht mehr den gepflegten Gärten und Parkanlagen, die sich im Zeitalter der Aufklärung und des Rationalismus großer Beliebtheit erfreut hatten, sondern der ursprünglichen, unverfälschten Natur. In der Malerei weichen die klassizistischen Ideallandschaften eines Claude Lorrain den vom kosmischen Lebensgefühl durchdrungenen Landschaftsbildern Caspar David Friedrichs. Wie kein zweiter vermittelt Friedrich in seinen Landschaftsbildern das romantische, einsam-melancholische Lebensgefühl der Zeit: Stille, Einsamkeit, Sehnsucht, Wehmut, Fernweh, Heimweh, Menschen- und Zivilisationsferne, pantheistische All-Einheit. In der Romantik findet der Mensch in der Natur zu sich zurück. Indessen wird die Kluft zwischen der natürlichen und der zivilisatorischen Lebenswelt infolge des sich beschleunigenden, technologischen Fortschritts immer größer. Und je offensichtlicher die Schattenseiten der industriellen Gesellschaft werden, desto größer wird auch die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu einer ursprünglichen, authentischen Lebensweise, wie sie bereits Jean-Jacques Rousseau gefordert hatte - „zurück zur Natur“. 185 zieht sich der amerikanische Schriftsteller Henry Thoreau für zwei Jahre in die Einsamkeit seiner selbst gebauten Blockhütte am Walden-See zurück, um dort autark, unter natürlichen Bedingungen zu leben. Er hält seine Erlebnisse in seinem Bericht Walden oder Leben in den Wäldern fest und wird damit zu einem Urahnen aller Aussteiger und Zivilisationskritiker. Doch die Rückzugsmöglichkeiten sind auch in der neuen Welt auf dem Rückzug. Mit der raschen Besiedelung des nordamerikanischen Kontinents verschiebt sich die Grenze zwischen „Natur“ und „Zivilisation“ immer weiter nach Westen, und wer die Freiheit sucht wie Huckleberry Finn, der Protagonist von Mark Twains gleichnamigem Roman (188), der muss der Bewegung folgen und seinerseits westwärts ziehen: „I got to light out for the Territory ahead of the rest“, stellt er am Ende des Romans ernüchtert fest. Holden Caulfield, dem jungen Rebellen in J. D. Salingers Kultroman Der Fänger im Roggen (1951), steht in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht einmal mehr diese Möglichkeit offen. Der Westen, für Huckleberry Finn noch ein Synonym für Freiheit, ist für Holden bereits ein Synonym für die ultimative Korruption: für Hollywood. Aussteiger wie die Protagonisten von Jack Kerouacs Roman Unterwegs (1957) müssen fortan nach Mexiko ausweichen, um den Zwängen der „zivilisierten“ Welt zu entkommen. Denn nördlich der Grenze könnte es auch ihnen wie den beiden Hippies im Film Easy Rider ergehen, die von befremdeten Hinterwäldlern von ihren Motorrädern geschossen werden. 5. Der Wald Der Inbegriff wilder, ungezähmter Natur und als solcher Schauplatz und Topos unzähliger Märchen, Volkserzählungen und literarischer Stoffe ist der Wald. Der Wald. Mal dunkel, dicht und undurchdringlich, mal licht und majestätisch. Mal bedrohlich, mal erhaben. Mal gut, mal böse. Mal ein Rückzugsort für fromme Eremiten und 45 Die Natur Einsiedler vor der eitlen Geschäftigkeit der Welt, mal ein Symbol für Verirrung und Verwirrung - etwa für die Lebenskrise des vom Weg der Tugend abgekommenen Protagonisten in Dante Alighieris Göttlicher Komödie: „Auf halbem Weg des Menschenlebens fand / Ich mich in einen finstern Wald verschlagen, / Weil ich vom graden Weg mich abgewandt.“ Der Wald kann Schutz und Verborgenheit, Geborgenheit bieten, verbrecherischen Wegelagerern genauso wie gerechten Räubern wie Robin Hood, der Reiche beraubt und Arme beschenkt. Er kann aber auch nur ein Schauplatz von Abenteuern sein, wie für die Ritter der Tafelrunde um König Artus - oder für Kinder und Jugendliche in den Waldkindergärten oder Waldseilgärten von heute. Nirgendwo gewann der Wald eine so anhaltende mythische Bedeutung wie in der deutschen Kultur. Das lässt sich vor allem auf die naturreligiöse Verehrung von Bäumen bei den Germanen wie auch auf den sagenumwobenen Sieg Hermanns des Cheruskers über die römischen Eroberer in der Schlacht im Teutoburger Wald zurückführen. Dabei hatte sich der Wald als Schutzraum bewährt, als Labyrinth, das die fremden Eindringlinge ins Verderben stürzte. Ihr kulturelles „goldenes Zeitalter“ erlebten Baum und Wald in der deutschen Romantik, in der sie zu geradezu kultisch verehrten Motiven und Symbolen wurden. Wilhelm Müllers Gedicht Der Lindenbaum, Eichendorffs Abschied oder Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz sind nur drei Beispiele unter zahllosen. Am eindringlichsten kommt das Gefühl der heiter-wehmütigen Waldinnerlichkeit vielleicht in Ludwig Tiecks Gedicht Waldeinsamkeit zum Ausdruck: Waldeinsamkeit, Die mich erfreut, So morgen wie heut In ewger Zeit, O wie mich freut Waldeinsamkeit. Waldeinsamkeit Wie liegst du weit! O Dir gereut Einst mit der Zeit. Ach einzge Freud Waldeinsamkeit! Waldeinsamkeit Mich wieder freut, Mir geschieht kein Leid, Hier wohnt kein Neid Von neuem mich freut Waldeinsamkeit. 46 I. Nach der Romantik war es Adalbert Stifter, der in Erzählungen wie Der Hochwald, Der Waldgänger oder Der Waldsteig der Düsternis und Erhabenheit des Böhmerwalds ein literarisches Denkmal setzte. In der Musik spielte der Wald vor allem in den mythischen Opern Richard Wagners eine zentrale Rolle (etwa das „Waldweben“ in Siegfried oder der Gralswald in Parsifal), in der Kunst tauchte der Mythos von Baum und Wald noch in Joseph Beuys' Landschaftskunstwerk 7000 Eichen auf. Eine ähnlich mythisch-identitätsstiftende Rolle wie in der deutschen Kultur spielte der Wald vielleicht nur noch in der russischen. Um die Jahrhundertwende thematisierte Anton Tschechow in seinen Stücken Der Waldteufel und Onkel Wanja den Raubbau an den russischen Wäldern zum Zweck des schnellen Profits - ein Thema, das angesichts des ungebrochenen Abholzens der letzten Urwälder bin in unsere Tage nichts von seiner Aktualität verloren hat. Tschechows Freund Isaak Lewitan und Iwan Schischkin gehören zu den bedeutendsten Malern des russischen Waldes. Im 20. Jahrhundert ist es der englische Romancier und Prophet des sinnlich-natürlichen Lebens D. H. Lawrence, bei dem der Wald noch einmal zu Shakespeares grüner Welt wird. Im Mittelpunkt seines letzten Romans Lady Chatterleys Liebhaber (1928) steht die leidenschaftliche Liebe Connie Chatterleys, der jungen Ehefrau des infolge einer Kriegsverletzung gelähmten und impotenten Sir Clifford Chatterley, zum einfachen Wildhüter Mellors. Im Gegensatz zu ihrem kühlen, klassenbewussten Mann, der den erstarrten gesellschaftlichen Status Quo verkörpert, ist Mellors, der frei und autark in einer Waldhütte wohnt, voller Vitalität. Der Wald wird zum Ort der heimlichen Begegnungen der Liebenden, in ihm vollzieht sich Connies seelisch-körperliche Genesung und Rückkehr aus dem „lebendigen Totsein“ ins ganzheitliche Leben. 6. Schreibaufgaben Aufgabenstellung 1 (30 Minuten) Als Einstieg in das Thema sammeln die Schülerinnen und Schüler Begriffe, die sie mit der Natur assoziieren, und stellen sie der Klasse vor. Sie erstellen eine Liste ihrer Lieblingspflanzen (Blumen, Bäume) und Lieblingstiere und schreiben eine kurze Geschichte, die sich um eine dieser Pflanzen, eines dieser Tiere dreht. 47 Die Natur Aufgabenstellung 2 (30-45 Minuten) Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Erzählung, die in der freien Natur spielt, während eines Ausflugs, eines Picknicks, eines Grillfests an einem See, einer Bergtour, einer Floßfahrt, einer Segeltour, einer Fahrradtour. Aufgabenstellung 3 (30-45 Minuten) Für Jugendliche bedeutet Natur Abenteuer, eine Begegnung mit dem Wilden, Unbekannten, Geheimnisvollen. Die Schülerinnen und Schüler verfassen eine Geschichte zu einem der folgenden Titel: ▶ „Die Nacht im Freien“ ▶ „Das Baumhaus“ ▶ „Die Höhle“ Aufgabenstellung 4 (Hausaufgabe) Die Schülerinnen und Schüler machen einen Ausflug in die freie Natur oder, falls nicht vorhanden, in einen öffentlichen Garten oder Park ihrer Stadt. Sie halten dabei möglichst genau und detailliert ihre Sinneseindrücke fest. Welche Anblicke, Geräusche, Gerüche begegnen ihnen? Welche Empfindungen und Gedanken gehen ihnen dabei durch den Kopf? Es empfiehlt sich, schon vor Ort Notizen zu machen. Bei dieser Aufgabe soll die Fertigkeit der genauen Beobachtung und des genauen Beschreibens geübt werden. Statt auf einer expliziten Handlung liegt das Augenmerk auf einer möglichst präzisen, detaillierten, intensiven Beschreibung der Sinneseindrücke und der Reflexionen. Erzählt wird in der Ich-Perspektive, möglichst sachlich und sprachlich genau. 48 I. Aufgabenstellung 5 (30-45 Minuten) Die negative Sicht der Natur hat in der westlichen Kultur eine lange Tradition, natur- und tierfreundliche Denker wie Franziskus von Assisi oder Arthur Schopenhauer, der zum ersten Mal eine Art Tierethos formuliert, bilden die Ausnahme. Im 17. Jahrhundert erklärt der französische Philosoph René Descartes Tiere zu seelenlosen Maschinen. Der englische Philosoph Thomas Hobbes beschreibt den Naturzustand als einen „Krieg aller gegen alle“, sein Landsmann Charles Darwin erklärt den „Kampf ums Dasein“ und die „Selektion“ zu Grundprinzipien der Natur. Die vielen Beispiele von Zusammenarbeit, Symbiose und Altruismus, die zwischen Organismen und Tieren auch zu beobachten sind, lassen sie außer Acht. Solche Phänomene tierischer Symbiose - die heute immer mehr in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses rücken - beschreibt der russische Philosoph und Naturwissenschaftler Peter Kropotkin in seinem Buch Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (1902), seiner Erwiderung auf den Sozialdarwinismus. Die Schülerinnen und Schüler erzählen von einer Freundschaft zwischen zwei Tieren oder zwischen einem Jugendlichen und einem Tier. Ein besonderer Reiz könnte darin bestehen, die Geschichte aus der Perspektive des Tieres zu erzählen. Aufgabenstellung 6 (45 Minuten) Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Erzählung zu einem ökologischen Thema. Es soll darauf geachtet werden, dass das Thema nicht essayistisch abgehandelt, sondern in eine spannende, fiktive Handlung eingebettet wird. Ein mögliches Thema wäre eine Geschichte, in der Jugendliche irgendeiner Umweltsünde auf die Spur kommen und sie aufdecken. Aufgabenstellung 7 (30-45 Minuten) Im Mittelpunkt dieser Aufgabe steht das Erzählen aus einem einzigen Blickwinkel, anhand eines Bildes. Als Beispiel wird Pieter Bruegels Gemälde Heimkehr der Jäger ( Die Jäger im Schnee ) ohne Angabe des Titels an die Wand projiziert und mit der Klasse besprochen. Anschließend suchen sich die Schülerinnen und Schüler eine Figur auf dem Bild aus und erzählen aus deren Perspektive eine Geschichte, die mit den Ereignissen auf dem Bild zusammenhängt, von ihnen aber auch wegführen kann. Als Erzähler können alle Figuren auf dem Bild dienen, ob Mensch oder Tier: ein Jäger, ein Hund, eine Frau am Feuer, ein Schlittschuh laufendes Kind, der Reisigträger, die Elster, der Rabe. 49 Die Natur Aufgabenstellung 8 (mehrere Unterrichtsstunden) Die Klasse liest gemeinsam Stefan Georges Gedicht Der Mensch und der Drud (1928). DER MENSCH Das enge bachbett sperrt ein wasserfall Doch wer hängt das behaarte bein herab Von dieses felsens träufelnd fettem moos? Aus buschig krausem kopfe lugt ein horn .. So weit ich schon in waldgebirgen jagte Traf ich doch seinesgleichen nie… Bleib still Der weg ist dir verlegt · verbirg auch nichts! Aus klarer welle schaut ein ziegenfuss. DER DRUD Nicht dich noch mich wird freun daß du mich fandst. DER MENSCH Ich wusste wol von dir verwandtem volk Aus vorzeitlicher märe-- nicht daß heut So nutzlos hässlich ungetüm noch lebt. DER DRUD Wenn du den lezten meiner art vertriebst Spähst du vergeblich aus nach edlem wild Dir bleibt als beute nager und gewürm Und wenn ins lezte dickicht du gebrochen Vertrocknet bald dein nötigstes: der quell. DER MENSCH Du ein weit niedrer lehrst mich? Unser geist Hat hyder riese drache greif erlegt Den unfruchtbaren hochwald ausgerodet Wo sümpfe standen wogt das ährenfeld Im saftigen grün äst unser zahmes rind Gehöfte städte blühn und helle gärten Und forst ist noch genug für hirsch und reh - Die schätze hoben wir von see und grund Zum himmel rufen steine unsre siege. 50 I. Was willst du überbleibsel grauser wildnis? Das licht die ordnung folgen unsrer spur. DER DRUD Du bist nur mensch .. wo deine weisheit endet Beginnt die unsre, du merkst erst den rand Wo du gebüsst hast für den übertritt. Wenn dein getreide reift dein vieh gedeiht Die heiligen bäume öl und trauben geben Wähnst du dies käme nur durch deine list. Die erden die in dumpfer urnacht atmen Verwesen nimmer · sind sie je gefügt Zergehn sie wenn ein glied dem ring entfällt. Zur rechten weile ist dein walten gut. Nun eil zurück! du hast den Drud gesehn. Dein schlimmstes weisst du selbst nicht: wenn dein sinn Der vieles kann in wolken sich verfängt Das band zerrissen hat mit tier und scholle - Ekel und lust getrieb und einerlei Und staub und strahl und sterben und entstehn Nicht mehr im gang der dinge fassen kann. DER MENSCH Wer sagt dir so? dies sei der götter sorge. DER DRUD Wir reden nie von ihnen, doch ihr toren Meint daß sie selbst euch helfen. Unvermittelt Sind sie euch nie genaht. Du wirst du stirbst - Wess wahr geschöpf du bist erfährst du nie. DER MENSCH Bald ist kein raum mehr für dein zuchtlos spiel. DER DRUD Bald rufst du drinnen den du draussen schmähst. DER MENSCH Du giftiger unhold mit dem schiefen mund Trotz deiner missgestalt bist du der unsren Zu nah, sonst träfe jezt dich mein geschoss. 51 Die Natur DER DRUD Das tier kennt nicht die scham der mensch nicht dank. Mit allen künsten lernt ihr nie was euch Am meisten frommt … wir aber dienen still. So hör nur dies: uns tilgend tilgt ihr euch. Wo unsre zotte streift nur da kommt milch Wo unser huf nicht hintritt wächst kein halm. Wär nur dein geist am werk gewesen: längst Wär euer schlag zerstört und all sein tun Wär euer holz verdorrt und saatfeld brach … Nur durch den zauber bleibt das leben wach. In einem ersten Schritt werden die unbekannten Wörter geklärt und das Gedicht Zeile für Zeile besprochen. Was ist das Thema des Gedichts? Wie könnte man die beiden gegensätzlichen Haltungen, die darin zum Ausdruck kommen, beschreiben? Mögliche Fragen bei der Analyse könnten lauten: ▶ Worum geht in dem Gedicht? Was ist der zentrale Konflikt? ▶ Wofür steht der Drud bei George? Welche Einstellung hat der Mensch zu ihm? ▶ Welche Rolle spielt im Gedicht der menschliche „Geist“ aus der Sicht 1) des Menschen und 2) des Druds? ▶ Was ist unter „Quelle“ zu verstehen? Warum wird sie als des Menschen „Nötigstes“ bezeichnet? ▶ Welche Relevanz hat das Gedicht für den Leser von heute? ▶ Wie sind folgende Zeilen des Gedichts zu verstehen: 1. „wo deine weisheit endet / Beginnt die unsre“ 2. „Bald rufst du drinnen den du draussen schmähst“ 3. „uns tilgend tilgt ihr euch“ . „Nur durch den zauber bleibt das leben wach“ 5. „Wir aber dienen still“? Nach der Besprechung des Gedichts schreiben die Schülerinnen und Schüler einen ähnlichen dramatischen Dialog zwischen einem Menschen und einem Tier. Dabei soll ein naturbezogenes oder ökologisches Thema im Mittelpunkt stehen. 52 I. 53 Das Einpflanzen des Garten Eden Das Einpflanzen des Garten Eden Tzveta Sofronieva Geht es in dem Wort Lebenswelt mehr um die Welt oder mehr um das Leben? Das ist im Deutschen bei Wörtern, die so zusammengesetzt sind, für mich nicht eindeutig ersichtlich. Am häufigsten wiegt eines der Wörter, aus denen sie bestehen, etwas schwerer in der Bedeutung. Beim Lebensmut geht es, glaube ich, mehr um den Mut, beim Lebensweg mehr um das Leben. Das Wort Lebenswelt verlangt eine Gleichberechtigung von Leben und Welt. Für mich ist die Notwendigkeit dieser Gleichberechtigung im Prozess des Wachsens am stärksten enthalten. Es ist nicht leicht, groß zu werden - und dabei denke ich nicht an großartig und wichtig -, es ist nicht leicht, sich von der Kindheit zu verabschieden. So viele Unklarheiten, so viele tiefe Gefühle der Unsicherheit und der Sehnsucht nach Liebe und Gutem, so viel Verwirrung. Endlose Weite, offene Horizonte, blendendes Licht, und mittendrin das Ich. Der Mensch muss sich finden, muss sich erfinden. In der Physik wissen wir, dass unsere Augen nicht das ganze Firmament sehen können, solange wir nach oben schauen; aber wenn wir unseren Blick in den Kreis eines klaren Brunnens richten, sehen wir es dort ganz gespiegelt. Es ist ein Bild aller sichtbaren Sterne: die Geborgenheit des eigenen Kreises, der Reichtum der Spiegelung, die Klarheit der Grenze, die Vollkommenheit der Träume, die Tiefe des Vertrauens. In welcher Welt sind wir und in welcher Welt wollen wir ankommen? Oft fürchten wir uns vor offensichtlichen nahen Gefahren, vor denen man sich im Grunde genommen leicht schützen kann. Beim Erwachsenwerden sieht man, wie schwierig es ist, entfernte Gefahren zu erkennen, solche, die angeben, keine zu sein, solche, die tröstend verführen. Manchmal sind die Sachen weder böse noch gut, nur existent. Romantische Vorstellungen verraten sich, wenn wir uns den Sand aus den Augen reiben. Oft tut das weh und manchmal ist der Blick lange Zeit getrübt. Man bekommt diesen Tunnelblick der Benommenheit: dass die Welt anders ist als man denkt. Man will die Täuschung nicht akzeptieren, weil man unwillkürlich davon überzeugt ist, dass Zauber nur in der Täuschung ruhen. Der Weihnachtsmann bringt die Geschenke nicht, sondern die Eltern, aber der Zauber kommt durch den Weihnachtsmann, der goldene Staub, der glitzernde Kitzel. Und ist es nicht gerade das, was uns groß macht: groß im Sinne von nicht mehr nur Kind, und groß im Sinne von humanistisch und großzügig, demnach großartig? Der Glaube an Zauber, die nicht Hand in Hand mit der Täuschung gehen. Die Optik sagt uns, dass die Atmosphäre das Licht der Sterne bricht. Nur so fangen sie an zu flimmern, dahinter in der Tiefe des Weltalls sind sie klare konzentrierte Lichtpunkte (u.-a. Lorenzen 200). Ihr Licht zittert wegen der Luft, aber wir brauchen die Luft, um zu atmen, um zu leben. In uns manifestiert sich immer wieder eine Bewegung zwischen dieser unmittelbaren Erfahrung des Atmens, des Lebens und der Welt, die auch ohne uns existiert. Wir finden wahrscheinlich deswegen die Sterne, gerade wenn sie stark flimmern, verzaubernd schön. Aber liegt der Zauber des Sternenlichts nicht genau darin, dass es nicht zittert, nicht 54 I. flimmert, darin, dass die Angst der Sterne nur eine Täuschung ist? Wollen wir nicht diesen Zauber bejahen und ihm auf den Grund gehen, ihn verstehen und lieben, ihn genießen, ihm vertrauen? Sternenlicht strahlend mutig im All und Sternenlicht gebündelt in unserem Brunnen: zwei sich ergänzende Zauber. Wolken in tiefer Umarmung, Licht rieselt auf Meeresrücken. Abweisendes Weiß wird Blau durch einen Schlag der Flügel. Endloser Himmel, bodenloses Meer - nur im Schoss des Brunnens sehe ich den Himmel vollkommen und kann der Tiefe vertrauen. Sandwolken verschleiern die Stacheln der Rochen Ich soll mich nicht fürchten - sie sind nicht bedrohlicher als die Tentakel anderer um mich herum. Ist der Mond nicht rund, nur weil er weit entfernt ist? Die Sterne leuchten ohne zu flimmern jenseits der Atmosphäre, suchen die Luft, um sich zu verwirren. Eine Ecke bündelt ihr Licht im Zauber der Täuschung, die eine Spinne gewoben hat. Die Spinne bricht zu langer Reise mit den Photonen auf. Gerade begann ich die Suche nach vorn und vergaß aufwärts zu sehen - ist es zu früh, meinen Weg selbst zu bahnen? Ich taste wie eine Fledermaus im Zimmer, umflutet von verzerrtem Licht - auch die Eintagsfliege erkennt das. Schwarz ist das Licht in seiner Unendlichkeit und doch strahlend weiß ist das wahre, sticht und lässt die Dunkelheit ruhen. Meine Mutter strickt Pullover aus den Lichtfäden, die ihr Kind fängt. Das Kind malt Mützen auf die Wolken, 55 Das Einpflanzen des Garten Eden auf die Möwen, auf das Meer, den Himmel, auf den Brunnen - und auch eine für mich. (Kind von Tzveta Sofronieva. Aus dem Gedichtband Reflections in A Well, Ebert/ Sofronieva 2018) Es geht beim Erwachsenwerden immer um Bewegung. Neugier ist das magische Wort, das uns in Bewegung bringt, und die Bewegung ist der magische Zustand, in dem wir uns lebendig fühlen. Durch Bewegung gewinnen wir Wissen, und dadurch können wir handeln, also uns weiter bewegen und die Balance mit der Natur, mit der Welt und mit uns selber halten. Der Zauber kommt von der Geschwindigkeit der Bewegung und zugleich von den langsamen Wegen des Geistes als Antwort auf diese Geschwindigkeit. Die Bewegung kann die Anleihen des Schicksals brechen, ist der Ursprung des freien Willens aller Lebewesen, schrieb vor über 2000 Jahren Lukrez in seinem lyrischen und naturwissenschaftlichen Werk De rerum natura (Lukrez 201, 72). Das gegenwärtige Wissen bestätigt es. In der Wissenschaft beschäftigen wir uns immer mit Bewegungen, können prinzipiell nicht Dinge beobachten, sondern immer nur Interaktionen zwischen Dingen. Auch die Lyrik ist von Interaktion bestimmt: zwischen Wörtern, Wort und Klang, Klang und Bedeutung, und mehr. Mit dem Begriff „Gedicht“ wurde ursprünglich und bis zum 18. Jahrhundert alles schriftlich Abgefasste bezeichnet. In diesem Begriff findet man das spätmittelhochdeutsche „schaffen, anordnen“ und das lateinische „diktieren“. Eine Art Gewinnen und Vererben von Wissen durch Metrik und Wortklang. Spätestens seit Gutenberg änderte sich die Art und Weise, in der Wissen durch Lyrik vererbt wurde, und spätestens mit der Quantenmechanik wurde dieses Wissen so komplex, dass man es nur schriftlich, vernetzt und multimedial weitergeben konnte (Sofronieva 2012). Die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie prägten unsere Welt bis hin zu Internet, MRT und GPS. Sie spielten eine große Rolle in der Dichtung englischsprachiger Modernisten wieW. B. Yeats, T. S. Eliot und Ezra Pound (Allbright 1997). Aber vor allem: Mit der Quantenmechanik wurden die Grenzen der Sprache klarer denn je. Der kulturelle Hintergrund und die Lyrik wurden für die Wissenschaftler das wichtigste Reservoir von Ideen (Heisenberg 199, Schrödinger 200, Sofronieva 2013). Einer der bedeutendsten Theoretiker der heutigen Welt, der Quantenmechaniker und Dichter Erwin Schrödinger, sah die Naturwissenschaften als Teil eines integralen Ausdrucks einer Gesamtheit aus verschiedenen Formen der Kultur und tiefen Schichten menschlicher Erfahrung. Seine Mehrsprachigkeit wie auch seine Lyrikübersetzungen gehören zu meiner Lebenswelt nicht weniger als seine Formeln (Schrödinger 199 und 200, Thirring 197, 109). Was in seinen poetischen Werken geschah, war auch nicht weniger wichtig als seine Formeln - es trug z. B. direkt zur Entdeckung der DNA bei (Schrödinger 1989, Watson 2001). Das Wort „Gedicht“ erfüllt dadurch für mich heute seine sinnliche Bedeutung: Dichte erhaltend. Nur mit mehr Masse in gleichem Volumen kann man heute das immer Komplexere weitergeben, die Maximalzahl möglicher Beziehungen, die wahre Dichte, das Volumen ohne Hohlräume. Aber werden wir die Big Data von heute noch mehr verdichten oder am Ende dicht machen? Wir werden mit Auden fragen: This passion of our kind For the process of finding out Is a fact one can hardly doubt, 56 I. But I would rejoice in it more If I knew more clearly what We wanted the knowledge for … Be altogether wise, Is something we shall learn. Zitat aus: After Reading a Child’s Guide to Modern Physics von W. H. Auden, 195 Vielleicht umgehen viele Menschen heute beides, Poesie und Wissenschaft, weil diese sie nervös machen, sagt Mark Strand (Strand / Shawn 2000, 70). Das Ungewisse regt sie auf, weil sie an eine Bewegung als Verlust erinnern, an den Verlust der Liebe, der Freunde, des Lebens. Gleichsam werden wir gerade in der Statik noch nervöser. Meine eigenen Texte bleiben nie statisch (u.-a. Sofronieva 2010 und 2017). Ich betrachte das Schreiben und das literarische Schaffen wie auch ein Gedicht für sich als Prozess zwischen Welten und Wörtern, zwischen Formen und Inhalt, zwischen verschiedenen Sprachen. Auch der Ansatz vieler meiner Schreibwerkstätten ist fachübergreifend, um die Teilnehmer anzuregen, ihren sprachlichen Ausdruck mit ihrem Wissen interdisziplinär, interkulturell und intermedial zu verbinden. Wasser, Licht, Himmel, Unendlichkeit, das Nichts, Bewegung - viele Themen bieten Schnittstellen von Literatur, Naturwissenschaft, Kunst, Geschichte, Religion, Ethik und Alltagswissen an; sie erlauben einen leichten Zugang zu einem Reichtum an Phänomenen sowie einen sehr individuellen Erfahrungs- und Gefühlsausdruck. Das kreative Schreiben ermöglicht es, sich den Lernstoff in allen Fächern leichter anzueignen. Durch einen Austausch von Überlieferungen, Sprichwörtern, Glaubenssätzen und Alltagserfahrungen aus verschiedenen Kulturkreisen wie auch durch die gemeinsamen Beobachtungen, kleine wissenschaftliche Experimente und spielerische Textarbeit werden Sprachkenntnisse sowohl literarisch als auch fachübergreifend stark gefördert. Albert Einstein betonte, dass Inspiration und Intuition wichtiger sind als reines Wissen, und dass alle seine Ideen durch die Musik entstanden sind (Suzuki 199, Bäuerlein / Tubeli 2015). Ich nutze Material und Interpretationen, die den Kindern nahe sind und gleichzeitig neue Erkenntnisse und Ausdruck vermitteln können. Manche mögen keine lyrischen Zeilen, andere keine mathematischen Formeln. Ich begebe mich mit ihnen auf eine Reise zur Inspiration. Diese Reise kann in viele Richtungen gehen. Bahnreisen mag ich. Im Zug ist man an einem Ort und gleichzeitig in Bewegung. Mir gibt das eine unendliche Ruhe für die Konzentration auf Bilder und Wörter, auf das Schreiben. Am besten sind lange Fahrten, bei denen man in den Pausen beim Arbeiten völlig neue Landschaften sehen kann, denn dadurch erholt sich das Gehirn schnell und kann sich bald wieder voll auf die literarische Arbeit konzentrieren. Monotones Geräusch, gemischt mit unerwarteten Stimmen in großer Variation, viele Augenblicke im Fenster, zusammengehalten durch die gleichförmige Folge der Schienen nebenan. Diese Mischung aus Halt und Abenteuer zugleich beflügelt die Fantasie, stiftet Inspiration. Das Reisen, das Überwinden einer Distanz, das Erreichen einer Nähe und eines Entfernens, das Relativieren von Gegebenheiten, das Erspüren von Beschleunigung und Bremsen, der Kontrollverlust (in den Händen anderer zu sein - und 57 Das Einpflanzen des Garten Eden zugleich doch völlig unter der Kontrolle des eigenen Handelns): In der Übersetzung zwischen der Welt und dem Leben, in der Bewegung eines Werdens lernen wir, uns nicht zu verlieren. Im Fenster vorn rechts in meinem Abteil spiegelt sich das linke hintere Bild. Ich sehe im Kommenden das Entrinnende völlig überlagert, und es ist als ob das Licht dieses Spiel mag, unabhängig davon, wo die Sonne steht und wohin der Zug reist. (Un-lost in Translation. Aus dem Gedichtband Landschaften, Ufer von Tzveta Sofronieva. Edition Lyrik Kabinett bei Hanser. © 2013 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München) Das Wort Lebenswelten scheint reich an Bedeutungen, vor allem verbinde ich es damit, dass ich ein, dieses, mein Leben habe und in der Welt aus Menschen und Sternen und vielem dazwischen lebe. Manche Kulturen glauben, wir hätten mehrere Leben, und einige Wissensgebiete suggerieren, dass wir in mehreren Welten leben. Meine Lieblingstheorie, die Quantenmechanik, gibt genügend Anlass zu behaupten, dass wir in einem Multiversum existieren, doch gefühlt ist es ein einziges, da wir die anderen nicht unmittelbar sehen oder spüren. Und manchmal fühlt sich unser Alltag so an, als ob wir in parallelen Welten agieren, da wir sehr verschiedene Sachen bewältigen und erleben. Alles eine Frage der Definition also. Es ist wie mit der eigener Identität. Von Moderatoren wurde ich bei meinen Lesungen als Migrantin, Exilantin, Eingewanderte, Geflüchtete, Dazugekommene usw. vorgestellt. Ich muss zugeben, das irritiert mich jedes Mal, und ich wehre mich dagegen. Verlegen wird dann die Frage meiner Identität umgangen. Einmal ließ der Moderator nicht los und meinte, er begrüße mich dann als Gast in diesem Land, und das machte mich regelrecht wütend, denn keiner hat mich je mit Brot und Honig empfangen. Auf die Frage, wer ich hier sei, antwortete ich: Ich bin eine Mieterin, ich miete eine Wohnung in einem südlichen Berliner Bezirk. Wir mieten von der Welt ein Sofa, eine Tür, ein Kissen, einen Obstbaum, Flügel und ein Boot, nennen es Zuhause, fügen mehrere Namen ein. Morgen ist die Stadt neu, die Gesichter, die Fenster, die Wellen, das Licht und die Kiesel, in denen das Wasser Widerstand findet. Wir mieten uns einen Steg, einen Fluss, Metropolenglimmer, eine Zeremonie, den Priester und die singenden Nonnen, Münzen, heilige Weide, Grenzen des Ichs, Zunge, Teller und Gewürze für die Zunge, exotische Orte und uralte Zeiten. Verzehren es langsam. Und stehen vor einer neuen Taufe. Und viele Arten Wasser warten auf uns. Und jedes Mal erschreckt uns die Berührung mit dem Taufbecken. (Taufe von Tzveta Sofronieva. Aus dem Gedichtband Eine Hand voll Wasser, Sofronieva 2008) 58 I. Wir sind alle nur Mieter, wir mieten ein wenig Zeit vom Universum, um einen Raum zu gestalten. Wieder und wieder. Das erfordert ständigen Mut und ununterbrochenen Wissenserwerb. Dabei ist die Fülle an Ideen hinter dem Wort Lebenswelt bedeutend. Mir scheint der Begriff aber heute zum Teil auch gefährlich, denn er wurde auf Hintertürchen in die Werbung eingeschleust, angereiht mit Erlebniswelten, Einkaufswelten, Autowelten, Möbelwelten, Modewelten, Reisewelten, Kinderwelten, Urlaubswelten und mehr. Individuelle Lebenswelt beinhaltet eher die Beziehungen zwischen den verschiedenen Bereichen unserer Existenz, ihre sich ununterbrochen verändernde Schnittmenge. Die individuelle Lebenswelt braucht nicht kleiner sein als die große Welt; in der runden kleinen Brunnenöffnung ist das ganze sichtbare Firmament vorhanden. Merkwürdig, wie Bilder im Netz wichtiger sein können als die Bilder im Kopf. In diesem Monat leite ich eine Schreibwerkstatt in einer Willkommensklasse. Das Wort „Willkommensklasse“ ist eine merkwürdige Bezeichnung für Flüchtlinge im Kindesalter. Nun, wie kann man eine Klasse Kinder nennen, die kein Deutsch können und es schnell lernen müssen, um in den Regelunterricht zu kommen? Wie nennt man Schmerzüberwinden bei Kindern? Wie definiert man Integration für Kinder? Da wir das nicht wissen, komme ich mit der Bezeichnung Willkommensklasse klar. Wir schreiben über unsere Lieblingsstädte. Ein Junge wählt Istanbul, seine Traumstadt, sagt er. Er will unbedingt hin. Ich gehe davon aus, dass er die Moscheen dort liebt oder die prächtigen Paläste und die Brücken über den Bosporus, aber das ist es nicht. Wahrscheinlich die Märkte, denke ich mir. Doch das ist es auch nicht. Der Junge möchte nach Istanbul, um seine Klassenkameraden zu treffen, die dort auf der Flucht vom Krieg geblieben sind. Er will mit ihnen spielen wie damals in Aleppo auf dem Schulhof. Aleppo ist seine Traumstadt. Die angstfreie Kindheit ist seine Traumstadt. Die Freundschaft ist seine Traumstadt. Er findet Bilder aus dem Aleppo der 1920er-Jahre, und dann schämt er sich, dass er zu sentimental gewesen ist. Jemand hat ihm dieses Wort gesagt. Der Junge verbindet damit Schwäche. Er will nicht sentimental sein. Er will nur nach Aleppo, wie es vor dem Krieg war. Was für eine Lebenswelt hat dieser Junge, frage ich mich. Immer noch empfinde ich das Wort nur als eine Hülle, die ich nicht füllen kann. Ist der Berliner Alltag die Lebenswelt dieses Jungen, die Aleppo-Erinnerung und -Sehnsucht, oder der Wunsch, Istanbul zu besuchen? Oder alles zusammen? Ein Mädchen möchte über Berlin schreiben. Ich bespreche Sehenswürdigkeiten mit ihr, frage sie, wo sie schon gewesen ist, zeige ihr Bilderbücher und Postkarten. Vergebens. Denn sie schreibt, wie glücklich sie ist, dass sie sich hier frei bewegen kann, dass man hier jederzeit auf der Straße spazieren gehen kann. Ihre Traumstadt ist nicht Berlin. Ihre Traumstadt ist Freiheit, Frieden, Gleichberechtigung. Die Lebenswelt dieser Kinder ist die Flucht, der Verlust der Heimat, die Aneignung der neuen Heimat. Nichts anderes scheint wirklich wichtig. Diese Kinder und ihre Träume und Alpträume sind auch meine Lebenswelt. Sie sind nicht meine Welt und nicht mein Leben, aber sie sind Teil meiner Lebenswelt. Langsam, nur allmählich fange ich an, die Umrisse des Wortes zu spüren. Istanbul ist nicht meine Traumstadt, wie auch nicht die des syrischen Jungen. Berlin ist nicht wegen seiner Sehenswürdigkeiten wichtig, weder mir noch dem syrischen Mädchen. Für eines meiner Gedichte über das Erwachsenwerden (nicht nur das eines Kindes sondern des Menschen an sich) wählte ich den Titel „Das Einpflanzen des Garten Eden“. Dieser wurde mir von einem deutschen Lektor in „Das Anpflanzen des Garten Eden“ geändert (Sofronieva 59 Das Einpflanzen des Garten Eden 2008 und 2013). Es geht aber gerade nicht um das Anpflanzen, sondern um das Einpflanzen der Welt, um die Bewegung einwärts. Berlin, im Dezember 2017 Literaturverzeichnis Albright, Daniel: Quantum Poetics: Yeats, Pound, Eliot, and the Science of Modernism. New York: Cambridge University Press, 1997 Auden, Wystan Hugh: After Reading a Child‘s Guide to Modern Physics. In: Out Loud. Poets perform their own work. Edinburgh Intern. Festival, BBC, 195, https: / / www.bbc.co.uk/ arts/ poetry/ outloud/ auden.shtml, (30. Juli 2018) Bäuerlein, Theresa / Shai Tubali: Denken wie Einstein: Was wir von den klügsten Köpfen der Geschichte lernen können. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag, 2015 Ebert, Rumiana / Sofronieva, Tzveta: Reflections in a well. London: Paekakariki Press, 2018 Hacker, Jörg / Kumm, Sandra: Synthetische Biologie im Dialog - Leben. In: Voigt, Friedemann (Hg). Grenzüberschreitungen - Synthetische Biologie im Dialog. S. 19-33. Freiburg: Verlag Karl Alber, 2015 Heisenberg, Werner: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München: Piper, 199 Lorenzen, Dirk H.: Warum funkeln Sterne? In: Welt der Physik, 21.0.200, Hamburg: DESY, https: / / www.weltderphysik.de/ thema/ hinter-den-dingen/ funkeln-der-sterne/ (30.07.2018) Lukrez: Über die Natur der Dinge (De Rerum Natura) - Vollständige deutsche Ausgabe. Übers. Hermann Diels, 192. e-artnow, 25. März 201 Schrödinger, Erwin: Was ist Leben? - Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. Übers. L. Mazurcak. München: Piper, 1989 Schrödinger, Erwin: Mein Leben, meine Weltansicht: Die Autobiographie und das philosophische Testament. München: dtv Verlagsgesellschaft, 200 Schrödinger, Erwin: Gedichte. Godesberg: Verlag Helmut Küpper, vormals Georg Bondi, 199 Sofronieva, Tzveta: Anthroposzene. Bielefeld: Reihe Translingual, Hochroth, 2017 Sofronieva, Tzveta: Landschaften, Ufer. Gedichte. Edition Lyrik Kabinett bei Hanser. München: Carl Hanser Verlag, 2013 Sofronieva, Tzveta. Das Vererben vom Wissen. In: Chiellino, Carmine (Hg.): Michael Krüger. Eine Einführung. Dresden: Thelem Universitätsverlag, 2012, S. 107-12 Sofronieva, Tzveta: Un-Lost in Translation. Ein Essay. In: Agoston-Nikolova, Elka (Hg): Shoreless Bridges. South East European Writing in Diaspora. New York: Rodopi 2010, S. 27-0 Sofronieva, Tzveta: Eine Hand voll Wasser. Deutsche Gedichte. Aschersleben: UnArtIG, 2008 Strand, Mark / Shawn, Wallace: Im Schattenland der Poesie. Stimmen zwischen Ich und Welt vernehmen. Übers. Clemens Umbricht. In: Lettre International 9, Sommer 2000 Suzuki, Shinichi: Nutured by Love. A new Approach to Education. Übers. Waltruad Suzuki. New York: Exposition Press, 199 Thirring, Hans: Erwin Schrödinger zum sechzigsten Geburtstag. In: Acta Physica Astriaca. 1. Band, 2. Heft. Wien: Springer, 197 Watson, James Dewey: Die Doppel-Helix: Ein persönlicher Bericht über die Entdeckung der DNS-Struktur. Überarbeitete Neuausgabe. Berlin: Rowohlt, 2011 60 I. 61 Von der Mehrsprachigkeit der Welt II. Von der Mehrsprachigkeit der Welt José F.A. Oliver Was hat ein arabischer Philosoph mit Federico García Lorca zu tun? Was eine Erkenntnis aus dem 9. Jahrhundert mit den Schülerinnen und Schülern, die heute oder morgen in ihrem Klassenzimmer Ihren Ausführungen folgen (oder auch nicht)? Lassen Sie mich, um den nachfolgenden Essay über die Übersetzbarkeit oder Nicht-Übersetzbarkeit (von Gedichten) ins Heutige zu verorten, etwas weiter ausholen. Bevor ich Sie dann in eine Übungsmetapher einlade, die Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, in Ihr Klassenzimmer interpretieren können. Stellen Sie sich bei der Lektüre meines Werkstattberichtes im Umgang mit einigen Gedichten einfach vor, dass Ihr Klassenzimmer eine Bibliothek ist. Eine Wanderbibliothek lebender Bücher. Aus Deutschland und aus vielen anderen Ländern dieser Welt. Lebenswelten, die sich treffen. In Sprache und oft auch in Sprachlosigkeit. In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts war Bagdad ein welt- und weltenbewegendes Zentrum. Man müsse „die Wahrheit auch bei fernen Nationen suchen, die nicht unsere Sprache sprechen“, schrieb seinerzeit Al-Kindi, der erste bedeutende Philosoph der arabischen Welt. Er lebte und wirkte, vermutet man, von 813-873 unserer Zeitrechnung. Eine Epoche, die wir vor uns zwar entstehen lassen können, zumindest in unserer Phantasie oder aber in unserer Vorstellung vom sogenannten Mittelalter. In die wir uns aber nicht wirklich, sprich realiter hineinversetzen können. Es sei denn, man erklärte die poetische Phantasie, die bisweilen auch eine historische sein kann, zum Tat und Taten und Tatsächlichkeiten spiegelnden Wirklichkeitswahren und behandelte die Informationen damit als Fähre in die Fiktion von Geschichte. Aber das wäre ein anderes, nicht minder spannendes Thema: Fiktion und Wirklichkeit und deren Verhältnis zur Wahrheit und zu den Wahrheiten. Al-Kindi suchte nach der Wahrheit. Davon unabhängig, sprich unabhängig von der dokumentarischen Einlassung auf das, was geschehen ist - durchaus immer auch eine Frage der Interpretation -, gibt es jedoch Gedanken, die uns überliefert sind und für sich stehen. Gedanken von einer Erkenntnisweisheit wie die eines Al-Kindi. Ein Name, für viele so fremd wie das, was in heutigen Begegnungen bzw. Nicht-Begegnungen auch in unseren Breitengraden Wirklichkeit ist. Lässt sich dieser fundamental sich auf die notwendige Neugier beziehende Satz Al-Kindis in unsere Zeit übertragen? Sehr wohl. So in etwa: „Man muss die Wahrheiten auch in anderen Sprachen suchen, die nicht unsere Herkunft zum Ausdruck bringen.“ Dabei geht es mir in erster Linie nicht um die Dudenkorrektheit der deutschen oder die Deutungshoheit von Akademien anderer Hochsprachen. Vielmehr kann auch das sogenannte Defizitäre die unterschiedlichen Lebenswelten in Sprache abbilden. Ein Wirklichkeits-Sprech, 62 II. aus dem sich ein überraschend heutiger und damit sich ständig erneuernder Dialog entwickeln kann. Bei mir war es die spanische Sprache bzw. genauer gesagt die andalusische Variation des Kastilischen, rein sprachwissenschaftlich betrachtet. Später sollte die von der Real Academia de la Lengua Española bestimmte „spanische“ Hochsprache meinen Werdegang mitprägen. Zu den kindsfrühen Erfahrungen meines Lebens zählten allerdings nicht die hochsprachlichen Ein- und Auslassungen, sondern die Mutter- und Vaterw: orte aus dem andalusischen Málaga und die Dichter, die dort rezitiert oder gesungen wurden. Lorca, beispielsweise. Seine Gedichte, seine Lieder. Sie haben nicht unwesentlich zu meiner Wahrnehmung von Sprache in ihren Klängen und Rhythmen beigetragen. Schon in Zeiten, in denen ich weder lesen noch schreiben konnte, aber hören. 63 Sonnenmond und Messerblüten Sonnenmond und Messerblüten II. Sonnenmond und Messerblüten José F.A. Oliver Der Tod und das Gedicht ist Tod des Todes. El poema es la muerte de la muerte Ich weiß zu viel und weiß zu wenig. Beides in einem Atemzug. Das ist m: ein Dilemma. Seien Sie dennoch willkommen und erlauben Sie mir einen weiteren Wink, bevor Sie meine unaufgeräumte Wörterwerkstatt und diese Ausführungen besuchen: ich vertraue meistens dem Erstempfinden einer Lektüre. Meine Faszination für die Unmittelbarkeit. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich in meinem Leben immer schnelle(re) Entscheidungen treffen musste. Als Kind zunächst zwischen den Kulturen, später mit ihnen, heute oft vor ihnen. Insofern führt das Verschmelzende der Intuition, jene Synthese aus Gefühl und Vorstellungskraft, bei den nachfolgenden Zeilen meine Schreibhand. Federico García Lorca … Es gibt ein Gemälde von Salvador Dalí aus dem Jahr 192, das der kokett aufgereizte Herzenskatalane des von ihm verschmähten Andalusiers als Einladung in den Traum mit „Stillleben“ betitelt hatte: natura muerta. Es zeigt mit begehrend lustgeformten Lippen in zart-geschwungenen, sanften Zügen das tote Gesicht Lorcas. Die unschuldsnaive Linienführung eines Kopfes, bildmittig dargestellt. Eine Andeutung und Eros pur. Kein Mund jedoch, der lächeln würde wie auf dem Foto, das Federico García Lorca ein Jahr zuvor am Strand von Cadaqués abbildet. Als dieser, Lorca, versuchte, s: einen toten Lorca zu imitieren. Auf der rechten Seite in unbequemer Schräglage liegend, im Bademantel, der Kopf auf die Kieselsteine eines Sommertages abgesackt. Ein schierer Heiligenschein zur Zierde fehlt auch nicht. Sankt Sebastian lässt grüßen. Es könnte ein grau eingefärbter Heiligenschein sein. Mit schwarzem, unvollendetem oder vom Rund der Aureole abgeschnittenem Dreieck. Auf dem Foto lächeln Mund und Augen. Ein bewusst fortgeschlossenes Lächeln und doch, so habe ich den Eindruck, eine verspielt schelmische Zufriedenheit (oder Genugtuung? ) im und am scheinbar Toten. Lorca, so wird allenthalben „doziert“, machte gern einen auf tot. Es gefiel ihm, „hacer el muerto“, den „Toten zu machen“. Was Dalí wiederum vielleicht oder wahrscheinlich dazu verführte, den Dichter auf einem anderen seiner Kunstwerke in die unmittelbare Nähe eines Eselskopfkadavers zu bannen und einen aufschlussreichen Satz als Titel zu verwenden: „Honig ist süßer als Blut“. Ins Surreale einer unmöglichen Liebe gesagt. War es Hilflosigkeit oder Hohn? Oder simple Spielerei in den Ernst der Zeit? Die Dichter der Generación del 27, sagen einige Interpreten ihrer Lyrik, seien im besten Sinne des Wortes - im besten Sinne eines unübersetzbar deutschsprachigen Wortes samt dessen widersprüchlich gehandhabten Bedeutungshof - der „Heimat“ nie wirklich fern gewesen. 64 II. Ich subsumiere die Auslegung unter einen Eigenbegriff, der mir dazu einfällt - Heimatlinge. Das macht Aufhorchen. Diese Dichter seien, so die Expertisen aus den oft eigenbrötlerisch abgesteckten Hoheitsgebieten der Literaturexegese, mit allen Herkunftssinnlichkeiten „beheimatet“ gewesen. „Beheimatet“ ist anerkennender. Das klingt in meinen Ohren dann doch wahrnehmender und urteilsfreier als der Begriff, der sich mir aufdrängte: Heimatlinge. „Beheimatet“ kommt ohne jegliche Bevormundung aus. Fast hätte ich auch-interpretatorisch geschrieben, sie seien „mit allen Wassern der Herkunft gewaschen“ gewesen. Doch das wäre zu viel der Absicht und meiner Spielerei. Apasionadamente Heimat also. Allen Sinnen folgend und der Eingebung kindserfahrener oder kindsimaginierter Phantasien gehorchend. Überkommene, nicht mit Traditionen brechende „Heimatlinge“ - ich bleibe doch beim Wort - sind sie, meinen andere hingegen. Ein ständiges Für und Wider von Anfang an. Die Meinungen gingen und gehen auseinander. Immerhin, das sei ebenfalls unterstrichen, treffen sich die Gemüter schließlich doch. Weil viele „Standards“ der Zuweisung nicht fassbar werden, seien sie (irritierenderweise) ganz ohne altromantisch-verzierende Singsang-Anwandlungen oberflächlicher Entblößungen. Im Grunde ihrer elenden Leidenschaft wirkten sie eher wie Bruchromantiker oder gar Gegenromantiker einer natürlich-jahreszeitlichen Kontinuität jener Landschaften, die sie „geprägt“ und „erzogen“ haben. Und damit wilder träumend. Belassen wir es dabei und lassen wir mit diesem „Hereinspaziert“ in meine Werkstatt die Assoziation Buñuels gleichfalls beiseite, der als Reaktion auf die „Zigeunerromanzen“ von einem „Menstruationsblut“ gesprochen hatte, das die spanischen Betten geflutet habe, denn, soweit darf ich als Betrachter im Nachhinein gehen, auch der filmische Bildermacher brauchte den oder einen Mond in seiner weiblichen Kulturgeschichte, um rasierklingenscharf gegen den Mond oder die Mondin zu drehen. Was also ist Kontinuität? Das Weiterentwickeln oder der Auf-Bruch mit dem, was war und ist? Ich reiche Ihnen diese Frage gerne weiter. Rafael Alberti offenbarte mir in den frühen achtziger Jahren, als ich ihn in Madrid aufgesucht hatte, das Andalusische sei eine Seins-Form, una forma de ser. Eine Art zu leben. Una manera de vivir. Auch das. Dem stimme ich zu. Viele der Verse der Dichtergeneration, die sich 1927 zum 300. Todestag von Luís de Góngora versammelt hatte und sich bewundernd auf ihn bezog, sind eine lyrische Schollenheimat der Vergänglichkeit(en). El poema es la muerte de la muerte. „Das Gedicht ist Tod des Todes“. Das käme einer Erlösung gleich, und deshalb könnte ich einige dieser poetas des „silbernen Zeitalters der spanischen Literatur“ auch heimatverw: orten: den W: orten ihrer Kindheit zugehörig. Alexeindre, Alberti, Lorca. Die Architektur ihrer Werke gleicht einem Maurischen Bogen, un arco árabe. Durchlass und Schutz. Verborgenheit ins Offene, Sehnsuchtsschneisen und muros rotos, „zerborstene Mauern“. In beide Richtungen der wirklichen oder wunschskizzierten Tore. Die Hufeisenform ist der Auenlandschaft im Halbrund um den Geburtsort des Sohnes eines Großgrundbesitzers und einer Lehrerin übrigens nicht unähnlich. Von oben betrachtet. Die gesamte Vega gleicht eher einer Fliege - so wie sie die Dichter trugen. In einem Gedicht sollte Federico del Sagrado Corazón de Jesús García Lorca einst schreiben: „¡Ay, qué trabajo me cuesta / quererte como te quiero! “ („Ay! Dich zu lieben, wie ich dich liebe, ist Schwerstarbeit“ - salopp ins Alltags-Heutige geworfen). 65 Sonnenmond und Messerblüten Lorca war im (für eine „heimelige“ Kindheit) überschaubaren Fuente Vaqueros geboren worden, der „Viehtreibertränke“. Und die Vega de Granada wurde ihm alsbald Gebirgsnacken und Fluchtmündung ins Meer. Mulhacén und Segel. Mulhacén, der ihn den Schnee lehrte und der mit seinen 382 Metern über der ganzen iberischen Halbinsel thronende Berg und der Sage nach Wunsch-Bestattungsort einer der letzten Emire des Königreichs Granadas. Die Segel wurden die andalusische Hauptstadt Sevilla und war doch gleichzeitig auch Metapher ihrer selbst, ein Gleichnis ins Offene der Meere. Insofern zwei Erregungszustände ins Poetische. Darro und Genil heißen die beiden zusammenströmenden Gefährten, die diese Metapher setzten, wie Segel gesetzt werden, um in Bewegung zu bleiben, Neues zu erkunden. Der erste fließt in den zweitgenannten. Letzterer ergibt sich in Palma del Río dem Guadalquivir. „Auf nach Sevilla! “ Mulhacén und Metapher der Segel. Wie viel Kindheit ging dabei an Bord? Die Flussauenlandschaft war ihm bergender Wundschnitt ohne Messer. Unversehrte Verletzbarkeit und: Dach ohne Haus. Aufgehobene Verlorenheit. Eine aus Türen und Fenstern gemachte Bleibe ins Freiere. Kindsgedächtnis und Kindsaugenstaunen. Sie war ihm Lied seiner Lieder. Aus Weizen und Schnee. Imaginiertes Brot und Wasser der Melancholie. Ursprung seiner ersten und seiner letzten Gedichte. Ein ununterbrochenes Theaterstück verwaister Dialoge aus Einsamkeiten (Ein Plural. Denn anders wäre der konkrete Mythos Andalusien nicht denkbar in seinen Wirklichkeiten aus Traum und Dasein). Soledades, die Lorca der Straße, der Menschennot auf den Straßen - pena penita pena, singt eine berühmte copla -, der pilgernden Leidensgeschichte, die sich Leben nennt, zurückgab; zurückgeben musste. Nicht ohne Pathos und surreale Phantasie (Auch im Tonfall dieser Zeilen bleibt das Pathos nicht außen vor. Je m´excuse - pas). Alles andere wäre blutleere Hochzeit (gewesen) oder Bleiche. Ein stummpolierter, mit Nardenöl gesalbter Amboss und einer Kinderleiche unterm Glanz einer blindlustkalten Mondin: „La luna vino a la fragua / con su polisón de nardos.“ Kippt die Mondin ihre Narden / ihren Lustrock in die Schmiede oder expressiver: lustrockfunken kippt die mondin / nardenblüten in die schmiede - blickt und blickt, das kind erblickt sie / blickt das kind die todin an … „El niño la mira, mira. / El niño la está mirando“. In der sehr schönen deutschsprachigen Variation von Martin von Koppenfels lesen sich die Verse weniger dramatisch: „Kam einmal Frau Mond zur Schmiede, / duftend und mit Krinoline. / Und der Junge sieht sie, sieht sie, / und der Junge sieht sie an.“ Ins Leidvernarbte gesagt oder in die „heridas ausentes“, die „abwesenden Wunden“ gesprochen - Wunden wie entlegene Gehöfte - und in die Vergänglichkeit der W: orte hineingetragen sei diese flüchtige Werkstatt-Skizze eines Übersetzers, der per se k: einer ist und doch por pasión einer wurde, werden musste; s: eine kontinuierliche Irritation und Einsch: reibungen. Dieser Entwurf ist nichts weiter als eine sich verneigende Geste des Respekts. Ein scheuer Versuch, die vernarbte Zärtlichkeit in jene Sprachfremde zu schmuggeln, die Teil meiner Heimat wurde, ins Deutsche, das ich immer anders wahrnahm - andalusischer. Deshalb sei zur Orientierung der Sehnsuchtswünsche Lorcas ein weiteres Gedicht zitiert, das, wenngleich ich es auch nie in seiner Ganzheit als „Lied an den Tod des Todes“ verstand, doch ein inniges Verlangen nach Geborgenheit fühlbar machte, die Mutter immer als Komplizin. Immer. Nicht als Kult. Das wäre zu einfach gestrickt (oder gestickt). Es gibt eine Nähe, die „madre“ bedeutet, und um die Nöte und Dinge weiß, auch wenn sie nicht (ganz) ausgesprochen… Davon bin 66 II. ich überzeugt. Vielleicht weil ich auch eine (andalusische) Mutter habe (Irgendwann sagte mir jemand: „Ach, Sie und ihre andalusische Sentimentalität! “ Ich denke bis heute darüber nach, was das bedeutet - oder sagte er „Sie und ihre mediterrane Sentimentalität“. Ich weiß es nicht mehr so genau. Lediglich das Wort „Sentimentalität“ ist mir geblieben. Als ein wie auch immer gearteter Vorwurf). CANCION TONTA Mamá. Yo quiero ser de plata. Hijo, tendrás mucho frío. Mamá. Yo quiero ser de agua. Hijo, Tendrás mucho frío. Mamá. Bórdame en tu almohada. ¡Eso sí! ¡Ahora mismo! Federico García Lorca EINFÄLTIGES LIED (erste Variation) Mamá. Ich möchte Silber sein. Söhnchen, du wirst frieren. Mamá. Ich möchte Wasser sein. Söhnchen, du wirst frieren. 67 Sonnenmond und Messerblüten Mamá. Säum dein Kissenchen mit mir. Aber natürlich! Komm! EINFÄLTIGES LIED (zweiteVariation) mamá ich will aus silber sein mein sohn dann du wirst du doch frieren mamá dann will ich aus wasser sein mein sohn auch dann wirst du frieren mamá so stick mich in dein ruhekissen wunderbar sofort, komm her Asombrarse con las cosas, sagt die Redewendung im Kastilischen, die auch mir schon in Kindertagen begegnet ist. Dabei war doch „sombra“ schlicht und einfach „Schatten“, und von Vater kannte ich den Ausdruck „sol y sombra“ - ein Platz in der Stierkampfarena, der nicht so teuer wie ein reiner Schattenrang und doch ein tendido, der in der zweiten Hälfte der Zeit geschützter war als ein Sitz in der bloßen Sonne. Sich verstaunen mit und an. Und in den Dingen staunend dichten, die erdgebunden waren. Sind. Es verspricht die Unerreichbarkeit der Ufer aus Wort und Laut und duende. In der Enttäuschung Ankunft sein. Das O wie O in Omega im Spanischsprachigen der sombra. Betontes O. Das A wie Atem Anfang Alpha im deutschen W: ort aus Schatten. Betontes A. Sombra & Schatten. Fortschirmen sich. Von dem, was Körper ist, was Ding erscheint und ist. Bauch Bogen Rund und Korpus Klang. Gewesen ist. Vergangenheitsgewähr. Sie reicht fort ins Präsens und ist vollendet 1 Niemalsimmer. Fortschirmen sich tut NOT. Und ist zugleich poetisch. Sich aus dem Fenster lehnen und aus den Schattenwurf der trutzgemachten Häuser treten, die … (Was war andalusisch an den Häusern? La casa und casarse? Haus & Hochzeit? Casarse = 1 Sich-Verhausen? Als sei das kindserlebte Staunen im Schattenw: ort 1 Sonnenleib, der Geheimnisvolles ahnen und Glut ins Bild fortwirken lässt. Vom Spiel in den Verlust des Spieles; 68 II. aus der poetisierten Unbefangenheit der Kindertage, die Plötzlichkeit. Erwachsen w: erden, um Werden zu dürfen. Essenz und Existenz. Ein Abschieds-Ahnen Lorcas, auch schon in frühen Jahren, das erfühlt, erdenkt, erkundet schließlich. Offenherzig. Mit Alt- und Neumetaphern tanzend, im Sinnenfächer, sprachenwärts. So b: leibt 1 W: eiterschreiben. Blieb. Bis dass der Tod, ich glaube - nein, ich bin davon überzeugt - das musste Lorca: Weitersch: reiben, um den Tod des Todes Vers werden zu lassen. S: ein (kurzes) Leben lang. Sich ein Kindsbildstaunen wahren und das (ernste) immerletzte Spiel mit dem, was tot macht, selbst zu sein. Lorca schreibt: „Amo a la tierra. Me siento ligado a ella en todas mis emociones. Mis más lejanos recuerdos de niño tienen sabor de tierra. La tierra, el campo, han hecho grandes cosas en mi vida… Los bichos de la tierra, los animales, las gentes campesinas tienen sugestiones que llegan a muy pocos. Yo las capto ahora con el mismo espíritu de mis años infantiles… Este amor a la tierra me hizo conocer la primera manifestación artística”. Ich liebe das Land. Ich fühle mich ihm mit all meinen Gefühlen verbunden. Meine entlegensten Kindheitserinnerungen schmecken nach Erde. Das Land, die Felder, haben in meinem Leben Großes bewirkt … Das Ungeziefer, die Tiere, die Ackerleute folgen ihren Eingebungen. Das ist nur wenigen vorbehalten. Heute trage ich sie in mir. Im selben Geist meiner Kinderjahre … Diese erdgebundene Liebe lehrte mich die Ursprünge der Kunst. Das Gedicht tritt aus dem Schatten nur hervor, indem es sich (und) uns den Schattenwurf der Vorstellung benennt. Dann wird Wirklichkeitsempfinden Realität im Plural. Weil alles m: eins verbündet. Der rätselhafte dunkle Tod, der bald metallen leblos glänzt; nicht funkelt. Die Mondin des Todes, die im castellano, weiblich ist wie der männliche Tod im Deutschen. Frau Gevatterin verkörpert kaltes Silber, sprich: Todin (oder wäre Tödin die bessere der Mutmaßungen? ). Sie schüttet Todeslicht, ein bleiches, fahles aus ihrem Reifrock, der verführerisch nach Nardenblüten duftet. Wie übersetze ich, was eine Seins-Form ist (Alberti), in das Wesentliche einer anderen, in meinem Falle der deutschen Sprech- und Sprachkunst, die ebenso furchterregend wie das Silbertote und die Vergänglichkeits-Skizze eines Entwurfs sein kann. Welche Silberprägung ist gemeint? Das Silbermatt der Nacht, dort wo kein Mondlicht blendet? Das Silber, das im Sonnenfieber eine Versöhnungsbegierde glänzt? Das Silber, das Zeit per se als Uhrgerüst verfärbt? Ein Konstrukt oder doch naturgegeben, nachgedacht, was Lorca einst …? Ist Silber Patina der skrupellosen Geburt in den Tod? Wer geht vorüber, wo Lorca schreibt? Wieso ein Gold, wenn Polyphem den bitterblinden Arm um Freud- und Trauertänze legt? Hat er im Griff, was die Enttäuschung m: eint? Ich weiß es nicht und höre doch das Ungestillte der Gitarre, das niemals Schweigen ist, vielmehr das Ohr und das Gehör der Stille, wo Trauer klingt und Not wie Kummer, Pein und Elend. Adivinanza de la guitarra En la redonda encrucijada, seis doncellas bailan. Tres de carne 69 Sonnenmond und Messerblüten y tres de plata. Los sueños de ayer las buscan pero las tiene abrazadas un Polifemo de oro. ¡La guitarra! Federico García Lorca Wie begreife ich „la redonda / encrucijada”? Wie das Komma, hinter dem Wort, das auch den Hinterhalt beschwört? Was assoziiert die Kultur der deutschen Sprache mit dem Uralt-Macho-Wort „doncella“? Von Maid bis Burgfräulein; von Magd des Herrn bis Kammerzofe; von Jungfrau Jungfer bis hin zum Mädchen-Das … ¡Ay! Allein es fehlt der „Adel“ des Respekts? Verquer. Auch heute noch die Vorstellung, dass Adel ritterlich … Oder gibt es den Respekt vielleicht gar nicht (mehr)? Ist Adel Großgrundbesitzerarroganz und Bankenkonsortium, das virtuelle Latifundium und wir die monetären Tagelöhner? („Großgrundbesitzerarroganz“ - welch Ungetüm von Wort. So ungeheuerlich wie Latifundien). Dann wäre dies noch vor einer Übersetzung zu klären: die seltsame Vorstellung eines Neutrums, das eindeutig zugeordnet und missachtet: das Mädchen. Je intensiver ich mich mit den Grenzen beschäftige, desto irritierender das Abgeschottet-Sein in den Gehegen m: einer Sprache, die keine Fähre findet, um über zu setzen. Was bleibt ist das Eigene. Deshalb traue ich Ihnen zum Schluss Ihres vorläufigen Aufenthaltes in dieser Wörterschmiede noch ein paar Variationen zu, vertraue sie Ihnen einfach an. Nicht einfach so. Fünf Variationen und 1 da capo. Wie die sechs Saiten einer Gitarre, die es bei der Übersetzung zu spielen gilt. Danke für Ihren Werkstatt-Besuch … Das Rätsel der Gitarre (erste Saite) Die Rundung verspannen sechs Jungfern im Tanz. Drei sind aus Fleisch, drei sind aus Silber. Sie suchen die Träume von Gestern auf, doch ein Polyphem aus Gold hält sie fest in seinen Armen. Die Gitarre! 70 II. Das Geheimnis der Gitarre (zweite Saite) Im Rund verspannen sechs Jungfern den Tanz. Drei aus Fleisch und drei aus Silber. Sie träumen vergebens von Gestern, ein Polyphem aus Gold hält sie fest umschlungen. Die Gitarre! Geheimnis der Gitarre (dritte Saite) Ihren Korpus kreuzen sechs Jungfern im Tanz. Drei aus Fleisch und drei aus Silber. Sie träumen vergebens von Gestern, ein Polyphem aus Gold hat sie fester umschlungen. Die Gitarre! Geheimnis der Gitarre (vierte Saite) Den Korpus kreuzen sechs Jungfern im Tanz. Drei aus Fleisch und drei aus Silber. Sie träumen vergebens von Gestern, ein Gold-Polyphem hält sie umschlungen. Die Gitarre! 71 Sonnenmond und Messerblüten geheimnis der gitarre (fünfte Saite) den körper verspannen sechs liebesverzehrte im tanz drei sind aus fleisch und drei aus silber sie träumen vergebens von gestern ein gold-polyphem hat sie im griff die gitarre! Adivinanza de la guitarra (da capo, sechste Saite) En la redonda encrucijada, seis doncellas bailan. Tres de carne y tres de plata. Los sueños de ayer las buscan pero las tiene abrazadas un Polifemo de oro. ¡La guitarra! Nachweise García Lorca, Federico: Zigeunerromanzen. Primer romancero gitano. Gedichte. Spanisch und deutsch. Neu übertragen durch Martin von Koppenfels. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Gibson, Ian: Lorca - Dalí. El amor que no pudo ser. Barcelona: Plaza & Janes Editores S. A. 1999. Gibson, Ian: Vida, pasión y muerte de Federico García Lorca 1898-1936. Barcelona: Plaza & Janes Editores S. A. 1998. García Lorca, Federico: Antología Poética. Selección de Rafael Alberti. Madrid: Visor 199. García Lorca, Federico: Obras Completas. Madrid: Aguila 190. 72 II. Aufgaben Aufgabenstellung 1 Das Klassenzimmer ist eine Wanderbibliothek. Fragen Sie nach den Herkunftsländern und den damit verbundenen Herkunftssprachen. Sammeln Sie die unterschiedlichen Sprachen und lassen Sie die Schülerinnen und Schüler etwas darüber erzählen. 1. Welche Sprachen treffen sich allmorgendlich im Klassenzimmer? 2. Wo werden die Sprachen gesprochen? 3. Gibt es eine schriftlich überlieferte Literatur in diesen Sprachen? Diese Fragen können auch zusätzlich als Hausaufgabe einen Dialog zwischen Schülerinnen und Schülern bedeuten. Aufgabenstellung 2 Je nach den Sprachen, die sich im Klassenzimmer zusammenfinden, können nun Texte aus den jeweiligen Sprachen in deutscher Übersetzung ausfindig gemacht werden. Hierzu bieten sich in erster Linie Gedichte an. Eine gute Plattform bietet www.lyrikline.org. Aufgabenstellung 3 Die Schülerinnen und Schüler treffen eine Auswahl. Mit den recherchierten Gedichten kann nun weitergearbeitet werden: 1. Wie sind die Gedichte übersetzt? 2. Gäbe es eine Möglichkeit, die Gedichte auch in andere Sprachen zu übersetzen, die in der Klasse gesprochen werden? 3. Eine gemeinsame Unterrichtsstunde mit den Fächern Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch oder Türkisch könnte angeregt und durchgeführt werden. Aufgabenstellung 4 Nach diesen Schritten erfolgt eine Publikation der Texte in verschiedenen Sprachen. 74 I. 75 Der Kampf um Bälle und Köpfe Der Kampf um Bälle und Köpfe Ilija Trojanow Kapstadt. August 2005 Das Training beginnt irgendwann nach fünf Uhr am Nachmittag auf einem der zehn Plätze. Die Spieler trudeln ein, einige in Trikots und Fußballstiefeln, die meisten in lockerer Kleidung und abgerissenen Turnschuhen. Ein Platz wird frei, die Spieler müssen sich den buckligen Rasen mit einer der anderen wartenden Mannschaften teilen. Es ist kurz vor sechs und die jungen Männer passen sich den Ball noch eine gute Viertelstunde zu, bis es so dunkel wird, dass man nur noch den Glimmstengel im Mund ihres Managers erkennen kann. Fußball in dem Township Imizamo Yethu am südlichen Rand von Kapstadt ist mehr als einen Kontinent entfernt von der geölten Maschinerie der FIFA, die Südafrika zum Ausrichter der WM 2010 erklärt hat. Zwar hat einmal ein Ortsverband existiert, aber er ist nach kurzem und streitreichem Bestehen wieder aufgelöst worden. Die zusammengewürfelten Mannschaften beteiligen sich an Turnieren und Ligen, die so unbestimmt sind wie das Training. Und die Aufstellung richtet sich nicht nach Fitness oder Form, sondern nach dem Kleingeld in den abgewetzten Hosentaschen der Spieler. Wer die Münzen für die Busfahrt nicht zusammenkratzen kann, hat sich für das Auswärtsspiel nicht qualifiziert. Allerdings wird keiner den Managern der verschiedenen Mannschaften mit so schillernden Namen wie ‚African Brothers‘ oder ‚Eleven United‘ vorwerfen, es mangele ihnen an Visionen. „Ich habe drei Spieler, die ich auf die WM 2010 vorbereiten möchte“, sagt Sipiwe Cele, einst Fischer von Beruf. Auch Andile Ncatsha, der jüngste unter den Managern, erwartet Großes von dreien seiner Talente. Wobei der Titel Manager, so gewichtig er auch vorgetragen wird, falsche Erwartungen weckt. Sipiwe Cele verfügt als Gelegenheitsarbeiter über Freizeit und ein Handy, mit dem er das Organisatorische abwickelt. Er verdient nichts an der Mannschaft, er kann nichts in sie investieren. Wie die Spieler muss er einen bescheidenen Mitgliedsbeitrag entrichten und alle Fahrten selbst bezahlen. Einmal im Monat treffen sich die Manager im Gemeinschaftszentrum des Townships und besprechen das Wenige, das sie ausrichten können. Die Gemeinde kümmert sich nicht um die Plätze. Die Torpfosten verlieren an Haltung, die Linien sind nicht mehr erkennbar - der Ball ist mit Sicherheit im Aus, wenn er im angrenzenden Graben landet. Der Schiedsrichter, überarbeitet und schlecht ernährt, läuft nicht auf Ballhöhe mit, sondern geht einen bequemen Radius um den Mittelpunkt ab. Der Fußballverband bietet keinerlei Hilfe an, und Sponsoren sind rar. Die wenigen Lichtblicke werden nachdrücklich in Erinnerung gebracht, wie Schöpfungsmythen. Ein weißer Geschäftsmann aus der Stadt habe für einige Jahre eine der Mannschaften unterstützt, worauf ihm der Ehrenname ‚Sipo‘ verliehen wurde - die Gabe. Ein schottischer Tourist, der eine Führung durch das Township erhalten hatte, schickte einen Satz Trikots von ‚Celtic Glasgow‘. Andile Ncatsha trägt die grün-weißen 76 II. Streifen mit Stolz. Allerdings fallen die Turnhosen etwas ab - der Schotte hat nur Leibchen geliefert. Aufgrund seiner Spende ist die Mannschaft in ‚Celtic Lions‘ umbenannt worden. Aber diese Unzulänglichkeiten sind nebensächlich. „Es gibt nur einen Grund, wieso ich hier stehe“, sagt Sipiwe Cele. „Wer zum Spiel kommt, bleibt den Drogen und der Gewalt fern. Für unsere Kinder ist Fußball die einzige organisierte Freizeitbetätigung.“ Die jüngeren Spieler sind mit offensichtlicher Begeisterung bei der Sache. Die widrigen Umstände scheinen ihnen wenig auszumachen. „Wir Schwarzen“, bemerkt Sipiwe Cele von der Seitenlinie aus, „haben nur die Wahl zwischen Fußball und Fernsehen. Und gelegentlich gibt es eine Beerdigung.“ Auf der anderen Seite des Tafelbergs, in Bonteheuwel, ist die Fußballwelt zwar nicht in Ordnung, aber es gibt ein Vereinshäuschen, an dessen Außenmauer die Spielzeiten und Mannschaftsaufstellungen der insgesamt zwölf Klubs hängen (unter den schillernden Namen ragt ‚Phantom Orion‘ heraus). Die Plätze sind planiert und mit Kreide eingerahmt, die Spieler laufen in einheitlichen Trikots auf und mit Stollen an den Füßen. Und mit Harry Wyngaard verantwortet ein richtiger Trainer, der Kurse des südafrikanischen Fußballverbandes absolviert hat, die Jugendarbeit. Einer der Plätze verfügt neuerdings sogar über Flutlicht. „Ein großer Fortschritt für uns“, sagt der Coach, „denn viele der Spieler sind tagsüber beschäftigt.“ Aber auch hier, wo die untere Mittelschicht kickt, ist Geldmangel ein Dauerproblem. Mit den siebzig Rand (knapp zehn Euro) Saisonbeitrag kann wenig finanziert werden. Die Klubs organisieren Karaoke- und Spielabende, sie suchen ständig nach Sponsoren, genauso vergeblich wie die Manager aus Imizamo Yethu. Auch Harry Wyngaard betont die soziale Bedeutung von Fußball. „Wir haben viele junge Leute davor bewahrt, Gangster zu werden. Ihre Eltern kümmern sich nicht um sie. Etwa tausend Jungs spielen in unseren Klubs, in allen Altersklassen. Das ist nicht wenig, bei hunderttausend Einwohnern in unserem Viertel.“ Die Spieler in Imizamo Yethu sind alle ‚schwarz‘, in Bonteheuwel spielen fast nur ‚Farbige‘ - die Terminologie aus Zeiten der Apartheid wird weiterhin verwendet. Das sei keineswegs Absicht der Vereine, sagt Harry Wyngaard, in diesem Viertel leben halt nur ‚Farbige‘. Man kann nicht über Fußball in Südafrika reden, ohne das leidige Thema des Rassismus anzuschneiden. „Wenn wir zu einem Spiel in die Townships fahren“, erzählt der Trainer, „werden wir von den Schiedsrichtern betrogen. Früher wurden wir beraubt, rechtfertigen sich die ‚Schwarzen‘, heute berauben wir euch.“ Zwar behauptet Wyngaard, in seinen Mannschaften gebe es zwischen ‚Schwarzen‘ und ‚Farbigen‘ keine Probleme. Doch Untersuchungen von Studenten des Instituts für Social Development an der University of Western Cape haben einen erheblichen Rassismus in den Sportmannschaften der drei großen Universitäten Kapstadts festgestellt, zwischen den Rassen, aber auch zwischen ‚Schwarzen‘ unterschiedlicher Ethnien. Integration finde kaum statt, der fremde Mitspieler werde auf dem Platz ignoriert und in den Duschen geschnitten. Beschimpfungen und Beleidigungen seien an der Tagesordnung. Und die Trainer bevorzugten Mitglieder der eigenen Gemeinschaft. So zumindest nehmen es die Spieler wahr. Die Regierung legt eine erstaunliche Apathie an den Tag. Der erste Sportminister der ANC formulierte vor knapp einem Jahrzehnt ein imposantes ‚Weißes Papier‘ unter dem Motto: Lassen wir die Nation spielen. Der Mangel an Sport- und Erholungsmöglichkeiten für die 77 Der Kampf um Bälle und Köpfe benachteiligten Bevölkerungsgruppen, so wurde einleitend festgestellt, sei eines der brutalsten Vermächtnisse der Apartheid. Neben einigen Synergietabellen und ermutigenden Losungen (‚Besser eine Kerze der Hoffnung anzünden, als die Dunkelheit verfluchen‘) wurde ein umfangreicher Plan vorgelegt. So gut wie nichts davon ist verwirklicht worden. Das Sportministerium entwickelte in der Folgezeit eine Obsession mit der kosmetischen Veränderung des südafrikanischen Sportes durch Quotenregelungen. Die Zahl ‚schwarzer‘ Werfer im Kricket oder ‚farbiger‘ Flügelstürmer im Rugby wurde zur Chefsache erklärt, Imagepflege stand an erster Stelle. Für die Entwicklung des Breitensports blieben kaum Ressourcen übrig. Die kritische Analyse der Verhältnisse von damals kann unverändert auf die heutigen Zustände übertragen werden. Weiterhin wird Sport nicht als eigenständiges Fach an den staatlichen Schulen unterrichtet. Da viele Schulen aus Sicherheitsgründen nachmittags geschlossen werden, haben die Schüler keine Ausweichmöglichkeit. Weiterhin werden Spitzensportler mit Millionen gefördert, während die breite Mehrheit der Bevölkerung keinen Zugang zu organisiertem Sport erhält. Und Fußball, die mit Abstand beliebteste Sportart, ist ein Stiefkind geblieben. Obwohl Nelson Mandela mit seinen Haftgenossen auf Robben Island gekickt hat und Oliver Tambo, ein weiterer führender ANC-Widerstandskämpfer, ein berüchtigt flinker Linksaußen war. Die Vernachlässigung von Fußball sei die Folge mangelnden Selbstbewusstseins, meint die Sportwissenschaftlerin Professor Marion Keim Lees, die sich seit vielen Jahren mit der Frage beschäftigt, inwieweit Sport als Mittel zur sozialen Integration dienen kann. Man scheue sich davor, sich zum Fußball zu bekennen. Die neue Elite des Landes betrachte Fußball als minderwertige Betätigung und orientiere sich auch sportlich nach oben. Die Kinder spielen Kricket, die Erwachsenen favorisieren Golf. Das erkläre, wieso so wenige erfolgreiche Geschäftsleute Fußballmannschaften sponsern. Das Stigma von einst verhindere, dass die Wirtschaft Fußball zur Werbung nutzt. Zudem fehle es an Vorbildern. Die wenigen erfolgreichen ‚schwarzen‘ Spieler seien ins Ausland gezogen. Benni McCarthy etwa, vor zwei Jahren Torschützenkönig der portugiesischen Liga, ist in den Medien kaum präsent. Im Gegensatz zum Weltklassegolfer Ernie Els. Fußball bleibt der Sport der ‚Schwarzen‘. Die einzigen weißen Gesichter bei den Spielen der Premiership, der ersten Liga, sind die Sicherheitsoffiziere vor dem Stadium. Rugby hingegen ist der Sport der ‚Weißen‘. Die Gesellschaft ist zwischen Fußball und Rugby gespalten. Bei der Rugby-WM 1995 haben viele ‚Schwarze‘ und ‚Farbige‘ ein fast ausschließlich ‚weißes‘ Team unterstützt, ihre persönliche Glaubenserklärung an den Geist der Versöhnung und des Neubeginns. Südafrika gewann die Trophäe, und Nelson Mandela hielt sie zusammen mit dem burischen Kapitän François Pienaar hoch. Vier Jahre später verlor die südafrikanische Fußballmannschaft das Endspiel des Africa Cups gegen Ägypten, und ‚weiße‘ Rugbyfans in einem vollen Stadium in Pretoria jubelten, als das Endergebnis über Lautsprecher verkündet wurde. Nichts verdeutlicht mehr, wie sehr ein großer Teil der ‚weißen‘ Bevölkerung das neue, tolerante, vielfältige Südafrika missachtet. Das hat sich bis zum heutigen Tage nicht geändert, und es wäre zu hoffen, dass als sportliches Minimalziel bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land Fans aus allen Bevölkerungsgruppen auf den Rängen zusammenkommen, um die Nationalelf ‚Bafana Bafana‘ anzufeuern. 78 III. 79 Lebenswelten - Anmerkungen zu Kommunikationstheorie und Sprach- und Literaturdidaktik III. Lebenswelten - Anmerkungen zu Kommunikationstheorie und Sprach- und Literaturdidaktik Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer / Thomas Borgard 1 Lebenswelten im Deutschunterricht mit Sprache zum Leben bringen Da Lebenswelten immer vielfältig und dynamisch sind, ist es auch die Sprache, korrekter, sind es auch die Sprachen und ihre Varietäten. Sie drücken nicht nur aus, was die Welt schafft, sondern schaffen sie gleichzeitig. Literarische Sprache erweitert bekanntlich das kreative Potential der Sprache und ihrer Sprecherinnen und Sprecher in besonderer und vielfältiger Weise. Lehrpläne und Lehrmaterialien bemühen sich nach Kräften, dieses Potential, meist in historischer Einordnung, an Schülerinnen und Schüler zu vermitteln. Es scheint aber, dass der Anschluss an die Lebenswelten dieser Schülerinnen und Schüler oft nicht oder nur schwer möglich ist. Zu weit liegen die Lebenswelten der Autoren und Autorinnen der Lehrbücher und der Schülerinnen und Schüler auseinander. Erfahrungen in Schreibwerkstätten und anderen Schulprogrammen zeigen aber immer wieder, und tatsächlich unabhängig von der Schulart, dass Schülerinnen und Schüler ein großes Interesse daran haben, ihre Lebenswelten mit unterschiedlichen Formen literarischer Sprache auszudrücken und zu gestalten. Über diesen kreativen Umgang mit Sprache gelingt dann auch meist der Zugang zu Lebenswelten, die in Lehrplänen sanktioniert sind. Die Literaturdidaktik des Dialogs versucht, über die Kommunikation im Hier und Jetzt der Schülerinnen und Schüler, auch die Kommunikation über andere Texte und mit anderen Autorinnen und Autoren herzustellen und weiterzuentwickeln . Das Zeicheninventar, das dafür zur Verfügung steht, ist allerdings limitiert. Damit Menschen einigermaßen effizient kommunizieren können, muss das Inventar auch limitiert sein. Gleichzeitig muss es angesichts der unendlichen Vielfalt der Lebenswelten, vielfach verwendbar, veränderbar und vergrößerbar sein. Über 5,3 Millionen Wörter sind ein überzeugender Beweis dafür, welche Kreativität die deutsche Sprache zum Ausdruck lebensweltlicher Vielfalt an den Tag legt. Obwohl sie über ein Grundinventar von nur etwas mehr als 30 Lauten und weniger als 30 Buchstaben verfügt. Funktionieren kann das sprachliche Grundinventar bei der gegebenen lebensweltlichen Vielfalt nur, wenn Laute, Strukturen und Wörter mehrfach belegt werden und kombinierbar sind, oder wenn wir uns im Einsatz der Sprache selbst beschränken. Gerade das passiert im Alltag auch. Die potentielle Vielfalt der realen und gedachten Welten reduziert der sprachliche Alltag oft auf ein Routineinventar von wenigen hundert Wörtern und sprachlichen Formeln und - zum Beispiel in manchen Internetforen und sozialen Medien - auf vergleichsweise einfache Fragmente. Aufgabe des Sprachunterrichts ist es 80 III. daher, Schülerinnen und Schüler für die sprachlichen Potentiale zu sensibilisieren und diese einzuüben. Gelingen kann dies besonders gut, wenn dafür Themen gewählt werden, die im Leben der Schülerinnen und Schüler eine Rolle spielen oder spielen könnten. Dabei zeigen Erfahrungen mit der Dialogdidaktik, dass Themen, die im Schulalltag wenig zur Sprache kommen, besonders geeignet sind, zum Spiel mit sprachlicher Vielfalt anzuregen. Inventar und Repertoire der Sprache werden differenziert genutzt, neu besetzt, virtuos kombiniert und erweitert. Es gelingt den Schülerinnen und Schülern damit, auszudrücken, was sie mit dem limitierten und routinisierten Alltagsinventar nicht könnten. Der vielfältige Ausdruck trägt schließlich zu einer differenzierteren Betrachtung lebensweltlicher Gegebenheiten, Wahrnehmungsmuster und Denkgrenzen bei. Das liegt daran, dass Sprache Teil der allgemeinen menschlichen Kognition ist (vergleiche Evans/ Green 200, 193). Viele Aspekte der Sprache und Grammatik lassen sich daher durch Organisationsprinzipien der allgemeinen Perzeption sowie körperliche Erfahrungen erklären. So werden meteorologische Phänomene wie der Regen oder der Sonnenschein im Deutschen vorwiegend als Behälter konzeptualisiert (im Regen stehen, in der Sonne liegen etc.) und bilden damit auch die kognitive Grundlage der verbreiteten Metaphorik, während sie in anderen Sprachen wie dem Spanischen oder Französischen als Entitäten über dem Menschen beschrieben werden (bajo la lluvia, bajo el sol, sous la pluie, sous le soleil). Sprachen können auch mehrere körperliche Erfahrungen zur Beschreibung desselben Phänomens kombinieren: Neben der Konzeptualisierung der Sonne als Behälter kann man im Russischen zum Beispiel auch die besonnte Oberfläche auf dem Boden profilieren (Russisch: Я стою на солнце. Deutsch: Ich stehe auf der Sonne.). Körperliche Erfahrungen und mentale Bilder können aus den genannten Gründen der Vielfalt unterschiedlich verwendet (perspektiviert/ profiliert) werden. Der Prozess der Metaphorisierung in der Wahrnehmung und ihrer Projektion auf die Sprache ist jedoch allen bekannten Sprachen gemein. Ein bestimmter konzeptueller Inhalt wird dabei von einer Quellendomäne auf eine Zieldomäne übertragen (Lakoff/ Johnson 1980; Roche/ Roussy-Parent 200). Oft sind die Quellendomänen konkret erfahrbare Konzepte, wie zum Beispiel Hitze, Nässe, Druck, Kraft, Gravitation etc., und die Zieldomänen abstrakte Konzepte, wie Einsamkeit („im Regen stehen“), Begeisterung („Feuer fangen“), Scheitern („auf die Nase fallen“) oder Prüfungsstress („unter Druck stehen“). Die Projektionsrichtung von der Quellendomäne auf die Zieldomäne liegt deshalb fest, weil die Quellendomäne stärker an die physikalische Erfahrung der Welt gebunden ist. Bei Metaphern handelt es sich nach Grady (2007, 188) um konzeptuelle Assoziationen („konzeptuelle Metaphern“) und ihre sprachlichen Realisierungen („linguistische Metaphern“). Daraus lässt sich schließen, dass jeder Sprecher durch entsprechende konzeptuelle Prozesse neue Metaphern schaffen und bereits vorhandene weiter entwickeln kann, selbst wenn diese aus einer fremden Sprache übernommen werden. Metaphern sind also dynamisch und produktiv und können sich in allerlei lebensweltlichen Kontexten als ein wichtiges Mittel zum Ausdruck komplexer abstrakter Sachverhalte erweisen. Sie sind alltäglich und im weiteren Sinne nicht nur auf rhetorische Figuren beschränkt. Zum Beispiel nutzen wir Metaphorisie- 81 Lebenswelten - Anmerkungen zu Kommunikationstheorie und Sprach- und Literaturdidaktik rungen gerne um die nicht greifbare Cyber-Welt als Raum zu fassen: Cyber-Space, Internet, Chat-Räume, Foren, Archive, Bibliotheken, hoch- und runterladen, speichern, sich treffen …). Beim Verstehen von metaphorischen Konstrukten spielen der soziokulturelle und der pragmatische, also die lebensweltlichen Kontexte eine wichtige Rolle. Neue oder unbekannte Metaphern situieren sich auf einem Kontinuum, das einerseits aus universellen körperlichen Erfahrungen und andererseits aus kontextbedingter, also kulturspezifischer Variation besteht (Kövecses 2015, 1). Zwischen den Konzepten und Bildschemata und der sprachlichen Form gibt es dabei keine Eins-zu-Eins-Zuordnung. Sprachliche Formen, also die Wörter und die Grammatik aus einem Bereich, werden jedoch auch in anderen Bereichen verwendet. Weil sprachliche Formen die Lebenswelt über Konzepte und Bildschemata abbilden („Mapping“), sind sie auch in der Lage, neue Lebenswelten zu schaffen. Den Zusammenhang von Sprachen und Lebenswelten bildet übrigens ein neuerer, bisher bedauerlicherweise noch nicht in Sprachlehrpläne eingegangener linguistischer Ansatz sehr gut ab. Er ist unter dem anspruchsvoll klingenden Begriff ‚Kognitive Linguistik‘ bekannt geworden und ist unter anderem Referenz für die Kognitive Sprachdidaktik im Fremdsprachenunterricht (Roche/ Suñer 2017). Im Mittelpunkt des Ansatzes steht das Konzept der ‚Gebrauchsbasiertheit‘. Sprache ist demnach kein abstraktes, formales System mit einer bedeutungslosen Grammatik, sondern die Regeln einer Sprache entwickeln sich aus ihrem Gebrauch. Bedeutung und Form bilden ein Kontinuum, gehören aber immer zusammen. Jede Form hat eine Bedeutung in der Welt und lässt sich trotz jahrelanger Entwicklungsprozesse und Überlagerungen auf die Bedeutung zurückführen. Damit eignet sich dieser Ansatz besonders gut, um formale Bedingungen des Sprachsystems transparent zu machen und zum Leben zu erwecken. Im Spiel mit der Sprache, wie mit den Textvorlagen und Aufgabenhinweisen dieses Bandes, lassen sich die kreativen Kräfte der Abbildung und Schaffung von Lebenswelten vielfältig praktisch erproben. Mit den Mitteln der Kognitiven Linguistik ließen sie sich im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht sehr gut erklären und systematisieren. 2 Kommunikation, Dialog, Konflikt in komplexen Lebenswelten Wenn Menschen sprachlich miteinander in Kontakt treten, gehören vielfach Konflikte dazu. Und im gelingenden Umgang auch mit schwierigen Kommunikationslagen, wie zum Beispiel Meinungsverschiedenheiten und ihrer emotional aufgeladenen Aushandlung, besteht nun ein nächstes wichtiges Feld der hier vorliegenden Dialogdidaktik. Insbesondere trifft dies auf komplexe Lebenswelten zu, etwa auf urbane Ballungszentren und vielsprachige Regionen, aber auch schulische Umfelder, in denen Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Sprachen respektive dialektaler Varietäten in Berührung kommen und ebenso oft auch in Auseinandersetzungen, Streit und Konflikt geraten. Kontakte sind genauso wie Konfliktsituationen und die betreffenden Eskalations- und Deeskalationsstufen in kommunikative Interaktionsprozesse eingebunden. Dabei spielen kulturell-sprachliche Voraussetzungen für die individuellen Kommunikationskompetenzen eine große Rolle. Sie wirken sich unter anderem auf die Differenziertheit des Ausdrucksver- 82 III. mögens, den eingebrachten Kommunikationsstil und das Gelingen oder aber Scheitern in der Bewältigung von Konflikten aus. Und natürlich hängen unterschiedliche Kommunikationskompetenzen auch mit bestehenden Ungleichheiten im Bildungssystem zusammen (vgl. Brüsemeister 2007, 31). Als fremd empfundene Kommunikationsformen können zudem bei sämtlichen Mitgliedern einer Gemeinschaft unter Umständen zu ab- und ausgrenzenden Verhaltensweisen gegenüber Anderen führen. Alle Formen solcher schicht- und gruppenbezogenen Selbstabschließung und Ausgrenzung Anderer werden als ein- oder gegenseitige kommunikative Unerreichbarkeit oder kommunikative Verweigerung bezeichnet. Zudem gehen objektiv feststellbare oder subjektiv wahrgenommene Unzulänglichkeiten bezüglich der Kommunikationsfähigkeit nicht selten mit verweigerter Kommunikationsbereitschaft einher. Verweigerung bedeutet, dass in geringem Umfang oder eben überhaupt nicht kooperiert wird. Aber welche Konzepte stehen überhaupt zur Verfügung, um Verweigerung adäquat einzuschätzen und im schulischen Alltag angemessen zu handhaben? Beispielsweise kann hier an Untersuchungen des Abschottungsverhaltens von Individuen gegenüber einer Gemeinschaft gedacht werden, wie sie in Sozialisationstheorien und der Pädagogik anzutreffen ist; denn Schülerinnen und Schüler, die sich passiv oder aktiv dem Unterricht entziehen, stellen eine entsprechende Herausforderung dar. Dieser Weg soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden, da es an dieser Stelle um kommunikative Formen der Konflikthandhabung und um Phänomene kommunikativer Verweigerung gehen soll. Ausgerechnet im Bereich der kommunikationswissenschaftlichen Theoriebildung sind entsprechende Konzepte allerdings selten. Denkt man zum Beispiel an die bis heute andauernde Strahlkraft des - vermeintlich so überzeugenden - bekannten Diktums von Paul Watzlawick des „Sich-Nicht-Nicht-Verhalten-Könnens“, dann steht dies einer fundierten Auseinandersetzung mit den Formen kommunikativer Unerreichbarkeit und Verweigerung eher im Weg. Hinzu kommt, dass kommunikationstheoretische Konzepte in der wirkungsmächtigen informationstechnischen Tradition von Channon und Weaver geradezu notorisch einseitig reduziert sind im Hinblick auf die so genannten „Störquellen“ kommunikativen Austauschs. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, warum dieses verbreitete Modell nicht ergiebig ist im Hinblick auf die Frage, wie mit den kommunikativen Herausforderungen, die mit unterschiedlichen Lebenswelten und entsprechenden Konflikten einhergehen können, umzugehen ist: Bei diesem informationstechnischen Modell, das schon auf das Jahr 199 zurückgeht, wurde die Ebene der Semantik gar nicht berücksichtigt. Dies hatte zur Folge, dass in vielen Adaptionen des Modells an menschliche Kommunikation allein die so genannte ‚denotative Bedeutung’ der natürlichen Sprache berücksichtigt wurde, d. h. die Standard- oder „Wörterbuchbedeutung“. Die Bedeutung von Wörtern (Zeichen) wird damit gewissermaßen auf ihre Uniformität reduziert, während die mögliche Verwendungs- und Bedeutungsvielfalt ausgeklammert wird. So kam es aber zugleich auch zur einseitigen Akzentuierung der Gemeinsamkeiten der Lebenswelt und zur Ausblendung vielfältiger Lebenswelten. Man kann dies so verstehen, dass der Mensch sein Mitteilungsbedürfnis „diszipliniert“, indem er sich an konventionelle Strategien der Versprachlichung hält. Ausgeklammert werden dabei jedoch situativ jeweils angepasste Formen der Sprachverwendung, sprachliche Kreativität und somit 83 Lebenswelten - Anmerkungen zu Kommunikationstheorie und Sprach- und Literaturdidaktik die sprachliche Handhabung flexibel-variabler Lebenswelten. Da Konflikte häufig gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher Lebenswelten mit entsprechenden Sichtweisen, Interessen, Emotionen etc. entstehen und ausagiert werden, erweist sich das informationstechnische Kommunikationsmodell hier nicht als hilfreich. Im Bereich soziolinguistischer Ansätze schließlich existieren zwei prinzipiell miteinander konkurrierende Konzepte, von denen hier das zweite aufzugreifen und weiterzuverfolgen ist: Einer breit ausgebauten Kontaktlinguistik stehen konfliktlinguistische Orientierungen gegenüber. Dieses letztere Paradigma betrifft zunächst den face-to-face Dialog, d. h. die mündliche Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, zum Beispiel im Klassenraum: Hier wird in konfliktlinguistischem Zugang unter anderem die Untersuchung von kommunikativen Gattungen wie Streit und allen Formen der Auseinandersetzung thematisch. Aufmerksamkeit erhalten unter anderem auch das Ausagieren von Emotionen im Konflikt, Möglichkeiten des Konfliktmanagements sowie der Schlichtung. Gleichermaßen betrifft dieses Paradigma Problemfelder der Kommunikation in Gruppen, Institutionen wie Schulen, Organisationen und öffentlichem Leben. Besondere Erwähnung verdienen hier der Umgang mit Hate Speech, verletzenden Worten und sprachlicher Gewalt, aber auch Themenbereiche wie Sprachkonflikte und Sprachunterdrückung. Generell gilt für das konfliktlinguistische Paradigma, dass nicht eine - hypothetisch angenommene - Einheit von Lebenswelten, Harmonie und Symmetrie einseitig fokussiert wird, sondern auch Aspekte sozio-kommunikativer Machtkonstellationen sowie Formen des Ausdem-Ruder-Laufens von Kommunikationssituationen nicht ausgeschlossen werden, die bis hin zur kommunikativen Verweigerung einer oder beider Seiten gehen können. Vor diesem Hintergrund einer allgemeinen theoretischen Verortung kommunikativer Unerreichbarkeit und Verweigerung soll nun danach gefragt werden, unter welchen Umständen mit kommunikativer Verweigerung gerechnet werden muss und welche prinzipielle Möglichkeit es zu ihrer Überwindung gibt. Grundsätzlich kann es vor allem dann zur Verweigerung kommen, wenn der kommunikative Aufwand einer oder beiden Seiten subjektiv nicht gewinnversprechend beziehungsweise nicht lohnend erscheint. Denn dass der Austausch zumindest potentiell als der Mühe wert erachtet wird, ist Voraussetzung dafür, dass Kommunikationspartner als sozial Handelnde sich in einen Kommunikationsprozess überhaupt einlassen und ihn fortführen: Steht kein gegenseitiger Vorteil in Aussicht, wird nicht kommuniziert - und das heißt: auch nicht kooperiert. Eine solche Einschätzung kann bei ungleichen respektive asymmetrischen Parteien die stärkere Seite betreffen, wenn die schwache beispielsweise als zu unattraktiv bewertet wird, um sie des kommunikativen Aufwands zu würdigen. Ebenso kann die schwächere Partei zu dieser Einschätzung gelangen, etwa wenn sie kommunikativ und allgemein frustriert ist. Unter Umständen kann dabei jedoch mit Bezug auf beide Seiten durchaus auch von einer Macht der Verweigerung gesprochen werden, und zwar insofern, als spezifische Formen von Machtausübung darin bestehen können, sich der Kooperation gezielt zu entziehen. Das tun zum Beispiel auch Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich nicht am Unterrichtsgespräch beteiligen oder es sogar aktiv stören. 84 III. Die Bemühungen, die unter anderem den Zeitaufwand betreffen und die in die Kommunikation zu ‚investieren’ sind, dürfen mit anderen Worten nicht auf Dauer den gegenseitigen Gewinn, der sich aus der Interaktion ergibt, übersteigen. Andernfalls sind der Abbruch der Kommunikation seitens der einen und/ oder anderen Dialogpartei und damit die ein- oder beidseitige Unerreichbarkeit zu erwarten. Kommunikative Kooperation setzt mit anderen Worten voraus, dass Aussicht auf einen angemessenen Gewinn besteht. Gewinn ist hier natürlich nicht im ökonomisch-pekuniären Sinn zu verstehen, sondern im Sinn des subjektiv lohnenden und damit relativen Aufwands und Erfolgs beziehungsweise Misslingens von Kommunikationsprozessen einschließlich der damit einhergehenden Prozesse von Vertrauensbildung und -festigung beziehungsweise -verlust. Individuelle Auffassungen des situativ Lohnenden können somit ganz subjektiv sein und objektiv betrachtet durchaus fragwürdige Ziele wie zum Beispiel die des Überredens, Überrumpelns oder Hintergehens implizieren. Die im konfliktlinguistischen Paradigma verankerte Sicht von Kommunikation eröffnet damit Perspektiven auf Problemkomplexe, wie die kommunikative Verweigerung von Individuen oder ganzen Gruppen in Institutionen wie Schulen, Unternehmen oder soziokulturell komplexen Umfeldern wie mehrsprachigen Metropolen. Es geht darum, dass 1. ein kommunikativer Gewinn für alle Beteiligten möglich und erkennbar ist, und 2. der Aufwand der Kooperation den Gewinn nicht übersteigt. Das bedeutet, dass insbesondere bei sozial ungleichen oder in irgendeiner Weise kommunikativ asymmetrischen Parteien diese beiden Aspekte möglichst dauerhaft in realisierbare Bahnen gelenkt werden müssen. Kommunikativer Verweigerung wird also nur dann zu begegnen sein, wenn die Betreffenden die Chance auf einen Gewinn sehen, ihn zumindest von Zeit zu Zeit auch tatsächlich haben sowie ihnen die Anstrengungen, die dafür zu unternehmen sind, in angemessenem Rahmen erscheinen. Damit stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten bestehen, um dies zu erreichen. Worin kann dabei erstens der Kommunikationsaufwand konkret bestehen? Auf der jeweils schwächeren Seite können zum Beispiel die folgenden Faktoren den Aufwand in die Höhe treiben, wobei es sich natürlich um eine offene Liste handelt: ▶ Unzulängliche Beherrschung der betreffenden Umgangs- und Schulsprache. ▶ Generelle kommunikative Frustration auf der Seite von (vermeintlich) Nicht-zu-Wort- Kommenden mit der Folge einer Verweigerungshaltung, da die vermeintliche oder tatsächliche Sinnlosigkeit einer Beteiligung keinen potentiellen Gewinn erkennen lässt („Trotzreaktion“). Auf der stärkeren Seite kann der Aufwand beispielsweise dadurch in die Höhe getrieben werden, ▶ dass sich die schwächere Seite immer mehr abschottet und/ oder ▶ dass eine zunehmende Hilflosigkeit bezüglich der eigenen Kommunikationsbemühungen wahrgenommen wird („Frustration“). Was zweitens die Perspektive auf den lohnenden Gewinn betrifft, so gilt generell, dass natürlich beide Seiten subjektive oder objektive Erfolgserlebnisse brauchen, vor allem zunächst 85 Lebenswelten - Anmerkungen zu Kommunikationstheorie und Sprach- und Literaturdidaktik aber die „schwächere“, da sie im Allgemeinen zur Kommunikation nicht nur nicht bereit, sondern auch dazu nicht in der Lage sein dürfte, so dass die Hürden zur lohnenden Kommunikation für sie höher sein können als für die „stärkere“ Seite. Genau hier setzen die Aufgaben des Deutschunterrichts an und die besonderen Chancen des im vorliegenden Band entwickelten Ansatzes der Sprachentwicklung mit der Unterstützung literarischer Autorinnen und Autoren. 3 ‚Lebenswelt‘ und Literatur als Einübung ins Fremde Die Verwendung des Begriffs ‚Lebenswelt’ bedarf auch in literaturdidaktischen Kontexten zunächst der Klärung. ‚Lebenswelt’ wird in der Philosophie seit dem 19. Jahrhundert als das verstanden, was einem Menschen im Alltag gewohnheitsmäßig Sicherheit gibt und bezieht sich auf „die konkrete und lebendige, umfängliche Fülle der Erlebniserfahrung von Handelnden“ (Grathoff 1989, 93). Wo die Bedeutung des konkreten Subjekts, seines Erlebens und Handelns, hervorgehoben wird, kann sich auch ein rationalitätskritischer Impuls Bahn brechen: Nicht das logisch Begründbare, sondern das Erleben der Lebenswelt ist demnach der Ausgangspunkt für Erkundungen menschlicher Selbst- und Weltverständnisse (vgl. Vajda 1993). Der Grund dafür ist, dass das praktisch Vollzogene - anders als abstrakte Begründungen - unmittelbar als evident wahrgenommen wird. Diese Überlegungen stellen darüber hinaus Bezüge her zur Untersuchung narrativer, also erzählender Texte, für die sich besonders Literaturwissenschaftler und Literaturdidaktiker interessieren, denn: „Konkrete Ideen finden ihre Artikulation in Geschichten, die alle lebensweltlichen Vorstellungen begleiten“ (Fellmann 1989, 13). Davon ausgehend, wendet Ferdinand Fellmann die oben erwähnten Überlegungen zur ‚Lebenswelt‘ ebenso sprachlich wie ästhetisch: „In der Literatur wird die lebensweltliche Form der Geschichten zur Kunstform, die […] wieder auf die lebensweltliche Erfahrung zurückwirkt“ (ebd., 181). Das Erzählen im Alltag und in der Literatur wird so zueinander in Beziehung gesetzt. Hieraus lassen sich bedeutsame Verbindungen ableiten zu sprach- und literaturdidaktischen Fragen, die den Umgang mit Literatur im Zusammenhang subjektiver Entwicklungspotenziale reflektieren (Kreft 1977). Dabei steht entweder das Lesen im Zentrum, hier unter dem Einfluss der Konstanzer Rezeptionsästhetik (siehe etwa Iser 1991), oder es geht um produktionsästhetische Betrachtungen kreativer Schreibprozesse (Oliver 2013, Abraham 201). Kurz: In der narrativen Struktur, im Plural der Geschichten, kommen die Momente der Anschauung und Selbstanschauung zu ihrem Recht, die sich didaktisch fruchtbar machen lassen (Roche 201). Mit der auf das Ich, den Einzelnen, und auf seine Umweltbedingungen bezogenen Struktur lebensweltlicher Erfahrung werden, dies gilt es zu beachten, auch die konstruktiven Aspekte der Lebenswirklichkeit betont. Für die pädagogische und therapeutische Arbeit bedeutet diese Einsicht insofern einen Gewinn als sie ein unvoreingenommenes Verstehen subjektiver Dispositionen ermöglicht. Historisch gesehen konnte die Beziehung des Subjekts der Lebenswelt zur Gesellschaft als ein Spannungsverhältnis verstanden werden. In dieser Ausrichtung verband sich die Akzen- 86 III. tuierung der Lebenswelt mit einer kulturkritischen Tendenz, insbesondere mit der Korrektur „depersonifizierender Tendenzen“ moderner Massengesellschaften im Zeichen der Mechanisierung. Wer würde folglich einem Plädoyer für die „subjective Regung“ und für „ein Handeln aus selbsteigenem Charakter“ (Eucken 1887, zit. nach Graf 1997, 59) widersprechen, erscheint doch das Eintreten für die Persönlichkeit des Individuums in höchstem Maße aktuell. So ist gegenwärtig vielerorts von der ‚lernenden‘ statt der ‚belehrenden‘ Schule die Rede, von „Individualisierung“ statt „Lernen im Gleichschritt“ (Gudjons 2008, 71). Aber welches Individuum ist hier eigentlich gemeint? Wer hier didaktisch verantwortlich handeln möchte, muss sich den historischen Wandel vom aufgeklärten Ideal des rational selbstbestimmten Subjekts zum Konsum- und Kreativsubjekt unserer Tage im Zeichen der „creative industries“ und der „Designökonomie“ verständlich machen (Reckwitz 2012). Hier wäre kritisch nachzufragen, inwiefern das (an sich begrüßenswerte) Interesse am Alltag, an der Lebens- und Erlebniswelt, an Sexualität und Körper, Prioritäten widerspiegelt, die ebenso wertvolle andere Bildungshorizonte einschränken? Was bedeutet etwa die Anerkennung des Individuums, wenn sich Lerninhalte und -praktiken an bestimmten Berufsbildern orientieren sollen, die einerseits Ideenreichtum, andererseits vielerlei Routinen voraussetzen, und wenn es sowohl als künftiger Produzent als auch als ‚User‘ und Käufer wahrgenommen wird? Um klarer sehen zu können, ist an die Spätaufklärung zu erinnern. In den 1770er-Jahren entwarf Johann Gottfried Herder das fortschrittliche Konzept einer erfahrungsgesättigten Pädagogik als markanten Gegenentwurf zu Immanuel Kants Bevorzugung abstrakt-deduktiver Begründungen. Das sicherste Wissen stellte für Herder nicht das Begriffliche oder logisch Ableitbare dar, sondern es erschloss sich ihm erst in einem „bildhaften, sachbezogenen Unterricht“ (Proß 198, 805). Schule sollte sich auf früher Stufe an der Gesamtheit der Sinneseindrücke ausrichten, wie sie Natur- und Alltagserfahrung bieten. Was für Herder selbstverständlich war, findet sich auch heute in Schriften differenziert argumentierender Literatur- und Kunstdidaktik, weist doch das griechische Wort αἴσθησις (aísthēsis), meinend Wahrnehmung/ Empfindung, auf einen gemeinsamen Aspekt der Alltags- und der Kunstwahrnehmung hin. Dann stellen sich aber sofort zwei weitere Fragen, nämlich was ‚ästhetische Erfahrung‘ im Rahmen einer entgrenzten, sich jetzt auch auf die „Kompetenzen der Individuen“ (Reckwitz 2012, 10) beziehenden Ökonomie bedeutet und wie sich von hier ausgehend die Besonderheiten von Kunst und Literatur bestimmen lassen. Eine wichtige Überlegung lautet: Was inmitten der „Welt von Reizen, die unsere Sinne überfluten“ als Kunst erscheint, „sind nicht Dinge, die einfach da sind und bemerkt werden; es sind auch nicht Dinge oder Situationen, die uns in eine bestimmte Stimmung versetzen; es sind Erscheinungen, die uns zu einem Verweilen bringen, weil sie uns irritieren“ (Liessmann 2009, 1.). Ähnlich urteilt die avancierte Literaturdidaktik. Sie will im Lesen nicht nur „eine bestätigende Funktion“ erkennen, wie sie der für „Entspannung und Entlastung“ sorgenden „Unterhaltungsliteratur“ zukommt (Leubner/ Saupe/ Richter 201, 30 f.). Vielmehr erinnert sie an die Lektüre anspruchsvoller Literatur, in welcher sich ein komplexeres Realitätsverständnis zeige. Was hier „erscheint, ist nicht das, was es vorgibt zu sein“ (Liessmann 2009, 1), oder präziser: „Ästhetischer Schein […] besteht in Erscheinungen, die in einem durchschauten 87 Lebenswelten - Anmerkungen zu Kommunikationstheorie und Sprach- und Literaturdidaktik Widerspruch zum tatsächlichen Sosein von Gegenständen wahrgenommen und willkommen geheißen werden können“ (Seel 2000, 10; zit. nach Liessmann 2009, 1). In diesen, von der literaturwissenschaftlichen Fachreflexion geprägten Einsichten kommt der Begriff des Verstehens ins Spiel. Im Verstehen wird über die rein intuitive Evidenz, etwa des sorgsamen Einfühlens in etwas (zum Beispiel in literarische Figuren oder Mitmenschen), hinausgegangen. Eine Schulung der verstehenden Auseinandersetzung mit Erlebtem erlaubt Schülerinnen und Schülern, sich sorgsam mit Texten, ihren Themen und Aussagen auseinanderzusetzen und ihnen nicht unreflektiert zuzustimmen oder sie unreflektiert abzulehnen. Mit anderen Worten: Das Dargebotene sollte nicht weitgehend unbewusst als allgemeine Erfahrungstatsache wahrgenommen werden. Diesen unerwünschten Vorgang bezeichnet die Kognitionswissenschaft als „metaphorisches Framing“ (Lakoff 1980, 25; Graupe 2017, 59), das zu ideologischen Zwecken missbraucht werden kann. Daraus folgt der Leitgedanke: Es ist didaktisch zulässig, die Anbindung von Lernprozessen an die Alltagserfahrung zu fordern, unerlässlich bleibt es aber, dabei zugleich das bewusste Urteil zu schulen. Aus diesem Grund sind beispielsweise literaturdidaktische Übungen zur bewussten Erzeugung mehrsprachiger (literarischer) Metaphern als besonders wertvoll einzuschätzen (Oliver 2013). Das Verstehen von Kunstwerken erfordert, auch in der Schule, somit weiterhin den lernenden Umgang mit Fachwissen. So muss ebenfalls gefragt werden: Wie kann Schülern das Zusammenspiel von lebensweltlicher Erfahrung und auf Objektivität abzielender begrifflich-fachlicher Tätigkeit heutzutage bewusst gemacht werden? Von dem Leitsatz individueller Förderung ausgehend, erkennt man rasch, dass vielfältige Erfahrungen die Reflexion stimulieren. So wie sich in den „natürlichen Sprachen […] die Vielfalt der symbolischen Welten“ entfaltet, kann es Lebenswelten eigentlich „nur im Plural“ geben (Fellmann 1989, 180). Dies legitimiert zwar die Verabschiedung des klassischen Begriffs der ‚Wahrheit‘, nicht aber die des angemessenen Urteils (Teichert 2015, 23). Um dieses zu schulen, sind gedankliche Strategien sowie die Vermittlung von Wissensinhalten erforderlich, die eine Distanz zu jeder subjektiven Erfahrung (Nagel [198] 1992) herstellen. In der literarischen Fiktion werden Pluralität und das „Mögliche“ (Kablitz 2013) zum Programm, indem herkömmliche Wahrnehmungsmuster und Regeln durchbrochen werden. Lernen anhand von Literatur heißt demnach, sich und der Gesellschaft Alternativen zum jeweiligen Selbst- und Weltbild bereitzustellen. Wer den Ansprüchen der ‚Lebenswelten‘ - im Plural - genügen will, muss ihr Verständnis um Einsichten erweitern, die sich nicht nur an den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Gegenwart orientieren und dem hier zur fraglos gegebenen ‚Lebenswelt‘ Geronnenen. Wäre im Unterricht nur das interessant, wovon wir uns sofort „angesprochen“ fühlen (Gadamer 190; kritisch Proß 1992, 287), dann fände eine „Einübung ins Fremde“ (Kermani 2013) erst gar nicht statt. Pluralität kann es nur geben, wo Leben und Erleben sich in verstehender Auseinandersetzung dem (auch historisch) Fremden öffnen. Dass Fremdes dabei nicht in der eigenen Wirklichkeit aufgeht und sich daher auch nicht wie von Zauberhand in leicht verdauliche oder käufliche Ware verwandelt, sondern gewusst, erkannt werden muss, ist sein Potential für die schulische Didaktik. 88 III. 4. Literaturverzeichnis Abraham; Ulf: ‚Kreatives‘ und ‚poetisches‘ Schreiben. In: Helmuth Feilke/ Thorsten Pohl (Hg.): Schriftlicher Sprachgebrauch - Texte verfassen. (Deutschunterricht in Theorie und Praxis Bd. ). Baltmannsweiler: Schneider 201, S. 3-381. Brüsemeister, Thomas: Soziale Ungleichheit, Bildung, Wissen. In: Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, hg. von Rainer Schützeichel. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2007, S. 23-38. Eucken, Rudolf: Zur Würdigung Comte’s und des Positivismus. In: R.E.: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigsten Doctor-Jubiläum gewidmet. Leipzig: Fues 1887, S. 55-82. Evans, Vyvyan / Green, Melanie: Cognitive linguistics. An introduction. Mahwah, N.J: L. Erlbaum 200. 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Matthes & Seitz, Berlin 2016 und „wundgewähr“. Gedichte. ebda. 2018. In den USA: „sandscript“. Selected Poetry 1987 - 2018. White Pine Press. Buffalo, New York 2018. José Oliver ist Kurator des von ihm initiierten Literaturfestivals Hausacher LeseLenz (www. leselenz.com). www.oliverjose.com Lektüreempfehlungen: ▶ Standardwerke zum Lyrikpanorama des 20. Jahrhunderts Enzensberger, Hans-Magnus: Museum der Modernen Poesie (Taschenbuch 2002) Hartung, Harald: Jahrhundertgedächtnis (1998) Hartung, Harald: Luftfracht (1991) Sartorius, Joachim: Atlas der neuen Poesie (Taschenbuch 1996) ▶ Einige Empfehlungen für die Schule: Boëtius, Henning / Hein, Christa (Hg): Die ganze Welt in einem Satz. Beltz & Gelberg. Weinheim / Basel 2010 Gelberg, Hans-Joachim (Hg): Neue Gedichte für Kinder und Erwachsene. Beltz & Gelberg. Weinheim/ Basel 2011 Thalmayr, Andreas: Lyrik nervt. Eine Hilfe für gestreßte Leser. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 2008 Sichtermann Barbara / Joachim Scholl (Hg): 0 Klassiker Lyrik. Gerstenberg Verlag. Hildesheim. 3. überarbeitete Auflage 2007 IV. 93 133 Vorstellungsrunde Akos Doma geboren 1963 in Budapest, Schriftsteller und literarischer Übersetzer. Seine Übersetzungen ungarischer Literatur, u. a. von Péter Nádas und Sándor Márai, wurden mehrfach prämiert. Für seine Romane Der Müßiggänger (2001) und Die allgemeine Tauglichkeit (2011) erhielt er zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. das Grenzgänger-Stipendium, den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis, den Dresdner Stadtschreiber, das Prager Literaturstipendium sowie Literaturstipendien des Freistaats Bayern und des Deutschen Studienzentrums in Venedig. Jüngste Veröffentlichung: Der Weg der Wünsche. Roman. Rowohlt Berlin Verlag. Berlin 2016 Lektüreempfehlungen: Knut Hamsun, Hunger oder Mysterien Fjodor M. Dostojewski, Schuld und Sühne J. D. Salinger, Der Fänger im Roggen Lew Tolstoi, Anna Karenina Dino Buzzati, Die Tatarenwüste Milan Kundera, Der Scherz oder Abschiedswalzer Iwan Turgenew, Väter und Söhne Emily Brontë, Sturmhöhe D. H. Lawrence, Liebende Frauen Eduard v. Keyserling, Wellen Lektüreempfehlungen Jugendliteratur: Alexandre Dumas, Der Graf von Monte Christo Jules Verne, Mathias Sandorf Ferenc Molnár, Die Jungen von der Paulstraße Karl May, Old Surehand oder Winnetou Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawyer / Huckleberry Finn Erich Kästner, Emil und die Detektive oder Das fliegende Klassenzimmer Otfried Preußler, Krabat 94 134 V. James Fenimore Cooper, Der letzte Mohikaner Jack London, Ruf der Wildnis Charles Dickens, Große Erwartungen Walter Scott, Ivanhoe H. Rider Haggard, Erik Hellauge H. G. Wells, Der Unsichtbare Louis Pergaud, Krieg der Knöpfe Kurt Held, Die rote Zora Michael Ende, Momo James Krüss, Timm Thaler J. R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe Christopher Paolini, Eragon IV.